Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg [49]

Table of contents :
Nürnberger Spitznamen von 1200 bis 1800. Nachlese zu Mitteilungen 45, S. 1—147.
Von Bibliotheksdirektor i. R. Dr. Friedrich BOCK (Erlangen)..................................... 1
Pfintzing die Alten. Ein Beitrag zur Geschichte des Nürnberger Patriziats. Von Studienrat
Dr. Gerd WUNDER (Gelbingen)...........................................................................34
Zensurpolitik der Reichsstadt Nürnberg. Von der Einführung der Buchdruckerkunst bis
zum Ende der Reichsstadtzeit. Von Studienrat Dr. Arnd MÜLLER..............................66
Zur Geschichte der älteren Nürnberger Kartographie.. Erhard Etzlaubs Karten des
Nürnberger Landgebiets 1516/19. Von Archivdirektor Dr. Fritz SCHNELBÖGL . 170
Pfalzgraf Friedrich II., Reichsstatthalter Kaiser Karls V., und die Nürnberger Fastnacht
von 1522. Von Bibliotheksdirektor Dr. Karlheinz GOLDMANN..............................177
Die Nürnberger Musikgesellschaften. Von Dr. Uwe MARTIN (Göttingen) . . . 18 5
Ein französischer Reisebericht über Nürnberg und Franken vom ausgehenden 16. Jahrhundert.
Von Hochschulprofessor Dr. Hermann KELLENBENZ..............................226
Magister Zacharias Theobald, der Verfasser des „Hussitenkriegs“. Ein Kraftshofer
Exulantenpfarrer. Von Oberstudienrat Dr. Richard KLIER.............................................246
Die Beziehungen des Pariser Arztes Charles Patin zu Nürnberger Freunden und
Gönnern 163 3—1693;. Von Geh. Rat Univ. Prof. Dr. Julius PIRSON (Erlangen) . 274
Elfenbeinkunstwerke Nürnberger Provenienz von Eugen von PHILIPPOVICH (Innsbruck) 339
Das Willsche Idiotikon, eine historische Untersuchung von Nürnberger Mundartwörtem.
Ein Beitrag zur Arbeit am Ostfränkischen Wörterbuch. Von Studienrat Dr. Herbert
MAAS 361
Zwei unbekannte Vorschläge zur Errichtung von Sparkassen, Pensions- und Leihkassen
in Nürnberg von 1810 und 1813. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der Stadt.
Von Archivrat Dr. Werner SCHULTHEISS..........................................................................439
Buchbesprechungen
Frankenland, Wegweiser in das landesgeschichtliche Schrifttum H. 7: Hans Lauterb
a c h , Das Archiv des Historischen Vereins für Oberfranken in Bayreuth, bespr.
von Dr. Karlheinz GOLD MANN.........................................................................................457
Carl Adam, Stadtarchiv Burgbernheim, bespr. von Dr. Werner SCHULTHEISS . . 457
Karl Hannakam, Ludwig Veit und Otto P u c h n e r , Archiv der Freiherrn
Schenk von Geyern auf Schloß Syburg, bespr. von Dr. Wilhelm KRAFT . . . 458
Urkundenregesten der Städte des Hochstifts Würzburg, bearb. von Wilhelm Engel,
bespr. von Dr. Ingomar BOG................................................................................................ 459
Heinrich Schmidt, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen
Selbstverständnisses, bespr. von Dr. Gerhard PFEIFFER................................................... 460
Nürnberger Mundartdichtung in der Gegenwart. Franz Bauer, Die kla Schattuln;
Rudolf Kohlenberger, Neunuhrläuten, bespr. von Dr. Friedrich BOCK . 461
Karl Rieß, Zur Geschichte der Abgaben in bayerischen, vornehmlich nordbayerischen
Städten vor 1800, bespr. von Dr. Hans NEIDIGER.................................................... 462
Hans-Jörg Kellner, Die Münzen der freien Reichsstadt Nürnberg, bespr. von
Konrad LENGENFELDER ..........................................................................................463
Paul Grotemeyer, „Da ich het die gestalt", bespr. von Dr. Gerhard PFEIFFER 464
Georg Piltz, Franken, Kunst einer Landschaft, bespr. von Dr. Kurt PILZ . . 465
Alfred Stange, Deutsche Malerei der Gotik. Franken, Böhmen und Thüringen-
Sachsen in der Zeit von 1400 bis 1500, bespr. von Dr. Peter STRIEDER . . . 468
Friedrich Winkler, Albrecht Dürer, Leben und Werk, bespr. von Dr. Wilhelm
SCHWEMMER :.........................................................................................................474
Adolf J a e g e r, Veit Stoß und sein Geschlecht, aus d. Nachlaß hgg. von Otto
Puchner, bespr. von Dr. Wilhelm KRAFT............................................................476
Wilhelm Schwemmer, Adam Kraft, bespr. von Dr. Gerhard PFEIFFER . . . 478
Johannes Graf Waldburg-Wolfegg, Das mittelalterliche Hausbuch, bespr. von
Dr. Peter HALM : :..........................................................................................479
Ernst König er, Aus der Geschichte der Heilkunst: Von Ärzten, Badern und Chirurgen,
bespr. von Dr. Robert HERRLINGER............................................................481
Hans Li ermann, Richter, Schreiber, Advokaten, bespr. von Dr. Friedrich BOCK 482
Joh. Georg Puschners Ansichten von der Nürnbergischen Universität Altdorf, eingel. v.
Konrad Lengenfelder, bespr. von Dr. Artur KREINER..............................48 3
Heinz G o 11 w i t z e r , Die Standesherren. Die politische und soziale Stellung der
Mediatisierten 1815—1918, bespr. von Dr. Ingomar BOG.............................................483
Peter Schneider, Der Steigerwald in der Gesamtschau, bespr. von Dr. Gerhard
PFEIFFER : : :................................................................................................. 487
Maria Zelzer, Geschichte der Stadt Donauwörth, bespr. von Dr. Wilhelm KRAFT 48 8

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Mitteilungen des

Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg

Neunundvierzigster Band

Nürnberg 1959 Selbstverlag des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg

Im Aufträge des Vorstandes des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg hgg. von Archiv­ direktor Prof. Dr. Gerhard Pfeiffer. Für Form und Inhalt der einzelnen Beiträge sind die Verfasser verantwortlich. Gedruckt mit Unterstützung des Stadtrats zu Nürnberg, des Bezirksverbandes Mittelfranken und der Stadtsparkasse Nürnberg. Allen Spendern und Mitarbeitern sei geziemend gedankt. Druck: Ph. C. W. Schmidt, Neustadt/Aisch. Klischees: Graphische Kunstanstalt Karl Ulrich & Co., Nürnberg. Alle Rechte Vorbehalten f Copyright by Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg 1959.

INHALT: Nürnberger Spitznamen von 1200 bis 1800. Nachlese zu Mitteilungen 45, S. 1—147. Von Bibliotheksdirektor i. R. Dr. Friedrich BOCK (Erlangen).....................................

1

Pfintzing die Alten. Ein Beitrag zur Geschichte des Nürnberger Patriziats. Von Studien­ rat Dr. Gerd WUNDER (Gelbingen)...........................................................................34 Zensurpolitik der Reichsstadt Nürnberg. Von der Einführung der Buchdruckerkunst bis zum Ende der Reichsstadtzeit. Von Studienrat Dr. Arnd MÜLLER..............................66 Zur Geschichte der älteren Nürnberger Kartographie.. Erhard Etzlaubs Karten des Nürnberger Landgebiets 1516/19. Von Archivdirektor Dr. Fritz SCHNELBÖGL .

170

Pfalzgraf Friedrich II., Reichsstatthalter Kaiser Karls V., und die Nürnberger Fastnacht von 1522. Von Bibliotheksdirektor Dr. Karlheinz GOLDMANN..............................177 Die Nürnberger Musikgesellschaften. Von Dr. Uwe MARTIN (Göttingen)

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18 5

Ein französischer Reisebericht über Nürnberg und Franken vom ausgehenden 16. Jahr­ hundert. Von Hochschulprofessor Dr. Hermann KELLENBENZ..............................226 Magister Zacharias Theobald, der Verfasser des „Hussitenkriegs“. Ein Kraftshofer Exulantenpfarrer. Von Oberstudienrat Dr. Richard KLIER.............................................246 Die Beziehungen des Pariser Arztes Charles Patin zu Nürnberger Freunden und Gönnern 163 3—1693;. Von Geh. Rat Univ. Prof. Dr. Julius PIRSON (Erlangen) .

274

Elfenbeinkunstwerke Nürnberger Provenienz von Eugen von PHILIPPOVICH (Innsbruck)

339

Das Willsche Idiotikon, eine historische Untersuchung von Nürnberger Mundartwörtem. Ein Beitrag zur Arbeit am Ostfränkischen Wörterbuch. Von Studienrat Dr. Herbert MAAS

361

Zwei unbekannte Vorschläge zur Errichtung von Sparkassen, Pensions- und Leihkassen in Nürnberg von 1810 und 1813. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der Stadt. Von Archivrat Dr. Werner SCHULTHEISS..........................................................................439 Buchbesprechungen Frankenland, Wegweiser in das landesgeschichtliche Schrifttum H. 7: Hans Lauterb a c h , Das Archiv des Historischen Vereins für Oberfranken in Bayreuth, bespr. von Dr. Karlheinz GOLD MANN.........................................................................................457 .

457

Karl Hannakam, Ludwig Veit und Otto P u c h n e r , Archiv der Freiherrn Schenk von Geyern auf Schloß Syburg, bespr. von Dr. Wilhelm KRAFT . . .

Carl Adam, Stadtarchiv Burgbernheim, bespr. von Dr. Werner SCHULTHEISS .

458

Urkundenregesten der Städte des Hochstifts Würzburg, bearb. von Wilhelm Engel, bespr. von Dr. Ingomar BOG................................................................................................ 459 Heinrich Schmidt, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses, bespr. von Dr. Gerhard PFEIFFER................................................... 460 Nürnberger Mundartdichtung in der Gegenwart. Franz Bauer, Die kla Schattuln; Rudolf Kohlenberger, Neunuhrläuten, bespr. von Dr. Friedrich BOCK .

461

Karl Rieß, Zur Geschichte der Abgaben in bayerischen, vornehmlich nordbayerischen Städten vor 1800, bespr. von Dr. Hans NEIDIGER.................................................... 462 Hans-Jörg Kellner, Die Münzen der freien Reichsstadt Nürnberg, bespr. von Konrad LENGENFELDER ..........................................................................................463 Paul Grotemeyer, „Da ich het die gestalt", bespr. von Dr. Gerhard PFEIFFER Georg Piltz, Franken, Kunst einer Landschaft, bespr. von Dr. Kurt PILZ

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Alfred Stange, Deutsche Malerei der Gotik. Franken, Böhmen und ThüringenSachsen in der Zeit von 1400 bis 1500, bespr. von Dr. Peter STRIEDER . . .

468

Friedrich Winkler, Albrecht Dürer, Leben und Werk, bespr. von Dr. Wilhelm SCHWEMMER :......................................................................................................... 474 Adolf J a e g e r, Veit Stoß und sein Geschlecht, aus d. Nachlaß hgg. von Otto Puchner, bespr. von Dr. Wilhelm KRAFT............................................................ 476 Wilhelm Schwemmer, Adam Kraft, bespr. von Dr. Gerhard PFEIFFER .

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Johannes Graf Waldburg-Wolfegg, Das mittelalterliche Hausbuch, bespr. von Dr. Peter HALM : :.......................................................................................... 479 Ernst König er, Aus der Geschichte der Heilkunst: Von Ärzten, Badern und Chir­ urgen, bespr. von Dr. Robert HERRLINGER............................................................ 481 Hans Li ermann, Richter, Schreiber, Advokaten, bespr. von Dr. Friedrich BOCK 482 Joh. Georg Puschners Ansichten von der Nürnbergischen Universität Altdorf, eingel. v. Konrad Lengenfelder, bespr. von Dr. Artur KREINER.............................. 48 3 Heinz G o 11 w i t z e r , Die Standesherren. Die politische und soziale Stellung der Mediatisierten 1815—1918, bespr. von Dr. Ingomar BOG............................................. 483 Peter Schneider, Der Steigerwald in der Gesamtschau, bespr. von Dr. Gerhard PFEIFFER : : :................................................................................................. 487 Maria Zelzer, Geschichte der Stadt Donauwörth, bespr. von Dr. Wilhelm KRAFT

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NÜRNBERGER SPITZNAMEN VON 1200 BIS 1800 Nachlese zu „Mitteilungen" 45. S. 1—147 Von Friedrich Bock

Weitere Beschäftigung mit Nürnberger Chroniken und verwandtem Schrifttum brachte mir als Nebenergebnis ein gutes halbes Tausend noch unveröffentlichter Spitznamen. Grundsätzlich neue Typen sind dabei nicht aufgetaucht, aber das Gesamtbild verschiebt sich doch einigermaßen. So erscheint die Veröffentlichung dieser zweiten Liste nicht ganz unangebracht. Dabei benütze ich die Gelegenheit, auch zu mehreren Wörtern der Hauptliste Ergänzungen oder Berichtigungen zu geben; solche Wörter sind mit * be­ zeichnet. Einige neu erschlossene Quellen müssen so oft zitiert werden, daß sich Abkürzungen dafür empfehlen. Es bedeutet Cgm: deutsche Handschrift in der Bayer. Staatsbibliothek München (also z. B. Cgm 2068 oder 3 587 usw.) Erlgn = Handschrift d. Universitäts-Bibliothek Erlangen. Lü: Chronik des Diakonus Wolfgang Lüder von S. Sebald in Nbg (dazu ausführlicher Mitt. 47, 297 ff.); dabei bedeutet Lü 1, 2 usw. die 8 Bände im Staatsarchiv Nürnberg, Rep. 52a, Bd. 46—53, und Lü Q die Handschrift Q 133 in der Thüring. Landesbibliothek Weimar Rechtsqu.: Nürnberger Rechtsquellen, veröff. v. Werner Schultheiss (im Erscheinen begriffen und nach lfd. Nummern, nicht nach Seiten zitiert, da ich das Druckmanuskript benutzte). St.: Starcksche Chronik in der Stadtbibliothek Nürnberg, Sign. Amb. 615-617. 2°, als 1, 2, 3 zitiert. Die in den Mitteilungen d. Vereins f. Gesch. Nbg) 45, S. 1—3 ge­ gebenen Abkürzungen gelten auch hier. In der Deutung der Sp(itznamen) glaube ich diesmal noch vorsichtiger sein zu müssen; denn manchmal brachten die neuen Quellen ausdrückliche i

1

MYGN 49 (1959) Spitznamen

Erklärungen zu Sp., die ich falsch gedeutet habe (s. u. z. B. „Kornblümlein“). Trotz derartiger trüber Erfahrungen bleibt aber doch der Versuch der Ein­ reihung in bestimmte Kategorien erwünscht für mancherlei Fragestellungen, mit denen man an das Verzeichnis herantreten könnte. Darum ist auch dies­ mal nach Möglichkeit versucht, die Sp. gewissen Gruppen zuzuweisen (z. B. IV, oder VI, 2 a). Zur Bequemlichkeit des Benutzers sei hier die in der Hauptliste versuchte Einteilung wiederholt: I. Eigenarten des Äußeren 1. Körperliche Eigenschaften a. Größe, Gestalt, Schönheit und Häßlichkeit, besonders ausgeprägte Körperteile, Farbe b. Alter c. Gebrechen und Abnormitäten 2. Eigenarten der Erscheinung a. Kleidung, Aufmachung, Körperpflege b. Im sonstigen Auftreten II. Sprache und Redeweise 1. Physische Sprachfehler 2. Fehlerhafte Aussprache einzelner Wörter 3. Lieblingsworte, stehende Redensarten oder einmalige Aussprüche III. Geistige und moralische Eigenschaften, Gewohnheiten und Liebhabereien 1. Temperament, Geistesgaben, anormaler Geisteszustand 2. Liebhabereien und Gewohnheiten 3. Schlechte Charaktereigenschaften 4. Gute Charaktereigenschaften IV. Bemerkenswerte Erlebnisse, womit die Namensträger „aufgezogen“ oder charakterisiert wurden V. Berufe (auch behördlich nicht zugelassene Erwerbszweige) und wirtschaftliche Verhältnisse 1. Beruf und Erwerb i. a. 2. bes. die Verbindung von Vor- oder Zunamen mit Berufsbezeichnung (Nachkommen bzw. Verwandte mit Berufsnamen eines Vorfahren oder sonstigen Angehörigen s. Abt. VI, 2) 3. Wirtschaftliche Verhältnisse VI. Herkunft: Heimat, Abstammung, Verwandtschaft und sonstige Zugehörigkeit 1. Heimat (Ort oder Land) 2. Abstammung a. Benennung nach Beruf des Vaters oder eines anderen Vorfahren b. Benennung einer Frau, Witwe, Braut oder „Freundin“ nach dem Beruf des Mannes 3. „Patronymika“ und ähnliche Verwandtschaftsbezeichnungen, z. B. Verschwägerung 4. Beibehaltung des Mädchennamens ( = Geborene X) oder, bei zweiter Ehe, Beibehal­ tung des Familiennamens des ersten Mannes 5. Benennung der Frau, Freundin usw. nach dem Sp.- oder Vornamen des Mannes 6. Benennung des Mannes nach Sp.-, Vor- oder Familien-Namen, der Frau, Freundin usw. 7. Benennung von Kindern nach dem Sp. des Vaters oder der Mutter 8. Benennung nach dem Arbeitgeber VII. Wohnplatz 1. Haus, Stadtgegend 2. sogen. Hausnamen 3. Kollektiv-Sp. für Bewohner bestimmter Orte und Gegenden VIII. Namens-Spielereien 1. Vertauschungen 2. Entstellungen 3. Einfache Verkleinerungen IX. Bloßer Vorname, häufig bei selteneren Namen.

2

MVGN 49 (1959) Spitznamen

Sehen wir auf die soziale Stellung der mit Sp. bedachten Personen, so ist sie diesmal weniger einseitig als in der Hauptreihe (vgl. dort S. 37). Stärker als dort ist z. B>. die Geistlichkeit vertreten; das verdanken wir dem Pfarrer Lüder. Lehrer-Sp. sind wieder rar, nur Ein neues Beispiel („Pepe“), und als Unikum fand sich auch ein Schüler-Sp. („Hochmut"). Besonders bemerkenswert scheinen die beiden der Gruppe VII, 3 zuzu­ weisenden Kollektiv-Sp. für die Bewohner der Sebalder und Lorenzer Stadt­ seite, nämlich Schalksloher und Bocksloher; sie trotzen vorläufig einer be­ friedigenden Deutung. Und „sensationell" ist wohl auch der Sp. „Eichel­ fresser" für die Bayern, der selbst dem besten Kenner auf diesem Gebiet, Herrn Archivdirektor F. Schnelbögl, noch nicht vorgekommen ist; doch kann man hier eine Erklärung wenigstens versuchen (s. u.). Und noch eine kleine Beobachtung drängt sich erst bei den neugefundenen Sp. auf: die Verbindung eines Handwerkernamens mit seinem Wohnplatz scheint fast ausschließlich auf die Bäcker beschränkt (Bergleinsbeck, Eckbeck, wohl auch Engelbeck, zweifelhaft der Herrnbeck, dann aber wieder Kirchen­ beck (in Lauf), Tetzelbeck und Röhrenbeck). Daß das gleich lebenswichtige Metzgerhandwerk mit solchen Sp. nicht bedacht wurde, erklärt sich wohl daraus, daß die Metzger ihre Ware alle in den Fleischbänken, die Bäcker aber im Haus feilhielten. Spärlich finden sich auch diesmal wieder ausdrückliche und meist wohl authentische Deutungen der Sp. in den Quellen selber (vgl. Mitt. 45, S. 146, Anm. 1). Sie gelten den Namen: Andreher Annala, Backala, Baderlein, Baumöl, Bethlehemi, langer Birger, Böses Kätterlein, Botenbub, Buckleter Welser, Fleischverräter, Gelehrter Harsdörffer, Geschentig, Häfeleinsbrech, Hürlein, Käsherr, Kartäuser, Kohlbauer (leider zwei einander aufhebende Erkl.), Kopfei, Kornblümlein, Kunzisten, Lichtmaidlein, Markgraf, Närrischer Görgla, Närrische Tucherin, Neunfinger­ lein, Pfaff, Pülverlein, Reisfrau, Schiffterla, Schulmeister v. Katzwang, Seng­ eisen, Zwölffinger, Zwou. Immerhin sind sie verhältnismäßig zahlreicher als in der Hauptreihe; die Mehrzahl ist wieder dem volkskundlich interessierten Lüder zu verdanken. Restlos aufarbeiten läßt sich das reiche Material natürlich nie. man kann nicht fertig werden, sondern nur aufhören. Und so mag es bei dieser zweiten Lese sein Bewenden haben. Zu den Randgebieten des Sp. gehören die Hausnamen. Für sie böten die Archive noch eine reiche Ausbeute (Steuerkataster u. dgl.), und sie würden einmal eine gesonderte Behandlung verdienen. Für freundliche Hinweise auf Namen aus mir unbekannten Quellen habe ich vor allem Herrn Dr. Friedr. August Nagel herzlich zu danken. Ein weiterer aufmerksamer Beobachter von Sp. lebt leider nicht mehr: der frühere Amts­ richter in Lauf Karl Sauer, der in seiner Geschichte der Stadt Lauf (1898 ff.) eine ganze Reihe bezeichnender Beispiele zusammengetragen hat; sie gehören wohl teilweise erst dem 19. Jahrhundert an und sind daher hier nur spärlich herangezogen; um so eindringlicher sei auf die hübsche Sammlung verwiesen. i*

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MVGN

49 (1959)

Spitznamen

Verzeichnis Der Altreisslein = N.N., Flickschuster f 1658. Cgm 3587, 265 v. Wird ein ähn­ licher Charakter gewesen sein wie der Botensimon (Mitt. 45, S. 48 u. F. Bock, Histor. Volkskunde - im Erscheinen); denn der Chronist nennt ihn einen „öffentl. General- und Stadtverräter“; Handwerker» Totengräber und Stadtschützen wei­ gern sich, ihn zum Friedhof zu bringen (V, 1). Andreker-Annala = Anna Krell, Hure, ausgewiesen 1607 und 1614. Lü 8, 424 v, 425 v. „neben ihrem Andrehen, so sie den Schwabenwebern getan (vom Tausend 5 Pfennig, daher man sie das Andreher Annala genennet) sich an einen . . . Ehe­ mann gehängt“ (V, 2). *Asinus, 1571: andere Quellen (Staatsarch. Nbg, Rep. 52 a, 108, Bl. 199 r; Germ. Museum 2358 5, 257 r) nennen ihn Asumus; das gäbe einen Erasmus N. (VIII, 2). Der Asserla = Erasmus Weber, alter Zimmergeselle, Selbstmord 1676. Cgm 3 587, 316 r; wahrer Name aus Ratsverlaß 14.3.1676 (Mitt. 44, 216) (VIII, 2). Pack Berhtolt in Großschwarzenlohe 1300. U(rkunden)B(uch) 1063. Hausname, urspr. nach der Wohnstätte (VII, 2). Der Back = N.N. von Fischbach 1651. Cgm 2068, 742. Bettler ?, s. Schmeller I, 3 80 (V, 3?). Backela = Zacharias Springer, f 1602. Lü 5, 104 r. „guter, frommer, williger Tropf". Wohl volle Backen (I, 1 a). ♦Der Backele(in) = Joachim Bauer, Dieb 1615, vgl. Mitt. 45, 40. Ausdrückliche Erklärung: „er hatte einen bösen Kopf und dicke zerdossene (aufgedunsene) Backen, darumb er der Backele genannt“. Lü Q 102 v (I, 1 a). Der Backele = Joachim Kleiber, Bortenwirker und Soldat, ausgewiesen 1609. Wie der Vorige. Lü 6, 533 v u. Staatsarch. Nbg, Rep. 75, II, Nr. 538, BL 13, S. 2 (für 1590) in Steinbühl, schenkt widerrechtlich Branntwein (I, 1 a). Badbastla od. -wastel = Sebastian Gaßner (Gößner), Bauer in Kraftshof, hin­ gerichtet 1612. Lü 8, 225 r u. R IL 161. Wohl Hausname (VII, 2). Der Badbub = Hans Wolff, Taglöhner in Fischbach, f 1656. Erlg. 1567, 949 u. Cgm 2068, 767. Wohl gelegentlich im Bad tätig (V, 1). Die Baderin = Kunigunde Brand, Frau d. Karl Brand, Hebamme in Feucht 1642. Staatsarch. Nbg, Gemeindedepot Feucht 5, S. 5. Wohl der Mann Bader (VI, 2 a). Der Baderlein = Georg Wünderlein, Pfründner im HL Geist-Spital 1607. Stadtarch., Verlässe d. Spitals 1607, 89 v. War gelernter Bader, aber 3 5 Jahre lang anderweitig im städtischen Dienst verwendet. Muß nicht klein gewesen sein, zum „-lein“ gab wohl die gleiche Endung seines Farn.-Namens Anlaß — eine der vielen Spielereien (V, 1). Der kleine Baderlein = N.N. in Schweinau 1668. Cgm 2068, 8 82 (V, 1 u. I, 1 a). Der Badersimon = Simon N. in Nürnberg 1668. Cgm 2068, 884 (V, 2). Badpeter = Peter Steinlein, Wirt in Mögeldorf, Sohn des Baders, 1640. Leo Beyer; Mögeldorf (1952), S. 108 f. — Interessant für das Werden eines Haus­ namens: von seinem Nachfolger Leonhard(J) Büchner an (vgl. Mitt. 45, 41) heißen diese Wirte Baderspeter (VI, 2). Beeren (Bären-?)-Nopper = Hans Schneider, Wirt z. Roten Ochsen b. S. Lorenz 1617. Lü Q 101 r, 213 v. Nach Schm. I, 1751 ist noppen = knappen, hinken, und ein Noppender ist ein zweizeitiger Tanz (Dreher). Vielleicht hat er sich plump bewegt wie ein Bär beim Tanzen (dann wäre die Wortbildung die gleiche wie beim „Hundstanzerla“; so nannte man noch vor ca. 50 Jahren kurze 4

MVGN 49 (1959) Spitznamen Damenumhänge, weil dressierte Hunde auch solche angezogen bekamen). Nach Herrn. Fischer, Schw. WB 4, 2058 bedeutet noppen auch Knoten abschneiden, gelegentl. obszön = coire; kommt kaum in Frage (I, 2b?). Annalein von Bamberg = Anna Meichsner, Einbrecherin 1587. Erlg. 1451/52, 819 v; echter Name aus P I, S. 92 (VI, 1). Balbierer Sixt = Sixtus N. in Gostenhof, Dieb, 1586. Lü 3, 496 v; St. 2, 118 v; Erlg. 1451/52, 806r, 825 r (V, 2?). Der geistliche Barbiergeselle — Andreas (Mühldorf) Myldorfer, Prediger bei S. Se­ bald (f 1717). Joh. Chn. Siebenkees: Materialien ... I (1792), S. 110: als er in jüngeren Jahren gegen den Willen des Predigers Dilherr sich die Haare vom Barbier behandeln ließ, hat ihm sein Vorgesetzter diesen Sp. gegeben; also ein analoger Fall zum Nürnberger Uhu (Mitt. 45, 135) (I, 2 a). Hans Koler mit dem Bart, Stadtbaumeister 1455. Chroniken dt. Städte, Bd. Nürn­ berg 4, S. 214. — Bärte trug man damals selten; hierüber ausführlich Reicke zu Pirckheimers Briefwechsel Bd. I, 501 f. (I, 2 a). Der Mann mit dem Bart in Folio = Gg. Pfister, Supremus der Spitaler Schule 1608. Lü 6, 331 v. Im Gegensatz zum vorigen Fall der Bart als solcher jetzt nichts Außergewöhnliches mehr, also nur die Größe! (I, 1 a). Das (!) Baumöl = Barbara Mörl, 1618 verh. Gumpmair. Lü Q 224 v. Ihr — zwangs­ weise mit ihr getrauter — Mann hatte sie vergewaltigt und ihr dabei Baumöl eingegossen. Der Anklang Barb Morl-Baumöl mag mitgespielt haben, vgl. oben den Baderlein/ (IV). Bayrn Cäsperle = Weinwirt Kaspar Bayer (?) 1603. Lü 5, 217 r. Sechs Wirte kaufen Wein weit über zulässigen Preis, „darunter denn das saubere Bairn Cäsperle . . . wohl der Fürnehmste gewesen"; da alle anderen mit richtigem Namen genannt sind, wird Bayer hier der Familienname sein (—). Die Bayreutker Agnes = Agnes N., Dirne (?) 1491. Chroniken dt. Städte, Bd. Nbg 5, S. 562 (VI, 1). Der Becken-Alberla = Albrecht Alcibiades, Markgraf v. Bayreuth, f 1557. Cgm 2071, 140 r, v, 141 v, 142 r beim Bericht über die Belagerung von 1552. Ein Phantasie-Sp., da man auswärtige Potentaten nicht im Bösen nennen durfte. Dazu ausführl. Bock in der Zeitschr. Erlanger Universität 1957, H. 1 (also nur formal zu VI, 2 a). Der Beckengörg = Gg. N. 1611. Cgm 3587, 91 v. Wohl selbst Bäcker (V, 2?). Beckenmattkes = Matth. N., Federfechter, Dieb, um 1608. Lü 6, 262 v (VI, 2 a?). Heinz Lüpracht mit dem großen Bein, Knecht eines Raubritters 1383. Rechtsqu. 1052 (I, 1 c). Bergleinsbeck beim Laufertor — N.N. 1677. Cgm 3 587, 320 r. Nicht etwa von dem Gebäck „Berchasla", sondern vom Wohnplatz; durch analoge Fälle (s. o. S. 3) sichergestellt (VII, 1 bzw. 2). Bergleinsbeck = N.N.> Bäcker in Fürth 1698. Cgm 2068, 1111 (VII, 1 bzw. 2). Besenbinder Hensa = Hans N., Wirt in Schweinau, als Räuber ausgewiesen 1662. Cgm 2068, 833 (VI, 2a). Die BethleUemi, auch Durla genannt = Dorothea Maus, Spitzenklöpplerin, Ende 18. Jhdt. Joh. Wolfg. Weikert: Szenen aus d. reichsstädt. Nürnberg (1842), S. 88. Soll das Lied „Ein Kind, geborn zu Bethlehem" auch zu unpassenden Zeiten laut gesungen haben. — Da sie aber in der Fischergasse wohnte, könnte sie auch die Frau des Bettlahem (vgl. Mitt. 45, S. 45) sein, denn der muß auch in dieser Gegend gewohnt haben; dann hätte sie von ihm oder er von ihr den Sp. überkommen (dann VI, 5 od. 6, nach Weikert aber III, 2).

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MVGN 49

(1959)

Spitznamen

Bettel-Ursula — Ursula N., „krumme alte Frau“ in Wöhrd 1619. Lü Q, 300 r (V, 3). Petzlein = N.N., Pfragner, f 1500. Chroniken dt. Städte, Nbg 5, 618 (Mitt. 44, 186). Wenn nicht echter Name, dann dick, wie ein Betzen (Hammel) (I, 1 a?). Beutelstoz = N.N. 1329. Rechtsqu. 3 81. Beutelschneider? (III, 3?). *Biensckneider: in der Deutung schließe ich mich jetzt Joh. Bischoff an (Bienenpflege. . ., Jahrb. f. fränk. Landesforschg 16, 1956, 62), der auf das Aus­ schneiden der Bienenwaben hinweist, doch auch die frühere Deutung nicht ganz abweist (V, l). Die Pier (Bier-) Applin = N.N. am Neuen Bau, um 1597 u. 1608. E VIII, 213, 216 r; Lü 5, 276 v. Witwe eines Bierwirts namens Appel oder mit Vornamen Apollonius? War sie aber, wie aus der zweitgenannten Stelle hervorgehen dürfte, Hebamme, so hätte sie sich wohl gern mit Bier bewirten lassen; zudem heißt sie bei Lü Appel, nicht Applin, was eine Bier-Apollonia wahrscheinlich macht (III, 2 od. VI, 2 b?). Der Bierarsck = N.N., Rotschmied, Nachtwächter und Holzmesser 1679. Cgm 3587, 329 r. Name spricht für sich selbst (III, 2). Der Bin groß — N.N., Gärtner, f 1710. Cgm 2068, 1161. Stehende Redensart von ihm (II, 3). ♦Der lang Pirger = Jörg Naser (auch Hans Nas), Wilderer, hinger. in Langenzenn 1585. Erlg. 1451, 796 v. Birger „darumb, daß er vom Gepirge wäre“. Meine frühere Vermutung also irrig (VI, l). Birgerhans = Hs. Hainle(in?), Wäscher, f 1611. Lü 7, 345 r (VI, 1?). Birngeseß = N.N., Fingerhüter in d. Engelhardsgasse um 1584. Lü 3, 449 r. Kommt im Lied vom Närrischen Kaspar (s. u.) vor, sein Name ihm von den Kin­ dern nachgerufen. Gesäß = Hosen (Grimm 4, I, 2, 3810; das von Lü 4, 31 v bezeugte Pludergesäß kennt Gr. nicht). Er hatte „hinten ein zerrissen Gseß“. Ob aber die Hosen bimförmig nach unten ausgebaucht waren oder er etwa ein­ mal Birnen darin versteckt hatte und erwischt worden war? (I, 2a od. IV?). Bleibalso, Georg = Gg. N. in Kalchreuth 1550. Mitt. 47,173. Redensart von ihm? (II, 3?). Der Bleichdieb = Hans Kuchenreuther, hinger. 1611. St 3, 497 r. Identisch mit dem „Burger“ (Mitt. 45, 51), der die Wäsche von der Bleiche stahl (III, 3). Der blinde Geiger = N.N. in Schweinau 1671. Cgm 2068, 921; Erlgn 1567, 1055 (L lc). Der blinde Jorg = Jörg Graff, der Volksdichter 1542. Ratsverlässe 1526—1542, abgedr. v. Hampe in Euphorion 4 (1897), 472 (I, lc). Der blinde Pfeifer = Michael Kornmeyer, 18 Jahre, singt und spielt in den Wirts­ häusern 1610. Lü 7> 143 v (I, lc). Der blinde Stoffel = Chph. Unsorg, Geiger, f 1616. Lü Q 5 r (I, lc). Der Bock, auch Hießl Georg = Gg. N. in Fischbach 1651. Erlgn 1567, 831. Weiber­ held? (III, 3?). Der Schneider zum Bock = Karl Busereut, Schneider unt. d. Hütern 1614. Lü 8, 518 v, 519 r. Wohl nach einem Hauszeichen (VII, 1). Der Pockhanns = Hans Donauer in Wetzendorf 1590. Staatsarch. Nbg, Rep. 75 II, Nr. 538, Bl. 13, S. 3. Schenkt fremdes Bier und beherbergt Gesindel. — Bock­ halter oder böckische Eigenschaften oder Hausname? (—). Die BocksloUer = die Einwohner der Lorenzer Stadtseite 1605. Lü 5, 443 v. Die von der Sebalder Seite waren die Schalksloher. Durch die gemeinsame Bezeich­ nung -loher deutlich aufeinander bezogen. Deutung unklar! (VII, 3). 6

MVGN 49 (1959) Spitznamen

Boßhaintz (der böse Heinz) = Hch. Gletzeh Mörder, hinger. 1506. Chronn, dt. Städte, Bd. Nbg 5, S. 697 (III, 3). — Identisch mit dem Boßhaintz, 1499 Knecht Herzog Ottos v. Bayern (Pirckheimerbriefe I, 107)? Der böse Heinz = Hch. N., Bauernsohn von Neuses (b. Schwabach), Messerstecher 1596. Lü 4, 422 V (III, 3). Der böse Käsperlein = Kaspar Heffterich (Helfferich?), Monatreiter 1608. Lü 5, 314 v. Wirft, betrunken, mit dem Messer nach seinem Weib (III, 3). Hermann mit dem bösen Fuß = Hermann N., ausgewiesen 13 50. Rechtsqu. 660 (I, lc). Der Bortenwirker: Hausname in Hersbruck. Heimat (Hersbruck) 25 (1955), S. 4 (VII, 2). Der Bortenwirker = Sebastian Fürsetzlich in Gostenhof, Dieb und Hochstapler, hinger. 1586. Lü 3, 494 ff.; St. 2, 103 v; Erlgn 1451, 805 v (V, l). Der Botenbub — Ambrosius Stephan („Steffela“), Botenschaffner, f 1606. Lü 5, 586. „klein und eine kurze wackere Person gewesen“. Von seinen Liebesaben­ teuern überliefert Lü 5, 88 ein unflätiges Lied (V, 1 + 1, la). Die Botenmarie — Maria N., Dirne, ausgewiesen 1669. Cgm 3 587, 290 r. Maria ist über „Mila“ korrigiert. Vater Bote? (VI, 2a?). Brandlienhard = Leonh. N. in Eibach 1663. Cgm 2068, 844. Hausname? (VII, 2?). Der Branntweinbeck = N.N. in Wendelstein 1657. Cgm 2068, 774. Konzession für Schnapsausschank oder Vorliebe f. Schnaps? (V, 1 od. III, 2). Die Pranttenweinfrau = N.N. bei Uns. Lb. Frau, als Dirne ausgewiesen 1595. St. 2, 247 r. Händlerin oder Konsumentin? (V, 1 oder. III, 2). Der Brenner = Hans Humbser, Weinführer in Reutles um 1611. Lü 7, 273 v; St. 3, 443 r. Brennt nebenbei Schnaps; oder Hausname? (V, 1 od. VII, 2). Die Priegel = Brigitta N., Magd bei Paulus Behaim 1564. Mitt. 7, 165 (VIII, 3). Brig = Brigitta, s. u. Silberjäcklein. Der bucklete Welser = Hans Welser, 2. Losunger 1600. Lü 4, 494 r. Er spricht „mit leiser Stimme, wie er denn ein elende Person vom Leibe und bucklet ge­ wesen, darumb man ihn den b. W. genannt“ (I, lc). Der Bürgel = Hans Müller, Tüncher und Saustecher, f 1600. Lü 4, 531 v. Muß wohl Birger heißen (s. dort; VI, 1?). Der Pütner (Büttner-) Erlein = Erhard N. in Ottensoos 1597. E VIII, 214 v (dort 206 r/v: Pirck Erlein) (VI 2a?). Büttner-Wabelein = Barbara N., Gewalttäterin 1643. Cgm 3587, 117 r (VI, 2b?). Die Busch-Eis = Elisabeth Bub, Schustersfrau in Feucht 1616. Lü Q 66 r. Sprach sie ihren Namen so aus? Hatte sie ein Erlebnis im Busch? (—). Der Buttermilchkansel — N.N., Dieb, in Bamberg hingerichtet 1725. Cgm 2068, 1243. Bleiches Aussehen? Erlebnis? (—). Magister Cornelius — Corn. Marci, Prediger S. Lorenz, Stadtbibliothekar, f 1645. Wü, S. Lorenz, Predd., S. 14 (IX). Der Dachs = N.N., alter Wilderer 1657. Cgm 2068, 777. Entkommt den Häschern des Markgrafen. Wohl der im Wald Versteckte (der andere Dachs — Mitt. 45, 51, schon 1624 hingerichtet) (III, 1?). Der Dachsbacher Haller = Georg Haller d. Ä., f 1518. Pirckheimerbriefw. II, 404, Anm. 20 (VII, 1). Deus Caspar (Däuskasper) — Kaspar Buckh, Beutler 1577. Lü 3, 169 v; Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 110, Bl. 107 v. Wohl vom Daus beim Kartenspiel (III, 2). 7

MVGN 49 (1959) Spitznamen Deußla (Däusla) = Leonhard Krafft, Groppner, ausgewiesen 1613. Lü 8, 348. Wie der Vorige (III, 2). Datier s. Thaler. Der damast(en)e Kürsdiner = Stefan Prünsterer in der Judengasse 1606. Lü 5, 636 r. Kleiderluxus (I, 2a). Der Damptrideg (I) = N.N., Bortenmacher in Wöhrd 1650, Preisträger beim Schießen in Feucht. Cgm 2068,735. Nach einem fehlerhaft ausgespr. Wort (etwa: verdammter Dreck oder so) oder einer Redensart? Oder steckt ein Diet­ rich dahinter? (—). Deubner Hans = Hs. Probst, Tuchmacher in Wöhrd, f 1616. Lü Q 13 r. Haus­ name? — Taubenliebhaberei („Taubengockerer“)? (—). Der dicke Hans = N.N., Reitknecht im Marstall 1572. Lü 3, 43 r (I, la). Der dicke Hans, Wirt in der Kotgasse (Brunnengasse) um 1580. Lü 3, 443 f., im Lied vom Närrischen Kaspar (s. u.), Strophe 32 (I, la). Der dicke Metzger = Hans Beer von Gersdorf, Dieb, Selbstmord 1615. Lü 8, 639 r (I, la + V, l). Der dicke Wirt s. Wirt. *Dockalasbeck: vgl. hiezu noch Heimat (Hersbruck) 26 (1956), S. 45. Der Dockelein = N.N. (Amtsbote in Nbg?) 1639. Staatsarch. Nbg, GemeindeDepot Feucht Nr. 2, S. 5. Puppenhaft kleine Gestalt, bei seinem Beruf kaum wahrscheinlich, eher sagte er es gern zu jungen Weibern (wie Pirckheimer in seinem Liebesgedicht „mein Hort, mein Tockerlein, mein Trost, mein Schatz, mein einigs Ein", s. Pirckheimerbriefw. I, S. 401) (II, 3?). Docken-Heinerlein = Hch. Gick, Taglöhner auf der Ziegelhütte in Ziegelstein 1640. Staatsarch. Nbg Rep. 76 I, Nr. 519, 10. Febr. Wohl wie beim Vorigen. Der Döz = Peter Diez, hingerichtet 1570. Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 105, Bl. 114 r. Sprach wohl seinen Namen so aus (II, 2?). Dorn oder Dorn Steffa = Hans (!) Link, Gärtner 1505. Staatsarch. Nbg, Wald­ amt Seb. I, 329. Hausname? (VII, 2?). Drahtzieher = Franz Schmid, f 1520. Pirckheimerbriefw. II, S. 452 f. Wohl von seinem Vater Konrad (Mitt. 45, 54) ererbter Sp. (VI, 7). Konrad Drahtzieher — Konrad Schmid 1514. Pirckheimer a.a.O. 466. Wohl Bru­ der des Vorigen, daher Sp. gleicher Herkunft (VI, 7). Dio Drahtzieherin = Barbara Haller (f 1539), 1505 Frau des Franz Schmid, gen. Drahtzieher (s. o.). Pirckheimerbriefw. II, S. 452 f. Benennung nach dem Sp. des Mannes (VI, 5). Der Troscher (= Drescher) = Kunz Widmann, Drescher, Dieb, hinger. 1611. Lü 7, 286 r; St. 3, 405 r. Widmann hieß auch Birnbaum und Hasengeier, s. Mitt. 45* 46 u. 71 (V, 1). Der dürr Beck = Hans Ring, Bäcker, f 1619. Lü 8, 449 ff. (dort Held eines Spott­ gedichts) u. Q 304 v. (I, la). Der Dürrenhofer (auch -höfer) = Hans Grauser (Kraußer?), Sohn des Bauern auf dem Dürrenhof, f 1611. Lü 7, 514 v; St. 3, 602 r (VII, l). Der Dumser = Hans Maurer, Schuster, dann Garkoch am Milchmarkt 1608. Lü 6, 279 r. Aufgedunsen, von dumsen, s. Grimm 2, 1529? (I, lc?). Durla = Dorothea N., Köchin bei Paulus Behaim 1552. Mitt. 7, 162 (VIII, 3). Durla s. auch Bethlehemi. Der Dusel = N.N., Aufseher im Turm für die Verrückten geg. 1800. Ben. W. Zahn: Nürnberger Sprichwörter, Handschr. in d. Stadtbibi. Nbg, Bl. 4 v. Von Dusel = üble Laune (Schm. I, 548) oder v. duseln, also verschlafen? (III, 1). 8

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Spitznamen

Der Eckbeck = N.N., Bäcker an einer Ecke (wohl bei S. Lorenz) 1692. J. L. Becks Chronik (Stadtb., Sign. Amb. 17. 2°), 456 r. Vielleicht schon alter Hausname (VII, 1 od. 2). Der edel Kreß = Sebald Kreß, f 1477. Chronn. dt. Städte, Bd. Nbg 4, S. 167. Ironisch? Er reitet 1445, damals 35 Jahre alt, beim Gesellenstechen in die Bahn, als alle schon „gestochen“ haben u. will „eine Ehre erjagen“, aber keiner will mehr mit ihm stechen, „da spott jedermann sein. Den man nennet den edel Kreß“. (III, I, wohl nicht 4). Ekle s. Närrisch Ehle. Der Eidtelbauer = N.N. in Mögeldorf. noch bis ins 19. Jhdt. Leo Beyer: Mögel­ dorf (1952), S. 77. Hausname (VII, 2). Die Eickelfresser = die Bayern (16. Jhdt). Lü 1, 38 r: Kaiser Heinrich V. zieht im Krieg gegen seinen Vater Heinrich IV. „den nächsten Weg mit den Aichelfressern, als den schändlichen Bayern, nach Nürnberg“. Dieser Kollektiv-Sp. soll wahrscheinlich primitiven Zustand der Zivilisation ausdrücken; im römischen Altertum war die Ansicht weitverbreitet, die Urmenschen hätten sich von Eicheln genährt; das kommt schon bei Lukrez vor und dann immer wieder (s. Realenzyklopädie d. klass. Altertumswissenschaft, Halbbd. 10 (1905), Sp. 2050). Zumal eine Stelle aus der Schöpfungsgeschichte bei Ovid (Met. I, 106) dürfte zu Lüders Zeit allgemein gelesen worden sein. — Daß die Bayern mit den Haupt-Eichelfressern, den Schweinen, verglichen werden sollen, kommt mir weniger wahrscheinlich vor (VII, 3). ♦Der Eickwagen (Mitt. 45, 27 u. 56): dazu Vorstufe der Eickwagenpaulus = Pau­ lus N. 1618. Lü Q 206 r (V, 2). Ullein mit der einen Tür = Ulrich N. 1383. D IV, 19 v (VII, l). Der eynögit (einäugige) Koppe = N.N., ausgewiesen 1315. Rechtsqu. 125. Dabei dürfte auch Koppe (s. u.) Sp. sein (I, lc). Der eineugen (!) Schütz = N. Schütz 1382. Rechtsqu. 1040. Er war kein Schütze, sondern hieß so, denn sein Sohn heißt Eberhard Schütz (I, lc). Die Einlegerin = Kunigunde („Kunl“) Schöll in Gostenhof um 1580. E VIII, 222 r —225 r. „eines Einlegers Weib beim Neuen Kirchhof“. Schwindlerin und Schatzgräberin. Einleger = Ablader von Wein oder Bier? (VI, 2b). Die Eisenköpfin = N.N., Bettlerin in Gostenhof, ausgew. 1666. Cgm 2068, 866. Eisenkopf = harter Kopf. Grimm 3, 372. Kaum körperlich gemeint (III, 3). Ela = Elena N. 1614. Lü 8, 449 v, 452 r ff. (VIII, 3). *Engelbeck = Christoph Maier, Bäcker in Gostenhof, f 1630. Erlgn 1567, 819. Farn.-Name Engel (Mitt. 45, 57) kommt nicht mehr in Frage (VII, 2). *Erbgrind (Mitt. 45, 57). Dort falsch gedeutet: Erbgrind = Grind (lat. porrigo) vielmehr durchaus geläufig (Grimm 3, 721), kommt in jener Zeit auch bei Ayrer vor (I, lc). Der rechte, große Ernst = Joh. Ernst, Schaffer zu S. Sebald, f 1603. Lü 5, 202 v. Vater des „Lutherischen“ Ernst, s. u. Scherzhafte Sinnvertauschung, nur in ge­ hobenen Kreisen verständlich. (VIII, l). Die Etlin = N., Frau des Pfragners Peter Fischer, f 1666. Cgm 2068, 871. Selbst­ mörderin, „geht um“. Ihr Vorname fehlt auch im Ratsverlaß 26. 10. 1666 (s. Mitt. 44, 215). Könnte eine geb. Edel sein (VI, 4?). Der Fäßleswirt = N. Köstler in Wöhrd 1651. Erlgn 1567, 927 (VII, 1 + V, l). Deutung damit fraglich geworden (—). ♦Die Fäulin, Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 121» 700 = der Feyhl (Mitt. 45, 58). 9

MVGN 49 (1959) Spitznamen

Der Farbbrenner = Michael Reuß, Bürgermeister v. Hersbruck bis ca. 1531. Hei­ mat (Hersbruck) 28 (1958), S. 14. Heißt auch Mennigbrenner. Berufsbezeich­ nung hier wohl schon zum Hausnamen geworden (V, 1, VII 2?). Faß den Beutel s. Vasenbeutelein. Fazele (Bonifaz) s. Metzgerfazele. FeilenUauer-Alberlein — Alb. N., Feilenhauer 1565. Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 160, 202 r (V, 2). Der Feist — Valentin Bummayr, Gerberssohn, Dieb, hinger. 1615. Lü 8, 642 v (I, la). Die vaist Kirtzemacherin (feiste Kerzenmacherin) = N.N. 1500. Chronn. dt. Städte, Bd. Nbg 5, S. 619 (I, la). Der Fenick 1611 = dem Fink, Mitt. 45, 59. Diese Form nur Cgm 2068,578 (III, 3). Der Feuerspiegel = N.N., Magd des Pfarrers Spremberger 1613. Lü 8, 33 5 r. Nach Grimm 3, 1604 = Brennspiegel. Bleibt unklar. (—). Der feurige Mann = Hans Weiß, Bortenmacher, Bettler 1671. Erlgn 1567, 1068; Cgm 3 587, 292 v. Rote Haare? Nach Schmeller I, 744 auch = Irrlicht (I, la?). Der Vickes (Fickes) = N.N., Wirt zur Roten Rose in Wöhrd, f 1669. Cgm 3 587, 292 v. Wohl obszön von ficken (schon für 1588 bei Grimm 3, 1618 bezeugt). Namensentstellung für Viktor in Nbg höchst unwahrscheinlich (III, 3). Zur Ab­ leitungsendung -es (bzw. -us) s. Gebh. S. 130. Der Fieditel = N. Schöberlein, Wirt in Wendelstein 1577. Mitt. 46, 300. Wohl Hausname nach einem Vorgänger (VII, 2?). Der Findel-Midtala = Michael N., Stadtschütze 1616. Lü Q 66 r. Wird in der Findel aufgewachsen sein (IV). Der Fipperer = N.N., Bauer in Gibitzenhof 1660. Cgm 2068, 816. Von übern = zittern (Schm. I, 68 5) (I, lc). Hans Fladenmaul = Hans N., ausgewiesen 13 50. Rechtsqu. 648 (I, lc). *Fleckl einsbuben: die Deutung in Mitt. 45, 26 besteht zu Recht. Aber Zahn (s. o. zu „Dusel“) Bl. 170 nimmt es für die letzte reichsstädtische Zeit als KollektivSp. auch in Anspruch für die armen Lateinschüler, die, in den Leichenzügen mitmarschierend, sich meist durch vielfach geflickte Kleidung auszeichneten (dann I, 2a). Der FleisckUeinz = Heinrich N., Metzger in Altdorf 1658. Cgm 2068, 793; Erlgn 1567, 966 (V, 2). Der Fleisdiverräter = Michael Weber, Fleischhauer, f 1670. Erlgn 1567, 1045; Cgm 3587, 279 r. „FL, wie ihn die Metzger insgemein genennet, ihr Verräter, ein gottloser Mann .. .“ (III, 3). Der Flexla = Hans Herdwein, Eisen- und Steinschneider, f 1612. Lü 8, 276 r. Von Flachs oder von Flechse = Sehne? (—). Fridel FligenUeubtlin = Fr. N. 1323. Rechtsqu. 330. Abnorme Kopfform? (I, lc). Der Vorstkuber = Hans Bauer, Wirt in Schwarzenlohe, f 1606. Lü 5, 549. Hinter­ sasse des Waldamtmanns, also einer, der zur Forsthube gehört (VII, 2). Das Fotzenbrünlein — N.N., Ladnerin („Kramjungfrau“) im Sigmund Gammersfelderschen Haus 1610. Lü 7, 78 v. Vom Sohn des Hauses geschwängert. Obszön (III, 3). Die Franzle = N.N. 1618. Lü Q 305 r. Hat zwei Töchter. Franziska kommt in Nbg kaum vor; wohl nach Vornamen des Mannes (VI, 57). Der Frezzer (Fresser) = N.N. 1308. Rechtsqu. 201 (III, 2). Die Fritzen-Annl = Anna Huf eis, Diebin, hinger. 1601. Lü 5, 25 r. Wohl auch nach Vornamen des Mannes (VI, 57). 10

MVGN 49 (1959) Spitznamen

Die Frösdtlin — N., Witwe des Endres Fröschel, verh. m. Hans Mayr am Korn­ markt, f 1493. Chroniken dt. Städte, Bd. Nbg 5, S. 573 f. (VI, 4). Der Fukrbauer = N.N. in Feucht 1640/42. Staatsarch. Nbg, Gemeinde-Depot Feucht Nr. 3, S. 4; Nr. 4, S. 1. Hausname (VII, 2). Hanse Furtz = Hans N., Knecht eines Raubritters 1383. Rechtsqu. 1052 (I, 2a). Der Gänsbauer = Georg Meyer, Bauer in Feucht 1640. Staatsarch. Nbg, Ge­ meinde-Depot Feucht Nr. 2, S. 2 (VII, 2). Genskrog (Gänskragen) = N.N., ehemaliger Mesner, Anf. 15. Jhdt. Mendelbuch I der Stadtbibi., abgebildet in „Dt. Handwerk im Mittelalter" = Inselbücherei 477 (193 5), Taf. 12 als Insasse des Mendelschen Altmännerspitals; dort aller­ dings mit normalem, nicht überlangem Hals. (Der Sp. wiederholt sich im 19. Jhdt. bei einem allbekannten Hausierer) (I, la). Gänspeter = Peter N., Wirt beim Glockenstuhl 1603. St. 3, 87 v. Kaum ehemali­ ger Gänsehirt; wohl eher Anspielung auf ein Vorkommnis mit Gänsen in sei­ nem Wirtshaus? (—). Der Galg = F(ritz) Vechter, ausgewiesen 1403. Rechtqu. 1021. Wahrscheinlich ein Galgenvogel (III, 3). Der Garte(n)mann = N.N., Gärtner vor dem Neuen Tor, f 1591. Erlgn 1451, 907 r. Wird mit „garten" = betteln nichts zu tun haben (V, l). Gastei s. Kastell. Der gatzet Glaser = N.N., Glaser in Altdorf 1591. Lü 4, 30 v. Zunge wegen Got­ teslästerung abgeschnitten (II, 1 bzw. I, lc). Der Gayga = N.N., Weißgerbergeselle 1468. Chronn. dt. Städte, Bd. Nbg 4, S. 301. Von gaigget = nicht resch gebacken, schwammig, Schm. I, 920? Dann wohl == weichlich, ob aber am Körper oder im Temperament? Oder etwa Verschrei­ bung aus Geiger? (—). Der Gegenbäuerle = Hans Kleinle(in), Bauer in Sündersbühl 1617. Lü Q 99 v. Hausname (VII, 2). Der Geiger = Hans Bauer, Ablader, dann Bierkieser 1609. Lü 6, 519 v. Zur Deu­ tung vgl. Mitt. 45, 63 f. Die Geiger-Annel = Anna Schreiner, geb. Danner, Metzgerstochter, Frau eines markgräfl. Streifers in Kornburg 1609. Lü 6, 441 v; St. 3, 195 r. Verleumderin. Geigen wohl Nebenverdienst des Mannes (VI, 2a). Die Geiß = N.N., ausgewiesen 133 5. Rechtsqu. 463. „einer frawen, heizzet deu Gayze". Wohl Hure („Ziege") (III, 3). Hans von Geißelwind (b. Schlüsselfeld), hingerichtet 1584. Lü 3, 414 v (VI, 1). ♦Der Geiß-Erlein = Erhard Seyfried, Roßtäuscher 1663. Cgm 2068, 844; Erlgn 1567, 1004. Name und Beruf können also jetzt ergänzt werden, die frühere Deutung aber gilt nicht mehr, ein plausible andere fehlt (—). Hans im gelben Haar — Hans N., Knecht (?) 1577. Mitt. 46, 274 (I, la). Die Gelbkopfete = N.N., Krämersfrau im Mehlgäßlein, f 1667. Cgm 2068, 874; Erlgn 1567, 1022. Frau des Schurzgeorg, s. u. (1,1 a). Der Mann mit dem Gelde = Egidius Arnold, f 1608. Lü 6, 274 v. „in India, Amerika, untern wilden Völkern mit viel Gefahren eine lange Zeit gewohnt" (V, 3). Der gelehrte Harsdörffer = Georg Philipp Harsdörffer, Gründer des Blumen­ ordens, f 1658. Cgm 2072, 605; Erlgn 1567, 966. „ein sehr gelehrter und für­ trefflicher Mann, dannenhero er der Gel. H. ist genennet worden". Sp. zum Unterschied vom „spanischen Harsd.", f 1625, vgl. Mitt. 45, 127 (III, 2). Herman der Gensmolken = Hermann N. 1381. Rechtsqu. 1029. Deutung muß offen bleiben. Event, verschrieben aus Geißmolken? (—). 11

MVGN 49 (1959) Spitznamen Velta von Gera = Valentin N. 1591. Erlgn 1451, 887 v (VI, 1). Der Geschäftige = Georg Müller, Bettelrichter 1609, 10, 13. Lü 6, 508 v; 7, 50 r; 8, 325 r. An der zweitzitierten Stelle: der gesch. Herr Georg, bei einem so subalternen Beamten sicher ironisch. Oberbayrisch: Gschaftlhuber, in Nbg noch um 1900: mastergschäfti (fehlt bei Gebh.) (III, 3). Die gesdtentig Ann = Anna Kemmer; ausgewiesen 1383. D IV, 16 v. „die man nennet die G. Annen .. . darumb daß sie einen bösen leumund het“; man darf daher nicht, wie man als Nürnberger sonst denken möchte, eine viel Schändende, also Schimpfende vermuten (III, 3). Der Gipp = Hans Schmidt, Tüncher um 1600. Lü Q 124 r. „Gib“ als ständige Redensart? (II, 3?). Der gatzet Glaser s. Gatzet. Die Glasreib er-Helena — Helena N., als Dirne ausgewiesen 1669. Cgm 3587, 290 r. Beruf des Vaters oder Mannes oder eigene Tätigkeit, etwa als Sträflingsarbeit (—-). Glaub s. Klaub. Glockengießer = Hermann Keßler, Stifter des Läufer Spitals, f 1390. Schriftenreihe d. Altnürnberger Landschaft 2 (1954), S. 5; vgl. Mitt. 46, 587 (V, l). Goldschlagerhermann = Hermann N. 1552. Cgm 2071, 140 v. Hat sich dem Mark­ grafen bei d. Belagerung erboten, den Büchsenmeister auf dem Lauferturm zu töten. Eigener oder väterlicher Beruf (V, 2 od. VI, 2 a). Gotseygeert (Gott sei geehrt) = Konrad N., ausgewiesen 1392. Rechtsqu. I, 1001. Ständige Redensart des Mannes (II, 3). Der Grabenmelber = N.N. in Lauf. Hausname bis ins 19. Jhdt. hinein. K. Sauer: Gesch. d. Stadt Lauf (1898 ff.)» 331. Nach einem Melber (Mehlhändler) am Stadt­ graben (VII, 2). Die Grä Jeute (graue Jutta), Dirne(?) ausgewiesen 1319. Rechtsqu. 134. Alter oder bevorzugte Kleiderfarbe (I, 1 b od. I, 2 a). Grellenort = N. Trostei, Haubenschmied 13 50. Rechtsqu. 752. Bei der Vieldeutig­ keit von Grelle, grellen und Ort kaum deutbar. Einer der damals so häufigen imperativischen Sp.? (—). Gronla = Hieronymus (Pfäffinger), hinger. 1566. Lü 2, 283 v (VIII, 3). Der Kronle (Gronla) = Hieronymus N., f 1702. Cgm 2068, 1129 (VIII, 3). Die große Eis = Eis N., als Ketzerin ausgewiesen 1378. Rechtsqu. 1099. Zum Unterschied v. d. „lieben“ Eis, s. unten (I, 1 a). Der Großfisch = Hans Schmidt, Mesner und Weber in Feucht, hinger. 1602. Lü 5, 73 v. Erlebnis, eigene Redensart, Hausname? (—). Der Großkopf = Leonhard Drechsel, Schneider, f vor 1593. St. 2, 208 r (I, 1 a). Der Großkopf et = N.N. 1581. E V, 25 r, v. Mitt. 45, 13 besprochen, aber dort in der Liste (S. 69) ausgefallen (I, 1 a). Der großkopfet Winter — N. Winter in Eibach 1665. Cgm 2068, 8 56 (I, 1 a). Der grün Häuslein = N.N., Zimmermann in Mögeldorf, ertrinkt 1602. Lü 5, 175 v. Kleidung? (I, 2 a?). Das grüne Männlein = Hans Heuring, Wilderer, erschossen 1602. Lü 5, 114 v. Hier wohl eher Jagdleidenschaft als Kleiderfarbe (III, 2?). Die Gscheiten = N.N. u. N.N. 1596. Gg. Hager, Werke ed. Bell (1947), Bd. 4, 1295. Die Teilnehmer am berühmten „Krokodilfang“, Name „e contrario“. „Etlich gut gsellen wohlbekannt, waren hie nur Die gscheiden gnannt“ (III, 1). Der Guldenschreiber = Bernhard Hirschfelder, Schreibmeister um 1500. Pirckheimerbriefw. I, 418. Von seiner guten Einnahme (V, 1 u. V, 3). Gumbaur, Gungbauer s. Jungbauer. 12

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GustenUofbauer = Familien Rupredit, 1615-1738 und Sdirödel 1738 ff. in Peunting. Mitt. Nürnberger Landschaft 1 (1952), S. 49. Hausname (VII, 2). Der Gute Beck in Fürth, wohl schon 18. Jhdt. Fr. Lehmann: aus d. Nbger Volks­ leben (1882), S. 195 (in einem Stück aus d. J. 1822). Später nannte man das Geschäft „die gout Becki" (übrigens Wilh. Löhes Geburtshaus) (VII, 2). Der Haas(e) = „Meister Hans Leher, Haaß genannt",, Stadttüncher 1612. Lü 8, 51 r. Charakter? Gewohnheit, mit dem Mund zu „mumpfeln“? (—). Der Haderer = Ulein (Ulrich) N., Bäckerknecht 1391. D IV, 32 v (III, 3). Häffala Fleisdtbrüh angebl. Kollektiv-Sp. für die Kurrende singenden Lateinschüier. Sie sollen unter ihren Mänteln kleine Töpfe mitgetragen haben, um sich von Mitleidigen Fleischbrühe und andere warme Getränke hineingießen zu lassen. Zahn (s. zu „Dusel"), Bl. 165 und Maas 421. Die Häffeleinsbreck = Barbara Schuster, alte ledige Kindbett- und Krankenpflegerin, f 1609. Lü 6, 279 r u. 423 r/v. So genannt „dieweil „Gotts Häffeleinsbrech" ihr stetiges Sprichwort". Lü erklärt den Sp. zweimal. Vgl. übrigens den Sp. „Hafenbrecherin", unterfränkisch, 17. Jhdt. (K. S. Kramer: Bauern und Bürger im nachmittelalt. Unterfr. (1957), S. 201 (II, 3). Der Häftla = Michael Ungestümb, Dieb 1615. Lü 8, 646 r. War Sohn eines Häftleinmachersgesellen (VI, 2 a). Der Hämlein = Albrecht Neher, Weber und Meistersinger 1610. Lü 7, 141 r. Von Hammen = Schinken oder von hämisch (Schm. I, 1105) (—). Hämmerleinskans = Hans Hön, Ablader und Handlanger 1606. Lü 5, 640 r. Weil er mit dem Hammer arbeitete oder weil er im Dienst eines Mannes Hämmerlein stand? (V, 2 od. VI, 8). Der Hainfelder Hans = Hans Feihel, Weißbierbrauer hinterm Deutschen Hof, f 1590. Lü 4, 16 v; Erlgn 1451, 882 v. Stammt aus Hainfeld bei Sulzbach (VI, l). Der Halbgewacksen (auch Nestlersfriedla) = Friedrich Lang, Stadtpfeifer 1609. Lü 6, 470 v. Kleine Gestalt (I, 1 c). Der Hamburger — N.N., Monatreiter 1618. Lü Q 204 r (VI, 1). *Der Handschuhgörg, vgl. Mitt. 45, 71: nachdem er bei Lü 4, 561 r der Handschuh und Bauer in Hartmannshof genannt wird (hinger. 1600), ist die Zuweisung zu Gruppe V, 2 und ebenso zu I, 2 a hinfällig. Hausname käme eventl. in Frage (—). Die Hans = N.N., Gewandschneiderin 1568. Mitt. 7, 130. Frau des Gewandschneiders Hans N. (VI, 2 b). Der Hanselskunz — N.N., Bauer in Röthenbach b. Schweinau 1664. Erlgn 1567, 1006, und Hanselskunz = N.N., des Vorigen Vater gleichen Namens, f 1659. Erlgn 1567, 973 und Cgm 2068, 802, 847, 850. Beides Hausnamen (VII, 2). Der Harpfensdilager-Enderlein = Andreas N., f 1625. Cgm 3587, 137 v (V, 2). Der Haubelein == Michael Schmid, f 1648. Von bevorzugtem Kleidungsstück? Könnte aber auch Hauben hergestellt haben. Erlgn 1567, 898; Cgm 3587, 186 v (dort Heubelein) (I, 2 a oder V, 1). Der Haurles-Hensa (Härleinshans) = N.N. von Wendelstein 1664. Cgm 2068, 847. Nach seinem (dürftigen?) Haarwuchs? (I, 1 a). Der Hausübel = N.N., Bauer in Gebersdorf u. Eibach, dann Soldat 1672. Cgm 2068, 938 (III, 3?). Hebentanz = Hermann Pfinzing, 14. Jhdt. U. Stromer (Chronn. d. Städte 1), S. 85. (heb den Tanz an; einer der vielen imperativischen Spitznamen jener Zeit; III, 2). ♦Der Heckeiwirt in Gostenhof auch 1663: Cgm 2068, 845. Der Heilige Geist = Anna Dietmair, Dienstmädchen, Betschwester, f 1602. Lü 5, 115 (III, 3). Heilvondererden carnifex = N.N., Metzger, ausgewiesen 1331. D III, 19 v (—). 13

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Herr Hanns = Joh. Steinberger, Pfarrerssohn v. Offenhausen 1604. Lü 5, 290 f. „christlicher Narr“, predigt und dichtet in sehr jungen Jahren (geh. 1586). „Herr“ wohl wegen anspruchsvollen Auftretens (I, 2 b). Über die Familie s. Würfel, Städtlein, S. 458. Der Herrnbeck = N.N., Bäcker 1582. Staatsarch. Nbg, Rep. 52 a, 121, S. 701. Kaum wie der Vorige, eher Hausname eines Bäckers mit vornehmer Kundschaft (VII, 2). Hergot — Heinz Haberkorn, f 1515. Staatsarch. Nbg, Rep. 52 a, 108, Bl. 98 r. Anspruchsvolles Wesen oder Lieblingsfluch? (III, 3 od. II, 3). Der Heß = Georg Baiter, Kandelgießer, Stadtknecht seit 1610. Lü 7, 200 r. Wohl Herkunft (VI, l). Der Heugel an der Langen Brücke = N. Haug, gegen 1400. U. Stromer (Chronn. dt. Städte 1), S. 93. Verkleinerung des Familiennamens (VIII, 3). Meister (H)ieronymus = Hieron. Hertenbach (Hertwach, s. Würfel, Spit. S. 124). Suttenprediger, 2. Heirat 1610. Lü 7, 126 v. Versoffen und schlampig. Bloßer Vorname, dazu das „Meister“ (Magister, das war er) wohl nur ironisch (IX; III, 3). Hie/?/ Georg oder Bock = Georg N. in Fischbach 1651. Erlgn 1567, 931. Sohn eines Matthias oder Dummkopf (Schm. I, 1180)? (VI, 7 od. III, l). Der hinkende Stadtknecht = N.N. 1615. Lü 8, 602 r (I, 1 c). Der Hintenbloz = N.N., ausgewiesen 1315. Rechtsqu. 125. Der hinten Bloße (I, 2 a). Der Hirsgeorg oder Back = N.N. v. Fischbach 1651. Cgm 2068, 742. Wohl Hausname (VII, 2). Friedrich Hochmut = Jeremias(!) Kieffner (Küfner?), Seilerssohn, f als Schüler bei S. Lorenz 1692. Cgm 3587, 404 r. „von seinen Schulgenossen“ so genannt (III, 3). Der Hösch = Hans Schrenker, Dieb, hinger. 1609. Lü 6, 425 r; St. 3, 181 v. Ist identisch mit dem Hotzsch (Mitt. 45, 76) (I, 2 b?). Der Holzkacker = N.N., Dieb 1500. Chronn. dt. Städte, Bd. Nbg 5, 616 (V, l). Die Holzwawel = Barbara Grünberger, f 1614. Lü 8, 490 r. Holzhackerin oder -Sammlerin? (V, 1). Hopf = Familie Weber, Sendelbach b. Hersbruck ab 1671. Mitt. Nbger Land­ schaft 1, 1952, S. 53. Ein Hans Hopf seit 165 5 auf dem Hof nachzuweisen, der erste Weber Hopfs Schwiegersohn. Typischer Hausname (VII, 2). Hopfengeorg = Gg. N., guter Schwimmer 1648. Cgm 2068, 697; Erlgn 1567, 899. Vermutlich echter Familienname. Analog z. B. der Hopfengustl = Gymnasial­ professor August Hopf in Nbg, Ende 19. Jhdt. (—). Der Hosen-Änderla = Andreas Osiander, Prediger b. S. Lorenz, f 15 52. Würfel, Diptycha Laurent., Predd. S. .1. Namensentstellung mit betonter Geringschätzung (VIII, 2). s. a.: Papst zu S. Lorenz. Die Hosenstrickerin = N.N., f 1636. Erlgn 1567, 866 (V, 1). Der Hublenz = N.N., Bauer in Oberhaidelbach 1606. Lü 5, 579 v. Huben-Lorenz. Wohl Hausname (VII, 2). Der Hünerfurz = N.N., Räuber 1398. Rechtsqu. 1076 u. 1077. Besonders un­ bedeutend oder unscheinbar? (I, 1 a?). Der Schmied in der Hül = N.N. 13(17?). Rechtsqu. 269. Der an der Hüle (Wasser­ loch, s. Schm. I, 1084) wohnt (VII, 1). Der Hültzen Prophet = Valentin Tüngershamer, Schreib- und Rechenmeister, Astrolog, f 1607. Lü 6, 121 v. Er hatte am linken Bein eine hölzerne Pro­ these und machte Horoskope (I, 1 c u. V, 1). 14

MVGN 49 (1959) Spitznamen Kunz Hürlein oder Roter Kunz = Konr. Lützelbacher, Dachdecker 1585. Staatsarch. Nbg, Rep. 52 a, 121, S. 733. „Sein Anhang (war) ein kleines Hürlein" (VI, 6). Der Humela = N.N., Wirt zum Roten Krebs 1576. Staatsarch. Nbg, Rep. 52 a, 110, Bl. 103 v. Hummel = Zuchtstier, oder echter Familienname, verkleinert? (—). Der Hupfer = Joh. Georg Eckstein in Weißenbrunn b. Altdorf 1785 u. 1798. Staatsarch. Nbg, Rep. 75, I, Nr. 877. Hüpfender Gang? Hausname? (I, 2 b od. VII, 2). Hurenstefan = St. Klopfer, Handlanger aus Kleinreuth h. d. V. 1610. Lü 7, 69 r; St. 3, 321 v. Er heißt auch Schrammenstefan oder der Schrammet (III, 3). Huterseboldt = Sebald N., Huterssohn, Dieb 1571. Cgm 2071, 168 v (VI, 2 a). Die Hutterin beim Wöhrder Türlein — Margarete Reu um 1510. Pirckheimerbriefw. II, S. 61 f. (ihr Brief an Pirckh.). Der Mann kann ebensogut Torhüter wie Hutmacher gewesen sein (VI, 2 b). Die Hüterin, der Püffin Tochter = Margarete Erlmann 1597. E VIII, 223 ff. Wohl Hutmachersfrau (VI, 2 b). Hertwicus dictus Jackskerzu 13(17?). Rechtsqu. 269. „schnell herbei“ entweder von seinem Temperament oder von ständiger Redensart, „jag’s herzu“ unwahrschein­ lich, weil damals die aspirierte Aussprache des g kaum schon durchgedrungen (III, 1 oder II, 3). Jesuskopf — Paulus Behaim 1540. Mitt. aus d. Germ. Nationälmuseum 1894, S. 8. Der Sp. war wohl nur in der patrizischen Familie Behaim üblich (1, 1 a). Der Ilteß (Iltis) = Konr. Beck, Tucherischer Untertan in Rötenbach (bei Schweinau?), f 1668. Cgm 2068, 861 u. 883. Diebisch oder übelriechend? Mit der rotwelschen Bedeutung „Stadtknecht“ hat es kaum etwas zu tun. Aber es wird Hausname vorliegen, denn ihm folgt Der Ilteß (Iltis) = N.N., Tucherischer Wirt in Rötenbach 1672. Cgm 2068, 938. Er könnte allerdings den Sp. des Vaters — unabhängig vom Haus — geerbt haben (Gruppe VI, 7), doch ist das unwahrscheinlicher (VII, 2). *Der Jokannisbauer s. Mitt. 45, 78 = N.N., Pächter des Hofes bei S. Johannis. Erlgn 1453b, 56 r, dort für 1821 nachgewiesen; L. Eisen: Das alte S. Johannis (1929), S. 15 (VII, 2). Der Jungbauer (auch Gungbauer, Gumbaur) = Bauernfamilie Abraham in Winkel­ haid, seit ca. 1658. Mitteilgn. Nbger Landschaft 1 (1952), S. 48 (VII, 2). *Junkerin, s. Mitt. 45, 78: Witwe, nicht Tochter des Metzgers Danner (Denner). Lü VI, 3 57 r (VI, 5). Lienhard Keeß und Broth (Käs u. Brot), Rotschmied 1580. Neubürgerbuch, Staats­ arch. Nbg, Rep. 52 b, 308, S. 109. Vorliebe dafür oder stehende Redensart (III, 2 od. II, 3?). Der Kärneralberla = Albrecht N., Kärrner 1619. Lü Q 361 r (V, 2). Der Käsherr = Bernhard Nöttel d. Ä., Kaufmann, f 1609. Lü 6, 509 r. Brachte jährlich zweimal von der Frankfurter Messe jedem Geistlichen von S. Sebald einen großen holländischen Käse mit (IV). Das Kätzlein = N. Schramm, Kartenmalersfrau und Schmeckenbinderin 1601. Lü 5, 592 v. (von den Kolleginnen) „am Markt“ (wo sie ihre Blumensträuße feilhielt) „so genannt". Wohl eher nach d. Charakter als nach d. Äußeren (III, 3?). Die Kaiserin = Adriana C(h)arpentier, Goldschmiedsfrau, f 1610. Lü 7, 152 v. Soll in ihrer Jugend in Prag Konkubine Kaiser Rudolfs II. gewesen sein. Von dort reich beschenkt zurück (IV). 15

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Kaldenaht (Kalte Nackt) = Lambert v. Brunn, Bischof von Bamberg, f 1398. Chron. dt. Städte, Bd. Nbg 4, S. 237. „Den Namen gab man ihm, wann er fluchet allweg einem ein Kaldenaht“ . .. Sp. auf Nbg beschränkt? (II, 3). Kaltenbauer(nhof) = Familie Sperber in Leinburg seit 1733. Mitt. Nbger Land­ schaft 1 (1952), S. 51 (VII, 2). Der Kam(m)sbauer bei S. Johannis 1820. Erlgn 1453b, 51 r. Hausname, wohl nadi einem Besitzer namens Kamm; sicher schon vor 1800 (VII, 2). Der Kantengießer(le) = N.N., Bote zwischen Venedig und Nürnberg 1506. Pirckheimerbriefw. I, 387 u. 425. Sohn eines Kandelgießers oder selbst einer (VI, 2 a

oder V, 1). Hermann der Kapplan = Hermann N., f 13 37. D III, 24 r. Sp., keine Berufs­ bezeichnung, da von seiner Frau die Rede ist. Auftreten? (I, 2 b?). Der Kartäuser = Hans Löffelholz, f 1454. Joh. G. Biedermann: Geschlechtsreg. d. Patriziats (1748) Taf. 301. War seit 1439 im Kartäuserkloster. Hieß auch der Kurze (VII, 1). Kartenmalersdurla = Dorothea Erb, verheir. Buchholtz 1610. Lü 6, 544 r u. 7, 77 r; St. 3, 326 r. Vater Kartenmaler (VI, 2 a). Der Kastell = Kastulus Fugger, auch „Gastei“. A. Dürer, Brief 1506 (Dürer, schriftl. Nachlaß, Ausg. Rupprich 1956) = Pirckheimerbriefw. I, 320 (VIII, 2). Herrn von Katzenklopferberg = die Kürschnermeister 1602. Lü 5, 77 r, v. Berufs­

schelte (V, 1). Die Katzennellerin = Frau N.N. 1617. Lü Q 137 v. Nellen = kleines, lebhaftes und schnippisches Mädchen (Schm. I, 1736 f.); wendig wie eine Katze? (III, 1 od. 3). Herkunftsname = von Katzenelnbogen unwahrscheinlich; zur Etymologie dieses Ortsnamens, bes. über die beiden Arbeiten von Ad. Bach darüber („kleine Bachkrümmung“) s. K. E. Demandt, Regesten d. Grafen v. Katzenelnbogen I (1953), S. 15. Der Kaufmann = Leonhard Männer oder Pommer, Ringmacher, f 1615. Lü 8 592 r und 630 r. Heißt so, weil er gefangene Vögel (Nachtigallen usw.) von den Fenstern stiehlt, auch Messing von öffentlichen Brunnen, und sie dann ver­ kauft (III, 3). Der Keiler = Hans Ruppenstein, Stadtschütze 1577. Mitt. 46, 278 nach Ratsverlaß 13. 2. 1577. Treibt Unzucht mit gefangenen Huren. Kaum — Eber, da Keiler in dieser Bedeutung in Nbg nicht nachgewiesen; eher von keilen = prügeln (III, 3). Der Kersfen(Kirschen-)esser = Hans N., Barbier und Bader im Sandbad, f 1608.

Lü 4, 60 und 6, 277 v. Bekanntes Original. Lieblingsessen oder wohl eher Erlebnis mit Kirschen (IV od. III, 2). ♦Der Kerzenkans = Hans N., Kerzenmacher 1527, vgl. Mitt. 45, 80. Dazu jetzt Mitt. 47, 446, wo' Verf. irrt: das Geld wurde offenbar „Kertzenhannsen“ (Dativ0 gezahlt (V, 2). Kerzenmackerin (V, 1) s. feiste K. Der KeßlertUoma = Thomas N., Keßler 1606. Cgm 3 587, 78 r (V, 2). Der Kirchabeck = Bäcker bei der Kirche in Lauf, bis ins 19. Jhdt. K. Sauer: Gesch. d. Stadt Lauf (1898 ff.), 331 (VII, 2). Glaub (Klaubl)-Kilian = „Nikel Steudlein sun“ 1491. Chronn. dt. Städte, Bd.

Nbg 5, 565. Einer, der Dinge — aus Armut? — aufklaubt? Die Schreibung mit „G“ ließe eher an ständige Redensart denken (—). Der Klausbeck = Hans Gotthardt, Wirt(f) in Feucht 1606. Lü 5, 572 v. Da Wirt und nicht Bäcker, wohl Hausname (VII, 2). 16

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Spitznamen

Der klein Heringschauer = N.N., f 1503. Staatsardi. Nbg, Rep. 52a, 108, BL 87 r. Vielleicht kein Sp., sondern Familienname Klein (—). Der kleine Ludwig = Ludwig N., Stadtknecht 1564. Staatsardi. Nbg, Rep. 52 a, 160, BL 201 v (I, 1 a). Der kleine Wirtlein = Hans Hoffmann, Wirt in Katzwang 1610. St. 3, 373 r (I, 1 a u. V, 1). Der Klopfer = Sebastian Weidle, Hundsschlagersknecht 1617. Lü Q 114 r. Weil er in seinem Gewerbe (Hundsschlager = Fallmeister) schlägt? Oder brutaler Charakter? (—). Knäcklaskerr (Kneckleinsherr) ab spät. 16. Jhdt. (1584 ff.). Lü 3, 443; 6, 13 v, u. a. Berufsschelte für einen kleinen Eintreiber von Schulden; näher erklärt Mitt. 47, 458 f. (V, 1). Der Knappete — Kaspar Streng, Bettelrichter 1609/10. Lü 6, 508 v; 7, 50 r (I, 1 c). Der Kneiling = Ludwig Held, Metzgerssohn, f 1618. Cgm 3587, 125 r. Klein und rund wie ein Knäuel (Schm. I, 1343), wie der Kneulein in Mitt. 45, 83 (I, 1 a). Der Knie = Georg Maier, Schwabenweber, f 1587. Lü 3, 539 r; St. 2, 116 v; Erlgn 1451, 822 r. Wohl wegen Mißbildung oder Verletzung am Knie (I, 1 c). Der knocket Heinz = Heinrich N. 1505. Chronn. dt. Städte, Bd. Nbg 5, S. 690. Wohl knochig (I, 1 a). Der Knöckla (Nr. 1) = Hans Schwender, Metzgerssohn 1602. Cgm 3587, 56 r. (Nr. 2) = Hans Ziegler in Wöhrd 1610. Lü 7, 29 v. Beide vielleicht wegen Vorliebe für Metzelsuppen (vgl. Mitt. 45, 83) oder wegen kleiner Gestalt, „Knackn“ vgl. Maas 431 (—). Die Kneckla (Knöckla) = Heinrich u. Peter Roth, Vater u. Sohn, deutsche Schul­ meister 1606. Lü 5, 600 r. Vgl zu den Vorigen (—). Der Knödlein = dem Knöckla Nr. 1. St. 3, 12 r, wohl Schreibfehler, wie bei ihm öfters (—). Die Knopffsbäuerin (auch Knöpffsb.) = Anna, Frau des Georg Braunspach in Feucht, f 1584. Lü 3, 417 v, 418 r. Hausname (VII, 2). Der Köberla — Stefan Schlung, Büchsenschmied 1600. Lü 4, 535 r. Von Köbler = armer Kleinbauer oder (Schm. 1, 1217) von Kobel = Schindmähre. Jedenfalls also in kümmerlichen Verhältnissen (V, 3). Der Koniglein = Hans König, Landesverräter, hingerichtet 1444. Chronn. dt. Städte, Bd. Nbg 4» S. 162; Müllners Annalen (Handexemplar des Staatsardi. Nbg), 3, 1071. Einfache Namensverkieinerung (Vlll, 3). ♦Der Kohlbauer = Nikolaus Meichsner, Antwerpener Bote, hinger. 1617. Lü Q 184 v. Deutung Mitt. 45, 84 war voreilig; denn Lüder erklärt ausführlich, wenn auch schließlich zwiespältig: „Daß man ihn aber den K. genennet . .. ist daher kommen: erstlich daß er bei einem Kutschenfahrer Michael Friedreich allhie in seiner Jugend gedienet, welchen, weil er an Haar und Bart schwarz gewesen, man den Kolbauern genennet; weil denn er, Niclaus, unter dem An­ gesicht auch an Haar und Bart nicht weniger denn sein Herr schwarz gewesen, hat man ihn auch den Kolbauern genennet (das wäre also Benennung des Dienstboten nach dem Sp. des Herrn). Fürs ander aber, und fürnemlich, ist er der K. genennet worden, dieweil er bei einer Bäurin, die auf eim Kohlwagen aus der Stadt heimgefahren, Öffentlich gelegen und die Kohlen auf dem Wagen ausgestoßen, daher die Kutscher ihme den Namen Kohlbauer gegeben, welcher Name ihme denn auch geblieben ist". Diese zweite Erklärung wäre also auf ein markantes Erlebnis zurückzuführen (VI, 8 u. IV). Der Kohlbauer = Michael Friedrich, Kutscher, geg. 1600. Lü Q 184 v. Deutung s. vorigen Sp. (I, 1 a). 2

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Mitt. 44, 212). Pfitschala = naseweises junges Ding, später öfter bezeugt Maas 448; Mitt. 29, 361), hier bisher ältestes Beispiel (III, 3). Der Pflastererwölf lein = Wolfgang N. 1619. Lü Q 323 v; 324 r (V, 2 od. VI, 2a). Der Pillabauer = Familie Pöllet, ab 1667 Farn. Waitz in Rasch. Mitt. Nbger Land­ schaft 1 (1952), S. 49. Hausname, ursprüngl. wohl ein entstelltes Pöllet; Pöllat u. Pöllet in der Gegend häufig (VII, 2). Der Poßler = Georg Maier, Beckenknecht, als fornicator ausgewiesen 1619. Lü Q 288 r; 289 r. Possein = untergeordnete Arbeit tun (vgl. Mitt. 45, 105). In den Verlässen des Spitals (Stadtarch. Nbg) gewöhnlich geradezu als Funktions­ bezeichnung (V, 1). Der Postreiter: Hausname der Inhaber d. Hauses Altensittenbach Nr. 47, nach 1627 bis heute (1752—92 Familie Bär, dann Farn. Scharrer). 1627—1834 war auf dem Haus die Postgeschäftsstelle nebst Poststall für Hersbruck u. Umg. (bis Hart­ mannshof). Heimat (Hersbruck) 27 (1957), S. 22 f. (VII, 2). Der Prackenbauer = N.N. (aus Prackenfels?) 1657. Cgm 2068, 771. Wird in einer Nacht auf dem Heimweg beim Altdorfer Friedhof irrsinnig. Brack = Hund (= dicke Person, Schm. I, 346, wohl nur oberbayrisch). Hat also vielleicht Hunde gezüchtet; aber Beziehung zu dem Altdorf benachbarten Prackenfels nicht ganz ausgeschlossen, dann allerdings nur außerhalb seines Heimatdorfes denkbar (V, 1?). Der Preusel = Paulus Neunacher, Schuhknecht 1618. Lü Q 229 r. Trotz der un­ gewöhnlichen Wortform doch wohl, da er aus Danzig stammt, auf Preußen zu beziehen (VI, 1). Der Preuß = Martin Buchholz, Tuchmacher oder Schuster 1609. St 3, 252 r; Lü 6, 514 v. Das „Tuchmacher“ bei St. Flüchtigkeitsfehler; denn er heißt auch noch der lateinische Schuster (s. o.) (VI, 1). Der Pröllenbader = N. Oesterreicher, Bader im „Prüll“ 1491. Chronn. dt. Städte Bd. Nbg 5, S. 565. Zum Pröllenbad vgl. Hegels Anm. a.a.O. (V, 1 + VII, 1) u. Jegel in Freie Schriftenfolge der Ges. f. Fam.forschg. 6 (1954) S. 31. Der hültzen Prophet s. Hültzen . . . Der Prügel — Hans Müller, Tüncher, f 1600. Cgm 3587,48 r. Gewalttätiger Mensch oder ein „Prügel-Mannsbild“? (III, 3 od. I, la). ♦Der Pülverlein (Pülfferla) = Hans Schober v. Wöhrd, Einbrecher, hinger. 1584. Erlgn 1451, 785 r. 16 (nicht 12, wie Mitt. 45, 106) Jahre alt, Sohn eines Pulvermachers „sunst Pülfferlein genannt, dann er allda (in Wöhrd) eines Pulffermachers Sühn gewesen ist“ (VI, 2a). Der (0 Püschel = N.N., „ein leichtfertig Weib“ in Leinburg um 1570. Staatsarch. Nbg, Rep. 75,1, Nr. 145, Zeidelgericht Leinburg. Wohl gleichbedeutend mit Ruschei, Raschei = eilfertig, oberflächlich arbeitende Person, vgl. Mitt. 43, 45 5 u. 45, 106 (III, 3). Der Pumpenwirt = Joh. Wildensinn, Wirt zur Eiche in Schweinau (Schw. Hauptstr. 14). Staatsarch. Nbg, Rep. 75 I, 866, Juni 20 173 8. Entweder weil er den Wein zu sehr wässert, oder weil vor s. Haus eine Pumpe steht (wie beim Röh­ renbeck, s. unten). (—). Der Quack = N.N., Rotschmiedsdrechsler geg. 1800. J. W. Weikert: Szenen aus d. reichsstädt. Nbg (1842), S. 26. Kleiner Kerl (I, la). Räihern s. RöhrenDer reckte Ernst s. o. Ernst. Der Reftragergörgla = Georg N. in Wöhrd 1655. Cgm 2068,759; Erlgn 1567, 944. Berufsbezeichnung: Ref = Traggestell, auf dem Rücken zu tragen; und 24

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die Reftrager speziell in Nbg sind die Händler, die Eier, Schmalz usw. auf den Markt bringen, vgl. Schm. II, 66 (V, 2). Der Reick Wirt = N.N. in Bernbach b. Burgfarrnbach 1499. Chronn. dt. Städte, Bd. Nbg. 5, 609. Vielleicht schon zum Hausnamen geworden (V, 3; VII, 2?). Der reiche Zol ~ N. Zoll, Bauer in Großreuth h. d. V. 1505. Chronn. dt. Städte, Bd. Nbg 5, 691 (V, 3). Die Reisfrau = Witwe Magdalena Schwab, f 1608. Lü 6, 173 r. Hat alljährlich allen Geistlichen von S. Sebald in der Fastenzeit je ein Säcklein mit ca. 20 Pfund Reis geschenkt (IV). Die Rektorin, vgl. Mitt. 45, 107. Über sie und ihren lockeren Lebenswandel noch Lü 8, 337 v. Der Ricktermertl = Herr Martin Wolff 1648. Cgm 2068, 703 (V, 2). Richtersimon = N.N. in Wendelstein 1651. Erlgn 1567,930. Hausname? (VII, 2). Der Ritter-Erlein = Erhard N., Wirt (?) in Schweinau 1664. Cgm 2068, 847. Könnte Familienname sein (—). Der Ritterhenslein — Hans N., Rotschmied, hinger. 1524. Cgm 2071, 113 v; Germ. Museum, Hs. 60 878, Beibd, 63a (dort Rittershänsla). Wie der Vorige? (-). Der Räihernbeck (Rökrenbäcker) — Bäckerei beim heutigen Grübelsbrunnen. Frdr. Lehmann: Nbger Volksleben (1882), S. 162. Hausname nach dem dortigen Röhrenbrunnen, wohl älter als 1800 (VII, 2). Rörnkunz = Konrad Rudolf, Röhrenmeister, f 1518. Mitt. 48, 134 (nach Neudörffer). Wegen seiner Geschicklichkeit sprichwörtlich. Die *Rörnkunzin (Mitt. 45, 108) ist seine Tochter (V, 2). Der Rose = Ulrich Reymar, 1317. L. Eisen: Das alte S. Johannis (1929), S. 15. Stiftet die Johannisfelder, die nach ihm auch eine Zeitlang Rosenau hießen, am Siechkobel St. Johannis. Wohnte wohl in einem Haus zur Rose? Hausname weniger wahrscheinlich (VII, 1?). Die Rostin = N.N., Wirtin in Mögeldorf, f 1664. Cgm 2068, 853. Wohl die Rostige, Rothaarige, vgl. Mitt. 45, 109 (I, la). Rufus Ditricus (der rote Dietrich) 1316. Rechtsqu. 266 (I, la). Der rote Hans von Egloffstein 1552. Müllners Annalen (Handexpl. d. Staatsarch. Nbg) 4, 2052 r. (I, la). Der rote Kunz = Konrad Lützelbacher, Dachdecker 1585. Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 121, S. 733. Heißt auch Kunz Hürlein, s. dort (I, la). Der rot Peter = N.N. um 1584. Lü 3, 446 r. Alter Mann, Messerstecher, kommt im Lied vom Närrischen Kaspar vor (I, la). Der rote Schneider = N.N. in Wöhrd, f 1646. Cgm 2068,685; Erlgn 1567,892 (I, la). Die rot Gred = Margarete N., Händlerin, ausgewiesen 1384. D IV, 28 r (I, la). ♦Der Rotgeseßlem, Mitt. 45, 109, hat mit dem wirklichen Gesäß nichts zu tun. Geseß ist vielmehr = Hose, s. o. zu Birngeseßlein. Also der mit der roten Hose (I, 2a). Der Rubsdmitz = Hans Schneider, Bäcker, f 1609. Sein Grabstein auf dem Jo­ hannisfriedhof, Nr. 1900 (J. F. Gugel: Norischer Christen Freydhöfe Gedächtnis, 1682, S. 92 und J. M. Trechsel, Johannisfriedh. (1736), S. 414). Rübenschnitz etwa = geringfügig, unscheinbar? (I, la?). S., der Rurenpfeffer, f 1384. Rechtsqu. 1070. Einer der vielen alten imperativischen Sp. „rühr den Pfeffer“. Gewürzhändler? (V, 1?). 25

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Der Seger Hans (Sägershans) = Hans Philer (I, Bühler?) in Fischbach 1666. Cgm 2068, 865. Eigener oder väterlicher Beruf? (—). Der Säu-Besenkans = Hans Martin, Kleiber und Besenbinder, hinger. 1605. Cgm 3587, 64 r. Identisch mit dem *Säuhans, Mitt. 45, 110. Besenhans Berufsbez., Säu- den Charakter bezeichnend (III, 3 + V, 2). Die Säufängerin = N.N., Zimmermannsfrau im Schottengäßlein 1597. E VIII, 224 r/v. Nach einem Erlebnis? (IV?). Der Säutrog = Georg Weber aus Dinkelsbühl, Zimmermeister und Erfinder in Nürnberg 1532. Erlgn 1567, 364. Er wird fast in allen Chroniken wegen seiner Kunst ehrenvoll genannt (auch von Neudörffer: Nachrichten . . . hg. v. Lochner 1875, S. 79 ff.), hatte den Namen wohl in Dinkelsbühl erhalten, wo er sich durch „Kollaboration" mit den aufständischen Bauern 1525 unbeliebt gemacht hatte (III, 3?). Der Säusdmeider = Joh. Burkhard aus Affaltertal, Dieb, in Lauf hinger. 1719. Siebenkees, Materialien II (1792), S. 697. Beruf (V, l). ♦Die Sandkasen = die Nürnberger, vgl. Mitt. 45, 111. Beleg, schon vor Hans Sachs: Charitas Pirckheimer, Brief von 1518: „Die armen gefangenen Sandhäslein“. Dürer, Schriftl. Nachlaß hg. v. Rupprich (1956), S. 81, Anm. 5 (VII, 3). Der Saudreg (Saudreck) = (Anna Urs. Rank) Hure, ausgew. 1698. Cgm 2068, 1111. Variante zu *Säutrog für die gleiche Person, Mitt. 45, 110 (III,3 bzw. V, 1). Dietel Saukaut = Dietrich N., ausgewiesen 13 50. Rechtsqu. 649. Schmutziger Auf­ zug oder an Haar u. Körper borstig? (I, 2a od. la). Der Sckäbelein = Kern, Wirt zur Leeren Stützen (lakobspl. 8) 1693. Cgm 3587, 416 r. Vielleicht von der üblen Angewohnheit, zu schäbbeln = sich dauernd zu kratzen, bes. am Kopf (Schm. II, 352) (I, 2b?). Der Schäcktelemacher — N.N., Stadtschütze 1591. Erlgn 1451, 889 v (V, l). Der Sdiäfer = Georg König, Dieb 1604. E X, 277 v, 278 r, 280 r. Hat bei Lichtenau 1 Jahr lang Schafe gehütet (V, 1). Der Sdtäffbauer = N.N., Bauer auf dem Schafhof 1577, 1631. Lü 3, 179 v ff.; Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 121, S. 659; Stadtarch., Verlässe des Spitals 1631, S. 203. Hausname für ein Anwesen am Judenbühl, bei den „Spittelgruben", Hintersasse des Hl. Geist-Spitals. 1631 heißt er Ötterich (VII, 2). Die Sckalcksleker (-loher?) = die Einwohner der Sebalder Stadtseite 1605. Lü 5, 443 v. Gegenstück — Lorenzer Seite — s. o. Bocksloher. Vorerst unerklärbar (VII, 3). Der Scheirelmerta = Martin N., Knecht des (Paulus) Scheurl 1584. Balth. Paumgartner, Briefw. (Bibi. Lit. Verein 204), S. 64. Seine Frau schreibt ihm: man wolle sich wegen eines neuen Knechts erkundigen, falls sie „was feins für uns haben, sunderlich wie der Scheirel Merta wär" (Der Herausgeber Steinhausen spricht dabei von einem Martin Scheurl, den es nie gegeben hat). Knecht nach dem Herrn benannt (VI, 8). Hans Sdieißindiestuben = Hans N., ausgewiesen 1327. D III, Bl. 17. Nach seiner Lieblingsredensart benannt („Scheiß die Wand an" lautete in Erlangen vor rd. 50 Jahren ein Ausruf des Erstaunens oder auch Unwillens) (II, 3). Die Sckellenbäuerin = N.N. in Zerzabelshof 1739. Stadtarch. Nbg, Bestand Löf­ felholz 71, 1739. Hausname; vielleicht war der Bauer ein „Schellenrichter", der jährlich die Kuhschellen richtete, d. h. vor allem neu stimmte; die Löffelholz liebten damals das Herdengeläute, ließen auch jährlich die „Schellenbögen" neu 26

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bemalen, wie immer wieder aus den L'sdien Jahresredinungen a.a.O. hervor­ geht (VII, 2). ♦Der Schellnklaus 1519, s. Mitt. 45, 113. Die Quellen Cgm 2069, 101, 107 und Cgm 2070, 237 v schreiben dauernd: Schelmklas; das würde für die hochkrimi­ nelle Familie gut passen (dann III, 3). Das Sdtenkenklärlein = Klara Baudemann, Kürschnerstochter, Hure, ausgewiesen

1610. Lü 7, 10 v; St. 3, 292 r. Schenke = Wirtshaus in Nbg ungebräuchlich. Daß sie sich gegen ein Geschenk, „Schenke", hergab, wäre eine zu konstruierte Deutung. Da der Fam.-Name Schenk in Nbg öfters vorkommt (s. die Register­ bände der Mitt.), ist die geborene Schenk anzunehmen (VI, 4). Der schilent Wigelin, ausgewiesen 1315. Rechtsqu. 125 (I, lc). Die schicklete Käuflin = N.N. 1596. Lü 4, 248 v (I, lc). ♦Der Sdiiffterla, hinger. 1594, s. Mitt. 45, 114. Erlgn 1451, 977 v: „ist des Puxenschifters, welcher ein Schütz ist, Sohn gewesen" (VI, 2a). Der Schindersgerla = Georg N., wegen Attentats an Ansbach ausgeliefert, dort hinger. 1724. Cgm 2068, 1232, 1233, 1236 (dort ,,-görgele") (VI, 2a?). Heinrich Slaifenspiez (Schleif den Spieß!) = Hch. N., 1323. Rechtsqu. 330; wohl imperativische Berufsschelte (V, 2). ♦Der Schlenkerla, s. Mitt. 45, 115. Sp. für 1587 bezeugt: Lü 3, 548 r. Schlosser-Utz = Ulrich Friedrich, Plattschlosser 1616. Lü Q 20 v, 21 r (V, 2). Der Schloß-Six = Georg (nicht Sixtus) Meyer von Unterrißbach (Unterrüsselbach), junger Bettler, in Lauf hinger. 1604. Siebenkees, Materialien II (1792), S. 696. Wahrscheinlich Hausname (VII, 2). Der Schmalzig = N.N., Drahtzieherssohn, Einbrecher 1588. St. 2, 152 r. Deutung wie beim Folgenden (I, la od. III, 3). Der Schmalzkübeiein = Leonhard Jobstitz (Jubitz), Fuhrmann 1694. Cgm 3587,

419 v. Fettglänzend oder „schmalzig" in seinem Auftreten (der wahrschein­ lichere Name Jubitz gedeckt durch R I, 477 r, dort ohne den Sp.) (I, la od. III, 3). Das Schmeckenbindermadla — Susanna Reuttel, Magd, hinger. 1606. Lü 5, 592 v. Magd bei einer Schmeckenbinderin (Blumenstraußbinderin) (VI, 8). Der Schmidtpeter = Peter Rost, wohlhabender Weinführer in Reutles 1606. Lü 5, 638 v. Wohl Hausname (VII, 2). Das Schmiedsmaigdlein = Margarete Weiß, Schmiedstochter 1611. Lü 7, 353 v (VI, 2a). Schmiedmidhel = Michael Kirsbaum, Schmied in Feucht 1637/39. Staatsarch. Nbg, Gemeinde-Depot Feucht 1, S. 2; 2, S. 5 u. ö. (V, 2) ♦Die Sdmäblin 1516, s. Mitt. 45, 118. Nach Lü 8, 647 r, Tochter, nicht Frau des sogen. Schnabel (VI, 7). Der Schneiderhensa = Hans N. in Schweinau 1661. Cgm 2068, 825. Eigener Beruf oder der des Vaters (V, 2 od. VI 2a). Der schöne Herr Georg = Georg Werner, seit 1602 Prediger bei HL Geist. Lü 5, 195 r. Wohl Spezial-Sp. bei den Kollegen von S. Sebald, wo Werner bis dahin Diakonus war (I, la). Der schön Hans = Hans N., Schuster, als Aufrührer ausgewiesen 1349. Rechtsqu. 634 (I, la). Die schöne Schwäbin = Sibylla Scheurl, geb. Ehern von Augsburg, f 1610. Lü 7, 58 v. Mit Karl Scheurl in 3. Ehe verh. (I, la). Die Schöpferin = Anna Silber, Witwe des Wasserschöpfers Heinrich S. 1615, 1616. Lü 8, 610 v; Q 6 v, 15 r. Mutter der *Schöpferszusel (Mitt. 45, 120), deren Familienname damit auch gefunden ist (VI 2b). 27

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Sehramhenslein = Hans N., Tüncher, f 1565. Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 160, Bl. 203 v. Familienname Schramm oder von einer Schramme (—). ♦Der Schrammet, Mitt. 45, 121. Stefan Klopfer. Hieß auch der Schrammenstefan: Lü 7, 69 r; St. 3, 321 v (I, lc). Auch Hurensteffa, s. o. Der Sdxreiber = Balthasar Weiß, Metzger 1607. Lü 6, 22 v „sonst auf dem Hand­ werk der Sehr, genannt“. Schrieb gerne oder gut (III, 2). Schrot den Dreck, ein Jäger „aus Bissingen“ um 1520. Jörg Graff: Lied von einem Jäger (abgedr. Weimarer Jahrbuch 4, 1856, S. 436). Da das Gedicht deutlich Nürnberger Verhältnisse voraussetzt (Mögeldorf, Buchenklinge), wird der Jäger auch dort sein; aber vielleicht Phantasie-Sp. Ständige Redensart (II, 3). Der Schübela = Hans Büttner, Gärtner, f 1697. Cgm 2068, 1098. Schübel = Büschel (Haare, Reisig, Heu). Vom Haar oder = klein? (—). Der Sdhütlein = Leonhard Müller, Metzgersknecht, Dieb, hinger. 1615. Cgm 2068, 589. Schütt ähnlich wie Schübel. Deutung ungewiß (—). Schüttensam(en) = Hans N., Straßenräuber, hinger. 1474. Vgl. Reicke, Gesch. d. Reichsst. Nbg (1896), 453. Das Lied über ihn abgedr. v. L. Erk, Liederhort II, 1893, S. 31. Dort der Name erklärt mit „wirf die Saumlast ab“, der Aufforde­ rung an die Leute, die er plünderte, s. a. Schm. II, 488 über das Nachleben des Namens. Hatte er ihn in Nbg oder in seiner oberfränkischen Heimat bekom­ men? (II, 3). Der Schulmeister von Katzwang = Leonhard Reutter, Soldat in Nbg 1585, 1596. Lü 4, 250. „ist der Sch. v. K. genennt worden, so er doch sein Leben lang zur (0 Katzwang niemals, sondern anno 158 5 zu Feucht 5 Wochen lang Schulmeisteramts-Verweser gewesen“. Über ihn bei Lü auch ein Lied (IV). Der Schurzgeorg = Georg N., Krämer im Mehlgäßlein 1667. Cgm 2068, 876; Erlgn 1567, 1022. Von seiner Arbeitskleidung, also „mittelbarer Berufsname“ vgl. Mitt. 45, 27 (V, 2). Die Schwäbin = N.N., Hure, ausgewiesen 1655. Erlgn 1567,944. Wohl eher Herkunfts- als Familienname (VI, l).

Die schöne Schwäbin s. schön. Die Schwarze = N.N., alte Kammachersfrau 1677. Cgm 3587, 319 v (I, la). Der schwarze Bauer = N.N. von Kraftshof, ausgewiesen 1613. Lü 8, 356 v, 357 v

(I, la). Der schwarze Bettelrichter (Nr. l) = Wolf Münderlein, Bettelrichter 1609, 1615. Lü 6, 508 v (I, la). ------ (Nr. 2) == Gallus Münderlein, Sohn von Nr. 1, auch Bettelrichter, f 1615. Lü 8, 626 r. Vererbung des Sp. vom Vater auf den Sohn (VI, 7). Der schwarze Kaspar = Kaspar Helfferich, Stallmeister 1614. Lü 8, 387 v (I, la). Der schwarze Lorenz = Lorenz Teernot (?>, Dachdeckersgeselle, f 1614. Lü 8, 511 v (I, la). Der Schwarzauget = N.N., Metzger in Wöhrd 1651. Cgm 2068, 739; Erlgn 1567, 928 (I, la). Die Schwedin = N.N., Soldatenweib, ausgewiesen 1658. Cgm 2068, 794; Erlgn 1567, 967. „War eine häßliche alte Hur“ (R II, 661) (VI, 1). Die alte Sckwefelfrau auf dem Steig = N.N. 1599. Lü 4, 413 r (V, l). Die Schweinsblattern = Hans und Erasmus Hammer, einer Dachdecker, der andere Sackträger 1619. Lü Q 289 r; Cgm 3587, 126 r (hier ohne echte Namen). Blat­ tern = Blase (Schm. I, 332), also wohl mit dicken, fahlen Gesichtern wie eine Schweinsblase (I, la). Der Schweinsehrlein = Erhard Waidmann in Altensittenbach 1609. Lü 6, 462 v.

Vermutlich Schweinehirt (V, 2). 28

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Spitznamen

Der Schweizer = Georg Wild, Placker, hinger. 1559. Müllner zum Jahr (VI, 17). Der Schweitzer — Simon Lang, Schmied 1658. Cgm 2068, 661 (VI, 1?). Die Semel — N.N., Schürzenmacherin 1600. Lü 4, 554 v. Alte Schreibung für Sem­ mel; wohl semmelblond (I, la). Adam Sengeisen, Schaffer zu S. Lorenz, f 1600. Lü 4, 540 r/v. Lüder erläutert: die Familie hieß eigentlich Wenkhamer, Sengeisen war der Sp. seines Vaters, eines aus Württemberg nach Nbg eingewanderten Hufschmieds, ihm bei der Gesellen­ taufe verliehen, wie die Schmiede sonst z. B. Löschwedel, Löschtrog, Kohlen­ klopfer, Zankeisen, Zerreisen, Blasebald, Schlegel usw. geheißen werden (soweit Lüder). Da hätten wir also ein sehr spätes Beispiel dafür, wie ein Sp. — hier indirekte Berufsbezeichnung — zum Familiennamen wird (VI, 7 + V, l). Das Sesselgstell = N. Dill, Beutler um 1760. J. W. Weikert: Szenen aus d. reichsstädt. Nbg (1842), S. 107. Weikert erklärt: er hatte sehr krumme und kurze Beine (also wie die Beine der damaligen Rokoko-Sessel!) (I, lc). Hanse mit dem Sewrauge — Hans N. 1582. Rechtsqu. 1041. Seurlein ist ein Eiter­ bläschen (Schm. II, 522). Chronisch entzündetes Auge (I, lc). Der Siebenstreick = N.N., Schalenschröter in Gostenhof 1597. E VIII, 209 r, 217 r. Er war Rutengänger und half beim Schatzgraben. Wohl ein Renommist, man denkt an die „Sieben auf Einen Streich“ des Märchens (III, 3). Der Silberjäckleiti = Jakob N., Hafner 1570. Lü 2, 336 r; Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 121, S. 614 u. ö. Kaum deutbar. In Fischers Chronik (Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 109, BL 183 v) „Silber Lutz Jäckleins, genannt Hefners, Tochter Brigita“, die auch als Brig vorkommt, Giftmörderin (—). Der silbrein Walther = Walter N., Aufrührer von 1348, ausgewiesen. Rechtsqu. 632. Deutung ebenso ungewiß wie beim Vorigen (—). Der Singer = Franz Schopper, f 1404. Chronn. dt. Städte 1, S. 88 (III, 2). Sirtenteufel = N.N., ausgewiesen 1348. Rechtsqu. 725. „darumb, daz er böse wort sprach“. Wohl: (ver)sehr den Teufel oder schier d. T. Seine stehende Redensart (II, 3). Der Spänkaspar — N.N. 1562. Hs. Kassel, L.-Bibl., fol. Hist. 65, 370 v. Wahrsch. von Span = Streit (Schm. II, 670) (III, 3). Der Spätzle = Stefan Steinlein, Aufhauer auf der Fleischbank 1617. Lü Q 106 v. Wohl klein und kümmerlich (I, la). ♦Der spanische Harsdörfer, s. Mitt. 45, 127: bei ihm wohnten auch spanische Ge­ sandte zum Kurfürstentag 1611: St 3, 560 r, 604 r. Das (!) Spanner-Felicita (!) = Felizitas Merkel, Dirne, ausgewiesen 1669. Cgm 3587, 290 r. Vater wird Spanner ( = Auflader, Schm. II, 672) gewesen sein (VI, 2a?). Der Sparnbanla = N.N. in Eibach 1665. Cgm 2068, 856. Sparrenbeinchen, also dünne (I, la). Der Spinner = Leonh. Zeller, hinger. 1506. Chronn. dt. Städte, Bd. Nbg 5, 697. Tätigkeit; sp. = verrückt sein ist modern (V, l). Der Spittelbauer (Nr. l) = N.N. vor dem Laufertor b. d. Spittelgruben 1577. Lü 3, 179 v ff.; St. 2, 27 v; Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 121, S. 659 heißt er auch Mistbauer, während bei St. der Schäffbauer so heißt (VII, 2). ----- (Nr. 2) = N.N. „bei der Herren Ziegelhütten“ 1611. Lü 7, 3 57 v. Auf dem gleichen Hof 163 3 Peter Aylva (Alfa?) als Hintersasse des Hl. Geistspitals: Stadtarch. Nbg, Verlässe d. Spitals 1633, 351 (VII, 2), also Spitalhofbauer. Die Stadhelsdineiderstoditer vom Galgenhof = N.N., Hure 1727. Cgm 2068, 1259. Vermutlich Tochter eines Schneiders Eustachius N. (VI, 7). Der Stadtknechtssokn = N.N. 1606. Cgm 3587, 78 r (VI, 2a). 29

MVGN 49 (195’9> Spitznamen

Der Stakenback = Fritz Amman geg. 1400. Chronn. dt. Städte 1, S. 93 (?). Kunz aufm Stand = Konrad Sandrock, Pferdehändler auf d. Neuen Bau, f vor 1608. Lü 6, 348 v. Stand bedeutet hier den Pferdestall, also Beruf s-Sp. Lü er­ zählt: „eines Bauern Sohn von Offenhausen, ein wunderbarlidier Roßkamm, voll aller Schalkheit, Schnacken und Possen ..., bei dem die Junkerlein im Ge­ schlecht stetigs Tag und Nacht gesteckt, gespielt und pankettiert; daher man sie die Kunzisten genennet, welchen Namen sie ihnen für eine Ehre und Ruhm gehalten, und ein jeder in der Cuntzischen Zunft und Gesellschaft sein wollen. Dieweil sie es aber gar zu grob und säuisch gemacht, hat der Herr Lor. Dürrnhöffer, Prediger bei Egidi allhie, öffentlich wider sie gepredigt, sie grobe Cunzsauisten genannt und ihre heimliche Hurerei und Unzucht gezüchtigt“. Doch ergaben die Nachforschungen des Rats, daß es nicht so schlimm war ... „Darauf dieselbe Sect oder Cunzisten, der Freß- und Sauffisten, in dieser Stadt gar auf­ gehört und vergangen, mit und nach des Cuntzen Tod. Solches ist geschehen vor 15 oder 16 Jahren“ (V, 2). Die Stangenmadel = Magdalena N., Gärtnerin 1678. Cgm 3587, 327 v. Stangen­ dürr? (I, la?). Der Stantala = Konstantin Fabricius, Diakonus bei S. Egidien, f 1601. Lü 4, 370 r. Verkleinerung zu Kon-stant-in (VIII, 2). Der Steinbadi — Michael Voit, Geiger und „Hofierer“, hinger. 1585. Lü 3, 471 r; Erlgn 1451, 797 r (u. ö.). Wohl aus einem der vielen Dörfer Steinbach stam­ mend (VI, 1). Der Steinmetzenwolfei = Wolf Pretzenstengel, Zimmermannssohn, Dieb, hinger. 1612. Cgm 2068, 580. Da sein Vater Zimmermann, wohl selber Steinmetz (V, 2). Der Stengel = Georg Neuschel, Trompetenmacher, f 1557. Mitt. 45, 212 (—). Die Stickerin — N.N., 1323. Rechtsqu. 150. Selbst Stidcerin oder Frau bzw. Witwe eines Pfeil-Stickers (Schm. I, 425) (V, 1 od. VI, 2b). Der stolze Kunzlein = Konrad N., Visierer um 1575. Lü 3, 126 v (III, 3 oder nur I, 2b). Der Straubenbauer = Hans Meichsner in Zerzabelshof 173 5 ff. Stadtarch. Nbg, Löffelholz 71, 1735, Bl. 1 u. ö. Hausname. Hängt ursprünglich wohl mit Strube, Sträublein (Schmalzgebäck) zusammen (VII, 2). ♦Der Stroksckneidersgörg, s. Mitt. 45, 130. Farn.-Name ist Nützel: Cgm 2068, 983. Strohsckneiderswolfl = Wolfg. N., Bauernknecht in Rötenbach b. Schweinau, f 1664. Cgm 2068, 8 50; Erlgn 1567, 1006. Beruf d. Vaters oder des Dienst­ herrn (VI, 2a od. VI, 8). Der Stubensckaberlein = N.N., hinger. 1506. Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 108, Bl. 92v. Einbrecher, der die Stube gänzlich ausschabt, d. h. ausräumt? (III, 3?). Der Stupfler = N.N., Flurer in Steinbühl 1590. Staatsarch. Nbg, Rep. 75, II, 53 8, Bl. 18, S. 1. Stupfein = nachlesen, z. B. Ähren auf dem Feld (Schm. II, 775), also armer Mann? Oder weil er als Flurer über die Stoppeln geht? (V, 3 od. V, 1). Der Sturm Kunz = Konrad Dietrich aus Spieß, Einbrecher, hinger. 1621. Erlgn 1567, 793. Wohl ungestümes Wesen (III, 3). Süffel = Sophia (VIII, 3) s. Kuhln-Suffel. Der Tetzelbeck = Hans Herold, Bäcker 1611. Lü 7, 434 v; S. 3, 551 v. Wohnte sicher „hinter dem Tetzel“ = Tetzeigasse (VII, 1). Der Teufel = Ritter Heinrich von Streitberg um 13 50. Rechtsqu. 662 (III, 3). Der TeufelsUeinz = der Teufelsbeck, Mitt. 45, 133. Lü 8, 114 r u. Q 76 v (III, 3). Der Daller (Thaler) = Balthasar Kholl (Kohl?), Steinmetz 1611. Lü 7, 279 v. Ironische Anspielung auf Armut oder vom Wohnplatz (etwa Taschental, Mau­ kental)? (V, 3 od. VII, 1?). 30

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(1999}

Spitznamen

Der Tkomapaulus = Paulus Wagner, geb. 1602 in Hallershof, lebt 1652-67 in Kucha. Heimat (Hersbruck) 27 (1957), S. 8. Sohn des Thomas Wagner (VI, 3). Der Thuma~(Tkoma)kensel = Hans Wagner, Bauer in Hallershof 1662. Heimat (Hersbruck) 27 (1957), S. 12. Sohn des Thomas Wagner (VI, 3). Der törete Linhard = Leonhard N., Häckleinmacher 1468. Chronn. dt. Städte, Nbg 4, S. 301 (III, 1). Der töret Merkel = Markus N. 1468. Quelle = dem Vorigen (III, 1). Der tolle Nagler = Matthes Rosa, Nagler 1618. Lü Q 258 v. Sauft, zieht mit Musik herum, umgibt sich mit jungen Kumpanen, juchzt und singt mit ihnen, besteckt sich mit Hahnenfedern, tanzt oft „nacket in einem Niederkleid (— Hose)“, ficht und „gebärdet sich närrisch“ (III, 1). Der Torbi’na (Torbüttner) = Hausname in Lauf, bis ins 19. Jhdt. erhalten. K. Sauer: Gesch. d. Stadt Lauf (1898 ff.), 331 (V, 1 "F VII, 2). Der Totengraberkenslein = Hans N., als Dieb hinger. 1574. Erlgn 1451, 711 v. Eigener Beruf, da er Sohn eines Baders ist (V, 2). ♦Der Toterfresser, s. Mitt. 45, 134. Das merkwürdige Wort in allen Quellen in gleicher Schreibung; man übersehe nicht Mitt. 44, S. 177, Anm. 241. Hans Tritinnscknee = Hans Sachs, hinger. 1505. Chronn. dt. Städte, Bd. Nbg 5, S. 692. (Hat mit dem gleichnam. Dichter nichts zu tun.) „Tritt in den Schnee“, wohl stehende Redensart des Sachs (II, 3?). Troscker s. Drescher. Der Tündtersalberla = Albrecht Dengler, f 1579. St. 2, 38 v; Staatsarch. Nbg, Rep. 52a, 121, S. 732. Als Sohn eines Tünchers bezeugt (VI, 2a). Tünckersbärbala = Tüncherswawel, Mitt. 45, 13 5. War schon 9 Jahre im Neuen Wald, als sie 1586 ein (in Feuchtwangen schon verheirateter) Schneider in Wöhrd heiratete; es kommt aber heraus. Staatsarch. Rep. 52a, 121, S. 750. Kunz von Ulm 1587 ist kein Spitzname, sondern so heißt im Volksmund eine nackte (Konsolen-?) Figur am Schönen Brunnen; scherzhaftes Gedicht bei St. 2, 129 v. Wieso Ulm? Parallele der „alt Mann von Wien“, Schm. I, 70, ebenso unerklärt. Der Urban = Nikolaus Gulda (Gulden), Weinschreiber 1614. Siebenkees, Mate­ rialien 3 (1794), S. 48 nach ungenannter Chronik. Pflegte beim Urbanreiten am 25. Mai den Urban zu machen (V, 1 bzw. IV). Uri = Ulrich (VIII, 3), s. o. Konzn-Urtl. Ela Vasenbeutelein = E(lena) N. von Stadeln (b. Fürth?), ausgewiesen 1347. Rechtsqu. 701. Wohl Diebin, Beutelschneiderin, da = „Faß den Beutel“ (III, 3). Velta = Valentin; s. o. V. von Gera und Krämervelta (VIII, 2). Vickes s. Fickes. Der Voggele = Leonhard Widmann, Krämer 1617. Lü Q 112 v. Wohl = Luftikus (III, 3). Der Vogelkerdwirt = N.N. 1692. Cgm 3587, 398 r. Vogelherd-Passion? (III, 2). Cunrat Vonallenlanten = Konr. N., Krämer. Rechtsqu. 634. Von allen Landen, wohl als Krämer weitgereist, also Berufsbezeichnung (V, 1). *Vongotgesckeiden, vgl. Mitt. 45, 137: 1331, nicht 1300. Rechtsqu. 401. Der Vorrickter = Egidius Arnold, reicher Mann, f 1608. Lü 6, 274 v. Der etwas vorrichtet (als „Halbfabrikat“)? Falsche Schreibung, etwa aus Verrichter oder gar Verruchter in dieser Quelle unwahrscheinlich (?). Der Wäsckerpkilipp = Philipp Ulrich, Dachdeckergeselle, f 1671. Erlgn 1567, 1056. Sohn eines Wäschers (VI, 2a). 31

MVGN 49 (195'9) Spitznamen Der alt Wästelin = Sebastian N. aus Rohr b. Schwabach, ausgewiesen 1663. Cgm 2068, 845. Namensverkleinerung (VIII, 3). Der Wagnertkoma = Thomas Heunisdi, Wirt zur Blauen Glocke am Kornmarkt 1618. Lü Q 247 v. Nach dem Beruf des Vaters (VI, 2a). ♦Hans vom Wald = Hans Nickel, Söldner 1514, s. Mitt. 45, 138. Pirckheimerbriefw. II, 420, Z. 12 und 422, Z. 11 heißt er vom, nicht von Wald. Damit wird die Zurückführung des Sp. auf einen Heimatort fraglich. Familienname nach Briefbuch (Staatsarch. Nbg, 72. 116), laut Pirckh. a.a.O. 421, Anm. 6. Der Waltzenkleul = N.N. aus Wöhrd 1392. Rechtsqu. 1003. Kleulein = Knäuel (Schm. I, 1319). Waltz könnte Familienname sein, also = der kleine Waltz? Oder imperativischer Sp. = Dreh den Knäuel? (—). Der Wanstpfaff = Gregor Forwerck, Diakonus b. S. Egidien, f 1576. Lü 5, 25 v. „ein wunderlicher, gravitätischer Mann, der zu seiner Zeit jedermann wohl be­ kannt gewesen“. Bei Lü heißt er Forberger, bei Würfel, Dipt. Egid. S. 70 aber Forwerck (I, la). Die Wassermäuse — die Bierbrauer 1609. Lü 6, 519 r; St. 3, 248 r (V, 1). Der Wasserreuther = N.N. in Lauf 1679. Cgm 3587, 331 v. Hausname (VII, 2). Die armen Wassersieder = die Bierbrauer 1611. St. 3, 620 v (V, 1). Der Weiherlödel = Leonhard Lorenz in Kleinreuth b. Schweinau 1712. Staatsarch. Nbg, Rep. 75, I, Nr. 452/1 zum Jahr. Wohnplatz (VII, 1). Der Weinbeerleingesees — Leonhard Hertel, ehemal. Stadtschütze, Totschläger, hinger. 1584. Lü 3, 434 v; St. 2, 92 v; Erlgn 1451, 788 r (u. ö.). Gesäß = Hose, vgl. oben zu Birngeseß. Erlebnis? (IV?). Der Weinsdmabel = N.N., Wirt in Plech, hinger. 1500. Chronn. dt. Städte, Bd. Nbg 5, S. 613; Mitt. 46, S. 45. Wohl Vorliebe für Wein; Schnabel als Fami­ lienname denkbar, dann eher der Schnabel, der Wein ausschenkt (III, 2 od. V, 2). Der Welsch = Hans Schwender, Metzger 1607. Lü 6, 22 v. Eher wegen Sprach­ fehler als nach der Herkunft (II, l). Der welsche Vinzenz = Vinzenz N., Pomeranzenhändler, f 1588. Lü 3, 384 v. Im Gegensatz zum Vorigen eher Herkunft, wofür Vorname und Beruf sprechen (VI, 1). Sebastian von Wien = Sebastian N., Kürschnergeselle 1576. Siebenkees, Mate­ rialien 2 (1792), S. 594 (VI, l). Die Wildsau = Augustin Wild, Wirt zur Glocke in Gostenhof 1587, 1602. Staats­ arch. Nbg, Rep. alt 213, 24. Der abschätzigen Benennung kommt der Familien­ name zustatten (III, 3 bzw. VIII, 2). Der dicke Wirt = N.N., Schmiedgasse beim Spittlertor 1611. Lü 7, 308 r; St. 3, 471 r (V, 1). Der kleine Wirtlein = Hans Offner in Katzwang, Wirt 1610. Lü 7, 175 r (I, la + V, 1). Heinrich Wissdhentribel, f 1321. Rechtqu. 23 5. Imperativische Namensform „wisch das Maul“, denn es wird Triel zu lesen sein (= Mund in verächtlichem Sinn, Schm. I, 660). Hungerleider; oder ständige Redensart? (V, 3 od. II, 3). Der Wümpf = Johann Friedrich von Wimpffen, f 1668. Cgm 2068, 881; 882; 88 5. Eine — halb verächtliche — Namensentstellung für eine wegen ihrer Unter­ schlagungen vielberedete Persönlichkeit (VIII, 2). Der Würstle = Hans Siebenwurst, Bäcker in Lauf 1617. Lü Q 108 r (VIII, 2). Der Würstla = Hieronymus N., Fingerhüter, f 1599. Lü 4, 373 r; St. 2, 322 v. Lieblingsessen oder Körpergestalt? (—). Die in der Wüst — N.N., ausgewiesen 1315. Rechtsqu. 125. Wohnplatz? (VII, 1). 32

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49 (1959)

Spitznamen

Der Wurffbaum = Wolf Braun, Wirt beim Frauentor, f 1581. St. 2, 90 r. Braun heißt er Mitt. 44, 188, bei St. aber Baum, was eine Namensentstellung Wolffbaum/Wurffbaum ergeben würde (—). Die mit der Wurst = N.N., ausgewiesen 1315. Rechtsqu. 125. Es wäre sonderbar, wenn gleichzeitig eine in der Wüst (s. o.) und eine m. d. Wurst ausgewiesen würde, Versehen des Schreibers liegt nahe. Wenn richtig, dann wohl Lieblings­ essen oder Erlebnis (—). Der Zainmacker = N.N. in Reichelsdorf 1665. Cgm 2068, 862. Korbmacher (V, l). Die Ziegelwawl = Barbara N., Magd des Ziegelbauern 1633. Stadtarch. Nbg, Ver­ lässe d. Spitals 1633, S. 351. Dienerin nach d. Herrn benannt (VI, 8). Der Ziegelbauer = N.N., Hintersasse des Hl. Geist-Spitals 1633. Quelle wie bei der Vorigen. Hausname (VII, 2). Zigenbritel (Zieh den Britel) = N.N. 1378 Rechtsqu., dreimal auf S. 79. Breidel, Britel = Zügel (Gr. 2, 3 54 u. 392). Also „zieh den Zügel an“. Imperativische Berufsschelte, etwa f. e. Fuhrmann, oder — weniger wahrscheinlich — stehende Redensart des Mannes (V, 1?). Die Zimmerbuben = Nikolaus und Georg Widmann, Söhne eines Zimmermanns, Diebe, beide hinger. 1606. Lü 5, 553 v (VI, 2a). Das Zimmerwawala — Barbara Wagner, Zimmermannsfrau, hinger. 1604. Lü 6, 292 r (VI, 2b). Zuckerhans = Hans Haller 1514. Pirckheimerbriefw. II, 347, Anm. 6. Lieblings­ essen oder Charakter? Doch ist die Lesung „Junker Hans“ nach Reiche a.a.O. auch nicht ausgeschlossen (?). Der Zwickel = Konrad Zwickelsberger, Zirkelschmied, hinger. 1604. Lü 5, 277 v und öfter bis 283 v. Namensentstellung (VIII, 2). Der Zwingermelber in Lauf, Hausname bis ins 19. Jhdt. K. Sauer: Gesch. d. Stadt Lauf (1898 ff.), S. 332. Hausname entsteht aus Beruf u. Wohnplatz (VII, 2). Der Zwißelbauer = N.N. in (Ober- od. Unter-) Weihersbuch 1660. Cgm 2068, 817. Bauernhof an einer Weg-Gabelung (Zwisel, s. Schm. II, 1183). Hausname (VII, 2). Der Zwölffinger — Hans Kolb, „gesalzener“ Fischer 1607. Lü 6, 8 r. „der Zw. genannt, denn er an jeder Hand 6 Finger hat“ (I, lc). ♦Die Zwou, s. Mitt. 45, 145. Ben. Wilh. Zahn: Nbger Sprichwörter (um 1815, Handschrift in der Stadtbibliothek) will wissen, der Sp. habe sich auf eine ana­ tomische Anomalie der Frau bezogen; doch drückt er sich reichlich unklar aus (I, lc?).

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„PFINTZING DIE ALTEN" **) Ein Beitrag zur Geschichte des Nürnberger Patriziats — Herrn Pfarrer Georg Lenckner zum 70. Geburtstag in Dankbarkeit zugeeignet — Von Gerd Wunder

Entstehung und Struktur des Patriziats unserer alten Städte werfen Fra­ gen auf, die schon viele Forscher beschäftigt haben. „Erst mehrere Unter­ suchungen" über einzelne Familien können, wie Hirschmann bemerkt hat*), das Gesamtbild hervortreten lassen und ein Urteil zu den soziologischen Pro­ blemen ermöglichen. Unter den Nürnberger Familien des 13. und 14. Jahr­ hunderts nehmen die Pfinzing geradezu eine Schlüsselstellung ein; das Statut der „Eltern Herrn" von 1521 nennt unter den alten Geschlechtern an erster Stelle „Pfintzing die alten" 2), Siegmund Meisterlin spricht von den „Pfinzing mechtig" 3), und Konrad Haller nennt sie in seinem großen Geschlechter­ buch 4) an erster Stelle, noch vor seiner eigenen Familie. Wenn die Pfinzing auch im Mannesstamm 1764 ausstarben, so sind sie doch durch ihren Kinder­ reichtum, die Heiraten ihrer Töchter und ihr vielfaches Erbe in das gesamte spätere Patriziat eingegangen. Das rechtfertigt den Versuch, an Hand des Nürnberger Urkundenbuchs und anderer zeitgenössischer Quellen die An­ fänge dieser Familie zu untersuchen; heraldische, besitzgeschichtliche und wirtschaftsgeschichtliche Arbeiten könnten ergänzen, was hier mit rein genealogischen Methoden unternommen wird; doch bietet bereits die *) Der Dank des Verfassers gilt für freundliches Entgegenkommen und die gebotene Ge­ legenheit zur Einsicht in die Quellen den Herren Direktor Dr. Schnelbögl vom Staatsarchiv, Professor Dr. Pfeiffer vom Stadtarchiv Nürnberg und ihren Mitarbeitern sowie Herrn Baron Helmut Haller von Hallerstein in Großgründlach. Mehrfach zitiert wurden: NUB: Nürnberger Urkundenbuch Lieferung 1—4, herausgegeben vom Stadtarchiv Nürnberg. U. St.: Ulman Stromer, herausgegeben von Karl Hegel, Die Chroniken der deutschen Städte, Nürnberg Band 1, Leipzig 1862. Ho: Das Handlungsbuch der Holzschuher in Nürnberg, hrsg. von Anton Chroust, Hans Proesler (Veröff. d. Gesellsch. f. fränk. Gesch.), Erlangen 1934. *) Mitt. d. Vereins f. Gesch. d. Stadt Nürnberg 1950, S. 259. 2) Die Chroniken der deutschen Städte, Nürnberg I, 2L6. 3) Die Chroniken der deutschen Städte, Nürnberg III, 9'6. 4) Staatsarchiv Nürnberg, Nürnb. Hdschr. 211.

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MVGN 49 (1959) Pfinzing

Genealogie gewisse Einblicke in die Sozialstruktur und stellenweise sogar in die Denkweise des mittelalterlichen Stadtadels. 1. Die Anfänge der Familie In der Literatur sind wir bisher auf die Stammtafeln angewiesen, die Johann Gottfried Biedermann mit bewundernswertem Fleiß zusammen­ gestellt hat. Er gibt die ältere Genealogie der Pfinzing folgendermaßen56): Endres Pfinzing, Cammermeister 1197 Berthold Sibotho 1253/88

Marquard 1264/88

1220. 1226. 1227.

Konrad 1282/1304

Pigenot 1288

Ulrich Gstl.

1 Sibotho f 1379 CO Vorchtel

| Endris f 1407

Bertold d. Alte 1296/1303

Schultheiß

Hedwig f 1294 Abt. St. Klara

Bertold f 1297 Ritter, Schultheiß Elisabeth oo Rapoto Geusmid 1270

oo Geuda . . Bertold am Stock f 1355

Ludwig gef. 1313

Fritz 1317/31

Michael f 1345

Konrad 1318/43 Schulth.

Marquard f 1364

Dazu kommen noch 10 Töchter Bertolds des Alten. Die handschriftlichen Stammtafeln, die zuerst Sebald Pfinzing, des Lienhard von Ploben Eidam (1487—1543), aufgestellt hat6) und die seitdem wiederholt ergänzt worden sind 7), zeigen mit geringen Varianten das gleiche Bild. Auf den ersten Blick erweist sich die Fragwürdigkeit der Konstruktion: Andreas 1197 (ursprüng­ lich 1198) ist den gefälschten Turnierbüchern des Georg Riexner entnommen, für seinen angeblichen Bruder Nicolaus 1191 und dessen Sohn Conrad 1226 fehlt jede denkbare Unterlage. Sibotho f 1379 kann nicht gut ein Sohn des Sibotho 1253 sein, auch unter den 16 Kindern Bertolds des Alten finden sich manche Unstimmigkeiten. Daß Bertold und Conrad 1226 aus einer falsch datierten Urkunde des Landrichters Rüdiger von Brant entnommen sind, haben schon kritische Genealogen des 17. Jahrhunderts festgestellt8). So schrieb auch Hans Müller 1933, daß „die männlichen Personen (dieser Stamm­ tafeln) etwa bis 1260 zurück . . . ausnahmslos sich historisch nachweisen lassen", daß aber die Familienzusammenhänge oft nicht belegt, „manchmal 5) Johann Gottfried Biedermann, Geschlechtsregister des hochadeligen Patriciats zu Nürn­ berg 1748, Tafel 392--395. °) Konrad Haller (Anm. 4) f. 63; Familienarchiv Haller von Hallerstein, Großgründlach, Georg Pfinzing, Pfinzingischer Stammen 1. Teil f. 87; Martin Pfinzing, Beschreibung der Pfinzinge von zweien Linien. 7) Familienarchiv Haller v. Hallerstein, Der Pfintzing Stammenbuch 1599; Staatsarchiv Nürnberg, Nürnb. Handschr. 439, Familiengeschichtl. Nachrichten f. 323 ff. 8) Familienarchiv Haller von Hallerstein, Großgründlach, Randbemerkungen anderer Hand­ schrift in Georg Pfinzing, Pfintzingischer Stammen, vgl. auch NUB 909 Anm., 226 Anm. 1.

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MVGN 49 (1959) Pfinzing

als falsch nachweisbar" seien9). Bereits Gatterer in seiner urkundlich gut belegten Geschichte der Holzschuher 1755 lü) erlag zudem, ebenso wie später Stilllried n), den Fälschungen, die Oetter 1753 in seinem „Zweiten Versuch einer Geschichte des B'urggraftums Nürnberg" eingeiührt hat, um die terri­ torialen Ansprüche der Burggrafen und Markgraten zu begründen. In der angeblichen Urkunde vom 17. 12. 1270 läßt er die Häupter des städtischen Patriziats nach ritterlichen Zeugen im Gefolge des Burggrafen auf treten: „Bertholdus et Marquardus fratres dicti Pfinzinch, Sifridus dictus Ebener, Friedricus dictus Holzschuher, ministeriales et milites nostri“; damit hat er die ganze standesgeschichtliche Literatur bis zum heutigen Tage irre­ geführt, denn in keiner echten Urkunde erscheinen adlige Bürger der Reichs­ stadt als ritterliche Dienstmannen des Burggrafen. Bezeichnenderweise nennt Oetter hier nur Familien, die zu seiner Zeit noch blühten; die Krumpsit, Geusmid usw. fehlen. Erst die Bearbeitung des Nürnberger Urkundenbuchs bietet uns die Möglichkeit, die Personen des 13. Jahrhunderts sicher festzu­ stellen und Oetters Fälschungen zu 1270, 1276, 1278 und 1296 auszuschalten, die noch in den neuesten genealogischen Nachschlagewerken die Familien­ geschichte einleiten 12). Auch die in der Renaissance aufgezeichneten Toten­ schilder mit ihren genauen Daten halten so häufig urkundlicher Überprüfung nicht stand, daß wir sie als Quelle für Dasein und Lebenszeit bestimmter Personen ausschalten müssen; falsche Lesung oder Deutung des Datums, Übermalung und Ergänzung mag hier schon im Mittelalter die Überlieferung verdunkelt haben. Das Nürnberger Urkundenbuch bietet die erste sichere Grundlage für jede neue Untersuchung. Die im Stadtarchiv gesammelten Regesten für die Fortsetzung des Urkundenbuchs über 1300 hinaus geben uns weitere wertvolle Tatsachen. Dabei finden wir folgende Träger des Namens Pfinzing in Nürnberg: Sifrid de Nurinberc cognomine Pfincinch et uxor sua Oesterhildis, devoti fideles nostrique familiäres . . (in einer Urkunde des Abts von Heilsbronn 1233) 18).

Siboto Pfincinch (Pfincinc, Phinzing) 1251, 1253, 1254, 1255, 1258, 1259, 1263, 1265, 1266 unter den ersten Bürgern und in der Bürgervertretung („Universitas civium")14). Merklin Phinzing (Phincinch, Phinzing), sein Bruder 15), 1264,, 1265, 1269, 1271, 1273, 1274 18), verabredet gegenseitige Zollfreiheit mit Mainz 1264 17), Schultheiß 1274. 9) Ahnentafeln berühmter Deutscher (Hauff) NF 5/6, S. 76. 10) Johann Christof Gatterer, Historia Genealogica Dominorum Holzschuherorum, Nürn­ berg 1755. n) Monumenta Zollerana Bd. II. 12) NUB 446, 13) NUB 248, 14) NUB 341, 15) NUB 408, 16) NUB 403, 17) NUB 403,

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542, 592, 911.

Urkundenregesten des Zisterzienserklosters Heilsbronn Nr. 52, 3. 351, 353 (universitas), 358, 360, 376, 381, 383, 400, 408, 410, 411. 411. 407, 408, 410, 411, 440, 441, 442, 449, 458, 459, 469, 470. vgl. Mitt. Nürnberg 1953, S. 19.

MVGN 49 (1959) Pfinzing Konrad Phinzing (Phinzinc, Phinzindi) 1277, 1278, 1282, 1287, 1288, 1289, 1298, 1307 18), kauft 1282 den halben Butiglerhof, Vetter Berchtolds 1#), Bruder Pignots und Sibots 20), vielleicht identisch mit dem Ritter Konrad 1295, 1296, 1299, 1300, 1304 21). Siboto Phinzing, Bruder Konrads, 1278, 1282, 1288 22). Pignot Phinzing, Bruder Konrads, 1282, 1288, 1307 23). Berchtold Phinzindi (nicht der Schultheiß!) 1287, 1288 24). Berhtold Phinzinc (Phinzindi, Phincing) 1281, 1282, 1283, 1285, 1286, 1287, 1288, 1289, 1290, 1296, 1297, 1298, 1299, 1300, 1302, 1303, 1307, 1312, 1322 25), Schultheiß 1281—88, alter Schultheiß 1288—1300, der ältere 1307, der alte 1322. Markward Phinzinc, Bertolds Bruder, 1282, 1283, 1285, 1286, 1288, 1289, 1290 26), Schultheiß 1288-90. Leupold Phinzing, Zisterzienser im Kloster Heilsbronn 1298 27).

Das Eichstätter Lehenbuch nennt Besitzungen eines Ber. Pfinczing in Niederoberbach, Burgoberbach und Ödenberg28). Eine Tochter des Schultheißen Bertold Pfinzing ist 1298 mit dem jüngeren Heinrich Groß verheiratet2*), der zuerst 1289 genannt wird. Ordnen wir diese Angaben genealogisch zusammen, so gewinnen wir folgendes Bild, in dem urkundlich nicht genannte weitere Geschwister fehlen mögen : Sifrid Pfinzing 123 3 oo Oesterhild Sibot 1251/56 Konrad 1277/89 ?

Sibot 1278/88

Pignot 1282/1307

Markward (Merklin) 1264/74, Sch. 1274 Bertold

Bertold

Markward

1287/88

1281/1322 Sch. 1282/88

Sch. 1288/90

1282/90

Ritter 1297/1307

Damit hat aber die Familie um 1300 bereits einen Stand erreicht, der eine Orientierung allein aus den Urkunden nicht mehr ermöglicht. NUB 570, 571, 666, 668 (Butiglerhof), 674', 745, 762, 764, 768, 778', 938. NUB 778. NUB 668. NUB 923' Anm., 909', 1050, 1069 sowie Regesten Stadtarchiv. NUB 571, 668, 764. NUB 668, 764, 768 („Berchtold Bigenot“, wohl zwei Personen), vgl. dazu aber Berch­ told Pignot (Ebner), Regest 14. 1. 133 5 Stadtarch. (s. Exkurs 111). 24) NUB 745, 768. 26) NUB 647, 648, 666, 668, 674, 680, 699, 730, 731, 734, 735, 74>5, 757, 764', 768, 775, 18)

19) 20) 21) 22) 23)

26) 27) 28) 29)

778, 788, 803, 903, 906, 909, 913, 923, 936, 938, 939, 1044, 1048^-1050, 1066, 1069, 1071. NUB 666, 66'8, 680, 731, 735, 766, 778, 786 (als Bruder 680, 731, 735). NUB 933. NUB 745 Anm. NUB 936.

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2. Sibots Stamm Als weitere zeitgenössische Quelle bietet sich vor allem das „Püchel von meim geslechet und von abentewr“ von Ulman Stromer (1329—1407) an. Man hat seine Angaben über die Geschwister seines Vaters und Groß­ vaters bezweifelt30), m. E. zu Unrecht. Er schrieb seine Notizen für sich und seine Familie nieder, nicht zur Werbung, wie dies bei modernen Memoirenschreibern vorkommt; man hat ihm trotz aller kritischen Zwei­ fel nicht eine einzige unrichtige Familienverbindung nachweisen können. Zuweilen wird die Frage erörtert, wie weit das Familienbewußtsein im Mittelalter reichte. Nun, wir finden auch noch heute bei alten Bauern, die sich keiner schriftlichen Aufzeichnungen bedienen, eine recht eingehende Kenntnis ihrer weiteren Verwandtschaft; erst recht dürfen wir solche Kenntnisse bei einer aristokratischen Gesellschaft vermuten, deren Leben weitgehend auf dem Familiendenken beruhte. Von Thietmar von Merseburg und Hermann dem Lahmen über Ulman Stromer bis zu den spätmittelalterlichen Jahrzeit­ stiftungen großer Familien verrraten die Verfasser sicheres Wissen von Vor­ fahren auch über die Urgroßeltern hinaus. Allerdings erstreben sie niemals im modernen Sinn vollständige Ahnentafeln oder Stammtafeln, sie nennen die Namen der Ahnen und Verwandten, die ihnen wichtig sind, sie lassen solche aus, die belanglos, unsympathisch oder peinlich sind oder die sie einfach vergessen haben. Mag der alte Ulman Stromer zuweilen auch ein­ zelne Namen oder Daten verwechselt haben, wir halten seine sehr konkreten Angaben über Verwandtschaften durchweg für glaubwürdig31), wenn auch nicht für lückenlos, wie er überdies selbst oft genug betont32). Ulman Stromers väterliche Großmutter ist eine Schwester des „guten Richters“ Konrad Esler; eine weitere Schwester (Gisela) war mit dem reichen Heinz Groß verheiratet, eine dritte mit „Sebot Pfinzing, der dez Hansen und Michel Pfinzig vater waz“ 33). Unter den ehrbaren Leuten, die zu seinen Zeiten gestorben sind, erwähnt Lllman nach dem Oktober 1396 eine Geschwisterreihe:

80) W. E. Vock in Mitt. Nürnberg 1928, S. 85, bes. S. 115 (die drei Konrade lassen sich m. E. durchaus trennen!). Vock wirft Ulman S. 117 vor, er wisse nicht, welche Brüder des Großvaters er gekannt habe (zu Unrecht: der Großvater selbsibent war bereits ge­ storben, USt 83, 26, doch der achte und jüngste Bruder lebte noch, USt 83, 31). — Vock S. 126 meint, das Todesjahr 1348 für Heinrich Stromer könne nicht stimmen, da dieser noch 1350 genannt sei — ist er als lebend genannt, und ist es derselbe Heinrich? — Vock S. 106 bezweifelt zu Unrecht Angaben über die Großelterngeneration. 81) Vock S. 110. — Die Angabe Ulmans „Der was ayns . . .“ (USt 61, 7) bezieht sich zwei­ fellos nicht auf die Kinder der letzten Frau, sondern auf alle Kinder. Er gibt zuerst die 3 Frauen mit Kinderzahl an, dann zählt er einige der Kinder (1. und 3. Ehe) auf. Seine Angabe, der Vater des Urgroßvaters sei Gerhard v. Reichenbach, ist m. E. durch das Fehlen einer urkundlichen Bestätigung nicht widerlegt, es sei denn, man würde einen anderen für ihn nachweisen. 82) Daß seine Angaben unvollständig sind, betont Ulman selbst; s. USt 61, 11; 62, 2, 6: 63, 2; 71, 20; 73, 19, 20.

88) USt 73, 29.

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„Cunrat Pfinczig bey dem stok suiteiss, Hans Pfinczig sein Bruder am hewmarkt, Michel Pfinczig sein Bruder (bey den predigern)“ 84).

Die gleiche Geschwisterreihe begegnet uns in einer Urkunde des Schult­ heißen Konrad Groß, der am 16. 2.1343 Cunrad, Hans und Michel Pfinzig seine Oheime nennt35). Konrad Groß stammte aus der ersten Ehe des reichen Heinz Groß mit Sofie von Vestenberg 36), Gisela Esler war seine Stiefmutter. Bezieht sich das Wort „Oheim“ hier auf die Verwandtschaft der Stiefmutter, so müßte es etwa „Stiefvetter“ bedeuten. Damit gewinnen wir einen Anhaltspunkt zur Einreihung der drei Brüder. Sebot muß demnach wohl mit dem 1278/88 genannten Siboto identisch sein. Vielleicht ist er auch noch der 1317 und 1319 unter den „Genannten“ erwähnte Siboto Pfinzing37). Dagegen scheint Seybot Pfinczings Witwe, die am 14. 3. 1349 mit ihren Söhnen Hermann und Seyfert ein Eigengut in Heckenhofen verkauft35), nicht seine Witwe zu sein. (Von einem jüngeren Sebot, Berchtolds Sohn, um 1305 wird unten noch die Rede sein S. 45). Konrad Pfinzing, der Sohn Sibotos, bürgt 1314 für die Aufnahme des Konrad Mayentaler als Bürger88). Im gleichen Jahr kommt er als „Oheim“ des Konrad Esler vor39); er war sein Neffe. Wir wissen nun aus Ulman Stromer, daß es dieser Konrad Pfinzing ist, der 1317 bis 1337 als Schultheiß, 1341 bis 1343 als alter Schultheiß vielfach bezeugt ist. Hans Pfinzing ist 1319 und 1332, Michel 1319, 1324, 1335 und 1337 genannt. Um 138 5/7 zählt Ulman Stromer eine Anzahl seiner Verwandten auf, die noch am Leben seien. Unter den „Geschwisterenkeln“ finden wir eine Reihe von Pfinzingen. Dabei handelt es sich, wie eine genauere Nachrechnung ergibt, ausschließlich um Enkel von Geschwistern seiner väterlichen Groß­ eltern Konrad Stromer und (Kunigunde) Esler. In diesem Absatz nennt er40): 1) „Cunrat und Hans und Hainreich und Jacob die Waltstromer und ir bruder, der apt zu Helsbrunn, und ir swester die Francz Forstmeisterin. 2) Cunrat Pfintzig und sein bruder Perholt. 3) Markart Pfintzig und Fricz sein bruder und ir bruder zu Babenberg (der Hainrich). 4) Sebolt Pfintzig, der des Vorchtels tochter hat.“

Da nun ein Konrad Waldstromer eine Pfinzig zur Frau und Konrad, Hans, Heinz, Jakob zu Söhnen hatte 41), dürften diese vier Geschwisterreihen Enkel des Sebot Pfinzig und der Eslerin sein. 1) Die Geschwister Waldstromer sind uns hinreichend bekannt: Kon­ rad (f 1395), Hans (f 1395), Heinrich, Jakob (f 1395), Bertold (f 1413), der Abt von Heilsbronn (13 86), und Agnes, die Frau des Franz Koler. Ulman bestätigt es ausdrücklich: „Francz Koler vorstmaister (het ein Walt34) USt 85, 14. 35) Stadtarchiv, Regesten für das Nürnberger Urkundenbuch. 86) Vgl. Regest vom 10. 8. 1340 (Jahrtagstiftung des Konrad Groß für s. Eltern Heinrich und Suffey), vgl. auch Mitt. Nürnberg 1944, 104 und Anm. 158. 37) Chph. Glieb v. Murr, Journal zur Kunstgeschichte ... II Nürnberg 1776' S. 367, 372. 88> Staatsarchiv Nürnberg Amts- u. Standbudi 228, f. 14; 297, f. 1. 39) Murr (Anm. 37) S. 374. 40) USt 72, 17. 41) USt 84, 18—22 (Haincz irrtümlich statt Hans, vgl. 84, 26 und 72, 18).

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stromerin)"42). Diese Agnes, Franz Forstmeisters Witwe, hat mit ihren Töchtern Margret, Anna und Agnes am 21. 8. 1372 ihre Rechte am Forst ihrer Schwägerin Anna (Schopper), Ott Forstmeisters Witwe, übertragen43). Sie lebt noch 1397 neben ihrer Schwägerin bei St. Lorenz44). Die Mutter dieser 6 Geschwister Waldstromer müßte also demnach eine Tochter des Sebot Pfinzig und der Eslerin sein. Sie begegnet uns in einer Notiz über eine Urkunde von 1361. Da heißt es, Berchtold Pfinzing, Tuchers Eidam, habe den Hof vor dem Frauentor, sein väterliches Erbgut, seinen Schwestern von beeden Banden, Kunigunde Jakob Weiglin und Agnes Konrad Waldstromerin, verkauft. „Testirte und ordnete seinen Kindern zu Vormündern und Executorn seines Geschäffts Herrn Berchtold Tücher, seinen Schweher, Conrad Waldstromer den Jungen, seiner Schwester Sohn, Gerhaußen Stromerin, seine Muhmen, und Künigundt Weiglin, seine Schwester, am Abend Martini 1361 und starb. Seine Wittib theilet ihrer Mutter Anna Pfinzingin mit ihren Stieffencklein Steffan Stromern und seinen 2 Geschwistern und mit ihren Gebrüdern Franz Pfinzig dem Eiteren, Elßbeten Prant Großen Tochter seinem Weib, Cunzen Pfinzigen, seinem Weib; die Theilung zeugten Seitz und Sebald die Pfinzing und Jakob Grolandt anno 1405. Sie starb unvermöglich bei 80 Jahre alt den 11. Nov. 1410" 45). Dem Verfasser der Notiz lagen offenbar die beiden Urkunden von 1361 und 1405 noch vor. Er berichtet weiter, Bertold Pfinzing habe in zweiter Ehe um 13 52 diese Anna Tücher geheiratet, deren Vater Bertold Tücher seinerseits in zweiter Ehe eine Anna Pfinzing heiratete, der wir noch begegnen werden. Dieser (Stief-) Mutter der Anna Tücher sind wohl die Brüder Franz und Konrad zuzuschreiben, die uns also hier nicht interessieren. B'ertold Pfinzing, des Tuchers Eidam, wohnte am Milchmarkt46) und ist urkundlich 13 56/61 erwähnt. Seine Tochter46a), Tuchers Enkelin, war mit Peter Stromer, Ulmans Neffen, verheiratet und hatte die Kinder Stefan, Margret und Ambrosi (neben 3 früh gestorbenen)47); sie sind Stief-Urenkel von Tuchers zweiter Frau, um deren Erbteilung es sich 1405 wohl handelte. Aber die Notiz zu 1361 spricht nun deutlich genug davon, daß Agnes Waldstromer Bertold Pfinzings Schwester war. Ihr Mann, der junge Konrad Waldstromer, war damals bereits gestorben; er ist urkund­ lich 1343/60 erwähnt, sein gleichnamiger Vater, der eine Parsberg zur Frau hatte48), kommt urkundlich 1309/55 vor. Agnes und Kunigunde sollen 42) 4S) 44) 45)

USt 87, 19. Staatsarchiv Nürnberg, Nbgr. Hdschr. 439, f. 186 Beilage. Staatsarchiv Nürnberg, Amts- u. Standb. 278, f. 4. Staatsarchiv Nürnberg, Nbgr. Hdschr. 439, f. 3 31 v. Zu Kunigunde Weigel vgl. Mitt. Nürnberg 1950, 280. 46> USt 85, 23. 46a)Sie hieß nach Urk. Nr. 46 im Frhr. Strcmierschen Archiv Grünsberg Küngund, nicht, wie Biedermann (Tab. 46 u. 398) angibt, Elisabeth. 47) USt 65, 27 ff. 48) USt 84, 17. Zwar hat Ulmans Großoheim Wolfram Stromer eine Tochter, die Konrad Parsberger heiratet (62, 5), ihre Kinder sind Konrat Parsberger und die Zennerin (72, 17), doch gehört die mit Waldstromer verheiratete Parsbergerin einer älteren Generation an, eine Verwandtschaft über sie würde auch die Kinder der Ehe Waldstromer-Pfinzing nicht als Geschwisterenkel erscheinen lassen.

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Bertolds Schwestern „von beeden Banden" sein, also hatte er auch Stief­ geschwister. Agnes kann den jungen Waldstromer kaum vor 1330, eher später geheiratet haben; auch Bertold, der uns erst in zweiter Ehe mit Anna Tücher begegnet und aus erster Ehe nur zwei Töchter haben soll49), kann kaum viel älter sein. Das heißt also, daß Bertold und Agnes mindestens 20 Jahre jünger sein müssen als die 3 Brüder Konrad, Hans und Michel, die wir für ihre Stiefgeschwister halten müssen. Das wäre durchaus möglich, denn Wiederverheiratungen von Witwern und große Zeitabstände zwischen Geschwistern berichtet uns Ulman Stromer in großer Zahl50). Aber dann kann Agnes (und mit ihr Bertold, den Ulmann nicht erwähnt) nicht wohl von der Eslerin abstammen, sondern von Sebot Pfinzings (unbekannter) zweiter Frau. Es ist wenig wahrscheinlich, daß der sonst recht zuverlässige Berichterstatter, der uns über Bertold Pfinzing unterrichtet, die ihm vor­ liegenden Urkunden falsch gedeutet hat; unsere Altersberechnung deckt sich mit seinen Angaben. Dann bleibt aber nur die Schlußfolgerung, daß Ulmans Angabe über die Geschwisterenkel Waldstromer ungenau ist: die Wald­ stromer sind nicht Enkel der Eslerin (der Schwester seiner Großmutter), sondern ihre Stiefenkel. Da sie aus dem gleichen Haus stammten, müßte also Ulman hier eine Verwechslung unterlaufen sein: er hätte nicht bedacht, daß sie zwar Enkel des Sebot Pfinzing, aber aus einer späteren Ehe waren 51). Diese Deutung ist wahrscheinlicher als die bisher übliche Zuordnung von Agnes und Bertold zu Bertolds Stamm, die Ulmans Angabe über Geschwister­ enkel ohnehin widerspricht. 2)—4) Die drei Gruppen Pfinzing, die Ulman weiter unter den Geschwisterenkeln nennt, sind wohl den drei Brüdern Konrad, Hans und Michel als Kindern zuzuschreiben. 2) Am 20. 10. 13 50 tritt „des alten Schult­ heißen Sohn Chunrat der Pfinzing" auf35). Am 17. 4. 1364 geben Cunrat Pfinzing und Margret seine eheliche Wirtin sowie Berhtold Pfinzing, Gunrats Bruder, und Margret seine Wirtin Güter in Teufenstadt als bischöflich würz­ burgische Lehen auf. Bereits 13 59 ist Konrad Pfinzings Hausfrau Grete als Tochter des Johann vom Stern (Steren) in Würzburg und seiner Frau Anna erwähnt 52). 1360 war Konrad Pfinzing, der Ehemann der Margarete vom 49) Das Mskr. Anm. 45 nennt als Töchter erster Ehe von Bertoldt Pfinzing am Milchmarkt Anna (oo Konrad Groß) und Elisabeth (oo Ulrich Stromer z. g. Rose), doch kann diese Anna weder mit dem Stifter noch mit seinem gleichnamigen Sohn Konrad Groß ver­ heiratet gewesen sein, sie ist jünger, und wir kennen deren Frauen (es sei denn, sie war eine späte zweite Frau des zweiten Konrad). 50) Ulmans Urgroßvater, Großvater, Vater und er selbst sind zweimal verheiratet, ebenso sein Großoheim Wolfram u. a. Der Großvater Konrad Stromer ist 1290/1313, sein Stief­ bruder Wolfram 1313/45 bezeugt — was Vock in Mitt. Nürnberg 1928, 116, zu Un­ recht bezweifelt. Ulmans erster Sohn Ulrich starb 1361, der letzte Jakob wurde 13 8 3 geboren (USt 65, 3 und 68, 5). 51) Auffallend ist immerhin, daß Ulman 73, 29 nur Hans und Michel als Söhne des Sebot Pfinzing erwähnt, während sonst stets der Schultheiß Konrad als ihr Bruder genannt wird, und daß er Bertold nicht in diesem Zusammenhang nennt; allerdings ist er nie auf Vollständigkeit bedacht. Sieht man Bertold am Milchmarkt als Sohn Bertolds am Wein­ markt an, so müßte seine Mutter eine weitere Schwester oder Schwägerin von Ulmans Großvater Konrad Stromair sein. 52) Regesta Herbipolensia I (1952) Nr. 290, 302 (frdl. Hinweis von Pfarrer G. Lenckner).

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Stern, „zu diesen ziten nicht in dem Lande“ 53); 1361 ist Hans vom Stern mit seiner Frau Anna gesessen zu Nürnberg mit seinen Kindern Hans und Margarethe, Ehefrau des Konrad Pfinczing, der zur Zeit außer Landes war6a). Am 1. 12. 1367 verkauft Berchtold Pfinzing, des Maurers selig ayden, mit seiner Wirtin Margret ein Haus in der Irchergasse 35). 1392 finden sich in den Losungslisten von St. Sebald Bertold Pfinzings Witwe (es gab deren zwei verschiedene) und C. Pfinzing Witwe, die noch 1400 lebte und für die Egk vom Stern die Steuer zahlte54). Alle diese Angaben scheinen sich auf das Brüderpaar Konrad und Bertold, die Söhne des Schultheißen Konrad, zu be­ ziehen. Zwar haben die späteren Genealogen den Eidam der Maurerin in die andere Linie der Familie eingeordnet, die Linie Bertolds, und es mag sein, daß es auch in dieser Linie ein Brüderpaar Bertold und Konrad gegeben hat; aber später war die Linie Sebots, die offenbar vor 1400 ausgestorben ist, nicht mehr bekannt; uns scheint es einleuchtender, alle diese Angaben auf Grund von Ulmans Zeugnis auf die Linie Sebots zu beziehen. 3) Die Brüder Markart, Fritz und Heinrich (zu Bamberg) sind wohl Söhne des Hans am Heumarkt, zumal Markart auch am Heumarkt wohnte55). Dieser Markart am Heumarkt dürfte es sein, der 1358 in der Zeugenaussage eines Venetianers genannt wird56): „...in Nurimbergo Marcus Phincin hospes ibi dixit dicto testi: Accipe istam balam... Et fere dictam balam Venecias et da illam illis qui tibi dabunt dictos denarios . . .“ Er verkaufte also durch seinen Gast, einen Kunden, Waren nach Venedig. 4) Der gleichen Generation gehört endlich, wohl als Sohn Michels bei den Predigern, Sebolt Pfinzing, „der des Vorchtels Tochter hat“, an, vielleicht auch noch „Cuncz Michel Pfinczing“55). Ein Seybot (Seibolt) Pfinzing wird uns 1369 (als Frager), 1370, 1371, 1373 und 1374 genannt 35). 1379 übergeben Eisbet, Hermann Vorchtels Witwe, eine geborene Ebner, Seybot Pfinzing und seine Hausfrau Anna, Sebald Forchtel und seine Hausfrau Anna ihr Gut in Arzbach an das Kloster Pillenreut, und 1390 stiftet Anna, Seybot Pfinzings selig Tochter, mit ihren Vormündern Christian Schopper und Andreas Pfinzing eine ewige Lampe bei den Predigern57). Damit sind von den vor Oktober 1396 verstorbenen Verwandten Ulmans eingeordnet: „Markart Pfinczing am hewmark, Haincz Pfinczing sein bruder von Baben­ berg, (Fricz Pfinczing sein bruder), Cunz Michel Pfinczing.. Sebolt Pfinczing hat dez Vorchtels tochter . . Pertholt Pfinczig am milchmarkt (des Tuchers ayden).. Cunrat Pfinczing dez vom Stern ayden, Bertholt Pfinczing sein bruder. 58).

Wir gewinnen also für den Stamm Sebots folgende Skizze: 53) Mon. Boica 42 (1874) S. 601. 54) Staatsarchiv Nürnberg, Amts- u. Standbuch 271, f. 33; 272, f. 26’; bes. 273, f. 26’.

55) USt 85, 16. 66) H. Simonsfeld, Der Fondaco dei Tedeschi ... 1887 Bd. I, Nr. 177. 67) Familienarchiv Haller v. Hallerstein, Großgründlach, Pfintzingischer Stammen von Georg Pfinzing, II, 3. Hier handelt es sich um die von den Genealogen (vgl. Biedermann) falsch eingeordnete Angabe zu Seybot. 58) USt 85, 16—18, 20, 23, 25—27.

42

MVGN 49 (1959) Pfinzing Eslcr Sibot Pfinzing 1278/1519 00 l)

1)

N

(Kunigund) oo Konr. Stromaier 1290/1313

Konrad

Hans

Michel

2)

Agnes

Bertold

1314/43

1319/43

1319/43

oo Konrad

13 56/61

Schultheiß

Heumarkt

Prediger

Waldstromer

oo A. Tücher

Fr, Hrch.

Sebald Konr.

oo Peter Stromer

I Konr.

Bert.

1350/64 1364/67

Markart 1358

Bbg.

1369/79

oo Mrg. oo Mrg. Heumarkt v. Stern Maurer

I Heinrich f 1346

I Ulman 1329--1407

I Anna 1390

3. Bertolds Stamm War einige Mühe erforderlich, um den Stamm des Siboto zu erkennen, so ist der Stamm des Bertold wesentlich leichter zu fassen, weil Ulman Stromer uns hier selbst eine Übersicht gibt. Zwar war er eine Gene­ ration weiter von dieser Verwandtschaft entfernt: seine Mutter Margarete (f 13 50) war die Tochter des Heinrich Geuschmid, der „sultheis hi waz“ 59). Heinrich ist 1302, 1304, 1311, 1312 genannt60) und 1306 Schultheiß, viel­ leicht als Vertreter Konrad Eslers. Er war eines der 18 Kinder des Ropolt (Rapoto) Geusmid, der 1270/88 urkundlich vorkommt, und einer Pfinzing. Ulman ist 1329 als 4. von 6 Söhnen aus dieser zweiten Ehe seines Vaters geboren, aus der außerdem noch 4 Töchter hervorgingen. Ulmans Zusatz zu dem Bericht über die 2. Ehe des Vaters mit der Tochter des Schultheißen Geusmid „daz gesach von Cristus geburd 1298 jar“ kann sich also gewiß nicht, wie Hegel meint, auf die zweite Eheschließung des Vaters beziehen, aus der Ulman dann nach 31 Jahren und nicht als letztes Kind geboren wäre(l), sondern wenn sie überhaupt stimmt (es handelt sich offenbar um einen Zusatz des Verfassers beim Durchlesen des Manuskripts), vielleicht auf die 1. Ehe, die Geburt der Mutter oder was immer; die zweite Ehe kann nicht viel vor 1320 stattgefunden haben, auch wenn die Mutter damals noch sehr jung gewesen wäre. Über die Familie seiner Urgroßmutter Pfinzing berichtet Ulman Stromer nun 61): „Ez ist zu wissen, daz auf der purk hi sazz von dez reichs wegen her Pertholt Pfinzing ein ritter. Der het ein swester, di het zu der e den Ropolt Gewsmyd.“

Aus einer nur in Abschrift erhaltenen späteren Handschrift Ulmans ergänzt Hegel hierzu 62): „Derselb her Perchtold Pfinczing het 5 sün, der ein ward ritter und zog gen Meißen an ein streyt und bleib da dot, der ander hieß Perchtold Pfinzing bey dem stock, von dem kam Christian Pfinczing und Haincz Pfinzing und Perchtold Pfinzing. 59) USt 62, 14 und Anm. Hegels. 60) Kraft in Mitt. Nürnberg 1934, 36 zu 2050.

61) USt

73, 31—33.

62) USt 74, 6—26.

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Pfinzing

Der sün hieß einer Francz Pfinzing, do von kam Conrat Pfinczing, der zu der Newenstat saß, und Haincz Pfinczing dez Forstmeisters ayden und Hans Pfinczing, des Derrers ayden, (und Hermann Pfinczing des Mendels ayden) und Ludwig Pfinczing, der hett ein hauen von Amberg. Auch het der vorgeschriben Pfinczing ain toditer, die het Fricz Pehaym, und ein tochter, die het herrn Wolfram Gotzman. Der egeschriben Perthold Pfinczing het ein sun, hieß Markart, der saß zu dem Stainpuhel, der het ain sun, hieß Ulrich, und ein tochter, die het zu der e den Haymendörffer. Auch het der erstgeschrihen her Perthold Pfinczing ain sun, hieß Conrat Pfinzing kirweich, und ein tochter, die het Conrad Esler der gut richter; und ein tochter, het zu der e Ulreich Haller; und ain tochter, het zu der e Cunrat Tewfel. Der alt herr Perthold Pfinczing het von des reichs wegen innen zu der purg hie Herspruck, Aurbach, Hohenstain, Neuenmarckt, Altdorf, Swobach, Perngaw und etc."

Eine Skizze soll diese Angaben veranschaulichen: Bertold Pfinzing auf der Burg N. Bertold gef. b. Stock Meißen Christ. Heinz Bertold

Franz

Konr. Hans Herrn. Ludw.

oo

oo

Derrer

Mendel

(Elisabeth) oo R. Geusmid Markart Konrad am Kirchweih Steinbühl

I Ulrich

I Heinrich

I Margarete

I Ulm an Stromer

Der Stammvater Bertold auf der Burg ist zweifellos der Schultheiß Bertold, den wir von 1281 bis 1322 urkundlich feststellen konnten. Allerdings wird er in den Urkunden, im Gegensatz zu seinem Vetter Konrad, nie als Ritter be­ zeichnet; hier mag also ein Überlieferungsfehler bei Ulman vorliegen. Daß er aber auf der (Reichs-) Burg saß und Reichslehen verwaltete, also als Schultheiß „vertretungsweise das Butigleramt verwaltet hat", ist nach Dannenbauer durchaus wahrscheinlich 83). Nach 1300 wird er seltener erwähnt, auch nicht mehr ausdrücklich als ehemaliger Schultheiß genannt; dennoch muß es sich der Zeit nach bei dem älteren und alten Bertold noch um dieselbe Person gehandelt haben, und zuletzt setzte ihn noch am 24. 11. 1322 König Ludwig als Schiedsmann für die Juden ein: „den alten Berhtold den Pfintzinch und Erkenbrecht Choler, Bürger zu Nürnberg" 35). Wir hatten schon eine Tochter Bertolds ermittelt, die den jüngeren Heinz Groß heiratete, und erfahren nun von Ulman Stromer, daß Esler, Haller und Teufel seine Schwiegersöhne waren; vielleicht hat einer von ihnen die Witwe Groß geheiratet, oder aber diese starb früh und entging Ulmans Gedächtnis. Daß die Schwiegersöhne Behaim und Götzmann nicht diesem „egeschriben" oder „erstgeschriben" Bertold Pfinzing auf der Burg, sondern dem „vorgeschriben" Sohn zuzuordnen sind, den Ulman Franz nennt, ergibt nicht nur der Wortlaut des Berichts, sondern auch das Lebensalter. Aber ehe wir diese 8 Kinder Bertolds nach der urkund6S) H. Dannenbauer, Die Entstehung des Territoriums der Reichsstadt Nürnberg Anm. 93.

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lidien Überlieferung überprüfen, müssen wir noch eine andere Quelle bei­ ziehen. ln dem Handlungsbuch der Holzschuher, das um 1304/7 angelegt wurde, erscheint als Kontoinhaber wie als Bürge wiederholt ein Ber­ told Ptinzing, der damals bereits erwachsene Söhne hatte, also der Altersstufe des Schultheißen aut der Burg angehörte. Einmal wird die Tochter seines Bru­ ders Markward erwähnt64) — es muß sich dabei um den Schultheißen von 1288/90 handeln, der vermutlich damals nicht mehr lebte; ein Kontoinhaber Markward °5) dürfte eher der Sohn Bertolds sein. Nun wird von den Inhabern des Handlungshauses Bertold Phincinch bald als sororius, bald als socer be­ zeichnet üü); der Herausgeber hat diese Angaben zur Unterscheidung der Hand­ schriften benutzt und geschlossen, daß Bertold mit einer Tochter des älteren Herdegen Holzschuher, einer Schwester des jüngeren Herdegen und Heinrich verheiratet warö7). Das Wort sororius wäre also als Schwager, socer als Schwiegersohn zu deuten. Mehrfach wird Bertolds Frau und sein Sohn ohne Namen erwähnt, einmal der junge Bertold, der Sohn F. und der Sohn Siboto (Seibot)68). Der Sohn F. wird nun auch sororius genannt99); hier müßte das Wort den Schwestersohn bedeuten. Das ist bei dem Latein der Gewand­ schneider Holzschuher nicht ausgeschlossen. F. und C., dessen Verwandtschaft zu Bertold nicht näher bezeichnet wird, nennen einen F. (Ebner) ihren avunculus. Ist Chrousts Deutung richtig, dann kann avunculus hier nicht im üb­ lichen Sinn den Mutterbruder bezeichnen; für die auch urkundlich greifbare Verwandtschaft zwischen Pfinzing und Ebner haben wir vorerst noch keine sichere Erklärung 70). Prüfen wir nun die Genealogie der Holzschuher näher (vgl. Exkurs I: Holzschuher), so ergibt sich, daß der von Chroust als Schwie­ gervater Bertolds angesetzte Herdegen Holzschuher etwa gleichzeitig mit ihm in den Urkunden auftritt, 1277/1318. Das wäre noch kein zwingender Ein­ wand gegen die vermutete Verbindung, denn einmal wissen wir nicht, wie alt Herdegen bei seiner ersten urkundlichen Erwähnung 1277 war, ferner wis­ sen wir aus Ulman Stromer, daß häufig cRe Frauen wesentlich jünger als ihre Männer waren, oft noch in kindlichem Alter verheiratet71); wenn einer ihrer 64) 65) 66) 67) 68) 69) 70)

Ho Nr. 1977. Ho 1697. sororius Ho 1801, 2083, socer Ho 1969. Ho Einleitung S. XXI. Sohn Ho 1804, 1809, jung Bertold Ho. 2027, F 1973, Sibito 1975. Ho 1812. F: Ho 1812; F. Ebner: Ho 18'22. Urkundlich kommen Fritz Ebner, Eberhards Sohn, 1314/45, Hermanns Sohn 1323/40 vor. Es handelt sich also bei „avunculus" wohl um einen Neffen oder Vetteisohn. Vielleicht war Herdegen Holzschuher mit einer Ebner verheiratet (s. Exkurs III). 71) Ulman Stromers zweite Frau Agnes Grolant ist geb. 25. 11. 1351 (USt 65, 9; 67, 11) und heiratet am 21. 11. 1366 (65, 9). Von den Töchtern ist Anna am 9. 9. 1364 geb. und heiratet 1378, hat seit 1380 Kinder, deren viele nicht lebenskräftig waren (67, 8; 68, 9); Kristein, gb. 8. 3. 1372, heir. 10. 5. 1388 (67, 12; 69, 1); Eis, gb. 12. 2. 1374, verlobt 1382, heir. 10. 5. 1388 (67, 15; 68, 30); Agnes, gb. 15. 7. 1376, heir. 1395 (67, 21; 68, 23); Margarete, gb. 4. 7. 1382, heir. 23. 10. 1402 (68, 11; 70, 12); der Sohn Jörg, gb. 19. 2. 1375, heir. 1397 (67, 18; 69, 2'9). — Vgl. auch Bertold Tuchers Geburt, als sein Vater 18, seine Mutter Anna Behaim 15 Jahre alt war (Die Chron. d.

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Söhne 1307 urkundlich auftritt, wenn einer um 1305, eine Tochter 1298 be­ reits verheiratet war, könnte sie immerhin um 1260 geboren sein. Daß Ber­ told Pfinzing eine Holzschuher geheiratet hat, wird auch durch die Vornamen bestätigt; die Brüder des älteren Herdegen heißen Friedrich, Leupold und Heinrich Holzschuher, ein Sohn Bertolds heißt Friedrich (nicht Franz, wie Ulman Stromer angibt, hier täuscht ihn offenbar das spätere Vorkommen des Namens Franz bei einer Linie der Pfinzing), ein Enkel heißt Heinrich, ein LIrenkel Herdegen. Endlich dürfen wir nun auch vermuten, daß der 1298 er­ wähnte Zisterzienser Leupold Pfinzing in Heilsbronn 27) ebenfalls ein Sohn des Schultheißen Bertold war. Aus dem Holzschuherbuch gewinnen wir also für die Genealogie Pfinzing folgendes Schema: Bertold Pfinzing oo Holzschuher Bertold d. Jg.

F(riedrich)

Seibot

C(onrad)

M(arkward)

Diese Namen würden mit den von Ulman Stromer angegebenen Söhnen des Schultheißen übereinstimmen, wenn der in Meißen gefallene Sohn identisch mit Seibot wäre. Den 1317/19 erwähnten „Genannten“ Seibot möchten wir, wie oben erwähnt (S. 39), der anderen Linie der Familie zuschreiben, die 1349 mit Söhnen erwähnte Witwe eines Sibot könnte vielleicht auf Bertolds Sohn bezogen werden. Die späteren Genealogen nennen den Gefallenen Ludwig und geben als Jahr seines Todes 1313 an. Die Ortsangabe,, in Meißen“ könnte auch an das Gefecht bei Lucka denken lassen, das die Truppen des Königs Albrecht I. am 31. 5. 1307 gegen die Brüder von Meißen verloren. Der Name Ludwig scheint damals in der Familie Pfinzing noch gar nicht vorzukommen. Aber es muß außer den Söhnen Sibots und Bertolds noch weitere Pfinzing gegeben haben. So ist 1308 und 1311 Cunrad Pfinzing, Herrn Cunrads Sohn, erwähnt, wohl ein Sohn des Ritters, der den halben Butiglerhof erworben hatte, und 1320 kommt Konrad Pfinzing auf dem Hofe vor (neben dem gleichnamigen Schultheißen); Konrads Frau Agnes 1302 wird sich wohl auch auf den Ritter beziehen, da sie Erbansprüche an die Burg Großhaslach hat72). Im Jahre 1307 wird ein Hensel Pfinzing aus der Stadt verwiesen73). Den 5 Söhnen des Schultheißen Bertold Pfinzing, die Ulman nennt, können wir nun also wohl Seibot (falls er nicht identisch mit dem in Meißen ist) und den Zisterzienser Leupold hnzufügen. Zu den 3 verheirateten Töchtern, die er angibt, fanden wir noch die Frau des jüngeren Heinz Groß (1298), dazu kommen die Nonnen Elspet und Jeut in Engeltal (1332); natürlich könnten einzelne dieser Töchter zweimal ver­ heiratet oder nach der Ehe ins Kloster gegangen sein. Die erste Tochter (Anna) war nach Ulman Stromer mit Konrad Esler, „dem guten Richter“, verheiratet. Es handelt sich gewiß um den 1287/1319 urkundlich erwähnten dt. Städte Nürnberg IV, S. 14). — Zur Kinderzahl: Ulmans Urgroßvater Konrad Stromer hat aus 3 Ehen 3 3 Kinder (61, 3'; 4; 7); der Großvater aus 1. Ehe 11 (61, 14): der Vater aus 2 Ehen 18 (62, 21). 72) Urkundenregesten Heilsbronn (Veröff. d. Ges. f. fränk. Gesch.) I, Nr. 265. 7S) E. Pitz, Die Ratsherrschaft, S. 32.

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Konrad Esler, der 1290/1316 Sdiultheiß in Nürnberg war (vgl. Exkurs II: Esler). Die zweite (angeblich Eis, doch vgl. die Nonne von 1332, oder Adel­ heid) heiratete Ulrich Haller, nadi der Hallersdien Überlieferung den zwei­ ten, seit 1317 bezeugten Träger dieses Namens74). Die dritte (Agnes) (Katha­ rina) heiratete Konrad Teufel, wohl den Schöffen von 1332 75). Ulman führt unter den verstorbenen Zeitgenossen an76): „Cunrat Tewfel auf sant Diligen hoff, Perchtold sein son, Ulreich sein son, Hans sein son (der des Schurstabs tochter het), Pertholt dez Pertholtz son, Cuncz sein bruder." Von den Söhnen des Schultheißen Bertold Pfinzing sind Bertold und Fritz sehr häufig, Markward am Steinbühl und Konrad Kirchweih dagegen kaum urkundlich zu treffen. Konrad ist gewiß identisch mit den Cunzel, der 1311 und 1317 nach seinen Brüdern Bertold und Fritz genannt ist85). Ulman nennt ihn unter den Verstorbenen: „Cunrat Pfinczing (am Fischpach, genant) Kirch­ weih, Pawlus Pfinczing sein sun“ 77). Ob der 1326 neben dem Schultheißen genannte Schöffe Konrad Pfinczing und der 1322 mit seiner Frau Hedwig erwähnte Konrad mit ihm oder mit Ritter Konrads Sohn gleichzusetzen ist, vermögen wir nicht sicher zu entscheiden. Bertold und Fritz Pfinzing werden häufig als Brüder, 1314 auch als Sweger Konrad Eslers genannt. Bertold am Stock erscheint zuerst im Holzschuherbuch als Bertold der Junge, 1307 urkundlich als Sohn des alten Bertold, seit 1329 als Bertold der Ältere; zwischen 1341 und 1344 ist er gestorben. Er ist häufig ausdrücklich als Rat und Schöffe bezeugt und beurkundet viele private und amtliche Angelegenheiten. Sein Schwager Ulrich Haller wird 1333, seine Hausfrau Jeute 1332, 1333 und 1335 genannt. Eine Stiftung für Kloster Engeltal vom 25. 5. 1333 (siehe Beilage) nennt als Schwester seiner Wirtin „Christein die Ebnerin“ in Engeltal; bereits in einer Stiftung vom 21. 1. 1332 werden Bertolds Schwestern Elspet und Jeut sowie die Ebnerinnen Dymout, Cristein und Elspet im Kloster Engelthal genannt. Es handelt sich bei der Schwägerin Christine um die berühmte Mystikerin, die das Büchlein von der Genaden Überlast schrieb. Damit ist Bertolds Frau als geborene Ebner bezeugt (siehe Exkurs III: Ebner). In Engelthal lebte auch Bertolds Tochter Agnes (Stiftung vom 18. 1. 13 32). Auch für andere Kirchen hat Bertold Stiftungen gemacht, so am 14. 1. 133 5 für Kloster Heils­ bronn, am 4.4.1331 ein Seelgerät für den verstorbenen Bruder Fritz und ein Immerlicht in der Moritzkapelle bei der Sebalduskirche, am 25. 5. 1333 ein ewiges Licht für Fritz auf den Johannisaltar bei den Predigern aus einem von seiner Schwester, der Eslerin, gekauften Eigengut und ein ewiges Licht für den Kreuzalter von St. Gilgen aus einem Garten vor dem Tiergärtner­ tor, den er von den Pigenot (den Ahnen der Ebner?) geerbt hat. Bertold Pfinzing war ein reicher und frommer Mann, soweit es uns seine zahlreichen 74) Freundliche Mitteilung von Baron H. Haller von Hallerstein, Großgründlach (aus dem Mskr. der angekündigten Familiengeschichte). 75) Die Chroniken der Deutschen Städte, Nürnberg I, S. 217. 76) USt 92, 16. 77) USt 85, 27.

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Urkunden erkennen lassen. Seine Tochter ist auch Gerhaus, die 133 5/60 als Frau und Witwe des alten Erkenbrecht Koler vorkommt, denn ihr Sohn Erkenbrecht hat 1371 ein Gut in Soldern von seinem Ahnherrn Berchtold Pfinzing selig78). Berchtolds Sohn Berchtold der jüngere kommt seit 1329 vor, ohne Zusatz seit 1342, mit seinen Brüdern Heinrich und Christian 1345 und 13 55. Bertold wird uns noch begegnen, die beiden anderen erscheinen unter Ulmans Gestorbenen: „Hainreich Pfinczing, Cristan Pfinczing sein bruder, Cristan Pfinczing auf der purg“ (wohl ein Enkel)79). Heinrichs Frau Katharine wird 1351 erwähnt, seine Kinder heißen 1343 Konrad Wald­ stromers Enkel, namentlich 1347 eine Tochter Eisbet, 1364 ein Sohn Konrad. Fritz Pfinzing, Bertolds Bruder, wird 1311/27 urkundlich ge­ nannt, auch als Schöffe und Geschworener, 1326 als Siechenpfleger bei St. Johann. 1331 und 1333 gedenkt sein Bruder mit Stiftungen seines Todes. 1341/44 wird die Witwe Elspet erwähnt, 1341 die Tochter Preid im Kloster Engelthal, 1332 der Sohn Konrad als Schöffe75) (er war später in Neustadt a. A.), 1342/43 die Söhne Hermann, Hans und Ludwig. Der Sohn Hans, des Derrers Eidam, kommt auch 1344 vor. Ulman Stromer kennt nur einen Hermann, Hermann Pfinczing Hebentancz80), aber wir hatten 1349 auch einen Hermann als Seybots Sohn angetroffen. Ulman nennt unter den Ge­ storbenen auch den jüngsten Sohn des Fritz: „Ludweik Pfinczing (der Beheym bruder), Jörg Pfinczing sein sun“ 81). Damit ist auch die Pfinczigin bestimmt, die mit Friedrich Beheim verheiratet war; Ulman nennt ihre Kinder „Friedreich Pehem am Salzmarkt, Herdegen und Michel" 82). Sie begegnen uns mehrfach urkundlich, gemeinsam 17. 6. 1368 Michel mit seinen Brüdern Fritz, Herdegen und Kraft Beheim 83). An Fritz Pfinzing knüpfen die späteren Genealogen eine Erzählung vom Wappenwechsel der Familie. Das alte Wappen, oben im goldenen Schild den schwarzen Adler, unten im roten Feld den silbernen Ring (das Kolerwappen), sei von den Nachkommen des Fritz aufgegeben und durch das Wappen der ausgestorbenen Geusmid — gold­ schwarz geteilt — ersetzt worden, da die Gemahlin des Fritz, Elspeth, die letzte aus dem Geschlecht Geusmid gewesen sei. Freilich hat bereits einer dieser Genealogen bemerkt: „Kann nicht seyn, Jacob Geuschmid hat gelebt 13 59" 84). Aber man sprach doch von den Geyer-Pfinzing (wobei der Geier den Adler bedeuten soll) und von den Geud-Pfinzing. In dieser Überlieferung verbirgt sich vielleicht eine entstellte ältere, die nicht auf den Adler oder Geier, sondern auf den Familiennamen Geyer in Nürnberg und Bamberg 78) Staatsarchiv Nürnberg, Nbgr. Hdsch. 439, f. 1S2, 1 (vgl. auch G. Wunder, Koler, in Butter für fränk. Familienkunde 1958, S. 145). 79) USt 85, 24. 80) USt 85, 18. 81) USt 85, 29). w) USt 88, 20. 8S) Dazu am 4. 2. Kunz Friedrichs Sohn, am 4. 10. 13'89 Michels Söhne Peter und Michel, am 29. 10. 1390 Kathrein Herdegens Witwe (ihr Schweher Fritz sei.) mit ihren Kindern Fritz, Anthoni, Franz, Kunigunde (oo Hans Rieter), dieselben teilen nach dem Tod der Mutter 31. 1. 1393. 84) Staatsarchiv Nürnberg, Nbg. Hdschr. 439, f. 328 v.

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zurückgeht. „Wie aber ihre Nachkommen das Wappen geendert und ob es die Geuschmidt verursachet, ist dieser Zeit noch nicht gründlich Wissen" 85). Zur weiteren Ergänzung dieser Stammtafel müssen wir Ulmans Angaben über seine noch lebenden Verwandten „an der vierten Gesipp mit mir" 138 5/8 8 verwenden; es müssen sich unter den Urgroßeltern der Betreffenden Geschwister finden, das heißt, der Schultheiß Bertold ist der Urgroßvater der folgenden 5 Geschwisterreihen, die durch die Erwähnung einiger Verwandten seiner Kinder im 4. Grad unterbrochen sind86): 1) „Pertholt, Ulreich Pfinzig und ir swester (die Tucherin und ir swester die Heslin). . 2) Hans, Nyclos, Paulus, Fricz Muffel.. 3) Fricz, Michel, Kraft di Peheym . . 4) Hans, Fricz, Seicz di Pfinzig . . 5) Ludweik Pfinzig und Haymdorfer . 2) Unklar ist hier noch die Erwähnung der 5 Brüder Muffel (es gehört zu den erwähnten 4 Brüdern noch Jakob), sie sind Söhne Hans Muffels des älteren, der von 13 32/61 erwähnt wird87) und auch als Zeuge für Konrad Groß am 16. 2. 1343 vorkommt: „Pernhart Hanse Muffel". Nach ihrer Erwähnung bei

Ulman ist man geneigt, ihre Mutter für eine Tochter des Fritz Pfinzing zu halten. 3) Die Beheim sind uns als Enkel des Fritz Pfinzig bereits bekannt. 1) Die erste Geschwisterreihe Pfinzig begegnet uns wieder in einer Notiz auf Grund urkundlicher Überlieferung88): „Anna Pfintzigin Herrn Berchtold Tuchers Gemahlin und nachgelassene Wittib hat 1 Swester (die Heßlerin) und theilet bald nach Absterben ihres Herrn Montag nach St. Matthes Tag 1379 mit ihren Brüdern von beeden Banden Berchtolden und Ulrichen mit bewilligung ihrer Weiber, Agnesen, Ulrich Stromers zu der goldenen Rose Tochter, und Chatarina N., ihrer Mutter Berchtold Pfinzingin verlassene Hab mit bezeugung Herrn Michel Grundherrens und Herrn Ulrich Stromers zu der goldenen Rose des jüngeren, testirte 13 80 viel zu Kirchen und Klöstern, erwehlet ihr Grab bei ihrem Herrn, zahlt damaligen brauch nach vor das Lager 15 1b, ordnet zu executorn Herrn Michel Grundherren, der auch ein Lauffenholzerin hette, Berchtold Pfinzig ihren Bruder und Frau Anna Pömerin, starb Dienstag nach Dorothee 1381.“

Es handelt sich also um die von Ulman Stromer erwähnten Geschwister, insbesondere um Anna, die Witwe des Bertold Tücher (dessen Tochter erster Ehe mit einem Bertold Pfinzing der Sibotlinie verheiratet war). An ihre Hochzeit mit dem bereits betagten Witwer knüpft sich die Sage von dem Heller, den er nach dem Tod seiner ersten Frau hochgeworfen habe: falle das Kreuz, so wolle er ins Kloster gehen, falle die Hand, so wolle er noch einmal heiraten; Gott aber habe es gefügt, daß dreimal nacheinander die Hand fiel, und so wurde er zum Fortsetzer seines Stammes. Die Pfinzigsehen Geschlechterbücher haben diese Sage hübsch illustriert. Bezeichnend ist bei dieser Erbverfügung von 1380 ebenso wie in dem Testament Bertold 85) 86) 87) 88) 4

ebd. f. 329 v. USt 73, 12; 14; 16; 17. Hirschmann in Mitt. Nürnberg 1950, S. 295. Staatsarchiv Nürnberg, Nbg. Hdschr. 439 f. 331.

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Pfinzings am Milchmarkt 1361, daß unter den Vollstreckern Frauen genannt sind, wie dies vor der Rezeption des römischen Rechts zuweilen vorkam. Anna Pömerin ist offenbar eine Pfinzing, denn „Cunrat Pomer het dez Pfinzings tochter" 8Ö), nach den späteren Genealogien eine Tochter Christians. Für unsere Fragestellung ist wichtig, daß die Geschwister Bertold, Ulrich, Anna und die Heßlerin noch Stiefgeschwister haben müssen. Der Vater, den wir in der Enkelgeneration des Schultheißen Bertold suchen müssen, heißt Bertold und war in zweiter Ehe mit einer Laufenholz (Katharine) verheiratet. Wieder hilft uns Ulman weiter: „Bertolt Pfinczing am weinmarkt (hett ein Lauffenholczerin), Seitz Pfinczing sein sun“ ö0). Seitz aber muß unserer Ur­ kunde nach aus der ersten Ehe stammen. Bertold am Weinmarkt wird uns urkundlich 13 56/76 vielfach genannt. Unter den Enkeln des Schultheißen Bertold, zu denen er gehört, haben wir nur einen Bertold angetroffen, den 1329/55 oft genannten gleichnamigen Sohn des Bertold am Stock und der Jeut Ebner. Es muß sich um Bertold am Weinmarkt handeln. 13 55 wird er Bertold der ältere genannt, im Gegensatz zu seinem Sohn Bertold dem jungen91); 1372 kommt urkundlich Bertold, Bertolds Sohn, vor. Dieser junge Bertold ist der Bruder Ulrichs und der Tucherin. Wir finden ihn in Ulmans Auf­ zeichnungen, die hier von seinem Sohn ergänzt worden sind, noch einmal92): „Ulreich Pfinczig dez Bertholtz bruder starb (auf der purg) am freytag vor Lawrencij anno 1399 (Perchold Pfinczing starb am eritag zu mittag nach sand Barchtolomeustag anno dn. 1405, item Sebalt Pfinczing sein sun starb zu Nurmberg anno dn. 1400 und 31 jor am eritag nach sant Georigen tag in der drytten stund des tags und was 59 jor alt und ging 35 jar in den rat und was oberster hauptman lang zeit).“ Dieser Bertold Pfinzing (f 140 5) begegnet uns seit 1372 sehr oft in Urkunden. Mit seiner Frau Agnes Stromer ist er 1380 und 1386 ge­ nannt; am 15. 2. 1386 gewährte ihr Erzbischof Peter von Tarent wegen ihrer Leib es schwäche einen Fastendispens. Nach ihrem Tode hat Bertold wieder­ geheiratet, denn am 18. 10. 1391 erlaubte ihm Bischof Lamprecht von Bam­ berg, seiner Frau 800 fl auf sein Haus anzuweisen; am 25. 1. 1392 verlieh ihr Herzog Swantibor von Pommern anstatt des Königs Wenzel die Gauchs­ mühle, und am 29. 9. 1397 nannte Konrad Groß, der Sohn des Stifters, seinen Vetter (= Neffen) Philipp „Bertold Pfinzings Schwager" 35). Ulman Stromer bestätigt es: „Filipp Gross, sein swester Pertholt Pfinzingin“ 93). Die beiden Brüder Bertold und Ulrich Pfinzing müssen große Geldgeber gewesen sein, die besonders den König Wenzel in seiner ständigen Geldnot finanzierten und von ihm dafür Entschädigungen und Gunstbezeigungen erhielten. Am 15. 3. 1383 erhielt Ulrich Pfinzing 100 fl auf die Judenschuld angewiesen, 1393 durfte er Besitzungen in Niedermennbach beanspruchen, die ihm der junge Hermann Ebner vorenthielt; am 4. 3. wurden ihm dafür 500 fl zu­ gesprochen, am 22. 4. wurde er von einer Klage Ebners wegen Beschädigung 89) USt 95, 7.

90) USt 85, 21—22. 91) Staatsarchiv Nürnberg, Nbg. Hdschr. 439, f. 182. 92) USt 86, 1-7. 93) USt 72, 34. 50

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und Raub freigesprochen; bereits am 15. 3.1390 versetzte er seinem Eidam Dietz dem Mindel, der seine Tochter Katrey geheiratet hatte, mit Einwilli­ gung des Sohns Ulrich Einnahmen aus Mennbach. Bedeutender ist sein Bruder Bertold. Am 27. 8. 1394 weist ihm König Wenzel die Hälfte der Nürnberger Judensteuer zu (aus Nürnberg, Rothenburg, Windsheim und Weißenburg), am 2. 9. weist er ihm 2000 fl der gewöhnlichen Reichssteuer an, vermutlich auf Grund vorausgegangener Leistungen. Alljährlich erhält nun Bertold Pfinzing den Judenzins, am 31. 8. 1401 bestätigt ihm König Rupprecht die Judensteuer der 4 Reichsstädte auf Lebenszeit94)- Seit 1377 finden wir Bertold Pfinzing häufig auf Städtetagen und am Hofe des Königs, er führt mit seinem Vetter Jobst Tetzel oder mit Ulman Stromer die Vertretung Nürnbergs bei den wichtigsten Angelegenheiten während des Städtekriegs, er verhandelt mit den Bischöfen von Bamberg und Würzburg, reitet 13 81 mit dem Bischof von Lübeck bis Nördlingen oder setzt 1385 in Ulm mit dem Landgrafen Hans von Leuchtenberg die Beiträge der Städte zum Landfriedensbund fest, er nimmt an der Tagung in Mergentheim 1389 teil und reitet dem König entgegen nach Eger, er nimmt den Gerichtsbann für Nürnberg aus der Hand des Königs Rupprecht 1401 entgegen oder wirkt als Spruchrichter zwischen Mainz, Braunschweig und Hessen 1403; die Reichstagsakten enthalten immer wieder seinen Namen95). Am 10.4. 1404 urkundet er in Nürnberg als Vor­ sitzender des Gerichts „an des Schultheißen Statt“, der letzte Pfinzing, der dieses Amt versehen hat. Nicht weniger bedeutend ist in der Zeit Siegmunds sein Sohn Sebald, der als königlicher Rat sehr zur Entrüstung der Stadt 1431 sein Bürgerrecht aufgab, aber es doch bald danach wieder erwarb; an dem Seelenamt für ihn nahmen, wie Jörg Stromer mitteilt, Kaiser Siegmund, Kurfürst Friedrich von Brandenburg, der Bischof von Agram und die Herzoge von Berg und Braunschweig teil. Eine Urkunde vom 5. 11. 1432 nennt seine Kinder, Bertold, Jörg, Ludwig und Sebold die Pfinzing, Klara die Franz Pirkheimerin und Apollonia Peter Stromeirs Wittib. Die Nachkommenschaft dieses bedeutenden Zweiges erlosch im 17. Jahrhundert in Schlesien und der Oberpfalz; der letzte in Nürnberg, Konrad Pfinzing (f 1598), der Sohn des Genealogen Sebald, mußte die Stadt verlasen. Es fehlen uns noch die Stiefgeschwister von Bertold( f 1405) und Ulrich, die Ulman Stromer nicht nennt. Die alten Genealogen ordneten hier Bertold am Milchmarkt, Tuchers Eidam, ein, der unserer Überzeugung nach zum Stamme des Sebald gehört95a). Seitz, der Sohn des Bertold am Weinmarkt, lebt gleichzeitig mit seinem Vetter Seitz, dem Bruder des Hans und Fritz. Doch erinnern wir uns jener Überlieferung über die Witwe des Bertold am Milch­ markt, Anna Tücher. Hier wurden als Geschwister ihrer Stiefmutter Anna Pfinzing, der Tochter des Bertold am Weinmarkt, Franz der Ältere, ver­ heiratet mit Elßbett Groß, und Cunz Pfinzing 1405 genannt. In den Losungs­ listen finden wir 1392 in der Gegend des Milchmarkts Frantz Pfintzing, mater sua, Ber. filius suus, 1397 Frantz Pfintzing, uxor sua, mater sua und 94) Deutsche Reichstagsakten IV, 228, 3 8 8. 95) Bd. I, II, IV, V sowie Regesta Ruperti. 95a) Gehört Bertold am Milchmarkt hierher, so müßte unter den Geschwistern seiner Mutter ein Großelternteil Ulmanns sein (S. 40). 4*

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C, Pfintzing, 1400 Frantz Pfintzing, uxor sua, mater sua und Frantz filius suus96). 1410 werden in Venedig Waren des Ulrich Hirschvogel beschlag­ nahmt, bei denen auch solche des Franz Pfinczing sind („certis rebus mercimonialibus“) 97)> und am 25.7.1413 gab Franz Pfinzing der Jüngere sein Bürgerrecht in Nürnberg auf98). 4) Zur Generation von Bertold (f 1405) und Ulrich Pfinzing gehören die drei Brüder Hans, Fritz und Seitz Pfinzing. Wir dürfen sie wohl als Söhne des Hans, Derrers Eidam, ansehen, wie die späteren Genealogen. Unter den Verstorbenen bei Ulman begegnen uns „Hans Pfinczing dez Hayden aydem, Fricz Pfinczing von Köln genant“ "). Tatsächlich erscheint Hans Pfinzing 1365/75 am 23. 10. 1374 mit seinem Swager Ott Heyden urkund­ lich35). Hans Pfinzing steht noch 1392 in der Losungsliste 10°). 1397 nennt dieselbe Liste S. Pfinzing, uxor und Erhärt Pfinzing zusammen 101). Der Name Seitz begegnet uns urkundlich 1374, 1381, 1396, 1398, 1404, 1405. Es muß sich um zwei Personen handeln (Bertolds und Hans’ Sohn); Bertolds Sohn starb früher, der andere überlebte Ulman Stromer. Fritz Pfinzing finden wir im Kölner Schreinsbuch wieder: Fritzo Frinzirich ist am 15. 9. 1372 der letzte Gatte der seligen Aleid, der Tochter des Johann von Meyen, und hat eine Tochter Else 102). Im Testament des Bertold Holzschuher wird am 11. 2. 1372 Fritz Pfinzing, der Tetzlin Bruder, bedacht 35). Ulman Stromer kennt „Cuncz Pfinczing der Teczlin bruder (starb zu Köln)“ 103). Er bestätigt die Verwandt­ schaft mit den Tetzel: „Fricz Tetzel het dez Pfinczing tochter, Fricz Tetzel sein sun het dez Peter Schoppers tochter...“ 104). Nun gab es freilich noch einen (wohl älteren) Fritz Pfinzing, den wir als Markwards Bruder aus der Linie Sibots kennengelernt haben. Aber die wiederholte Beziehung zu Köln läßt doch auf den Sohn des Hans schließen, der vielleicht nach dem Tod seiner Kölner Frau wiedergeheiratet hat. Denn am 26. 2. 1379 verkauft Fritz Pfinzing mit seiner Hausfrau Kathrein eine Gült aus dem Packhaus in Köln. 1380 wird Fritz Pfinzing der jüngere erwähnt, und 1389 bestätigt Frau Kattrey, die Fritz Pfinzingin die jünger, vor Gericht, daß sie Schulden bezahlt hat, noch am 26. 5. 1395 klagt Kattrey, Fritzen Pfingzigs selig Witwe, Ab­ gaben ein. Sie ist zweifellos die 1392/1400 im Losungsbuch genannte „Rel. f. Pfintzingin“ bei St. Sebald105) Am 1. Juli 1391 heiratete Karl Holzschuher „Junkfrawen Cristein fritzen Pfinzings von Cöln seligen Tochter“. Frau Kathrey die Pfintzingin gab 600 fl Zuschatz und versprach, sie erben zu lassen nach Nürnberger Recht. Bürgen waren Bertold und Seitz die Pfintzing und Heinrich Eisvogel, eine Bestätigung dafür, daß es sich um die nähere 96) #7) 98) ")

Staatsarchiv Nürnberg, Amts-u. Standbuch 271, f. 34’; 272, f. 36; 273, f. 36. USt 72, 24. Simonsfeld, Der Fondaco dei Tedeschi Bd. I, Nr. 298. Blätter f. frk. Familienkunde 1940, S. 236. USt 85, 26'—27.

10°) Staatsarchiv Nürnberg, Amts- u. Standbuch 271, f. 15' 101) ebd. 272, f. 26’.

102) 1W) 104) 105)

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Regestensammlung des Stadtarchivs nach Publ. rhein. Gesch. 46, 1937. USt 85, 19. USt 90, 15. Staatsarchiv Nürnberg, Amts- u. Standbuch 271, f. 7’; 272, f. 8; 273, f. 8.

MVGN 49 (1959) Pfinzing Bertold Pfinzing 1281/1322 Schultheiß 1281/88 00 .. . Holzschuher Sibot

Bertold am Stock 1307/41 oo Jeut Ebner

Bertold 1329/76 am Weinmkt.

Heinrich 1345/55 oo l) Waldstromer oo 2) Kath.

Christian 1345/55

Gerhaus 1335/60

Franz

Seitz

Bert. Ulr. f1405 f1399

Konrad, Eis 1364

1 Ulrich

1 Paul

Markward

am

Konrad Herrn. 1332 1342

Hans 1342/44

oo

00 Erk. Koler 1

Konr.

Steinbühl

Konrad Kirchweih 1311/17

Fritz 1311/27 oo Eisbet

Derrer

Konr. Köln

Hans 00 Heyd

Fritz Köln

Sebald Ulrich Kath. 00 1372— Dietz 1431 Mindel 1

Seitz T. f1414 00 | Fritz

Sigm. Tetzel

j----- — Bert. Franz

Ludwig (Marg) 1342 00 Fr. | Beheim Jörg

Christ. Veit oo Karl 1413 Holz­ schuher

1 (Linie aus­ gestorben 1764)

(Linie in Nürnberg ausgestorben 1598)

Verwandtschaft des Fritz, Hansen Sohn, handelt106). Endlich gehören noch zur gleichen Generation Ludwig Pfinzing, der sich 1368/89 urkundlich findet, und Haymdörfer, wohl ein Enkel des Markward Pfinzing am Steinbühl. Es bleiben noch mehrere Pfinzing, die nicht eingeordnet werden konnten. So lebten in der 2. Hälfte des 14. Jh. mehrere Konrad Pfinzing. Außer Konrad, des vom Steren Eidam, Kuntz Michel und Kuntz, der Tetzlin Bruder, nennt Ulman noch „Cunrat Pfinczing bei sant Diligen" 107). In den Urkunden finden wir einen Schöffen Konrad Pfinzing 1369/77, einen Geld­ mann, der am 7. 8.1372 1000 fl Kaisersteuer für den Bau zwischen Mainz und Oppenheim quittiert und am 4. 11.1373 1300 fl Reichssteuer wegen der Bürger von St. Gallen gab35); er suchte den König 1377 in Rothenburg auf108). Der Zeit könnte er wohl mit dem 1364 genannten Enkel Konrad Waldstromers und des Bertold Pfinzing am Stock, dem Sohn Heinrichs, identisch sein. Dann fehlt uns aus Ulmans Liste der Gestorbenen „Cunrat Pfinczing des Andres Vater", dazu urkundlich Andreas 1368/95 und in der Losungsliste 1397 am Roßmarkt bei St. Lorenz Andreas Pfinzing mit Frau und verheiratetem Sohn C.109). Ulman erwähnt noch „Bertold Pfinzing Haug" 108) Gatterer, Hist. Geneal. Holzschuherorum 1755, Urkunde zu 13'91 Sa. vor St. Ulrich (Der von Biedermann als Vater Christines genannte Veit ist 18. 11. 1413 als Holzschuhers Schwager bezeugt). 107) USt 85, 23.

108) Deutsche Reichstagsakten I, 203. 109) Staatsarchiv Nürnberg, Amts- u. Standbuch 278, f. 16; USt 85, 16.

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und „Pignot Pfinzing, der in Lamparten vil waz“ 110), vielleicht auch einen Enkel des Ehepaars Pfinzing/Ebner, das ja die Bigenot beerbte. In den Urkunden treffen wir noch Mechtild Pfinzing und ihren Sohn Paul 13 56, Clara Pfinzing und ihre Geschwister als Enkel des Ulrich Stromer am Zotenberg 1383. Die Losungslisten kennen 1392/1400 einen Wentzlaw Pfintzing in). Doch genügt unser Material, um die Entwicklung der Familie und zumal der beiden Stämme Sibotos und Bertolds in großen Zügen zu übersehen. 4. Ergebnisse

Überblicken wir die bisher gewonnenen Vornamen in der Familie Pfinzing, so ergibt sich, daß Bertold, Markward und auch Sibot typische Namen der Familie sind. Gerade der bevorzugte Name Bertold ist allerdings nicht so selten, daß wir ihn von der Sippe des Schultheißen ableiten müßten: Ulman Stromer zählt 11, das Handlungsbuch der Holzschuher 10 Bertolde außer den Pfinzing auf, und gewiß ist davon nur ein Teil diesem Sippen­ kreis zuzuschreiben. Zudem hat sich gezeigt, daß nicht nur in der Linie des Schultheißen Bertold, sondern auch in der seines Vetters der Name mehrfach vorkommt. Das dürfte den Schluß zulassen, daß die Namen nicht nur von unmittelbaren Vorfahren oder ihren Gechwistern vererbt wurden, sondern daß auch Vettern des gleichen Geschlechts ihre Kinder nach einem an­ gesehenen Verwandten, von dem sie selbst nicht abstammten, nennen konnten, vielleicht sogar nach Schwägern. Gewiß bestand nicht der moderne Brauch freier Namenswahl; die Namengebung nach dem Paten ist auch noch nicht bezeugt; aber die Namen wurden nicht nur aus der engsten Verwandtschaft, sondern aus dem weiteren Sippenkreis genommen. Einleuchtend ist, daß die Namen Fritz, Leupold und wohl auch Heinrich von den Holzschuhern in die Familie kamen; der für die Holzschuher und die von Gründlach typische Name Herdegen fehlt bei den Pfinzing, kommt aber bei ihren Nachkommen Beheim vor. Der seltene Name Bigenot in der Sippe Sibots ebenso wie in der Familie Ebner dürfte auf das ausgestorbene Geschlecht des Bigenot zurück­ gehen. Der Name des vermuteten Stammvaters Sigfrid findet sich erst nach über 100 Jahren wieder in der Familie, doch war Sibot ein Name aus ver­ wandter Wurzel. Auffallend ist das Auftreten des Namens Christian bei den Kindern und Enkeln des Bertold Pfinzing und der Jeut Ebner; gewiß ist hier die heilige Nonne Christine Ebner, die Schwester der Mutter, namengebend gewesen. Die fromme Gesinnung des Ehepaars Bertold und Jeut kommt ja gleichzeitig in mehreren Stiftungen an die Dominikanerinnen von Engeltal, an die Prediger in Nürnberg und an die Zisterzienser in Heilsbronn zum Ausdruck112). Dieser von einer tiefen inneren Frömmigkeit erfüllten Gene­ ration gehörte auch der reiche Konrad Groß an, der nicht nur zahlreiche Stiftungen gemacht hat, sondern auch den Gebetsbruderschaften zahlreicher Klöster beitrat. Der Stil dieser Stiftungen und ihr Umfang verrät eine mehr 110) USt 85, 20 und 21. ln) Staatsarchiv Nürnberg, Amts- u. Standbuch 271, f. 29; 273, f. 16’. 112) Regesten Stadtarchiv, 4. 4. 1331, 18. 1. 1332, 21. 1. 1332, 25. 5. 1333 (2 Urk.), 14. 1. 1335, 26. 6. 1335, 10. 8. 1336.

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als herkömmliche religiöse Gesinnung, und die Töchter der Familie, die unter der Obhut der Christine Ebnerin aufwuchsen, mögen nicht nur aus Versorgungsgründen im Kloster geweilt haben. In Margarete Pfinzing hatte Engelthal 1379 eine Priorin, eine andere Margarete Pfinzing war 1363, Katharine 1411 Äbtissin bei den Klarissen. Daß der Schwager der Christine Ebnerin, Bertold Pfinzing, der mehrfach Stiftungen für Engelthal gemacht hat, wo er zwei Schwestern und eine Tochter besaß, „des Klosters guter Freund" heißt (153 5), mag daher nicht nur im mittelalterlichen, sondern auch im modernen Sinne des Wortes stimmen. Fragen wir nach der wirtschaftlichen Grundlage dieser Stiftungen und des Ansehens der Familie überhaupt, so bleiben wir auf Vermutungen angewiesen. Von keinem einzigen Pfinzig ist uns das über­ liefert, was wir modern den Beruf nennen würden; sie treten in den Urkunden als Zeugen und Salmannen auf, vor allem aber in den bürgerlichen Ehren­ ämtern der Gemeinde. Freilich wüßten wir ohne den glücklichen Zufallsfund des Handlungsbuches auch von den Holzschuhern nicht, daß sie Gewand­ schneider waren und mit flandrischen Tuchen handelten. Ganz gewiß besaßen die Pfinzing Häuser und Grundstücke in Nürnberg, aber mit jeder Heirat verändern sich die Eigentumsverhältnisse; ein „Familienbesitz" im Sinne eines Majorats im Mannesstamm ist nicht festzustellen. So hat 1336 Bertold Pfinzing von seinem Schweher (Ebner) die Brotbänke bei St. Sebald, und seine Kinder haben 1344 ein Erbrecht an den Kramen bei St. Sebald. Konrad Pfinzing kauft 1282 den halben Butiglerhof, und der 1317 genannte Konrad „uf dem Hofe" mag identisch sein mit Konrad, Herrn Konrads Sohn. Der ältere Konrad, der Ritter, besitzt 1304 in Ödenberg eichstättische Lehen; wenn im Eichstätter Lehenbuch ein Berchtold Pfinzing ebendort Lehen hat (der Schultheiß oder sein Vetter), so ist damit nicht gesagt, ob es sich um dieselben Stücke oder um benachbarte Stücke aus der gleichen Erbportion handelt. Neben den eichstättischen werden burggräfliche Lehen erwähnt (z. B. der Garten hinter der Burg, den Bertold 1329 seinem Sohn abtritt), aber auch würzburgische Lehen eines Konrad (in Teufenstadt 1364). Zuweilen, besonders anläßlich der frommen Stiftungen, werden uns Äcker, Wiesen, Gülten und Zehnten an verschiedenen Orten im weiteren Umkreis genannt: Bertold verkauft 1328 an Heilsbronn Zehnten in Meiersperg und verzichtet 1331 nochmals ausdrücklich; er hat 13 32 ein Eigengut in Hansheim, 1332 Reichenecker Lehen, 1333 erkauften Besitz in Sperbersloh und ein von seiner Schwester Eslerin erkauftes Eigengut in Miltach, 1335 Güter in Glitzendorf; die Witwe seines Bruders Fritz ist 1344 in Traishöchstädt begütert, dessen Sohn Heinrich 13 51 in Klein-Gründlach, und Bertolds Enkel Koler hat 1371 ein Gut in Solern vom Großvater ererbt. Nur eingehende örtliche Untersuchungen, die auch spätere Aufzeichnungen zur Hilfe nehmen, könnten eine genauere Besitzfolge herzustellen versuchen; stets müßte dabei aber auch bedacht werden, daß es sich ebensogut um dieselben wie um benachbarte Gü­ ter am gleichen Ort handeln kann, daß Vererbung und Kauf (zunächst Kauf innerhalb der Miterbenschaft, aber auch Geldanlage zur Abrundung oder Ergänzung des Besitzes) den Bestand dauernd verändern. Erst 1530 haben 55

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die Pfinzing mit Schloß Henfenfeld einen Mittelpunkt ländlicher Besitzungen erworben. Soviel ergeben doch auch die verstreuten Erwähnungen in unserem Urkundenmaterial, daß von einer Bevorzugung des Mannesstamms bei der Besitzvererbung nicht die Rede sein kann. Immerhin bieten die Quellen eine Grundlage für eingehendere besitzgeschichtliche Untersuchungen. Doch dürfen wir schon jetzt sagen: die Pfinzing lebten wohl vorwiegend von Haus- und Grundbesitz, von Renten und Gülten. Haben sie darüber hinaus Geldgeschäfte getätigt und Warenhandel getrieben? Jener Konrad, der um 1372 Reichssteuern einzog, und die Brüder Ulrich und Bertold, die unter König Wenzel die Juden­ steuern zugeschrieben erhielten, dürften wohl den Königen vorher bereits mit Geld ausgeholfen haben; sie sind zweifellos Männer, die über größere Beträge von Bargeld verfügten und damit nicht nur Fürsten finanzierten, sondern auch nach dem Kerbholz und ohne urkundliche Verschreibung Geld an Privatleute liehen. Ein Markward Pfinzing verkaufte 13 58 Waren nach Italien, und Franz Pfinzing gehörte 1410 zu den Kaufleuten, die mit Venedig Handel trieben. Auch der von Ulman Stromer erwähnte Bigenot Pfinzing, der viel in Lamparten war, wird dort geschäftliche Verbindungen gehabt haben. Aber wie weit kann man aus diesen späteren Angaben auf die Zeit um 1300 zurückschließen? Da wir kein Handlungsbuch, wie bei den Holzschuhern, haben, wissen wir es nicht; bei den Holzschuhern kam der Schwager Pfinzing nur als Kunde, nicht aber als Geschäftsfreund vor. Wir werden uns also vor Verallgemeinerungen hüten müssen; einige Mitglieder der Familie Pfinzing haben in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Geld- und Waren­ geschäfte gemacht; daß solche Geschäfte für einen vornehmen Nürnberger Bürger nicht standeswidrig waren, beweist das Handlungsbuch der Holzschuher. Aber es handelt sich dabei immer um einzelne Mitglieder der Familie; die Familie bildet keineswegs eine Einheit im Mannesstamm, ein­ zelne Mitglieder können den Wegen mütterlicher Verwandter folgen, und ob ein Familiengefühl etwa der Pfinzinge, der Ebner usw. bestand, sagen unsere Quellen nicht. Zwar hebt Ulman Stromer die Angehörigen seines Namens­ stammes durchaus hervor, aber auch seine Verwandten von den Esler und Pfinzing her stehen ihm nahe. Das einzige, was wir über die Denkweise der Menschen wissen — die Namengebung — verrät Zusammenhänge, die über die Mannesstammfamilie hinausreichen. Mehr als über die wirtschaftliche und berufliche Stellung verraten unsere Urkunden über die soziale Stellung der Nürnberger Geschlechter, über ihre Mitwirkung in der Gemeinde. Sibot Pfinzing ist 1251 der dritte, 1253 der zweite und 1263 der erste des Gerichts nach dem Schultheißen; er gehört demnach bereits der Körperschaft an, die 1254 „Universitas civium“, Bürgergemeinschaft, genannt wird und aus der der Rat hervorgeht. Sein Bruder Merklin heißt honestus vir, ehrbarer Mann, oder vir discretus ac fidedignus, bescheidener und glaubwürdiger (d. h. sachkundiger und bevoll­ mächtigter) Mann. Für diese Personen ist in den Urkunden seit 1276 meist die Anrede Herr gebräuchlich, die bisher Geistlichen und Rittern Vorbehalten gewesen war. Später werden die Pfinzing als Schöffen und Geschworene be­ zeichnet, sie gehören häufig in Rechtshändeln zu dem kleinen Kreise der 56

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Pfinzing

Schiedsmänner, so der alte Bertold 1322 im Auftrag des Königs Ludwig in der Judensache. Häufig finden wir zwei Brüder gleichzeitig im Schöffen- oder Ratskollegium, so Siboto und Merklin, dann Bertold und Markward, dann Bertolds Söhne Bertold und Fritz m). Zu der Zeit, als der entstehende Rat dem Schöffenkollegium gegenübersteht, finden wir Vertreter der gleichen Familien, zuweilen sogar die gleichen Personen in beiden Körperschaften; damit ist die juristische Trennung dieser Gremien faktisch bereits weitgehend eingeschränkt, ihre spätere Verschmelzung vorbereitet. Unter den Schöffen des Landgerichts sitzen die Pfinzing wie die anderen Nürnberger Bürger gleichberechtigt mit den Angehörigen des Landadels, so 1282, 1296, 1299 U4); daraus darf man wohl weniger ihre individuelle Gleichstellung mit dem Land­ adel, als die rechtliche Gleichstellung der Stadtgemeinde folgern, die sie ver­ traten. Unter den Genannten des größeren Rats finden wir 1317 Sibot, jung Berchtold und Chunrat Pfinzing, 1319 unter den „consules“ (Ratsherrn) Perhtold, unter den Schöffen Friedrich, unter den Genannten Michel, Sibot, Chunrat und Johann Pfinzing. 1332 steht an der Spitze der consules (Rats­ herrn) Bertold Pfinzing der ältere, an 10. Stelle unter den Schöffen sein Neffe Konrad Pfinzing Friedrichs Sohn. Von Merklin Pfinzing, der 1264 in Mainz gegenseitige Zollfreiheit vereinbarte, bis zu Bertold, der unter König Wenzel und Ruprecht ein großer Mann war, und seinem Sohn Sebald, dem kaiser­ lichen Rat Sigmunds, sind sie auch in der Außenpolitik und Diplomatie der Reichsstadt hervorgetreten. Ihren besonderen Ausdruck findet diese bedeutende Stellung der Pfinzing und ihrer Verwandten darin, daß sie häufiger als andere Familien das Schultheißenamt innehatten. Kaum hatte die Reichsstadt unter König Rudolf Sicherheit gegenüber dem Herzog von Baiern und dem Burg­ grafen gewonnen, als wir einen Pfinzing, eben jenen Merklin, als königlichen Schultheißen und Vorsitzenden des Gerichts finden (1276). Er scheint bald darauf gestorben zu sein, aber seine Söhne Bertold und Markward haben nacheinander das Schultheißenamt 1281—90 inne, dann folgt von 1290 bis 1316 Bertolds Schwiegersohn Konrad Esler. Unter Bertold wird das erste Ächtungsbuch angelegt (128 5); er hat nach Ulman Stromer auch das Butigleramt auf der Burg zeitweise innegehabt. Fragen wir uns nach den Ursachen des raschen Aufrückens der Familie in die vorderste Reihe der Bürgerschaft, so fällt auf, daß Merklin Pfinzing seine Sendung nach Mainz, der wir seine erste urkundliche Erwähnung verdanken, unter jenem Schultheißen Bertold Isolt genannt Propst (1258—65) anvertraut erhielt, der als erster in der königslosen Zeit die beginnende Selbständigkeit der Stadt verkörpert. Viel­ leicht darf mit aller gebotenen Vorsicht die Vermutung gewagt werden, daß Merklin Pfinzing der Schwiegersohn Isolts war; damit wäre der Vorname Bertold bei dem ältesten Sohn ebenso erklärt wie die Vertrauensstellung 113) Universitas civium (NUB 353); Schöffen und Genannte NUB 539; consules et Univer­ sitas civium NUB 734; consules et scabini NUB 761; scabini NUB 766; burger gemeinIdch des rats und der schepphen NUB 814; Schephen NUB 830. Dazu Murr, Journal (s. Anm. S. 367—372; Die Chron. d. dt. Städte I Nürnberg S. 217 Anm.). u) Als Urteilsprecher des Landgerichts Bertold Pfinzing alt Schultheiß ... Leupold Holzschuher (NUB 906), vgl. NUB 668, 674, 909, 922, 1044 und Mitt. Nürnberg 1934, S. 17.

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Merklins, obwohl er der jüngere Bruder war. Durch den Schultheißen Bertold, der offenbar eine bedeutende Persönlichkeit war, würde dann dieser Vorname in der Familie seine vorwiegende Geltung erhalten haben. Allerdings reicht die Überlieferung zu einer sicheren Aussage darüber nicht aus. Auch die späteren Schultheißen gehören teilweise der gleichen Sippe an. Anstelle Konrad Eslers begegnet uns vorübergehend 1306 im Schultheißenamt Heinrich Geusmid, ein Neffe B'ertold Pfinzings. Auch Erkenbrecht Koler 1311 gehört seiner Stellung in den Urkunden nach zum weiteren Verwandtenkreis der Pfinzing. Konrad Eslers Nachfolger war von 1317 bis 1337 Konrad Pfinzing, Eslers Neffe und Pfinzings Vettersohn. Auf ihn folgte nach kurzer Unter­ brechung Konrad Groß 1338—56, der das Schultheißenamt von Kaiser Ludwig 1338 erblich verpfändet erhielt. Seine Stiefmutter war eine Esler; aber darüber hinaus besteht die Möglichkeit, daß seine Frau zum Verwandten­ kreis der Pfinzing gehört (siehe Exkurs IV Konrad Groß). Es ergibt sich also folgende Verwandtschaft der Nürnberger Schultheißen: Bertold Isolt, Sch. 1258/65

l) Pfinzing Markward

I

Sch. 12 7 6

CO ? N.

Sibot Sibot

Bertold Sch. 1281 — 88

Konrad Sch. 1317 — 37

Markward Sch. 1288 — 90

T. oo R. Geusmid

I

i

(Anna) oo Konrad Esler

Heinrich Sch. 13 06

Sch. 1 2 9 0 — 1 3 1 6

2) Esler Konrad Sch. 1 2 9 0-1 3 1 6

T. oo Siboto Pfinzing

Gisela oo Heinz Groß

Konrad Sch. 1317 — 37 3) Friedrich Zolner, Sch. Bamberg oo Agnes . . . 1307/24

Agnes oo Konrad Groß Sch. 1338 — 56

Heinrich Sch. 1356 —62

Konrad Sch. 1363 — 65

Friedrich

Anna oo Heirnich Geuder Sch. 1366 — 85

Sch. 13 6 2

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Pfinzing

Wäre Agnes, die Frau des Bamberger Schultheißen Friedrich Zolner, oder er selbst, der das gleiche Wappen führt, verwandt mit den Pfinzing, so würden alle diese Schultheißen in eine einzige Tafel als Blutsverwandte oder Schwiegersöhne früherer Schultheißen einzuordnen sein. Aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, wird doch ersichtlich, daß es sich um einen Kreis von Verwandten und Verschwägerten handelt, der nur durch wenige kurzfristige Zwischenbesetzungen unterbrochen ist. Ja noch 1404 finden wir einen Bertold Pfinzing, einen Urenkel des Schultheißen Bertold, „an des Schultheißen Statt" zu Gericht sitzen. Unsere Übersicht zeigt, verglichen mit den bisher ge­ wonnenen Lebensdaten, noch ein weiteres. Sowohl Bertold Pfinzing, wie sein Schwiegersohn Konrad Esler, wie sein Vettersohn Konrad Pfinzing gelangten in verhältnismäßig jungen Jahren, wenige Jahre nach ihrem ersten urkund­ lichen Auftreten, zum Schultheißenamt. Vor allem für Bertold Pfinzing ist anzunehmen, daß er nicht durch langjährige Tätigkeit und Erfahrung, sondern im Besitz jugendlicher Kraft und Initiative das höchste Amt der Reichsstadt erhielt; er ist als alter Schultheiß dann noch viele Jahre der erste Mann neben dem Schultheißen und erscheint urkundlich noch 34 Jahre nach Abgabe des Amtes. Zum Schultheißenamt gehörte damals also wohl noch Dienst im Sattel und rüstiges Alter. Noch die Söhne von Konrad Groß haben zu einer Zeit, als das Schultheißenamt seinen Inhalt bereits verändert und frühere Rechte dem Rat abgegeben hatte, den Gerichtsvorsitz verhältnismäßig jung innegehabt, der jüngere Konrad Groß hat noch über 32 Jahre nach Abgabe des Schultheißenamtes gelebt. Die viel erörterte Frage nach dem Ursprung des Patri ziats läßt sich für die Pfinzing nur indirekt beantworten. Nur einer von ihnen ist im Besitz der Ritterwürde bezeugt, Konrad, und dieser anscheinend auch erst in reiferen Jahren. Bertold Pfinzing, der Schultheiß, von dem sein Urgroßneffe Ulman Stromer behauptet, er sei ein Ritter gewesen, war es bestimmt nicht. Der erste in der Überlieferung faßbare Pfinzing war ein Dienstmann des Klosters Heilsbronn; diese Tatsache und die Eichstätter Lehenbücher lassen auf seine Herkunft aus dem Ministerialenstand schließen, nach Krafts einleuchtendem Hinweis vielleicht auf den Ort Pfünz bei Eich­ stätt 115). Dazu kommt, daß die beiden überlieferten Pfinzingwappen, das eine gold und schwarz geteilt, das andere mit dem schwarzen Adler im goldenen Felde und darunter dem silbernen Ring im roten Felde, ebenfalls auf Dienst­ mannen des Reichs schließen lassen. Zwar sind in den Zeugenreihen aller echten Urkunden die Nürnberger Bürger und Schöffen rechtlich klar von den ländlichen Dienstmannen des Reichs oder des Burggrafen geschieden, aber sie sind ihnen doch wohl gesellschaftlich gleich gewesen. Darauf läßt nicht nur die gesicherte Herkunft mehrerer Nürnberger Familien aus der Ministerialität, sondern auch die Tatsache etlicher Heiratsverbindungen, wie z. B. der Verwandtschaft der Holzschuher mit den letzten Gründlachern, schließen. Hätte man einem Patrizier des 14. Jahrhunderts die Frage des 19. Jahr­ hunderts vorgelegt: „Ritter oder Kaufmann?", so hätte er vermutlich keine Antwort gewußt. Denn wenn die Mutter der Holzschuher eine Ministerialen115) Freundliche Mitteilung von Dr. W. Kraft.

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tochter war, sie aber den großen Handel mit teuren Tuchen betrieben, der Schultheiß Pfinzing ihr Schwager war, seinerseits wohl ministerieller Her­ kunft, aber ein Vorfahr späterer Geld- und Handelsleute, dann bestand offenbar keine ständische, sondern nur eine rechtliche Trennung zwischen diesen Gruppen. Das war zur Zeit der Turnierbücher anders: damals kämpfte das Patriziat um seine Turnierfähigkeit, um die Gleichberechtgiung mit dem Landadel, und fing an, das aus Handelsgeschäften erworbene oder vergrößerte Vermögen in Rittergütern anzulegen. Damals suchte man in den Ahnentafeln nach Verbindungen mit dem Landadel, erfand oder ergänzte sie wohl auch, während zur Zeit des Bertold Pfinzing und des Herdegen Holzschuher ein solches Bedürfnis gar nicht aufgetaucht wäre, da des Königs Schultheiß und die Inhaber des Handlungshauses ohnehin im Landgericht gleichberechtigt und gleichgeachtet neben den Edelleuten vom Lande saßen, zudem Vettern der letzten Gründlacher, die ihre Erbtochter in ein Dynastengeschlecht ver­ heirateten und eben damals den Bamberger Bischofsstuhl mit einem der Ihren besetzten. Wahrscheinlich war es auch gar nicht so wichtig, wie im 19. Jahr­ hundert, woher man im Mannes- oder Namensstamm kam. Die Stromer ver­ dankten ihren Namen der Einheirat in ein anderes Dienstmannengeschlecht, das der Forstmeister Stromer 116), und stritten sich um ihr Wappen mit den (demnach wohl stammverwandten) Nützel117). Die Bamberger Zolner nannten sich auch Geyer118), die Muffel, Weigel und Neuenmarkt waren eines Stammes und Wappens 119), dagegen gab es Bamberger Haller, die nicht zum Stamme der Nürnberger gehörten, und Geyer in Bamberg führten das Wappen der Pfinzing. Die Lebenshaltung dieser Ratsbürgerfamilien war gehoben: sie hatten Vermögen und Ansehen, der Luxus ihrer Zeit stand ihnen zur Ver­ fügung. Bei den Holzschuhern kauften sie sich zur Kleidung flandrische Tuche, rot und grün und blau, sie trugen bei ihren Ritten übers Land Lederkoller oder Waffenrock und blaue Tuchhandschuhe, die Herrin des Hauses konnte man in Blau, Rot oder Scharlach gekleidet sehen. Rat und Gericht, ja das höchste Amt der Stadt, das Schultheißenamt, war in den Händen der „Freunde", der Verwandten, und wenn Kaiser oder Herzoge nach Nürnberg kamen, stiegen sie bei einem Vetter ab. Urkundenzeugen, Ratsgenossen, Geschäftsteilhaber oder Mitgesandte waren stets Verwandte des gleichen Kreises; man heiratet untereinander und kannte einander, man lebte im Familiendenken. Etwas von diesem Familienstaat hat sich ja in Nürnberg in veränderten Zeitverhältnissen bis zum Untergang der Reichsstadt erhalten. Die 1764 im Mannesstamm ausgestorbenen Pfinzing sind eine der ersten und größten dieser Familien. Die ersten Pfinzing erscheinen auf den Ahnen­ tafeln der großen Nürnberger, Ulman Stromer, Martin Beheim, Melchior Pfinzing, Willibald Pirkheimer, des größten Generalgouverneurs von Nieder­ ländisch Indien Gustav Wilhelm von Imhoff; aber auch Eduard Mörike und Wilhelm Hauff, Schelling und Wilhelm Wundt, Karl Hegel und Graf Still116) 117) 118) 119)

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USt 60, 15—61, 2. USt 74, 27 ff. Arneth in Jahrbuch f. frk. Landesforschung 1956, S. 256 f. Hirschmann in Mitt. Nürnberg 1950, 260 ff.

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fried, Prinz Isenburg, die Schaffgotsch und der russische Feldmarschall Peter von Sayn-Wittgenstein, Anton Fugger, die Windischgrätz und Löwenstein, die Kaiserinnen Elisabeth und Zita von Österreich, Leopold III. von Belgien, Charlotte von Luxemburg und die Kinder des Kronprinzen Rupprecht stam­ men von ihnen ab. Die ganze Nürnberger Geschichte ist eng mit ihrem Wirken verbunden. Mit Recht konnte ein Genealoge des 17. Jahrhunderts von ihnen sagen 120): „Die Pfinzing sindt stadthaffte ansehnlige Leute gewest, rechte Indigene, die bey dieser Stadt lange Zeit herkommen.“ In gewisser Weise sind sie typisch und bezeichnend für ihre ganze Schicht gewesen. Exkurs I: Holzschuher Stammvater der Holzschuher ist, wenn wir von einem älteren Heinrich 1228 (wohlseinem Vater) absehen, ein 1242/79 viel genannter Nürnberger Bürger Heinrich Holzschuher, als dessen Sohne die Brüder Friedrich, Herdegen, Lupoid und Heinrich mehrfach bezeugt sind121). Friedrich ist 1277/1321, Herdegen 1277/1318, Leupold 1287/1315, Heinrich 1287/1324 urkundlich erwähnt. Chroust hält Herdegen (mit seinen Söhnen Heinrich und Herdegen urkundlich 1319) und Heinrich für die Inhaber des Handlungshauses Holzschuher, die Verfasser des Handlungsbuchs, Bertold Pfinzing für den Schwiegersohn Herdegens. Neben Heinrich 1242/79 kommt Arnold 1259/72 vor, der 1259 die Propstei Fürth pachtet; Heinrich hat Eichstätter Lehen in Mitteleschenbach 122). Unter den Urkunden, die Heinrich erwähnen, sind nun folgende auffallend 123): 1242 Heinrich Holzschuher ist unter anderen Zeuge nach den Würzburger Kanonikern F. und A. von Gründlach und dem weltlichen Lupoid von Gründlach, der im Rang noch vor dem Butigler steht. 1246 Herdegen von Gründlach schenkt dem Deutschorden ein Gut, nach adligen Zeugen folgen die Bürger Herdegen Schieg, Meinwart und H. Holzschuech. 1271 Der Bischof von Bamberg nennt in einer Urkunde für das Predigerkloster in Frauenaurach Herdegen von Gründlach den Hauptgründer dieses Klo­ sters. Er steht mit seinem Sohn Herdegen an der Spitze der Zeugen, als letzter (und einziger Bürger) folgt Heinrich Holtschuher. Um 1279 Ritter Herdegen von Gründlach stiftet für sein und seiner ver­ storbenen Gemahlin Irmentrud Seelenheil Einkünfte an Kloster Heils­ bronn. Erste geistliche Zeugen: Liupold und Liupold von Gründlach, Bamberger Kanoniker; letzter (und einziger bürgerlicher) Zeuge H. Holtscuher. Zweifellos steht also der Nürnberger Bürger Heinrich Holzschuher den Reichs­ ministerialen von Gründlach verwandtschaftlich nahe. Die Namen Friedrich, Her­ degen und Lupoid, die die drei älteren Söhne Holzschuhers tragen, sind aus­ gesprochene Namen der Familie von Gründlach. Lupoid hieß der Vater des 1246/71 erwähnten Herdegen von Gründlach, der Propst Lupoid von Gründlach von St Stefan in Bamberg (1272—83) scheint der Bruder, der Dompropst und Bischof (1296 bis 1304) Lupoid von Gründlach der Sohn des Herdegen zu sein. Dieser Befund legt den Schluß sehr nahe, daß die Gemahlin des Heinrich Holzschuher, die Mutter 120) Staatsarchiv Nürnberg, Nbgr. Hdschr. 439 f. 330. 121) zusammen 1287 (NUB 746), vgl. Kraft in Mitt. Nürnberg 1934; 14. 122) NUB 385, 746a. m) NUB 306, 328, 448, 608. 124) USt 86, 30, 32; 87, 27; 88, 20; 87, 12; 92, 10.

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seiner 4 Söhne, eine Schwester Herdegens und des älteren Propstes, eine Tochter des 1226/46 erwähnten Lupoid von Gründlach gewesen sein muß. Was hätte sonst der Nürnberger Bürger als einziger seines Landes bei ausgesprochenen Familien­ stiftungen der Gründlacher zu suchen gehabt, wie hätte er seinen Söhnen die spezifischen Namen dieses Dienstmannengeschlechts geben können? Der Name Her­ degen ist zudem ein ausgesprochen seltener Name; ein Herdegen von Wiesenthau wird 1216, ein Herdegen von Wiesenthau und ein Herdegen Keim im Handlungs­ buch der Holzschuher genannt, dazu trafen wir 1246 Herdegen Schieg an. Ulman Stromer nennt sechs Herdegen: zwei Holzschuher, einen Schopper (einen Nach­ kommen von Friedrich Schopper, der eine Holzschuher heiratete), Herdegen Beheim (einen Enkel des Fritz Pfinzing und damit Urenkel einer Holzschuher), den zu Ofen gestorbenen Herdegen Vorchtel und einen Sohn des Swarz Küdörfer124). Eine Abstammung aller dieser Namensträger von den letzten Gründlachern und ersten Holzschuhern ist durchaus möglich, ja naheliegend. Demnach dürften die Nürnberger Gewandschneider Holzschuher in weiblicher Linie Nachkommen der Reichsdienstmannen von Gründlach sein, von denen Herdegen 115 5/91 (zuletzt vor Neapel) im Dienste der Staufer eine Rolle spielt125). Exkurs II: E s 1 e r Ulman Stromer nennt 2 Brüder und 3 Schwestern Esler: Conrad Esler, den guten Richter, der (von seiner Frau Pfinzing) 3 Töchter hatte (die mit Hermann Eisvogel, dem Münzmeister von Bamberg und dem Graser verheiratet sind), Rüdiger Esler, der ebenfalls 3 Töchter hatte (mit Wolfram Stromer, Staudigel und Koler vermählt), ferner die Frau des Konrad Stromer (Ulmans Goßmutter), die Frau des reichen Heinz Groß (die Stiefmutter des Stifters Konrad Groß) und die Frau des Sebot Pfinzing. Es ist seltsam, daß Ulman den Gramlieb Esler nicht nennnt, der 1290/1314 urkundlich vorkommt, mehrfach ausdrücklich als Konrads Bruder be­ zeugt, und den Mannesstamm seiner Familie fortsetzt. Dagegen ist Rüdiger Esler in Nürnberg urkundlich nicht erwähnt. Dennoch halten wir Gewins Versuch, ihn mit dem Landrichter Rüdiger von Brant gleichzusetzen und die ganze Familie von den Ministerialen von Dietenhofen abzuleiten 126), in der vorgetragenen Form für abwegig. Konrad Esler erscheint in Nürnberg 1287/1319 urkundlich und zwar 1290/ 1316 als Schultheiß; die vereinzelt als Schultheißen genannten anderen Personen — Sifrid (von Kammerstein) 1303, Heinrich Geusmid 1306, Erkenbert Koler 1311 — dürften, wie dies auch später vorkam, als Stellvertreter des vorübergehend ab­ wesenden Schultheißen dem Gericht vorgestanden haben. Konrad Esler war 1295 zugleich Schultheiß von Neuenmarkt. Der Schultheiß und „gute Richter" Konrad Esler wird wohl nicht mit dem Ritter Konrad von Dietenhofen 1275, eher mit dem 1276 in Bamberg genannten Konrad, Sohn des alten Konrad Esler identisch sein. Der ältere Konrad wird in Bamberg seit 1253 genannt, 1264 mit seinem gleichnamigen Bruder Konrad; sie waren möglicherweise die Stammväter der spä­ teren Bamberger Rotesel und Swarzesel127). Nachkommen von Konrad Eslers Schwiegersohn Hermann Eisvogel nennt Ulman Stromer verschiedentlich, so unter den Gestorbenen Hermann Eisvogel vor den Predigern, seinen Sohn Peter (f in Ungarn), Ulrich den Wegmeister und Ulrich f 1406. Als Geschwisterenkel, also Kinder Hermanns und der Eslerin, 125) vgl. bes. Bosl in 69. Jahresbericht d. Hist. Ver. Mittelfranken 1941, S. 29 ff. und Mitt. Nürnberg 1944, 69. 12G) J. P. J. Gewin, Blüte und Niedergang hochadeliger Geschlechter im Mittelalter, s’Gravenhage 1955, S. 175—177. 127) Arneth in Jahrb. f. fränk. Landesforschung 16, 1956, S. 242; NllB 5 50, 894. 62

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bezeichnet er „Ulreich Eysvogel und sein bruder Peter ir swester Zennerin und ir swester Hainreich Forchtlin“. Unter den Gestorbenen treffen wir wieder „Hain­ reich Vorchtel des Eysvogels ayden“, vielleicht gehört zu ihm „Herdegen Vorchtel der zu Ofen starb", ein Holzschuhernachkomme; ferner „Cunrat Zenner het dez Eysvogels tochter“ 128). Exkurs III: Ebner Der erste urkundlich erwähnte Ebner ist Albert Ebener 1251/63. Seine Söhne dürften die wiederholt129) als Brüder bezeugten Sifrid Ebner 1265/1304, Hermann 1277/96 und Eberhard 1277/1315 sein. Dazu kommt eine mit Erkelin Zolner verheiratete Nichte der Brüder, Jeut Herolt 1295 13°). Eberhard, der zuletzt Konverse bei den Franziskanern war, hat am 22. 3. 1314 die Kinder Albrecht, Eberhard, Fritz und Agnes (oo Katerpeck). Der bis 1345 erwähnte Fritz, verheiratet mit Eis Fürer, war zuletzt Landschreiber (1343) und hatte einen Sohn Fritz. Albrecht, erwähnt 1304/44 am Salzmarkt, beherbergte 1323 Ludwig den Baiern; seine Kinder sind Albrecht, Jakob, Fritz, Paul und Simon, Kunigunde (oo Ott von Vorchheim) und Margret (oo Hermann Beheim) 181). Drei Brüder, die am 9. 12. 1323 genannt werden, sind Konrad, Hermann und Fritz, wohl Söhne Hermanns 1277/96. Als Söhne des ältesten und bedeutendsten Bruders, des langjährigen Schöffen und Beisitzers im Landgericht, Sifrid, sind Heinrich und Siegfried 1303 bezeugt132). Zu ihnen muß auch Konrad gehören, der 1298/1305 vorkommt und am 23. 8. 1305 mit Götz Schopper eine Anleihe an König Albrecht I. gibt. Am 8. 7. 1308 zeugt Bigenot, Herrn Chunrat Ebeners selig ältester Sohn, daß er, wenn er zu sinen tagen chomen wer, über seine minderjährigen Geschwister die Vormundschaft mit seiner Mutter Wort und einem Sechserrat seiner Freunde führen wolle. Diesen Sechserrat bilden väterlicher­ seits die Herrn Sifrit Ebener, Herdegen Holzschuher und Albrecht Ebner, mütter­ licherseits Erkenbrecht Koler, Berchtold Pfinzing der jüngere und Chunrat Pfinzing Herrn Chunrats Sohn. Schließlich verkauft Bigenot Äcker vor dem Laufertor, die er von seinem Ahnherrn Ritter Bigenot geerbt hat133). Am 14. 1. 133 5 wird in einer Stiftung des Bertold Pfinzing und der Jeut Ebner der Heilsbronner Mönch Berhtold Pignot und sein Bruder Hans Ebner erwähnt. Demnach dürften Konrad (f 1305/s), Jeut (oo Pfinzing) und die am 21. 1. 13 32 als Nonnen in Engelthal erwähnten Dyemuot, Cristein und Elspet Ebner ebenfalls Kinder des Sifrid sein. Bei einer Stiftung des Bertold Pfinzing, die seine Schwägerin Cristein Ebnerin verwalten soll, treten am 25. 5. 1333 Albrecht, Hermann und Fritz Ebner — offenbar Vettern — auf. Von der zweimal von Bertold Pfinzing erwähnten Nonne Christine Ebner (1277 bis 13 56^ wird ohnehin berichtet, vier ihrer Schwestern seien im Kloster gewesen134). Bertold Pfinzing hat am 25. 5. 1333 einen Garten vor dem Tiergärtnertor, der ehe­ mals der Pigenot war. Demnach müßte entweder Sifrid Ebner oder sein mutmaß­ licher Vater Albert Ebner mit einer Bigenot verheiratet gewesen sein. Dazu erin­ nern wir uns, daß 128 8 ein Bigenot Pfinzing, wohl Sibotos Sohn, erwähnt ist. Die Bigenot treten im Nürnberger Urkundenbuch nur mit Konrad Bigenot 1226/51 128) 129) 18°) 131) 182)

USt 91, 16; 72, 31; 87, 9; 87, 12; 94, 6. NUB 570, 680, 884. NUB 884. Regesten Stadtarchiv 16. 11. 1347, dazu USt 86, 18 (nur hier Simon). Kraft in Mitt. Nürnberg 1934, 29 Ziffer 49.

133) Regesten Stadtarchiv, auch bei Gatterer 1308' Mo. v. St. Marg. Es besteht also audi eine mütterliche Verwandtschaft mit Pfinzing. 134) Dazu Hans Hümmler, Helden und Heilige S. 58 8. 63

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auf, der 1226 Schultheiß war und 1234 einen Sohn Hermann hatte 135). Der Name

Hermann bei den Ebner könnte also auf die Bigenot zurückgehen, falls Alberts Frau etwa eine Tochter dieses Hermann Bigenot war. Der 1308 erwähnte Ritter Bigenot ist allerdings im Urkundenbuch nicht faßbar. Exkurs IV: Die Familie des Konrad Groß Der Schultheiß und Spitalstifter Konrad Groß, den Pfeiffer den „bedeutendsten Nürnberger des Mittelalters“ genannt hat136), war ein Sohn des reichen Heinz Groß und seiner ersten Frau Suffein36), später als Sofie von Vestenberg bezeichnet. Konrads Frau Agnes kommt 1322, 1340 und 1343 urkundlich vor. Die vollständigste Auskunft über seine Kinder gibt das Testament seines gleichnamigen Sohnes Konrad vom 29. 9. 1397 35). Er erwähnt seine Geschwister: „Heinrich, des Stifters Sohn, seine Hausfrau Anna, sein Sohn Friedrich, Leupold, des Stifters Sohn, seine Frau Maria, Friedrich, des Stifters Sohn, der über mer waz, seine Frau Hayle, Cunrad, des Stifters Sohn (der Erblasser), seine Hausfrau Anna, Ulrich Hallers Tochter, Anna Geuderin, Konrad Groß Tochter, ihr Sohn Konrad Geuder, meiner Swester Sun Gün­ ter Lisperger“, ferner die „Freunde“ Konrad Mendel und Peter Groß. Von seiner eigenen Familie nennt er die Tochter Eis im Katharinenkloster, die Enkelin Jung­ frau Clara im Katharinenkloster, die Tochter Kathrey mit ihrem Wirt Dietrich Hegneyn und die Püchelbergerin, eine Tochter der Kathrey Hegneyn „bei Heinz Kürsner“. Diese Urkunde erklärt verschiedene frühere Erwähnungen: so daß Konrad Groß, der Stifter, bei den Jahrtagsstiftungen vom 16. 8. 1340 und 18. 2. 1343 sei­ nen Sohn Fritz als einziges seiner Kinder erwähnt (er war also damals offenbar schon gestorben); daß er in den Stiftungsurkunden vom 13., 14., 16. und 18. Febr. 1343 Ulrich Haller „meinen lieben Sweher“ nennt (es muß wohl bedeuten: Gegenschwäher), daß er am 16. 2. 1343 „Heinrich Liezzberger und Heinrich Mennlein meine eiden“ nennt137)- Der Sohn Heinrich war nach Konrad Groß (13 38—56), den er schon 13 51 und 13 53 im Gericht vertreten hatte, von 13 56—62 Schultheiß, dann Heinrichs Sohn Friedrich 1362, Konrad 1363—65. Heinrich Geuder, der das Schult­ heißenamt als Gemahl der Anna Groß 1366—85 innehatte, dürfte der Schwieger­ sohn des jungen, nicht des alten Konrad Groß sein, sowohl dem Alter nach wie auch deshalb, weil er nie unter den Schwiegersöhnen des Alten genannt wird. Leupold Groß ist zweifellos der Münzmeister von 1368/69, 1372 mit seinem Sohn Andreas genannt; am 6. 2. 1391 erwähnt der König Andreas und Leupold Gebrüder Groß genannt Reichheinz, unsere Münzmeister. Woher aber stammte die Frau des Stifters, Agnes? Daß sie keine Haller war, wie man aus den Urkunden von 1343 geschlossen hat, ist nunmehr klar. Spätere Genealogen nennen sie eine Pfinzing und geben sie dem 1361 gestorbenen Bertold Pfinzing, Tuchers Eidam, zur Tochter; auch das ist zeitlich unmöglich. Die Lösung der Frage gibt Konrad Arneth in seiner wertvollen Untersuchung über die Familien­ namen des Hochstifts Bamberg138). Im Totenbuch der Nürnberger Franziskaner steht: „Anno 1342 obiit Agnes filia sculteti de Babenberg uxor Cunradi Divitis, 135) NUB 210 (scultetus Conradus), 1236 Conrad Bigenot quondam scultetus (NUB 278—281), filius Hermann (NUB 255). 138) Pfeiffer in Mitt. Nürnberg 1958, S. 7. 187) vgl. dazu USt 92, 22: Haynreich Mendel an sant Diligen Gazz, Markart sein son, der Kartuser Kloster Stift ... und Mitt. Nürnberg 1944, 106 (fälschlich Konrad baut 13 80 Kartause). Reiche, Gesch. der Reichsstadt Nürnberg S. 286. 138) Jahrb. f. fränk. Landesforschung 16, 1956, S. 256/257 und Tafel S. 299.

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sepulta in ecclesia ante altare S. Ludewici“ 139). Arneth weist nach, daß sie eine Tochter des Bamberger Schultheißen Friedrich Z o 1 n e r , erwähnt seit 1291, Schult­ heiß 1307—24, f 7. 9. 1325, und seiner ersten Frau Agnes war (aus zweiter Ehe mit Elsbeth hatte er u. a. auch eine Tochter Agnes, verheiratet mit Heinrich Sampach). Dieser Friedrich Zolner, auch Geyer genannt, war ein Sohn des Friedrich Geyer (auch Zolner genannt) und der Agnes Zolner. Eine Schwester des Schult­ heißen Friedrich Zolner war Gertrudis (f 1313), laut Wappen mit einem Groß in Nürnberg verheiratet. Arneth hält den älteren Friedrich Geyer für einen Nürnber­ ger, der in Bamberg einheiratete. Diese Geyer führen das Wappen mit Geier (Adler?) und Ring, das auch die Pfinzing gebrauchen, nach Arneth das Wappen der Geuschmid (denen sonst der gold/schwarze Schild zugeschrieben wird). Daher mochten wir vermuten, daß Agnes, die Frau des Stifters Konrad Groß, zum Sippenkreis der Pfinzing gehörte. Damit würde sich zwanglos die Einfügung der Sippe des Konrad Groß in die ältere Schultheißensippe erklären.

Beilage 1333, Mai 25.

Ich Berhtolt Pfintzinch der Elter burg(er) ze Nurnberck v(er)gihe offenlich an disem brif, Daz ich mit gesamt(er) hant frawe(n) Jeuten meiner elichen wirttin daz gut ze Sperbeslo, daz ich dhauft vmb den pfarrer ze Emschirchen, daz aigen ist vnd daz ieriglich giltet Sehs Sumer chorns, ahtzehen kese vnd Neun hüner, han halbz geschah durch got an daz closter ze Engelntal, Mit der bescheidenheit, daz si von demselb(e)n halbteil dez gütz ieriglich vnser beider iarzeit begen sollen vn(d) suln den frawen in dem closter ain pittantzz da von geb(e)n zu der selb(e)n iarzeit. vn(d) dez selben Selgeretz sol pflegen Swester Christrein di Ebnerin meiner wirttin Swester di weil si lebt vnd nach ir tode sullen dez selb(e)n Selgeretz pflegen zw° swester wer die sein, di in dem vorgenante(n) Closter ze Engelntal dez almusens pflegen, vn(d) di selb(e)n zw swester suln dann daz ieriglich auz rihten nach im t(ru)wen als si got dar vmb antw(e)rten wollen, nach rat mein vnd meiner wirttin frwnden di in dem closter sein, also, daz ez ewiglich beste vnd furgank habe, vn(d) also gib ich den vorgenanten frawen dez closters ze Engelntal daz halb gut, mit gesampter hant lediglich auß, mit allem nutzze vnd rehten vn(d) zu dem selben halb(e)n gut gehört ze dorfe vnd ze velde besucht vnd vnbesucht ze hab(e)n vnd ze nizzen für rehtes aigen ewiglich, also daz si daz halb gut weder versetzzen, verkaufen noch verkumern suln noch enmugen. wann ich wil daz ez ewiglich zu dem Selgeret gehör. Vn(d) dez geb ich in disen brif versigelt mit der Stat ze Nurnb(er)g insigel daz dar an hangt. Dez sein zug di ersam(en) mann her albreht, her h(er)man, her fritzze di Ebner, her h(er)man Eysuogel vnd ander gnuk. Der brif ist geb(e)n an Eritage ze pfinpesten do man zahlt von gotz gebürt dr(e)wzenhund(er)t iar vn(d) in dem dr(e)w vn(d) dreizzigstem iar. (Hauptstaatsarchiv München, RSt Nürnberg U 457) 139) Arneth S. 257 nach Barfüßemekrolog (St. Bibi. Bamberg J. H. Mscr. hist. 49', 24a). Der Barfüßereintrag wird durch die gelegentliche Erwähnung eines Eidams Kunrad bei Fried­ rich Zolner bestätigt. 5

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ZENSURPOLITIK DER REICHSSTADT NÜRNBERG *) Von der Einführung der Buchdruckerkunst bis zum Ende der Reichsstadtzeit

von

Arnd Müller

Quellen und Literatur Die Quellenangaben beziehen sich, wenn nicht anders vermerkt, auf Bestände des Staatsarchivs Nürnberg. Dabei handelt es sich vor allem um folgende: Ratsverlässe (R.V.), Ratsbücher (R.B.), Briefbücher (Brfb.), Ämterbüchlein (Ä.B.), Mandate (M.), Drucksachen, A-, B-, C-, D-, Laden und andere Akten. Die verwendeten Nummern des „Friedens- und Kriegskuriers" waren mir im Landeskirchlichen Archiv (Abt. Spitalbibliothek) zugänglich. Die gekürzten Literaturangaben beziehen sich auf den im Literaturverzeichnis angegebenen Ort. Allaire, Max: „Die periodische Presse in Bayern", Zweibrücken 1913. Baader, J.: „Preßmandate des Rats zu Nürnberg" in: Anzeigen für Kunde der deut­ schen Vorzeit. N.F. 8 (1861), Sp. 50/52. Bitterauff, Theodor: „Die Zensur der politischen Zeitungen in Bayern 1799/1825", Festschr. f. Sigmund Riezler, 1913. Braun, Edmund Wilhelm: „Der Nürnberger Buchhändler Joh. Ph. Palm und der Rat der Stadt Nürnberg" in: Tägl. llnterh.Blatt d. Fränk. Kuriers 1913 Nr. 230/37. Bub, Gustav: „Nürnberg vor 200 Jahren" in: Bayerland 44, 1933. Buff, Adolf: „Die ältesten Augsburger Zensuranordnungen" in: Arch. f. Gesch. d. dt. Buchhandels VI (1881). Consentius, Ernst: „Friedrich der Große und die Zeitungszensur" in: Preuß. Jahrb. 115, 1904. !) Der Arbeit liegt eine 1951 bei Herrn Prof. Dr. Dr. Ernstberger in Erlangen gelieferte Dissertation zugrunde. Meinem hochverehrten Lehrer sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. 66

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Costa, G.: „Die Rechtseinrichtung der Zensur in der Reichsstadt Augsburg“ in: Zeitschr. d. Hist. Ver. f. Schwaben und Neuburg, Bd. 42, 1906. Engelhardt, Adolf: „Die Reformation in Nürnberg“ in: Mittig, d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Nbg., Nr. 33/3 5, 193 5/38. Ernstberger, Anton: „Nbg. im Widerschein der franz. Revolution“ in: Zeitschr. f. bayer. Landesgesch. Jg. 20 (1958). Franz, Eugen: „Nürnberg, Kaiser und Reich“, München 1930. Fuchs, Fritz: „Die gesdiichtliche Entwicklung des Nürnberger Zeitungswesens bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“, Diss. phil. Erlangen 1926. Gnau, Hermann: „Die Zensur unter Joseph II.“, Diss. phil. Straßburg 1910. Goldfriedrich, Johann: „Geschichte des deutschen Buchhandels“ II, Leipzig 1908. Groß, Oskar: „Das Zeitschriftenwesen Nürnbergs und der Markgrafschaft AnsbachBayreuth im 18. Jahrhundert“, Diss. phil. München 1928. Hampe, Theodor: „Joh. Ph. Andreae und das Medaillenpasquill von 1731“ in: Mittig, d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Nbg., Bd. 22, 1918. Hampe, Theodor: „Nürnberger Ratsverlässe über Kunst und Künstler im Zeitalter der Spätgotik und Renaissance“, 2 Bde., Nürnberg 1904. Hase, Oskar: „Die Koberger“, Leipzig 1885. Jegel, August: „Altnürnberger Zensur, vor allem des 16. Jahrhunderts“, Festschrift für F. Stollreiter, 1950 (Spalte 57/61). Kapp, Friedrich: „Geschichte des deutschen Buchhandels“ I, Leipzig 1886. Kirchhoff, Albrecht: „Versuch einer Geschichte des deutschen Buchhandels im 17. und 18. Jahrhundert“, Leipzig 1853. Liermann, Hans: „Nürnberg als Mittelpunkt deutschen Rechtslebens“ in: Jahrb. f. Fränk. Landesforsch. II (1936). Muckel, Victor: „Die Entwicklung der Zensur in Köln“, Diss. rer. pol. Köln 1933. Nicki, Hans: „Die Entwicklung des Zeitungswesens in Bayern im 16., 17. und 18. Jahrhundert“., Diss. phil. Erlangen 1923. Oldenbourg, Friedrich: „Die Endter. Eine Nürnberger Buchhändlerfamilie“, Diss. phil. Leipzig 1911. Paul, Johannes: „Die Gegenreformation“ in: Handbuch der deutschen Geschichte, herausg. v. O. A. Meyer, Potsdam. Reicke, Emil: „Geschichte der Reichsstadt Nürnberg“, Nürnberg 1896. Rothenbücher, Karl: „Das Recht der freien Meinungsäußerung“ in: Veröfftl. d. Deutschen Staatsrechtslehrer, H. 4, Berlin und Leipzig 1928. Sachse, Friedrich: „Die Anfänge der Bücherzensur in Deutschland“, Leipzig 1870. Salomon, Ludwig: „Geschichte des deutschen Zeitungswesens“ I, 2. Aufl. Leipzig 1906.

Schottenloher, Karl: „Flugblatt und Zeitung“, Berlin 1922. Will-Nopitsch: „Nürnberger Gelehrtenlexikon“, 4 Bde., Nürnberg und Altdorf 1735. Will, Georg Andreas: „Geschichte der Universität Altdorf“, Altdorf 1795. Zimmermann, Walter: „Entwicklungsgeschichte des Nürnberger Friedens- u. Kriegs­ kuriers“, Diss. rer. pol. Erlangen 1930.

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Einleitung Zensur ist ein Ausfluß staatlicher oder kirchlicher Macht, und sie ist zwiegesichtig wie diese. Jede Macht kann mißbraucht werden, und bei der Unter­ drückung unliebsamer Publikationen und anderer Arten der Meinungsäuße­ rung sind wir von vornherein geneigt, mit der Möglichkeit des Mißbrauchs der Macht zu rechnen. Wenn wir die Zensurmaßnahmen früherer Jahrhun­ derte verstehen wollen, müssen wir diese gewisse Voreingenommenheit, die ein Erbteil des Liberalismus und vor allem der liberalen Wissenschaft ist, als Gegebenheit annehmen. Wir verstehen unter Zensur zunächst die Beschrän­ kung politischer Stellungnahme und sittlich zweifelhaften Schrifttums, und jahrhundertelange Erfahrung in dieser Beziehung veranlassen uns, nur sehr bedingt eine solche Bevormundung als berechtigt anzusehen. Immer wurden postulierte Werte als Rechtfertigung der Zensur ins Feld geführt, dagegen hat sich aber die Überzeugung durchgesetzt, daß es nicht immer zugunsten der absoluten Werte geschieht, wenn kritische Stimmen mit Gewalt unter­ drückt werden, zumal die allgemeine Verbindlichkeit dieser Werte allmählich verlorengegangen war. Doch lange, bevor Zensurgeschichte ein Teil der Aufklärungsgeschichte wurde, war Zensur ausgeübt worden, ohne daß eine wesentliche Anzahl Men­ schen diese als ungerechtfertigt angesehen hätte. Es gibt zunächst überhaupt keine besondere Problematik der Zensur. Religiöse Ketzerei und Kritik an der Staatsregierung galten teilweise bis ins 19. Jahrhundert als Vergehen und konnten im Druck nicht erlaubt werden. In diesem Sinne erheben auch frühe Vertreter der freien Meinung Bedenken. Thomas Morus fordert in sei­ ner „Utopia“ Gedankenfreiheit, doch wollte er verhindern, daß die Unsterb­ lichkeit der Seele und die göttliche Vorsehung bezweifelt würden. Spinoza vertritt die Freiheit der Meinungsäußerung, es könne aber nicht gestattet werden, die Obrigkeit der Ungerechtigkeit zu beschuldigen oder zu lehren, daß man ein Versprechen nicht halten müsse. Miltons „Areopagitika“ hat die Preßfreiheit zum Inhalt, er gesteht aber dem Papsttum und der katholischen Lehre diese Freiheit nicht zu. Die Berechtigung der Zensur zum Schutze „höherer Werte“ wird also be­ jaht. Grundlegenden Wandel bringt hier erst der Liberalismus: „Durch die Unterdrückung einer Meinung wird die Menschheit beraubt, entweder der Wahrheit selbst oder, wenn die Meinung irrig ist, des Vorteils der deutlichen Wahrnehmung und des lebhaften Eindrucks der Wahrheit, wie er aus deren Widerstreit mit dem Irrtum hervorgeht“ (John Stuart Mill). Die Wurzeln der englischen Freiheit der Meinungsäußerung sind zum Teil in der Gedan­ kenwelt der puritanischen Sekten verankert. Die von Gott erleuchtete Persön­ lichkeit darf nicht gehindert werden, ihren Inspirationen Ausdruck zu geben. Die „Erleuchtungen“ bleiben dabei nicht auf Religiosa beschränkt und sind oft schwer vom common sense zu unterscheiden. Die religiösen Motive mischen sich mit säkularem Gedankengut der Auf­ klärung. Als Rechtsnorm gilt die Freiheit der Meinungsäußerung in der Ver­ fassung von Pennsylvanien von 1776 und in der „Declaration des Droits de 68

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l’Homme“ von 1789. Die Freiheit steht jetzt dem Menschen als solchem zu und nicht um eines außer ihm liegenden objektiven Wertes willen. Eine absolute Preßfreiheit aber gab es weder früher noch gibt es sie in unserer heutigen Rechtsordnung. Beleidigendes und sittlich anstößiges Schrift­ tum ist gesetzwidrig. „Wer von dem Rechte der freien Meinungsäußerung Ge­ brauch macht, bleibt unter strafrechtlicher Verantwortlichkeit“ *). Der grund­ legende Unterschied zu früheren Zeiten liegt darin, daß die Zensur (wenn man sie hier noch so nennen will) durch den Richter und nicht mehr durch die Verwaltung ausgeübt wird. Es handelt sich um keine Präventivmaßnahmen mehr.----„Bücher sind nicht tote Dinge, sondern enthalten eine Nachkommenschaft von Leben in sich, daß sie so lebendig und kraftvoll sein können, wie die fabelhaften Drachenzähne und daß aus ihnen, wenn sie ausgesät sind, mög­ licherweise bewaffnete Männer hervorwachsen können“ (Milton). Das Moment der Überzeugung, gepaart mit dem der Furcht, hat der Zen­ sur zum Leben verhelfen, und die Akteure haben dabei meist ehrlichen Her­ zens gehandelt; Rettung, nicht Unterdrückung der anderen war zuletzt ihr Ziel. Freilich, im Lauf der Zeit verschoben sich die Verhältnisse, und die Furcht trat bei eigener innerer Unsicherheit immer mehr in den Vordergrund. Überaus eindeutig zeigen dies die drei Jahrhunderte reichsstädtischer Zensur­ geschichte, wobei jedoch ganz besondere Faktoren wirksam wurden, die keine Verallgemeinerung der Ergebnisse zulassen. Die Zensurgeschichte der Reichs­ städte setzt auf dem Höhepunkt ihrer Macht ein und endet mit ihrer Bedeu­ tungslosigkeit. Die politische wie auch die geistige Wirkung dieses Abstieges können wir in den Zensurmaßnahmen verfolgen. In besonderer Reinheit er­ lauben uns dies die Nürnberger Verhältnisse. Das in letzter Instanz immer entscheidende Gremium, der patrizische Rat der Stadt, ändert durch die drei Jahrhunderte seine Zusammensetzung und seine Machtbefugnisse nur wenig, ebenso bleibt unsere Hauptquelle, die Ratsverlässe, die für den ganzen Zeit­ raum vorhanden sind, ihrem Charakter nach gleich. Um so deutlicher zeigt sich andererseits die Veränderung der Geisteshaltung der Erlässe wie ihrer Schöpfer sowie die Veränderung der Umstände, die sie bestimmten. Die Zensurgeschichte der deutschen Reichsstädte bestimmen drei Gewal­ ten: die Kirche, der Kaiser und die Reichsstädte mit ihren Souveränitätsrech­ ten selbst. Für das späte Mittelalter ist bezeichnend, daß der Kaiser dabei zuletzt in Erscheinung tritt. Da am Anfang ein unmittelbarer Einfluß der früher einsetzenden kirch­ lichen Zensur auf die der Reichsstädte nicht nachzuweisen ist, laufen die Maßnahmen von Kirche und Kommunen zunächst parallel. Der Gesichts­ punkt der beiden für ihre Zensur war ganz verschieden. Die Kirche bean­ spruchte die Aufsicht über das ganze geistige Leben, da es nach ihrer Über­ zeugung letztlich aus dem Religiösen gespeist wurde. Die Verfolgung ketzerischer Bücher war ein Teil der Inquisition, sie ist schon jahrhunderte lang vor der Erfindung der Buchdruckerkunst geübt worden. Am *) Rothenbücher

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22. April 1376 z. B. hatte Gregor XI. durch eine Bulle in deutscher Sprache verfaßte ketzerische Schriften verbieten lassen 2). Doch diese vor der Erfin­ dung der Buchdruckerkunst geübte Zensur trägt wesentlich anderen Charak­ ter als die nach ihr. Es waren mehr oder minder Einzelverfolgungen ketze­ rischer Schriften durch repressive Maßnahmen. Ganz anderen Aufgaben sah man sich gegenüber, als die Möglichkeit gegeben war, in kurzer Zeit ganze Länder mit „gefährlichen“ Büchern zu überschwemmen. Den neuen Verhält­ nissen suchte man durch die Einführung der Präventivzensur gerecht zu werden, die nun die bestimmende Maßnahme wurde. Eine Ausnahme bil­ det die Universität Paris, deren Statuten schon 1323 eine Präventivzensur anordneten 3). Nach der Erfindung der Buchdruckerkunst wurde eine Vorzensur zuerst von der Universität Köln ausgeübt. Am 17. März 1479 erhielten Rektor und Dekane von Papst Sixtus IV. die Erlaubnis, gegen Drucker, Käufer und Verkäufer ketzerischer Schriften vorzugehen4). Die Verbindung mit der Inquisition beleuchtet die Tatsache, daß die beiden für Deutschland be­ stellten Inquisitoren Professoren der Universität waren. Den nächsten Schritt tat einer der bedeutendsten politischen Köpfe des späten Mittelalters in Deutschland, Berthold von Henneberg, Erzbischof und Kurfürst von Mainz. Als Ausfluß seiner weltlichen Macht beanspruchte er für sich das Zensurrecht. Am 4. Januar 1486 erließ er ein Mandat und wußte auch die Stadt Frankfurt durch einen Vertrag vom 29. März für seine Pläne einzuspannen. Sein Zensuredikt war aber kein allgemeines. Es stand unter religiösen Vorzeichen und verbot nur den ohne Erlaubnis getä­ tigten Verkauf von Übersetzungen aus dem Lateinischen und Griechischen ins Deutsche, vor allem Bibelübersetzungen. Die erste allgemeine Zensur­ verordnung erließ 1496 Papst Alexander VI. Kein Buch durfte mehr ohne Erlaubnis der betreffenden erzbischöflichen Verwaltung gedruckt werden, bei Strafe der Exkommunikation 5). Wenn es sich dabei noch um Schriften ketze­ rischen Inhalts handelte, so dehnte er in einem neuen Erlaß, der Bulle vom 1. Juni 1501, das Verbot auf Schriften jeglichen Inhalts aus. Besonders er­ wähnt wurden dabei die Sprengel Köln, Mainz, Trier und Magdeburg. Dort vor allem sollte zensiert werden. Diese Bulle gilt als die Begründung der Bückerzensur in Deutschland6). 1515 wurde sie auf alle Diözesen erstreckt. Päpstliche, landesherrliche und kaiserliche Mandate gegen die Druckfreiheit schließen sich an. Beson­ ders die päpstlichen häufen sich in der Folgezeit, sie sind aber für uns weni­ ger wichtig, denn es galt nur dem frühesten Zweig der Zensur nachzugehen, der bis zur ausgebildeten Präventivzensur führte. Er ist nur von mehr oder weniger theoretischer Bedeutung, da es der Kirche an Exekutivmitteln fehlte. Erst die Macht des „Staates" wurde von praktischer Bedeutung. Die geistige Welt war schon zu stark erregt, die Autorität der Kirche 2) Muckel, S. 6 8) Kapp, S. 525 4) Kapp, S. 526

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5) Kapp, S. 529 6) Sachse, S. 10

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sdion zu sehr erschüttert, als daß man sich den Bullen gutwillig gefügt hätte. So viel hat aber die kirchliche Aktivität bewirkt, daß z. B. Koberger, der große Nürnberger Bibelverleger, unzensierte Bibeln nicht mehr zu drucken wagte. Er hatte bis 1500 15 verschiedene Ausgaben verlegt. Die Kirche hatte erkannt, welche Großmacht in der Buchdruckerkunst auf­ getreten war, die sich früher oder später gegen die kirchliche Gewalt richten konnte. Aus welchem Antrieb kamen nun die Reichsstädte, die zweite Macht, die sich mit der Zensur befaßte, zu dieser? Er war ein ganz anderer als der kirchliche. Am ersten können wir ihn verstehen, wenn wir den Be­ griff Zensur ganz weit fassen, etwa im republikanisch-römischen Sinne. Er be­ deutet nicht viel weniger als Zensur aller Lebensgebiete. Die reichsstädtische Obrigkeit schrieb ihren Bürgern im öffentlichen wie im privaten Leben (was kaum zu trennen war) fast jeden Schritt vor. Denken wir nur an die Ord­ nungen der Handwerker, die Hochzeits- und Taufvorschriften, die Kleider­ und Hoffahrtsordnungen usw., so können wir am besten die innere Haltung der Patrizier verstehen, wenn sie sich auch um die Flugschriften und Bücher, die in ihrer Stadt erschienen, kümmerten. Die Buchdruckerkunst kam anfangs der siebziger Jahre des 15. Jahrhunderts nach Nürnberg. Sie diente zunächst vor allem den Gelehrten, und der Rat dachte, im Gegensatz zur Kirche, lange nicht daran, die Forschungen und Veröffentlichungen der Gelehrten seiner Stadt zu überwachen. Vor der Reformation hatten diese wenig Einfluß auf die breite Öffentlichkeit, für die er sich vor allem verantwortlich fühlte. Die Quellen sagen uns ganz deutlich, wie die ersten Zensurerlässe des Rates gemeint waren: als Unterbindung öffent­ lichen Unfugs und Ärgernisses, das mitunter auch zu politischen Verwick­ lungen führen konnte. So wie der Rat einen Bänkelsänger, der anstößige Lieder sang, aus der Stadt wies, so verbot er ihm auch, daß er sein Lied in der Stadt drucken ließ und es hier verkaufte. Hier wie in der früher kirchlichen Zensur handelt es sich zunächst um Einzelverfolgungen, um Unterdrückungsmaßnahmen. Sehr bald aber ging man zur Präventivzensur, zunächst einzelner Gattungen, dann jeder Veröffentlichung durch Druck, über. Dieser Befehl erging durch einen Ratsverlaß vom 13. Januar 1518 Und ist wohl schon durch das Auftreten Luthers mitbestimmt. In der vor diesem Zeitpunkt aber schon ziemlich weit ausgebildeten Nürnberger Zensur spielt das religiöse Moment nur eine Nebenrolle, man wollte eben auch hier keiner­ lei Verunglimpfung mit dem Namen Nürnberg im Zusammenhang gebracht wissen und verhindern, die Stadt irgendwie anrüchig zu machen. Der Rat traf seine Zensurmaßnahmen kraft der örtlichen Polizeigewalt und war dabei am Anfang weder von der Kirche noch vom Kaiser bestimmt worden. Der Aufbau des Nürnberger Zensurapparates Die erste Repressivmaßnahme des Rats gegen ein gedrucktes Werk zeigt, wie er an die Sache heranging. Den Buchdruckereien wird 1491 verboten, das Gedicht vom „Kalb zu Schwabach" (wohl einer Mißgeburt), das sie 71

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verkauft, weiter feilzuhalten. Wenn man das Lied singen hört, solle man dies verbieten 7). Schon bevor in Nürnberg solche Sachen gedruckt wurden, kennt man ähn­ liche Maßnahmen. 1470 wird dem Peter von Salzburg verboten, das „Lied vom Markgrafen“ weiterzusingen8). Elf Jahre nach dem ersten Verbot eines gedruckten Gedichts, im Jahre 1502, wird ein solches verbrannt, weil es An­ stoß erregt hatte. Im selben Jahr wird ein „schmählich Lied“ gegen den Kalb zu Wendelstein bei 4 Pfund neu untersagt9). Schon 1502 aber sah sich der Rat genötigt, den Unfug mit den Reimereien abzustellen, da sie die Stadt nur in Verwicklungen und ins Gerede bringen konnten. Er erließ seine erste Präventivmaßnahme am 14. Dezember: „Alle puchdrucker zu besenden und in sagen, das sie hinfüro kainerley gedickt oder derselben gleichen drucken Es sei dann vor dem ratsschreiber presentirt, examinirt und von einem Rat zugelassen“ 10).* Das Zensurgebot war auf Reimereien beschränkt und zeigt, daß man hier schlechte Erfahrungen gemacht hatte und vorbauen wollte. Zensor ist zunächst der Ratsschreiber. Auf anderen Gebieten bleibt man bei Sonder­ verboten. Am 21. April 1492 muß ein gedruckter „Titel Jesu Christi“ vor dem Verkauf von einem Geistlichen begutachtet werden n). Im selben Jahr wird der Druck einer „Apologia sanctae scripturae“ vom Erzbischof von Magdeburg beanstandet. Hieronymus Hölzel gesteht den Druck und gibt als Auftraggeber den Apotheker Niclas Claudian aus Böhmen an. Da Hölzel „kainen verdacht unchristlicher 1er“ dabei gehabt zu haben angab, wird er nur mit einer „statlichen strafrede“ bedacht. Das Werk wird ver­ boten 12). Hier wird zum erstenmal Rücksicht auf kirchliche Bedenken ge­ nommen. Einige Zeit später wird Sebald Stromeier gebeten, ein Büchlein über Alchemie zu „übersehen“, ob man es drucken soll13). 1512 beschließt der Rat das Verbot, Kunstbriefe nachzudrucken, die das Handzeichen Albrecht Dürers tragen 14). Diese frühen Zensurerlässe zeigen den Rat in jeder Weise fort­ schrittlich: Bücher, die Sondererkenntnisse voraussetzen, werden Fachleuten zur Zensur zugewiesen, außerdem tritt der Rat für den Schutz geistigen Eigentums ein. All dies ist etwas grundsätzlich Neues, erst viel später kommt es zu allgemeinen Verordnungen dieses Inhalts. Vielleicht durch Wolfgang Hubers unbefugten Druck eines Gedichts vom „Auflauf in Köln“ angeregt15), erläßt der Rat im gleichen Jahr seine erste Zensurordnung, die als beschworene Handwerkerordnung ins „Wandel­ buch“ kommt. Seit diesem Jahr werden die Buchdrucker auch im „Ämter­ büchlein“ geführt, das die jährlichen Amtsträger der Stadt und die geschwo­ renen Handwerker verzeichnet. Die Ordnung enthält im wesentlichen alle 7) 8) 9) 10) n)

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13. XII. 1491, Jegel (Sp. 57) 7. VII. 1470 31. I. 1502 14. XII. 1502, Jegel Sp. 57 21. IV. 1502

12) Baader, S. 51 13) Hampe, Ratsverlässe I 495 14) Liermann 14 15) Hase, S. 245

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später weiter ausgebildeten Zensurbestimmungen. Von diesem Zeitpunkt an können wir die regelrechte Präventivzensur des Nürnberger Rates, vielleicht die früheste aller deutschen Reichsstädte, datieren. Sie zeigt darin Nürnberg als führend im deutschen Rechtsleben 16): „Ein jeglicher Buchdrucker und formschneider, der einem erbarn Rate diser stat verwandt und in irem gebiet und Oberigkeit wonhaftig ist, soll sein treu geben und darauf schweren, das er einich werck gedieht Schriften geschnitten form oder figuren, die zu abpruch, schmache oder nachtail der gaistlichkeit, des heiligen reichs stenden, verwantte oder sonder personen und Communen vermutlich raichen, oder daraus ainem Erbern Rate den Iren oder anderen versehenlich Irrungen, nachrede oder schaden erfolgen mocht oder wurde, durch sich selbs, Ire knecht oder ander, von Inen wegen nit drucken, schneiden, noch zu drucken oder zu schneiden annemen, ausgeen lassen soll, sondern, wo dergleichen an sie gelangt oder Inen zu drucken zupracht wurde, das als pald dem dazu verordneten überantworten, unnd dann eines erbern Rats besekaidt darinn erwarten; auch wider solichen iren Beschaid und bevelhe nichzit hierinnen handeln wollen geverlich und ungeverlich. Decretum in consilio sexta post misericordia den 15 aprilis 1519 Verneut uf 11 aprilis laut des manuals.“

Darunter steht der Vermerk, daß diese Ordnung am 15. 1. 1518 erwei­ tert wurde und nun ohne die obige Einschränkung „keinerley Neu Werck groß oder klein" ohne Erlaubnis gedruckt werden darf. Fassen wir die wesentlichsten Punkte noch einmal zusammen: 1) Alle Buchdrucker und Formschneider der Stadt beschwören die Ordnung. 2) Präventivzensur für die in der Stadt zu druckenden wie der von außen in die Stadt zum Verkauf kommenden Werke (ein späterer Zusatz erläu­ tert, daß Verzeichnisse der Bücher, die von den Messen hereinkommen, vor dem Verkauf zur Zensur gegeben werden müssen). 3) Der Rat verordnet bestimmte, hier nicht näher genannte Personen zur Zensur. Wie wir wissen, war der erste offizielle Zensor der Ratsschreiber, später wurde der Abt von St. Ägidien dazu verordnet. Daneben gab es noch Sonder­ zensoren für besondere Fälle, die nötigenfalls herangezogen wurden. Die Buchdrucker wußten sofort, daß die neue Ordnung eine Beeinträch­ tigung ihres Geschäftes bedeutete. Sie waren deshalb selber darauf bedacht, daß niemand hier durchschlüpfen konnte: am 9. August desselben Jahres baten sie, daß man hinfüro keinem Fremden noch Hiesigen vergönnen sollte, wider die Ordnung unter dem Rathaus Bücher feil zu haben. Gleich im nächsten Jahr kommt es schon zur Übertretung der neuen Verordnung. Hieronymus Hölzel, ein Buchdrucker, der dem Rat wegen seiner Vorliebe für spannende Neuiekeiten noch viel Kummer bereiten sollte, hatte einen Druck vom „Auflauf in Ungarn“ ohne Erlaubnis verkauft. Er wird vier Wochen auf den Turm gesteckt17). ,fi) Liermann, S. 15

17) R.B. 1. VII. 1514

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Wenn man sich auch meistens an den Drucker hielt, so ging das doch nicht an, als im Jahre 1515 Dr. Christoph Scheurl, der bekannte Humanist, hochangesehen in seiner Vaterstadt, eine Lebensgeschichte des Anton Kreß, Propst zu St. Lorenz, drucken ließ. Darinnen waren „etliche schimpf­ liche kindische Punkt, die vor dessen vom regiment alhier und anderen Personen und Sachen betr. eingemengt“ und dem Rat sehr anstößig erschienen. Der Rat gab ihm ernstlichen Befehl, das Büchlein „abzutun“, da er dadurch nur böses Blut mache und sich selbst Schmach und Unglück zuziehe. Darauf­ hin entschuldigt sich Scheurl und verspricht, dem Befehl Folge zu leisten und den Verkauf zu unterbinden 18). Wir sehen auch hier die Absicht des Rates, Aufsehen und Ärgernis zu vermeiden. Vor der Reformation sind die Zensurfälle selten und von keiner großen Bedeutung. Es kam kaum zu Verwicklungen mit der Kirche oder anderen Mächten, denn der Rat ging von sich aus bedächtig und verantwortungs­ bewußt vor. Erst die Reformation, die so weitgehend Buchdruck und Publizi­ stik beeinflußte, macht die Zensur auch für Nürnberg zu einer hochpolitischen Angelegenheit. Nicht etwa allein, weil Nürnberg in der Reformations­ geschichte eine führende Rolle spielte, sondern weil nun der katholische Kai­ ser die Zensurpolitik der Stadt zu bestimmen suchte, dessen kirchliche Stel­ lungnahme sie aus Überzeugung ablehnte, den sie jedoch als politische Macht und als Rückgrat für ihre eigene politische Stellung anerkannte. Diese eigen­ artige Zwischenstellung bedingt die Zensurpolitik der freien Reichsstadt im konfessionellen Zeitalter. Das Zeitalter der Reformation

Die Zensurmaßnahmen von Kaiser und Reich Das erste Preßgesetz des Kaisers führt uns mitten in die konfessionelle Auseinandersetzung. Es ist das Wormser Edikt. Kein deutscher Kaiser hatte sich vorher von der Kirche zu einem Zensurgesetz gebrauchen lassen. Karl V. tat es in vollem Bewußtsein der Tragweite seines Erlasses und mit voller Zustimmung; er ergänzte die päpstliche Bulle von 1515. Die weltliche Gewalt reichte der geistlichen zur Unterdrückung der Preßfreiheit willige Unter­ stützung, beide wußten sich durch diese in ihrer Existenz bedroht. Die Gefährdung des mittelalterlichen Weltbildes durch die Verbreitung der neuen Ideen rührte in geistiger wie in politischer Hinsicht an die Wurzeln ihrer Machtstellung. Auffallend sind der Scharfblick und die Umsicht in der Formulierung des Gesetzes, das römische Routine in Zensurfragen verrät. „Spätere Regenten haben höchstens mehr Methode in der Ausübung, mehr System in die Verfolgung der Preßvergehen gebracht, neue Gesichtspunkte aber konnte selbst der Absolutismus des 18. und 19. Jahrhunderts beim besten Willen auf diesem Gebiete caesaro-papistischer Politik nicht mehr auf18) R.B. 23. VII. 1515

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stellen“ 19). Greifen wir einige Punkte heraus: Bei Bann, Acht und Aberacht werden alle Stände und Obrigkeiten des Reiches verpflichtet, Druck und Verkauf der Bücher Luthers wie aller gegen Papst, Prälaten, Fürsten und hohe Schulen gerichtete Schriften zu verhindern. Dichter, Schreiber, Drucker, Maler, Verkäufer und Käufer sind zu bestrafen. Den Glauben betreffende Schriften sind dem Bischof und der theologischen Fakultät der nächsten Universität zur Zensur vorzulegen. Bücher anderen Inhalts „sy seyen in welicher Fakultet und begreyffenjvas sie wollen“, sind den Ordinarien zur Zensur vorzulegen. Wer „wider dise unnsere Christenliche und Kayserliche Maynung, Decret, Statut, Gesetz, Ordination und Gebot, die auch gantz unnd unzerstörlich sollen gehalten werden, In ainem oder mer vorgeschriben Artikeln, so die Matery des Luthers oder der Druckrey betreffen, In einichen weg, wie Menschen Synn das erdenken möcht, Freventlich hanndelt, und thete“, wird mit Strafe bedroht. Diese Verordnungen werden bis zur endgültigen Formulierung in der revidierten Reichspolizeiordnung vom 5. November 1577 durch weitere Ge­ setze ergänzt und erweitert. Bei Abwesenheit des Kaisers hatte sich zunächst das Reichsregiment mit der Frage zu befassen. Der Nürnberger Reickstagsabsckied vom 8. April 1524 verfügte, daß es Aufgabe jeder Obrigkeit sei, daß „Schmachschriften und -Gemälde hinfürder gändzlich abgethan werden und nicht weiter ausgebreitet.“ Es war damit ein gefährlicher Weg beschritten, da man nun die Schriften der Lutheraner als ruhestörende Pasquillen abtun konnte. „Indem der Nürn­ berger Reichsabschied die privatrechtliche Definition der Schmachschrift auf das öffentliche Recht übertrug, schuf er ein ganz neues Verbrechen, welches die Presse der Lutheraner und sämtlicher Akatholiken von vornherein vogel­ frei machte“ 20). Die lutherischen Fürsten und die in ihrer inneren Politik fast autonomen Städte gingen dem Kampf aus dem Wege und beruhigten sich damit, daß der kaiserliche Arm nicht bis zu ihnen reiche. Andererseits war es ihnen ganz recht, wenn sie in dieser Beziehung freie Hand in den sozialen Wirren hatten und mißliebiges Schrifttum ohne weiteres unter­ drücken konnten. Der Speyerer Reickstagsabsckied vom 22. April 1529 brachte ein neues vorläufiges Zensurgesetz, das bis zum nächsten Konzil gelten sollte. Er begnügte sich mit einigen allgemeinen Geboten. Ausführungsbestimmtingen gab der A bschied vom 19. November 1530. Dem sächsischen Kurfürsten und seinen Mitverwandten wurde verboten, theologische Schriften in ihrem Gebiet drucken zu lassen. Alle Stände des Reiches wurden zur Zensur jeden Druck­ werks verpflichtet. Bei Zuwiderhandlungen konnte der kaiserliche Fiskal beim Kammergericht klagen. Die Drucker hatten Vornamen, Zunamen und Druckort auf ihren Arbeiten anzugeben und wurden mit Strafen an Leib und Gut bedroht, wenn sie sich dem Gebot nicht fügten. Auch in die Peinliche Halsgericktsordnung von 1532 fand ein Artikel gegen Preßvergehen Aufnahme. Die Definition des Pasquills und der Schmachlö) Kapp, S. 539

20) Kapp, S. 543

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schrift in Artikel 110 ist von dauernder Bedeutung geblieben, unsere Akten vom 18. Jahrhundert setzen sich noch mit ihm auseinander. Als Pasquill gilt die Schrift, deren Verfasser seinen vollen Namen nicht nennt und andere ungerechtfertigt beschuldigt. Wenn er keine Beweise für seine Beschuldi­ gungen angibt, soll er der Strafe verfallen, die der unschuldig Geschmähte verdiente, wenn die Anschuldigungen berechtigt wären. Der anonyme Ver­ fasser aber konnte in jedem Fall nach Ermessen des Richters bestraft werden. Eine neue Einschärfung der obrigkeitlichen Zensur brachte der Regens­ burger Reichstagsabschied vom 29. Juli 1541. Erfolg aber hatte keine dieser Maßnahmen. Die Verfassung des Reiches war zu locker, der Kaiser konnte seine Macht zu wenig auf Deutschland konzentrieren, als daß er auch die durchgreifenden Maßnahmen, die seine strengen Gesetze erforderten, hätte treffen können. Es gab für die erregten Gemüter zuviele Möglichkeiten, ihren Unmut, ihre Spottlust, den Ausdruck ihrer Überzeugung durch Schriften vor die Öffentlichkeit zu bringen. In den Jahren 1546 bis 1549, in welche die Niederlage der Protestanten fällt, stand die Schmähschriftenliteratur in Hochblüte. Die Erfolglosigkeit seiner bisherigen Bemühungen mußte der Kaiser in seinem neuen Preßgesetz, in der Reickspolizeiordnung vom 30. Juni 154S, zugestehen. Ob er sich wohl auf dem Höhepunkt seiner Macht dem Wahn hingab, daß er durch neue Verschärfungen weiterkommen könnte? Nun werden neben der katholischen Lehre und der Kirche auch die Reichsabschiede vor Schmähungen in Schutz genommen. Nicht nur Drucker, Verkäufer und Käufer, auch der Besitzer ohne Zensur erschienener Druckwerke konnte unter An­ wendung der Folter bestraft werden. Druckern, die ohne Zensur arbeiten, soll das Geschäft geschlossen und 500 Goldgulden als Strafe auferlegt werden. Praktisch geht die Geschichte der Zensur des Reiches in der Reformation wie diese selbst aus. Schon die Zensurerlässe des Kaisers verpflichten die jeweilige Obrigkeit zur Zensur, da es ihm an Mitteln zur Überwachung fehlte. Analog dem Reichstagsabschied von 1526, in dem sich die Stände verpflichte­ ten, es mit der Religion so zu halten, wie sie es vor ihrem Gewissen ver­ antworten konnten, trägt auch die Zensurpolitik der Stände das Gepräge der Religionspartei, zu der sie gehörten. Am schärfsten und rücksichtslosesten war sie natürlich in den katholischen Gebieten. Die Zwischenstellung der Reichsstädte, zumal die Nürnbergs, die sie zwang, einen politischen Zickzack­ kurs zwischen Neigungen und praktischen Rücksichten zu steuern, wird in folgendem darzulegen sein. Zunächst soll aber noch der Abschluß der Reichspreßgesetzgebung er­ wähnt werden. Der Erfurter allgemeine Kreistagsabsckied vom 27. September 1567 erweiterte „in mehr jammerndem und bittendem als befehlendem Tone"21) die Ordnung von 1548 auf die Neuen Zeitungen, da durch sie „ein solch Mißvertrauen und Verhetzung zwischen allerseits hohen und niederen Ständen erweckt würde, welches wohl unversehenliche Empörung und viel Unheyls verursachen möchte". 21) Kapp, S. 546

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Der Speyerer Reichstagsabschied vom 11. Dezember 1570 versuchte dem Übel von anderer Seite beizukommen. Man sah die Gefährlichkeit der sog. Winkeldruckereien und beschloß, Buchdruckereien nur in fürstlichen Resi­ denzen, Universitätsstädten und großen Reichsstädten zu dulden, weil diese besser überwacht werden konnten. Weiter wurden die Obrigkeiten neben Einschärfung der alten Verordnungen verpflichtet, vor Zulassung eines Buch­ druckers diesen auf seine Ehrbarkeit zu prüfen und ihm durch Schwur die Verpflichtung aufzuerlegen, den Reichstagsabschieden gemäß zu arbeiten. Außerdem solle man Stichproben in den Läden und Werkstätten der Buch­ drucker machen. Die reformierte und verbesserte Polizeiordnung vom 9. November 1577 nimmt den Inhalt der Verordnungen von 1548 und 1570 nochmals auf und bekräftigt diese, nachdem eingangs ihre Nichtbefolgung nochmals beklagt worden war. Die Zensurgesetze von Kaiser und Reich von 1521 bis 1570 sind zahl­ reich, doch ihre praktische Auswirkung war abhängig von den einzelnen Ständen. Zensurgeschichte kann niemals Geschichte der Verordnungen und des Apparats sein, den Geist und das Leben können wir nur von den Einzel­ fällen, die ein Einschreiten der Obrigkeit veranlaßten, ablesen. Die Reformation und die Nürnberger Zensur Schon lange bevor der Kaiser im Wormser Edikt den Obrigkeiten des Reiches auf erlegte, die Verbreitung lutherischer Schriften zu unterbinden, hatte das Nürnberger Stadtregiment sich dazu verpflichtet gefühlt. Die Nürn­ berger Ratsherren waren zum großen Teil nüchterne und sachliche Real­ politiker, die zunächst das Wohl und die Sicherheit ihrer Stadt im Auge hatten, bevor sie sich von anderen Erwägungen bestimmen ließen. Anderer­ seits aber war Nürnberg so mit den geistigen und politischen Strömungen der Zeit verwachsen, daß es zutiefst von der religiösen Bewegung erfaßt werden mußte. Schon vor Luther hatte der gebildete Klerus in Nürnberg in seinem geistigen Leben neue Wege im Sinne des Humanismus beschritten, ein „allmählicher Abbau des katholischen Kirchenrechts" 22) ging nebenher. Das auf seinem Scheitelpunkt stehende Selbstbewußtsein des Stadtregiments ergriff willig jede Gelegenheit, sich von kaiserlichen und kirchlichen Fesseln zu befreien, willig nahm es die neuen Gedanken auf. Der endgültige B'ruch mit Rom wurde dann vor allem durch den Einfluß einzelner starker Persön­ lichkeiten vorbereitet: der Prediger Wenzel Link und Andreas Osiander, des Ratsschreibers Lazarus Spengler und anderer. Es ist hier nicht der Ort, auf das jahrelange Lavieren vor dem end­ gültigen Entschluß nach dem Religionsgespräck im März 1525 einzugehen. Schon vorher zeigte sich Nürnberg als Vorkämpferin der Reformation, so auf dem Städtetag von 1524, wo Lazarus Spengler sein Zukunftsprogramm ent­ warf; die Stadt suchte sich aber trotzdem zu decken. Es handelte sich dabei 22) Franz, S. 77

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um ein Lavieren dem Kaiser gegenüber; „den Fürsten, nicht zuletzt den Kirchenfürsten gegenüber fühlte Nürnberg sich nicht verantwortlich in reli­ giösen Dingen; auf des Kaisers Sentiments und Ressentiments aber mußte Rüdesicht genommen werden" 23). Für uns gilt es nun, einen Zweig dieser Politik zu verfolgen, auf der das Auge des Kaisers mit besonderer Schärfe ruhte.

a) Die Schriften Luthers Wir kennen die bisherige Haltung des Rates in Zensurfragen. Von 1519 an häufen sich nun die Zensurgebote, die deutlich auf ein fortwährendes Überschreiten derselben schließen lassen; so z. B. die Anmerkungen im Ämter­ büchlein, nach Aufzählung der geschworenen Buchdrucker: 1519: 1520: 1521: 1524: 1525: 1526:

„Zu sagen, daß sie nichzit fremdes trucken noch reißen“; „Mit einer sträflichen Red, nichts frembds unbesichtigt zu trucken“; „Fleißig untersagen, nichts Neues unbesichtigt zu trucken“; „Mit sonderlich Warnung, nichzit unbesichtigt zu trucken“; „Sie allesamt mit setzern lassen pflichten mit einer ernstlich Warnung“; „Sollen mitsamt den Setzern pflichten und ernstlich gewarnt werden. Es soll auch keyner kein setzer annehmen, er hab denn das pflicht auch thun“.

Eine große Umwälzung findet auf dem Büchermärkte statt, die Verhält­ nisse ändern sich grundlegend. Kirchenväter und Klassiker werden zu Laden­ hütern, man reißt sich um die Reformationsliteratur. Die Streitschriften werden massenweise ohne Angabe von Drucker und Druckort nachgedruckt. Die großen Verlagsorte müssen dabei auch die Hauptdruckerstädte der Zeit gewesen sein, Nürnberg stand mit in der ersten Reihe. Wir sind dabei aber nicht nur auf Vermutungen angewiesen, doch wir müssen uns bewußt sein, daß das Nachweisbare nur einen schmalen Ausschnitt der tatsächlichen Tätig­ keit gibt. Schon 1517 erschien eine Thesenauflage in Nürnberg unter dem Titel „Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum", 1518/20 erschien eine deutsche Übersetzung des „Sermo de digna praeparatione cordis" 24). 1518, am 23. August, greift der Rat zum erstenmal ein25). Fritz Peypus hatte auf Ansuchen der Augustiner „ein Teutsch Traktetlein doktor Nlartin Luthers vom ablaß(( ohne Erlaubnis des Zensors gedruckt. Er habe damit „ein merklich straf" verdient, die Herren begnügten sich aber mit einer „stoff­ lichen red". Man spürt die verständnisvolle Gesinnung des Rates, der Hieronymus Hölzel 1514 wegen des gedruckten „Auflaufs in Ungarn" vier Wochen auf den Turm schickte/ Dabei hatte er erst am Mittwoch nach Erhard (13. Januar) 1518 die Zensurpflicht der Drucker durch Ratsverlaß betonen lassen! Nach außen aber wurde der Schein gewahrt. 1520 hatte Eck den Rat ersucht, ein Verbot des Druckes lutherischer Schriften zu erlassen. Erst nach Erscheinen des Wormser Edikts kam er diesem Ansuchen nach, wenn er auch mit der Veröffentlichung des Edikts zögerte. Den Buchdruckern wurde am 9. April mitgeteilt, 2S) Franz, S. 83 24) Kapp, S. 413

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25) R.B. 23. VIII. 1518

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„das ain rat hiemit erinnern und warnen laß, sich dem ausgegangen kaiserl. Mandat gemes zu halten und vor Schaden und nachtail zu verhueten" 26). Am 24. August wird der Befehl wiederholt, nachdem Hauptmann Ulrich Arzt zu Augsburg „auf bevelch der kais. Kommissarien" das Mandat der Stadt zugesandt hatte: „Aber die verkündung berürter ausgegangener acht ist zu längrem nachdenken gestellt"! Im folgenden Jahre wurde das Verbot viermal wiederholt! Am 4. April: Auch „Martin Luthers kontrafaktur" soll, wenn feilgehabt, „aufgehoben", d. h. konfisziert werden. Am 7. August wird der Verkauf von Luthers „Druck" wider den König von Engelland" verboten. Der Fronbote Motschidler solle ihn konfiszieren. Es ist bekannt, daß Luthers Antwort auf Heinrichs VIII. Angriff gegen seine Schrift „De captivitate Babylonica" in ihrer Schärfe selbst seine Freunde erschreckte 27). Das erneute allgemeine Verbot vom 1. Dezember wurde durch Erzherzog Ferdinand, der mit dem Bischof von Trient und anderen Würdenträgern in die Stadt gekommen war und mit sechs der Herren Älteren verhandelt hatte, her­ vorgerufen 28). Er hatte sich beklagt, daß die „lutherische lehr und pudher . . . in disser stat zu ubermessig gehegt, auch offennlich failgehapt und verkaufft“ würden und „Bäbstlicher Heiligkeit und römisch kais. maj. zu schmach und Verachtung" gereichten. Er verwarnt die Stadt, damit nicht „ernstlicher weyß" gegen sie gehandelt werden müsse. Verständlicherweise nimmt der Rat dies­ mal die Sache sehr ernst. Er läßt sofort alle Buchführer (= Buchhändler) und Leute, die Bücher feilhalten, verwarnen. Besonders genannt sind Meister Ste­ fan der Apotheker und Lenhard von Ploben, die wohl nebenbei den Verkauf reformatorischer Schriften betrieben. „Noch heut" sollen sie den Verkauf die­ ser Werke einstellen. Der Fronbote solle die Ausführung des Befehls melden. Auch in den folgenden Jahren sucht der Rat unnötige Verwicklungen von sich fernzuhalten. Am 24. März 1523 wandern ein paar Frauen auf den Turm, weil sie gedruckte Briefe, darin der Papst und Luther gemalt, feilgehalten hat­ ten 29). Auch am 4. Juli 1524 wird die Anordnung erlassen, Luthers Bildnisse, die am Markt verkauft wurden, zu konfiszieren 30). All diese Verordnungen scheinen aber von wenig Erfolg gekrönt gewesen zu sein, auch fehlte ihnen die Kraft der Überzeugung. Das Volk wußte, wie seine Herren dachten, und erkannte, daß ihre Verbote offenbar nicht zu ernst zu nehmen waren. Um eine Ermahnung des Papstes Hadrians V., daß der Rat den Druck lutherischer Schriften untersagen und die vorhandenen verbrennen solle, wird er sich wohl wenig gekümmert haben 31). Einige Zensurverlässe des Jahres 1524 mögen eher auf den scharfen Brief des Kaisers zurückzuführen sein, da er der Stadt strenge Vorhaltungen machte, weil *6) R.B. 9. IV. 1526 *7) Luthers Werke, Weimarer Ausgabe 10, 2, S. 175 f. 28) R.B. 1. XII. 1522

2Ö) Schottenloher, B. 146 30) Fuchs, S. 31 81) Franz, S. 84

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„Luthers Lehre, Irrsale und Ketzerei für anderen sonderlich in unserer Stadt Nürnberg öffentlich gedruckt, verkauft, gelesen, gepredigt und gelehrt werden“ 32). Der Knabe Johann Faust erntet eine sträfliche Red, weil er „Doktor Mar­ tin neugemachte traktat über zwey kaiserliche widerwärtige mandat hat feilgehapt, dhweil darinnen kaiserl. maj. sehr geschmeht ist“ 33). Die Flugschrift trägt den genauen Titel: „Zwey keyserliche und eynige und wyderwertige gepott den Luther betreffend“. Luther hält die Fürsten für „trunken und toll“, wenn sie einmal das Wormser Edikt auszuführen gedächten, andererseits aber die Frage der Berechtigung seiner Forderungen auf dem nächsten Reichstag zu Speyer nochmal beraten wollten. Kaiser und Fürsten käme es auch auf Lügen nicht an. Gott habe ihm nicht mit vernünftigen Leuten zu schaffen ge­ geben, sondern Bestien wollten ihn töten u.s.w. Die Angriffe gegen den Kai­ ser sind auch darin zu sehen, daß Luther nach seiner „Einleitung“ das Worm­ ser Edikt mit abdrucken läßt und mit scharfen Randnoten versieht. Ein paar Beispiele: (Der Kaiser muß die Einrichtungen „Wo ist das geschrieben? der röm. Kirche schützen) Ym rauchloch“ (Luther heißt Empörung und Auf„Contrarium est verum“ rühr gut) „Wie spottlich nennen sie die heilige (Das Schriftprinzip ist eine Schrift Luthers Regel“ Anmaßung Luthers) Der Rat ordnete nun an, man solle nach dem Namen des Verlegers for­ schen und ihn bestrafen, wenn er hierher komme. Nach Angaben des Knaben sei es Wolff von Augsburg gewesen. Lenhart Fink und Hans Endter, beide Buchführer, müssen wegen Verkaufs des Büchleins vier Tage und vier Nächte auf einem versperrten Turm verbringen. Die Ehefrau des Briefmalers Stefan Hamer muß drei Tage und Nächte „an einer Bank“ büßen, da sie Büchlein verkauft hatte, die wider des Päpstlichen Legaten Reformation zu Regensburg ausgegangen waren und darin die Bi­ schöfe „Fladenweiher“ genannt wurden 34). Wie die Verhältnisse tatsächlich waren, beleuchtet ein Verlaß vom 3. Ja­ nuar 1523 35). Den Buchdruckern wird gestattet, Bücher gegen Martin Luther zu drucken, wenn während der Zeit des Reichstags das Ansuchen an sie gestellt würde, doch sie sollen das Werk vorher den Ratsschreiber sehen lassen, „ob is ainem Rat zu schmach od sonnst zu auffrur dienet“. Die Stim­ mung war scheinbar so, daß ein Drucker ohne diesen Verlaß hätte berechtigte Sorge haben müssen, Schwierigkeiten mancher Art zu bekommen, wenn er ein Buch gegen Luther drucken wollte. Ähnliche Zustände beklagte Erasmus von Rotterdam in Basel 36). „Der Nürnberger Jurist Christoph Scheurl bezeichnete die Stimmung (im Volke) ganz richtig, wenn er in einem Gespräch mit dem päpstlichen Nuntius, Kardinal Lorenzo Campeggi, am 15. März 1524 er82) Franz, S. 87

33) R.B. 14. IX. 1524 34) R.B. 24. IX. 1524 80

35) 36)

R.B. 3.1.1523 Kapp, S. 417

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wähnt, daß der gemeine Mann jetzt nur Schrift (Gedrucktes) fordere und an einem Tage mehr lese als sonst in einem Jahre. Die Nürnberger ließen sich Luthers Schriften auf offenem Markte vorlesen, dürsteten ordentlich nach ihnen, wie der Rat sagt, welcher auf die Dauer deren Verkauf nicht hindern konnte" 37). Ob der Rat von dem Erfolg seiner Maßnahmen wirklich so über­ zeugt war, wenn er auf Vorhaltungen Erzherzog Ferdinands wie des Nuntius Campeggi im Frühjahr 1524 ihnen gegenüber behauptete, daß seit Jahren keine Bücher mehr für Luther in der Stadt gedruckt worden wären und daß die gegen diesen gerichteten Bücher nicht verkäuflich seien? 38). Als der Rat im März 1525 öffentlich eine eindeutige Stellung einnahm, ließ er auch die Beschränkungen gegenüber dem Druck lutherischer Bücher fallen. Doch auch jetzt blieben die Schwierigkeiten nicht aus. Es war nicht immer religiöser Eifer, wenn die Drucker die lutherischen Werke so eifrig nachdruckten, sondern es war auch ein gutes Geschäft. Wenn auch damals der Nachdruck gang und gäbe war und die angesehensten Firmen diesen nicht verschmähten (einen zureichenden Rechtsschutz geistigen Eigentums gab es noch jahrhundertelang nicht), so mußte sich doch Luther selbst gegen die Art, wie man ihn bei seinen Werken betrieb, mit aller Strenge wehren, da seine Bücher oft so schändlich zugerichtet und verändert wurden. Er selbst erklärte: „Wenn sie widderkommen, kenne ich meine eigenen Bücher nicht mehr." In den tollsten Fall war auch der Nürnberger Drucker Johann Herrgott verwickelt (der dann später in Leipzig seinem tragischen Geschick wegen Ver­ triebs einer Sozialrevolutionären Schrift erlag). Dem Wittenbergischen Drucker hatte man die Hälfte von Luthers Postille gestohlen und in Nürnberg einen Nachdruck gefertigt, der vor Erscheinen des Originals herauskam/ Am 26. September 1524 wendet sich Luther an den Rat und bittet diesen, er möge dafür sorgen, daß wenigstens sieben bis acht Wochen Zwischenzeit bis zum Nachdruck eingehalten würden 39). Am 4. Oktober verfügt daraufhin der Rat40): „Auff Doktor Martin Luthers schreiben soll man sich bey den puchtruckern erfaren, was seine gemachten pucher durch sy nachgedruckt und geendert seyen und darinnen ein Ordnung geben, damit seiner pucher kains in ain bestimpten Zeit nachgedruckt, auch bey den puchfueren verschaffen, nichzit neues zuverkaufen vor und Ehe solchs besichtigt werd.“

Luther mußte aber seine Klage erneuern, so daß der Rat am 11. Mai 1532 mahnen ließ, bei Nachdrucken nicht Wittenberg auf die Titelseite des Wer­ kes, sondern Nürnberg zu setzen und bei ernstlicher Strafe sich besserer Kor­ rektur zu befleißigen. Die gefährliche Spannung der Interimszeit, in der nach der siegreichen Beendigung des Schmalkaldischen Krieges durch den Kaiser die Sache Luthers besonders gefährdet war, hat den Rat veranlaßt, noch einmal strenger gegen den Verkauf reformatorischer Schriften vorzugehen. So befiehlt er am 7. März 1551, daß die Feilbietung von gedruckten Zetteln mit Auszügen aus Luthers 37) Kapp, S. 416 38) Kapp, S. 471 6

*•) Kapp, S. 525 40) R.B. 7. X. 1524

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Chronika, darin „der pabst mit Schmachworten angezogen und der leibhaftige Teuffel genennet wird", unterbleiben solle41). Man solle außerdem den Buch­ führern anzeigen, sie möchten kein Werk, „darin etwas schmehlichs begriffen sey", verkaufen, wenn es auch der Abt von St. Egydien, damals der offizielle Zensor (!), erlaubt habe. Es liegt darin eine Kritik des politisch vorsichtigen Rates gegenüber dem lutherischen Geistlichen, der eben alles durchließ, was sein Freund und Meister geschrieben hatte. Interessant ist ein Verlaß vom 5. März 1549, durch den dem Formschnei­ der Guldenmund sein Begehren abgeschlagen wird, zwei Büchlein von der Auferstehung zu drucken. Man solle ihm sagen: „Es seien meine Herren (d. h. der Rat) nit gesinnt, dieser Zeit viel hie drucken zu lassen." b) Bücher gegen den Papst und die alte Kirche Der Rat vermied alles, was zu unnötigen Verwicklungen führen konnte, selbst nach seinem offenen Übertritt zur neuen Lehre. Die katholische Kirdie blieb die Kirche eines Großteils der Reichsstände und vor allem die des Kai­ sers, der gegebenenfalls einen Angriff auf diese als gegen sich selbst gerichtet auslegen konnte. Die Spottlust der Zeit war so groß, daß man den Haß, den man gegen die römische Kirche hegte, auch auf den Kaiser übertrug, als man sich in den nationalen Erwartungen, die man auf ihn setzte, getäuscht sah. Natürlich sind auch hier nur einige Schriften dem Zensor vor die Augen ge­ kommen, und der Rat konnte nur wenig, und das meist nachträglich, unter­ binden. Am 27. November 1520 werden dem Arzt und Almanachverfasset Sebald Busch zwei Monate Turmstrafe auferlegt, weil er in seinem Almanach auf das Jahr 1521 „eine ungeschickt gerissene und geschnittene Form und Figur, die päpstliche Heiligkeit und geistlichen Stand zu Beschwerung, Unehr und Schmach gereichen" 42) beigefügt hatte. Solche Almanache, die allerlei an­ stößige Voraussagen brachten, erregten öfters Anstoß, und von nun ab sollten die Drucker auch diese vor der Veröffentlichung vorlegen. Den weitesten Einblick gewährt uns ein Zensurfall vom Jahre 1527, wohl der interessanteste der ganzen Reformationszeit in Nürnberg, da er uns ein gutes zeitgeschichtliches Bild gibt. Die Nürnberger Stadtbibliothek bewahrt ein Exemplar des Werkchens, gegen das der Rat aus politischen Rücksichten einzuschreiten sich veranlaßt fühlte. Es ist ein Nachdruck aus demselben Jahr, bis auf eine geringfügige Änderung im Titel mit dem Orginal übereinstim­ mend43): „Ein wunderliche Weyssagung von dem babstumb, wie es yhm bis an das endt der Welt gehen sol in figuren oder gemäl begriffen, gefunden zu Nürnberg ym Kartheusercloster und ist seher alt. Eyn vorred Andreas Osianders mit gutter verstendtlicher außlegung durch gelerte leut verklert. Welche Hans Sachs yn teutsche reymen gefaßt und darzu gesetzt hat. Ym MDXXVII Jar." 41) R.V. 7. III. 1551 42) Schottenloher, S. 146 82

4») Stadtbibi. Nbg. Bibi. Will II 14

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In der Vorrede berichtet Osiander von „gemeel unnd schrift“ der Prophezeihung. Erstere seien schon über dreieinhalb Jahrhunderte alt, die Auslegun­ gen seien jedoch jünger. „Es habens aber bishere wenig leut verstanden, wie aller weyssagung art ist, das sie finster bleiben, biß sie yns werck kommen .. . Ich will auch hiemit die Papisten vermant haben, das sie sehen wollen, wie es doch umb sie stehe, und sich dareyn schicken, denn sie müssen herundter, da hilft nichts für . . .“ — Es folgen nun 30 kolorierte Stiche vom Papst mit Prosaerklärungen, darunter jeweils ein Vierzeiler von Hans Sachs; so z. B. auf Seite 2: „Als nun der babst eyn weltlicher Herr worden ist und sich zu weltlichen herrn und weltlich herrn zu jm verpinden, hat er mit seinem Creutz, das ist mit eygnem gewalt und mit der lilge, das ist mit des Königs von Frankreich hilf, zu förderst den Adler, das ist rhomische Kayserliche majestat unter sich getrucket und bezwungen. Der Babst offt mit dem Kayser kempft Mit fremder Herrschafft yhn verdempft, Als Friedrich Barbarossa gschach Und manchem Keyser auch hernach."

Dann folgen Bilder und Reime über das Hofgesinde des Papstes, sein Miß­ brauch der geistlichen Jurisdiction, seine Unzucht und „Puberey“, über seine Geldgier und über die Juristen, durch die er die Länder beherrscht usw. End­ lich werden die Säulen der Papstfeindschaft gezeigt: Gottes Hand, ein Mönch und die weltliche Obrigkeit. Luther wird mit folgenden Versen bedacht: „Das teth der Held Martinus Luther, Der macht das Evangeli lauther, All menschenleer er gantz abhauth Und selig spricht, der Gott vertrauth.“

Eine andere Seite zeigt, welche Gefahr dem Papst im gemeinen Mann er­ wächst. Am Ende wird erwähnt, wie der Papst nackt ausgezogen, das heißt seiner Macht entblößt wird, und die Hoffnung ausgesprochen, daß Gott selbst nun würdige Leute ins Apostelamt einsetzen möge: „ Beschluß redt Christenmensch, nun hast geschaut Die Römisch Babilonisch praut, Wie sie hie abgemalet steth Vor langer zeyt abkunterfeth Mit yhrer praktik und finanzen, Mit yhrer dücken und Alfantzen, Darmit sie Trünken hat gemacht König Fürsten und yhrer pracht .. ., Bis das der Babst so hoch ist kummen Gantz aller herrschafft ob geschwummen Mit Reichtumb gwalt und pracht für war Und hat gewert so lange jar ... Darumb wer oren hat, der hoer, Vor lueg sich zu der warheyt keer.“ 6*

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Wir haben hier ein gutes Beispiel einer Flugschrift aus der Reformations­ zeit vor uns: etwas unflätig, doch sehr anschaulich und geschickt wirkungsvolle Momente herausgreifend. Wir spüren etwas von dem heißen Atem der Zeit. Anknüpfung an Weissagungen früherer Zeiten war beliebt, wenn sie auch oft nur ein Kunstgriff war. Solch eine „Schmachschrift" wollte der Rat nicht mit dem Namen Nürn­ berg verknüpft wissen, zumal zwei der bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt, Andreas Osiander, Prediger von St. Lorenz, und Hans Sachs, der popu­ läre Dichter, als Verfasser genannt wurden. Er hatte aber auch noch andere Bedenken, die aus seinem Verlaß vom 27. März hervorgehen44): „Nach dem dise tag ein gedruckt buechlin mit bildern, den fal des babstumbs anzeigend, wie sich der ereignd und was gestallt desselben besserung wider erscheynen sol, zur failem kauff auf dem markt vertriben worden, bey welchen figuren etliche auslegung unter Herr Andreas Osiander namen, auch etlich reymen, die Hans Sachs, schuester, gemacht, welichs alles von Hanns Guldinmund verfertigt seyen unnd aber ein erber Rath, dieweil vor genugsam von disen dingen gesagt und geschriben worden, geachtet, das dieses Buechlin mehr eyn anzundung und Verbitterung des gemeynem mans dann etwas anders verursacht, darzue eynem Rath allerley nachteils und gremschafft bey vilen erfolgen mag, unnd doch solichs buechlin wider eins Raths wissen und willen ausgegangen, auch iren verordneten, die die druck zu übersehen geordnet, nit zugebracht worden. Ist bey eynem erbern Rath erteilt, nachfolgender gestalt in diser sach zu handeln."

Nun wird zu Osiander geschickt und dieser ernstlich ermahnt und ihm gegen­ über zum Ausdruck gebracht: die Ratsherrn, „hätten sich in disen feilen eyner merern bescheidenheit bey Ime versehen. Darumb, das Ime ein erber Rath mit ernst ansagen (läßt), sich hinfür dergleichen fürnemens zu enthalten, sich auch zu massen eynich buechlin, gemel oder Druck hinfür on wissen eyns erbern Raths Rathsschreiber und unbesichtigt derselben ausgehen zu lassen, des woll sich ein erber Rath ime versehen. Dann wie des nieehr geschee, must eyn erber Rath ir noturft gegen ime bedenken'.

Dem Rat war eben durchaus nicht alles recht, was seine eifrigen lutheri­ schen Prediger unternahmen. Dann wurde der Briefmaler Hans Guldenmund, der die Bilder gemacht, verwarnt und ihm aufgetragen, alle verfügbaren Exemplare in der Kanzlei abzuliefern. Als Strafe kam er diesmal noch mit einer Bewährungsfrist davon. Zum Schluß kommt noch Hans Sachs an die Reihe: „Item Han(n)s Sachßen, schuester, ist gesagt, es sey dis tag ein buechlin ausggangen on wissen und willen eins erbern Raths, welches besser unterwegen gelassen were, an solichem buechlin hab er die Reymen zue den figuren gemacht. Nun sey solichs seynes ampts nit, gepüre ime auch nicht, darumb eines rath ernster befelch, das er seins Handtwercks und schueckmachens warte, sich auch enthalte, eynich buechlin oder Reymen hinfüro ausgeen zu lassen, ein erber rath wurd sunst ir noturft gegen ime handeln. Und umb dise geübte Handlung woll ein Rath die Straf dismals bey sich behalten, doch mit eyner offenen Han dt, die nach Irer gelegenheit fürzunemen." 4i) R.V., R.B. 27. 111. 1527, Jsgel Sp. 59

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Außerdem schrieb man nach Frankfurt, es möge dort auf der Messe auf das Büchlein achtgehabt werden, und gegebenenfalls sollten die Exemplare auf Kosten der Stadt Nürnberg auf gekauft werden. Am 28. September geht dann auch tatsächlich ein Dankbrief an Frankfurt für die gehabte Mühe ab, in dem gebeten wird, die Exemplare mit einer „zufälligen Fuhre“ nach Nürn­ berg zu senden 45). Mitleid hatte man mit dem armen Briefmaler. „Seiner armut undmen(n)ge der cleyne kyndleyn wegen, das er auch unschuldig hinter der sach kommen und auf osianders Vertröstung die vorigen buechlin gedruckt und ausgeen lassen“, sollte er für die 600 eingezogenen Exemplare 12 fl. bekommen. Der Rat war nicht immer so großzügig! Am Ende gestattete er ihm sogar, die Bilder ohne den neuen Text zu verkaufen, weil sich ergeben, daß diese schon vor vielen Jahren ausgegangen waren. Nur den Text fand man also so auf­ reizend. Hans Guldenmund scheint sich aber an die Warnung vom März 1527 nicht viel gekehrt zu haben. Am 8. Juni 1539 wird ihm wieder verboten, „schänd­ liche und gemalte Briefe wider den Papst“ feilzubieten46). Guldenmund und Hans Sacks haben oft zusammengearbeitet. Das Schaffen des letzteren war ausgesprochene Flugblattdichtung. Nehmen wir ein paar seiner Werke zur Hand, so sehen wir, was der Rat alles wissentlich oder unwissentlich unbean­ standet ließ: 1523 „Die Wittenbergisch Nachtigall“, 1524 die vier Prosa­ dialoge. Als Beispiele seien die Titel des zweiten und dritten gegeben: „Ein Gespräch von den Scheinwerken der Geistlichen und ihren Gelübden, damit sie zur Verlästerung des Bluts Christi meinen selig zu werden“; „Dialogus des Inhalts: ein Argument der römischen wider das christlich Häuflein, den Geiz, auch ander öffentlich Laster betreffend“. Noch in vielen anderen Wer­ ken setzte sich Hans Sachs für die neue Lehre ein 47). 1539 erregte er mit seinem Lied gegen das Kammergericht wieder einmal Anstoß bei seiner Obrig­ keit 48). Sie mag es jedoch mit dem zitierten Gebot, er solle seine Finger vom Dichten lassen, bei der großen Beliebtheit des Dichters nicht allzu ernst ge­ meint haben. — In der Zeit des Interims, im Jahre 1549, wird ein gemalter Brief, auf dem ein katholischer und ein evangelischer Prediger abgebildet waren, wohl auch wegen der Beschreibung, als anstößig befunden. Man sollte die Buchführer fragen, warum sie diese gegen das Verbot feilgehabt und woher sie dieselben bekommen haben49). Wegen der gleichen Sache mußte Anna Wanderwiesenin zur Strafe 8 Tage auf einer Bank verbringen. Sie hatte die „gemel“ gegen das Verbot feilgeboten. Auch sonst machte das spottlustige Volk seiner Obrigkeit manchen Kum­ mer. Am 2. April 1550 wird verlassen, daß man nach einem,, neuen schmelichen Iied kontra Babst und Keyser“ beim Erhard Lösel und des Barbiers Spaniers Knecht nachforschen möchte; man solle versuchen, es zur Hand zu 45) Brfb. 96 28. IX. 1527 46) Schottenloher, S. 14 5 47) Schottenloher, S. 153 f.

4«) R.V. 3.1.1539 41‘) R.V. 9. II. 1549

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bringen nud nach dem Urheber fragen. Es ergeht der Befehl, es „unterzutrucken und zu singen verpieten, mit vorbehaltener straff“ 50). Noch im August 1551 beschwert sich der Kaiser bei Nürnberg wegen eines Druckwerkes gegen das Interim. Er schreibt aus Augsburg51): „Ain ergerlidi vergift und verfuererisch Buchlin“ unter dem Titel „ains Warnung buchlins, wie man sich für der Papisten groben und Dolpischen, unnd der neuen Listigen unnd Teuschenden Leren hueten soll", sei ihm „fürkommen“, Erasmus Sarcerio würde es als Dichter zugeschrieben. Durch einen Hans Taubmann, Buch­ drucker in der Judengassen zu Nürnberg, sei es öffentlich verkauft worden. Darin werde das Interim, das auf dem Reichstag von 1549 mit Bewilligung der Stände aufgerichtet worden, „zum heftigsten und hessigsten“ angegriffen. Er sei überzeugt, daß die Stadt wissentlich nicht die Verbreitung dulden werde, da dies der mit Rat und Zutun der Stände ausgerichteten Polizeiordnung widerspreche. Dem Rat werde darum ernstlich befohlen, Paumann vorzunehmen, ob und auf wessen Befehl und Erlaubnis er das Buch feilgehabt habe. Dies müsse dem Kaiser schriftlich gemeldet werden, und die Stadt solle sich des Taubmanns Person, Hab und Gut versichern und weiteren Bescheid erwarten.

Darauf verfaßte Taubmann eine Rechtfertigungsschrift. Wenn auch seine Ent­ schuldigung, daß er das Werk von der Leipziger Messe, ohne den Inhalt zu kennen, nach Nürnberg gebracht habe, zumal bei diesem Titel, wenig glaub­ haft war, scheinen sich der Kaiser und der Rat doch dabei beruhigt zu haben. Wenn all diese Verlässe des Rates gegen Werke, welche die römische Kirche angriffen, durch außenpolitische Rücksichten bedingt waren, so spielen die nun folgenden Verbote auch in seine Innenpolitik hinein. c) Reformatorische Schriften von Nicktlutkeranern Um Schwierigkeiten mit dem Kaiser zu vermeiden, hatte man schon im Jahre 1518 den Druck von Büchern in tschechischer Sprache verboten. Die Auftraggeber waren hier zweifellos Anhänger hussitischer Sekten. Als sich Endres Kaschauer das Geschäft nicht entgehen lassen wollte und den Rat noch­ mals um Erlaubnis anging, wurde ihm „abermals abgeleint, die Bibel noch andere Puch in Bemisch sprach allhie drucken zu lassen und darbey statlich undersagt, wo er darüber ain rat mit weyteren ansuchen oder fürstreifen überziehen werd, wöll man ihne von hinnen weysen“ 52). Noch im Jahre 1561 mußte sich Nürnberg Kaiser Ferdinand gegenüber

verteidigen, daß „böhmische Bücher“ in Nürnberg gedruckt worden seien 53). Da es auch in Nürnberg zu Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Anhängern der Schweizer Reformatoren und der „Schwärmer“ kam, sah sich der lutherische Rat veranlaßt, auch gegen diese Lehren mit Zensurmaß­ nahmen vorzugehen. Das Pathos der religiösen Überzeugung spüren wir aus dem Verlaß vom 14. Juli 1526, in dem gegen Werke Kapstadts und der Schweizer angegangen wird: 50) R.V. 26. IV. 1550 61) A-Laden L 58 Nr. 86

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52) R.B. 53) Brfb.

16.1.1518 169 28. XI. 1561

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„Den Buchdruckern und buchführem ist gesagt, daß sie sich bey ernstlicher eins erbern Rats Straff enthalten, die Karlstadischen, Ecolampadischen, Zwinglischen und ihrer anhenger büchlin vom sacrament, dieweil darin nichts denn teufels werk und verfürung erfunden wurde, derzue was zu Baden im argau disputirt, weder zu trukken oder feilzuhaben." Der Rat sah sich gezwungen, anläßlich des Nachdrucks der „Praktika des Capitels zu Collen“ sein Gebot zu verschärfen. Ein fremder Buchführer hatte 1524 ein Werk Thomas Münzers ohne Zen­ sur drucken lassen. Man verbot den Verkauf, als die Gelehrten festgestellt hatten, daß das Werk mehr dem Aufruhr als der brüderlichen Liebe diene. Man ging also recht gewissenhaft vor und ließ das Werk von Fachleuten be­ gutachten. Die Knechte des Buchfühjers, die das Werk in Abwesenheit ihres Herrn gedruckt hatten, wanderten zwei Tage und zwei Nächte auf den Turm 54). Von den Schriften und Gedanken der Schwärmer waren die Kaspar Schwenkfelds von einigem Einfluß in Nürnberg. 1534 wird nach dem Drucker des schwenkfeldischen Katechismus geforscht55), und im Jahre 1550 werden alle Buchdrucker bei der jährlichen Eidleistung verpflichtet, keinerlei Schriften dieses Mannes zu drucken oder zu veröffentlichen56). Noch im Jahre 1565 „machten die Prediger die unangenehme Entdeckung, daß der Schwenkfeldische ,Schwarm' in der Stadt heimlich Anhänger gewinne. Die daraufhin angestellte Untersuchung, bei der sich namentlich der glaubenseifrige M. Joh. Schelhamer, Prediger bei St. Lorenz, hervortat, hatte zur Folge, daß eine An­ zahl Bürger, meist Handwerker, die unerlaubte Konventikel gehalten, aus der Stadt ausgewiesen wurden“ 57). Wiederholt sah man sich veranlaßt, gegen Anhänger Osianders vorzu­ gehen, der nach Königsberg gegangen war und eigene reformatorische An­ schauungen entwickelt hatte. So wandte man sich am 2. Februar 15 5 6 58) gegen Lienhardt Külman, als er gegen das Verbot seine gedruckte „Gerech­ tigkeit der armen Sünder“ herausgab und gegen andere seine Glaubenslehre vernehmen ließ. Sein „Thesaurus oder Loci communes“, die er drucken lassen wollte, ließ man durch die Prediger Johann Besold und Mauritius Heling „be­ denken“. Man teilte Külman mit, daß man ihn nur unter der Bedingung bis Mitfasten in Nürnberg wohnen lassen könne, wenn er sich verpflichtete, jede Verbreitung seiner „Lehre“ zu unterlassen. Den Buchdruckern wurde einge­ schärft, keines der Külmanschen Bücher zu drucken, und ihnen mitgeteilt, daß sie bei ernstlicher Strafe nicht ohne Zensur drucken lassen dürfen, „sonderlich was glaubenssachen und unsere seelen Seligkeit betrifft“. Auch durch eine Schrift Magister Joachim Hellers, die Osianders Gedanken zu verbreiten suchte, glaubte der Rat Ruhe und Ordnung beeinträchtigt. Der Verfasser und der Buchdrucker mußten acht Tage auf den Turm59). Die Sicherung dessen, wozu man sich durchgerungen hatte, tritt in der Folgezeit immer mehr in den Vordergrund. 64) R.B. 2. XI. 1524 55) R.V. 15. I. 1534 ifi) Ä.B. 1556

37) Reicke, S. 936 r'8) R.V. 2. II. 1556 59) Engelhardt III S. 127

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d) Vornehmlich politische Zensurerlässe Eifrig bemühten sich die Nürnberger Stadtväter, wenn es galt, Angriffe gegen sie selbst zu unterbinden. Solche „Pasquillen“ wurden mit Vorliebe in den Kirchen liegengelassen, oder man schlug sie an Häusern an. Leider kön­ nen wir nicht genauer feststellen, um was es sich dabei handelte, weil diese Zettel für uns nicht mehr greifbar sind. Anfang März 1539 wurde ein „Ge­ dichtlied“ in St. Lorenz gefunden, „darin die Obrigkeit angegriffen und mit Schmach bedeckt“ worden. Da Ähnliches schon öfter vorgekommen war, be­ raumte der Rat für „neheren sontag ein offenliche beruffung“ an. Sie verkün­ dete das ausdrückliche Verbot solcher Schriften und versprach Angebern, die sachdienliche Mitteilungen machen konnten, 100 fl.60). Der Rat sieht sich sogar veranlaßt, ein Mandat in dieser Angelegenheit drucken zu lassen, das wir im Auszug wiedergeben möchten 61): Wegen des Getreides, Brotes und Fleisches, die erneuten Auflagen be­ treffend, würden Beschuldigungen und Anklagen laut. Schuld sei daran aber nur Gottes Strafe, nicht der Rat, und gegen Leute, die sich „unpillich zu mürmeln untersteen“, werde der Rat streng Vorgehen. Auch eine falsche „Letaney“ gehe um. Diese Beschimpfungen seien auf den Gassen und in den Wirtshäusern zu hören. Der Rat möchte die ganze Bürgerschaft auf ihren Eid verpflichten und warnen, „sie solle das unchristliche Vorgehen gegen die Obrigkeit lassen“, da es der Rat doch „so vätterlich, getreulich und herzlich mayne“. Widrigenfalls werde man „ernstliche straff leybs und guts“ verhängen. Einen sympathischen Rationalismus zeigt der Rat in seinem Vorgehen gegen allerlei W underb er idite und Weissagungen. Diese muß das sensations­ lüsterne und wundergläubige Volk gern gelesen haben. In den Jahren 1550/51 hat der Rat fünfmal das Ansuchen, solche Sachen drucken zu dürfen, abge­ schlagen. Als Titel finden wir z. B.: „Die neu Wundergeburt,, so zu Lüne­ burg gefallen“ 61), „Gedruckte Briefe von des Teufels Geburt“ 62), „Wunder­ zeichen und himmlische Gesicht“63), „Abbild zweier aneinandergeborener Kinder“64). Solche „gar abscheulich Ding“ mißfielen dem Rat. Nur am 18. April 1551 gestattete er das Gesicht von den 5 Sonnen, das zu Leipzig am Himmel erschienen sein sollte, nachzudrucken, „weils viel glaubwürdig Personen also gesehen haben . . ., doch ohne einige Auslegung und allein die Geschieht, wie man’s gesehen hat“ 65). Üble Sensationsmadie zu unterbinden, ist auch der Zweck des Verlasses vom 22. Februar 153 5, in dem Hans Gulden­ mund befohlen wird, sich des „münsterischen Malwerks“ zu enthalten. Die Zensurmaßnahmen des Rates seit der Reformation waren nicht zuletzt von seinem erstarkten Verantwortungsbewußtsein als „christlicher Obrigkeit“ beeinflußt, als die er sich nach Luthers Lehre fühlte. Oft schlug aber dieses Verhalten in Bevormundung um, zu der sich bald die Furcht vor äußeren Ein­ flüssen und möglichen Verwicklungen gesellte. Schon hier liegen die Anfänge der späteren spießbürgerlichen Gesinnung, die, von anderen Umständen unter60) R.B. 5. V. 1539

61) Schottenloher, S. 146 62) Fuchs, S. 2 7

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63) R.V. 24. VII. 1550 64) Fuchs, S. 36 65) Fuchs, S. 36

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stützt, spätere Zensurpolitik kennzeichnet. Von Anfang an betrachtete der Rat die gelegentlich erscheinenden „Neuen Zeitungen‘ mit Argwohn. Es handelt sich dabei um eine Vorstufe unserer Zeitung; es waren meist Einzel­ blätter, die der Allgemeinheit die neuesten Tagesereignisse mitteilen wollten. Oft stehen sie dem Flugblatt und der Flugschrift nahe, wenn der Verfasser seine eigene Meinung betonte. Am 15. Juni 1534 wird der Abt von St. Egydien zurechtgewiesen, er solle keine „Neue Zeitung und lügen“ mehr durchlassen. Am 22. September 1536 wird den Druckern die Zensur der Neuen Zeitungen eingeschärft und Pistorius angewiesen, auf die Wahrheit der Zeitungen zu sehen, was diesem wohl nicht immer möglich war. Oft sind angesehene Persönlichkeiten die Verfasser gewesen. So war der bekannte Ratskonsulent Dr. Christoph Scheurl einer der bedeutendsten Zeitungsschreiber seiner Zeit; er stand mit vielen Höfen in Verbindung66). Fürsten und Stadtregimente der Zeit ließen sich durch Ver­ trauensleute wohl unterrichten. Die Veröffentlichung solcher Nachrichten war aber wieder eine ganz andere Frage. Die Obrigkeit wollte die Zügel hier fest in der Hand behalten. Nicht immer ist es für uns klar, warum das eine oder andere verboten wurde. In einem am 26. Februar 1530 datierten Verlaß lesen wir: Hans Guldenmund soll geboten werden, „die Mödel zur Visierung der Belagerung Wiens alle dem Rat zuhandenzustellen und ohne seine Er­ laubnis davon nichts im Druck ausgehen zu lassen“. Die Zeit war für optische Eindrücke sehr empfänglich und liebte bildliche Darstellungen der Tages­ ereignisse. Im Schmalkaldischen Krieg blieb Nürnberg trotz der Gefährdung der evangelischen Religion aus lauter Vorsicht und Kaisertreue neutral. Flug­ blätter über die Kriegsereignisse stellten die Stadtväter von vornherein unter eigene Kontrolle 67): „Den Buchdruckern ist allen von Raths wegen verpotten in disen leuften weder lieder, Sprüch noch sonst etwas nachzetrucken on vorgende besichtigung und erlaupnis eins Raths“. Und gerade in den Jahren 1548/49 erreichte die polemische Literatur ihren Höchststand/ Am 5. September 1551 erlaubte der Rat Stefan Hamer, „die abkonterfeit Belagerung der Stadt Magdeburg“ nachzudrucken. Hamer darf aber seinen Namen nicht dazu setzen. Da ohne Zweifel auch der Druckort verschwiegen wurde, wollte man wohl weder katholischen noch protestantischen Mächten Anlaß geben, irgendeine Parteinahme Nürnbergs aus diesem Druck abzulesen, die vielleicht auch eine mögliche Beschriftung des Bildes näher vermuten ließ. Von den Werken, welche mit dem Namen des Druckers und des Druckortes bezeichnet waren, nahm man eine Erlaubnis der Obrigkeit an. Über den Krieg gegen den Markgrafen Albrecht Alcibiades sind mehrere „Lieder“ gedichtet worden, die teils für die Bundes truppen, teils für den Markgrafen Partei ergreifen. Ein solches Lied hatte auch der angesehene 66) Fuchs, S. 50

6”) R.B

9. IX. 1546

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Magister Joachim Heller in Nürnberg gedichtet, und es ist äußerst unwahr­ scheinlich, daß er für den Markgrafen Stellung genommen hat. Liest man nun in den von Liliencron gesammelten „historisdien Volksliedern“ die Gedichte nach, die von hündischer Seite stammen, so ist es nicht ohne weiteres ersichtlich, warum 1554 in Nürnberg „das Lied, das von diesem Krieg und Plassenburg gedieht ist“, verboten wurde, wahrscheinlich ist das verbotene Lied nicht unter den erhaltenen. Vermutlich sah es der Rat nicht gerne, wenn der Bürger seine politischen Informationen aus solchen Schriften bezog, die außerdem die Hohenzollern unnötig reizen mußten. Heller hatte das be­ anstandete Werk sogar gegen das Verbot des obersten Kirchenpflegers Paumgartner drucken lassen und mußte sich durch Eid unter Androhung der Turm­ strafe verpflichten, bis auf weiteres nichts Neues zu drucken. Wie Rückfragen ergaben, hatte Heller gar nicht als Buchdrucker geschworen; in den Ämterbüchlein taucht er erst 1557 auf. Wir haben hier also einen Fall, wo ein Drucker jahrelang arbeitete, ohne Pflicht geleistet zu haben. —■ Vom Zensor unterdrückt wurde auch ein Werk Hans Sachsens mit dem Titel „Gesprech von der Himelfahrt markgraff Albrechts anno 1557“, das kurz nach dem Tode des Markgrafen erscheinen sollte. Das Werk enthält eine Vision, in der die Leiden, die der Markgraf über die Menschen gebracht hat, anschaulich dargestellt sind, und endet mit dem Ausblick auf seine gerechte Bestrafung im Jenseits 68). Der Rat wollte auch hier einen unnötigen Konflikt vermeiden. Endlich seien noch zwei Zensurfälle erwähnt, die das Bestreben des Rates zeigen, es auch mit anderen Fürsten nicht zu verderben. Anlaß mögen politische wie wirtschaftliche Erwägungen gewesen sein. Am 25. September 1542 69) wird der Verkauf eines Dialogs gegen den Herzog von Braunschweig verboten und im 21. Dezember 1553 ein lateinisches Büchlein über den König von England, das Gabriel Hayn deutsch erscheinen lassen wollte, zu drucken untersagt70). Der Rat beschlagnahmte sogar das eingesandte Exemplar. Betrachten wir rückblickend die Zensurpolitik der Reichsstadt Nürnberg während der Reformation im Rahmen ihrer Entwicklung, so ist das Bild nicht ganz einheitlich. Im wesentlichen ist sie natürlich durch das ungeheuere Anschwellen der Tagesliteratur, die sich mit den brennenden Fragen der Zeit auseinandersetzte, gekennzeichnet. Der Rat, selbst an den Problemen stark interessiert und zum Teil auch von der erregten Volksstimmung beeinflußt, ist im ersten Jahrzehnt verhältnismäßig großzügig, wenn er auch vor allen Dingen dem Kaiser gegenüber bis 1525 allen Schein einer Parteinahme ver­ meidet. Als sich aber der erste Sturm gelegt und man sich allmählich an die neuen Verhältnisse gewöhnt hatte, blieb der Durst der Bürger nach den Neuigkeiten des Tages; der Rat aber wollte seine nüchterne Politik nicht durch ein Odium belastet wissen, das er durch Duldung polemischen Schrift­ tums auf sich laden konnte. Er wird vorsichtiger, die Zensurfälle häufen sich, und die Hand der Obrigkeit greift nach all den neuen, in der Reformations­ zeit geborenen Formen der Publizistik. Aber auch andere Einflüsse waren 68) Reicke, S. 919 •6) R.B. 25. IX. 1542, Jegel Sp. 58 90

70) R.B. 21. XII. 1553

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wirksam. Nürnberg, wie alle Reichsstädte, hatte in dieser Beziehung an Handlungsfreiheit verloren. Mit der Übernahme der Kirchenhoheit gab es viel mehr Reibungsmöglichkeiten als früher, man hatte viel mehr Rücksichten zu nehmen. Die Macht der Fürsten, der Städtefeinde seit Jahrhunderten, war zudem gewachsen, während die Bedeutung der Städte wie die Macht des Kaisers, der sich so oft auf ihre Seite gestellt hatte, im Sinken begriffen war. e) Die Weiterbildung des Zensurapparates Interessanterweise ändert sich der schon vor der Reformation voll aus­ gebildete Zensurapparat der Stadt Nürnberg während dieser grundsätzlich nur wenig, wenn auch die Aufgaben und die Bedeutung desselben um ein Vielfaches gesteigert wurden. Als Neuerungen von 1513 bis 1550 können wir zusammenfassen: Zensurgebot für Kalender; Einbeziehung der Formschneider und Brief­ maler unter die Schwörenden; das durch Luther veranlaßte Nachdruckgesetz und vor allem der Wechsel des Zensurauftrags vom Ratsschreiber auf die Theologen. Daneben finden wir viele Verlässe, die nichts Neues bieten, son­ dern nur die bekannten Verordnungen einschärfen und in Erinnerung bringen. Überblicken wir die wechselnde Zahl der geschworenen Handwerker der betreffenden Berufe, so ergibt sich folgendes Bild: 1513 haben 5 Buchdrucker den Eid geleistet. 1524 sind es bereits doppelt so viele. Ein Verlaß vom 11. April 1527 ordnet an, daß künftig auch die Formschneider und Drucker (gemeint sind hier die Briefmaler, die ja auch druckten, denn die eigent­ lichen Buchdrucker schwören schon längst) zu schwören haben. Er wurde zweifellos durch den Fall Osiander/Sachs veranlaßt. Hans Guldenmund aber, der darin verwickelte Formschneider und Briefmaler, taucht erst 1532 im Ämterbüchlein auf; er war wohl in diesen Jahren außerhalb der Stadt, man hätte ihn wahrscheinlich nicht übersehen. Wir müssen jedoch annehmen, daß eine ganze Reihe von Winkeldruckern in diesen Jahren keinen Eid geleistet haben. Betrug die Zahl der Buchdrucker und Formschneider 1527 14, so ver­ zeichnet das Ämterbüchlein von 1554 20 Buchdrucker, 6 Formschneider, 7 Buchführer und 9 Briefmaler. Schon daraus können wir die Konjunktur dieser Berufszweige ablesen. Vor 1548, wo zum erstenmal eine genauere Trennung dieser Berufsgruppen im Ämterbüchlein stattfand, können wir nicht eindeutig feststellen, welcher von diesen der betreffende Handwerker an­ gehörte. Zum Teil waren sie Briefmaler und Drucker des zum Bild gehörenden Textes, Buchdrucker und Buchführer zugleich; eine Handwerkerordnung im eigentlichen Sinne gab es für sie alle noch nicht. Hans Guldenmund wird z. Bl 1532 als Buchdrucker, 1549 und in den folgenden Jahren als Brief­ maler geführt. 1536 bekommen alle Verzeichneten eine sträfliche Red zu hören, ebenso 1544: „sonderlich daß sich die Briefmaler darnach (d. h. der Zensur) auch halten sollen, derweil sie vil seltzame druck zu irem nutz auf- und herfürbringen, darauf gemeiner Rat nachhernd und auch sonst vil ärgemis rich91

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ten" 71). 1545 findet eine Präzisierung der Zensurordnung von 1513 statt: man fand, daß von den Frankfurter und anderen Messen allerlei „selzame Püchlin" hergebracht und zum Teil heimlich verkauft wurden „und dadurch vil gifts und falscher leer eingepflantz werden". Man bestand nun vor allem darauf, daß die „indices" von den Büchern, welche die Händler von den Messen nach Nürnberg bringen, vorher dem Zensor übergeben wurden und vor der Erlaubnis nichts verkauft wurde 72). In der Praxis sahen die Dinge für die Buchdrucker ganz anders aus, wie wir aus den Zensurverlässen ersehen können. Man ging eben ein Geschäfts­ risiko ein, wenn man ohne Zensur druckte. Dies war nicht allzu groß und wird sich wohl immer rentiert haben; denn das Volk hungerte nach Flug­ schriften und Traktaten. Man verkaufte oft heimlich, druckte ohne Druckort und Namensangabe und hoffte, daß die Sache gut gehen werde. Wenn einer Pech hatte, nahm er eben die paar Tage Turm in Kauf, mit denen es ja zumeist getan war. Wenn wir die Zensoren der Reformationszeit betrachten, so hatten die Buchdrucker bei solchen Werken, die für Luther und gegen den Papst gerichtet waren, wenig zu befürchten. Der Ratsschreiber der Stadt, bis 1528 Zensor, war Lazarus Spengler, einer der eifrigsten Vorkämpfer der Refor­ mation. Kein Wunder, wenn sich Kanzler und Kaiser, Nuntius und Papst darüber beklagten, daß in Nürnberg so viele Werke für Luther herauskämen. Vieles wird mit Spenglers Erlaubnis erschienen sein, sicherlich wird er nicht immer im Sinne seiner vorsichtigen Ratsherren, sondern auch auf eigene Verantwortung gehandelt haben. Dies war nicht weniger bei seinen Nach­ folgern im Zensuramte, dem Propst von St.Sebald, G. Peßler, und dem von St. Lorenz, Hektor Römer, der Fall. Der Propst von St. Sebald war 1529 Zensor 73), 1530 werden beide in dieser Eigenschaft genannt74), während es 1534 nur noch der von St. Lorenz war. Beide waren eifrige Förderer der Reformation. Pömer hat es nicht lange als Zensor ausgehalten, was begreif­ licherweise eine sehr undankbare Aufgabe war. Sein Gesuch sollte nicht das letzte eines Nürnberger Bürgers sein, ihn von seinem Auftrag zu entbinden. Am 11. Mai 1534 wird verlassen: Nachdem der Propst von St. Lorenz hat bitten lassen, ihn von dem Amt „alles gedruckte zu rechtfertigen", zu ent­ binden, soll man ihn dienstlich ersuchen, eine zeitlang mit Besichtigung der Bücher und „Gemäld" bemüht zu sein und ihm als Gehilfen den Abt von St. Egydien beigeben 75). Von nun an wird in den Quellen der Reformationszeit nur noch vom Abt von St. Egydien als dem Zensor gesprochen. Er muß ein ziemliches Geschick in dieser Eigenschaft gehabt haben, wenn er es auch manchmal dem Rat nicht recht machen konnte, was nicht gerade leicht war. Wir kennen das Mißfallen des Rates bei der Veröffentlichung von Auszügen aus Luthers Chronika, die der Abt erlaubt hatte. Auch das „Büchlein vom Loch", das er 71) Ä.B. 1536 72) R.B. XXIII 25 . 4. 15 4 5 73) Ä.B. 1529

92

74) 75)

R.B. 11. XI. 1530 R.B. 11. V. 1534, Jegel Sp. 57

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Stefan Hamer zu drucken gestattet hatte, ließ der Rat nach dem Erscheinen konfiszieren, ohne zu unterlassen, dem Drucker, „damit er nit gar im Schaden lieg", eine „ziemliche Ergötzung als Recompenz" zuzugestehen76). Der Abt war ein nachgiebiger Mann und ließ sich oft durch die Bitten der Drucker erweichen. So sah sich der Rat am 25. September 1542 77) zu folgendem Be­ schluß veranlaßt: „Dem Abt von St. Egidien ist verlassen zu versprechen, fürderhin keine Schmachschriften und Lieder mehr drucken zu lassen und zudem keine Fürbitt anzusehen." Der Abt von St. Eygdien, der als letzter diesen Titel bis an sein Lebensende führte, war Friedrich Pistorius. Er pflegte Freundschaft und Briefwechsel mit Luther, Melanchthon, Pirckheimer, Camerarius und anderen berühmten Männern seiner Zeit. Der er­ wähnte Hieronymus Paumgartner war der erste oberste Kirchenpfleger in Nürnberg nach der Reformation, somit Pistorius’ Vorgesetzter. Audi in späterer Zeit, als die Zensur zu den Aufgaben des Vormundamtes gehörte, war der Kirchenpfleger die oberste Instanz in Zensurfragen (nach dem Rat natürlich, dessen Mitglied er war). Da vorläufig kein neuer Zensor ernannt wurde, hat Paumgartner laut eines Verlasses vom Jahre 1554 77) nadi Pistorius’ Tod die Zensur allein ausgeübt. Ein eigenes Schicksal erlitt das erwähnte kaiserliche Zensurmandat vom Juni 1548. Es ging vor allem gegen die Schriften an, die dem letzten Reichstag und der „Katholischen allgemeinen leer, der hailigen Christlichen Kirdien ungemäß und widerwärtig". Das Mandat kam dem Rat „in vertrauen" zu, und man beschloß am 22. August, es zunächst liegenzulassen, bis man selber eines zugeschickt bekäme 78). Als dies nach kurzer Zeit der Fall war, be­ schließt man am 25. September, es „nit anzuschlahen", ermahnt aber alle Buchdrucker und Briefmaler zu äußerster Vorsicht und beauftragt jemanden, der täglich in den Buchläden nachsieht, „was für Schmachpüchlein und nachredliche gemel und brief faihlgehabt werden". Im Dezember 1549 endlich läßt der Rat ein eigenes Mandat anschlagen, in dem er auf das kaiserliche hinweist. Man erwähnt aber nur ganz allgemein, daß es gegen Schmach­ schriften und „ergerliche gemelde" gerichtet sei. „Da der Rat sich der kaiser­ lichen Majestät zu untertänigstem Gehorsam sich schuldig bekenne (ein Jahr nach seinem Befehl/), wolle er in seinem Gebiet auf die Einhaltung drin­ gen" 79). Ein gutes Beispiel der Diplomatie einer protestantischen Reichsstadt in diesen Jahren/ Auch von anderen Städten kommen Klagen und Anfragen in Zensur­ sachen nach Nürnberg. So beklagte sich im September 1543 die Stadt Augs­ burg, daß Hans Schöner, Mathematikus und Astrologe in Nürnberg, ein Püchlein mit „etlichen schmehungen" verfaßt habe und dieses in Nürnberg verkauft worden sei. Der Rat berichtete, seine Nachforschungen hätten er­ geben, daß die Bücher durch zwei Knaben, denen sie ein Fremder gegen Belohnung zum Verkauf angeboten hatte, vertrieben wurden, auch Haus­ suchungen hätten nicht weiter geführt. Augsburg hätte vorsichtiger und 76) Fuchs, S. 36 77) R.B. 1534

78> R.B. 22. VII. 1548 7{)) M. A 237 93

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geheimer Vorgehen sollen, da sich nun „diser unruhig man" (Schöner) in Gefahr wisse und „gewißlich nicht feyren wirdet"80). Den Druck konnte man in Nürnberg nicht nachweisen, da man sonst dem Rat wegen ungenügen­ der Zensur hätte Vorwürfe machen können. Im Oktober 1549 hatte Speyer gebeten, man möge den Buchdrucker Hans Daubmann wegen eines „Gemelds" vernehmen, das Hans Heym aus Straß­ burg in Speyer verkaufte und von Daubmann erworben haben wollte. Bei der Vernehmung versicherte Daubmann, er habe seit zwei bis drei Jahren nichts verkauft (?!), sondern sich, vor allem seit dem kaiserlichen Mandat, mit keinerlei „schmehlich gemel od. Puch" eingelassen und solches weder gedruckt noch feilgehabt. Der Rat berichtete diese Erklärung nach Speyer, und man mußte sich dort damit zufrieden geben. Es war eben bei den gegebenen Ver­ hältnissen nicht möglich, die vielen Kanäle, die der polemischen Literatur der Zeit zur Verfügung standen, zu schließen.

DieZensur in anderen Reichsstädten undTerritorien Wie fortschrittlich im Sinne der Zeit Nürnberg mit seinen Zensurerlassen war, wird uns vor allem deutlich, wenn wir einen Blck auf andere Zensur­ maßnahmen der Zeit werfen. Früh schritt Straßburg gegen unliebsame Preßerzeugnisse ein, doch kam es dort erst in der Reformationszeit zu einer Präventivzensur. 1502 wurde dort Murners „Germania Nova" auf eine Klage Wimphelings konfisziert. Ähnlich umsichtig in seiner Zensurgesetzgebung, wenn auch weniger konsequent als in Nürnberg, war der Rat der Stadt Augsburg schon vor der Reformation. Die dortigen Verhältnisse ähneln den nürnbergisdien. Aus einer Quelle können wir ersehen, daß auch dort schon vor 1515 die Buch­ drucker sich eidlich verpflichten mußten, „nichts ohne Vorwissen des Rates zu drucken, was jemand zu Schand und Schmach gereichen könnte" 81). Eine Vorzensur ohne Beschränkung auf Schmachschriften usw. wurde erst am 19. April 15 52 angeordnet 82) — 34 Jahre später als in Nürnberg! Die Strafen waren streng; neben den in Nürnberg bekannten werden Ausweisung aus der Stadt und Auspeitschen mit Ruten genannt. In anderen Reichsstädten bildete sich die Zensur im Anschluß an die Reichsgesetzgebung aus, wenn auch die Handlung individuell blieb. Je kleiner die Stadt, desto vorsichtiger war man. Hinter den Reichsstädten, welche die Mittelpunkte der Publizistik waren, blieben die anderen Reichsstände an Bedeutung für die Preßgeschichte der Zeit zurück. In diesen entschied viel weniger das klar formulierte Gesetz als das Belieben des Landesherrn. Meistens war die Universitätsstadt der Haupt­ verlagsort eines Territoriums, und die Universität zensierte das Schrifttum. 80) Brfb. 130 13, 27. XI. 1543 81) Buff, S. 251

94

82)

Costa, S. 18

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Dabei haben die evangelischen Theologen grundsätzlich keine andere Stellung zur Zensur eingenommen als die Behörden der scholastischen ZeitS3). Nicht nur die Furcht vor Mißdeutungen der neuen Lehre war hier maßgebend. Die religiöse Toleranz war dem Protestantismus im Grund nicht weniger fremd als dem Katholizismus. Luther selbst übte in Wittenberg die Zensur aus. Er fügte sich jedoch bei seinen eigenen Werken oft den Wünschen seines vorsichtigen Kurfürsten. Die Universität Tübingen hatte schon 1500 die Verbreitung von „libelli famosi" verboten, und 1537 wird die förmliche Präventivzensur für alles Ge­ druckte angeordnet. Niemand durfte etwas ohne die Erlaubnis des Rektors und der vier Dekane ausgehen lassen. Die Buchläden wurden periodisch durch­ sucht, und Bücher, die von den Messen kamen, mußten zur Besichtigung ge­ geben werden84). Die theologische Fakultät der Universität Heidelberg übte die Zensur über die Fachliteratur sogar gegen den eigenen Landesherrn aus. Sonst war in der Pfalz das Druckgewerbe nur geringem Zwang unterworfen 85). Beenden wir unsere kurze Übersicht mit einem Blick auf die katholischen Reichsteile. Als Glieder der angegriffenen Kirche übten sie natürlich eine un­ gleich strengere Zensur aus als die evangelischen. Zu Zeiten Herzog Georgs wurde im albertinischen Sachsen eine strenge Bücherkontrolle geübt, die rücksichtslos alle reformatorischen Bücher verbot und mit großer Härte gegen die Buhdrucker vorging. Ihr fiel auh der Nürn­ berger Johan Herrgot zum Opfer, der in Leipzig verbrannt wurde. Meistens war unverzügliche Ausweisung die Strafe. Der Herzog suhte durh Repressiv­ maßnahmen, Durhsuhung der Buhläden usw. seinen Zweck zu erreihen. Da sih die katholishe Literatur als unverkäuflih erwies, handelten die Buhhändler oft aus Notwehr, wenn sie reformatorische Werke verkauften. Weil auh die Bühermesse vom Herzog und seinen Beauftragten bewaht wurde, ging diese unter seiner Regierung fast ein88). Grundlegend anders wurden die Verhältnisse unter seinen evangelishen Nachfolgern. Bürgermei­ ster und Superintendent übten nun die Zensur aus; am 10. Mai 1539 wurde erlassen, daß nichts Neues ohne Prüfung gedruckt werden dürfe 87). In Österreich und Bayern kommen wir in das Zentrum der katholischen Gegenbewegung in Deutshland. Das Shrifttum der Reformation verhalf hier zur allmählichen Ausbildung eines regelrehten Zensurapparates, wie wir ihn in einzelnen Pveichsstädten shon vor der großen Bewegung kennengelernt haben. Ein Mandat von 1523 sollte in Österreich die Strafen des Wormser Edikts erzwingen. Jedermann wurde zur Mithilfe auf gef ordert, man ließ bei den Buhhändlern und Buchdruckern nah verbotenen Shriften fahnden und fing die evangelishen Shriften shon an der Grenze ab 88). Konnte man eines Hauptshuldigen habhaft werden, so verbrannte man ihn, wie z. B. Balthasar Hubmair. Mit dem Mandat vom 24. März 1528 suhte Ferdinand die Druck8S) Hase, S. 246 84) Kapp, S. 586 H5) Kapp, S. 581

m) Kapp, S. 594 *7) Kapp, S. 595 **) Kapp, S. 553

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Verfolgungen in geregelte Bahnen zu bringen. Alle Buchdrucker, die sektiererische Schriften druckten, sollten ertränkt und ihre Bücher verbrannt werden. Noch abhängiger als Österreich war Bayern von der römischen Kirche. Seinen Zensurmaßnahmen nach sei es bis zum Dreißigjährigen Krieg nur eine römische Provinz in Deutschland gewesen, meint Kapp in seiner Geschichte des deutschen Buchhandels. Der 1564 veröffentlichte erste römische „Index librorum prohibitorum“ wird in Bayern sofort nachgedruckt und verbreitet. Da all dies nicht viel geholfen haben muß, wird 1565 angeordnet, es dürften nur Werke verkauft werden, die in München oder Ingolstadt, Dillingen, Mainz, Köln, Freiburg i. Br., Wien, Innsbruck, Paris, Löwen, Venedig, Rom, Florenz, Bologna oder in Spanien gedruckt worden sind. Eine „geistige De­ markationslinie“ war gezogen, die Bayern gegen jeden ketzerischen Einfluß hermetisch abschloß. Seit der Reformationszeit haben wir in allen katholischen Druckorten Europas eine voll ausgebildete Zensur der Druckerzeugnisse anzunehmen. In der Reformationszeit hatte sich zum erstenmal die öffentliche Meinung als Großmacht offenbart. Sie konnte nur durch den Buchdruck eine solche werden. Ohne ihn wäre wohl eine Volksbewegung, die sich von der Nordsee bis Tirol, vom Rhein bis Ostpreußen erstreckte, nicht denkbar gewesen. Bald aber erkannte jede Obrigkeit die neue Großmacht als Gefahr, besonders als sich soziale Strömungen mit den religiösen mischten. Die erstarkten Territo­ rialgewalten nahmen, vom Kaiser aufgefordert, die Bücherzensur als ein selbstverständliches Recht in Anspruch. Im Grunde ein Erbgut des Mittel­ alters, das die Einheit der geistigen Welt als Voraussetzung hatte, wurde die Zensur ein Machtanspruch des sich langsam entwickelnden modernen Staates; sie wurde ein Instrument des Politikers. Wie wir gesehen haben, waren An­ sätze dazu schon in den vor der religiösen Auseinandersetzung getroffenen preßpolizeilichen Maßnahmen der Reichsstädte vorhanden. Wie wenig die Reformationszeit die geistige Freiheit gefördert hat, be­ klagt Sebastian Franck mit folgenden Worten der Vorrede zu seinem Welt­ buch; „Gedenk ein jeder, daß des Lügens und Hofierens genug ist. Will man aber diese Freiheit den Büchern nehmen, wider jemand zu schreiben, so wer­ den die Bücher voller Lügen und Affekt. Sunst im Papsttum ist man freier gewesen, die Laster auch der Fürsten und Herrn zu strafen, jetzt muß Alles gehofieret sein, oder es ist auf rüherisch, so zart ist die letzt Welt worden. Gott erbarm’s!“

Die Zeit der Gegenreformation

Von der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg spielen sich in Deutschland keine weltpolitischen Ereignisse ersten Ranges mehr ab. Die große Bewegung, der Schwung der reformatorischen Ideen, war vorbei; in den protestantischen Territorien begann eine Verknöcherung, die noch vorhan­ dene Energie reichte eben noch zu kleinlichen Dogmenstreitigkeiten aus, 96

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während von der katholischen Seite her der zähe Einzelkampf der Jesuiten um jede „ketzerische“ Seele einsetzte. Dem Reich fehlten große, gemeinsame Aufgaben, welche die auseinanderfallenden Reichsteile zu sammeln vermocht hätten. Der Egoismus der Landesfürsten gefiel sich in Territorialstreitigkeiten, das politische Leben gewann einen „engherzigen, um nicht zu sagen spießer­ haften Zug, der noch lange das Kennzeichen der deutschen Kleinstaaterei blieb“ 1). Die frühere Macht nach außen war geschwunden; so baute man die nach innen aus. Die Reformation hatte ja auch den Stadtregimenten viele neue Aufgaben gegeben, die man eifrig wahmahm. Auch in unserem Nürnberg, das immer noch an erster Stelle unter den Städten des Reiches genannt wurde, können wir den Zug der Zeit deutlich verspüren; ein „Schwinden geistiger Biegsamkeit“ 2)* wirkte auf die wichtig­ sten Lebensäußerungen der Stadt. Die Außenpolitik wurde durch das Bedürfnis nach Sicherheit bestimmt, die man aus dem Anschluß an den Kaiser und vom neu organisierten fränki­ schen Kreis, der engeren Sicherung, erhoffte. Im Gegensatz zu früher tritt die Bündnispolitik in den Vordergrund. Der Gefährdung durch den Markgrafen trat der Rat weniger als früher mit stolzem Selbstbewußtsein entgegen. Da er mit einer selbständigen Außenpolitik oft schlechte Erfahrungen gemacht hatte, wandte er sich der inneren Ordnung wie dem Neuaufbau des Handels zu, der durch den Krieg mit dem Markgrafen schwer geschädigt worden war. Die Stadtleitung bemühte sich energisch um die Wiederanknüpfung alter und um die Gewinnung neuer Beziehungen und suchte die Schwierigkeiten mit Italien, wo man religiöse Bedenken hatte, zu beseitigen. Die Leipziger und Frankfurter Messen wurden eifrig besucht. Holland, Frankreich, Italien, Böh­ men und Polen lagen wieder im Handelsbereich 4). In die protestantischen Glaubensstreitigkeiten griff Nürnberg nicht aktiv ein. Die Patrizier waren nüchterne Männer der Ratio und liebten keine nutz­ losen Auseinandersetzungen. Einige wesentliche Schriften Luthers und Melanchthons wurden 1573 zur für alle Nürnberger Geistlichen maßgeblichen „Norma doctrinae“ erhoben, bei der man, abgesehen von geringfügigen Ver­ änderungen, auch blieb. Man ließ sich bewußt in keinen Streit ein, der außen­ politische Folgen haben konnte. So weigerte sich Nürnberg, die Konkordienformel zu unterschreiben, die die Streitfragen gegen Melanchthons Anhänger entschied. Unsere Zensurakten zeigen uns, daß man jeder gegenteiligen Behauptung streng widersprach (s. u.). Für die Regierung eines Handelsstaates ist von vornherein eine gewisse Weltoffenheit verpflichtend, die sich auf das geistige Leben auswirkt. Man konnte sich die politischen Fäden nach aller Welt nicht von hitzigen Theo­ logen aus den Händen winden lassen; die Lebensbedürfnisse des Staates lie­ ßen dies nicht zu. Wir erinnern daran, mit welcher Bereitwilligkeit Nürnberg die niederländischen Flüchtlinge aufnahm. Sie waren tüchtige Leute, die Nürn­ berg gut brauchen konnte. J) Paul, S. 129 7

2) Franz, S. 290

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Trotzdem blieb natürlich von religiösen Auseinandersetzungen im Inne­ ren auch Nürnberg nicht verschont, wofür schon die Theologen sorgten. Schwenkfeldianer und Anhänger des Flacius Illyricus wurden ausgewiesen, der verdiente Moritz Heling, Freund und Verehrer Melanchthons, wurde von seinem Predigeramt an der Sebalduskirche suspendiert. Der Haupteiferer war hier der Prediger bei St. Lorenz, Magister Johann Schelhammer, der den Rat maßgeblich beeinflußte. Natürlich hat auch die Gegenreformation Nürnberg zu gewinnen versucht, doch ohne Erfolg. Da Nürnberg bis auf das Deutschordenshaus lutherisch war, ist der Abwehrkampf leichter gewesen als in manchen anderen Reichs­ städten. Über all diese Verhältnisse kann uns die Zensurpolitik der Stadt wert­ volle Aufschlüsse geben, zumal uns aus dieser Zeit einige Akten überliefert sind, die uns tiefere Einblicke in den Zensurbetrieb erlauben als die im wesentlichen doch kurzen und nüchternen Ratsverlässe. Das Nürnberger Bekenntnis und die Zensur a) Dogmenstreitigkeiten Die Grundhaltung des Rates zu den protestantischen Lehrstreitigkeiten zeigt uns in aller Deutlichkeit ein Brief an Johann Wilhelm, Herzog von Sachsen aus dem Jahre 1572. Bekanntlich war Jena, die von Johann Friedrich neu gegründete Universität (Wittenberg war an das Kurfürstentum verloren­ gegangen), das Zentrum der lutherischen Orthodoxie geworden. Dort lehrte Flacius Illyricus, der sich in fanatischen Angriffen gegen Calvinisten und Philippisten (wie die Anhänger Melanchthons genannt wurden) nicht genug­ tun konnte. Nürnberg haßte dieses Gezänk, und dazu kam noch, daß es einen Rückhalt bei dem mächtigsten deutschen Fürsten fand, dem Kurfürsten von Sachsen. In seiner konservativen, den religiösen Streitigkeiten der Zeit im Grunde abgeneigten Haltung, war er so recht nach dem Herzen der Nürnber­ ger Stadtväter 3). — Der erwähnte Brief an den Ernestiner hat folgenden Inhalt:4) „Bei der fürstlichen Mahlzeit allhier, zu der wir gnädig berufen waren, habt Ihr die Anmahnung getan, wir möchten erklären, warum wir das Corpus Doctrinae und andere Bücher, die in Jena gedruckt, hier haben verbieten lassen. Wir haben uns daraufhin bei unsren Kirchenverwesern erkundigt und erfahren, daß dies ihnen von Rats wegen vor etlichen Jahren befohlen worden, ,dieweil ein lange zeit Inn Teutschen landen unter den Stenden der Augspurgischen Confession allerhand unchrist­ liche ergerliche zengk, schendung und schmehung entstanden und unaufhörlich ge­ trieben, dadurch auch in der Stadt allhie nit allein unter dem gemeinen Volck viel ergerung und gezenck, sondern auch zwischen den Theologen und Kirchendienern manigfaltige trennung und mißverstandt verursacht und angericht. Derenwegen uns auch von etlichen hohen Stenden getreue Warnungen zukommen, daß Inen laut Ires berichts mit fürhaltung eines solchen befolchen, uf alle dergleichen ergerliche Con3) Franz, S. 211

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>) R.V. 13. VIII. 1583

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tentios und damnirbücher und sdirifften aditung zu haben, damit die Buchführer und drucker sich derselben maßen und aufs wenigst dem unverständigen Man nit fürlegten. Desselben empfangen befelchs sie sich beflissen.* Sie wollten dabei weder diese ,noch einer anderen Schul bücher* verwerfen oder verbieten und in allem nicht anders handeln, ,dann was ohn zweifei alle fridliebende der Augspurgischen Confession verwandten gleichfalls gethan haben würden*. Wie ungeheuer vorsichtig man bei eigenen Veröffentlichungen war, zeigen Beispiele aus dem Jahre 1583. Am 13. August gestattete man den Buch­ druckern, den lutherischen Katechismus, jedoch ohne die vorgehabte Ände­ rung, nachzudrucken. Der Rat wollte jeden Katechismus vorher besichtigen. Auch die „Praefation zum Taufbüchlein“ bedurfte zum Drucke oberherr­ licher Sondererlaubnis. Man sollte dabei „die besonderen fragkstückh, so zu dem Katechismus kommen und durch Lutherum selbst nicht, sondern neuer­ licher Jahren durch jemandt andern dazu gemacht worden“, nicht abdrucken. Ähnlich am 30. September: Buchdruckern und Buchführer soll man die zu Händen genommenen Agendbüchlein mit Herausnehmen desjenigen Bogens, „darinnen bey der Kindertauff des Exorcismi halben ein addition geschehen“, wieder zustellen. Außerdem solle man ihnen verbieten, hinfür keine anderen als erlaubte Agenda nachzudrucken5). Es sollte möglichst alles bei der alten Gewohnheit bleiben und kein Anlaß zu gelehrtem Zwist gegeben werden. Interessanterweise durfte die Universität Altdorf, die sonst alle Veröffent­ lichungen selbst zensierte, dies bei den theologischen Werken nicht; diese mußten nach Nürnberg zur Begutachtung gegeben werden. 1637 wurde diese Verordnung Dr. Georg König in Altdorf erneut eingeschärft6). Später ließ man sie von der juristischen Fakultät zensieren, und diese Verordnung war bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts in Kraft, „aus Gründen von der man­ nigfaltigen Verschiedenheit ihrer Meinungen und Lehrsätze“, wie Will be­ richtet 7). Statt noch weitere Beispiele zu bringen, soll näher auf einen Zensurprozeß eingegangen werden, der sich über mehrere Jahre erstreckte und uns gute Einblicke in die Verhältnisse der Zeit gewährt8). Anfang Mai 1587 hatt die Buchdruckerin Katharina Gerlach ein Buch, genannt „Deluvium", im Druck herausgebracht, das eine von dem Amberger Stadtprediger Martin Oberndorfer besorgte Predigtsammlung des Johann Mathesius war. Sie hatte das Manuskript vorschriftsmäßig zu Paumgartner zur Zensur gebracht und die Druckerlaubnis erhalten. Als aber dann das Werk tatsächlich erschien, erregten einige Stellen desselben Anstoß, und der Rat ließ sich von seinen Theologen überzeugen, daß man durch die Druck­ erlaubnis eines solchen Werkes nur böses Blut machen würde. Die Konfis­ kation führte aber zu Verwicklungen, da der geschädigte Obemdorffer seinen Landesherrn um Interzession bat, zu der sich dieser auch bereiterklärte. Wir greifen einige wesentliche Momente aus den langen Verhandlungen heraus: Das erste, was der Rat in der Sache unternahm, war, daß er die Buchdruckerin in die Kanzlei forderte und diese an Eides Statt erklären mußte, 5) R.V. 30. VIII. 1583 6) R.V. 7. XI. 1637 7*

7) Will, Univ. Altdorf, S. 79 b) S I L 189a

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wieviele Exemplare sie gedruckt und wieviele noch in ihren Händen seien. Auf ihre Angabe, daß sie noch 800 habe, während 200 bereits nach Frankfurt gegangen seien, wird ihr der Verkauf verboten. Ihre wiederholten Gesuche, diesen freizugeben, da des Mathesius’ Werke kaiserlich privilegiert seien und ihr das Werk doch von der Zensur erlaubt worden war, teilt man ihr mit, letzteres sei unrichtig, der Kirchenpfleger habe nur das Konzept des Mathesius in der Hand gehabt, nicht aber die Druckvorlage, die erhebliche Veränderun­ gen aufweise, für die Oberndorffer verantwortlich zu machen sei. Der Rat erwähnte besonders, daß schon am 29. August der (calvinistische) Pfalzgraf Johann Casimir als Administrator der Oberpfalz das Verbot des Werkes ge­ fordert hatte, weil darin die Ubiquität des Leibes Christi behauptet und die­ jenigen, welche „Götzenwerk" aus den Kirchen verbannen, als Feinde des Kreuzes Christi bezeichnet würden. Dadurch verbittere man einen Teil der Reichsstände und fremde Nationen. Das Werk dürfe nur in einer von an­ stößigen Stellen freien Ausgabe erscheinen. Von all dem machte Katharina Gerlach Oberndorffer Mitteilung. Dieser wendete sich nun vor allem gegen die Behauptung, er habe Zusätze zu dem ursprünglichen Konzept gemacht, und bat um sein Manuskript, wenn man den Druck nicht freigebe. Im übrigen habe der Zensor dieses gar nicht richtig gelesen. Aus Mathesius' anderen Werken lasse sich nachweisen, daß er sich immer gegen die neuen „Sakramentierpäpste" gewandte habe. Die Ubiquität verteidige er nicht anders, als sich Luther und Melanchthon darüber ausge­ sprochen, die auch gesagt, daß Bilder, die man nicht anbete, unschädlich seien. Er, Oberndorffer, verstehe überhaupt nicht, warum der Rat das Werk nicht drucken lasse. Ähnliche Schriften seien ohne Anstand gedruckt und mehrfach aufgelegt worden. Im übrigen, was könnte denn aus der „öffentlichen Wahr­ heit" (!) für Nachteil kommen? Doch auch Oberndorffers Vorstellungen beim Rat blieben erfolglos. Die Sache ruhte volle zwei Jahre. Erst als es Oberndorffer gelang, die In­ terzession seines Landesherrn Philipp Ludwig, Pfalzgraf bei Rhein, zu errei­ chen, nahm der Rat die Untersuchung wieder auf. Der Pfalzgraf war Luthera­ ner und sprach sich am 2. September für die Freigabe des Werkes aus. Nun ließ sich der Rat aber vor weiterer Beschlußfassung von seinen Theologen gründlich informieren, und an ihren „Bedenken" können wir deutlich ihre religiöse Stellungnahme zu den Streitfragen ablesen. Der Lutheraner Johann Kaufmann z. Bl, Prediger im Spital, ist für die Freigabe nach Verbesserung einiger Stellen, die in ihrer Formulierung Anstoß erregen könnten. Er meinte, der Rat solle sich ernsthaft um die Sache be­ mühen, damit er sich bei anderen Herren nicht bloßstelle. Henricus Schmidt, Vikar Moritz Helings und Prediger bei St. Sebald, der mehr den Reformierten zuneigte, stellten sich viel negativer zu der Sache. Wenn das Buch heraus­ käme, richte es eine große Verwirrung in den Herzen der Gläubigen an. Es sei ohnehin schon die ganze Stadt voll von der Geschichte (!). Man solle nicht alte Narben durch bissige Redewendungen aufreißen, sondern den Mantel der Nächstenliebe darüber decken. Die Bemerkung, daß die menschliche Natur in Christus so groß sei wie die göttliche, nimmt Schmidt besonders übel. Es sei 100

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überhaupt vieles nicht von „Mathesi Geist“, und Oberndorffer habe eben zugefügt, „damit das Buch wüchse“. Ein Ratsverlaß vom 24. Mai 1590 faßt die Bedenken zusammen und ver­ ordnet, das Werk habe solche Mängel, daß es konfisziert bleiben müsse. Die Buchdruckerin erhielt 400 fl. Entschädigung zugestanden. Zu den uns bekann­ ten anstößigen Stellen kommt noch hinzu, daß einmal Donellus und Beza als Feinde Christi gekennzeichnet und Oecolampads angebliche Sterbeworte zitiert werden des Inhalts, daß es ihm lieb gewesen wäre, man hätte ihm die Hand abgeschlagen, damit er keine Bücher hätte schreiben können. An dem Be­ schluß des Rates änderte auch nicht, daß sich der Pfalzgraf Philipp Ludwig nochmals für Oberndorffer verwendete und Herzog Friedrich Wilhelm von Sachsen am 22. August 1592, von der Witwe des inzwischen verstorbenen Oberndorffer gebeten, sich ebenfalls für die Freigabe aussprach, doch mit der Einschränkung, „wenn keine erheblichen Bedenken vorliegen“. Wir sehen an diesem Beispiel, wie der Rat in die Lehrstreitigkeiten hin­ eingezogen wurde und durch seine philippistische Glaubensüberzeugung wie durch politische Rücksichten veranlaßt seine Entscheidungen traf. Die reli­ giöse Stellung des „Diluvium“ war orthodox-lutherisch, die des Rates und seiner Theologen zum Großteil philippistisch. Durch die Stelle, die kirch­ lichen Bilder u. a. betreffend, wurden vor allem die Calvinisten beleidigt. Dies waren zuviele innere und äußere Verwicklungspunkte für den Rat, als daß er das Werk hätte freigeben können. In der Folgezeit können wir öfter feststellen, daß der Rat Werke, ob er sie nun billigte oder nicht, nicht veröffentlichen ließ, weil er Verwicklungen fürchtete. Die unzähligen Möglichkeiten dazu konnte der Zensor, der oft die Werke nur überflog, beim besten Willen nicht alle kennen. Deshalb konnte manches Werk die Zensur passieren und wurde erst konfisziert, nachdem einer der ersten aufmerksamen Leser Gefährliches darin gefunden hatte. Ähn­ lich scheint es beim „Diluvium“ gewesen zu sein. Man wollte wohl nur den Zensor decken, wenn man behauptete, daß ihm zuerst eine andere hand­ schriftliche Fassung vorgelegt worden war. Freilich, zu beweisen ist diese Vermutung nicht. Auch bei der Konfiskation des Traktats über das „Kyrie Eleison ‘ hat es 1618 Schwierigkeiten mit dem Zensor, dem Prediger bei St. Egydien Melchior Rinder, gegeben. Er hatte an dem Werk nichts Bedenkliches gefunden und seine Unterschrift in der Meinung gegeben, daß der Herausgeber Wolff Schlauersprach auch noch den obersten Kirchenpfleger um Erlaubnis bitten werde, ohne daß er jedoch diesen selbst auf das „verfängliche Werk“ auf­ merksam gemacht hätte9). Wegen seiner Nachlässigkeit bekommt er eine „sträfliche Red“ zu hören, und man droht ihm den Entzug des Zensoramtes. Er solle „seine Zensur nit auf Schrauben stellen oder auf die Superiores ver­ schieben“. Dafür nimmt es der Rat mit dem Werk jetzt genau. Die beiden vordersten Prediger, Johannes Fabricius und Johannes Schröder, werden um ihre Meinung befragt; sie dringen auf das Verbot des Traktates, da einmal 9) B-Laden S I L 196 Nr. 16

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der Titel des Werkes, in dem steht, daß es sich gegen die Photinianer wende, dem Inhalt nicht entspreche, und weil andererseits „dunkle, fremde, unge­ wöhnliche Phrases“ darin stünden, die grübelnden Leuten Anlaß geben möch­ ten, sich mit Gedanken in das „unerforschliche hochehrwürdige Geheimnis der heiligen Dreifaltigkeit gefährlich einzulassen“. Ketzerischen Geist konnte man dem Werkchen nicht nachweisen; nur die geistige Bevormundung, zu der man sich berufen fühlte, konnte das Verbot veranlassen. Es handelte sich um ein Werk des Albertus Magnus, das schon 1491 in Nürnberg gedruckt worden war. Es war ein Hymnus auf Gott, Christus und die Heilstatsachen in der bilderreichen Metaphorik des Hochmittelalters, und man vermutete Sektengeist. Rinder hatte zuerst gemeint, daß es von Tauler sei. Rinder machte überhaupt vieles nicht recht, er hatte anscheinend nicht das nötige Fingerspitzengefühl für Verfängliches. So hatte er 1623 den Traktat des Pfarrers von Kraftshof, Zacharias Theobald, „Der Widertäufferische Geist“, darin wieder „et(t)liche Paß, welche sehr nachdencklich und meinen Herrn (d. h. dem Rat) böse Nachred verursachen“, eingestandenermaßen zwar nach Altdorf zur weiteren Begutachtung geschickt, doch nicht den Kirchen­ pfleger darauf aufmerksam gemacht. Den Theologen war eben gar vieles recht, was außenpolitisch nachteilige Folgen haben konnte. Überzeugte Empörung spricht aus einem Brief Nürnbergs an Frankfurt wegen eines Traktats „Origo et fundamentum religionis Ckristianae“, das gegen die Dreifaltigkeit und die Gottheit Christi gerichtet war. Es war auf dem Predigtstuhl in einer der Pfarrkirchen und an anderen Orten gefunden worden. Der Druck sollte in Frankfurt oder Nürnberg erfolgt sein, und man bat um strenge Nachforschung nach dem Autor. In Altdorf hatte die freigeistige Sekte des Photinianismus Anhänger ge­ funden. Ein Mandat von 161010) drohte, neben der strengen Bestrafung der Anhänger, auch eine Verbrennung der ketzerischen Bücher an. So forderte man den verdächtigen Marx und Martin Adler ihre „schwärmerischen Bücher“ ab, bevor man sie bestrafte n). Einen Sonderfall in der Zensurgeschichte des konfessionellen Zeitalters sehen wir in der Umgehung der offiziellen Nürnberger Zensur durch den ge­ feierten Mann der Orthodoxie, Magister Johannes Saubertus12). Er hatte 1633 mit Privileg der Krone Schwedens ein „Zuchtbüchlein“ drucken lassen und nur die Billigung seiner Nürnberger Kollegen eingeholt. Das Büchlein handelte von der einzuführenden strengeren Kirchenzucht, die der sittenver­ derbende Krieg nötig mache, von der strengeren Bestrafung und Entehrung der Eltern unehelicher Kinder usw. Der Verfasser befürchtete wohl, daß der nüchterne Rat dagegen sein werde. Der Ratskonsulent Dr. Hülß meinte, um sein Gutachten befragt, „wenn man nun gegen Saubertus vorginge, käme man nur in Schwierigkeiten mit Schweden und fremden Theologen, die teils das Büchlein gelesen, teils es mit Sehnsucht erwartet hätten“. Auch an der Sorbonne lasse man manchmal Sachen, die 10) Drucksachen 40 “) R.V. 14. III. 1617

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ohne Zensur gedruckt, hingehen, in der Meinung, daß dies „in favorabilibus“ nichts schade. „Wozu dann die Sorbona den Evangelisten Johannem soweit anziehen, der Geist Gottes wäre zur mensur nicht gebunden ... Es heist bisweilen bey der Obrig­ keit loquere et scribe, ut te videam, neben deme es verantwortlicher, daß solch büchlin allhie dann an anderen orthen, getrucket worden, welches ein anzeig gegeben, ob hette hiesigen Magistrat die displicenz wegen einer kirchenzucht beygewohnt". Dieses Odium wollte man wahrhaftig nicht auf sich laden! So ist Saubertus mit seinem Zuchtbüchlein ohne Vorwürfe von seiten des Rates davonge­ kommen. Eine besondere Gattung indirekter Zensurerlässe stellt die Überprüfung der dem Rat gewidmeten Bücher dar. Die Autoren kannten das geistige Interesse und die Eitelkeit des Rates und versprachen sich nicht zu unrecht eine ansehnliche Einnahme davon. Der Rat ließ solche Bücher von Fachgelehrten überprüfen und bestimmte dann die Höhe der „Verehrung". So übersandte 1630 der „Kurfürstlich1 Sächsische Oberhofprediger zu Dresden“, Matthias Hör, sein theologisches Werk an den Rat, der es zur Begutachtung und Einschätzung an seine Prediger weitergab 13>. Dem Kandidaten der Heiligen Schrift Wilhelm a Vallo gestand man 12 fl. Verehrung für seine „historische (Konsignation allerley Acten zu Religionssachen“ zu, doch nur unter der Bedingung, daß er aus dem Vorwort den Passus streiche, in dem fälschlich behauptet wird, Nürnberg habe das Concordienbuch unterschrieben 14).

b) Rücksichten auf den Kaiser und die katholische Kirche Mitten im Dreißigjährigen Krieg ist Nürnberg mit dem Kaiser in Zensur­ streitigkeiten verwickelt worden, die uns deutlich mit dem Geist in Berüh­ rung bringen, der von der Gegenreformation ausging. Kaiser Ferdinand II., gehorsamer Schüler der Jesuiten und Erfüller ihrer Wünsche, führte 1629 einen massiven Angriff gegen die bestehenden Verhältnisse bei der Publika­ tion theologischer Streitschriften. Es ist bekannt, daß der Ton der Streitschrif­ ten im konfessionellen Zeitalter an Grobheit nichts zu wünschen übrig ließ; es steht aber ebenfalls außer Zweifel, daß es sich dabei beide Seiten gleich­ zutun bemühten. Nun faßte der Kaiser den Begriff der Famosschrift plötzlich wieder in der Art auf, wie etwa Karl V. in seinen Zensuredikten. Mit Recht fühlten sich die Protestanten durch diese einseitige Auslegung der Reichs­ gesetze in den Rechten, die ihnen der Religionsfriede zusprach, beeinträch­ tigt. Am 12. März 1627 sandte der Kaiser ein Mandat an den Rat von Nürn­ berg, Straßburg und Ulm und befahl, daß alle von dem Tübinger Professor Theodor Thumm verfaßten Schriften, deren Titel zum Teil genannt wurden, zu konfiszieren und nach Wien zu schicken seien. Unter ihnen befänden sich „famosschriften gen den Kaiser und die uralt katholische Religion" 15). Schon am 13. Februar war ein solches Gebot an den Herzog Johann Fer­ dinand von Württemberg gesandt worden mit dem Zusatz, er solle die „thumbe Persohn" bis auf weiteren Befehl inhaftieren. Am 9. März drückte der Herzog dem Kaiser sein Befremden über dieses Ansinnen aus und erwähnte klagend die „parteylichen affekten" der Jesuiten, erklärte sich aber zur Aus13) R.V. 9. XII. 1630 14) Brfb. 230a, 14. III. 1611

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führung bereit. Seinen Professor inhaftierte er jedoch nicht, sondern gab ihm Gelegenheit, sich umfassend zu dem Fall zu äußern le). Dieser schrieb, er habe sich niemals gegen den Kaiser gewandt, sondern immer zum Gehorsam ge­ mahnt. Wenn er die bedrängten österreichischen Protestanten zum Festhalten an ihrem Glauben aufgefordert habe, so habe er im übrigen das schon getan, bevor die Länder ob der Enns Besitz des Kaisers geworden seien. Wenn er manchmal etwas hitzig geschrieben, so habe er damit nur im Ton der Jesuiten gesprochen, die unter anderem die evangelischen Fürsten „venenatae bestiae“ genannt hätten. Wenn er den Papst als Antichrist bezeichnet habe, so sei das ein Glaubenssatz der protestantischen Kirche und kein politisches Iniurium. Er, Thumm, sei an sich bereit, sich gegen freies Geleit in Wien zu stellen, doch das sei wegen der „fraudulentia Jesuitarum praxis“ in Eidessachen nicht ratsam. Thumm weist den Herzog darauf hin, daß die ganze Sache sehr wohl zu einem Präzedenzfall geeignet sei; am Ende würde jede evangelische Predigt als crimen laesae Majestatis aufgefaßt. Was tut nun aber die Reichsstadt? Dem Kaiser gegenüber zeigt sie sich, wie man das auch in Württemberg tat, scheinbar gehorsam. Man instruiert die Buchdrucker und berichtet nach langen Beratungen Mitte Juli (fünf Mo­ nate nach dem kaiserlichen Mandat) in einem Brief die Ausführung des Be­ fehls. Man übergeht aber stillschweigend den Passus, der die Verschickung der Bücher nach Wien anordnet, und bittet, daß der Kaiser auch gegen die Schriften, die der Stadt abträglich seien, wie die „Nova Apokalypsis“, Vor­ gehen solle. Darin werde behauptet, die Stadt hätte Böhmen mit aus der Bürgerschaft erpreßtem Geld unterstützt. Weit interessanter sind für uns jedoch die Gutachten der Nürnberger Juristen und Theologen, die der Rat in dieser gefährlichen Sache sehr oft einholt. Daß am 13. März alle sechs Ratskonsulenten zur Begutachtung des Falles beigezogen werden, unterstreicht die Bedeutung, die man in Nürnberg der Sache beimißt. Sie erklären: wenn „secundum conscientiam judiziert wer­ den sollte", so müsse man es für sehr gefährlich halten, daß man Bücher kon­ fiszieren solle, „daraus der gemeine mann sein underricht“ nehme. Ähnlich gehe man in der Türkei gegen die Christen vor. Wenn man so die Buchführer bedrohe, dürften sie in kurzer Zeit kein evangelisches Buch mehr verkaufen. Man ginge in der Nachgiebigkeit schon viel zu weit, so „temperiere“ man in Wittenberg bereits mit dem „Erhalt, uns, Herr ..." (einem Kirchenlied Luthers, das Gott um die Erhaltung des Glaubens und Bewahrung vor „der Feinde Mord“ bittet). Man solle überlegen, ob die drei Städte nicht gemein­ sam mit einer Apologie hervortreten und Kursachsen um Unterstützung er­ suchen sollten. Die Antwort an den Kaiser könne man ruhig so lange hin­ auszögern, bis die Buchhändler von den Messen zurückgekommen seien. Der Rat nimmt nun Fühlung mit Ulm und Württemberg auf. An seinen Agenten Löw in Wien schreibt er, er möchte den kaiserlichen Spitalmeister, der die Bemerkung gemacht: „Die Nürnberger müßten doch einmal in den saueren Apfel beißen“, weiter ausfragen, damit man die Stimmung am Hofe 10) Stadtarchiv Kirchenamt 39

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besser kennenleme. Der Konsulent Tüschlin meinte, daß sich alle evangeli­ schen Stände hinter Thummius stellen und die Frage der jesuitischen Streit­ schriften damit aufrollen sollten. Dr. Oelhafen sah die Sache pessimistischer an. Er verspreche sich nichts von einem solchen Vorgehen, denn „der Feinde seien zu viel". Ganz grundsätzlich nehmen die Theologen die Sache und lassen sich in ihrem Eifer zu manchem hinreißen, was ihnen die Juristen sehr verübeln. Vor allem verbietet ihnen der Rat, eigenmächtig mit dem Stuttgarter Konsisto­ rium, das sie um ihre Meinung befragt, zu verhandeln. Der Rat wollte jedes Schriftstück sehen, das in dieser Sache Nürnberg verlasse. Denn es bräuchte dem Konsistorium nur einfallen, das Nürnberger Gutachten zu veröffentlichen, und schon könne man in die größten Schwierigkeiten kommen. Den scharfen Stil Thummius’ schrieben die Theologen seinem „brünstigen Theologischen Eifer oder der sonderbaren Direction Gottes" zu. Auch sie führten das Argument an, daß man den Protestanten kein „crimen laesae Sanctitatis pontificae" zuschreiben könnte, wenn sie den Papst als Anti­ christen bezeichneten, denn sie ständen ja nicht unter seiner geistlichen Juris­ diktion. Die Jesuiten hätten überhaupt kein Recht, sich über Beschimpfungen zu beschweren, die „Prediger, Doctores und Professores beneben den Luther und Augspurgischen Konfession auffs schandlichst verketzern, schmähen, schänden und also ausmachen, daß auch fast kein Hundt, wie wir in unserem teutschen Sprichwort zu sagen pflegen, ein stuckh Brod von Ihnen nehme, darinn dan sonderlich unsere benachbarte Jesuiten zu Dillingen und Ingol­ stadt Meister und die Vornembsten Hanen im Korb sein." Die Juristen sind nun mit der Arbeit der Theologen nicht einverstanden. Sie hätten sich nicht in gelehrten Streit einlassen, sondern Thumms Schriften zur Hand nehmen und die anstößigen Stellen darin dem Rat zeigen sollen, damit sich die Obrigkeit vor dem Kaiser verantworten könne, denn darum ginge es eigentlich. Dr. Oelhafen, der Wortführer, meinte: „und ist in Wahrheit (der Lehre dadurch nichts zu nahe geredt) ein solch genus hominum umb unsere Theologos, wann Geistliche Sachen fürkommen, daß sie wo! begeren dürfen ... die politische Räth nicht darumb zu hören, Oder vermeinen, weil ihnen verbotten, einen fueß uff dem Rathaus zu haben, das die Juristen auch nicht beten lernen sollten, welches zu einem Neuen Papsttumb geriete".

Da sich die Sache so lange hinzog, wurden natürlich auch die Buchdrucker, denen man die Bücher konfisziert hatte, unruhig. Am 14. November 1627, acht Monate nach der Beschlagnahme, fragte Simon Halbmeier beim Rat nach und bat um eventuelle Rückgabe. Er hatte 121 Bände abgeliefertl Der Rat mahnte zur Geduld und ließ die „Personalia", d. h. die anstößigen Stellen, von den Juristen und Theologen exzerptieren, um einen Überblick zu bekom­ men, ob alle Bücher anstößig seien. Der Wiener Agent wird aufgefordert, er solle „in der still nachfrag haben", ob sich der Kaiser mit dem Verbot der anstößigen Werke begnügen werde oder ob man auf der Ablieferung nach Wien bestehe. 105

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Dies ist nun nicht der Fall gewesen; die Nachrichten brechen jetzt ab, und die Sache scheint im Sande verlaufen zu sein. Dieses Beispiel zeigt uns, in welch hilflose Lage die schwache Reichsstadt kommen konnte, wenn ein zielbewußter Kaiser seinen Willen durchsetzen wollte. Wie stolz und selbstbewußt war der Rat bei aller Vorsicht in der Re­ formationszeit, und wie unsicher tastend war er jetzt geworden! Natürlich hatte diese ängstliche Vorsicht auch ihre Grenzen. Der Pfarrer Laurentius Laelius aus Ansbach wollte im Juni 1619 einen zum Teil gegen die Jesuiten gerichteten Traktat „Clavis Linguarius' bei Simon Halbmeier drucken lassen, der das Werk zur Zensur gab 17). Der Rat nahm es, durch die Erfah­ rung belehrt, bei solchen Dingen sehr genau und ließ sich neben dem offi­ ziellen Zensor M. Rinder auch von zwei Konsulenten beraten. Dr. Hülß wägt in seinen Bedenken vom 1. Juli 1629 sehr umsichtig ab. Er sei nicht der Meinung, daß man Ansbach als Druckort angeben soll („allermaßen zu Genff manchmaln Lyon herhalten muß“), da ja ein Nürnberger Geistlicher auch ein solches Werk schreiben könne und im Religionsfrieden die Verteidigung des Glaubens in Wort und Schrift den evangelischen Ständen zugebilligt worden sei. „Aber wie deme, weiln das Wort Gottes offt genug nicht kann geredt, gepredigt oder geschrieben werden, und es nicht das Ansehen habe, als wollte man der Bib­ lischen schrifft halben als Zärtling aller Gefahr entweichen, so vergleich ich mich mit dem Herrn M. Rinder (der den Druck befürwortet hatte) umb so viel mehr, weil man den H. Laelium provocirt, und derselbe der vehementz wegen an sich gehalten."

Ähnlich äußerte sich Dr. Richter. Er betonte vor allem, daß Laelius keine „scharfen personalia“ gebracht und man froh sein könne, wenn alle theologi­ schen Traktate so anständig abgefaßt wären. Das Werkchen ist nicht uninteressant; es ist dem Markgrafen Friedrich von Brandenburg gewidmet und stellt eine Art Fürstenspiegel dar. Dem Landesherm wird tägliches Lesen der Schrift empfohlen; er solle sich jedes Prunks enthalten, keine weiten Reisen machen und nicht so viel Geld für prächtige Rosse verschwenden. Er solle sich fleißig um die Untertanen, um Recht und Ordnung kümmern, kurz: Das Ideal des protestantischen Wohlfahrtsstaates wird mit wenigen Strichen entworfen. Dann folgt ein Vorwort an die Leser: sie werden gewarnt, sich nicht von den neuesten Jesuitensprüchen imponieren zu lassen, zumal denen des Eichstätters Gebhard Ratzenried, der sein „gefer­ tigtes libell als ein antidotum und gewisses mittel wider der Ketzerey Pestilenzisch Gifft gerühmet“. Am Ende schlägt der Verfasser sehr versöhnliche Töne an und schreibt, „daß man doch mit der Verketzerei und Lästerei an sich halten solle, da dies doch wahrhaftig keinen Wert habe und aus jeder Defension wieder eine Offension werde“. Manche Sorge bereitete dem Rat ein kaiserliches Druckprivileg, das dem Buchdrucker Georg Bndter und seinen Kindern und Verwandten zugestanden 17) B-Laden S I L Nr. 11

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worden 18). Als 1628 Georg Endter jun. seine Druckerei von Fürth nach Nürn­ berg verlegte, verband der Rat die Erlaubnis dazu mit dem Verbot, weiterhin katholische Literatur zu drucken. Als aber die Witwe Georgs, Kunigunde, nicht aufhörte, katholische Bücher zu drucken und Simon Halbmeier sich des­ halb beim Rat beklagte, ließ man 1630 bei der Endterin eine Haussuchung vornehmen, die ergebnislos verlief. Sie wurde aber 1636 wiederholt, und als man nun katholische Bücher fand, sperrte der Rat die Buchdruckerin in den Turm. Der Rat ließ nachfragen, ob sie oder ihre Kinder katholisch oder evan­ gelisch seien und ob man nicht von seiten des Konsistoriums der Endterin Vorhaltungen machen solle! Inzwischen hatten sich aber schon ihre Söhne an den Kaiser gewandt, der sofort die Freilassung befahl. Man versuchte aber weiterhin jedes Mittel, um der Endterin Schwierigkeiten zu machen. Als sich 1637 Niclas Heinrich, kur­ fürstlich bayerischer Hofbuchdrucker, beschwerte, daß die Endterischen Erben ihm vom Kaiser privilegierte Bücher nachgedruckt hätten, meinte Dr. Richter: „daß durch dieses Mittel gar woll die Endterische Katholische gedruckte bücher konfiscirt (werden könnten), und sich dieses Schreibens so in gute Ver­ wahrung zu nemen, (und sich) fürohin wider ermelte Endterische Erben zu bedienen sei". Gegen das kaiserliche Privileg konnte man aber nicht ankommen, neue Versuche in den Jahren 1643 und 1663 führten auch nicht zum Ziel19).

c) Astrologie und Hexenglaube Biedere Frömmigkeit, gepaart mit Rationalismus, veranlaßte die Stadt­ väter, Wahrsagerei und sensationelle Wunderberichte zu verbieten. Oft handelte der Rat aber auch aus praktischen Erwägungen, wenn in einem Kalender Voraussagen gebracht wurden, die bei anderen Ständen An­ stoß erregen konnten. So verbot der Rat 1556 die „Praktiken" des Stadtmathematikus Haiden „aus allerhand Ursachen" und schrieb an den Syndi­ kus Volcker Reutter in Frankfurt, er möge die dort zum Verkauf liegenden Exemplare „unvermerkter Weise" aufkaufen 20). Auch mit Kalendern nahm man es sehr genau. Ein „Kalendarium Perpetuum", das der Kapitän Johann de Grabbe dem Rat verehrt hatte, ließ man vom Altdorfer Mathematikpro­ fessor Abdias Treu und anderen Fachleuten begutachten 21). Am 19. September 1645 bekam der Astronom Marx Freund eine strenge Zurechtweisung, weil er in seinem Kalender mehr gebracht als er zur Zensur gegeben hatte. Er solle mit politischen und militärischen Sachen überhaupt „behutsamlicher" umgehen, und Dr. Hülß (damals Zensor der politischen Schriften) solle derartige Stellen einfach durchstreichen. Überhaupt sehe man seine Kalendermacherei hier nicht gerne, denn er habe „schon offt notorie 18) Oldenbourg, S. 69 19) Oldenbourg, S. 60

20) Brfb. 176 10. VIII. 1566 21) B-Laden S I L 196 Nr. 8

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ge fehlet", und der Rat könne durch solche „Partikularitäten bey jezigem Reichszustand in Ungelegenheit gerathen“. Durdi die Klage des Kupferstechers Pfann gegen seinen Auftraggeber Michael Schneider, der die versprochene Summe nicht zahlen wollte, kam dem Rat ein Kupferstich mit allerlei chaldäischen, griechischen und lateinisdxen Wörtern, Bibelzitaten und Zeichen zur Hand 21). Zu diesem Fall äußerte sich Dr. Hülß in seinem Bedenken folgendermaßen: Wie man die „Mathesis immer mehr zur Zauberei heranziehe, so tue man es auch mit dem Wort Gottes. Durdi Wundersagen suche man den Leib durch „imaginarische salvirung“ vor Schaden zu hüten, wodurch aber unter Verleugnung Gottes die Seele um so mehr in Gefahr komme. Es sei sehr ärgerlich, daß gerade in Zeiten der Not mit solchen Sachen Geschäfte gemacht würden, wo man doch viel eher beten solle. Man verteile solche Dinge unter ganze Fähnlein und Regimenter. Auf den Leuten, die durch solche Sachen die ewige Verdammnis heraufbeschwören, liege eine sehr schwere Verantwortung. Man solle Pfann ein paar Tage auf den Turm schaffen. Im Wiederholungsfälle müsse man nach den Reichsgesetzen gegen ihn Vorgehen. Die Klage Pfanns sei abzu­ weisen, er hätte sich in einen solchen Handel gar nicht einlassen sollen. Michael Schneider erklärte beim Verhör, ein böhmischer Edelmann habe ihm die Zeichnung vor etwa dreiviertel Jahren mit dem Auftrag, sie stechen zu lassen, gegeben, habe aber inzwischen nichts mehr von sich hören lassen. Der Kupferstecher hingegen sagte, Schneider habe ihm erklärt, der Stich nütze gegen Stechen, Spießen und Krankheiten, „wenn man ihn zur gewissen Stund, die er ihm aber nicht gemeldt, auffdrucke und anhänge“. Er habe den Astronomen Mauritius Huberinus um seine Meinung befragt, der nichts Ver­ dächtiges daran gefunden hätte. Als der Rat nun den Astronomen vorlud, erklärte dieser, er habe weder zu- noch abgeraten, da er nicht gewußt habe, was die Zeichnung bedeuten solle. Schneider und Pfann wurden für einige Zeit auf einen Turm geschafft. Anfang August 1627 ging der Rat gegen eine sog. „Drudmzeitung vor, deren Drucker man in Nürnberg vermutete. Es handelt sich um einen Einblatt­ druck in Folio, auf dem neben zwei rohen Holzschnitten 25 Verse stehen, die das Treiben der Hexen um Bamberg und Würzburg beschreiben, die als Teufelsbuhlen Mißwadis, Teuerung und den Tod von Kindern verursachen würden. Die Verse stellen eine Fundgrube des Hexenglaubens dar, und am Ende werden wir durch Zitate von Hexenaussprüchen über deren Gewohn­ heiten belehrt. Als Druckort der Drudenzeitung war Schmalkalden angegeben. Der Stadtknecht Endres Weisbart entdeckte, daß die Zeitung bei Lochner gedruckt worden war. Der verhörte Lochner gab nun an, daß sein Bruder Christoph, der zur Zeit verreist sei, das Werk als einen Auszug aus einem Würzburger Traktat gedruckt habe. Der Rat ließ daraufhin alle Exemplare, die auffindbar waren, konfiszieren und den Stock auf die Registratur schaffen und zerschlagen. Christoph Lochner aber sollte, sobald er wieder in die Stadt komme, auf den Turm geschafft werden. 108

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Politische Zensur im Dreißigjährigen Krieg a) Pasquillen Wenden wir zunächst unsere Aufmerksamkeit dem Verhältnis des Rates zu seinen Bürgern zu, so gibt uns die meist handgeschriebene Pasquillenliteratur ein beredtes Zeugnis von den Gärungen im Inneren. Wenn auch nie zum Ausbruch gekommen, sollten sie von nun an bis zum Ende der Reichsstadtzeit nicht mehr aufhören. Freilich, wir werden uns hüten müssen, die Bedeutung dieser Blätter zu hoch einzuschätzen, doch ihr plötzliches Auftauchen war nicht von ungefähr. Die ungeheueren Ausgaben,Einquartie­ rungen, Kontributionen und oft vergeblich erkauften Salvaguardien brachten für die Bürgerschaft ungeheuer große Steuern und Zwangsanleihen mit sich, und es kam schließlich so weit, daß nur noch die Patrizier und wenige andere Familien ein lebenswertes Dasein führen konnten. Dabei war die Finanz­ verwaltung des Rates völlig geheim, so daß sich fast niemand ein Bild von den tatsächlichen Verhältnissen machen konnte. Daher nahm mancher Hand­ werker die Feder in die ungelenke Hand und schrieb sich den Groll gegen seine Obrigkeit von der Seele. Man heftete die Pasquillen an öffentlichen Gebäuden an und konnte sicher gehen, daß sie durch den Büttel oder auf andere Weise den Weg in die Ratsstube finden würden. Die Pasquillen sind alle undatiert, und die Ratsverlässe sprechen nur ganz allgemein von ihnen, so daß wir nur selten feststellen können, welches im betreffenden Falle gemeint war. Ein Mandat vom 16. Januar 1635 berechtigt uns zu der Annahme, daß die Flut um diese Zeit ihren Höhepunkt erreicht hatte. Über was beklagte sich nun der gemeine Mann? Mummenhoff berichtet22), daß man 1621 über die hohen Kosten, die der neue Rathausbau machte, öffentlich gemurrt habe. Man beklagte sich über die Teuerung und die Not der Armen. Der Rat gebe sich inzwischen mit Kleiderbüchlein und Geschenk­ ordnungen ab, die Armen aber lasse er zugrunde gehen. Man schimpfte über das Pfandhaus, wo die Dirnen mit dem schönsten Schmuck ausgestattet würden, über Wucher und Geiz der Stadtväter, da sie durch ihre Losungs­ restantenbestimmung (säumige Steuerzahler betreffend) verordneten, daß man denen, die nicht zahlen konnten, das Letzte wegnehmen werde. Einer jammert, daß er wegen seines Alters nicht mehr Soldat werden könne und sich doch der Seligkeit halber das Leben nicht nehmen wolle. Man klagt über zu hohe Bezahlung der Ämter, daß man von den Bürgern das Silbergeschmeid ab­ verlangt habe, die Herren aber doch nur im Trüben fischen und sich durch Subsidien bei den Schweden in gutes Licht setzten wollten, wie der schwe­ dische Gesandte selbst gesagt habe 2S). Man droht mit dem Aufstand, bei dem man nicht das Patrizierkind im Mutterleib schonen wolle. Die tyrannische Obrigkeit habe aus dem „inner­ lichen Krieg" vor dreihundert Jahren scheinbar nichts gelernt (Anspielung 22) Ernst Mummenhoff, Das Rathaus zu Nürnberg, Nbg. 1891 S. 1-40

23) S I L 218 Nt. 6

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auf den Aufstand von 1348). Besonders den Dr. Wölker, der an den Steuer­ auflagen schuld sei, solle man totschlagen. Man droht, wenn es so weitergehe, werde man die ganze Gesellschaft auf dem Rathause verbrennen. Dann werde man der Tyrannei schon ab­ helfen und dem „makwiaweller, dem Almosenfresser“ auf die Finger klopfen. Man werde die ganze Sache bei den kaiserlichen Räten anhängig machen und in Druck kommen lassen. „Deswegen ich den gemeinen mann gewiß dazu bringen will, das die ganze freundschaft samt Häusern bis auf den Grund ausgerottet werde.“ ,,B'. v. D., Hauptmann, im Namen der ganzen desperirten gesellschaft geschrieben.“ Ein andermal beklagen sich die von der Stadt geworbenen Söldner, daß man ihnen keinen Sold gebe und doch von der Bürgerschaft das Letzte herauspresse. Sie wollten bis Lichtmeß ihr Geld, oder man werde Steine in die Fenster werfen und beim Tag die Herren totschlagen. „Ihr macht, daß mancher Ehrliche man zu Einem Dieb und Räuber Muß werden, mir haben uns lang genug geduldet . . . unser gelt wellen mir haben, vor Gott und der Welt haben wir’s ehrlich verdient.“ Die Konsulenten und der Rat ließen sich aber nicht allzusehr von den Pasquillen beeindrucken. Dr. Hülß meinte, solche Pasquillanten habe es zu allen Zeiten gegeben, bellende Hunde pflegten nicht zu beißen, und man müsse ihnen nur streng begegnen. Der Pfänder solle durch geeignete Per­ sonen ihnen nachspüren lassen. Prediger und Viertelmeister sollten in der Sache bemüht werden. Man dürfe sich auch nicht durch die vermeintliche Zahl schrecken lassen, es seien doch immer viel weniger. Dann führte er Beispiele an, wie man in Mailand und Venedig in solchen Fällen vorgehe. Der Rat meinte, mit einem in scharfem Ton abgefaßten Mandat genug getan zu haben24). In der ausführlichen Einleitung streicht er heraus, wie er nun trotz der „nunmehro langwährenden kümmerlichen Zeiten“ das Seine bis an die Grenze des Möglichen getan habe. Nun habe er mit äußerster Bestürzung erfahren, daß einige Pflichtvergessene „boshafftiger und auf­ rührerischer Weis“ in Worten und Werken den Rat beschimpft und ver­ schiedene Pasquillen veröffentlicht haben und sogar Leib und Leben be­ drohten. Auf Grund der Reichspolizeiordnung sei dies verboten, und der Rat werde als Obrigkeit gegen diese Leute Vorgehen. Er nehme an, daß alle ehrbaren Bürger damit einverstanden seien und forderte diese auf, zur Fest­ nahme der Übeltäter beizutragen. Angebern werden 30 Gulden Belohnung versprochen. Zu einer tätlichen Empörung ist es aber nicht gekommen, mail fühlte sich wohl zu schwach. Auch werden nach dem Kriege Erleichterungen spür­ bar geworden sein.

*4) B-Laden S 1 L 196 Nr. 6

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b) Kriegsberichte und Kriegsliteratur Doch nicht die Pasquillenliteratur, gegen die man mit Polizeimaßnahmen vorging und die nur am Rande unserer Betrachtung als Beispiel der Einschrän­ kung der Meinungsäußerung erwähnt werden mußte, berechtigt uns, von einer Politisierung der Zensur zu sprechen. Erst die Verhältnisse des Dreißigjährigen Krieges rechtfertigen diese Bezeichnung. Die Politik Nürnbergs zeugte in diesen Jahren von nicht allzugroßem Glaubenseifer, ähnlich derjenigen der meisten deutschen evangelischen Reichsstände. Sie war durch äußerste Zurück­ haltung gekennzeichnet. Wie vorsichtig verhielt man sich gegenüber Gustav Adolf; erst als ihm das Waffenglück hold war und er die Stadt bedrängte, schlug man sich auf seine Seite/ Der lutherische Obrigkeitssinn, die schwierige Lage der Stadt und das sichere Gefühl, daß mit dem Kaiser auch die Be­ deutung als Reichsstadt sank, veranlaßten den Rat, so lange wie möglich kaiserfreundliche Neutralität zu bewahren. Freilich, man schloß sich der Union an, man Unterzeichnete den Leipziger Schluß; verfolgen wir aber die endlosen Verhandlungen, die dabei geführt wurden, so war Neutralität das letzte, was man dem Kaiser gegenüber wagte. Nur zwei Jahre, von 1632 bis 1634, war man auf Seiten der Schweden, durch ihren Siegeszug veranlaßt. Die Last des Krieges war aber dabei nur größer geworden. Betrachten wir diese Politik der Vorsicht aus Schwäche, die aus Angst vor Komplikationen kein eindeutiges Wort zuließ, so gewinnen wir doch die Überzeugung, daß man mit äußerstem Geschick auf das Wohl der Stadt bedacht war; männliche Aufrichtigkeit konnte sich eben nur der Starke leisten. Man muß die ungeheuer schwierige Lage der evangelischen Reichsstadt im Süden kennen, um ihre Zensur in diesen Jahrzehnten verstehen zu können. Wie weit der Rat in seiner Festigkeit bei religiösen Zensurfällen ging, haben wir oben gesehen. Diese traten aber immer mehr in den Hintergrund, während die Politik des Tages an Bedeutung zunahm. Die Abhängigkeit des politischen Geschehens von religiösen Fragen trat von Tag zu Tag mehr zurück, besonders nach dem Eingreifen Frankreichs auf evangelischer Seite. Etwa einen Monat nach dem Prager Fenstersturz gestattete der Rat noch seinen Buchführern den Verkauf der „Apologia der Böheimisdien Stände“. Ein Ratsverlaß vom 15. Juli spricht aber die Bitte aus, die Buchführer möchten das Drucken von „Neuen Zeitungen" unterlassen und den Kirchenpfleger nicht damit belästigen. Diese bei besonderen Ereignissen erscheinenden Blätter sollten dem Rate gerade im Kriege noch viele Sorgen bereiten. Es wurde zwar oftmals versucht, aber die „Zeitungen" ließen sich nicht verbieten. Ausgesprochen ablehnend verhielt sich der Rat 1619, als sich die Lage durch die Wahl Friedrichs von der Pfalz zum böhmischen König zuspitzte. Eine lateinische Schrift, in der die böhmischen Stände unter anderem dem Kaiser Wortbruch vorwarfen, wird verboten. Außerdem ließ der Rat im Wirtshaus „Zum goldenen Hirschen" „beim Zollhaus" nach einer fremden Person fahnden, weil sie die „böhmischen Discours" zum Teil hier, zum Teil in Amberg zum Druck befördert hatte. Auch bei den Buchdruckern ließ man die Sache weiter verfolgen. 111

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In welch peinliche Lage der Rat durch die verwickelte politische Situation dieser Jahre geraten konnte, zeigt ein Fall vom Jahre 1620 2o). Simon Halb­ meier hatte eine „Epistola Wenzeslai Merosckwa Behemi“ in lateinischer und deutscher Fassung auch nach dem Verbot durch den Rat weiterverkauft. Es handelt sich dabei um einen fingierten Brief. Ein Böhme, eben dabei, nach Italien zu fahren, schreibt an seinen Freund Johannes Traut in Nürn­ berg. Die Epistel ist mit großem politischen Geschick geschrieben und will, bei eindeutig kaiserlicher Tendenz, Nürnberg zur Intervention in Böhmen auf Seiten des Kaisers und Sachsens bewegen. Dabei werden nun allerlei Argumente angeführt. Einmal werde der Kaiser eine Neutralität Nürnbergs als Meineid auslegen; dann sei es doch besser, auf Seiten des lutherischen Sachsen als des calvinistischen Pfälzers zu stehen. Im Falle eines böhmischen Sieges brauche man sich keine Hoffnung zu machen, daß Nürnberg Gebiets­ teile von Bamberg und Würzburg bekommen werde, da gebe es viel zu viel landlose Adlige, die berechtigtere Hoffnungen haben könnten. Wenn Nürn­ berg auf die böhmische Seite trete und somit in die Acht falle, könnte der egoistische Rat seine Wunder erleben28): „Man weiß doch, daß an manchen Orten der gemeine mann nicht als aus Forcht vor denen Ratspersonen, von welchen er wie von Juden ausgewuchert und beschwert worden, gehorsam (ist), was würden sie für eine Gelegenheit an der Hand haben, eine solche Obrigkeit zu verjagen oder gar totzuschlagen. Dazu dürften sie keines Meutmachers oder Aufwieglers, denn auch die ehrliche friedliebende Burger wären befugt, gegen Ächtern auf zu sein."

Diese zum Teil recht massiven Angriffe veranlaßten den Rat, die Epistel als „schändlich" zu bezeichnen, in der „die Stadt Nürnberg uf das heftigste angegriffen werde" 27). Da Paulus Welser als der Verfasser bekannt war und die Episteln in Augsburg gedruckt wurden, beschwerte man sich dort, denn Augsburg hatte, soviel man wußte, selbst den Verkauf der Episteln verboten. Man suchte nun die Verantwortlichen in Nürnberg festzustellen und ver­ hörte zunächst den Buchdrucker Halbmeier. Der erklärte, er habe das Werk im Auszug zur Zensur gegeben und von Georg Volckamer die Erlaubnis zum Verkauf erhalten, allerdings unter der Bedingung, daß er vorsichtig damit umgehe. Dann aber sei das Werk verboten worden. Er habe es aber auf das Drängen einiger angesehener Personen hin weiterverkauft, jedoch darum gebeten, daß er die Exemplare bei etwaigen Schwierigkeiten wieder zurück­ bekomme. Halbmeier reichte nun eine Liste ein, auf der alle Personen ver­ zeichnet waren, denen er Exemplare verkauft hatte. Als Käufer nach dem Verbot war eine große Anzahl von Ratskonsulenten, darunter Dr. Hülß mit drei, Dr. Oelhafen mit zwei und Magister Johann Schmidt mit einem Exemplar angegeben. Was wollte man nun dem armen Buchdrucker anhaben, wenn solch bedeutende Staatsbeamte die „Schmachepistel" gekauft hatten? Man entließ ihn mit einer „sträflichen Red", schärfte ihm die Zensur ein und bedrohte ihn bei neuen Übertretungen mit dem Entzug des Bürgerrechts. 25) B-Laden S I L 196 Nr. 7 26) Stadtbibi. Bibi. Will, 437

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27) R.V. 31. VII. 1620

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Fassen wir aber zunächst einmal die Zensurerlässe des Rates ins Auge, soweit sie sich gegen Schriften wenden, welche, sich im allgemeinen einer eigenen Stellungnahme enthaltend, lediglich die Tagesereignisse berichten. Wir haben es dabei mit dreierlei Gattungen zu tun: 1) Gedruckte Einzelblätter, sog. „Neue Zeitungen 2) Handschriftliche Zeitungen der Nürnberger Zeitungsschreiber. Sie wurden zunächst zensiert. Der Rat hatte aber gegen die Zeitungsschreiber nur eine geringe Handhabe, da sie keine Bürger, sondern nur Schutzverwandte waren. Schon 1587/91 hatte es in Nürnberge handschriftliche Wochen­ zeitungen gegeben. Es waren Berichte, die von den Hauptkorrespondenz­ orten Rom, Wien, Augsburg, Straßburg, Frankfurt, Leipzig, Prag, Ant­ werpen, Paris und auch aus Nürnberg stammten. Die Zeitungsschreiber der betreffenden Städte sandten ihren Kollegen Abschriften, die diese dann weiter vervielfältigten und verkauften 28). 3) Gedruckte Wochenzeitungen, die es 1620 und 1627/31 in Nürnberg gab. Herausgeber und Drucker waren identisch und unterstanden strenger Zensur 29). Auch bei den geschriebenen Zeitungen konnte der Rat Schwierigkeiten von außen bekommen. So fragte im Mai 1625 die Stadt Lindau an, woher die Lindau betreffende „Zeitung" den Zeitungsschreibern zugekommen sei. Johann Monich gab daraufhin an, daß er sie von „Hans Ulrich Bauman. Augen- und Schnittarzt und etlichen Kaufleuten, so nach Lindau hantieren", bekommen habe 30). Den Zeitungsschreibern Leonhard Rügel und Georg Kratwohl wird 1630 befohlen, „mit ihren Zeitungen sich wohl in Acht zu nehmen und aufs behutsamste zu gehen, damit die kaiserliche Majestät nicht offendiert werde"31). Am 5. Januar 1631 werden die Zeitungsschreiber auf einen Brief Dr. Hülß' hin verwarnt, der gemeint, „daß die hiesigen Zeitungsschreiber den Sachen zuviel tuhn" 32). Sie sollten nichts gegen den Kaiser schreiben, damit keine Ungelegenheiten entstünden. Am 14. September 1631 werden die beiden Zeitungsleute ermahnt, sie möchten bei der Beschreibung der Tilly’schen Niederlage „behutsam gehen". Zugleich werden vier Winkel­ schreiber auf den Turm gesteckt. Sie waren besonders gefährlich, weil hier der Rat keinerlei Kontrolle hatte. Jeder konnte sich bei Schwierigkeiten auf den anderen hinausreden. Weit wesentlicher jedoch waren die gedruckten Zeitungen, die in und nach dem Kriege die geschriebenen ganz verdrängten. Bereits am 14. Sep­ tember war eine gedruckte Zeitung von dem Siege Gustav Adolfs bei Breiten­ feld erschienen, die dem Rat sehr mißliebig war. Zweifellos lag ein Verstoß gegen die Zensur vor, denn am 29. September wird dem Simon Halbmeier, der eine aus Leipzig gekommene Zeitung über Gustav Adolfs Sieg nachdrucken wollte, dies abgeschlagen; ebenso Ludwig Lochner, als er um Druck28) Fuchs, S. 100 29) Fuchs, S. 102 30) R.V. 11. u. 22. V. 1625 8

31) Franz, S. 280 32) R.V. 14. VII. 1631

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erlaubnis für ein in Sachsen erschienenes Dankgebet bat**3). So weit ging die Vorsicht des Rates, daß er nicht einmal einen nachgedruckten Bericht des für die Protestanten erlösenden Sieges an die Öffentlichkeit kommen ließ! Das ganze Zeitungsdrucken erschien überhaupt dem Rat als zu gefährlich: „Dannach mündtlich referiert worden, daß sich etliche Buchdrucker angemeldet, und gebeten, ihnen zu erlauben, daß sie die anhero gebrachte getruckte Zeitung, wegen Eroberung der Stadt Frankfurth an der Oder, nachtrucken mögen, ist befoh­ len, ihnen solches abzuschlagen, und alles Zeitungsdrucken bei meiner Herrn (d. h. des Rats) ernstlich straff, darniderlegen“ 34).

Doch dies half nicht lange, man konnte den Buchdruckern nicht ihr ganzes Geschäft ruinieren, zumal sich die Bürgerschaft vor allem um die Zeitungen riß. Man hoffte doch, daß einmal das Kriegstreiben ein Ende haben werde, und war auf jede Neuigkeit gespannt. Am 5. März 1638 wurde den Buch­ druckern angezeigt, daß sie die Zeitungen nicht sofort drucken sollten, wenn sie die Briefe mit den Nachrichten erhielten. Sie müßten unbedingt vorher vom Kirchenpfleger besichtigt werden 35). Ein Brief Bernhards von Weimar über seinen Sieg bei Rheinfelden 1638 ließ sich nach Ansicht des Rates nicht abdrucken, „weil es leichtlich große offenziones verursachen könde“ 36). Gegen Ende des Krieges machten die Zeitungsschreiber dem Rat noch einmal zu schaffen. Sie gebrauchten „anzügige Wort, welches an hohen orten stark empfunden und dadurch hiesige Stadt allerhand nachtheil verursacht werden könnde“. Die Kriegsverordneten sollten Vorschläge machen, wie man diese Gefahr bannen könne 37). — Eineinhalb Jahre später, als ein Zeitungs­ schreiber allerhand Anstößiges über kaiserliche und bayerische Generäle geschrieben hatte, ist der Rat aber immer noch nicht weiter. Er überlegt, ob man nicht einen Sonderzensor verordnen sollte 38), läßt es aber dann doch sein und begnügt sich mit der Warnung, daß „sie von hohen Potentaten, einer oder der anderen Kriegenden parthey das wenigste nicht schreiben sollten" 39). — Wenn man Zwang gegen die Zeitungsleute ausgeübt hätte, wären sie eventuell noch gefährlicher geworden, denn sie hätten sicherlich Mittel und Wege gefunden, ihre Zeitungen auch ohne Zensur aus der Stadt zu bringen. Dank der Vorsicht des Rates war es gelungen, der Stadt Verwicklungen von dieser Seite in den schweren Jahrzehnten zu ersparen. Eine Regensburger Anfrage, ob in Nürnberg die Zeitung, die von dem Siege der Bauern im Lande ob der Enns über die Bayerischen berichtet hatte, in Nürnberg ge­ druckt worden sei, konnte nach der Umfrage bei den Buchdruckern mit Nein beantwortet werden40). Im Mai 1638 beklagte sich einmal der schwedische Oberstleutnant von Helversen, daß ein Zeitungsschreiber von der Hinrichtung eines schwedischen Obersten berichtet hätte. Im August desselben Jahres hatte der kaiserliche Kommissar Franz Jotto zu beanstanden, daß in der Zeitung, die „wegen der 33) 84) 35) 36)

R.V. R.V. R.V. R.V.

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29. VIII. 1631 20. IV. 1631 5. V. 1638 13. VIII. 1638

37) 3«) 3Ö) 40)

R.V. 28. I. 1645 R.V. 11. VII. 1646 R.V. 16. X. 1646 B-Laden S I L J96 Nr. 7

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jüngsten Schlacht allhie gedruckt", Bernhard von Weimar der Römisch Kaiser­ lichen Majestät „vorgesetzt . . . und auch ein sonderbarer Wunsch annectirt worden". Beide Klagen verfolgte der Rat jedoch nicht weiter, er nahm sie nicht ernst. Bei der letzteren wird erwähnt, daß man auf solche Weise nur Vorwände suche, um mehr Brot und Eier für die Einquartierungen zu er­ pressen 41). Wie wir gesehen haben, können wir wahrhaftig nicht sagen, daß der Rat schwedische Siegesnachrichten begünstigt hätte. Wir haben noch andere Beispiele für diese Zurückhaltung gegenüber schwedischen Angelegenheiten. Nur nach gründlicher Prüfung durch einen Konsulenten wurde am 13. August 1635 dem Wolff Endter erlaubt, ohne Nennung des Druckortes (!) ein schwe­ disches Manifest mit folgendem Titel zu drucken: „Aufzählung der Gründe, weswegen der König von Schweden Carl Gustav gezwungen wurde, dem König von Polen Krieg anzusagen". Vorher wurde ausdrücklich festgestellt, daß der Inhalt dem Reiche nicht abträglich sei42). Nicht weniger zurückhaltend war man dem anderen Verteidiger der „evangelischen Sache und der fürstlichen Libertät" gegenüber, Frankreich. Nur unter größten Bedenken ließ man 1646 Jermias Dümbler „Der königl. Franzos. Gesanden Replic und der Evangelischen Ständ Gravamina" nachdrucken 43). Sehr empfindlich reagierte der Rat, wenn seine eigenen Entschlüsse und Handlungen kritisiert wurden. Als er sich bei schier endlosen Verhandlungen lange nicht entschließen konnte, der Leipziger Vereinigung der neutralen evangelischen Stände beizutreten, sah er sich mancher Kritik gegenüber. — Im Juli 1631 fühlte er sich durch eine Augsburger Zeitung beleidigt, weil in ihr Nürnberg und Ulm „des Leipzigischen Schluß halben und in andere weg . . . fälschlich perstringirt" wurde. Man wendet sich an den Fränkischen Kreis und beklagt sich außerdem in Augsburg, wo der Rat aber behauptet, die Zeitung sei in München gedruckt worden44). Am 22. November 1631 befiehlt der Rat, daß neben etlichen anderen Pasquillen, die in den Buchläden feilgeboten werden, auch zwei mit den Titeln „Die Tillysche Pritschenmeisterey" und „Die Leipziger Kollation" . . . die sehr odios", konfisziert werden sollen. Das Jahr 1631, in dem sich Nürnberg von den kaiserlichen Restitutions­ drohungen bedrängt sah und doch nicht wagte, sich in Leipzig anzuschließen, zählt wohl zu den für die Ratsherren erregendsten. So entschlossen sie sich in diesem Jahr, sogar eine Briefzensur einzuführen, wobei sie neben anderen Verordneten auch den Konsulenten Dr. Heher zum Erbrechen von Briefen, wenn sie an verdächtige Adressen gerichtet waren, beauftragten. Die Briefe wurden dann den Kriegsherren zur Begutachtung zugewiesen 45). Da sich aber die Spur nicht weiter verfolgen läßt, scheint diese Sicherheitsmaßnahme bald aufgegeben worden zu sein. 41) R.V. 21. V.u. 28. VIII. 1638 42) R.V. 13. VIII. 1635 4:J) R.V. 30. I. 1646 8*

44) 4>)

R.V. 25. VII. 1631 R.V. 26. u. 28. XI., 2. u. 24. XII. 1631

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Wie das Spannungsverhältnis der evangelischen Reichsstadt zum Kaiser das Zentralproblem der Nürnberger Politik während des Dreißigjährigen Krieges war, so war auch jede Zensurmaßnahme im Grunde von der Rück­ sicht auf kaiserliche Ressentiments bestimmt. Der Rat, der durch diplomatische Künste aller Art den argwöhnischen Kaiser seiner Loyalität versichern wollte, konnte sich nicht durch Zeitungsdrucker die zarten und empfindlichen Fäden der Diplomatie gefährden lassen, wenn die Stadtväter auch so und so oft, ihrer Glaubensüberzeugung nach, anders hätten handeln müssen. Letztlich war immer die eigene Sicherheit entscheidend. Erwähnen wir noch einige Zensurerlässe, bei denen die Rücksicht auf den Kaiser direkt genannt wird: 1626 wurde in der Stadt und auf den Dörfern eine Druckschrift herum­ getragen mit dem Titel: „Ein geistlicher Gesang, welchen die Bauern im Ländlein ob der Ens alle 24 Stunden viermal .. . mit Seufftzen und Weinen unterm freien Himmel zu singen pflegen. Im Ton: Wenn mein Stündlein vorhanden ist.“ Der Inhalt der 24 Liederverse besagt, daß die Bauern dem Kaiser gehor­ same Untertanen sein möchten, wenn er ihnen nur nicht den Glauben nehmen wollte. Trotz des sehr gemäßigten Tones, in dem die Verse verfaßt wurden, sah sich der Rat zu genauer Untersuchung veranlaßt. Er ließ alle Buchdrucker und Händler auf die Kanzlei kommen und über den Fall befragen. Caspar Fuldt sagte aus, er habe die Schrift von Magister Rinder zensiren lassen, der nichts Verdächtiges daran gefunden. Der Rat war anderer Ansicht und ließ sämtliche verfügbaren Exemplare konfiszieren46). Anfang Mai 1632 kam dem Rat durch seinen Agenten am kaiserlichen Hof, Johann Löw, die Nachricht zu, daß ein „Calendarium novum propheticum“, das auf der Frankfurter Messe verkauft wurde, den höchsten Zorn des Kaisers erregte, der tausend Taler für die Feststellung des Namens des Autors ausgesetzt habe. Der Rat ließ bei seinen Hochgelehrten (den Kon­ sulenten) bedenken, ob deshalb bei den hiesigen Buchdruckern nachgefragt und ihnen gegebenenfalls dieses Werk abgefordert werden solle. Man möchte überlegen, ob es nicht besser sei, dies zu unterlassen, da sonst der Kaiser erst auf Nürnberg aufmerksam gemacht werden könnte. Die Hochgelehrten rieten zu letzterem47). Am 29. März 1633 verbietet der Rat den Nachdruck eines von Heilbronn gekommenen Traktätleins „Ob der Röm. Kays. Maj. der Krieg anzukünden?“ Im März 1643 entschuldigt sich der Buchdrucker Jeremias Dümbler für den unzensierten Druck eines Traktates des Hermann de Werff damit, daß ein Regensburger Buchhändler, der ihm ein Exemplar gegeben, Nachdrucke davon verlangt habe. Der Rat läßt sämtliche Exemplare beschlagnahmen, da darin „der Kais. Maj. wie auch Kurbayern schimpflich gedacht werde“. Dr. Richter solle entscheiden, ob man den Drucker auf einen versperrten Turm schaffen solle. Vier Tage später kommt Dümbler aber mit einem Ver­ weis davon. 4n) B-Laden S 1 L 196 Nr. 7

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47) R.V. 6. V. 1632

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Sogar der berühmte Dichter Georg Philipp Harsdörffer, der spätere Grün­ der des Pegnesischen Blumenordens, eines literarischen Vereins zur Reini­ gung der deutschen Sprache, wird 1648 in einen Zensurprozeß verwickelt48). Er hatte dem Feldmarschall Wrangel einen Lobgesang gedichtet, „welcher mehr einem Pasquill gleichsehe, als in welchem die Kays. Maj. und Churbayern schimpfflich angetastet worden, welchen Theopilus Staden Organist componirt, Hans Pilihofer aber, unerwegen es ihme von des Herrn Kirchenpflegers Say verbotten worden, gedrucket habe, dabei dann zu Besorgen, daß gemaine hiesige Statt dessen in vielweg zu entgelten haben durffte“.

Der Drucker, an den man sich fast immer hielt, wurde auf den Turm gesteckt, Harsdörffer selbst sowie sämtliche Buchdrucker mußte alle Exemplare des Gedichts auf die Kanzlei bringen. Die Sache sollte „mit geziemendem Ernst" behandelt werden. Harsdörffer wurde bis auf weiteren Befehl fest­ genommen. Nach zwei Tagen aber wurde der Drucker bereits wieder frei­ gelassen und ihm eingeschärft, nichts ohne Vorwissen des Kirchenpflegers „von einem oder anderen Privato" anzunehmen. Oft begnügte sich eben der Drucker mit der Autorität seines Auftraggebers; so glaubte sich auch Hans Guldenmund hundert Jahre zuvor durch Osianders Namen gedeckt. Der Verlaß ordnet weiter an: „Und weiln das Trucken und componirn allerhand leider allzu gemain werden, die jetzige Zeit aber ein solches nicht leiden will, ist schließlich bevohlen, Herrn Kirchenpfleger H.(-errlichkeit) zu ersuchen, ob der alten guten Ordnung so ferner zu halten, daß hinfür nichts ohne deren Zensur, oder daß es von Ihne eigenhendig unterschoben und mit deren Petschafft signirt sey, nichts getrucket werde.“

Wundern muß uns die geringe Bestrafung der Drucker; sie deutet wohl darauf hin, daß sich diese mehr als in früheren Zeiten, wo man sie 14 Tage bis vier Wochen auf den Turm gesperrt, an die Zensur hielten, da die Gefahr doch ungleich größer war und die Bürger in diesen schweren Jahren auf die Diplomatie ihrer Obrigkeit angewiesen waren. Doch gleich nach dem Kriege machten die heißen Köpfe der Nürnberger ihren Stadtvätern wieder viel zu schaffen. Besonders der uns bereits bekannte Buchhändler Jeremias Dümbler, der dank seiner weitverzweigten Beziehungen viele Informationsmöglichkeiten hatte und vor seinen Mitbürgern mit seinen Neuigkeiten nicht zurückhaltend war, stand oft im Mittelpunkt des Inter­ esses. Erregte Worte drangen bis zu den anwesenden kaiserlichen Gesandten, die sehr empfindlich reagierten: „Demnach mündlich referirt worden, daß die Kaiserlichen Herrn Gesandten sehr disgustirt seien, daß sie vernommen, daß auff dem Markt, sonderlich aber vor Jeremiä Dümblers Buchladen, öffentlich referirt worden, was in der drey Reichs Collegys votirt worden, darbey denn auch etliche relationes abgehört, auch gefähr­ liche discurs von des Kaysers geringer macht gefallen, darüber dann der Dümbler vernommen worden, welcher sich so gut es sein kan, entschuldigt. Also ist ertheilt, den Dümbler bei seiner Verantwortung vor dißmal verbleiben und wider abtreten zu lassen, dabei aber zu wahrnen, sich vor dergleichen inskünftig vorzusehen, solche

48) R.V. 9. u. 10. XL

164 s

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gcfährlidie Diseurs vor seinem Kram nit zu gedulden und was ihme zukommt, nit alsobalden zu patefirn, sondern in die Kanzlei zu liefern" 49). Vor Abschluß des Friedensexekutionshauptrezesses im Juni 1650 nahmen die „partheyische und lästerhafte Reden ... die füreylende Discourse“ so zu, daß sich der Rat veranlaßt sah, am 26. Januar 1650 ein Mandat50) zu ver­ öffentlichen. In ihm befahl er, sich jeder Meinungsäußerung zu enthalten und den Ausgang mit Geduld zu erwarten. Zuwiderhandelnde bedrohte man mit Strafen an Leib, Ehre und Gut. — Noch einmal fühlten sich die Nürnberger Bürger im Mittelpunkt des Reichsgeschehens. Es scheint, daß die verständigen und weltoffenen Köpfe bereits eine Ahnung von dem hatten, was sie mit der Entmachtung und praktischen Auflösung des Reiches bedrohte: jahrhunderte­ lange Bedeutungslosigkeit, jahrhundertelanges Kleinstädtertum in einer Welt, in der das Wesen der freien Reichsstädte zu einem Anachronismus wurde. c) Historische Werke Zu welcher geistigen Enge die schwache Reichsstadt verdammt war, zei­ gen uns zwei Zensurfälle aus den letzten Jahren des Krieges. Die immer mehr dem Absolutismus zustrebenden Staaten Europas konnten durch ihre Macht­ mittel die Reichsstädte so einschüchtern, daß sie jede geistige Regung, die dort auf politischem Gebiet spürbar wurde, im Keim erstickten. Die freie Luft der Reichsstädte, die noch zu Beginn der Neuzeit alle Gelehrten anzog, hatte sich in eine Atmosphäre spießbürgerlicher Ängstlichkeit verwandelt. Betrachten wir die Argumente, die man gegen die Historia Pacificatorum Austro-Hisyano-Gallicarum“, die der Nürnberger Historiker Uenhard Wurffbein in Nürnberg zum Druck bringen wollte, vorbrachte 51). — Der Inhalt des Werkes war eine Darlegung der Geschichte der deutschen Westgrenze von Karl dem Großen bis auf die Gegenwart. Der Rat, der von Wurffbein um Druckerlaubnis angegangen wurde, wies zwei seiner Stadtjuristen die Bear­ beitung des Falles zu. Die Bedenken derselben sind die interessantesten Aktenstücke der Nürnberger Zensurgeschichte, und gerade die Äußerungen zu diesem Fall können wegen ihrer allgemeinen Erörterungen über die Histo­ rie an sich ein gutes Bild des Zeitgeistes geben. Dr. Hülß holt weit aus. Er zeigt, wie historische Werke Anstoß erregen können. „Die Historien, do man großer Herrn Secreta eröffnet, liebt man nuhr in ab­ stracto . . ., in concreto haben selbige erst an 100 Jahr nach absterben des scribenten, sonderlich do keine posteritas von solchen autoribus vorhanden, zu erzeitigen. Hiezwischen werden solche scribenten circa plagium, curiositatem et compilationem geschendet, geschmehet, der frolockung, der Ungleichheit, der contradiction und der passionirten Interesse beschuldigt... Geschieht die beschreibung in Teutsche sprach, so sagt man, es geschehe zu Vertilgung der Universitäten, worinnen Idiotae allzugroße Vörtel gegen den literatis erlangen; Erfolgt es in latein, so pflegt man mehr mühe mit dem stylo anzuwenden als auf realia zu sehen." Wenn es auch ungefährlich sein mag, wenn man zusammentrage, „waß die Vorfahren 48> R.V. 5. IX. 1649 ß0) M. L Nr. 3

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MVGN 49 (1959) Zensuirpolitik allbereit auf die Bahn gebracht und deren exemplaria theils zerrinnen“, so zeige sich doch immer wieder, daß man, sobald man „praesentia tempora attingirt“, überall anstoße. Die Herrn Potentaten liebten mehr die Verdunkelung als die Wahr­ heit. „Ein großer Potentat, so annoch im Leben, lest contra veritatem mit sonder­ barer Kunst historien trucken, um die alte, so zu offenherzig gewesen, retrorsum computando zu verfinstern."

Er sei der Ansicht, Wurffbein solle sich auf jeden Fall kurz fassen. Wenn er tatsächlich historisches Material bringen wolle, so könne er das als Supple­ ment anderen Werken über denselben Gegenstand beifügen. „Will er aber von anno 1477 bis auf gegenwärtige Zeith mit gral gesdlichten undt Österreichischen Lobsprüchen continuiren (womit keine ohrnschmerzen zu befahen .. .), so wird er seiner dexteritet nach es zweifelsohn succincte (können), weil sogar die erste historia in der Weldt mit wenig worthen vihl und sehr große dieng zu adumbrirn sich befließen."

Im übrigen sehe er eigentlich keinen Grund, warum man das Werk Wurffbeins nicht drucken sollte. Der Rat möchte nun Wurffbein gütlich von seinem Vorhaben abbringen 52). Wenn er nicht darauf einginge, solle sich Dr. Hardes­ heim äußern, ob man Wurffbein die Sache ex officio verweigern solle mit der Empfehlung, es anderswo drucken zu lassen. In einem Brief an den Rat äußert sich der Verfasser noch einmal zu der Sache. Er erwähnt, daß er schon viele historische Werke veröffentlicht habe, die noch immer bei Fürsten und anderen Herren günstig aufgenommen wor­ den seien. Von allen Seiten sei er schon zur Veröffentlichung des vorliegenden gemahnt worden. Sein Werk stelle eine Zusammenfassung der Ergebnisse dar, die J. Frossard, F. Guiccardini und J. Sleidanus in ihren Werken gegeben hätten. Im übrigen könne es nur beim 3. Teil Bedenken geben, wo er sich mit der gegenwärtigen Lage der behandelten Frage befasse. Wenn hier etwas ausgelassen werden solle, so wolle er einer „speczialerinnerung gewertig sein“. Wenn Endter einen anderen Druckort oder Druckemamen angeben wolle, so könne er von ihm aus hier nach Belieben handeln. — Diese Argumente schei­ nen nun Dr. Hardesheim eingeleuchtet zu haben. Er empfiehlt dem Rat die Freigabe des Werkes, was dieser am 17. November beschließt. Direkter als durch das Wurffbein'sche Werk fühlte man sich durch das Vorhaben Christoff Agricolas bedroht, als er die bekannte, für uns noch nützliche Quellensammlung Hortleders fortführen wollte53). Er bat Nürn­ berg um Aktenabschriften aus den Jahren 15 54/56 und nennt dabei 49 Titel. Sie alle betreffen die Verhandlungen Nürnbergs mit Brandenburg und den übrigen fränkischen Ständen im Krieg gegen den Markgrafen. In dem Bedenken vom 19. Juli knüpft Dr. Richter die Erlaubnis für Agricolas Vorhaben an die Bedingung, daß Bamberg, Würzburg und Bran­ denburg damit einverstanden sind, denn gerade Brandenburg gereichten diese Dinge nicht zur Ehre. (Man getraute sich also nicht, vor den Fürsten zu ent­ scheiden/) — Wenn das Werk in Nürnberg gedruckt werden sollte, dürften keinesfalls Drucker und Druckort genannt werden. 52) R.V. 9. X. 164 1

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Agricola konnte nun tatsächlich Schreiben der Kanzler von Bamberg und Würzburg vorweisen, in welchen diese sich mit Agricolas Vorhaben einver­ standen erklärten. Dem Rat genügte dies aber nicht, und er ließ Dr. Richter ein neues Bedenken ausarbeiten. Natürlich stellte sich der Konsulent der Sache nicht grundsätzlich feindlich gegenüber, es war doch immerhin eine wissenschaftliche Unternehmung von Format. Er engte die Möglichkeit der Durchführung von Agricolas Plan aber so weit ein und knüpfte sie an so viele Bedingungen, daß von vornherein ein Scheitern zu erwarten war. Auf keinen Fall komme es in Frage, daß man Agricola so viel aus dem Archiv liefere. Im übrigen sei die Fortführung des Hortleder’schen Werkes eine erfreuliche Sache, doch man wisse nicht, was dabei herauskomme. Man sei auf keinen Fall gewillt, damit einen neuen Krieg mit dem Markgrafen „aufzublasen“. Man müsse sich unbedingt an den Kanzler der Ansbacher Regierung wenden und seine Meinung einholen. Ein Ratsverlaß vom 29. August 1645 gibt einen diesbezüglichen Befehl. Damit war Agricolas Vorhaben gescheitert; Ansbach konnte kein Inter­ esse daran haben, daß die Forschung sich mit dem unrühmlichen Raubkrieg des geächteten Markgrafen befaßte und damit erneut ins Gedächtnis rief. Man war kleinlich und bedächtig geworden in der Stadt, die man noch hundert Jahre früher als die Hauptstadt des Reiches hatte bezeichnen können und in der sich die fortschrittlichsten Männer der damaligen Zeit wohlge­ fühlt hatten. Die Zukunft gehörte den absolutistischen Fürstentümern, die jetzt schon den freien Kommunen Furcht und erzwungenen Respekt ein­ flößten. Neuerungen in der Zensurgesetzgebung bis zur Buchdruckerordnung von 1673 Die Zensurgesetzgebung des Rates wurde von zwei Aufgabenkomplexen bestimmt, denen er sich als verantwortliche Obrigkeit gegenübersah: 1) alle Veröffentlichungen unter seine Kontrolle zu bringen und Umgehungsmöglichkeiten zu unterbinden und 2) die Verhältnisse der Buchdrucker usw. so zu ordnen, daß sie, von Übervorteilung geschützt, ein erträgliches Auskommen finden konnten. Oft überschneiden sich natürlich diese Fragen; sie ließen sich schwer trennen, da die eine von der anderen abhängig war. Um den Anforderungen der wechselnden Zeitverhältnisse gewachsen zu sein, mußte die Gesetzgebung diesen gerecht werden. Die betreffenden Ge­ werbe waren noch verhältnismäßig jung und mußten mehr als andere mit der Zeit gehen, denn mit ihren politischen und geistigen Lebensäußerungen hat­ ten sie es zu tun, sie gaben den Stoff für ihre Arbeit. Andererseits hatte der Rat in der ersten Hälfte des Jahrhunderts für seine Zensurgesetzgebung ge­ wisse Normen gefunden, die diese im wesentlichen bis ins 18. Jahrhundert bestimmten. 120

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Eine solche feststehende Regel war die jährliche Vereidigung der Buch­ drucker auf die Zensurordnung, auf die man trotz der laufenden Übertretun­ gen nicht verzichten wollte. Man hatte es in den Jahren 1563/68 versucht, in denen die Drucker keinen Eid leisten mußten, war dann aber doch wieder zur alten Praxis zurückgekehrt54). Von 1569 ab ließ man auch die Einhaltung des kaiserlichen Mandats von 1548 alljährlich durch Eid bekräftigen. Es wurde dabei ausdrücklich be­ fohlen, daß auch die Setzer und Gehilfen schwören müssen, was schon ein Ratsverlaß von 1557 anordnete, „damit sich hinfüro die Puchtrucker des un­ erlaubten truckens halben nit mer uf ire gesellen und gesind entschuldigen khönnen“ 55). Dem Rat war der Zensurbetrieb überhaupt viel zu unübersichtlich. Er stand dem Aufschwung der Gewerbe, die sich mit Druckveröffentlichungen befaßten, nicht sehr wohlwollend gegenüber und erließ am 28. Juli 1571 die Verordnung, daß in Nürnberg nicht mehr als fünf Buchdrucker, fünf Form­ schneider und sechs Briefmaler geduldet werden sollten. Bei den überzähligen fünf Buchdruckern und elf Briefmalern sollte man keinen neuen Geschäfts­ führer mehr zulassen. Die Verordnung erwies sich jedoch als undurchführbar. 1589 wurde mit 12 Buchdruckern, 10 Formschneidern, 9 Buchführern und 27 Briefmalern die Höchstzahl erreicht! Der Dreißigjährige Krieg führte 1646 zum Tiefstand von 9 Buchdruckern, 2 Formschneidern, 9 Buchführern und 8 Bdefmalern. Die Beeinträchtigung des Handelns, welche die strenge Zensur notwendig mit sich brachte, veranlaßte viele Buchdrucker zu dem Versuch, die Pflicht­ leistung zu umgehen. Ein Dekret vom 10. August 1633 B6) klagt darüber und fügt hinzu, daß dies nur aus dem Grund geschehe, daß sie desto ungehin­ derter „allerlei Scarteken und Traktätlein“ verkaufen könnten. 1644 legt man eine Strafe von 3 bis 4 Gulden fest für solche, die nicht zur Pflicht­ leistung kommen. Die Buchdrucker schalteten sich dabei selbst ein und klag­ ten über Winkeldruckereien und -händler, die ihnen das ganze Geschäft ver­ dürben, da sie Anstößiges verkaufen würden. Vor allem beschwerten sie sich über Landfahrer, die „allerhandt neue Zeitungen" (ein begehrter Artikel!) feilböten 57). Die Buchdrucker wurden aufgefordert, solche Leute beim Kir­ chenpfleger zu melden. Am 26. April 1632 gab Caspar Fuldt ein Dutzend Mitbürger an, zum Teil Buchbinder und Kupferstecher, die Unerlaubtes ver­ kauft hatten58). Daraufhin läßt der Rat auch die Kupferstecher und Kunst­ führer auf die Zensurordnung schwören ß9). Den Buchbindern, welche unerlaubterweise auf dem Markt auf Schräger und Bänken allerhand Druckwerke feilgeboten hatten, gestattete man dies von nun an nur noch zur Meß- und Freiungszeit und ordnete außerdem an. die Drucker sollten die Buchbinder besser bezahlen, da diese sonst nicht leben könnten ®°). 54) 65) 56) 67)

Ä.B. 1563/69 R.B. XXIX 12.11.15 57 Stadtarchiv Rugamt 234 I Stadtarchiv Rugamt 234 I 28. VII. 1571

sp) R.y. 26.1V. 1632 5Ö) Amts- und Standbuch 100 Buchdr. 10. VIII. 1633, Jegel Sp. 58 60) R.V. 10. VIII. 1633

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All dies genügte aber noch nicht. Um die Gefahr der Winkeldruckereien zu bannen, empfahl der Rat 1631, daß „arme Buchdrucker“, die keinen Ver­ lag dabei hätten, bei den größeren als Gesellen eintreten sollten, damit sie sich nicht mehr mit „Schartegen“ abgäben, die oft ihre einzige Verdienstmöglichkeit waren. Die Versuchung war für die Händler zu groß, einen zwei­ felhaften Auftrag anzunehmen oder selbst eine Sensationsnachricht zu drukken; man mußte dies ja nicht gerade dem Zensor zur Einsicht geben, der das beste Geschäft verderben konnte. Der Rat ging in den gefährlichen Kriegszeiten dazu über, die Geschäfte und Werkstätten in gewissen Zeitabständen zu durchsuchen. Er tat dies sehr ungern, denn er wußte, daß er durch solche Zwangsmaßnahmen das Verant­ wortungsbewußtsein und die Gesinnung seiner Untertanen nicht gerade stärk­ te. Nur in den schlimmsten Wirren der Reformationszeit hatte er zu diesem Mittel gegriffen. 1643 wurden der Zensor Cornelius Marci und J. Michael Dilherr, Prediger bei St. Lorenz, angewiesen, alle vier Wochen zu überprüfen, was gedruckt werde61). Außerdem sollten die Drucker wöchentlich je ein Exemplar von dem, was sie gefertigt, abliefern. Die ganze Sache hatte Johannes Saubertus angeregt, als er unter den un­ zensierten Büchern auch ein paar „sektiererische“ entdeckt hatte. Er wollte eigentlich den ganzen Zensurbetrieb ändern, doch der Rat gab nur in diesem einen Punkte nach und blieb sonst „bei der alten guten Ordnung“ 62). Die Buchdrucker selbst klagten oft über das Zensurwesen, wenn sie auch gegen die Einrichtung an sich, die im ganzen Reiche bestand, nicht angehen konnten. Sehr oft beschwerten sie sich über den Zeitverlust, den die Zensur mit sich brachte. Welchen Wert hatte schon eine Zeitung, wenn sie ein paar Tage auf der Kanzlei liegenblieb, bevor sie verkauft werden konnte! 1618 klagten Michael Külsner und Hans Lieb, daß sie auf die Messe immer zu spät kämen, da die Belastung der Zensoren ihnen eine schnelle Bearbeitung nicht erlaube. Dies sei besonders bei den theologischen Büchern der Fall, die Magister Christoph Reich zugeschickt werden müßten. Wenn das so weiterginge, würden in Nürnberg überhaupt keine solchen Bücher mehr erscheinen, was sicher nicht im Sinne des Rates sei. Dieser möge dafür sorgen, daß die Buchhändler keine „Verkleinerung an ihrer Nahrung“ er­ litten. Eine ganze Reihe von Buchdruckern und Buchhändlern beklagte sich 1676 über die Messeverordnung (die ihnen verbot, ein Buch zu verkaufen, bevor nicht die Messezettel geprüft worden wären). Sie könnten ihre Pflicht in die­ sem Punkte nicht mit gutem Gewissen leisten, da sie dadurch zu sehr aufge­ halten und um den Absatz gebracht würden. Die Kupferstecher erklärten, daß sie aus demselben Grunde der Zensur nicht nachkommen könnten; im übrigen ließen sie die größeren Werke von den Verlegern „verantworten“ 63). Der Rat ließ nun diese Frage genau untersuchen, am Ende aber blieb er bei der Messeverordnung. Doch er lenkte ein, indem er erklärte, die Verordnung 61) U.V. 27. IX. 1643 82) B-Laden S I L 196 Nr. 6

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63) Stadtarchiv Y 30

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richte sich vor allem gegen photinianische, weigelianische und andere KetzerSchriften, worauf er ein besonders scharfes Auge haben würde M). Schlimm wurde der Buch- und Kunsthandel der Zeit durch das Nach­ druck-Unwesen geschädigt. Fast in ganz Deutschland konnte jedes Buch, das nicht ein kaiserliches Privileg hatte, ohne Strafe nachgedruckt werden. Da die Privilegien teuer waren, erwarb man solche nur für wertvollere Bücher. Nur einige Städte erließen besondere Nachdruckverbote für ihr Gebiet. So hatte Nürnberg schon in der Reformationszeit ein kurzfristiges Nachdruckverbot erlassen, das 1559 auf ein halbes Jahr verlängert wurde. Der Rat erweiterte diese Verordnung dahingehend, daß von Auswärtigen nachgedruckte Werke in Nürnberg nicht verkauft werden dürften 65). 1632 klagten die Drucker, daß das Verbot oft übertreten werde und baten, die Zeit des verbotenen Nachdrucks zu verlängern. Ihr Ersuchen blieb aber erfolglos66). Sonst setzte sich jedoch der Rat in Nachdruckangelegenheiten eifrig für seine Buchdrucker ein. So befürwortete er z. B. im Dezember 1567 ein Privi­ legiengesuch des Dietrich Gerlach an den Kaiser67) und nahm sich 1647 des Wolfgang Endter durch ein Interzessionsschreiben an den Rat von Erfurt an, als dort Endters privilegierte Kalender nachgedruckt wurden. Alle neuen Verordnungen wurden in der Buchdruckerordnung von 1673 zusammen gefaßt68). Sie war die erste Handwerksordnung für Buchdrucker im engeren Sinne und regelte nicht nur das Zensurwesen, sondern auch die Her­ anbildung des Nachwuchses, die Abgrenzung der Druckgewerbe usw. Neues für die Zensur bietet sie uns in folgenden Bestimmungen: 1) Zensurgebot für Neuauflagen und Auktionen; 2) Verbot, in auswärtigen Druckereien ohne Erlaubnis des Rates arbeiten zu lassen (betrifft Buchhändler und Verleger); 3) Zensuranordnung für irgendwelche Änderungen an „gemeinen Materien“, wie Psalter, Gesangbücher usw. Die Buchdruckerordnung wurde bei Michael Endter in Druck gegeben und allen Buchdruckern usw. zugänglich gemacht. Damit war die Nürnberger Zen­ surgesetzgebung für längere Zeit zu einem Abschluß gekommen. Uneinheitlich und zum Teil auch etwas undurchsichtig war in Nürnberg die Bestellung der Zensoren, ln unserem Zeitabschnitt waren es jedenfalls weniger hervorragende Persönlichkeiten als während der Reformationszeit. Außer dem obersten Kirchenpfleger, der das oberste Wort in Zensurfragen hatte, wenn nicht der betreffende Fall im Rat verhandelt wurde, war der offizielle Zensor der Diakon von St. Lorenz, Magister Jörg Holfelder, dem 1610 der Syndikus und Bibliothekar Bernhard Prätorius als Helfer in poli­ tischen Sachen beigegeben wurde69). Sein Nachfolger ist Melchior Rinder gewesen, der seit 1619 Diakon bei St. Lorenz und einige Jahre Stadtbiblio­ thekar war. Da man mit diesem schlechte Erfahrungen machte, wurde 1618 64) R.V. 15. VI. 1676 65) Amts- und Standbuch 233 S. 22 66) R.V. 26. IV. 1632

ü7) Brfb. 179 6. VII. 1567 68) Drucksachen 22, 723 ßft) R.B. 7. VII. 1610

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vorübergehend Magister Ch. Reich als Zensor der theologischen Bücher be­ stimmt70). Später übernahm Magister Cornelius Marci die theologische Zensur 71). Die Zensur der Zeitungen besorgte zunächst der Kirchenpfleger selbst72), bis sie 1651 den Kriegsverordneten zugewiesen wurde: „Und als hierbei Vorkommen, daß die Zeitungsschreiber viel ungereimbtes Dings spargirn und von sich schreiben, welches gemeiner Statt in vielerlei großen Nachtheil brin­ gen könnde, also ist befohlen, die Herrn Kriegsverordneten zu ersuchen, ins­ künftig alle Zeitung zu revidirn und die Zeitungsschreiber dahin zu halten, daß sie keine Zeitung von sich zu geben macht haben sollen, bis sie vorher in der Kriegsstuben gelesen und approbirt worden“ 78). Eine Trennung der politischen von der theologischen Zensur bahnte sich schon seit 1633 an 74). 1645 wird bereits ein Ratskonsulent als Zensor der politischen Sachen genannt75). Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun­ derts ging sie dann völlig in die Hände der Juristen über und wird mehr und mehr politisch. Mit der Polizeiordnung von 1577 war die Zensurgesetzgebung des Rei­ ches abgeschlossen, sie hatte nurmehr wenig Einfluß auf Nürnberg. Nur die Auslegung derselben durch den Kaiser wirkte auf die Territorien ein, wie wir in Nürnberg im Falle Thumm gesehen haben. In der Zeit der Gegen­ reformation nahm der Druck von katholischer Seite zu, und die evangelischen Stände gaben meistens nach, da sie in ihrer Zersplitterung keine gemeinsame Abwehrfront bilden konnten. Eine wesentliche Neuerung war die 1569 eingesetzte kaiserliche Bücherkommission in Frankfurt, die eine Schlüsselstellung im Buchhandelswesen der Zeit einnahm und die, bescheiden beginnend, immer mehr Kompetenzen an sich zu ziehen wußte und zur gefürchteten Aufsichtsbehörde bei der Büchermesse wurde76). Das Patriziat der Stadt, das die Anordnungen der Kommission auszuführen hatte, leistete lange Widerstand, doch in der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich die Kommission durchgesetzt. Der Protest einzelner evangelischer Fürsten blieb wenig erfolgreich. Unter diesem Drude nahm die Bedeutung der Frankfurter Büchermesse immer mehr ab, während Leipzig in den Vordergrund rückte. Ein Zeichen für die Strenge der Nürnber­ ger Zensur ist die Tatsache, daß verhältnismäßig wenig Bücher Nürnberger Händler in Frankfurt konfisziert wurden, obwohl die Stadt einer der bedeu­ tendsten Druckorte war. 1659 wurde bei Hans Hoffmann aus Nürnberg ein „der kaiserlichen Majestät und dem erzherzoglichen Hause Österreich schimpflicher und verkleinerlicher Stich" (König Karl X. von Schweden darstellend) beschlag­ nahmt 77) und kurz darauf bei Hans Tauber Widers Postille konfisziert78). 70) 71) 72) 73) 74)

R.V. R.V. R.V. R.V. R.V.

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15. VII. 1618 7.1.1636 u. 11. 15. VII. 1618 10. V. 1651 10. VII. 1633

XII.

1637

"5) R.V. 19. VIII. 1645 76) Kapp, S. 608 f. 77) Kapp, S. 667 '*) Kapp, S. 672

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Vor dem Beginn der Messe wurde der Meßkatolog gedruckt, in dem alle zum Verkauf gemeldeten Bücher verzeichnet waren. Schon er stand unter strenger Zensur. Viele Bücher ließen die Händler daher gar nicht darin einsetzen, sondern brachten sie einfach mit, und sie wußten dann schon Abneh­ mer dafür zu finden. Um diesem zu begegnen, durchsuchten die Kommissare die Lagerplätze der Buchhändler. Eine weitere Aufgabe der Kommissare war, für die Ablieferung der Pflichtexemplare, die vor allem von kaiserlich privilegierten Büchern nach Wien abzuführen waren, zu sorgen; außerdem suchten sie unbefugtem Nach­ druck zu steuern. Weil die Kommission aber wenig bemüht war, tatsächlich Ordnung zu schaffen, den Buchhandel zu fördern und in geregelte Bahnen zu lenken, sondern da sie nur Schwierigkeiten machte, wurden die Verordnun­ gen sehr oft nicht beachtet. Trotzdem konnte der Austausch geistiger Pro­ duktion so gehemmt werden, daß wir nicht zuletzt darin einen Grund der Entfremdung zwischen katholischem und protestantischem Geistesleben suchen können, die immer deutlicher fühlbar wurde. Hatte das konfessionelle Zeitalter am Anfang eine ungeheuere Anre­ gung für das geistige Leben bedeutet, so endete es mit einer erschöpften Zwiespältigkeit, und es bedurfte neuer Kräfte und Ideen, diese 2u über­ brücken und zur Kultur des barocken Zeitalters hinzuführen. Deutschland war geistig und materiell entkräftet, die neuen Impulse kamen von anderen europäischen Staaten.

Absolutismus und Aufklärung

Mit dem Dreißigjährigen Krieg hört Nürnberg auf, politisches Subjekt zu sein. Schon in den letzten Jahrzehnten, als die Stadt unter der Last des Krieges kaum mehr atmen konnte, ließ ihre Kraft, eigene Außenpolitik zu treiben, merklich nach, und die Machtlosigkeit zwang sie, jedem anhaltenden Druck nachzugeben. Ein unbedingtes Ruhebedürfnis war für die Politik der Reichsstadt kennzeichnend. Mit diesem Schicksal stand Nürnberg aber nicht allein. Wie ist es nun zu erklären, daß die Stadt sich von diesem Tiefstand nicht mehr emporrang? Wir kennen die Gründe, die der Stadt eine politische Machtstellung verwehrten. Warum aber erholte sie sich auch in finanzieller Beziehung nicht mehr? Die Schuldenlast allein gilt nicht als zureichende Be­ gründung. Auch der Merkantilismus ist nur ein Faktor unter vielen. Man geht wohl kaum fehl mit der Behauptung, daß Tatkraft und Auf­ geschlossenheit der Patrizier in dieser Zeit erheblich nachließen. Die Rats­ glieder erstrebten das Leben adliger Grundherren und legten überhaupt sehr viel Wert auf Formalitäten, die um so hohler wirkten, weil ihnen der wahre Inhalt fehlte. Dabei schlossen sich die Patrizier mehr und mehr von der Bürger­ schaft ab und waren peinlich auf die Wahrung dieses Abstandes bedacht. 125

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Ausgesprodien bedenklich war die Finanzpolitik des Patriziats. Seine falsche Innenpolitik ließ es der Bürgerschaft entgelten und belegte sie nach Bedarf mit neuen Steuern, die von vornherein jedes wirtschaftliche Aufblühen erstickten. Natürlich protestierten die Kaufleute, die sogar beim Kaiser klagten, doch die Regierenden saßen immer am längeren Hebel. Verfolgen wir die Verhandlungen, die beim Reichshofrat geführt wurden, so gewinnen wir den Eindruck, daß sich Reichsleitung und Rat gegenseitig bestachen1). Wenn der Kaiser, der die verzweifelte Lage einsah, die Mißwirtschaft des Patriziats zugab, entging ihm selbst ein Teil der Einkünfte, die dieses durch Anziehen der Steuerschraube erpreßte. Andererseits scheute der Rat vor üblen Verleumdungen nicht zurück: Neid und Ehrgeiz seien die Gründe für die Klagen der Bürgerschaft, behauptete er. Diese sah nach 20 Jahren die Aus­ sichtslosigkeit ihres Bemühens ein und zog 1754 die Klage zurück. Natürlich fehlte es nicht an einsichtsvollen Leuten, doch diese setzten sich nicht durch. So wurde schon 1695 der Reformplan des vordersten Losungers Paul Albrecht Rieter abgelehnt. Er legte darauf seine sämtlichen Ämter nieder und verzichtete auf das Bürgerrecht. Andererseits entbehrten die Verhältnisse für Außenstehende nicht der Lächerlichkeit. So goß der Franzose de Blainville seinen (teilweise ungerechten) Spott über die Stadt aus und fand vor allem das Gebaren der Patrizier höchst seltsam „mit ihren Spitzhüten und schwülstigen ungeheueren Halskrägen, die man für zwei oder drei Frauenzimmer zugleich als Sonnenschirme ge­ brauchen könnte. Diese alle zusammen, sage ich, sind hochmütiger und unzugänglicher als der venezianische Adel und schätzen sich nicht wenig Grad höher als die Ratsherren des alten Rom, die doch Könige zu ihren Füßen liegen sahen.“ Einen ausgezeichneten Spiegel dieser Verhältnisse stellt die Zensurpolitik der Stadtregierung dar. Sie führt uns in die Atmosphäre, in der die Hoch­ herrlichkeiten, wie der offizielle Titel der Ratsherren war, lebten; sie zeigt uns, aus welchen Beweggründen sie handelten. Wir lernen die neuralgischen Punkte kennen, die Spannungen in der Innen- und Außenpolitik, die über­ mäßige Empfindlichkeit der Patrizier, wenn es um ihr Ansehen und um ihre Rechte ging, und vor allem: ihre Machtlosigkeit in all diesen Punkten, wo es meist bei Protesten und kleinlichen Repressalien blieb. Dabei haben wir vor allem das Würdegefühl des barocken Menschen zu beachten, der die kleinste Verdächtigung als Beleidigung auffaßte und der in einer Weise reagierte, die uns oft kaum verständlich ist. Dabei kann eine Aufzählung der großen Zahl von Zensurverlässen nicht von Interesse sein, sondern wir werden nur die wesentlichen Gesichtspunkte vor allem an Hand der Zensurakten, die uns für diese Zeit in größerem Maße zur Verfügung stehen, herauszuarbeiten versuchen. Gerade die Akten, die uns das Für und Wider der Meinungen zeigen, können da Aufschluß geben, wo wir in den Ratsverlässen vergeblich nach Motiven suchen. *) Franz, S. 382

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Innerpolitische Zensurmaßnahmen a) Pasquillen Wenn wir die Pasquillenliteratur an den Anfang stellen, so knüpfen wir an die oben erwähnten Finanzschwierigkeiten und die Mittel der Stadt­ väter, sie zu beheben, an. Die Bürgerschaft hatte keine andere Möglichkeit, die Innenpolitik ihrer Herren zu beeinflussen. So blieb den Untertanen nichts anderes übrig, als ihre Klagen, die meist recht handfest waren, vorzubringen und dem Rat mit Aufruhr zu drohen. Bei den handschriftlichen Pasquillen, deren Verfasser der Rat nie feststellen konnte, sehen auch wir schwer durch. Wer waren die Verfasser? Standen sie miteinander in Verbindung, oder gab es etwa eine organisierte Gruppe der Mißvergnügten, die nur auf günstige Gelegenheit zum Aufruhr wartete? Großes Aufsehen erregte ein Pasquill vom Jahre 1654. Es wurde an mehreren Stellen der Stadt angeheftet und enthielt schwere Anklagen gegen den Rat, in einem äußerst scharfen Ton abgefaßt2). Der Rat wird als Ver­ sammlung von Diebsgesellen bezeichnet, der dem armen Bürger das Letzte aus der Tasche ziehe, selbst aber 800 bis 1000 fl. für Hochzeiten der Patrizier ausgebe. Wenn aber ein einfacher Bürger oder eine Witwe käme und um etwas bäte, habe man nicht einmal dreißig Gulden. Der Fürer (ein Glied der bekannten Patrizierfamilie), der neulich gestorben, habe 100 000 fl., darunter 30 Zentner Silber, hinterlassen; am Anfang sei er aber auch nur ein armer Kerl gewesen. Da brauche man sich nicht zu wundern, wo das Geld der Bürger hinkomme. Man mache großes Aufheben mit der Kleider­ ordnung, daß sich aber die Geschlechterinnen mit Schmuck behängen wie die Gräfinnen, davon spreche niemand. Wie die Herren in der Losungstube ihre Steuern zahlen, sei dunkel. Man wisse aber, daß es nicht mehr so weitergehen werde. Wenn die Herren alles nur für leere Worte achteten, würden sie eines Tages böse Augen machen. Man werde sich an höhere Orte wenden und die ganze Klage in öffentlichen Druck bringen. Als Verfasser der Schrift wird „der weiland hochverstendigen, nunmehr aber leider aufs übelst regirten republik zu Nürenberg hechst beschwerten und betränkten Bürgerschaft ausschuß“ bezeichnet. Als das Pasquill vor die „Herren Älteren" gebracht wird, ordnen sie am 23. Januar umfassende Maßnahmen an. Der Rat, das Kirchenamt, das Ge­ lehrtencollegium, der Pfänder und die Kriegsverordneten werden aufgeboten und sollen für die Aufklärung des Falles sorgen. Man solle versuchen, ob man nicht die Handschrift erkennen könne. Am selben Tag reicht der Kon­ sulent Dr. Fezer ein Bedenken ein: „Der verzweifelte Pasquillant gibt sich durch und durch genugsamb zu erkennen, wes Standes und Geistes er sein müsse, nemblich ein plebejus, welcher von Regi­ mentssachen hat etwas läuten, aber nicht zusammenschlagen hören. Die gegen­ wärtige Form des aristokratischen Regiments sei ihm ein Greuel und wolte gern Democratiam introduzieren, und wenn er und seinesgleichen nur seine Gelter von 2) S I L 128 Nr. l

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der Losungsstuben hetten, möchte Religion und Polizey eines mit dem anderen zu Grund und Boden gehen. “ Die Regierung ist mit der Sache also sehr schnell fertig und ist in keiner Weise bereit, Verständnis aufzubringen. Beunruhigt ist sie aber doch. Am 24. Januar ordnet ein Ratsverlaß eine allgemeine Abrechnung an und läßt untersuchen, ob nicht für einige Fälle die Zinssperre (von Staatsanleihen) aufgehoben werden könne. Den Ratsherren wird verschärfte Schweigepflicht bei Versammlungen, Hochzeiten usw. auferlegt, damit nicht größeres Auf­ sehen erregt werde. Man denkt aber nicht daran, das Übel an der Wurzel zu packen. Die Nachforschungen nach dem Urheber blieben erfolglos. Der Markt­ meister Matthäus Amling wird verhört, weil er unter den Leuten war, die ein Exemklar des Pasquills gelesen hatten. Er gibt an, es sei an einem Pflock am Kürschnerhaus angeheftet gewesen, etwa dreißig Leute hätten sich darum gruppiert. Er habe aber niemanden erkannt. Auf die Frage, warum er das Pasquill nicht selber heruntergerissen habe, antwortete er, er habe vor Schreck nicht gewußt, was er tun solle, und habe es für besser gehalten, wenn ein Stadtknecht dies täte. Wahrscheinlich wollte er nicht den Haß seiner Mitbürger auf sich laden, die den Zettel mit Interesse lasen. Die Pasquillen wechseln in der Tendenz. Oft steht die Moral des Patriziats im Mittelpunkt der Anklagen. So behauptet ein Pasquill von 1658, daß die Ratsmitglieder und deren Söhne mit Frauen von zweifelhaftem Ruf Umgang pflegten. Außerdem wird wieder die Kleiderordnung angegriffen. Der Bürger­ schaft werde jede Freude mißgönnt, während das Patriziat immer stolzer werde. — Streng wendet sich der Prediger Johann Michael Dilherr gegen diese Anklagen und bezeichnet sie als die Stimme des übelsten Teiles der Bürger­ schaft. Dr. Fezer aber nimmt das Pasquillentum in seinen Gutachten jetzt nicht mehr so leicht wie früher. Die dauernden Schmähschriften seien ein Zeichen gärender Unruhe in der Bürgerschaft, Aufstände seien oft die Folge davon. Die Prediger sollten zur Untertänigkeit gegenüber der Obrigkeit ermahnen. Mit der Kleiderordnung aber solle man es nicht so genau nehmen; Zwangsmaßnahmen seien immer ungesund, man müsse freiwilligen Gehorsam zu erreichen suchen. Anders äußert sich Dr. Wölcker. Er wirft den Geistlichen vor, daß sie selber über die Hoffahrtsordnung klagten, statt die Bürgerschaft zur Be­ scheidenheit zu mahnen. Er sei übrigens der Meinung, daß das fast tägliche (!) Erscheinen der Pasquillen ihrer Wirkung starken Abbruch tue. Die Pasquillanten aber wurden immer verwegener. Das Pasquill vom 3. März 1658 hatte man bis in die Ratsstube geschmuggelt, wo man es unter dem Sitz des Herrn Kreß fand! Ein Ratsverlaß vom 3. Oktober 1663 empfiehlt die Veröffentlichung eines Mandats gegen das Pasquillantentunt. Die Flugschriften sollten vom Scharf­ richter öffentlich verbrannt werden — eine alte Gewohnheit. 128

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Die Konsulenten empörten sich vor allem über die Beschmutzung der Würde der Ratsherren; gegen die Verfasser müsse man mit strengster Unter­ suchung Vorgehen. Wenn auch Gott der Lenker der Dinge sei, so dürfe man doch nicht untätig Zusehen. Angebern solle man 500 fl. versprechen. Eine Verbrennung der Schriften empfehle sich nicht, da man sie zur Untersuchung brauche. Dr. Fezer meinte, daß es den Pasquillanten an patriotischem Sinne fehle; alle umliegenden Stände hätten Extrasteuern zur Bekämpfung des Erb­ feindes (der Türken) auferlegt. Die Leute hätten das Gebot der Stunde nicht begriffen und stellten mit ihrer Schreiberei die größte Verwirrung an, zumal wenn sie mit Brand und Mord drohten. Auf andere Weise suchte ein Pasquillant auf seine Obrigkeit einzu­ wirken, der am 13. Oktober 1693 sein Pasquill dem Pfänder an das Haus steckte. Er will den Rat vor einem Anschlag warnen und ihm ins Gewissen reden: wenn ihm Leib und Leben lieb sei, solle er endlich ein Einsehen in den Jammer der Bürgerschaft haben. Die Handwerke seien „gesperrt“, das Gewerbe gehindert, die Leute hätten nichts mehr zu verlieren und wagten darum alles. Die Bäcker machten das Brot so klein, daß man nicht wisse, wie man seine Kinder ernähren solle. Währenddessen ließen es sich die Herren gut sein, tragen ihre „Wampen“ herum und bedrückten nur die Bürgerschaft. Die Bauern auf dem Markt wüßten nicht, wie sie ihre Sachen teuer genug verkaufen sollten. Wenn die Leute keine „Ergetzlichkeit“ mehr hätten, würde das Blut erhitzt und gefährlich. Der Schreiber betont, er meine es gut mit dem Rat, und bittet ihn, zu bessern, was möglich sei. Der Verfasser appelliert zuletzt an die Höllen­ strafen und die Verantwortung vor Gott. Wenn auch die Konsulenten meinten, daß der Schreiber hier wieder falsche Anklagen nur eben unter Vorgabe patriotischer Gesinnung führe, so reagiert der Rat hier doch einmal positiv; wohl auch deshalb, weil er sich nicht direkt angegriffen fühlte und andere verantwortlich machen konnte. Die Herren Älteren erklärten am 13. Oktober, die Teuerung sei eine allgemeine Erscheinung, und der Rat habe keine Schuld daran. Die Hand­ werksdeputierten aber sollten den Bäckern, Metzgern usw. die Klagen der Bürgerschaft mitteilen und für Besserung sorgen. Die Konsulenten empfahlen unter anderem, mehr Vieh vom Land in die Stadt hereinzubringen und den Aufschlag vom Bier zu erlassen. Ein Verlaß vom 10. November wendet sich gegen Preissteigerung und untersagt den Bauern, nach auswärts zu liefern. Auf die künftige Entwicklung der Streitigkeiten zwischen Rat und Bürger­ schaft deutet ein Schreiben an den Agenten Dr. Hockmann in Wien hin. Man unterrichtet diesen über die Klagen der Bürger gegen den Rat und ermahnt ihn, die Augen offenzuhalten, ob die Bürgerschaft in Wien etwas gegen den Rat betreibe. Man möchte einer etwaigen kaiserlichen Kommission nicht unvorbereitet entgegensehen! Ein gutes Gewissen hatten die Herren jedenfalls nicht. Um die Ermittlung der Autoren der Pasquillen bemühte sich der Rat nicht mehr. Dr. Fezer meinte in einem Bedenken, daß man mit den Pasquil9

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lanten nicht viel erreicht habe, ihr Anhang sei zu groß und weitverzweigt. Wenn sich aber einer selber melde, solle man ihn straffrei lassen, wenn er die Gruppe der Unzufriedenen nenne. Das Pasquillantentum hörte auch während des ganzen IS. Jahrhunderts nicht auf, was die wiederholten Mandate beweisen. In einem solchen von 1701 wird erwähnt, daß bereits Materialien zur Brandstiftung gelegt wurden, jedoch rechtzeitig beseitigt werden konnten. Im März 1709 hatte Gottlieb Christopf Stahl eine „Lästerschrift“ drucken lassen, die voll „bodenloser Unwahrheiten und ehrenrühriger Injurien“ gewesen sein solle. Ein Mandat befiehlt die Ablieferung der Exemplare binnen acht Tagen. 1718 suchte der Rat vergeblich nach dem Urheber einer Lästerschrift mit dem Titel „Ana­ tomie“. Sie war aber vorher oft abgeschrieben worden und hat so zweifellos den vom Verfasser gewünschten Erfolg gehabt. Dafür suchte man durch eine große Verbrennungszeremonie den Bürgern das Verabscheuungswürdige solcher Schriften vor Augen zu führen. 1730 wurden demjenigen 100 Taler geboten, der den Urheber von folgendem Pasquill, das mit Kreide an die Rathaus­ mauer geschrieben worden war, angeben könne: „Auf, Bürger, auf, jetzt ist es Zeit, Das Joch ganz abzulegen, Wer Gott und Kaiser treu, Der greife nach dem (Degen)/' Diese sonderbare Art der Meinungsäußerung war beliebt. Schon 1693 hatte ein Patrizier am Roßmarkt eine „aufrührerische“ Kreideanschrift entdeckt: „Ihr Bürger halt zusammen, es wird bald“. Es wurde aber nie etwas aus den Drohungen der Hitzköpfe. Der nüchtern denkende Teil der Bürgerschaft, vor allem die Kaufleute, distanzierte sich von dem teils recht unflätigen Pasquillantenwesen und suchte sein Ziel auf dem Rechtswege zu erreichen. 1730 reichten die Kaufleute ihre Klage beim Reickshofrat ein. Im selben Jahre begann in Nürnberg ein Pasquillprozeß, der unerwartet weite Kreise ziehen und in seinen Auswirkungen über zwanzig Jahre dauern sollte s)! Von der Leipziger Jubilatemesse brachten Nürnberger Buchhändler eine gedruckte Beschreibung einer Pasquillmedaille mit, die angeblich in Nürnberg geschlagen und verteilt worden war. Der die Abbildung erklärende Text lautete: „Medaille, welche Bey Gegenwaertigen Conjuncturen Zu Nürnberg, und zum Gedaechtnus Derer Unterdrückungen, die von Seiten des Magistrats Gegen die Burger- vornehmlich aber Kauffmannschaft ausgeübet worden: Gepraeget Im Jahr, da es mit dem Magistrat hiese: Bis hieher soltu kommen, und nicht weiter, hie sollen sich legen deine stoltze wellen." Die eine Seite stellet einen Nürnberger Senatoren vor, welcher von vier der herrlichsten Tugenden, Scilicet vel quasi, zu beeden Seiten umgeben ist: 8) Hampe, Mittig. S. 244, S I L 85 Nr. 29/31

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Zur Rechten ergreiffet ihn Avaritia und wird vergesellschaftet von Justitia: Zur Linken wird er aber von Superbia gehalten, welche Fastus geleytet: mit der Überschrift: Ich bin ein Glied an eurem Leib, des troest ich mich von Hertzen. Über dem Haupt des Senatoris schweben zwei Genii: Impostura und Falsitas, Welche beflissen, dem Senatori einen Krantz, welcher von Schlangen geflochten, aufzusetzen, So Astutiam anzeiget: Im Abschnitt stehen folgende Worte: Seine Kleidung zeiget ihn an / Sirach. cap. 19. v. 27. Die Umschrift ist aus dem proph. Arnos. 3. v. 10. Sie achten keines Rechten, spricht der Herr, sammlen Schaetze von Frevel und Raube in ihren Palaesten. Auf dem Avers praesentirt sich eine Landschafft mit etlichen Seen oder Weyhern, und zwischen diesen stehet ein Nürnbergischer Senator, mit aufhabender Peruque und den Kragen um den Hals: Aber anstatt des übrigen und ordentlichen Habits mit einem Fischer-Röcklein angethan und Barfus, dabey einen Fisch-Hamen über der Achsel habend, worinnen allerhand Kaufmanns-Güther und Handwerks-Zeug enthalten: Mit der Inscription aus dem Proph. Habac. cap. I v. 15. Sie ziehen alles mit dem Hamen und fahens mit ihrem Netze, des freuen sie sich und sind fröhlich: Auff dem See zur Lincken, praesentiret sich ein Fischerbooth, darinnen von Zweyen ein Netz gezogen wird, und am Ufer sitzet einer mit einer Angel: Auf der rechten Seiten aber gehet an einem Weyher ein Raiger, welcher auch beflissen zu fischen, wo er nicht besetzet hat. Im Abschnitt stehen folgende Worte. Deputatus Magistratus Norimbergensis. Im Jahr, da die Bürgerschaft wieder den Rat war. Die Umschrift ist aus dem Proph. Arnos. 2. v. 7. Sie treten den Kopf der Armen in Koth, und hindern den Weg der Elenden.

Der Rat forderte sofort von Leipzig die Untersuchung des Falles. Das dortige Stadtgericht nahm diese sehr gewissenhaft auf und meldete das Ergebnis: die Pasquillen wurden im Laden des Buchhändlers Joh. Chr. Mar­ tini verkauft. Der Handlungsdiener gleichen Namens, ein Vetter des Inhabers, habe 500 Exemplare auf Anordnung eines Herrn Jean Paul Gelatin de Geneve durch einen Jean Antoine de la Rue, z. Zt. wohnhaft in Schwabach, zu­ geschickt bekommen. Er selbst habe den Inhalt nicht gekannt und, da es gedruckt, auch eine Druckerlaubnis angenommen. Das Stadtgericht konfis­ zierte die noch vorhandenen 174 Exemplare, der Handlungsgehilfe wurde wegen Fahrlässigkeit zu 6 Jahren Landesverweisung verurteilt. In Nürnberg aber kam man trotz eifrigster Bemühungen keinen Schritt weiter. Die Ursache war vor allem die Unwilligkeit der benachbarten Landes­ herrn, zur Klärung des Falles beizutragen. Die markgräfliche Regierung gab auf wiederholtes Anschreiben Nürnbergs keine Antwort. Von dieser Seite betrachtete man Schwierigkeiten Nürnbergs immer mit Genugtuung. Nicht anders verhielt sich die kurfürstliche Regierung zu Straubing. Dort verdächtigte der Rat den Buchdrucker Johann Franz Hanckh zu Stadtamhof. Ihn betrachtete man als den Drucker der Flugschrift, da er bisher die Flug­ schriften der prozessierenden Nürnberger Kaufmannschaft gedruckt und ver­ kauft hatte. Wiederholtes Ansuchen Nürnbergs an die kurfürstliche Regierung blieb erfolglos. Sie erklärte dem Rat am 10. Oktober 1731, was Hanckh druckte, seien keine Pasquillen; man könne ihm nicht verbieten, Material­ sammlungen zu dem am Reichshofrat in Wien anhängigen Prozeß zu drucken. 9*

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Von dem Verdacht des Pasquillenmedaillendrucks konnte sich Hanckh bei seiner Regierung durch ein Rechtfertigungsschreiben reinigen. Dies war für ihn nicht schwer, da man in Nürnberg keinerlei Beweise, sondern nur Ver­ mutungen Vorbringen konnte. So ruhte der ganze Fall etwa zwei Jahre, bis der Rat eine neue Spur entdeckte. Die entscheidende Rolle spielte der Begleitbrief, den der erwähnte Antoine de la Rue an den Leipziger Buchhändler geschrieben hatte und den das Leipziger Stadtgericht auf Nürnbergs Bitten neben einer Abschrift der gesamten Prozeßakten im Original nach Nürnberg sandte. Der Globusmacker und Mathematikus Johann Phil. Andreae hatte sich schon wiederholter Zensurverstöße schuldig gemacht. 1730 hatte er Landkarten des Nürnberger Gebietes ohne Privileg und Genehmigung gedruckt, und 1733 konnte man ihm die Kolorierung von in Schwabach gedruckten Karten nachweisen, die von „nürnbergischen intendierten Anmaßungen" hinsichtlich der Territorialgewalt gesäubert und dem Markgrafen zugeschickt worden waren. Außerdem hatte er Material zu Hanckh geliefert. Als man bei ihm eine Haussuchung vornahm, fand man Dinge, die ihn schwer belasteten: die unrechtmäßige Abschrift eines Ämterbüchleins und der Findelrechnung, die er beide mit einem Kommentar bei Hanckh in Druck gegeben, um das Patriziat in Sachen Nürnberg contra Nürnberg zu belasten. Außerdem hatte er einen Dialog für die satirische Folge „Gespräche im Reiche der Toten" entworfen, der die üblen Zustände in Nürnberg zum Inhalt hatte. Zudem fand man ein Gesuch Andreaes um die Stelle des brandenburgischen Agenten in Nürnberg vor, dem er durch Angriffe gegen die Stadt Nachdruck zu verleihen gesucht. Zunächst legte der Rat diese zweifelhafte Person in das „Männereisen“. Im Laufe der Untersuchungen stellte man die Identität der Schriftzüge des erwähnten Briefes mit denen der anderen Schriften Andreaes fest. Als ihm der Brief vorgelegt wurde, zu dem er sich nach vielen vergeblichen Aus­ flüchten als Autor bekennen mußte, zweifelte niemand daran, daß er auch das Pasquill verfaßt habe, was Andreae aber heftig leugnete. Mit großer Beredsamkeit und Schreibfertigkeit suchte er dies dem Rat glaubhaft zu machen. Es gab den Schwabacher Drucker Glück als Auftraggeber und Ur­ heber, den Kupferstecher Berndt und den Drucker Bronauer als Verfertiger an, er selbst habe nur vermittelt. Die letzteren wurden festgenommen und mußten ihre Mithilfe gestehen. Doch suchten sie vor allem Andreae zu belasten, der sie überredet habe. Dieser aber gab an, daß Bronauer gesagt habe: „Wann auch zehn Teufel darauf stünden und die Herren des Rats zerreißeten, so drucke er’s doch." Die Beschuldigungen und Verhandlungen reißen nicht ab. Doch man kommt nicht mehr weiter, weil vor allem Johann Paul Glück in Schwabach nicht zur Untersuchung gezogen werden konnte, da seine Regierung sich mit der Frage nicht beschäftigte. Er wollte sogar noch Profit aus der Sache schlagen und bot dem Rat die anstößigen geographischen Beschreibungen, Ämterbüchlein und Findelrechnungen, die er verlegt hatte, zum Kauf an. 132

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So sdireitet der Rat zur Verurteilung. Ein Gutachten Dr. Scheurls dient als Grundlage; er erkannte auf lebenslänglichen Kerker für Andreae. Der Rat schloß sich der Sentenz am 11. Februar 1734 an. Die beiden Handwerker kamen mit zwei Jahren Gefängnis davon. Die noch vorhandenen Exemplare des Pasquills wurden öffentlich verbrannt. Man sollte meinen, daß der Fall Andreae damit ein Ende gefunden hätte, doch er geht nun erst eigentlich an. Im März 1734 gelingt es dem Mathematiker, zu entkommen. Er läßt sich darauf in Schwabach nieder und bittet den Rat um Begnadigung, die ihm aber nicht gewährt wird. Die Korrespondenz mit Andreae läßt sich in Bruchstücken bis 1757 verfolgen. Dabei nimmt die Sache eine ganz eigenartige Wendung; in diesen Jahr­ zehnten scheint der Rat Andreae, welcher der Stadt wiederholt seine Dienste anbot, als Spitzel verwendet zu haben. Leider fehlt uns der Großteil der Akten, man hat sie wahrscheinlich aus erklärlichen Ursachen vernichtet. Grundlos konnte jedenfalls Andreae in seinem letzten Brief nicht schreiben, daß er „viele Verdrießlichkeiten abgewendet, die von dem hochfürstlichen Haus Anspach gegen Nürnberg haben vorgenommen werden sollen“ und sich dabei auf seine Korrespondenz mit Herrn Kastellan von Volckamer beruft. Nachweislich sandte er Berichte über Truppendurchzüge nach Nürnberg. Einen einfältigen und plumpen Pasquillanten haben wir in Andreae jeden­ falls nicht vor uns. Intelligenz und Verschlagenheit waren bei ihm in eigen­ artiger Weise gepaart. Wir werden aber den Verhältnissen nicht gerecht, wenn wir hinter den Pasquillanten des 18. Jahrhunderts meistens Leute von zweifelhaftem Cha­ rakter vermuten. Obwohl wir die Verfasser der handschriftlichen Pasquillen nicht kennen, so spüren wir doch immer eine ehrliche Entrüstung aus ihren Zeilen. Sie stammen alle aus der sozial am tiefsten stehenden Schicht der Stadt, die tatsächlich am Hungertuch nagte. Bis zum Ende des Jahrhunderts lassen sich diese Schriften verfolgen. Die Pasquillen aus dessen zweiter Hälfte klagen vor allem über die Wirtschaftspolitik des Rates, weil dieser die Preise dauernd in die Höhe trieb. Man klagt die Geistlichen an, daß sie zwar um die Behebung der Notlage beteten, sich aber doch scheuten, das Kind beim Namen zu nennen (1771). Auf höherem Niveau stehen die gedruckten Schriften, welche die Innen­ politik des Rates angriffen. Eine geübte Hand verrät der Schreiber des „Gesprächs im Reich der Toten“, das 1773 in Fürth erschien und nach Nürn­ berg eingeschleppt wurde4). Zwei Nürnberger Geistliche unterhalten sich über die Zustände in der Stadt: „Mancher will ein Vater des Vaterlandes heißen und hat doch alle Barmherzigkeit ausgezogen. Der arme Untertan, der in diesen bedrückten Zeiten bis auf das Mark ausgesaugte Untertan, wird durch die zurück­ gebliebenen und zum Teil ganz neu aufgekommenen Steuern unbarmherzig gepresset und ihm zu seiner Erholung keine Zeit gelassen. Die den Wucher 4) Bibi. Will III 1008/09

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strafen sollten, sind zum Teil die größten Wucherer. Ist das recht, Rehberger! Reden Sie, ist das recht, wenn man das Getreid, welches in guten Zeiten das Simra vor 8 fl. auf den Boden gebracht, in den teueren und harten Jahren den Bürgern und Untertanen beinahe um 100 fl. anhängt? ... Sie sagen wohl: laut rufen, ja, wenn man die Freiheit dazu hätte wie im Reich der Toten. Die böse Welt kann alles eher leiden, nur die Wahrheit nicht!" Und was tat der Rat? Er häufte ein erfolgloses Verbot auf das andere. Das Pasquill wurde eine Literaturgattung; die angesehensten Persönlich­ keiten machten sich darauf aufmerksam und schickten sich gegenseitig das eine oder andere zu. Der Pasquillsammelakt der Bdbliotheca Williana enthält einen Brief, in welchem dem bekannten Professor Will zu Altdorf, der größten Autorität der Hochschule, von einem Freund ein Pasquill zur Abschrift zu­ gesandt wurde. Wesentlich erscheint uns noch eine politische Schrift, gegen die der Rat mit allen Mitteln vorzugehen suchte, weil sie seinen empfindlichsten Nerv traf und von einem Manne verfaßt war, der tiefen Einblick in die ganzen Nürnberger Verhältnisse hatte. Es handelt sich um die Nummern 3 und 4 der „Beiträge zur Geschickte der deutschen Justizpflege im 18. Jahrhundert“, die Liz. Joh. Leonh. Staudner, „Herzoglich Hildburghausisch und gräflich R. E. Truchsessischer Rat und Hofrat" herausgab. Er war der Sohn eines Nürn­ berger Bürgers und stand 1765/81 im Dienste der Stadt, zuletzt als Konsulent. Wegen unbedeutender Differenzen war er aus dem Amt geschieden und hatte dann bei verschiedenen Herren Dienste angenommen 5). In den erwähnten Nummern der „Beiträge" setzt er sich mit den Nürn­ berger Justizverhältnissen auseinander. Er tadelt unter anderem, daß bei Inquisitionsprozessen kein Verteidiger zugelassen wird, kritisiert das schauder­ hafte Lochgefängnis und wirft dem Rat Justizmord bei einem Prozeß gegen zwei angebliche Kindsmörderinnen vor. Er sieht es als seine Aufgabe an, die Nürnberger Gerichtspflege vom Gesichtspunkt der Aufklärung zu geißeln, indem er ihr Mangel an gesundem Menschenverstand, Kultur und Erziehung vorwirft. Staudner geht auch auf den Prozeß Nürnberg contra Nürnberg ein und zählt die uns bekannten Argumente auf. Dabei zeigt er sich als Verfechter der aufgeklärten Monarchie, wo ein weiser Souverän die Seele des Staates dar­ stelle, während in einer Oligarchie nur der Egoismus der Besitzenden herrsche. „Nur die miserable Kunst, mit Feinheit zu trennen, zu schwächen, zu drücken, ohne Aufruhr zu erregen, den einen Teil zu bestechen, um über den anderen zu herrschen, die Ausbreitung der Einsichten, welche dem Volk über seine Gerecht­ samen und über die Gebrechen der Staatsverwaltung die Augen öffnen, zu hemmen — nur diese verächtliche Abart der Regierungskunst, sage ich, kann die, welche darin Meister sind, zu großen Oligarchien machen."

In Nr. 4 seiner Folge nimmt Staudner zu der Konfiskation des vorher­ gehenden Heftes Stellung. Dabei lernen wir die typische Haltung eines Gebildeten der Aufklärungszeit zur Zensurfrage kennen. 5) S II L 22 Nr. 6

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„Bei solchen Entschlüssen und Vorhaben (der Verschleierung der Wahrheit), sehe ich wohl voraus, daß dieses vierte Stück meines Journals ebenso wie sein Vorgänger, die Ehre haben wird, im Nürnbergisdien Index verbotener Schriften zu paradieren, aber der Geist der Zeiten hat diese Auszeichnung, welche unbedeu­ tenden Schriften nicht mehr so leicht zu widerfahren pflegt, schon längst das Gepräge eines vorzüglichen inneren Gehalts und Werts aufgedrückt... In der Ver­ legenheit, worin man sich befindet, den Beifall, welchen sich der Schriftsteller mit unwiderleglichen Beweisen erzwingt, wozu sonst nirgends ein Ausweg, dessen man sich nicht schämen müßte, vorhanden ist, greift man zum nächsten besten und dabei noch für Einfaltspinsel höchst respectablen Desperationsmittel der gewaltsamen Unterdrückung. Wenigstens ist’s doch immer unendlich viel leichter, ein Werk von der Art zu verbieten als dasselbe zu widerlegen. Aber was ist gegen das Ende des 18. Jahrhunderts mit diesem armseligen, lichtscheuen Mittel ausgerichtet? Man weiß aus tausend Erfahrungen, daß es immer die Maxime des Despotismus war, die Wohltäter des menschlichen Geschlechts, welche noch jemalen gegen herrschende, vom Pöbel angebetete und von der Politik der Großen unterstützte Irrtümer und Vorurteile mit Mut und Entschlossenheit zu Feld gezogen sind, auf solche Art wehrlos und schweigend zu machen. Übrigens wird sogar von einer der größten gesetzgebenden Mächte Europas — oder besser gesagt des Erdbodens —, von der weisen Katharina Legifera, in der Instruktion zur Fertigung eines neuen Gesetz­ buches bezeugt: der Hauptfehler verbotener Bücher sei allemal dieser, daß sie die Wahrheit sagen."

Ein Zitat aus Montesquieus „Esprit des Lois“ beschließt den Traktat. Der Rat versucht nun auf mehrfache Weise, dem unliebsamen Publizisten den Mund zu stopfen. Es ergeben sich aber allerhand Schwierigkeiten. Die Buchhändler erklären, sie hätten das Werk weder gedruckt noch verlegt, sondern es sei ihnen vom Buchhändler Palm in Erlangen als Kommissionsgut (das gewöhnlich nicht zensiert wurde) übersandt worden, sie könnten keine Verantwortung dafür übernehmen. Der Rat konfisziert die 18 Exemplare des vierten Stücks, die noch bei den Händlern vorrätig waren. Staudners Beiträge hatten auch in der Presse Aufsehen erregt. Die „All­ gemeine Literaturzeitung“ erwähnte die Konfiskation in Nürnberg. Falsch unterrichtet war das „Hamburgische politische Journal“, indem es glaubte, dem Rat seine Anerkennung aussprechen zu können, daß er die Erlaubnis zum Verkauf der kritischen Schrift in Nürnberg gegeben habe. Dem Rat war die ganze Sache äußerst peinlich, denn gerade Aufsehen wollte er vermeiden. Er suchte zunächst Staudners durch List habhaft werden zu können. Er hatte nämlich erfahren, daß Staudner vor der Konfiskation seines Werkes in einem Garten gewohnt hatte, der nürnbergisches Lehen war. Man wollte nun warten, bis der Hofrat von Fürth, wo er sich aufhielt, zurückkehre, und ihn dann festnehmen. Staudner muß aber von der drohenden Gefahr erfahren haben und kam nicht zurück, und sendete, um ganz sicher zu gehen, an die Universität Freiburg i. Br. und Jena die „Species Facti“ und bat um rechtliche Stellungnahme zu folgenden Punkten: l) Ist Staudner noch Bürger (er hatte noch nicht offiziell auf das Bürgerrecht verzichtet, man hatte ihm aber die Aufsuchung fremden Schutzes zu­ gestanden)? 135

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2) Sind Nr. 3 und 4 der „Beiträge" Pasquillen? 3) Sollen sie durch den Scharfrichter verbrannt werden? 4) Wie soll man den Verfasser bestrafen? Wir können auf die detaillierten Antworten nicht eingehen. Freiburg verneinte vor allem die Frage 2 und hielt eine rechtliche Verfolgung für unbegründet. Der Verfasser der Schrift sei ja bekannt, und ob seine Anklagen ungerechtfertigt seien, könne nur der Reichshofrat entscheiden (vgl. die Be­ stimmung der Peinlichen Halsgerichtsordnung Art. 110). Den Nürnberger Wünschen geneigter verhielt sich Jena. Obwohl es auch eine Reihe von Argumenten aufzählte, die gegen eine Verfolgung sprachen, hielt man dort eine solche jedoch nicht für aussichtslos. Nürnberg solle sich an die Ansbacher Regierung wenden, unter deren Schutz Staudner stehe, und wenn man hier eine abschlägige Antwort erhalte, solle man die Sache vor den Reichshofrat bringen. Diese Vorschläge hielt der Rat der Stadt doch für zu bedenklich. In Ans­ bach hätte er bestimmt kein geneigtes Ohr gefunden, und am Reichshofrat wollte er diese Fragen nicht mehr, als unbedingt nötig war, betreiben. So ließ man die ganze Sache auf sich beruhen.

b) Religion und Moral Wenn wir die Maßnahmen des Rates gegen die „Pasquillantenliteratur" und die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen und politischen Fragen betrachten, so zeugen sie nicht immer von hohem Verantwortungsbewußtsein. Um so genauer nahm er es dafür, wenn er Religion und Moral seiner Bürger gefährdet glaubte. Vor allem bereiteten ihm die „Hockzeitscarmina" Sorge. Zunächst stieß er sich nur daran, daß sich darin jedermann titulieren ließ, wie es ihm gut­ dünkte. Am 18. Juli 1660 wird im Rat verlassen: „. . . ist befohlen, denen Buchdruckern insgesamt ernstlich und beweglich einzubilden, weder einige carmina noch den titul derselben zu drucken, ehe sie zuvordrist censirt und placitirt worden sein werden" 6). Bald aber fand man den Inhalt dieser carmina nicht einwandfrei, und man konnte nicht umhin, auch dem Pegnesischen Blumenorden einen Verweis zu erteilen, obwohl man da wirklich nichts zu befürchten hatte: „Des Herrn Kirchenpflegers Herrlichkeit aber soll man ersuchen die widerholte anstalt zu verfügen, damit auch nichts ohne Zensur alihie gedruckt werde, auch der sogenannten Pegnitzschäffer gesellschaft, so mehrenteils in geistlichen Personen, Schuldienern und Studiosis Theologiae bestehet, einhalt zu thun, daß sie in ihren Teutschen Hochzeit- und anderen reymen die verblümte obscoena unterlassen und sich ihrer Profession besser erinnern“ 7). Auch die auf der Hochzeit des Sohnes Matthes Müllers, eines Mitglieds des engeren Rates, rezitierten „Reimgedicht" fand man verfänglich und mit 6) R.V. 18. VII. 1660

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R.V. 16. XII. 1672

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„unflätigen Händeln“ gemischt. Der Rat stellte den Drucker Wolf Endter deshalb zur Rede und schärfte ihm die Zensur ein. 1710 wurde der Buchdrucker Sigmund Froberg wegen eines ähnlichen Vergehens ein paar Tage auf den Turm gesperrt8). Der Rektor des Gymna­ siums, Samuel Froberg, der viele solcher Gedichte verfaßte, wird ermahnt, keine unziemlichen Titel vorauszuschicken. 1680 sah man sich veranlaßt, gegen den Druck von Spielkarten mit un­ züchtigen Versen anzugehen. Der Kupferdrucker Johann Peter Wolf kam deshalb einen Tag, der „Poet“ cand. theol. Joachim Müller zwei Tage auf den Turm. Der Kupferstecher Johann Azelt und der Schulmeister Hans Jakob Krafft wurden nur mit einem „ernstlichen Verweis“ bestraft9). Für Vergnügungen der Bürgerschaft hatte der Rat nicht immer viel übrig. So ließ er im November 1748 Komödien verbieten und dafür sorgen, daß die Bürger „den sich einschleichenden Lustbarkeiten“ nicht so nachhängen 10). — Im Juli 1753 verwahrte man sich beim Reichshofrat, daß in Nürnberg die „Traktätlein über das weibliche Geschlecht“ gedruckt worden seien, die da­ mals von sich reden gemacht hatten. Noch 1801 ließ der Rat 400 Exemplare des Tagebuchs des Scharfrichters Franz“ beschlagnahmen, weil darin an ein paar Stellen Sittlichkeitsvergehen erwähnt worden waren. Das Werk hatte der Konsulent Dr. Endter kurz vor seinem Tode in Druck geben lassen. Es waren Aufzeichnungen, die der Scharf­ richter Franz von seiner Tätigkeit in den Jahren 1573 bis 1614 gemacht hatte. Der Konsulent gab das Werk heraus, um die Fortschritte in der Justiz­ pflege seit diesen barbarischen Zeiten vor Augen zu führen. Dem Zeitgeist entsprechend ist das Interesse der Öffentlichkeit an kon­ fessionellen Fragen stark zurückgegangen, die politischen Ereignisse standen im Vordergrund. Nur selten findet der Rat Gelegenheit, gegen ein Werk die­ ser Art einzuschreiten. Aufsehen erregte der Pfleger zu Vilseck, Joh. Hieron. Imhof, ein Glied der bekannten Patrizierfamilie, als er 1680 konvertierte. Der Prediger bei St. Jacob, Andreas Unglenk, tadelte in mehreren Schriften den Schritt Im­ hofs. Am 23. Dezember ging der Rat dagegen vor und ließ alle Streitschriften konfiszieren. Der Streit dauerte aber noch lange an. Noch 1683 überreichte Unglenk einen Traktat gegen einen zum Papsttum übergetretenen Anonymen mit dem Titel: Der in der Kirchen Christi ewig verstummte und daraus ewig verbannte heidnische Abgott Apollo . . .“ Der Rat aber beauftragte den Kir­ chenpfleger und Dr. Fezer, dafür zu sorgen, daß mit dem Streit endlich ein Ende gemacht werde. 1682 fand man Gelegenheit, den Sudenprediger im Spital Jacob Frörnteich, der auch beim Kirchendienst einige Änderungen vorgenommen hatte, zu tadeln. Er hatte ein Liederbuch in die Zensur gegeben, das in schlechten Rei­ men und in „wunderlicher Schreibart“ verfaßt war und dazu gelb gedruckt 8) R.V. 19. XII. 1710 ») R.V. 31. XII. 1680

10) Stadtarchiv Kirchenamt 30

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werden sollte. Der Rat verbietet das seltsame Werk und ermahnt seine Buch­ drucker, es nicht zum Druck anzunehmen. Früh wandte sich der Rat gegen den Pietismus. Am 1. November 1703 J1) werden die Prediger aufgefordert, Gutachten einzureichen, wie man dem neuen Sektierertum steuern könne. Dem Buchdrucker Endter wird am gleichen Tage erlaubt, ohne Nennung seines Namens ein Werk „gegen die Schwär­ mereiw zu drucken. Eigenartig verhielt sich der Rat, als 1732 die Salzburger Emigranten nach Nürnberg kamen und dort Zinzendorf Ausgaben seiner Bibel an sie verteilen ließ. Als das sächsische Konsistorium Bedenken gegen dieses Buch äußerte und es verbieten ließ, forderte der Rat die Emigranten auf, ihre Bibeln gegen einwandfreie einzutauschen. Zinzendorf schrieb daraufhin einen heftigen Brief an die Stadt. Man habe den Emigranten ihre Bibeln „entlockt" und den gräflichen Namen diffamiert. Die Prediger werden um ihr Gutachten in der Sache gebeten, und sie empfehlen, dem Grafen eine beruhigende Antwort zu geben. Man habe nicht daran gedacht, seine Bibel hier zu verbieten. Man wolle sich nur mit dem umstrittenen Werk nicht einlassen und nicht den Irrtum aufkommen lassen, als ob Nürnberg diese Sache unterstützt habe. Zu­ gleich aber fordern die Prediger den Rat auf, nachforschen zu lassen, wer mit dem Grafen in Verbindung stehe, und den Bürgern einen Kontakt mit ihm zu verbieten. Es sei ihm zu untersagen, seine Schriften zu verteilen, man werde sie sonst als „turbatores ecclesiae nostrae" betrachten und „andere mesures nehmen müssen" 12). Diese Handlungsweise veranlaßte Christian Dippel in einer Schrift „ Pre­ digt für Nürnberger Prediger“, diese scharf anzugreifen. Am 20. Januar 1732 befaßt sich die „Staats- und Gelehrtenzeitung des Hamburgischen unpartei­ ischen Korrespondenten" mit dem Werk, wodurch man in Nürnberg auf das­ selbe aufmerksam wurde. Prediger Häcker erwähnte dabei nochmals, „wie weit das Gräflich Zinzendorffische Unwesen rumort", und forderte die christ­ liche Obrigkeit auf, daß „mit Ernst und Nachdruck dem vorgebeugt und ge­ steuert werde" 12). Im Zuge der Abwehr aufklärerischen Gedankengutes läßt der Rat 1778 durch Verlaß das Verkaufen „irreligiöser" und gemeinschädlicher Bücher bei Strafe verbieten und schärft die Zensur ein. 7 Jahre später13) wird angeord­ net, man solle „den sämtlichen Buchhändlern geschärftest auferlegen, ihre Bücherkatalogos, mithin auch den Lesebücher-Katalogum des Herrn Predi­ gers Spörls Hochehrwürden zur Zensur, zur Delirung der sogar obszönen, wider die Religion anstößigen und den gefährlichsten Gift enthaltenden Bücher und elender Broschüren, zu überschicken" 14). Selten werden Zensurmaßnahmen, die Rücksicht auf die Empfindlichkeit katholischer Stände erkennen lassen. So verläßt der Rat am 25. Mai 1673 „M. Georgii Lani von Trenchin in Ungarn, gewesten Schulrektoris zu Carpon, R.V. 1. XI 1703 12) Stadtarchiv Kirchenamt 40 i

n)

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13) R.V. 23.X. 1733 14) R.V. 19. IX. 178 5

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Exulis, aus Leipzig überschickte und dedizierte 12 Exemplaria seiner ge­ druckten relation über die erlittene papstische Gefängnus etc., soll man an­ nehmen, austheilen und Ihme davor 12 Rthl. übermachen. Denen hiesigen Buchdruckern auch das Nachdrucken dieses Tractätleins, zu vermeyding alles besorglichen unglimpfs an Kayserl. Hoff, allerdings verbieten“. Im März 1683 15) beschwert sich Peter Philipp, Bischof zu Bamberg, über den Rektor der Schule im neuen Spital M. Simon Bormeister, weil er in sei­ nem „Schauplatz des römischen Kaisers“ anzügliche Relationen über das Hochstift Bamberg, den geistlichen Stand und die römische Kirche gebracht habe. Bormeister verfaßt daraufhin eine Apologie und Dr. Fezer ein Begleit­ schreiben, nachdem er Bormeisters Schreiben „moderatius“ gemacht hatte. Zugleich aber sendet man Kopien der beiden Schriftstücke an Dr. Oelhafen nach Regensburg für den Fall, daß Bamberg sich an die katholischen Stände wenden sollte. Außerdem möge Oelhafen zeitig mit Kursachsen und anderen evangelischen Ständen konferieren. Man wollte also in der Sache nicht nach­ geben. Einige Jahre später wurde der Buchführer Johann Hoffmann auf einen Turm gesteckt, weil er den „Apokalyptischen Traktat . . . Nucleus mellitus“ ohne Zensur gedruckt hatte. Als man Hoffmann wieder herabließ, empfahl ihm der Rat, er solle von dem bewußten Traktat nichts in katholische Hände fallen lassen. Wenn er sich aber an den Buchdrucker halten wolle, weil dieser seinen, Hoffmanns, Namen unbefugt daraufgedruckt, so lege man ihm nichts in den Weg. Wenn ihn aber der kaiserliche Fiskal anklage, könne man ihn nicht schützen, sondern lasse alles den Verbreiter und den Autor verant­ worten 16). Wesentlich Neues geben uns diese Verlässe nicht mehr, sie sind die letz­ ten Spuren einer mehr oder weniger abgelaufenen Zensurepoche. Einer neuen Zeit mit neuen Problemen wenden wir uns zu, wenn wir im folgenden die Zensurmaßnahmen des Magistrats gegenüber den periodischen Zeitungen verfolgen. Die politischen Zeitungen Im Laufe unserer Betrachtungen haben wir schon öfter Maßnahmen er­ wähnt, die der Nürnberger Rat gegenüber der Tagespresse ergriff. Es han­ delte sich dabei um die verschiedenartigsten Formen: Flugblätter, „Neue Zeitungen“, handschriftliche Zeitungen der sog. Novellanten usw. Im Dreißig­ jährigen Krieg tauchten schon einige Jahrgänge periodischer Wochenzeitungen auf. Die ereignisreichen Jahrzehnte des Krieges gaben den periodischen Blät­ tern eigentlich das Leben, wenn auch schon vorher vereinzelt solche aufge­ taucht waren, so die ersten in Straßburg 1608. Das rege politische Interesse führte dazu, daß im Laufe des 17. Jahrhunderts fast in jeder größeren Stadt eine, manchmal sogar mehrere periodische Zeitungen herauskamen. Dieser Tagespresse gegenüber war der Rat sehr negativ eingestellt. Es wurde für ihn jedoch immer schwerer, gegen den Strom der Zeit zu schwim15) R.V. 8. III. 1683

,6) R.V. 15. IV. 1690

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men, und seitdem es Nürnberger Verlegern gelungen war, kaiserliche Privi­ legien für ihre Zeitungen zu bekommen, blieben seine Versuche auf die Dauer aussichtslos. Doch die Zensur dieser Blätter blieb ihm Vorbehalten, und er nahm diese Aufgabe mit großer Gewissenhaftigkeit wahr. Der Zensor konnte dabei nie vorsichtig genug sein, und dem Rat wäre es am liebsten gewesen, wenn nur Berichte über die Zeremonien anläßlich der Geburt eines Prinzen und Ähnliches in die Zeitung gekommen wären. Sein Grundsatz war: Nur nicht den „hohen Herrn und Potentaten“ zu nahe zu treten und irgendwelche Verwicklungen zu provozieren. Stoff für die Zeitungen gab es bei den zahlreichen kriegerischen Verwick­ lungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Hülle und Fülle. Die Schwierigkeiten für den Zensor waren unübersehbar. Mit Recht nennt ihn Hampe den mit der undankbarsten Aufgabe betrauten und geplagtesten Mann in der alten Reichsstadt Nürnberg 17). Selten hielt es jemand an dieser Stelle lange aus. Kein Wunder, daß die Zeitungen ziemlich bedeutungslos blieben und über das „relata refero“ nicht hinauskamen. Sie waren Zusammenstellungen von Korrespondentenberichten und Nachrichten, die man von anderen Zei­ tungen abschrieb. Von eigener Stellungnahme oder Meinungsbildung war keine Rede. Jedes „räsonieren“ war ausdrücklich verboten. Wenn wir uns den Quellen zuwenden, so sollen zunächst einige Belege dafür gebracht werden, wie der Rat dem Übel, als das er das ganze Zeitungs­ wesen ansah, zu steuern suchte. Am 25. November wird Christoph Lochner das Drucken der „gemeinen Zeitungen“ verboten18). — Am 23. Oktober 1663 wird im Rat verlassen: „deß Herrn Kirchenpflegers woledle Herrn, sampt denen Herrn Scholarchis, ersuchen, ernste Verordnung zu tun, damit das Zeitungdrucken allhier würcklick und allerdings ab- und eingestellt werde, weiln hiesige Statt des­ halben sonderbahres odium auf sich ladet.“ Doch die Bemühungen blieben erfolglos. Schon ein Jahr später erregt die „freyheit mit Aussprengung der ietzt laufenden Zeitungen“ Anstoß; der Kirchenpfleger wird beauftragt, durch die Zensur für die Beseitigung „parteyischer Zusätz“ zu sorgen 19). Auch nach der Privilegierung der Buchdrucker Felsecker, Endter und Lochner setzt der Rat seine Bemühungen fort, vor allem wenn es am Kaiser­ hof Klagen über die Zeitung gegeben hatte. Schon 1687 hatte man auf Grund einer verfänglichen Nachricht in der Lochner-Zeitung erwogen, ob nicht „das Drucken der Felsecker und Lochner-Zeitungen (die Endter druck­ ten damals keine) gänzlich abgestellt und darniedergelegt werden möge“ 20). Öfter läßt der Rat seinen Agenten in Wien bei der kaiserlichen Behörde vorstellig werden, um dieser zu zeigen, welche Folgen die großzügige Privi­ legierung habe. Im Oktober 1702 überläßt man es der „Dextrität“ des Agen17) Hampe, Frank. Kurier 12. VI. 1896 „Zur Zeitungsausstellung im Germanischen Museum"

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18) R.V. 25. XI. 1656 19) R.V. 21. VII. 1664 20) Zimmermann, S. 113

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ten Hochmann, das Menschenmögliche zu tun, und wenn sich die Einstellung des Zeitungsdrucks nicht erreichen lasse, solle er doch dafür sorgen, daß wenigstens nicht mehr als jeden zweiten Tag ein halber Bogen herauskomme. (Der Umfang war damals schon etwa täglich ein Bogen.) Versuche, den Um­ fang einzuschränken, wurden später noch mehrfach unternommen. Wiederholt wurde empfohlen, „einen größeren Buchstaben zu nehmen“. Fünf Jahre spä­ ter schrieb man wieder an Hochmann, er solle für die „Niederlegung des Zeitungsdrucks“ sorgen, da Berichte, „die dem Feind zu großem Vorteil die­ nen“, in die Blätter gekommen seien 20). Im Grunde blieben aber all diese Versuche ergebnislos; man mußte sich wohl oder übel dareinfinden, wenn es auch dem Rat schwer genug wurde. — Die Ratsverlässe, welche sich mit Fragen der Zeitungszensur befassen, gehen in die Hunderte. Welche Klagen es da gab! Am 24. Oktober 1673: eine Zeitung hatte gemeldet, daß der kaiserlichen Armee linker Flügel in Franken in die Flucht geschlagen war. Am 29. November 1687: die Lochnerzeitung hatte vorzeitig über die kaiserliche Werbung von 3000 Mann im fränkischen Kreis berichtet. Am 16. August 1700: Die Endterzeitung hatte geschrieben, daß der König von Frankreich den Durchmarsch von 2000 Mann vom Herzog von Württemberg begehrt habe. Am 8. September 1701: Der König von Preußen hatte sich durch seinen Agenten Isaak Buirette beschwert, daß die Berichte über seine Erhebung zur königlichen Würde und über das „Traktament“ seines Gesandten am polni­ schen Hofe der königlichen Hoheit zu nahe getreten seien. Am 26. September 1704: In der Felseckerzeitung war vor 14 Tagen ein „großer Druckfehler“ gestanden. Die Sache war tatsächlich peinlich. Als Schlagzeile stand am 12. September im Friedens- und Kriegskurier zu lesen: „Glück-Zuruck (statt Zuruf) über Ihrer röm. Königl. Majestät Ankunft. Gro­ ßer König sei willkommen . . .“ Der Setzer wanderte dafür einen Tag und eine Nacht auf den Turm. In vielen Fällen konnte sich der Verleger damit entschuldigen, daß der betreffende Passus schon in einer anderen Zeitung gestanden hatte. Nicht alle Fälle gingen aber harmlos ab. So war der Rat im Jahre 1687 in einen langwierigen Prozeß am Reichshofrat verwickelt, weil in der Fels­ eckerzeitung neben einem kurzen Bericht über die Aburteilung der aufstän­ dischen Protestanten in Ungarn eine gefährliche Randbemerkung (Margi­ nale) zu lesen war21). Es stand dort am 6. Mai: „Aus Ober-Ungarn anders nichts, als daß mit Einziehung der Konspiranten fortgefahren wird, so auch auf Vornehme springet.“ Am Rand war gedruckt: „wehret euch/“ Es ist dabei nicht herausgekommen, wie der Passus eigentlich in die Zei­ tung gekommen war. Der Faktor der Elisabeth Felsecker (ihr Mann Johann Jonathan war wegen seines liederlichen Lebens schon lange auf einen Turm 21) Zimmermann, S. 104 f.

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gekommen) entschuldigte sich, ebenso die Zensoren Dr. Fink und Dr. Silber­ rad. In Wien faßte man das Marginale als „crimen laesae Majestatis ac perduellionis“ auf. Der Rat bietet nun seinen ganzen „Entschuldigungsapparat“ auf und zieht alles heran, was ihn entlasten konnte; leider war niemand ein­ deutig als der Übeltäter zu fassen. Er läßt von den Buchdruckern Gutachten einreichen, ob es beim Druckereibetrieb nicht Vorkommen könne, daß sich einzelne Wörter verschieben etc. Allmählich aber renkte sich die Sache wieder ein. Der tüchtigen Fels­ eckerin gelingt es, die Druckerlaubnis wieder zu erlangen (allerdings nur mit Zuziehung eines neuen Faktors), und auch dem Rat macht man keine weite­ ren Schwierigkeiten. Als „Recompenz“ läßt er „dem Herrn Referenten in dieser Sach zur Discretion 100 thaler, dem Herrn Reichs-Hof-Raths-Sekretario 8 fl. und dessen Schreibstuben 4 thaler“ verehren. Hochpeinlich war es dem Rat, als im Jahre 1708 Dr. Hochmann die Be­ schwerde des „zu Wien subsistierenden Moskowitiscken Ministers Baron von Urbig“ überbrachte, „daß in den hiesigen Wochenzeitungen vieles der Czarischen Majestät nachteilig — und unwahrhafftes gebracht werde“ 22). Tatsächlich waren die Berichte im Friedens- und Kriegskurier, die sich mit dem Nordischen Kriegsschauplatz befaßten, etwas schwedenfreundlich ge­ färbt, wofür wir folgendes Beispiel anführen möchten. Am 7. Dezember wurde sub dato Posen, 24. November 1707, gemeldet: „Die Schwedische Armee hat aus Groß-Polen den Zug nach der Weichsel genommen, genügsame Präparatorien zu den Schiffbrücken mitführend, und solle ihre Intention sein, diesen Winter Moscau zu begrüßen. Hier haben sich viele Schwedische fümehme Offiziere eingefunden, Kriegs-Rat zu halten. Die Moskowiter regieren zwar noch starck in Warschau, allein es dürften ihnen die Schweden bald einen Stein in den Weg legen.“ Der Rat ließ sofort eine Untersuchung anstellen, wobei sich der „Kompilator“ der Zeitung entschuldigte, er hätte diese Berichte aus Sachsen be­ kommen. Seine Erklärung ließ man durch Dr. Hochmann dem Gesandten vor­ weisen mit der Bitte, sich dabei zu „acquieszirn“. Zugleich werden die Zei­ tungszensoren angewiesen, daß sie aus den Manuskripten der Verleger nur bei „indifferenten Materien“ etwas für die Zeitung durchlassen sollen; nur Berichte, die in der Wiener, Frankfurter und Regensburger Zeitung gestanden und schon zensiert worden, könnten unbedenklich angenommen werden. Doch auch hier empfahl man, „cum grano salis“ zu entscheiden und von mosko­ witiscken Sacken Heber gar nichts in die Zeitung kommen zu lassen 23). Um solche Verwicklungen zu vermeiden, erließ der Rat öfter die Ver­ ordnung, daß die eine oder andere Materie nicht oder nur in vorgeschriebener Weise in der Zeitung behandelt werden dürfe. Man suchte dadurch dem Zensor die undankbare Aufgabe zu erleichtern, das Verfängliche vom Un­ verfänglichen zu trennen. 22)

R.V. 5. I. 1708

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23) R.V. 24. III. 1708

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Wir wählen Beispiele aus der Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges und des Nordischen Krieges: Am 12. September 1702: Die Zensoren werden angewiesen, nichts durch­ gehen zu lassen, was dem kurbayerischen Respekt zu nahe trete. Am 23. April 1704: Es solle dafür gesorgt werden, daß Berichte über „der Franzosen Interventiones, da sie an einem Ort die contribution gedop­ pelt erfordern, damit man den regreß und Ersetzung an den nächstgelegenen Ort und Stand suchen möge, aus gewießen Ursachen nicht divulgirt werden/' Am 11. Dezember 1704: es wird verboten, etwas „vom polnischen We­ sen" zu schreiben und „übel gegründete raisonements" zu bringen. Am 28. Dezember 1705: bei dem Bericht über die Sendlinger Mordweih­ nacht (den man schließlich nicht ganz unterdrücken konnte) solle man be­ obachten, daß, wenn die Niederlage in Bayern eingerückt wird, die Massacre selbiger Leute, weil ihnen dem Vernehmen nach das Wort nicht gehalten, möchte übergangen werden". Am 5. März 1706: „Man solle großer Herrn fatal fallende Sachen weg­ lassen, zumal wenn die Nachricht von päpstischen oder sonst verdächtigen Orten herkommen, in specie auch der unglückichen Action in Polen nicht sogar oft mehr gedenken." Am 3. Dezember 1708: „Mit Druckung der abgelesenen Zeitung aus Düsseldorf, 29. November, wegen der von Prinzen Emanuel von Bayern mit 2000 Mann unglücklich geführten Attaque auf Brüssel, soll man sich nicht übereilen, sondern abwarten, ob sie continuiere und sich dann aller Anzüg­ lichkeiten enthalten." Am 30. Mai 1771: „In den gedruckten Wochenzeitungen aber von denen Materien, so in das Jus Publicum einlauf(f)en, abstrahieren lassen." Am 7. Dezember 1708 wurde angeordnet, die Zeitung solle nicht immer von „dem von Bayern" reden, sondern die Worte „Prinz Emanuel aus Bay­ ern" hinzusetzen. Auch sonst wurden Titularvergehen streng gerügt. Man solle überhaupt „durchgehends von hohen gesalbten Häuptern mit allem schuldigen Respect und veneration auch sonsten von jedermann mit allem glimpff und Bescheidenheit schreiben" 24). Wir haben nur ein paar Fälle herausgegriffen, eine weitere Aufzählung könnte kaum großes Interesse beanspruchen. Die Zeitungen hatten noch keine Tendenz im eigentlichen Sinne, wenn man nicht die, nirgends anstoßen zu wollen, als solche bezeichnen will. Der Rat befahl immer wieder, sich aller „Parteylichkeit" zu enthalten. Besondere Rücksicht nahm man natürlich auf den kaiserlichen Hof; ein Bericht aus der Reichshauptstadt, meist einem Wiener Blatt abgeschrieben, stand gewöhnlich an der Spitze der Meldungen. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Zensoren. Wie wir wissen, zen­ sierte die handschriftlichen Zeitungen das Kriegsamt. 1688 wird daneben der Bürgermeister jun. als Zensor genannt. 24) R.V. 9. IV. 1708

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Die gedrudcten periodisdien Zeitungen wurden von Anfang an wegen ihrer Gefährlichkeit von einem Ratskonsulenten zensiert, denn dieses Amt erforderte einen Mann von Umsicht, der mit den schwierigen Verhältnissen der Zeit genügend vertraut war. Als Wolf Eberhard Felsecker 1673 sein kai­ serliches Privileg bekam, wurde ihm vom Rat die Verpflichtung auf erlegt, jede Nummer von Dr. Christian Peiler zensieren zu lassen 25). — In der Folge­ zeit lernen wir nachstehende Zensoren kennen: Dr. Silberrad Dr. Fink Dr. Gg. Wölker Dr. Richter und Dr. Hofmann (letzterer schon 1702 suspendiert; 1704 Dr. Gg. Wölker 1706 Dr. Oelhafen und Dr. Falkner 1711 Dr. Armschwanger 1686 1687 1690 1701

1716 Dr. Wölker jun. und Dr. Dann1724 1741 1757 1759 1763 1789

reuther Dr. Huth und Dr. Erlabeck Lic. Rößler Dr. Feuerlein und Dr. Hanf Dr. Dannreuther jun. Dr. Feuerlein und Dr.Dannreuther Dr. Deinzer

Nur wenige arbeiteten zur Zufriedenheit des Rates, die meisten mußten sich laufend Zurechtweisungen gefallen lassen. Manche wurden schon nach kurzer Zeit suspendiert wie Dr. Hofmann, der nur ein Jahr Zensor war. Viele von ihnen begehrten selbst (oft wiederholt) ihre Entlassung. Dr. Hanf reichte mehrmals ein Gesuch ein, bis man ihn endlich der undankbaren Aufgabe ent­ hob 26). Dr. Richter hatte schon nach einem Jahr die Kleinlichkeit des Rates satt und bat um seine Enthebung, da „nicht alles, was verfänglich scheinen will, aus der Zeitung gelassen werden könne, wann zumal an ander Orten davon ohne Schaden geredet werde“ 27). Sein Gesuch wurde nicht geneh­ migt 28). Einmal warf der Rat seinem Zensor sogar die schlechte Ausdrucks­ weise seiner Zeitung vor. Dieser gab darauf die bündige Antwort, wenn er danach ginge, müsse er fast alles streichen; es sei außerdem nicht seine Auf­ gabe, eine neue Zeitung zu schreiben 29). Auch die Zeitungsfaktoren machten es der Zensur nicht leicht. Sie druck­ ten oft Gestrichenes oder setzten anderes dafür ein. Sie brachten verfängliche Nachrichten im Anzeigeteil, den der Zensor am Anfang nicht durchlas. Oft eilte der Druck, und die Zensur verspätete die Herausgabe, kurz: es fehlte nicht an Konflikten. Um den Ärger etwas erträglicher zu machen, verordnete der Rat am 16. September 1701, daß die Zeitungsdrucker dem Zensor jähr­ lich 50 fl. für seine Mühe geben sollten. Dieser Befehl mußte noch öfter eingeschärft werden. Nicht selten fühlte sich auch der Rat von Berichten in anderen Zeitungen angegriffen oder beleidigt. Es genügte, wenn eine Zeitung sub dato Nürn­ berg eine verfängliche Nachricht brachte, die der Informationsquelle Schwie­ rigkeiten bereiten konnte. Im folgenden begnügen wir uns mit der Erwähnung besonders interessan­ ter Zensurfälle aus den beiden letzten Dritteln des 18. Jahrhunderts. Wir verzichten darauf, die zum Teil kurzlebigen politischen Blätter, die in Nürn25) Zimmermann, S. 55 26) Zimmermann, S. 238 27) R.V. 28. VIII. 1702

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28) Zimmermann, S. 151 29) S II L 22 Nr. 19 Dr. Deinzer

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berg herauskamen, mit anzuführen, wenn sie in den Zensurakten keine Rolle spielen. Bemerkenswert ist, daß in den Zeitungen ein lokaler Teil fehlt. Mehr­ fache Verbote des Rates waren die Ursache. 1757 wird eine Sonderzensur des Vormundamtes für Artikel über Nürnberg angeordnet. Von dem Streit mit der Kaufmannschaft durfte natürlich kein Wort verlauten. Man war sehr empfindlich, wenn andere Zeitungen Fragen der Stadtverfassung berührten. So ließ man im Mai 1731 an den holländischen Gesandten in Regensburg schreiben, weil in dem „Merkure Historique“ angeblich pasquillantische Aus­ streuungen gestanden hätten 80). Väterliche Fürsorge zeigte der Rat bei der Zensur der Anzeigen, beson­ ders seit in den „Frag- und Anzeige-Nachrichten“ Felseckers ein eigenes Inseratenblatt entstanden war. Er sorgte z. B. dafür, daß den Bürgern keine Arzneimittel oder sonstige Waren aufgeredet wurden31). Wenn fremde Re­ gierungen, vor allem Ansbach, um Inserierung baten, war man zurück­ haltend32). Anonyme Nachrichten ließ man ganz verbieten33). In eine heikle Lage kam die Nürnberger Zensur in der Zeit der Kriege Friedrichs des Großen. Mit dem Kaiserhof hatte es schon vorher Reibungen gegeben. Am 11. November 1739 wurde über die Beschwerde eines „hohen Patrons“ in Wien beraten, daß „denen Wienerischen Prinzipiis gantz inconvenable passus wegen des(s) mit den Türken geschlossenen Friedens“ in den Zeitungen gestanden hätten 34). Als freie Reichsstadt mußte Nürnberg Loyalität gegenüber dem Kaiser zeigen; blieb man aber nicht sachlich, so beschwerte sich gleich der preußische Resident in Nürnberg, Herr von Buirette. Von Anfang an wurde dem Zensor große Behutsamkeit bei Nachrichten über Schlesien empfohlen. Doch Buirette verlangte, daß man über die Einrückung preußischer „Völker“ in Schlesien berichte 35). Prompt beschwerte man sich in Wien: „Das von H. Konsul Peyern ein­ geloffene P. S., Inhalts dessen am Wienerischen Hof große Beschwerden wider die hiesigen Zeitungen geführet werden, angesehen wegen der Schlesischen Affairen viel Parteylichkeiten darinnen enthalten, soll man dem Zeitungs­ zensore Lic. Rößler zu seiner Verantwortung communiciren“ 36). Buirette aber ließ nicht nach. Im Mai hielt er dem Rat vor, daß in der Zeitung eine „sehr nachteilige passage . . . von Ihro kgl. Majestät in Preußen retirade“ gestanden habe, und verlangt Bestrafung des Druckers 37). Tatsäch­ lich muß der Schuldige, Georg Christian Lochner, deswegen drei Tage auf den Turm 38) (10 Tage darauf, noch vor Verbüßung der Strafe, wurde er aber zu 24 Stunden begnadigt). Buirette verlangte außerdem, daß der Passus widerrufen werde. 30) 31) 32) 33) 34)

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Zimmermann, S. 208 R.V. 22. II. 1736 S ll L 22 Nr. 17 R.V. 13. VII. 1792 Zimmermann, S. 210

35) 36) 37) 38)

Zimmermann, S. 212 R.V. 28. IV. 1741 R.V. 6. V. 1741 R.V. 10. V. 1741

f.

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Einigermaßen beruhigt war der Rat, wenn eine Nachricht schon in einer anderen Zeitung gestanden hatte. So entschuldigte man sich mit einem Bericht in der Bayreuther Zeitung, als sich Friedrich beklagte, daß im Felsecker-Blatt vom S. Juli 1744 ein Schreiben des Mylord Hindford an den König von England erwähnt worden war39). Weniger Anstände gab es in der Zeit des Siebenjährigen Krieges. Auch hier suchte der Rat zunächst vorzubeugen. Er ordnete an, daß Nachrichten der Wiener Zeitung ohne weiteres übernommen werden dürften. Auch Be­ richte aus preußischen und anderen, jedoch „nicht raisonierenden Gazetten“ könnten bei Quellenangabe gebracht werden, wenn sie in „bescheidenlicher“ Form abgefaßt waren. Trotzdem ging es nicht ohne Streitigkeiten ab. So stand der Verleger Felsecker am 3. Januar 1758 vor dem Vormundamt, weil er aus der Berliner Zeitung etwas „Präjudizierliches“ abgedruckt hatte. Dabei wurde auch der Zensor vernommen, weil er die Zeitungszensur nachlässig gehandhabt hätte40). Von Anfang an gab es wieder Schwierigkeiten mit dem preußischen Agenten. „Nach den ersten Erfolgen verlangte Buirette, daß die Nachricht hievon ,in allhiesige Zeitung zu bringen' sei, gleichzeitig beklagt sich deren Herausgeber Felsecker, ,daß seine Zeitung keinen Abgang finde, weiln ihm nicht erlaubt sei, über die dermalen kriegerischen Konjunkturen, alle Nach­ richten frei hineinzusetzen', er bittet deshalb, ,den in der Frankfurter Zeitung befindlichen Articul von den Letzteren Treffen der seinigen inseriren zu dürfen'. Allein der Rat, welcher sich dem Kaiser unbedingt verpflichtet fühlt, nachdem er bei den ständig sich wiederholenden Beschwerden der Bürgerschaft über sein Finanzgebaren die Ungnade des Kaisers nicht riskieren kann, wagt noch nicht, soweit der preußischen Sache entgegenzukommen, vertröstet Felsecker und läßt nur den einschlägigen Artikel der Frankfurter Zeitung, jedoch in einer vom Bürgermeister Erlabeck ,modificierten Form', abdrucken“ 41). Buirette wurde dem Rat immer unangenehmer, besonders da er allerhand erschreckende Kriegsnachrichten aussprengte und dadurch die Bürgerschaft durcheinander brachte. Ungern sah Nürnberg den Zeitungsdruck des Erlanger Professors Johann Gottfried Groß, der in Nürnberg eine Druckerei besaß und mit kaiserlichem Privileg die „Gazette d’Erlangen“ herausgab. Groß war ein wütender Feind Friedrich II., der sich in einem Brief an seine Schwester ausdrücklich über ihn beschwerte: „Vous avez soufert qu’un faquin de gazetier d'Erlangen me dechirät publiquement deux fois par samaine, au lieu de le punir on le laissa evader.“ (Groß zog sich rechtzeitig nach Nürnberg zurück.)42). Aber auch Nürnberg ging gegen Groß vor, da er „Schmähungen“ über die Nürnberger Verfassung gebracht und auch sonst allerlei „Pasquillantisches“ eingerückt hatte. 1751 wird sein Blatt verboten und ein Prozeß in Wien gegen ihn angestrengt. Er druckte aber trotzdem weiter43)/ 89) Zimmermann, S. 2 1 4 40) Zimmermann, S. 236 41) Franz, S. 368

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42) Nickel, S. 125 43) Zimmermann, S. 234

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Doch Nürnberg fürchtete auch weniger mächtige Herren, wie ein Beispiel von 1745 zeigt, als sich der Kurfürst von der Pfalz beschwerte, daß man in der Zeitung berichtet hätte, er habe von Frankreich Geld genommen, damit er „in seiner Allianz wider den Hof zu Wien festgehalten werde“. Solche Peinlichkeiten suchte der Rat tunlichst zu vermeiden, und am 27. Juli 1746 gab er den Buchdruckern bekannt, wie er politische Nachrichten abgefaßt haben möchte: „mit einem frommen Wunsch nach Frieden und Erfüllung der Herzen aller Mächtigen“ 44). — Allmählich hatte er sich in die Unvermeid­ barkeit politischer Tagespublizistik gefunden und nahm zum Zeitungswesen eine mehr versöhnliche Stellung ein, manchmal benutzt er sogar die Nürn­ berger Blätter als eigenes Publikationsorgan. In welch kleinen Verhältnissen man lebte, zeigen die Zensurerlässe der Zeit, in welcher sich die weltbewegenden Ereignisse der Französischen Revo­ lution und des Aufstiegs Napoleons abspielten. 1791 verbot man Felsecker die Einrückung der Anzeige eines Theaterstücks „Die unglückliche Flucht des Königs Ludwig XVI. aus Paris“ mit der Begründung, daß es noch nirgends aufgeführt worden sei. Ein Artikel vom 29. September 1790, der von der Abführung der Reickskleino dien zur Krönung Leopolds berichtete, erregte Anstoß wegen eines „unschicklichen Passes“. Der Zensor erhielt einen Ver­ weis 45). 1792 rügt man den Zeitungsverleger Felsecker, weil er den Bericht über die Ankunft der königlichen Majestäten Franz II. und Gemahlin nicht am befohlenen Tag einrückte. Um die Phantasie der Bürger nicht unnötig zu erregen, werden Berichte von Mordaffären verboten 46). 1800 werden der Verfasser der „Reichsoberpostamtszeitung“, Professor Sattler, sowie der Ver­ leger Felsecker vernommen, weil sie einen „sehr präjudizierlichen Paß“ über die Einquartierung der Österreicher in Nürnberg gebracht hatten 47). 1798 wollte der Bürgermeister jun. eine Artikelfolge über die „vorgeb­ lichen Grundlagen des neuen Friedens zu Rastatt“ in die Zeitung bringen. Der Rat untersagte diese, nachdem der erste Bericht am 29. Januar erschienen war48). Scharf protestierte man wieder, als auswärtige Zeitungen Nachrichten über Nürnberger Verhältnisse brachten. Im April 1790 beschwerte man sich, weil die Zweibrückener Zeitung einen Bericht von den Unruhen der Nürn­ berger Kaufleute wegen der neuen Extrasteuer abgedruckt hatte49). Als die Wetzlarer Zeitung im November 1796 die Unterwerfung Nürnbergs unter die Preußen bekanntgab, erhob man Einspruch und ließ die Nürnberger Zeitungen ein „Gegenavertissement“ bringen, das auch obige Zeitung abdrucken sollte. Tatsache war, daß Nürnberg am 2. September den Subjektions­ und Exemtionsvertrag unterschrieben hatte, wenn ihn dann auch später der preußische König nicht ratifizierte50). 44) 45) 46) 47) !()♦

Zimincrmann, S. 230 R.V. 1. X. 1790 Zimmermann, S. 269 Zimmermann, S. 236

48) R.V. 21. I. 1798 49) R.V. 11. IV. 1790 50) Franz, S. 404

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Welch zweifelhafte Leute die meist unbekannten Verfasser der Nürnberger Zeitungen manchmal waren, zeigt uns ein Fall aus dem Jahre 1789. — Am 4. Juni schrieb der Reichshofratsagent Joh. Jacob Bittner, daß folgende Stellen in Felseckers Zeitung in Wien großes Ärgernis erregt hätten51): Am 19. Juni 1789: „Joseph steht den einen Tag am Rande des Grabes und hüpft den anderen wieder ins Leben zurück.0 Am 24. Juni 1789: (Bei einem Bericht über die Klagen der holländischen Mönche über die josephinische Toleranz) „O Joseph! Kein Wunder, daß du kränkelst! — Vor Mönchskutten und Türken behüt uns lieber Herr und Gott.“ Der Verfasser der Artikel war ein gewisser Schaber, der von der „All­ gemeinen Literaturzeitung“ als „gelehrter Abenteurer“ bezeichnet worden war und nach ihrem Bericht vom 5. September 1788 folgende Karriere hinter sich hatte: Zuerst war er Student der Theologie in Tübingen und Erlangen, dann Vikar zu Frankenbach bei Heilbronn. Dort handelte er auch mit Pferden und Juwelen und verschwand unter Hinterlassung von 3000 fl. Schulden. In Eyb, seinem nächsten Aufenthaltsort, hinterließ er 6000 fl. Schulden; in Berlin ging er ein Verlöbnis unter hochstaplerischen Angaben ein. Er kommt nach Kassel mit dem Titel eines Professors. Dann taucht er in Leipzig in der Uniform eines badischen Offiziers auf. Kurz darauf dient er als Gemeiner im Möllendorfischen Regiment. Mag davon auch manches nicht stichhaltig sein, so genügt es doch, um ein Bild von dem Mann zu bekommen, der in Nürnberg die Felseckerzeitung schrieb. Wie man von dem Zeitungswesen überhaupt dachte, zeigt das Entschuldi­ gungsschreiben des Zensors Dr. Deinzer, der die erwähnten Stellen durch­ gelassen hatte. Er erklärte, „solche Sachen stünden auch in anderen Zeitungen, er streiche dabei noch vieles weg, was andere ohne Scheu berichteten. So z. B., daß der Kaiser öfters im Prater mit einer schönen Sängerin spazierengehe. Auch bei den Nachrichten über die französischen Unruhen habe er immer sehr gemildert, man könne Berichte darüber aber nicht immer ganz unter­ drücken (!). Wenn der Stil der Zeitung schlecht sei, so könne man ihn nicht dafür verantwortlich machen. Wolle er von diesem Gesichtspunkt aus zen­ sieren, müsse er fast die ganze Zeitung ausstreichen. In Zukunft werde der Verleger Felsecker sein Blatt wieder selbst „aus anderen Zeitungen zu­ sammenstoppeln ... Sie wird daher demnächstens vollends wieder die alte Gestalt gewinnen, daß sie wieder weniger gelesen und weniger anstößig gefunden werden wird.“ In dieser Zeit der Presseunfreiheit waren unter den Redakteuren der politischen Blätter nur sehr wenig große Persönlichkeiten, die tatsächlich etwas zu sagen hatten und auch ein freieres Wort wagen konnten. Doch unter den Herausgebern der Zeitschriften gab es solche, denken wir nur an Wieland mit seinem „Teutschen Merkur“, an Schubarts „Deutsche Chronik“, Weckherlins Zeitschriften und vor allem an Schlözers „Staatsanzeigen“. Doch die Reichsstädte waren nicht mehr wie früher der Sitz der hervorragenden Publizisten. Schubart wollte anfangs seine „Deutsche Chronik“ in Augsburg 51) S II L 22 Nr. 19 148

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erscheinen lassen, mußte aber den Versuch bald aufgeben, da man ihm den „Hut voll englischer Freiheit" nicht gab, den er für ein freies Wort nicht entbehren konnte52). Historisch-politisches Schrifttum Der Absolutismus hatte in ganz Europa das Interesse für historische, staatsrechtliche und politische Fragen geweckt. Die Verfassung des alten deutschen Reiches — monstro simile nach Pufendorfs Wort — bedingte eine Zersplitterung all dieser Erörterungen in Deutschland. Die Hofhistoriographie blühte, der kleinste Potentat ließ sich eine Geschichte schreiben, die mehr oder minder im Dienste seiner Verherrlichung stand. Dabei ging es nicht immer ohne Verwicklungen mit Nachbarn ab, weil man auf irgendeine Weise — bewußt oder unbewußt — ihnen zu nahe getreten war. a) Belange fremder Herren In unserer Darstellung der Zensurfälle möchten wir zunächst auf die­ jenigen eingehen, die Beschwerden von außen oder Nürnberger Befürchtungen über solche zum Anlaß haben. Da war z. B. die Klage des Bischofs Franz Wilhelm von Regensburg über die genealogischen Tafeln des Altdorfer Geschichtsprofessors Nicolaus Rittershusius, weil er in diesen behauptet hatte, daß des Bischofs Vater Herzog Ferdinand von Ober- und Niederbayem seine Kinder in illegitimer Ehe gezeugt habe53). Diese Behauptung sei völlig aus der Luft gegriffen, und um die Widerlegung zu bekräftigen, führte der Bischof an: Ort, Zeit und Namen des Priesters, der die Trauung vollzogen hatte. Er verlangte sofortige Einstellung der Verbreitung und öffentliche Genugtuung. Der Rat konfiszierte daraufhin alle vorhandenen Exemplare und teilte dem Verfasser die Klage mit. Dieser gab zur Antwort, er wisse selbst nicht, wie ihm dieser Irrtum habe unterlaufen können und wie ihm das Wort „Concubina" in die Feder gekommen. Der Rat forderte ihn auf, sein Werk genauestens zu überprüfen und zu verbessern, damit er nicht deshalb in Schimpf und Schande gerate. Um sicher zu gehen, ließ der Rat das Werk auch noch von anderen Leuten begutachten. Dr. Fezer erklärte, er habe nicht die „Wissenschaft", das Werk zu überprüfen. Die Geschichtsschreibung sei überhaupt eine recht schwierige Sache, und wenn man alle mit Fehlem behafteten Werke ausscheiden wolle, bliebe kaum eines übrig. Um diese Behauptung zu stützen, zitierte er eine ganze Reihe klassischer und neuerer Historiker. Daß sie über die Materie nicht Bescheid wüßten, erklärte auch Hans Christoph Schlüsselfelder und der uns bekannte Historiker Leonhard Wurffbein. Trotzdem reichte das Wissen des letzteren dazu hin, auf acht Bögen die Fehler seines Fachkollegen aufzuzählen. — Der Regensburger Bischof beruhigte sich bei dem Versprechen des Rates und Rittershusius’, die Sache wieder ins Reine zu bringen, woraufhin man auch in Nürnberg diese auf 52) Salomon, S. 203

53)

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sich beruhen ließ; die Angelegenheit hatte der Stadt nicht viel Ehre ein­ gebracht. Die mit kaiserlichem Privileg bei Endter gedruckten Kalender zogen dem Rat die Beschwerde der verwitweten Herzogin Luise von Liegnitz wegen der darin enthaltenen „Prognostica“ zu54). Da der Rat gegen den Verfasser, den Pfarrer Marx Freund in Rothenburg, nicht Vorgehen konnte, bat er den Kaiser um Entzug des Kalenderprivilegs. Zugleich suchte der Rat um Zensur­ erlaubnis auch der privilegierten Kalender nach, damit in diesen „gefehrliche präjudicia und präsagia de statu publico ausgelassen werden mögen“ 55). Sehr ernst nahm der Rat politische Traktate, wenn sie Tagesfragen er­ örterten. So ließ er 1673 das lateinische Sehr eiben des schwedischen Königs an den König von Frankreich „pro armistitio“ nur ohne Nennung des Ortes bei Felsecker drucken56). Am 22. Oktober desselben Jahres wurden Druck und Verbreitung eines schwedischen Memorials, „worinnen die kais. Maj. an­ gegriffen“, von vornherein verboten57). Ebenso ging es 1677 einem Werke mit dem Titel „Kurzer Entwurf des Hocherzherzogischen Hauses Österreich heutiger Reichspolitik“ 58). In Wien wurde Nürnberg, das immer noch eine der bedeutendsten Druck­ stätten war, des öfteren verdächtigt. So übersandte der Nürnberger Agent Jonas Schrimpf im September 1676 ein kaiserliches Reskript, das die Kon­ fiskation des „Alt und Neuen Treuherzig und Tiefgesinnten franzmännischen Politicusu befahl59). Das Traktat war gegen das Erzhaus gerichtet, und man vermutete Nürnberg als Druckort. Eifrigste Nachforschungen ergaben aber, daß nur Wolff Eberhard Felsecker ein paar Exemplare von Frankfurt mit­ gebracht und verkauft hatte. Der Rat deckte sich aber auch auf der anderen Seite: „Das gedruckte Traktätlein, darinnen etliche große Herren, so die Französisdie Partei halten, schimpflich durchgezogen werden, soll man aus den hiesigen Buchläden ab­ fordern, für konfisziert halten, die Buchhändler, von wannen sie es be­ kommen, vernehmen, und, daß sie alle exemplaria getreulich aushändigen und keines hinterhalten, noch ferner anhero bringen oder drucken lassen, und verkauf(en) wollen eydlich angeloben lassen“ 60). Verfänglich erschienen dem Rat auch Erörterungen juristischer Fragen. So ließ er 1694 die „Electa juris publicif( konfisizeren und blieb trotz eines Bittschreibens des Leipziger Bücherzensors Dr. Valentinus Alberti dabei6l). Im Juli 1705 machte er dem Dr. Balthasar Werner Vorwürfe, weil er seine gedruckte Disputation nicht in die Zensur gegeben, zumal sie verfängliche Stellen, die andere Reichsstände beleidigen könnten, enthielt. Da der Rat wußte, daß ihm so manches in der Stadt gedruckte oder ver­ kaufte Werk nicht vorgelegt wurde, suchte er durch öffentliche Mandate an seine Untertanen zu appellieren. — So wandte sich eines von 1669 gegen 54) R.V. 14.1. 1674 55) Brfb. 303 6. VI. 1674 56) R.V. 6. VIII. 1673 57) R.V. 22.X. 1673 58) R.V. 19. XI. 1677

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59) R.V. 20. IX. u. 9. X. 1676, 18. I. u. 30. VI. 1677 60) R.V. 16. VIII. 1675 61) R.V. 23. VI. 1694

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ein französisches Buch mit dem Titel „Lettre de monsieur de Mensier sur les affaires du Temps“, das die Stadtregierung in den Händen einiger Bürger wußte. In dem Traktat werde die kaiserliche Majestät beschimpft, und es diene angeblich nur dazu, die Stände gegeneinander aufzuhetzen ®2). Ein Mandat von 1704 wandte sich allgemein gegen „freventliche Beschuldigungen und Beschmizungen . .. seiner kaiserlichen Majestät unseres allergnädigsten Herrn allerhöchster Person und dero Generalität und anderer hoher Häup­ ter“ 63). Eines von 1756 warnte ebenfalls vor „unziemlichem räsonnieren über hoher Potentaten und Staaten Unternehmungen“ und verbot nachdrücklich den Druck von Schriften solchen Inhalts64). Ein kaiserliches Mandat von 1745 wandte sich gegen Schriften über das Jus civile et publicum und „des Heil. Röm. Reichs Gesetze und Ordnungen anzäpfende verkehrte neuerliche Lehren und Bücher“. Ein Zensurfall aus dem Ende unseres Zeitabschnitts beleuchtet die Ver­ hältnisse in anschaulicher Weise und zeigt, wie kritische und satirische Stimmen trotz aller Verbote laut werden konnten. 1790 war ein Bändchen mit folgendem Titel erschienen: „Reise eines Engländers, noch ein Bändchen, durch Mannheim, Bayern, Österreich nach Wien. Herausgegeben von seinem teuschen Freunde L. A. F. v. B. Amsterdam 1790“. — Der äußerst gewandte Verfasser geißelt darin in sehr freimütiger Art Herrscher und Volk, Geist­ lichkeit und Gesellschaft, die er unnachgiebig der Lächerlichkeit preisgibt. Wenn auch von der Französischen Revolution beeinflußt, so zeigt er doch in keiner Weise francophile Tendenz. Die Schrift atmet den Geist des gebildeten deutschen Bürgertums, das sich, seiner selbst bewußt werdend, gegen die kläglichen Verhältnisse im Reich wendet. Als Beispiel, wie weit man vor Erbitterung in der Kritik ging, sei folgende Stelle erwähnt, in der der Verfasser den bayerischen Kurfürsten Karl Theodor der Lächerlichkeit preisgibt: „Der hiesige Fürst ist ein guter Mann, aber auch der größte Schwachkopf, den die deutsche Geschichte in diesem Jahrhunderte aufzuweisen hat. Er wird daher ganz von Maitressen und Pfaffen gegängelt, und beide Gattungen haben sich in seinen Besitz geteilt, daß keine, was sonst selten ist, der Macht der anderen den geringsten Abbruch tut. Er theilt vielmehr seine Stunden ordentlich zwischen Bigotterie und Liebe, und läßt sich täglich um 9 Uhr morgens richtig von der Maitresse weg nach der hl. Messe tragen und von der hl. Messe zur Maitresse" 65).

Schärfster Protest der bayerischen Regierung war die Folge. Der Gesandte v. Gravenreuth ging so weit, Nürnberg bewußte Förderung solchen Schrift­ tums vorzuwerfen, während die anderen Städte durch eine vernünftige Bücher­ polizei (etwa das Münchener „Narrenkollegium“/)66) die Volksempörungen zu unterdrücken suchten. 62) M. N. Nr. 21 63) M. N Nr. 166 64) M. C Nr. 2 3 6 64a) Nach Holzmann-Bohatta, Deutsches Anonymenlexikon (Weimar 1905)

od. 3r war Karl Ignaz Geiger der Verfasser 65) S II L 22 Nr. 2 66) Bitterauf S. 306

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Der Nürnberger Rat ist empört und läßt sofort bei seinen Buchdruckern nachfragen, die zum Glück nachweisen können, daß ihnen je sechs Exemplare von einem Anonymen zugesandt worden waren. „Sie hätten alle verkauft, ohne vom Inhalt gewußt zu haben. Außerdem sei das erste Bändchen der Reihe in einem Frankfurter Katalog und das zweite in dem des Buchhändlers Palm in Erlangen gestanden. Sie hätten also beide schon eine Zensur passiert/' Der Zensor der Zeitung, in der das Werk annoncirt war, verteidigte sich, er könne nicht am Titel eines Werkes dessen Inhalt ersehen (über die ge­ lockerten Zensurverhältnisse dieser Jahre berichten wir im nächsten Kapitel). — Der Rat ließ die Entschuldigung gelten, erklärte aber, daß die Anonymität des Verfassers und Verlegers hätte Argwohn erregen müssen. An v. Gravenreuth ließ er ein Entschuldigungsschreiben abgehen, in dem er in allgemeinen Ausdrücken erklärte, sein Möglichstes getan zu haben. Die bayerische Regie­ rung beruhigte sich aber mit dieser Erklärung nicht. Ein persönliches Schreiben des Kurfürsten drückte nochmals den schärfsten Protest aus: Die Entschuldi­ gungen des Rates seien nur Ausflüchte. Wenn nicht hinreichende Satisfaktion geschehe, werde er die Mittel ergreifen, die ihm die Reichskonstitution an die Hand gebe, um des Rats von jederzeit her anstößigem Benehmen Einhalt zu tun. Daraufhin mußte der Rat nochmals ein langes Promemoria aus­ fertigen lassen, das die Einzelheiten des Falles klarlegte. Obwohl der Rat, ziemlich eingeschüchtert, das Strafmaß für die Buchhändler dem Kurfürsten festzusetzen anheimgab, hörte man nichts mehr von dieser Seite. Was wollte man auch unternehmen, wenn das Werk nicht in Nürnberg gedruckt worden warf Außerdem war ja die Erregung des Bürgertums so groß, daß man fürchten mußte, durch strenges Eingreifen nur neue Pasquillen zu provozieren. b) Schriften, die Verhältnisse der Stadt betreffend Viel umsichtiger gingen die Stadtväter vor, wenn ihre eigenen Belange in ungeziemender Weise erörtert wurden. So hatte Dr. Philipp Andreas Oldenburger aus Genf 1675 in seinem Traktat „De rebus publicis .. . unterschiedliche grobe fehler und sonderlich hiesige Stadt und Regiment sehr präjudicierliche, unwahrhafte asserta" ge­ bracht. Man ließ von Dr. Peiler eine gründliche Widerlegung ausarbeiten und beschwerte sich in Genf67). Die „Beschreibung des Frankenlandesu des uns bekannten Altdorfer Pro­ fessors Rittershusius fand man ebenfalls „durchaus falsch und mangelhaft". Der Rat ließ die Sache verfolgen68). 1681 beanstandete man „falsche narrata“ im Kreiskalender Joh. Georg Freunds und ließ dem Verfasser mitteilen, er solle sich aller Beschreibungen des Kreises wie der Stadt künftig enthalten ™). Ein Jahr zuvor mußte der Drucker Knorz auf einen Turm, weil er den „Historischen Bericht" des Geistlichen Rats und Stadtpfarrers zu Mergent­ heim Dr. Joh. Caspar Jäger über den Deutschen Ritterorden ohne Zensur gedruckt, besonders da darin viele Lästerungen Nürnberger Familien zu 67) R.V. 29. IV. 1675 68) R.V. 24. X. 1673

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09) R.v. 30. I. 1682

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finden seien. Die Konfiskation des Werkes wurde trotz eines Protestes des Hochmeisters des Deutschen Ordens aufrecht erhalten 70). Ein Titularvergehen sei noch erwähnt. 1709 wurde der Faktor der Fels­ ecker-Zeitung bestraft, da er das „gratulatorium zu des Herrn Markgrafen zu Onoldsbach Beilager“ unzensiert gedruckt hatte. In der Schrift wurde der Markgraf mit dem „verfänglichen Worte ,Landesfürst* tituliert“, und durch diesen Ausdruck befürchtete man eine Stärkung der Theorie vom „territorium clausum“, die Ansbach zur Behauptung von Rechtstiteln im Nürnberger Gebiet verfocht71). Der gesteckte Rahmen erlaubt uns nicht, ausführlich auf den großen Zensurprozeß einzugehen, in den der berühmte Staatsrechtler Johann Jacob Moser in den Jahren 1739/41 verwickelt war, der uns tiefe Einblicke in die Verhältnisse gewährt72). Schon sieben Jahre vorher, als Moser sein „Compendium Reichsstädtischer Urkunden“ herausgeben wollte, hatte man in Nürnberg große Bedenken, da Mosers „allzu scharfe Feder ohnehin bekannt“ war. Man ließ sich aber vom kaiserlichen Rat Ebner von Eschenbach überzeugen, daß die Beteiligung Nürnbergs eine unvermeidliche Notwendigkeit war, da schon so viele Städte zugesagt hatten und Nürnberg durch eine Absage einen gefährlichen Arg­ wohn erregen würde. Man hielt es aber in Nürnberg dennoch für tunlich, von den 13 geforderten Urkunden nur drei an Moser zu schicken. Vor allem hielt der Rat die Nürnberg und Ansbach betreffenden Reichshofratsurteile zurück. Dafür suchte er Moser durch Übersendung anderer Urkunden­ abschriften zu entschädigen, die für die Stadt günstiger waren. Viel wesentlicher aber war Mosers Plan, als einen Teil seines Staats­ rechts aller Stände des Reiches, ein Nürnberger Staatsrecht zu veröffentlichen. Am 14. September 1739 machte Moser der Stadt durch einen Brief an den obersten Kirchenpfleger Ebner, über den er mit der Stadt verhandelte, von dem Plan Mitteilung. Der Verlauf der zum Teil endlos langen Verhand­ lungen war kurz folgender: Moser sandte an die Stadt eine Abschrift seines Konzeptes und bat, man möge ihm von etwaigen Fehlern oder anstößigen Stellen Mitteilung machen. Der Rat, wenn auch zurückhaltend, zeigt zunächst Interesse und verspricht, Moser zu unterstützen. Als man aber das Werk des Staatsrechtlers sah, erhoben sich die größten Bedenken. Die peinlichsten Dinge wurden da berührt: die Frage, ob die Burg oder die Stadt älter sei, die Streitigkeiten mit dem Deutschen Orden, das Verhältnis zum Markgrafen, das Fraisch-Urteil, die Klage der Kaufmannschaft am Reichshofrat usw. Bei all diesen Fragen ließ der Verfasser beide Ansichten zu Wort kommen, wasv ihm der Rat in Nürnberg sehr übelnahm, da er alle von markgräflicher Seite erschienenen Werke als „pasquillantisch“ abtat. Es erhob sich nun die Frage, ob man sich der Sache überhaupt „teilhaftig machen“ sollte, d. h. ob man Moser gestatten sollte, das Werk der Stadt zu dedizieren und ihr Einverständns im Vorwort zu erwähnen. Der Rat sah ein, daß er mit einer Ver70) R.V. 11, 17. u. 24. III. 1680 71) R.V. 30. IX. 1709

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besserung der „Fehler“ nicht weiterkam, da er Moser doch so weit als Wissenschaftler kannte, daß man ihm nicht einen großen Teil seines Werkes wegstreichen konnte, nur weil er nicht alle Ansprüche der Stadt als zurecht bestehend anerkannte. Was sollte man überhaupt mit einem Manne machen, der leugnete, daß die Stadt schon seit Karl dem Großen bestand? Die Re­ gierung hielt den Mann für gänzlich falsch unterrichtet und glaubte ihm sogar bösen Willen unterschieben zu können. Andererseits wollte sie es mit der Feder Mosers nicht verderben, sie glaubte, sonst noch viel Schlimmeres befürchten zu müssen. Dr. Wölker jun. empfahl sogar (in seinem Bedenken vom 26. September 1740) das Einreichen der Schrift am Reichshofrat und sie als Pasquill im Rechtsstreit Rat—Kaufmannschaft hinzustellen. Der Rat mußte aber einsehen, daß er so Moser nicht beikommen konnte. Ein Angebot Mosers, daß er gegen 500 fl. das Werk notfalls unterlassen würde, nahm er nicht an, da er befürchtete, daß er trotzdem bei (der Behandlung des markgräflichen Staatsrechts der Stadt noch genug Schlimmes zufügen konnte. Man veranlaßte Moser, die Approbation des Werkes durch die Stadt nicht zu erwähnen und wenigstens die schwersten Angriffe auf Nürnberger Rechte zu mildem. Moser, den man dauernd hinhielt und oft monatelang ohne Antwort ließ, bat wiederholt, man möchte ihm „dieses Bagatell nicht so blutsauer machen“. Er sah schließlich ein, daß er den Rat für sein Werk nicht gewinnen konnte, und verzichtete auch auf dessen materielle Unter­ stützung bei der Herausgabe, 100 fl. hatte die Stadt ihm schon 1740 über­ sandt, um ihn bei guter Stimmung zu erhalten. In Nürnberg aber wollte man mit dem ganzen Werk, sowohl mit dem gekürzten Grundriß als auch mit der ausführlichen Ausgabe, nichts mehr zu tun haben und dachte, daß es „auf eine Scharteke mehr oder weniger nicht ankomme“ (Dr. Peiler am 28. Januar 1741). Um eine Anschauung von der Art zu geben, in der die Verhandlungen geführt wurden, möchten wir einige Quellen sprechen lassen. Sehr schlecht auf Moser ist der Konsulent Dr. Peiler zu sprechen, der wiederholt seine Gutachten abgab. Er ist der Ansicht, daß Moser Haß gegen die Reichsstädte hege. Er leide im übrigen an der „morbo literario, der Polygraphial“ Eine Verbesserung des Werkes lehnte er ab, sonst würde man wohl „mit diesem schwäbischen Heiligen in eine Dispute geraten und hiesige Arbeit völlig ersticken bleiben“ (am 20. Oktober 1740). Das ganze Werk sei verfahren: „dann gleich Überhaupts von einem frem­ den Gelehrten nichts zu erwarten stehet, daß derselbe etwas tüchtiges von einem ihm sonst unbekannten Staat schreiben könne“. Am verständnisvollsten verhielt sich Dr. Wölker sen., der sogar etwas Mitgefühl für Moser als einen Mann der Wissenschaft hatte: „Hätte Dr. Luther, oder auch Puffendorf und andere erst zu Rom oder bei ihren Herren anfragen müssen, wenn sie ihre Schriften edieren wollen, so würden wir noch alle in der größten Blindheit und Barbarei leben. Dann etwan es schreibt jemand aus eigenen Einfällen etwas, so mag der Oberherr solches genehm halten oder nicht, so lachen hingegen Verständige und Unparteiliche 154

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doch darüber, wenn es keinen zureichenden Grund hat, wie die Wolffianer heut zu Tag sprechen und verlangen" (am 28. Januar 1741). Mosers Haltung zeigt am besten ein Brief an den Hofrat Zinck, der eine Zeitlang für ihn die Verhandlungen in Nürnberg führte: „Da ich weder Zeit noch Lust habe die gemachte Dubia zu beantworten, so erkläre ich mich kurz dahin, wenn der löblichen Reichsstadt Nürnberg ein Gefallen damit geschehen kann, wann das Nürnbergische Staatsrecht gar nicht gedruckt wird, so mag es sein mit der Beding, daß mir die für 100 Exemplare versprochenen 500 fl. als ein Douceur pro labore bezahlt werden. Sobald ich diese erhalte, werde mit erster fahrender Post optima fide das völlige Concept, nebst allen Supplementen und libris prohibitis, die ich eigentümlich besitze, übersenden, mein Lebtag nimmer­ wann kein Nürnberger Jus publicum drucken, auch niemand dazu encouragieren . . . ist dieses nicht anständig, so erwarte ich citissime mein Manuskript, nebst denen Copial- und Postgebühren zurück und werde sodann tun, was vor dem Gewissen und nach denen Reichsgesetzen erlaubt, obgleich anderen Ohnanständig ist.“

Befürchtete man in Nürnberg sogar, daß hinter dem Moserschen Staats­ recht sich brandenburgische Interessen verbergen könnten, so kam es in den Jahren 1764/67 zu Verwicklungen mit Ansbach selbst. Doch diesmal fühlte sich der Fürst in seinen Rechten geschmälert. Den Anlaß gab die Herausgabe von Landkarten durch die Hochmännische Offizin, die schon lange einen schwungvollen Handel mit Karten verschiedenster Art betrieb73). Sie be­ arbeitete mit kaiserlichem Privileg ihre Veröffentlichungen und war vom Rate somit ziemlich unabhängig. Trotzdem sah sich der Rat schon hundert Jahre zuvor zum Eingreifen veranlaßt; so wurden 1674 Karten des Nürn­ berger Gebietes sowie Frankreichs beanstandet und mußten verbessert wer­ den 74). 1764 aber geriet der Rat in eine ziemlich schwierige Lage: Die Landkartenhandlung hatte den Actuarius Knopf, der sich in seinen Mußestunden mit Geographie befaßte, beauftragt, Karten des Nürnberger Gebietes sowie der angrenzenden brandenburgischen Territorien herzustellen. Wie Knopf später dem Rate mitteilte, wollte er dabei den ansbachischen Bestrebungen entgegentreten, welche die Fraisliche Gerichtsbarkeit gleich Landeshoheit setzen möchten. In Ansback wie in Kulmback protestierte man sofort in scharfer Weise beim Rat über den Verkauf der Karten und forderte umgehende Bestrafung der Hersteller (20. und 24. September 1764). Nürnbergs Antwort ging dahin, man habe von den Karten nichts gewußt, Ansbach könne die Stadt daher nicht verantwortlich machen. Man versprach aber, der Sache nachzugehen und den weiteren Verkauf der Karten zu unterbinden. In einem interessanten Schreiben beschwerten sich die Buchhändler G. P. Monath und J. M. Franz über das Verbot und erklärten, daß andern­ orts so viele der Stadt Nürnberg abträgliche Karten herauskämen und daß man sich nicht einschüchtern lassen sollte. Hätte der Rat bei diesen Karten protestiert, so würde man sich bestimmt „aufs Prinzip berufen" und erklärt haben, daß der Kartendruck ein Privatunternehmen und Landkarten keine Staatsurkunden seien. 7S)

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74) R.V. 31. III.

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Eine solche Stellung konnte nun die schwache Stadt ihrem mächtigen Nachbarn gegenüber nicht einnehmen und mußte sich wohl oder übel um Verbesserung der Karten bemühen, wenn man sich nicht so weit erniedrigen und den brandenburgischen Behauptungen rechtgeben wollte, die dahin gingen, die Karten seien völlig unrichtig und sträflich. In Ansbach war die Regierung in dieser Sache sehr aktiv, reichte laufend Proteste über die Nürnberger Verzögerungen ein und ließ ein gedrucktes Büchlein erscheinen mit dem Titel: „Historische und rechtliche Beleuchtung der Knopfischen Land­ karte von Nürnberg, ausgefertigt von Benophilo anno 1764“, in dem die Karten als gänzlich falsch dargestellt wurden. Und gerade dies bestritt man in Nürnberg, wo man nur zugab, daß einzelne Orte, die auf Grund des Fraisch-Urteils von 1587 der Stadt aberkannt worden, nicht in diesem Sinne bezeichnet waren. Der eigentliche Streitpunkt war aber die Landeshoheit. Wenn die Stadt die Gebiete, in denen der Markgraf die hohe Gerichtsbarkeit hatte, als nürnbergisch kennzeichnen ließ, so stellte Ansbach schon dies als Anmaßung hin; die Stadt kam nun dem Markgrafen so weit entgegen, daß sie diese Gebiete nicht als ihr „Territorium“, sondern nur als „Obrigkeit und Gebiet der Stadt Nürnberg“ benennen ließ. Mit diesen Änderungen mußten die Karten versehen werden, was sich aber sehr lange hinzog, da die Verwaltung in Nürnberg lange Zeit die Fraisch-Akten der verschiedenen Pflegämter nicht finden kontne! Der Rat nahm die ganze Angelegenheit sehr ernst, sie wurde von einem Kollegium von 15 Personen, dem alle Konsulenten angehörten, beraten. Außerdem ließ man durch Dr. Winkler eine Widerlegung der oben erwähnten ansbachischen Schrift ausarbeiten, die 1766 in einer neuen Auf­ lage mit einigen Zusätzen erschienen und von Dr. Wölker, dem Gesandten in Regensburg, nach Nürnberg geschickt worden war. Der ganze Streit erregte allgemeines Interesse und wurde in den Zeitungen, so in den „Erlanger Gelehrten Anmerkungen“ am 5. Februar 1765 und in der „Staats- und Gelehrtenzeitung des Hamburgischen Unparteiischen Correspondenten“ am 19. Februar 1765 erörtert. Am Ende mischte sich sogar der kaiserliche Vize­ kanzler ein und sagte Nürnberg im Notfall kaiserliche Unterstützung zu, wenn es die Sache vor den Reichshofrat und nicht „ad comitia“ brächte/ Es kam aber nicht dazu, nachdem die verbesserten Karten herausgekommen waren und Ansbach und Kulmbach keine neuen Schritte unternahmen. Nürnberg ließ sich aber die Sache zur Lehre dienen und forderte die Zensur der in Nürnberg gedruckten Landkarten. Die letzen Zensurgesetze Unter dem Einfluß der Aufklärung ließ fast in allen Teilen des Reiches die Zensureifrigkeit der Obrigkeiten nach. Das auslösende Moment war ver­ schiedenartig. Oft war es der aufgeklärte Fürst, dem eine peinliche Zensur­ ausübung als überholt erschien, oft zwangen auch die veränderten Zeit- und Publikationsverhältnisse die Obrigkeiten mehr oder minder zur Veränderung ihres Zensurapparates. Die Möglichkeiten, für unliebsame Literatur ans Tages156

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licht zu kommen, wurden immer häufiger, und wenn eine Obrigkeit ein Werk verbot, so konnte man versichert sein, daß es in Kürze in der Nachbarschaft erschien. Ja es rang sich immer mehr die Ueberzeugung durch, daß das Verbot eines Werkes gerade das Gegenteil von dem bewirkte, was man beabsichtigt hatte, und so wurde man immer unsicherer. Dabei war es von der Haltung und der Macht der Staatsgewalt abhängig, wieweit ihre Anordnungen befolgt wurden, so daß wir in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts recht verschiedenartige Zensurverhältnisse vor uns haben. In der ersten Hälfte unseres Zeitraumes lief der ganze Buchdruckerei- und Zensurbetrieb noch ziemlich in ausgefahrenen Gleisen. Das Nackdruckuviwesen z. B. stand noch in aller Blüte. Der Rat wurde in solchen Fällen noch öfter bemüht, wobei es sich vor allem um auswärtige Klagen handelte. So wandte man sich im März 1675 von Regensburg aus an den Rat, er möchte dem Nachdruck der „Reichsdiktaten" steuern75). — Ein Fall vom Jahre 1692 zeigt uns, wie die Buchhändler alles versuchten, um das Nachdruckverbot zu umgehen. Johann Hofmann besorgte sich ein kaiserliches Privileg auf ein Werk, das kurz vor ihm der Buchhändler Andreas Otto verlegt hatte. Um sein rechtswidriges Vorgehen zu verschleiern, gab er dem Buch einen anderen Titel und setzte statt „Kern aller Gebeth“ „Seuffzer der Heiligen". Da sich der Reichshofrat zunächst des privilegierten Druckers annahm, drohte die Sache zu Verwicklungen zu führen 76). Im Jahre 173 5 wurde der Rat von der Stadt Frankfurt um sein Eingreifen gebeten, als der Altdorfer Drucker Zobel das „Wahre Christentum" nach­ druckte, auf das ein Frankfurter Händler privilegiert war 77). 1794 beschwerte sich der Graf von Soden im Namen des preußischen Königs, daß der Buch­ drucker Schulz einen billigen Nachdruck des preußischen Gesetzbuches an­ gekündigt hatte, während der König den Gewinn aus dem Verkauf des Werkes den Witwen und Waisen seines Landes zugutekommen lassen wollte78). — Um die eigenen Buchdrucker zu schützen, ließ der Rat 1671 wie­ der einmal den Hausierern ihre Bücher abnehmen und stellte sie wegen ihres unbefugten Handels „zur Red" 7Ö). Vom Rat unterstützt, traten die Buchdrucker geschlossen gegen Georg Scheurer80) und den Buchhändler Knorz81) auf. Der eine wollte sich vom Antiquar zum Buchhändler auf schwingen, und der andere hatte sich ein kaiserliches Privileg erschlichen82). Auch gegen andere Gebote der Buchdrucker- und Zensurordnung wurde verstoßen. Vor allem häuften sich die Fälle, wo Nürnberger Buchhändler auswärts drucken ließen, um die Zensur zu umgehen. 1677 wurde Johann Hofmann streng untersagt, die geplante Druckerei in Neustadt a. d. Aisch zu eröffnen83). 1704 erhält der Felsecker-Faktor einen Verweis, weil er einen Teil des „Paradiesgärtleins" in Erlangen hatte drucken lassen. Ein Jahr später 7r‘) R.V. 29. III. 1675 70) Brfb. 320 5. IX.,1. X., 15. X. 1692 77) S I L 318 Nr. 15 78) R.V. 12. VII. 1794

u. 10. XI.

R.V. 31. X. 1671 R.V. 17. u. 19. XI. 1677 R.V.16. VI. 1676 u. 12. IX. 1678 82) Stadtarchiv Vormundamt 5 83) R.V. 24. XI. 1677 80) 81)

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hatte der Sulzbacher Pfalzgraf Anlaß, sich über Nürnberg zu beschweren, weil man einem Sulzbacher Händler in Nürnberg Bücher abgenommen hatte, da sie in Nürnberg nicht zensiert worden waren84). Damit der Rat in seinem Zensureifer nicht ermüdete, ermahnte der Kaiser in einem Schreiben aus Linz am 13. Februar 1681, alle schimpflichen und „dem publico gefährlichen Schriften" zu verbieten 85). Ein Jahr später ver­ pflichtete er den Rat, die Buchdrucker auf eine bestimmte Zahl zu be­ schränken 86). — Das alles muß aber nicht viel geholfen haben, denn ein Verlaß vom 30. April 1698 stellte offen fest, daß „die gewohnte Buchdrucker­ ordnung seit einiger Zeit aus der Observanz gekommen" und man sich des­ halb mit den Buchhändlern ins Benehmen setzen müsse. An dieser Stelle soll die Zensur der Universität Altdorf kurz Erwähnung finden; auf eine Darstellung derselben in unserem Rahmen haben wir ver­ zichtet. Wir haben ähnliche Verhältnisse wie an anderen Universitäten vor uns. Die Drucker der Universitätsstadt waren der Aufsicht des Rektors, der für die Durchführung der Zensur sorgte, unterstellt. Daß es in Altdorf nicht anders war, zeigen uns einige Ratsverlässe87) sowie die Schriften des be­ kannten Professors und Rektors Andreas Will über die Universität und die Altdorfer Buchdrucker88). Nur selten griffen der Rat oder die sog. Scholarchen, die Kuratoren der Universität waren, in die Altdorfer Zensurverhältnisse ein. Einzelne Fälle haben wir im Laufe unserer Darstellung bereits kennengelernt. Es sei nur an die ausdrückliche Mahnung des Rates von 1705 erinnert, alle für den Druck gedachten Universitätsdisputationen uneingeschränkt zur Zensur zu geben 89). Daß die Altdorfer Bücherkontrolle noch in der Mitte des 18. Jarhhunderts bestanden hat, zeigt u. a. Friedrich Bock in seinem Lebensbild des erwähnten Georg Andreas Will90). Will hatte sich in seiner Jugend eine recht unfreundliche Rüge seines Fakultätsseniors Christian Gottlieb Schwarz gefallen lassen müssen, weil er in seinem „Auszug aus der neuesten Geschichte der Gelehrten II, 1750" gegen die Zensurvorschrift verstoßen hatte. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts können wir folgendes feststellen: beeinflußt vom Geist der Aufklärung und den schlechten Er­ fahrungen, welche die Stadtregierung mit der allzu strengen Zensur gemacht hatte, kam sie von einer kleinlichen Handhabung immer mehr ab. So schlägt der Rat 1779 in seinem Schreiben an die Stadt Frankfurt über die Nürn­ berger Zensurgesetzgebung ganz ungewohnte Töne an. In dem Bericht, den das Vormundamt einreichte, wurde betont, daß der Zensor aus Zweckmäßig­ keitsgründen etwas nachsichtig sein müsse, weil sonst nur die eigenen Buch­ drucker geschädigt würden und ein verbotenes Buch sofort in der Nachbar­ schaft erscheine 91). Auch sollten „in gewissen Fällen den Buchhändlern und Buchdruckern Gefahr und Verantwortung ganz allein überlassen werden". Brfb. 333 6. VII. 1705 85) R.V. 28. III. 1681 86) R.V. 4. V. 1688 87) R.V. 1. VI. 1702 88) Georg Andr. Will, Gesch. d. Alt84)

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dörfischen Buchdr. Will II 1418 8») Brfb. 333 11. VII. 1705 ö0) Mittig, d. Vereins f. Gesch. d. Stadt Nbg. 41/1950, S. 410 öl) S II L 20 Nr. 16

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Bei dieser Gelegenheit wurde zum erstenmal eine Revision der BuchdruckerOrdnung gefordert 92).Der Rat kümmerte sich zunächst nicht viel darum; erst als die Buchhändler am 22. Juni 1790 gemeinsam ein Gesuch zur Verbesse­ rung ihrer Ordnung einreichten, nahm er sich der Sache an und ließ Gut­ achten ausarbeiten03). Eine Zeitlang bestand sogar Unklarheit, worauf die Buchdrucker vor dem Amtbuch eigentlich schwören, bis man schließlich herausbekam, daß sie einfach ihre Ordnung beeiden. Außerdem erklärten die Kupferstecher, sie würden schon seit zwei Menschenaltern ihre Arbeiten nicht mehr zensieren lassen, weil es ihren Geschäftsbetrieb viel zu sehr hinderte. Dr. Colmar möchte in seinem Gutachten das Verbot anstößiger Bücher genauer formuliert wissen. Aus seinen Worten spüren wir den kritischen Geist seiner Generation: „Die itzige Preßfreiheit und manches Vorurteil, oder Furcht, oder Eigensinn, oder Geschmack oder von der Erziehung her noch eingeprägtes Prinzip kontrastieren oft sosehr miteinander, daß man den Vereinigungspunkt schwer findet; es muß also der Begriff des anstößigen Inhalts dem Zensor oder in casu Casus dem höheren Richter überlassen, somit immer durch das Wörtlein ,verworfenen* Inhalts seine Bestimmtheit erhalten.“

Dr. Feuerlein, der seine Meinung zu dem Gutachten niederschrieb, wollte noch einmal eine Präzisierung des Begriffs und empfahl, daß ein zu ver­ bietendes Buch als „bei der Zensur verworfen (worden)" anzusprechen sei. So vorsichtig urteilten die Juristen jetzt! Mit der neuen Ordnung kam der Rat zunächst aber nicht weiter, er wollte lieber die Nachrichten von den Städten Frankfurt, Regensburg und Ulm abwarten, die um ihre Zensurhandhabung befragt worden waren 94). Es dauerte aber ziemlich lange, bis eine befriedigende Antwort einlief 95). Erst im Jahre 1794 kam man zu einem Ergebnis. Ein Jahr vorher war der Zensor der Bücher­ kataloge, M. Joh. Ludw. Spörl, Prediger bei St. Sebald, gewesen (in den letzten Jahrzehnten war wieder ein Geistlicher allgemeiner Bücherzensor). Nun ließ der Rat G. W. Panzer, Schaffer bei St. Sebald, der die Zensurstelle über­ nommen haben mußte, ein Gutachten ausarbeiten, das er am 1. Februar 1794 einreichte. Er war nun der Ansicht, daß die Bücherzensur eine sehr schwierige Sache geworden sei, da es an Leuten fehle, die alle Wissensgebiete übersehen. Deshalb glaubte er, daß die so nützliche Pressefreiheit der letzten Zeit viel Schaden gestiftet habe. Sie habe die „Leselustseuche" begünstigt. Dadurch werde, „statt die so nötige Aufklärung zu befördern, der größte Schaden angerichtet und der Jüngling bis zum Greis unvermutet an den Rand des Verderbens geführt". Panzers Vorschläge zur neuen Zensurordnung waren: 1) Alle wissenschaftliche Literatur solle ohne Zensur gedruckt werden. 2) Alle bedenklichen Schriften seien dem Vormundamt vorzulegen und von sachkundigen Männern zu begutachten. e2) R.V. 8. VI. 1779 M) Stadtarchiv Vormundamt 5

9{) R.V. 6.111. 1788

w) S II L 28 Nr. 10

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3) Die Buchhändler solle man ermahnen, das Gemeinwohl über das eigene zu stellen. 4) Bei Verstößen müsse strengste Untersuchung vorgenommen werden. 5) Die Buchhändlerkataloge seien zu zensieren. 6) Neujahrs wünsche, fliegende Blätter und Kupferstiche seien zu verbieten. Diese Vorschläge fanden im allgemeinen Billigung. Dr. Colmar jedoch meldete einige Bedenken an96). Seiner Ansicht nach sollen nur anonyme Schriften zensiert werden. Außerdem könnten Bücher, die jahrelanges Nach­ denken erfordert hatten, nicht von „Menschenfurcht, Aberglauben und Über­ klugheit" eines Zensors abhängig gemacht werden. Der Rat ließ sich von Colmar in seiner Entscheidung bestimmten und schrieb nur noch für anonyme Flugschriften und verdächtige Pamphlete Zensur vor. Pasquillantische An­ zeigeblätter, die Sittlichkeit beleidigende Neujahrswünsche und Kupfer wurden mit Strafe belegt97). Diese Verordnungen zeigen die Nürnberger Zensurgesetzgebung weit in die Zukunft weisend. Die Publikationen wurden zum großen Teil der Auf­ sicht der Verwaltung entzogen. Der Drucker (allerdings nur selten der Ver­ fasser oder Herausgeber) steht unter strafrechtlicher Verantwortlichkeit. In der Praxis müssen sich dabei Verhältnisse herausgebildet haben, die einer Preßfreiheit ziemlich nahe kamen, da im wesentlichen das Urteil eines Buchhändlers entschied, ob ein Werk zur Zensur kam oder nicht. Er mußte über den zweifelhaften Charakter eines Werkes entscheiden. Am 9. Dezember 1794 Unterzeichneten 17 Buchdrucker und Buchhändler die neue Zensurordnung, die den Erfordernissen der Zeit Rechnung trug. — Wie die alten Verordnungen überholt waren, konnten wir schon daraus ersehen, daß seit den achtziger Jahren Zensurvergehen mit auffallender Milde behandelt wurden. Einflüsse der Aufklärung auf andere Zensursysteme Fast in allen Reichsgebieten brachte das 18. Jahrhundert Wandlungen im Zensurwesen mit sich. Auch die für alle Buchhändler des Reiches wesentlichen Organisationen, die großen Büdtermessen in Frankfurt und Leipzig, bekamen nach und nach ein anderes Gesicht. Die konfessionelle Zensur, der mangelnde Rechtsschutz der Buchhändler und die großen Pflichtexemplarforderungen brachten allmählich das Absinken der Bedeutung Frankfurts mit sich, wäh­ rend die Leipziger Büchermesse von 1680 ab einen stetigen Aufstieg zu ver­ zeichnen hatte 98). Der Frankfurter Meßkatalog büßte seinen maßgeblichen Charakter ein, bis er schließlich seit dem Jahre 1750 überhaupt nicht mehr gedruckt wurde. — Freilich waren auch die Verhältnisse in Leipzig alles andere als ideal, besonders was Nachdruck und Privilegienwesen anbelangte. Doch man hatte dort einen offeneren Blick für die Zeitbedürfnisse und wußte durch Förderung der inländischen Buchhändler diese an sich zu ziehen. Ob98> R.V. 26. III. 1794 97) R.V, 9. VII. 1794

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98) Goldfriedrich S. 139

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wohl Nürnberg noch in den Jahren 1730/39 in Frankfurt mit seinen Verlags­ artikeln an zweiter Stelle stand, pflegten die Nürnberger Buchhändler schon lange rege Beziehungen zu Leipzig, da es eigentlich mehr den Charakter einer norddeutschen Büchermesse trug. Als Verlagsort vor allem erbaulicher Literatur war Nürnberg auf den protestantischen Norden angewiesen"). Die Zensur der Leipziger Büchermesse wurde von den betreffenden Fakul­ täten der Universität ausgeübt, wobei die orthodoxe theologische Zensur ein starkes Hemmnis des Handelsbetriebes darstellte 10°). Andererseits schützte die immer selbständiger werdende Bücherkommission, die den Messe­ betrieb regelte, die Buchhändler, denn sie fühlte sich als öffentliches Organ, weniger als Repressivbehörde. Zudem verminderte sich das Gewicht der theologischen Zensur durch Lockerung der Verhältnisse im 18. Jahrhundert. Die Dresdner Behörden bildeten ein wirksames Gegengewicht, zumal seit der Konversion Augusts des Starken. — Fortschrittlich im rechtlichen Ausbau des Buchhandelsgewerbes war Leipzig vor allem seit der Übersiedlung Philipp Erasmus Reicks von Frankfurt nach Leipzig im Jahre 1764, wo er ein Jahr später die deutsche Buckhandlungsgesell Schaft gründete. Ihr gehörten auch drei Nürnberger, Raspe, Felsecker und Lochner, an. Sie sah ihre Aufgabe vor allem darin, dem Nachdruckunwesen zu steuern, wobei sie von der sächsischen Regierung unterstützt wurde. Ein Mandat vom 18. Dezember 1773 regelte die Rechtsverhältnisse in befriedigender Weise. Die kaiserliche Behörde in Frankfurt aber blieb bei dem veralteten Privilegienwesen101). Erwähnenswert ist, daß sogar eine Büchermesse in Nürnberg erwogen wurde, als die Leipziger Herbstmesse eingestellt werden sollte. Ein Artikel im „Deutschen Zuschauer“ IX 1789 argumentierte, daß sich dann auch die süddeutschen Buchhändler, die nicht bis nach Leipzig kämen, Originaldrucke erwerben könnten 102). Was die Aufklärungszensur in den großen deutschen Territorien anlangt, so richten sich unsere Blicke zunächst nach Preußen und Österreich. — Nach der theologisch betonten Präventivzensur, die der fromme Soldatenkönig ein­ geführt hatte, brachte die Zeit Friedrichs des Großen wesentliche Verände­ rungen. Doch „von der Freiheit der Presse unter Friedrich dem Großen sprechen, heißt an eine Legende glauben“ 103), wenn auch der junge König zu seinem Minister Podewils äußerte, daß „Gazetten, wenn sie interessant sein sollten, nicht geniert werden müßten“. Seit dem Beginn des Ersten Schlesischen Krieges war es mit den Zensurfreiheit jedoch zu Ende; Zeitungen und politische Werke waren der Zensur des „Departements für auswärtige Affairen“ unterstellt. Lessing klagte über die Zensur in Berlin, wo man nur die Freiheit habe, „gegen die Religion so viele Sottisen zu Markte zu bringen, als man will“ 104)! Eine allgemeine Vorzensur wurde schon von dem Nach­ folger Friedrichs wieder eingeführt. Ein bei den Nürnberger Akten liegendes „Erneutes Zensur Edikt für die preußischen Staaten exclusive Schlesien. Berlin ") Goldfriedrich S. 105 10°) Goldfriedrich S. 199 101) Kirchhoff S. 216 f. U

102) Stadtarchiv Vormundamt 5 103) Consentius S. 180 f. 104) Consentius S. 240

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19. Dezember 1788“ gibt uns eine Anschauung105). Theologisch-philo­ sophische, juristische und medizinische Werke, Romane und Schauspiele wurden der Zensur von Fachbehörden unterworfen. Nur Werke der Mit­ glieder der Akademie der Wissenschaften, und auch hier wieder die politi­ schen Schriften ausgeonmmen, waren zensurfrei. Gemäßigt blieb aber die Handhabung der Zensur, was im Grunde immer das Entscheidende war. In Österreich lag die Zensur von Ferdinand II. bis in die Zeit Maria Theresias in den Händen der Jesuiten. Dabei kam es so weit, daß der Papst gegen eine Schrift zur Ausrottung der Ketzer eingriff 10°) l Eine Opposition gegen diese Verhältnisse war nicht zurückzuhalten. Den Jesuiten wurde nur noch die Zensur der theologischen Werke überlassen, und auch dies nur auf ausdrücklichen Wunsch der Kaiserin. Der Protest des Erzbischofs Trautson blieb erfolglos. Er argumentierte, daß nur der Theologe beurteilen könne, was gegen die Sitten und den Glauben verstoße, auch bei nichttheologischer Literatur. Joseph II. entwand im Zuge seiner Reformen den Jesuiten die Zensur völlig. Seine Zensurmaßnahmen wurden vor allem durch Nützlich­ keitserwägungen bestimmt. Das Interesse des Staates stand im Mittelpunkt, von Pressefreiheit konnte auch unter ihm keine Rede sein. Nur die Gebiete, auf denen freie Meinungsäußerung möglich war, wurden sehr erweitert. Er gestattete z. B. Debatten über das kanonische Recht, doch nicht über das Staatsrecht; über den Druck staatsrechtlicher Literatur entschied die Staats­ kanzlei 107). Im Gegensatz zu Preußen wurde Angriffen auf die Religion gesteuert, nur die übergroße Macht des Klerus durfte angegriffen werden. Vergleichen wir die Zensurverhältnisse unter Friedrich II. und Joseph II., so stand in Preußen wie in Österreich das rein politisch aufgefaßte Interesse des Staates im Mittelpunkt der Zensurgesetzgebung. In gewisser Beziehung ähneln die österreidiisdien Verhältnisse den bayeri­ schen, wo es erst im Laufe des 18. Jahrhunderts gelang, den Jesuiten die Zensur aller Druckerzeugnisse zu entreißen, da sie das geistige Leben zu ersticken drohte. 1728 erschien das erste politische Zensuredikt: Politica müssen dem geheimen Rat zur Begutachtung eingereicht werden 108). Max III. richtete dann 1769 ein Zensurkollegium ein. Es sollte Angriffen gegen die Dogmen der Kirche, den Staat und die guten Sitten Vorbeugen, sank aber schon unter seinem weniger liberalen Nachfolger „zu jenem Narrenkollegium herab, in das ein Mann wie Westenrieder nur ungern seinen Fuß setzte“ 109). Erst die neue Regierung schaffte 1799 das Kollegium ab, da es „dem liberalen Gang der Wissenschaften nachteilig“ sei, und setzte eine BücherzensurSpezialkommission ein. Die politischen Zeitschriften wurden der Zensur des Außenministeriums unterstellt. Bei diesen Maßnahmen ist Montgelas rich­ tungweisend gewesen. Die mehr oder minder liberalen Zensurgesetze, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den größeren Staaten des alten Deutschen Reiches Geltung hatten, mußten natürlich auch die Maßnahmen der Reichs105) S II L 28 Nr. 10, Jegel Sp. 61 106> Gnau S. 10 107) Gnau S. 76

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Goldfriedridi S. 114 “•) ßitteiauf S. 306

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Städte beeinflussen, die einstmals die Mittelpunkte des Druckereigewerbes gewesen waren. Eine Veränderung der Zensurgesetzgebung war aber nur selten die Folge. Maßgebend war auch, daß die Stadtaristokratien, zumal die verknöcherten der damaligen Zeit, nicht wie ein Monarch die Richtlinien der Politik plötzlich verändern konnten. So tragen die Zensurgesetze, die Augsburg, Ulm und Regensburg an den Rat der Stadt Nürnberg sandten, als dieser sie darum vor der Neuordnung seiner Zensur gebeten hatte, noch ganz den Charakter der alten Zeit110). Daß Nürnberg mit der Neuordnung vorangegangen war, zeigt, daß der Rat der Stadt und seine Konsulenten trotz aller Engherzigkeit doch noch über eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber den Aufgaben der Zeit verfügten. Die Französische Revolution und Napoleon Die Französische Revolution hatte im deutschen Bürgertum am Anfang lebhaften Widerhall gefunden, wenn es auch nie zu nennenswerten Unruhen gekommen ist. Am ehesten konnten dort solche entstehen, wo sich die politische Entrechtung mit wirtschaftlicher Unterdrückung paarte, wie das z. B. in Nürnberg der Fall war, wenn es dort auch an anderen Voraus­ setzungen fehlte. Einige erhaltene Pasquillen und Flugblätter geben uns zu der Vermutung Anlaß, daß in der Stadt tatsächlich eine Art von Revolutionsclub bestanden hat, wenn wir auch nichts Genaueres darüber wissen, da fast alles im Geheimen bileb. Der Rat verhielt sich nach seiner Gewohnheit ab­ wartend und suchte durch Repressivmaffnahmen Ausschreitungen zu steuern. — Ein solches von den französischen Vorgängen beeinflußtes Pasquill vom Jahre 1789 enthält der Sammelband der WilFschen Bibliothek111): „Auf Brüder! Auf Brüder, jetzt ist der Zeitpunkt, daß ihr eure Freiheit — eure angeborenen Rechte wieder erlangen könnt!" Ein paar Jahre später lief ein an General Custine, der am Mittelrhein in deutsches Gebiet eingefallen war, gerichtetes „Vaterunser" um. In ihm waren noch einmal alle Klagen gegen das Patriziat zusammengefaßt112). Im Jahre 1792 beunruhigte den Rat ein Flugblatt 113), das in mehreren Exemplaren in der Stadt aufgetaucht war: „Auf ihr Bürger! Ergreifet die Waffen." Der Rat nahm diese Schrift sehr ernst und ließ Dr. Deinzer und Dr. Volkamer Gutachten ausarbeiten, wie man dagegen Vorgehen könne. Sie empfahlen, strenge Nachforschungen anzustellen, Professor Sattler zu warnen und ein Mandat an die Bürgerschaft drucken zu lassen, das tatsäch­ lich am 29. November 1792 angeschlagen wurde. Darin suchte der Rat durch Drohungen und Bitten in den Bürgern die Überzeugung zu festigen, daß bürgerliche Freiheit und Glückseligkeit nicht in Untergrabung der Ordnung, sondern in „gesetzmäßigem und edlem Betragen, in fleißiger Beobachtung 1I0> S II L 28 Nr. 10, Jegel Sp. 61 in) Bibi. Will III 1012; Abdruck bei Anton Ernstberger, Nbg. im Widerschein der franz. Revolution, in; Ztschr. f. bayer.

11*

Lgesdi. 21 (1958) S. 419 112) Stadtarchiv Reichsstadt 37; Ernstberger a.a.O. S. 430 U3) S I L 125 Nr. 5; Ernstberger S. 435

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seiner Berufspflichten, in gewissenhafter Mitbeförderung des allgemeinen Wohls, in der Mitwirkung zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit und in ungestörtem Genüsse häuslicher und anderer erlaubter Freuden zu suchen sei" 114). Doch damit begnügte man sich nicht mehr. Ein Ratsverlaß vom 30. Ok­ tober 1792 forderte das Rugamt und die Polizei auf, die Stimmung in der Bürgerschaft betreffs der „wegen der ausbrechen sollenden Revolution in Deutschland“ zu erforschen. Darauf gab das Rugamt am 5. November einen Bericht, in dem es die Handwerker in ruhige und unruhige einteilte. An der Spitze der letzteren standen Drechsler, Schneider, Schuhmacher, Schlosser. Die Schlußsätze des Gutachtens geben ein Bild von den Verhältnissen: „Man kann nicht bergen, daß die Gesinnung für mißverstandene Freiheit auch bei dem Handwerksstand so ansteckend wie eine Epidemie war und daß sich auch unter diesen das kleine Häuflein richtiger denkender Personen ganz verliert, weil es seine Gesinnungen nicht merken lassen darf, wenn es sich nicht der Verachtung und Verfolgung ausgesetzt sehen will."

Der Rat glaubte, auch die Briefzensur wieder einführen zu müssen. Da aber sowohl der Kreis als auch der preußische Gesandte von Soden (ein verdächtiger Brief war an einen „monsieur le Compte de Klingenfeld, Colonel au Service du Roi de Prusse a Nürnberg poste restante" adressiert) sich gegenüber einem solchen Vorgehen ablehnend verhielten, wollte sich auch der Rat in dieser Hinsicht nicht exponieren. Es kam sogar so weit, daß obrigkeitstreue Bürger den Rat zum Eingreifen gegen Revolutionäre aufforderten. Dies beweist ein handgeschriebenes Billet folgenden Inhalts: „Wie lange werden Sie noch die abscheulichen Jakobiner allhie dulden, und besonders den vertriebenen österreichischen Pfarrer, der öffentlich sagt: ,Wenn ich nur das Kaiserl und die Ratsherra in Nüraberg haenga dürft'? Hat auch zwei galgen­ würdige Katechismus geschrieben, beim Weizenbräuhaus gedruckt. Im Sebalder Pfarrhof ist auch beim Keller ein feiner Club. Hilft diese Anzeige nichts, so meid’ ich’s nach Regensburg. Devotester und getreuester civis.“

Der Rat scheute aber scheinbar ein Durchgreifen und behalf sich wieder mit Mandaten. Eines vom 1. März 1794 wandte sich gegen Gesellenausstände, lautes Reden und Schimpfen auf öffentlichen Plätzen, und gegen unerlaubte Zusammenrottungen 115). Vorhergegangen war ein kaiserliches Mandat vom 2. März 1793, das die Errichtung von Freiheitsclubs verbot, vor Annahme von Assignaten warnte und sich aufs schärfste gegen Schriften wandte, die zur Empörung reizten116). Gegen Massenansammlungen und Verbreitung „ruhestörender Zettel" ging ein Mandat von 1802 an, das den Drohungen des Rates durch einen Hinweis auf die anwesende kaiserliche SubdelegationsKommission Nachdruck zu verleihen suchte 117). Natürlich kamen auch Revolutionsschriften von außen in die Stadt. 1794 ließ der Rat eine Inquisition betreffs eines gedruckten Flugblattes mit dem 114) M. U 20. XI. 179-2 m) Mandat U 1. III. 1794

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Uö) Mandat U 2. V. 1793 m) Mandat V 27.11.1802

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Titel „Republikanisches Gebet“ anstellen 118). Sie ergab, daß der Buchbinder Daucher 32 Exemplare von einem umherziehenden achtzehnjährigen Jüngling gekauft hatte. Er, Daucher, wollte es nicht gelesen und unbesehen weiter­ verkauft haben. Dem Polizeihauptmann Drechsler wurde es in einer „hiesi­ gen honetten Gesellschaft" überreicht, worauf er Anzeige erstattete. Die „Kolpoteure", Holzhäuser, ein Drechslergeselle, und Topp, ließ der Rat in das Männereisen legen. Was sich wohl die biederen Nürnberger bei folgen­ den Sätzen gedacht haben mögen? „Ein patriotisches Feuer durchwandle den unermeßlichen Kreis der Revolution, reinige uns von allen Lastern, von aller Verführung und läutere uns, wie das edelste Gold, zu der Erhabenheit aller Tugenden . . . Unendliches Wesen! Urheber der Natur! Laß die Blumen, welche unseren Frühling schmücken, sich in Früchte verwandeln, damit das von reicher Ernte rauschende Land unsern Sieg mit neuen Beweisen Deiner wohltätigen Vorsehung kröne. Ja Allmächtiger! kämpfe Du selbst mit dem Brudervolke, welches für seine Freiheit streitet, und sich lobsingend zu Dir emporschwingt" 119).

Eine Anfrage des Rates der Stadt Frankfurt im Februar 1792 veranlaßte den Rat, der Herkunft einer Schrift mit dem Titel „Merkwürdige Reise des Papstes in den Himmel, in die paradiesischen Gerichtshöfe und in die Hölle. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von einem Freund der Konstitution. Rom und Avignon 1792 nachzugehen. Es ergab sich, daß der Buchhändler Georg Heinrich Mann einige Exemplare in Kom­ mission erhalten hatte, wovon er auch einige nach Frankfurt verkaufte. Es handelte sich dabei um eine Spottschrift auf Papst Pius VI., den man in derselben im Himmel und in der Hölle Hilfe gegen die Nationalversamm­ lung suchen ließ. Doch nirgends wurde ihm geholfen. In der Hölle hätten ihm seine Vorgänger empfohlen, nach ihren Methoden zu verfahren. U. a. hätte Gregor VII. Bannstrahl und Interdikt vorgeschlagen. Alexander VI. ließ man empfehlen, Pius VI. solle der Nationalversammlung ein Gastmahl geben und die ganze linke Seite vergiften lassen. Da mit solchen Vorschlägen nicht mehr viel anzufangen war, habe der Papst unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen. — Der Rat ließ den Traktat verbieten und seine Buch­ drucker durch Unterschrift verpflichten, das Werk nicht zu verbreiten 12°). Doch der Rat ließ sich auch nicht mit Werken der Gegenseite ein. So wandte er sich im Jahre 1794 gegen zwei Emigrantenschriften, einmal gegen die Broschüre „Über die Gefahren, welche Europa bedrohen", in der ein Emigrant die Staaten Europas zum Kampf gegen die Königsmörder und Gotteslästerer aufrief 121)> sowie gegen den „Aufruf an alle Völker Europens", der denselben Inhalt hatte 122). Am Anfang der Schrift stand ein Wort Edmund Burkes, und der leiden­ schaftliche Verfasser konnte nicht oft genug in die Worte ausbrechen: „Und ihr zaudert noch, Völker, alle Europens, den Stahl in die Brust der Gottes­ lästerer zu stoßen!" Der Verfasser, ein Freiherr von Gugomos, hatte die "

118) S II L 22 Nr. 26, Jegel Sp. 61 119) S II L 22 Nr. 30 12°) S II L 22 Nr. 25, Jegel Sp. 61; Ernst-

berger S. 426 (Anm. 51)

121) S II L 22 Nr. 20 122) S II L Nr. 27, Jegel Sp. 61

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Brosdiürc an den Rat geschickt mit der Bitte, sie unter die Bürgerschaft aus­ teilen zu lassen. Dies schien aber dem Rat etwas riskant, zumal der Konsulent Lic. Kalhard äußerte, daß er nicht „unbemerkt lassen könne, daß die Schrift in einem Ton verabfaßt sei, der an sich schon einer öffentlichen Austeilung widerraten würde, weil es nicht unmöglich wäre, daß die jetzigen Umstände sich wiederum so verändern könnten, wie sie im Jahre 1792 gewesen waren." Man hatte aber wohl kaum geahnt, wie sich die Verhältnisse verändern sollten und wie das neue Frankreich die Geschicke der Reichsstadt bestimmen sollte! Das letzte Jahrzehnt der Reichsstadt Nürnberg war ein einziges Ringen um ihre Reichsfreiheit. 1796 rückten die Preußen vor die Tore der Stadt, und der Minister von Hardenberg setzte sich die Mediatisierung Nürnbergs zur Aufgabe, was er durch juristische Spitzfindigkeiten zu begründen suchte123). Dabei kam es tatsächlich so weit, daß die Stadt den Submissionsvertrag Unterzeichnete, der jedoch vom preußischen König nicht ratifiziert wurde. Die Bürgerschaft war in eine kaisertreue und eine preußenfreundliche Partei gespalten: letztere versprach sich von der Unterwerfung unter Preußen eine Erleichterung der finanziellen Belastung. Dann kamen die Franzosen und legten wiederholt ihre Truppen in die Stadt. Ein Mandat vom 18. Juli 1800 ermahnte die Bürger, sich gegenüber den fremden Truppen in keiner Weise beleidigend zu äußern 124). Am 20. Sep­ tember 1805 forderte ein Mandat die Untertanen auf, „sich aller unüberdachten Reden und Urteile" zu enthalten125). Weniger der Fähigkeit der Nürnberger Diplomaten als dem Umstand, daß sich so viele Herren um die Stadt stritten, war es zu verdanken, daß Nürnberg so lange seine Freiheit behielt. Den Reidispatriotismus der klei­ neren deutschen Städte charakterisiert Meinecke auch für Nürnberg zutreffend, wenn er sagt, daß er „doch zum guten Teil nur der Ausdruck ihres Schwäche­ gefühls und im übrigen gemischt war aus ständischem Selbstgefühl, kon­ servativem Rechtssinn, Respekt vor dem Kaiser und schließlich auch einem ehrlichen, aber oft nur vagen deutschen Gemeinschaftsbewußtsein" 126). Diesem unbestimmten Gefühl für das deutsche Gesamtschicksal ist es wohl zuzuschreiben, wenn in Nürnberg in den letzten Jahren seiner Reichs­ freiheit anonyme Broschüren erschienen, die eine gewisse patriotische Grund­ haltung erkennen lassen. So inserierte der Friedens- und Kriegskurier am 20. Juni 1806 u. a. für die Stein’sche Buchhandlung (wir wissen, daß die Inserate der Zeitungen der Zensur unterworfen waren): „Gesinnungen, patriotische, eines Deutschen über Österreichs Lage ..." „Von den höchsten Interessen des Deutschen Reiches mit Rücksicht auf den Einfluß, welchen Bayern gegenwärtig auf jenen behauptet" 127). Diesen Broschürenhandel betrieb vor allem der Inhaber der Stein’schen Buchhandlung, Joh. Phil. Palm, dem die Herausgabe der Schrift „Deutschland 123> Franz, S. 392 124) Drucksadie 1671 12*>) Mandat V 2. IX. 1805 126) Friedrich Meinecke, Weltbürgertum

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und Nationalstatt, 1922, S. 28 127) Braun, Nr. 234; vgl. Willy Andreas, Joh. Phil. Palm, in: Ztschr. f. bayer. Landesgesch. 21 (1958) S. 28.

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in seiner tiefen Erniedrigung“, deren Verfasser zu nennen er sich weigerte, das Leben kosten sollte. Napoleon war schon im Februar 1806 von dem französischen Gesandten Otto in Nürnberg als ein „Herd der Intriguen“ geschildert worden. Dem Korsen kam die genannte Schrift zur Hand, und am 5. August schrieb er an Talleyrand: „Alle Pamphlete, die in Deutschland Verbreitung finden, kommen aus der Stadt Nürnberg. Tun Sie dem Rat der Stadt zu wissen, daß, wenn er nicht sofort den Buchhändler verhaften läßt und alle diese Broschüren verbrennen, ich die Stadt Nürnberg, ehe Deutsch­ land geräumt wird, exemplarisch strafen werde.“ Doch er wartete nicht auf den Rat. Er schrieb an Marschall Berthier: „Ich denke, Sie haben die Augs­ burger und Nürnberger Buchhändler verhaften lassen. Mein Wille ist, daß sie vor eine Militärkommission gestellt und in 25 Stunden erschossen werden“ 127). So hat auch ein moderner Gewaltherrscher Einfluß auf die Nürnberger Zensur genommen. Das Militärgericht der Besatzung hat auf seinen Befehl durch blutige Repressivmaßnahmen aufbegehrende Stimmen des Volkes gewaltsam unterdrückt. Hier weht uns der eiskalte Hauch der neuen Macht­ politik an, wo im Namen des Staates die Meinungsäußerung mit bisher unbekannter Härte unterdrückt wird. Wie nahe liegen dabei die Extreme/ Am Anfang des modernen französischen Staates steht die „Declaration des droits de Fhomme“. Es ist nicht unsere Aufgabe, das vielerörterte Schicksal des unglücklichen Patrioten Palm zu beschreiben. Eine von General Frere veranlaßte Haus­ suchung blieb zunächst erfolglos, der Buchhändler selbst war vorher nach Erlangen geflohen. Doch die Sorge um seine Familie trieb Palm zurück nach Nürnberg, wo er am 19. August verhaftet wurde. Der Rat suchte sich noch für seinen Bürger einzusetzen, doch seine Bemühungen blieben erfolglos. Sieben Tage später wurde Palm in Braunau am Inn erschossen. Das Urteil wurde in ganz Deutschland bekanntgemacht, der Rat ließ jedem Nürnberger Buchhändler davon Mitteilung machen. Schon am 12. Juli aber war die Entscheidung über das Schicksal Nürnbergs gefallen. Die Stadt wurde mit dem Abschluß des Rheinbundes auf Grund der Art. 17 und 24 dem neugegründeten Königreich Bayern einverleibt. Am 15. September wurde die Übergabe in großer Aufmachung gefeiert. Folgender Verlaß vom 18. September beendet auch unsere Zensur­ geschichte: „Die bisher stattgehabte Zensur der öffentlichen Blätter, sowie die bestandene Theater-Deputation, sind aufgehoben, und die dahin ein­ schlagenden Akten sowohl auch von dem Vormundamt als von der er­ nannten Deputation an das Polizeidirektorium abzuliefern. — Bürgermeister­ amt — Kirchen- und Vormundamt — Theater Dep.-Dep. zum Hochpreisl. Königl. Bayr. General Land Commissariat in Franken.“

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Wir blicken zurück. Als einer der ersten Stände des Reiches hat die Reichsstadt Nürnberg schon vor der Reformation die Zensur gedruckter Schriften ausgeübt. Der Rat der Stadt traf seine Kontrollmaßnahmen kraft der örtlichen Polizeigewalt. In der geistigen und politischen Auseinandersetzung der Reformation wurde die Zensur eine hochpolitische Angelegenheit. Der Kaiser verpflichtete alle Obrigkeiten des Reiches zur Zensurausübung, die vor allem das Präventiv­ mittel zur Unterdrückung reformatorischen Schrifttums sein sollte. Die Ver­ hältnisse führten aber dazu, daß die evangelischen Stände in ihrem eigenen Sinne die Zensur ausübten und die neue Lehre förderten. Doch die Loyalität gegenüber dem Kaiser veranlaßte vor allem die Reichsstädte, allzu heftigen Angriffen gegen die katholische Kirche zu steuern. Politische Rücksichten und religiöse Überzeugung bestimmten auch die Nürnberger Zensurpolitik. Das durch diese beiden Momente gegebene Spannungsverhältnis bleibt für die Politik der Reichsstadt kennzeichnend. Nachdem der Religionsfriede den lutherischen Ständen die Ausübung ihrer Religion in Wort und Schrift zugesichert hatte, traten in der Folgezeit die Auseinandersetzungen innerhalb der evangelischen Kirche in den Vorder­ grund. Der nüchterne Rat der Stadt verhielt sich gegenüber den Dogmen­ streitigkeiten im allgemeinen ablehnend und unterdrückte die polemische Literatur. Die Politisierung der Nürnberger Zensur beginnt in der Zeit des Dreißig­ jährigen Krieges. Die Stadt, genötigt durch ihre außerordentlich schwierige Stellung, suchte so gut wie möglich allen Verwicklungen aus dem Wege zu gehen, und die Regierung beschränkte die politische Tagesliteratur, soweit es in ihrer Kraft stand. Mit Unwillen betrachtete der Rat das Aufblühen des Zeitungswesens. Der finanziell völlig erschöpften Stadt gelang es nach dem Kriege nicht mehr, sich wieder in die Höhe zu arbeiten. Die ungünstigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse wie die Verknöcherung des Stadtregiments brachten es mit sich, daß die Stadt eineinhalb Jahrhunderte ein kleinstädti­ sches Winkeldasein führen mußte. Die Zensurpolitik Nürnbergs in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert trägt einen kleinbürgerlichen Zug. Der Leitsatz des Rates aber war, keinem der empfindlichen Potentaten irgendwie zu nahe zu treten; gleich, ob es sich dabei um den Kaiser, den König in Preußen oder um einen Duodezfürsten handelte. Das Würdegefühl der absoluten Fürsten vertrug kein kritisches Wort. Sie konnten der schwachen Reichsstadt durch Repressalien verschiedenster Art jede unwillkommene Ver­ öffentlichung, ob sie mit oder ohne Erlaubnis des Rates gedruckt worden war, entgelten lassen. Soziale Spannungen im Inneren veranlaßten den Rat, kritische Äuße­ rungen seiner Bürger zu unterdrücken. Das handgeschriebene und gedruckte Pasquill war die gängige Art anklagender Stellungnahme, Der Geist und die Publikationsverhältnisse der Aufklärungszeit brachten bedeutende Änderungen im Zeitungswesen mit sich. Die alten Maßnahmen 168

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Zensurpolitik

erwiesen sich als überholt und wirkungslos, eine liberale Zensurgesetzgebung am Ende des 18. Jahrhunderts förderte die geistige Freiheit. Trotz geistiger und materieller Erschöpfung der Stadt am Ausgang ihrer Reichsfreiheit ver­ schloß man sich in der neuen „Ordnung" nicht den Erfordernissen der Zeit. Der Mut mancher Nürnberger Buchhändler während der napoleonischen Gewaltherrschaft bekundete sich in der Veröffentlichung patriotischen Schrift­ tums. Napoleon selbst glaubte aus diesem Grunde die Stadt als „Herd der Intrigen" bezeichnen zu müssen. Mit der Epoche des Nationalismus begann auch ein neuer Abschnitt in der Zensurgesetzgebung, bis zu dem unsere Darstellung heranführte.

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ZUR GESCHICHTE DER ÄLTEREN NÜRNBERGER KARTOGRAPHIE I. Erhard Etzlaubs Karten des Nürnberger Landgebiets 1516/19 Von Fritz Schnelbögl Der Kompaßmacher Erhard Etzlaub (um 1460—1531/32) nimmt in der Geschichte der Nürnberger Kartographie und des deutschen Kartenwesens überhaupt einen hervorragenden Platz ein. Seine Leistung, zwar schon von der älteren Literatur (Doppelmayr, Will) anerkannt, wurde doch erst durch August Wolkenhauer zu Beginn dieses Jahrhunderts in das helle Licht der Forschung gerückt1). Herbert Krüger hat dann in den letzten Jahr­ zehnten die Kenntnis der Arbeitsweise und des Werkes von Etzlaub erweitert und vertieft, so daß wir heute eine ganze Anzahl von Karten dieses Autors kennen und um ihren Zweck und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Kartographie wissen2).3 Von Etzlaub stammt eine Karte der Nürnberger Um­ gebung aus dem Jahre 1492, die das Gebiet von Coburg bis zur Donau, von der Tauber bis zum Böhmerwald umfaßt. Sie wurde von Jörg Glockendon gedruckt. Zum Heiligen Jahr 1500 fertigte er eine Romwegkarte, welche noch vor 1501 in mindestens 3 Auflagen erschien. Schließlich brachte er im Jahre 1501 in Nürnberg eine Landstraßenkarte heraus, die wiederum bei Georg Glockendon gedruckt wurde. Wie sehr das kartographische Schaffen Etzlaubs von seinen Zeitgenossen anerkannt und geschätzt wurde, kann man daraus ersehen, daß Sebastian Münster für seine Deutschlandkarte von 1525 Etz*) August Wolkenhauser, Der Nürnberger Kartograph Erhard Etzlaub (= Vortrag auf dem 16. deutschen Geographentag in Nürnberg 1907), gedruckt in: Deutsche Geographische Blätter, Bd. 30, 1907. 2) Besonders sei verwiesen auf die sehr ergiebigen Abhandlungen Herbert Krügers „Die Romweg-Karte Erhard Etzlaubs in ihren verschiedenen Ausgaben seit 1492" (in: Peter­ manns Geograph. Mitteilungen, Bd. 88, 1942, S. 28 51—296 und Tafeln 36 und 37), „Ein Jubiläum Nürnberger Kartographie. 450 Jahre seit Erhard Etzlaubs kartographischem Schaffen" (in: Mitt. d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Nürnberg, Bd. 39, 1944, S. 127—154. mit einer Abbildung) und „Das Rhein-Main-Gebiet auf Erhard Etzlaubs Nürnberger Straßenkarten aus den Jahren 1500 und 1501" (in: Mainzer Zeitschrift, Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte, Jahrgg. 4*6/47, 19 51/52, S. 65—73, 3 Abbildungen). In diesen Abhandlungen ist die einschlägige ältere Literatur angegeben. Noch in diesem Jahr erscheint eine zusammenfassende Darstellung aus der Feder Herbert Krügers „Des Nürnberger Meisters Erhard Etzlaub älteste Straßenkarten von Deutsch­ land" im „Jahrb. f. fränk, Landesforschg.“, hrsgg. v. Institut f. fränk. Landesforschung an der Universität Erlangen.

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laubs Landstraßenkarte zugrundelegte. Münsters Kartenbild von Deutschland wiederum wurde noch 43 Jahre nach dem Tode Etzlaubs als gültig betrachtet, als es auf einem Messing-Astrolabium vom Jahre 1575 (heute im Germani­ schen Nationalmuseum) Verwendung fand8). Die geniale Leistung des Meisters Etzlaub ist von Herbert Krüger über­ zeugend nachgewiesen worden: Mit der Karte von 1492 schuf er die älteste deutsche politische Karte mit fest abgegrenzten Herrschaftsbereichen. Hier und in den späteren Blättern gewann der Kartograph, aufgrund sorgfältiger Meilenmaße, ziemlich der Wirklichkeit entsprechende Entfernungswerte und schuf so ein zuverlässiges Gerüst für die Gesamtkarte. Bei den Straßenkarten erfand der Nürnberger Meister eine verblüffend einfache Signatur für die Straßen, er stellte sie mittels einer punktierten Linie dar, „wobei die Zahl der Punkte zugleich der Zahl der Meilen der Teilstrecken zwischen den einzelnen Etappenstationen entspricht“ (Krüger). Man konnte also von der Karte zugleich mit dem Verlauf der Straße auch die Entfernung der einzelnen an dieser Straße gelegenen Orte ablesen. Bei den großräumigen Deutschland­ karten unterscheidet man heute in der Geschichte der Kartographie einen Cusanus-Typ (nach Nikolaus von Cusa) und einen Etzlaub-Typ, nach denen die Deutschlandkarten des 16. Jahrhunderts angelegt waren. Neben seiner kartographischen Tätigkeit machte den Meister die Her­ stellung mechanischer Geräte weithin berühmt. Namentlich hat er sich als Kompaßmacher einen geachteten Namen erworben. „Er war auch ein er­ fahrener Astronomus“, sagt außerdem sein jüngerer Zeitgenosse Johann Neudörfer von ihm in seinen „Nachrichten von Künstlern und Werkleuten“ aus dem Jahre 1547 4). * *Derselbe bezeichnet ihn ausdrücklich als den Verfasser der obenerwähnten Karte der Nürnberger Umgebung von 1492 („machet die Gelegenheit5) um Nürnberg auf viele Meilen in eine Landtafel, die drucket Georg Glockendon“, d. h. Glockendon verfertigte zu der Karte den Holz­ schnitt). Neudörfer fährt dann fort: „Was aber meine Herren, ein erber Rath, an fließendem Wasser, Weg, Steg, Stadt, Markt, Dörfer, Weiler, Wälde, fraißliche Obrigkeit und andere Herrlichkeit um und bei ihrer Stadt haben, das machet er ihnen in die Landpflegstube in schöne Karten und Tafeln . . .“ Tatsächlich sind noch 2 Ausfertigungen von Karten des Nürnberger Land­ gebietes vorhanden, die mit Sicherheit auf Erhard Etzlaub zurückgeführt werden können. Im Germanischen Nationalmuseum befindet sich eine Aquarellzeichnung auf Pergament vom Jahre 1519 mit der Darstellung der Gegend östlich von Nürnberg. Das Blatt zeigt die Landschaft, wie sie be­ grenzt ist durch die Orte Feucht und Brand bei Eschenau im Westen, Gräfenberg und Plech im Norden, Eschenfelden und Haunritz im Osten und Hains8) Walther Matthey, Sebastian Münsters Deutschlandkarte von 1525 auf einem Messing­ astrolabium (in: 96. Jahresber. des Germ. Nationalmuseums Nürnberg, 1951, S. 42—51). 4) Herausgegeben von G. W. K. Lochner, 1875. 5) „Gelegenheit" hier im Sinne von Lage, Umgebung; vgl. Fritz Sdhnelbögl und Hans Hubert Hofmann, „Gelegenheit der Landschaft mitsampt den Furten und Halten darinnen ( = Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft, Bd. 1, 1952).

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bürg und Ferrieden im Süden 6). * * Außer dieser Karte besitzt das Germanische Nationalmuseum ein Blatt mit Darstellung der gleichen Landschaft aus dem Jahre 1600 7); es ist auf Papier, das auf Leinen aufgezogen ist, gemalt und trägt die Aufschrift: „Dise neue Mappa ist von einer alten Mappa, anno 1516 gefertigt und in der Canzley in einem Gewölb gefunden worden, ab­ gerissen ao. 1600". Das Blatt ist signiert: „P. H." Hinter diesem Monogramm verbirgt sich vielleicht der Maler und „Kunstreißer" Peter Hochheimer 8). Somit sind 2 Überlieferungen vorhanden, von denen die eine von 1519 stammt, während das Blatt von 1600 die Kopie einer Karte vom Jahre 1516 ist. Bei genauerer Untersuchung des erstgenannten Blattes lassen sich nun Anlaß und Hersteller desselben einwandfrei ermitteln. Die Karte trägt nämlich auf der Rückseite neben 2 modernen Bleistiftnotizen folgende Vermerke von Händen des 16. Jahrhunderts: „Wiltcarta Transumpta 1519 im Jener" „Wiltcart No. 2. Transumpta im J[ener l]519" „Abris über das ampt Lauff, Altdorff, Reicheneckh und Hainburg den Wildtbahn betreffendt. Ao. 1516. No. 19". In der Zeit zwischen 1516 und 153 5 dürfte folgender Dorsalvermerk ein­ getragen worden sein, der dem Schriftbild nach vom Landpflegschreiber Rudolf stammt: „Dise carta ist dergestalt mit steten, slossen, dorffern, hölzern, wassern, pechen etc. im septembr. anno etc 1516 auff bevelh eins erbern rats und Besichtigung der landschaft also bestelt und contrafact [— nachgemacht] worden, fürnemlich darumb die wiltzirk, zu der stat Lauff, zu der stat Altorff und zu dem sloß Reichenneck, auch dem sloss Haynburg gehörig, darauß zu vernemen. Derhalben auch die genante vier flecken mit solichen f weissen creutzen bezaichend sind und umb einen jeden der gedachten vier flecken ein weisse linien gezogen, wie weit zur selben zeit vermeint worden, das ein jeder wiltzirk raiche. Wiewoll sich hernach etlichs anders funden. Und sind diese vier zirk auff die fraischzirk gemelter vier flecken nit gestelt, wie sich dann auß Verlesung der fraischzirk zu der stat Lauff, Herspruck und Altorff finden wirt, aber der fraischzirk, zum schloß Hain­ burg gehörig, ist dem verzaichenten wiltzirk ganz gleich. Item ditz berichts ist adi 4. Marcy anno etc. 1524 ein copey in die canzley durch Jeronimum Rudolffen, landpflegschreibern, auff bevelh geben worden, solichen bericht an die carten, unten im gwelb der canzley hangend, darauß dise carta abgemacht ist, auch ze schreiben, zur not darnach ze richten". ®) Signatur: La 1217. Die Karte wurde veröffentlicht als Blatt 12 in dem Sammelwerk von Leonhard Wittmann „Franken, Landkarten aus der Zeit von 1490—1700“, Mappe II. 1941. Das Blatt hat eine Größe von 94 X&4 cm. 7) Signatur: La 1622. Die Maße sind 95X81,5 cm, entsprechen also ungefähr denen der Karte von 1519. 8) Vgl. Theodor Hampe, Nürnberger Ratsverlässe über Kunst und Künstler, 1904, Bd. JJ, Nr. 1397 und Thieme-Becker, Allg. Lexikon d. bild. Künstler 17, S. 167.

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Dieser Vermerk läßt folgenden Sachverhalt erkennen: Im September des Jahres 1516 ließ der Rat eine Karte der Nürnberger Landschaft zeichnen, in die auch die Wildbannbezirke von Lauf, Altdorf, Reicheneck und Schloß Heimburg eingetragen wurden. Diese Jagdbezirke, welche freilich mit den Fraischbezirken der genannten Orte nur bei Heimburg übereinstimmten, wurden auf der Karte mit weißen Kreuzen und weißen Linien bezeichnet. Am 4. März 1524 hatte Hieronymus Rudolf, ein Mann, der von 1514 bis 1535 das Amt des Landpflegschreibers innehatte und in seiner Amtseigenschaft oft erscheint, von diesem Bericht eine Kopie in die Kanzlei zu geben, damit der Bericht auch auf der Karte (von 1516), die im Gewölbe der Kanzlei hing, angeschrieben wurde, auf derselben Karte, die man noch i. J. 1600 dort vor­ fand. Die Karte vom September 1516 hing also im Kanzleigewölbe und die von 1519, die unter Verwendung des Blattes von 1516 gefertigt wurde, verwahrte man offenbar in der Landpflegstube. Von der älteren machte P. H. im Jahre 1600 seine Kopie. Sie stimmt in den wesentlichen Zügen mit dem Blatt von 1519 überein. Sie enthält auch die weißen Kreuze, aus den weißen Linien sind freilich kräftige braune, goldgehöhte Linien geworden. Die Karte von 1519 läßt ebenfalls noch Kreuze und Linien erkennen. Die Hersteller der Karte von 1516 sind nicht genannt. Dagegen werden Erhard Etzlaub und Michel Graf als Autoren der Karte von 1519 in einem Rechnungseintrag 9) angegeben. In der 14. Frage, die vom 6. bis 27. April 1519 dauerte, wurde an die beiden für die Fertigung einer Karte der Nürnberger Landschaft die Summe von 25 Gulden ausbezahlt. Der Ein­ trag lautet: „Item 25 gülden für ein mappa unserer lantsckaft, nemlidt 12 fl. Erhärt Etzlaub, dieselb außzeteilen und 13 fl. Michl Grafen, dieselben auf permet zu malen1. Erhard Etzlaub erhielt demnach 12 Gulden für die Fertigung der Karten­ zeichnung; denn „austeilen“ bedeutet hier soviel wie die Landschaft „ein­ teilen“, sie entwerfen 10). Man gab ihm also 1 Gulden weniger als dem Maler, der vielleicht auch das Pergament zu stellen hatte. Bedenkt man freilich, welch unendliche Mühe eine Kartenaufnahme bei den damaligen Gelände­ verhältnissen verursachte und welch bescheidene Hilfsmittel zur Verfügung standen, so läßt sich das geringere Entgelt für Etzlaub nur damit erklären, daß er eben die Vorlage von 1516 kopieren konnte. Die Annahme liegt daher sehr nahe, daß ihn der Rat auch schon mit der Herstellung des älteren Blattes beauftragt hatte. Freilich fand sich dafür weder in den Ratsverlässen und Manualen des Landpflegamts noch in den Rechnungen und Rechnungs­ belegen des reichsstädtischen Archivs irgendein Beleg. Ob bei dieser älteren Karte von 1516 auch schon Michel Graf beteiligt war, wird sich schwer sagen lassen. Auch über dessen sonstige Tätigkeit scheint nicht viel bekannt zu sein n). Er war der Schwiegervater des Georg Penz. #) Staatsarchiv Nürnberg, Nürnberger Jahresregister Nr. 6, fol 36. 10) Vgl. Fischer, Schwäbisches Wörterbuch I, 529. 11) Neudörfer S. 138, 144: Theodor Hampe, Nürnberger Ratsverlässe über Kunst und Künst­ ler, 1904, Bd. I, Nr. 1276.

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Der Zweck der Etzlaub’schen Karte von 1516 und der von 1519 ist im oben wiedergegebenen Dorsalvermerk schon eindeutig genannt: Die Fraischbezirke und die Wildbannbezirke des Nürnberger Gebietes sollten karto­ graphisch dargestellt werden. Für das Territorium der Reichsstadt, namentlich die im Bayerischen Erbfolgekrieg 1503—1505 gewonnene „neue“ Landschaft samt den in den Folgejahren friedlich erworbenen Plätzen Hauseck (1507) und Wildenfels (1511), wurde im Jahre 1513 eine einheitliche übergeordnete Verwaltungsstelle geschaffen, das Landpflegamt, welchem die Außenämter, nämlich die noch in die pfälzische Zeit zurückreichenden Pflegämter, unter­ stellt waren. Vom Jahre 1513 ab können wir die Tätigkeit des Landpflegamts, das in der Landpflegstube des Nürnberger Rathauses seinen Sitz hatte, anhand der überlieferten Manuale, Briefbücher, Rechnungen und Akten verfolgen. Die Verwaltung der Landschaft durch dieses Amt machte sehr bald, schon nach 3 Jahren, den Besitz einer übersichtlichen Karte erforderlich, die eine Vorstellung der räumlichen Verhältnisse des Gebietes ermöglichte. Es kam noch dazu, daß der Stadt Nürnberg daran gelegen sein mußte, die hinsicht­ lich Fraisch und Wildbann strittigen Rechtsverhältnisse, welche noch aus der pfälzischen Zeit übernommen worden waren, zu klären und die unsicheren Hoheits- und Jagdrechte kartographisch zu fixieren. So beauftragte man aller Wahrscheinlichkeit nach schon damals Erhard Etzlaub, der seit mehr als 20 Jahren mit Karten, freilich ganz anderen Maßstabs, hervorgetreten war, mit der Zeichnung einer Übersichtskarte des Territoriums, in der er, ganz im Gegensatz zu seinen bisherigen Kartenschöpfungen, jeden Ort des be­ arbeiteten Gebietes festhalten sollte, so wie es dann, offenbar in wenig ver­ änderter Form (wie wir beim Vergleich mit der Kopie von 1600 feststellen können), auch bei der Karte von 1519 geschah. Dieses Blatt darf als eine der ältesten datierten Landkarten Frankens gelten, soferne man von den eingangs erwähnten, vom gleichen Autor Etzlaub herrührenden Übersichtskarten absieht. Während in jenen Blättern nur die Hauptorte eines größeren Gebiets, nämlich volkreichere Städte und wichtige Verkehrsknotenpunkte, Aufnahme fanden, sehen wir hier den Kartographen bemüht, das getreue Spiegelbild einer räumlich begrenzten Landschaft zu entwerfen. Gewiß, mehrere Dörfer, die damals schon bestanden, sind auf der Karte nicht eingetragen12); ihr Fehlen dürfte auf einem Versehen beruhen oder aus dem Streben nach Übersichtlichkeit zu erklären sein. Jedenfalls hatte Etzlaub entsprechend dem Verwaltungszweck, dem die Karte dienen sollte, die Absicht, im allgemeinen jede menschliche Siedlung, die er in dem be­ arbeiteten Gebiet kannte, in die Karte aufzunehmen, was eine intensive Begehung des Geländes voraussetzte. Das Blatt ist auf Pergament mit Wasserfarben gemalt. Pergament war in der Nürnberger Kanzlei, wohl besonders wegen seiner Dauerhaftigkeit, ein besonders beliebter Beschreibstoff, verwendete man doch bis ins 17. Jahr­ hundert für die auslaufende Korrespondenz mit Vorzug Pergament! Um der 12) z. B. Laipersdorf, Bellhafen, Siegersdorf, Weißenbach; sie fehlen übrigens auch auf der Karte von 15X6/1600.

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besseren Erhaltung willen wurden auch öfter Landkarten im 16. und 17. Jahr­ hundert auf diesem kräftigeren Beschreibstoff gezeichnet. Etzlaub bediente sich bei seiner Karte der Nürnberger Landschaft dreier Häute, die aneinander geklebt wurden, wie man noch deutlich erkennen kann. Wie alle Karten unseres Meisters, ist auch dieses Blatt umgekehrt orien­ tiert, d. h. Norden ist unten, Süden oben. Später, erst nach Fertigstellung der Zeichnung, wurde die Karte oben und rechts beschnitten, so daß also an der Südseite und besonders an der Westseite das Blatt nicht mehr ganz vollständig ist. Das von Etzlaub und Graf, den beiden Fertigern der Karte, angewandte System der Kennzeichnung der geographischen Gegebenheiten ist einfach und konsequent. Der große Flußlauf der Pegnitz ist in blauer, die Seitenbäche sind in blau-grüner Farbe gemalt. Der Wald erscheint als dunkelgrüner Flecken, der aber durch lichte einzelstehende Bäume, besonders an den Rän­ dern, gekennzeichnet wird. Nichtbewaldete Flächen sind in verschiedenen Schattierungen von hellgrün wiedergegeben. Für die Felspartien wird die Farbe braun verwendet (typisch z. B. die Felswand gegenüber Rupprechtsstegen!). Die Straßenzüge sind mit hellbraunen Streifen kenntlich gemacht. Die meisten Strecken werden heute noch benützt, andere sind nur mehr in einzelnen Abschnitten in Gebrauch. Jedenfalls kann die Karte als eine wert­ volle Quelle für die Altstraßenforschung gelten. Das Gelände in seiner vertikalen Gliederung wird noch recht unvoll­ kommen erfaßt; bei der Darstellung des Reliefs war erst Paul Pfinzing gegen Ende des Jahrhunderts in Nürnberg bahnbrechend 13). Doch versuchen Etzlaub und Graf vielfach mit Erfolg die besonderen örtlichen Verhältnisse wiederzu­ geben. So wird z. B. der Hohenstein als ragende Gipfelburg auffallend echt charakterisiert, auch die Hügellage des Kirchleins Bühl ist gut getroffen, ebenso wie die charakteristische Form des Glatzenstein oder die Höhenlage von Burg Reicheneck auf der Karte klar in Erscheinung treten. Die einzelnen Ortsbilder können, wie bei den meisten alten Karten, nur sehr bedingt als zuverlässige Zeugen des tatsächlichen Aussehens gelten. Immerhin sind auf­ fallende Eigentümlichkeiten, wie etwa die beiden Türme der Pfarrkirche Neunkirchen a. S., wiedergegeben. B'eim Städtchen Hersbruck kann man die heute noch bezeichnenden Satteldächer des Nürnberger Tores und des Hohenstädter Tores gut erkennen. Diese Stadtbilder (Hersbruck, Lauf, Gräfenberg, Altdorf, Velden) mit ihrem geschlossenen Mauerring erinnern auffallend an das im gleichen Jahr (1516) wie unsere Stammkarte gefertigte Blatt „Nürn­ berg im Reichswald“ 14), das ich wegen der andersartigen Darstellung des Waldes zwar nicht dem gleichen Maler Graf, wohl aber dem Erhard Etzlaub in der Zeichnung zuteilen möchte. Es ist gleichfalls umgekehrt orientiert (Süden oben!). Dörfer ohne besondere Merkmale sind auf dem Blatt von 1519 lediglich durch 2 bis 4 strohbedeckte Häuser angedeutet. Kirchdörfer heben 18) Vgl. Pfinzing, Der Kartograph der Reichsstadt Nürnberg, von Ernst Gagel unter Mitarbeit von Fritz Schnelbögl. Hersbruck 19'57 = Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft, Bd. IV, S. 15 ff. u) Germanisches Nationalmuseum, Sp. 10419.

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sich von ihnen ab durch ihre ziegelbedeckten Kirchenbauten mit Türmen. Doch kommt es vor, daß die Kirche auch einmal vergessen wurde, z. B. bei Walkersbrunn und Igensdorf. Auch die Herrensitze sind durch das Ziegeldach herausgehoben. Die Karte entspricht zwar nicht in allen Teilen den tatsächlichen Ent­ fernungen, doch ist das Gesamtbild richtig wiedergegeben. Etzlaub hielt sich an einen Maßstab von etwa 1 : 18 000. (Teil II. folgt im nächsten Band.)

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Karte des Nürnberger Gebietes von Etzlaub und Graf 1519; Ausschnitt: Gegend südlich von Hersbruck

Karte des Nürnberger Gebietes von Etzlaub und Graf 1519; Ausschnitt: Umgebung von Altdorf.

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Karte des Nürnberger Gebietes von 1600 (1516); Ausschnitt: Umgebung von Altdorf. Vgl. die Über­ einstimmung mit dem gegenüberliegenden Blatt hinsichtlich Flußläufe, Straßen, Beschriftung usw.

Karte des Nürnberger Gebietes von 1600 (1516); Ausschnitt: Reichswald bei Feucht und Burgthann.

FPALZGRAF FRIEDRICH II., REICHSSTATTHALTER KAISER KARLS V., und die Nürnberger Fastnacht von 1522 Von Karlheinz Goldmann

Der Heidelberger Universitätsprofessor Marquard Freher1), der älteste Sohn des Nürnberger Rechtskonsulenten gleichen Namens, veröffentlichte im Jahre 1624 in Frankfurt in der Offizin des Johann Ammon das Werk: Annalium de vita et rebus gestis illustrissimi principis Friderici II. Electoris Palatini libri XIV authore Huberto Thoma Leodio eiusdem consiliario .. . Er hatte diese Handschrift in der Heidelberger Universitätsbibliothek ge­ funden. Eine zweite, verbesserte Auflage erschien in Frankfurt 1665. Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel: Spiegel des Humors großer Poten­ taten .. . wurde 1629 in Schleusingen gedruckt2).3 In neuerer Zeit machte Vulpius, der Weimarer Hofbibliothekar und Schwager Goethes, auf Hubert Thomas Leodius aufmerksam, als er 1816 im 5. Bande seiner Curiositäten einen Auszug aus den Annalen veröffentlichte'). Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel hatten die Absicht, eine Neuausgabe dieser literarischen Seltenheit zu veranstalten, und auch der berühmte Hi­ storiker Leopold von Ranke hat dem Bericht des Hubert Thomas Leodius in seiner Schrift: Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber großes Lob gespendet. Wir bringen nun einen Auszug aus diesem Werke, das im Jahre 1849 Eduard von Bülow unter dem Titel: Ein Fürstenspiegel. Denkwürdigkeiten des Pfalz­ grafen Kurfürsten Friedrich II. beim Rhein nach der lateinischen Urschrift und alten deutschen Übersetzungen im Jahre 1849 in Breslau — Nachdruck, München. 1918 — neu herausgegeben hat4). Hubertus Thomas genannt Leodius5) nach seinem Geburtsort Lüttich, wo er 1495 das Licht der Welt erblickte, gest. zwischen 1555 und 1557, trat 1522 *) Jöcher, Christian Gottlieb: Allg. Gelehrtenlexicon. T. 2. 1750, Sp. 735/37; Will-Nopitsdi: Nürnbergisches Gelehrtenlexicon. T. 1. 175 5, S. 473/74 und T. 5. 1802, S. 360. Er hat u. a. die Nürnberger Reformation mit Anmerkungen erläutert. 2) Schottenloher, Karl: Bibliographie zur Deutschen Geschichte im Zeitalter der Glaubens­ spaltung 1517—1585. Bd 2. 1935, S. 328. 3) Vulpius, Christian August: Curiositäten der physisch-literarisch-artistisch-historischen Vorund Mitwelt... B 1 5. 1816, S. 195 ff. 4) Thomas, Hubert: Ein Fürstenspiegel. Hrsg, von Eduard von Bülow. Bd 1. 1849, S. V. ff. 12

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in den Dienst des Pfalzgrafen Friedrich II., um dessen französische Korrespon­ denz zu führen, weil dieser sich damals — freilich ergebnislos — um eine Heirat mit der verwitweten Königin von Portugal Eleonore, einer Schwester Karl V., bemühte. Neben einem dürftigen Schriftchen über den Bauernkrieg, einer wertvollen Geschichte des Franz von Sickingen, einer Chronik der Stadt Heidelberg und anderen Werken hat er sich vor allem durch das oben erwähnte Werk Ruhm erworben. So sehr nach seiner Meinung sein Herr den Nürnbergern gewogen war, so wenig läßt Leodius an den Nürnbergern ein gutes Haar. Der Bericht, den er in dem 4. Buch seiner Annalen über den Nürnberger Aufenthalt seines Herrn gibt, ist aber für den Historikernicht uninteressant und man könnte ihm, wenn man als Quellenur Leodius be­ nützen würde, auch die Überschrift „Eine einträgliche Nürnberger Fastnacht“ geben. Er behandelt nämlich die Abschlußverhandlungen zwischen Nürnberg und den pfälzischen und bayerischen Fürsten über die während des Bayeri­ schen Erbfolgekrieges gemachten Erwerbungen56). Ich darf hier kurz rekapitulieren: Herzog Georg von Bayem-Landshut hatte keine männlichen Erben. Da er seinem Vetter Herzog Albrecht und dessen Bruder Wolfgang von BayernMünchen die Erbfolge nicht gönnte, setzte er 1496 seine Tochter Elisabeth zur Universalerbin ein und verheiratete sie 1499 mit Rupprecht, dem dritten Sohne des Kurfürsten Philipp von der Pfalz. Da weder König Maximilian noch sein Schwager Herzog Albrecht das Testament Herzog Georgs an­ erkannten, kam es zu dem Bayerischen Erbfolgekrieg im Jahre 1504. Der Stadt Nürnberg versprach man, daß sie alles behalten dürfe, was sie im Kampfe an pfälzischem Besitz erobern würde, samt der Stadt Lauf, wenn sie die gewinne, was aber aus der Hinterlassenschaft Herzog Georgs in ihre Hände fiele, solle sie gegen eine Kriegskostenentschädigung von 40 000 Gulden an Albrecht abtreten. Ausgenommen, wenn sie Hersbruck, Hilpoltstein oder Heideck erobere, dürfe sie eines davon behalten, müsse aber dafür auf 10 000 Gulden von der zu zahlenden Entschädigungssumme verzichten. Die Höhe der Unkosten und des Schadens, den Nürnberg in dem nun beginnenden Kriege erlitt, betrugen rund 400 000 Gulden. Als der Krieg am 30. Juli 1505 durch den Kölner Spruch beigelegt wurde, erhielt Nürnberg aus dem pfälzischen Besitz einen Teil der Stadt Lauf, die Stadt Altdorf, das Schloß Stierberg, die Schlösser Grünsberg, Deinschwang, Hainburg und Heinzburg, die Märkte Betzenstein und Velden sowie die Vogteien, den Schutz und Schirm über die Klöster Weißenohe, das sich aber schon 1507 unter bambergischen Schutz begab, Engelthal und Gnadenberg 5) Hartfelder, Karl: Hubertus (Thomas) Leodius. In: ADB Bd IS. 1883, S. 295/96; derselbe: Der Historiker Hubertus Leodius. In: Forschungen zur Deutschen Geschichte Bd 25. 188 5, S. 273—289; Sach, August: Ein deutsher Gesandter auf der Reise nach Italien. 1529. In: A. Sach: Deutsches Leben in der Vergangenheit. Bd 2. 1891, S. 187—190; Hasenclever, Adolf: Zum Todesjahr des Hubertus Thomas Leodius. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Jg 82. 1929, S. 478—482; Jöcher, Christian Gottlieb: Allgemeines Gelehrtenlexicon. T. 4. 1751, Sp. 1153/54. 6) Reicke, Emil: Geschichte der Reichsstadt Nürnberg, 1909, S. 508/524.

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und aus dem Erbe Herzog Georgs die Stadt Hersbruck, das Schloß Reicheneck, das Schloß Hohenstein und den andern Teil von Schloß und Stadt Lauf. Es erhielt außerdem von den bayerischen Herzogen Albrecht und Wolfgang aber nur 20 000 statt der zugesagten 40 000 Gulden Kriegsunkosten­ entschädigung. Die Güter aus dem Besitz Herzog Georgs mußte die Stadt zudem noch als böhmisches Lehen annehmen, da sie von den bayerischen Herzogen an Böhmen verpfändet waren. Die Verhandlungen der Stadt Nürn­ berg über die während des Bayerischen Erbfolgekrieges gewonnenen Be­ sitzungen zogen sich bis zum Jahre 1542 hin. In dem Vertrag zwischen den Erben des Kurfürsten Philipp, dem Kurfürsten Ludwig und dem Pfalzgrafen Friedrich einerseits und der Stadt Nürnberg andererseits, der am 23. 12. 1521 abgeschlossen wurde, gab Nürnberg u. a. das Schloß Hainburg, das Kloster Gnadenberg, Deinschwang und die Schirmgerechtigkeit über Kloster Weißenohe zurück. „Auch der hohe Wildbann im Amte Altdorf sowie das Geleit von Neumarkt bis Altdorf und von Amberg bis Hersbruck sollten der Pfalz ver­ bleiben. Außerdem versprach die Stadt noch 37 000 fl und ein oder zwei Geschütze im Wert von 1000 fl den Pfalzgrafen einzuhändigen. Dafür be­ gaben sich diese in einem Verzichtbriefe (1. Februar 1522) aller ihrer An­ sprüche auf die von Nürnberg neu erworbenen Rechte und Besitzungen, namentlich auch auf Velden und Betzenstein, für sich, ihre Brüder, ihrer aller Erben, Erbnehmen und Nachkommen. Diesem Vertrage folgte am 25. August 1523 ein Grenzvergleich, durch welchen der zwei Jahre vorher errichtete Ver­ trag wiederholt bekräftigt wurde, endlich erhielten beide Verträge durch einen abermaligen Vergleichsreceß 1542 eine weitere Bestätigung. Durch diese Verträge erhielt Nürnberg eine so große Erweiterung seines Landgebietes, daß es mit rund 25 Quadratmeilen für sich in Anspruch nehmen konnte, die Reichsstadt mit dem größten Landbesitz in Deutschland zu sein. Allerdings hatte dieser Gebietszuwachs der Stadt mehr als 400 000 fl ge­ kostet und wäre, wie Müllner in seinen Annalen sagt, ein Ankauf wahr­ scheinlich billiger gekommen. Doch nun zu der Hauptperson, von der unser Bericht handelt. Es ist dies Pfalzgraf Friedrich II.7).8 der nach dem Tode seines Bruders Ludwig 1544 auch Kurfürst, Erzschatzmeister und Erztruchseß des Heiligen Römischen Reiches wurde. Er ist am 9. Dezember 1482 auf dem Schlosse Winzingen bei Neustadt geboren (f 15 56) und war dem Hause Habsburg Zeit seines Lebens treu ergeben. Nach dem Tode Kaiser Maximilians setzte er sich für die Wahl König Karls V. zum deutschen König ein und es gelang ihm auch, dessen Wahl durchzusetzen. Da seine Bemühungen Vizekönig von Neapel zu werden ergebnislos blieben s), „so ging man mit einer anderen Ehre oder Wohltat um, die dem Kaiser nichts koste und durch die man dem Pfalzgrafen Dankbarkeit bethätige. Einem alten Herkommen gemäß, ist der Kurfürst Pfalzgraf zugleich dergestalt der Verweser des Reichs, daß er, wenn ein Kaiser stirbt, alle Verwaltung am Rhein, in Schwaben und an allen Orten und Enden hat, wo das Fränkische Recht gilt. Desgleichen ge­ bührt ihm alle Machtvollkommenheit des Reiches in dem Falle, daß ein römischer 7) Kleinschmidt, N.N.: Friedrich II. In: ADB Bd 17. 1878, S. 603 ff. 8) Thomas, Hubert: Ein Fürstenspiegel. Hrsg, von Eduard von Bülow. Bd

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König oder Kaiser die Alpen oder Pyrenäen übersteigt und sich außerhalb der Grenzen Deutschlands aufhält. Es war wohl gewiß, daß Kaiser Karl, um seiner vielen Königreiche willen, nicht lange Zeit in Deutschland bleiben, sondern wieder nach Spanien und Italien reisen mußte. Daß man aber dem Pfalzgrafen Kurfürsten darum eine solche Gewalt einräumen und dem Kaiser entziehen, wollte den Meisten nicht gefallen und es trug der Pfalzgraf Kurfürst danach selbst kein Verlangen, da er weit lieber baute und sich schöne Pferde hielt. Man beschloß also, eine kaiserliche Verwaltung mit einem Statthalter einzu­ setzen, vor welchem die Reichssachen in Abwesenheit des Kaisers erörtert würden und es bezweifelte niemand, daß eine solche Ehre dem Pfalzgrafen Friedrich desto eher gegönnt und gegeben werde, als der Kaiser es billigte und wünschte. Nichts destoweniger ward, als es dazu kam, des Kaisers Bruder, Ferdinand, mit ein­ geschoben, dem in der väterlichen Erb- und Landestheilung Oesterreich zugefallen und der damals zugegen war, um die Huldigung seiner Unterthanen anzunehmen. Viele Fürsten hielten es auch für billig, daß er die Stelle seines Bruders verträte und Statthalter des Reiches würde; da er aber noch zu jung und in der deutschen Sprache unerfahren, auch ein Herr über Länder war, die täglich von den Türken überfallen wurden, versuchte man sich dahin zu einigen, daß Erzherzog Ferdinand zwar den Namen eines kaiserlichen Statthalters führe, Pfalzgraf Friedrich aber demnächst Ferdinands Statthalter sei. Der Pfalzgraf weigerte sich dessen auf das Eifrigste und setzte am Ende so viel durch, daß beide einen und denselben Titel führen und dem kaiserlichen Regimente vorstehen sollten. Dem Kurfürsten Pfalzgrafen ward ein Revers ausgestellt, daß dieses Vornehmen ihn und seine Nachkommen nicht benachtheilige oder seine Vikariatsrechte ver­ kleinere und dem Pfalzgrafen Friedrich wurden vierzigtausend Gulden verheißen, die ihm Don Raimund von Cardona, der neu ernannte Vicekönig von Neapel, auszuzahlen hatte, der dieser Verpflichtung indessen nur ein langsames und bös­ williges Genüge tat. So bald diese Angelegenheit zu Stande gebracht und der Reichstag zu Worms beendigt wart, mußte Kaiser Karl nach den Niederlanden eilen, wo ihn der König von Frankreich mit Krieg überzog. Derselbe währte lange Zeit, und nachdem das Städtchen Mezieres an der Maas von vielem kaiserlichen Volke vergebens belagert und gestürmt worden war, weil sich die Franzosen darin tapfer wehrten, zog er sich nach Italien, wo er mit großem Ernste geführt ward. Pfalzgraf Friedrich begab sich nach Nürnberg, in welchem Orte das kaiserliche Regiment seine Residenz haben sollte und stund ihm mit Fleiß und hohem An­ sehen vor, wiewohl er sich daneben auch freundlich genug bezeigte, um von Jeder­ mann geliebt und geehrt zu werden und die Leutseligkeit sogar so weit trieb, daß er nicht einmal den weiblichen Verführungen widerstand. Die Nürnberger sind darin so wohl erfahren und geübt, daß sie würden Felsen bewegen können, und er ward von ihnen bald zum Mittags-, bald zum Abendessen, zum Tanze, wie zu anderen Erlustigungen eingeladen, die die Nürnberger Mädchen und Frauen, ohne Arbeit und im Überflüsse lebend, artig genug zu erdenken wissen. Es kamen auch zuweilen einige Frauen mit schönen Jungfrauen unter dem Vor­ geben nach seiner Wohnung, etwas aus seiner Küche zu kosten, deren Speisen schmackhafter als für irgend einen andern Fürsten zubereitet würden, und dankten Gott laut, daß er einen solchen Fürsten in ihrer Stadt Hof halten lasse, die seither wie in einem Schlafe gelegen und sich nur kaufmännischen Wuchers beflissen habe, anstatt daß sie jetzt durch seine Gegenwart auf gewacht sei und anfange, fröhlich zu werden. 180

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Sobald die Fastnadittage nahten, an denen es jedem freistand, zu Kurzweil zusammen zu kommen oder Tänze zu halten, redete man ihm vor, wie große Gunst er sich bei Jedermann erwecken würde, wenn er sich, obschon nicht gebeten, eben­ falls bei einer Mummerei einfände, und schmeichelte ihm mit so viel glatten Worten, daß er sein Gemüth fortan allen wichtigen Gedanken entzog und sich, wie Hannibal in Capua, den Wollüsten ergab. Es ging darüber bei der Theuerung, die in Nürn­ berg herrscht, ein Großes auf, denn obwohl diese Stadt an nichts Mangel hat, muß man doch, da sie in einer magern, sandigen Gegend liegt, alle Lebensmittel, die je kostbarer, desto angenehmer werden, theueren Kaufes von weit her kommen lassen. Pfalzgraf Friedrich ließ sich dazu auch kein Geld reuen und war jederzeit gast­ freier als seine Güter es vertrugen. Er fing an, in Schulden zu gerathen und es ward ihm von den Bürgern, die ohnedies dem Wucher ergeben sind, liederlicherweise gegen Bürgschaft und Verpfändung seiner Landeseinkünfte geliehen. Zu diesem Übel kam überdies, daß er inmitten seiner Freude, so wie er wähnte, von Anderen geliebt zu werden, unversehens selbst von dem Pfeil der Liebe zu einer schönen Jungfrau verwundet ward, und es steht mir nicht zu, zu sagen, wie viel sie ihm gekostet hat, ehe sie sich ihm ergab, was für Bankete er bei Tag und Nacht ge­ halten, was er ihr hat schenken und daneben dem und jenem geben müssen. Um das neue Jahr 1522 kam auch der Kurfürst, Pfalzgraf Ludwig, nach Nürn­ berg, um, der kaiserlichen Verordnung nach, dem Regimente drei Monat beizu­ wohnen und hatte jetzt zwar keine Gemahlin, da er dieselbe, die Schwester der Herzoge zu Baiern, Wilhelm und Ludwig, das Jahr zuvor durch den Tod verloren, ward aber durch die Verführungen ebenfalls dahin gebracht, so große Summen aus­ zugeben, daß die Brüder gleichsam mit einander an Verschwendung wetteiferten. Die auf alles abgerichteten klugen Nürnberger sahen das ziemlich gern, weil sie schon zum Voraus wußten, wie es ablaufen werde, und daß mit den Fürsten, wenn es an Geld mangele, wegen einiger Städte und Schlösser gut handeln sei, derenthalb sie mit einander in Streit waren, und die die Nürnberger, als Ver­ bündete des Kaisers Maximilian, im letzteren Kriege den Pfalzgrafen, die sie zurückforderten, abgenommen hatten. Der Pfalzgraf Kurfürst hatte einen in den Rechten wohlerfahrnen Kanzler, Namens Florentin von Venningen, und hielt auch den Landgrafen Johann von Leuchtenberg in hohem Ansehen, der unlängst mit ihm ausgesöhnt worden und sich sehr dienstfertig anstellte, wenn er gleich daneben äußerst geizig war. Des Pfalz­ grafen Friedrich Kanzler, Doctor Johann Fuchsstein, war ein Mann von vielen Fähigkeiten und hatte nur ein so verderbt Gemüth, als der öffentlichen Wohlfahrt zuweilen großen Schaden bringt. Bei demselben war Recht und Gerechtigkeit für Geld zu haben und er drehte sie nach seinem Vortheil, wie er sie haben wollte. Auch stand er in nicht minder üblem Rufe wegen Unzucht und Ehebruchs und ward gleichwohl von dem Fürsten werth gehalten, weil er die Laster so meisterlich mit der Zunge zu vertreten wußte, daß sich ihrer Viele betrügen ließen und ihn für einen ehrlicheren Mann hielten, als er war. Zu diesen Männern verfügten sich einige vom Nürnberger Rathe Abgeordnete, die mit absonderlichen Worten bei ihnen anbrachten, wie viel die Nürnberger von den Pfalzgrafen hielten und wie sie nichts so sehr begehrten, als mit ihnen darüber, selbst zu ihrem Schaden, einig zu werden, was bisher eine Streitsache zwischen ihnen gewesen sei. Sie möchten sich so gern in Worten und Werken als gute Nachbarn bezeigen und erwarteten auch von ihnen, zum Nutzen und Frommen ihrer beider­ seitigen Unterthanen, nichts Anderes. In dieser Sache könnten sie als Betraute der Pfalzgrafen viel ausrichten und sollten, wenn es geschehe, nicht bezweifeln, daß die Stadt Nürnberg sich mit einer stattlichen Verehrung dankbar erweisen werde. 181

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Die Herren spitzten zu dem Vorschläge, den sie sich wohl gefallen ließen, die Ohren und wanderten, nachdem sie sich unter einander verglichen hatten, mit der Erklärung vor die beiden Fürsten, daß sie ihnen, vorerst außer Beisein der anderen Räthe, einen wichtigen Handel zu entdecken hätten. — Es ist eben nicht zu bezweifeln, durchlauchtigste Fürsten, sagten sie, daß euch jetzo eine besondere Schickung Gottes hat in dieser Stadt zusammen kommen lassen, die ihr euch mit eurer Gegenwart so sehr verpflichtet. Es ist keiner von der Obrig­ keit, kein Bürger, kein Weib, kein Kind, das euch nicht fast bis zur Anbetung hoch hielte und liebte und wenn ihr zum Theile das gemeine Volk hören solltet, wie es von euch spricht, ihr würdet euch darüber wundern. Ihr habt keinen Freund, keinen Fürsten, keine Stadt in der Nähe, die nötigenfalls so viel für euch thäte als die unter allen deutschen Städten an Gütern, Menschen und Weisheit vor­ nehmste Stadt Nürnberg. Wir ertheilen euch deshalb, unserer Pflicht getreu, den Rath, daß ihr nicht unerlasset, euch die Stadt je mehr und mehr zu verbinden und sagen euch, wie ihr dazu ein Mittel in Händen habt, was, unserem Bedünken nach, eben so gelegen ist auch euch wohlzuthun. Ihr seid zu den täglichen Ausgaben je länger je mehr einer großen Geldsumme bedürftig, da ein Reichstag nach dieser Stadt ausgeschrieben ist und ihr dann binnen eines halben Jahres Frist wieder nach Hause kommt. Es werden dazu viele Fürsten erscheinen, um derer willen ihr euch, nach eurem Brauche, werdet prächtiger und stattlicher halten wollen. In eurer Schatz­ kammer ist zur Zeit gar nichts vorhanden, und um es auf wucherischen Zins aufzu­ nehmen, seid ihr nicht nur schon zu sehr damit beschwert, sondern begreifen wir auch nicht, woher ihr die Wiedererstattung nehmen wolltet. Es wäre also rathsamer, man verkaufte zu Zeiten ein Städtlein oder Stück Landes, als daß man mit hohen Schulden überladen bliebe, die selten abnehmen und ebenso von Tag zu Tage anwachsen, als die Raupe, die den Stengel frißt, zuletzt alles, was damit zusammenhängt, benagt und hinterschluckt. Es wären dessen als Beispiel unzählige Fürsten und, wollte Gott! nicht auch dereinst ihr angeführt werden. Wir sagen dies nicht, um euch zu rathen, daß ihr von euren eignen Land und Leuten losschlagt; sondern wollen euch sonst aus diesen Nöthen helfen und haben bedacht, ein wie nützliches Werk es wäre, wenn man sich bei der Gelegenheit mit den Nürnbergern wegen der Städte zu vergleichen suchte, die sie eurem Herrn Vater im vorigen Kriege weggenommen haben. Wir hegen nicht die mindesten Zweifel, daß dieselben, so wie jetzt gesinnt, entweder Einiges davon wiedergeben, oder eine große Summe Geld dafür erlegen werden. Bei so gestalteten Sachen haben sie Alles in Händen und nutzen es allein. Es bedurfte unter solchen Umständen nicht gar lange Zeit, um die geldbedürftigen Fürsten dem Vorschläge geneigt zu machen und sie gaben dem Kanzler von Ven­ ningen Vollmacht, zur That zu schreiten und die Nürnberger, gleichwie erst für sich, in der Sache anzugehen. Der Kanzler war nicht faul, sondern that, was ihm befohlen war und die Nürn­ berger bewilligten gern, was sie selbst zuerst gewünscht hatten, indem die Unter­ handlungen zu dem Schlüsse führten: daß die Nürnberger zuvörderst dem Pfalz­ grafen Friedrich das auf einem hohen Berge gelegene Schloß Hinßberg mit dem Männer- und Jungfrauen-Kloster, das der Gnadenberg genannt wird, wieder ein­ räumen und den Fürsten zwei und dreißig tausend Gulden baar auszahlen sollten; wofür diese sich zu ewigen Zeiten aller Rechte und Ansprüche auf die ihnen ab­ genommenen Örter, die der feinen Städtchen Lauffen, Altdorff und Heersbrugk mit einigen Schlössern und vielen Dörfern, begaben. Die drei Personen, die dies hatten zu Wege bringen helfen, trugen stattliche Verehrungen davon. 182

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Es fällt mir darüber ein, wie gut und nützlich doch vor Zeiten von den deutschen Fürsten verordnet war, daß keiner derer, die ihre getreuen Diener sein wollten, sonderlich die hohe Ämter bekleideten, andere als zur Speise dienliche Geschenke und auch solche nur zu Zeiten, damit sie nicht verführt würden, annehmen durften. Wenn dies bis auf unsere Zeit gehalten worden wäre, hätte der Vertrag nicht statt­ gehabt und würden die Nürnberger, wie hernach in Erfahrung gebracht worden ist, die Städte den Pfalzgrafen lieber wieder gegeben haben, als in Ungnade geblieben sein; zumal da sie mit ihrem Nachbar, dem Markgrafen von Brandenburg, mit dem sie fast immer in Hader lagen, eben so übel wie schon vorher mit dem Bischof zu Bamberg wegen veränderter Kirchengebräuche standen. Ich werde vielleicht noch einmal darthun, wieviel aus dem Grunde, daß man den Räthen ordnungswidrig zugelassen hat, Geschenke anzunehmen, von der Pfalz weggekommen ist. Genug, das Geld ward zu Nürnberg erlegt und verthan und die Stadt behielt die Güter bis auf den heutigen Tag, derweil die Pfalzgrafen das Zusehen haben. Im Verlaufe dieser Angelegenheiten hatte der Reichstag seinen Anfang ge­ nommen, zu dem der Erzherzog Ferdinand von Oesterreich, der Bruder Kaiser Karls, sich eingefunden, und demselben wich der Pfalzgraf Friedrich insofern, als er sich jedesmal, wenn Ferdinand die oberste Stelle einnahm, nach dem fünf Stunden Wegs von Nürnberg gelegnen Neumarkt begab, damit kein Streit wegen des Vorsitzens an des Kaisers Statt entstände, die jeder von ihnen mit gleichem Rechte behaupten konnte. Es kam dahin auch das heilige Weib Isabella, die Schwester Kaiser Karls und Erzherzog Ferdinands, die ihrem Manne, dem gewesenen Könige Christian von Dänemark und Schweden, der von dem Bruder seines Vaters, dem Herzoge Friedrich von Holstein, seiner Länder und Güter beraubt war, und von dem sie nicht lassen wollte, in das Elend nachzog. Sie suchte hier bei ihrem Bruder, dem Erzherzoge Ferdinand, dessen Vermögen zu klein dazu war, vergebens Hülfe und begab sich, als sie einsah, daß auch von den Reichsständen nichts zu erhalten war, nach den Niederlanden, wo sie, wie man dafür hält, aus Traurigkeit zu Gent starb und in dem Kloster St. Peter stattlich begraben ward. — Pfalzgraf Friedrich verkehrte zu Nürnberg mit dieser Königin, ohne daß er ahnte, er werde mit der Zeit ihre älteste Tochter zur Gemahlin erhalten, und fand seine größte Ergötzlichkeit in dem Liebesumgange mit Nürnberger Jungfrauen. Da er auch noch ebenso wenig Leonoren vergessen hatte, von deren Gemahl, dem Könige von Portugal, sich zu der Zeit das Gerücht seines Todes verbreitete, be­ stärkten ihn manche Leute und vorab der Cardinal von Lüttich in der Meinung, daß es Gottes Schickung sei, ihm in Leonoren, der ihr Bruder nicht viel mitgegeben, keine arme, sondern eine mit königlicher Aussteuer versehene Gemahlin zuzuführen und daß nun, wo man mit ihr nicht mehr so hoch wie früher als Jungfrau hinaus könne, bald alles richtig werden dürfe. Leonore habe ihren Brüdern einmal gefolgt und einen alten ungestalteten Herrn zur Ehe genommen. Dafür stehe es ihr jetzt wohl frei, zu heirathen, wen sie wolle und würde sie unzweifelhaft den Pfalzgrafen Friedrich wählen, den sie so inbrünstig geliebt habe, daß ihre Glut gewiß noch nicht erloschen sei. Alles dies und mehr dergleichen entzündete in Friedrichs Brust sein noch fort­ glimmendes früheres Verlangen nach Leonoren wieder und brachte ihn zu dem Entschlüsse, zur Erforschung ihres Gemüthes eine Botschaft an sie abzusenden. 183

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Da er keinen Secretair hatte, der der französischen Sprache mächtig war, be­ langte er dieserhalb den vortrefflichen Mann Tetanias Frisius zu sich, der beider Rechte Doktor und des kaiserlichen Kammergerichts Beisitzer war, und bat ihn, ihm in dieser Sache einige Schreiben französisch zu verfertigen. Dessen Antwort war, er könne zwar französisch reden, aber nicht schreiben. Er habe jedoch einen Diener, Hubertus Thomas aus Lüttich, gehabt, der sich die sieben Jahre, daß das Kammergericht zu Worms gewesen, treu und fleißig bei ihm gehalten. Derselbe habe ein Weib genommen, sei in das andere Jahr Kanzleischreiber bei seinem Bruder dem Pfalzgrafen Kurfürsten, und könne thun, was er von ihm begehre. Hierauf begab sich Pfalzgraf Friedrich zu seinem Bruder und erlangte von ihm, daß ich verschrieben ward. Ich eilte stracks nach Nürnberg und hinterließ mein Weib im härtesten und kältesten Winter, im Kindbett, unter lauter Unbekannten, ohne was sie die zwei Jahre her in der Nachbarschaft für Bekanntschaften gemacht hatte, und mit einem Dienstmädchen von kaum zwölf Jahren. Sie war eben einer Tochter genesen, welche Anna Camilla hieß und hatte auch einen Sohn, Adrian Pallantes, nur eines Jahres alt, den die Großmutter, ein Weib, das Alters halb nicht mehr fort konnte, an der Hand führte. Wir wohnten in einem kleinen Häuschen zu Heidelberg, in der Leiergasse, mit geringem Vermögen, wie es damals meine Gelegenheit gab, jedoch sauber und reinlich und es ging dabei fröhlicher als jetzt zu. An Gelde hinterließ ich so viel, daß mein Häuflein kaum genug daran hatte, sich zu behelfen, bis ich wieder käme, und ich zog traurig von dannen, wiewohl ich immer guthes Muthes sein konnte, weil es in meinem Berufe war und wenn ich von derselben Zeit an in viel Mühe und Sorge und Bekümmerniß gesteckt worden bin, hat mich doch Gott bis gegenwärtig, wo ich dieses schreibe, erhalten und wird mich auch ferner, so lange es sein heiliger Wille ist, erhalten. Als ich zu Nürnberg ankam, waren gerade die Fastnachttage, an denen der Rath, den anwesenden Fürsten zur Lust, dem gemeinen Volk erlaubt hatte, ihres Gefallens auf den Gassen umher zu schwärmen. Man konnte sehen, wie die Fleisch­ hauer, Gerber, Würzkrämer, Köche und andere Handwerksleute, in seidenen Klei­ dern und mit güldenen Ketten behängt, Öffentlich umhergingen, Tänze hielten, sangen, sprangen, Gastereien anstellten und mancherlei wunderbare Händel er­ dachten und Vornahmen, um die Fürsten fröhlich zu machen, die doch nicht merkten, daß dieselben mit diesen Griffen ihr Geld an sich brachten, und sie alles desto theurer kaufen mußten, je herrlicher und prächtiger sie sich mit den Ihrigen hielten. Sobald mich der Fürst ansichtig ward, bot er mir die Hand, hieß mich will­ kommen und sagte, er wolle über etliche Tage meines Dienstes brauchen und mich wieder fordern lassen, wenn es nöthig wäre; bis dahin solle ich bei ihm oder seinem Bruder guter Dinge sein. Nach einigen Tagen ward mir die Sache vertraut und verfertigte ich mein Schreiben, das aber umsonst nach Spanien an Leonoren verschickt ward, weil sie lieber den König Franz von Frankreich, nachdem er zu Pavia war gefangen worden, zur Ehe nahm, um sich nach wie vor eine Königin nennen zu lassen, als zu dem Pfälzischen und Baierischen Titel hinabzusteigen. Ich werde weiter unten mit Mehrerem erzählen, wie diese Heirat abgelaufen ist.

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DIE NÜRNBERGER MUSIKGESELLSCHAFTEN — Rudolf Wagner zum Andenken —

Von Uwe Martin

Vorwort Konzipiert zunächst als historisch-biographisches Einleitungskapitel zu einer speziell musikwissenschaftlichen Abhandlung („Historische und stilkritische Studien zu Leonhard Lechners Strophenliedern", Diss. phil. Göttingen 1957) ging diese Arbeit von der Frage nach den Voraussetzungen und Bedingungen für die umfang­ reiche und bedeutende Kompositionstätigkeit des von ca. 1575 bis 1584 in Nürn­ berg wirkenden Musikers und späteren Württembergischen Hofkapellmeisters Leon­ hard Lechner aus. In diesem Zusammenhang stellte sich eine bisher kaum beachtete Tradition privater geselliger Musikpflege in Nürnberg als so bedeutungsvoll für die Existenz des produktiven Künstlers und für die musikalische Entwicklung im bürgerlichen Gemeinwesen jener Zeit heraus, daß schon im Rahmen der Dissertation ein eigenes historisches Interesse an ihr gerechtfertigt erschien. Da nun der erste Abschnitt in der Tradition dieser Musikgesellschaften zeitlich mit Leonhard Lechners Nürnberger Aufenthalt zusammenfällt und gerade am Wirken dieses Komponisten die Funktion der Gesellschaften am lebendigsten zu Tage tritt, darf die vor­ liegende Arbeit ohne wesentliche Änderung zugleich als erstes Kapitel einer Gesamt­ darstellung der Geschichte der Nürnberger Musikgesellschaften gelten, die der Verfasser, unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in Angriff ge­ nommen hat. Hier sei auch noch einmal in großer Dankbarkeit Professor Dr. Rudolf Wagners gedacht, der diese Arbeit mit freundlichster Hilfsbereitschaft gefördert hat; ebenso ist der Verfasser für wertvolle Anregungen und Einsichten Baron Hubert von Welser zu herzlichem Dank verpflichtet.

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I. Studien zum privaten Nürnberger Musikleben während der Jahre 1568 bis 1585 Adolf Sandberger hat in seinen Bemerkungen zur Musikgeschichte Nürn­ bergs auf Grund langjähriger archivalischer Forschungen eine große Fülle wertvollen Materials zusammengetragen und dargestellt, das in seiner Ge­ samtheit ein recht geschlossenes Bild von dem institutionellen Nürnberger Musikleben des 16. Jhs. vermittelt*). Das Material wird sicher noch hier und da durch glückliche neue Funde aus den reichen Archiven ergänzt werden können; wesentlich neue Aspekte aber würden auch durch neue Quellen­ erschließungen kaum noch zu gewinnen sein. Dennoch gibt das Bild, wie es Sandberger mit Rücksicht auf die schöpferischen Persönlichkeiten unter den Gesichtspunkten: Schul- und Kirchenmusik, Stadtpfeiferwesen, Instrumenten­ bau und Notendruck dargestellt hat, im wesentlichen nur die eine Seite des Nürnberger Musikwesens wieder, die institutioneile, die staatlich reglemen­ tierte, behördlich kontrollierte; die Seite der privaten bürgerlichen Musik­ pflege dagegen ist, abgesehen vom zunftgebundenen Meistergesang, der für die Entwicklung der musikalischen Kunst ohne Bedeutung ist, bisher wenig berücksichtigt worden *2). Sie ist archivalisch kaum erfaßt und läßt sich nur unter verhältnismäßigen Schwierigkeiten an Hand weniger privater Doku­ mente rekonstruieren 3). Welche Bedeutung aber in den Städten dem privaten Musizieren zu­ kommt, wird vor allem daraus ersichtlich, daß damals praktisch die Pflege der gesamten mehrstimmigen weltlichen Vokalmusik wie auch der instru­ mentalen Kammermusik, die in den Residenzen von bediensteten Hof­ kapellen, also ausschließlich von Berufsmusikern, ausgeübt wurde, weitgehend der privaten Initiative der Bürger überlassen war4). Die institutionellen Nürnberger Musikverhältnisse und manche Umstände während Lechners Nürnberger Aufenthalts lassen erkennen, daß eine rege private Musikpflege 4) Vgl. die Bemerkungen zur Biographie Hans Leo Häßlers und seiner Brüder sowie zur Musikgeschichte der Städte Nürnberg und Augsburg im 16. und zu Anfang des 17. Jahr­ hunderts. DTB V, S. XI ff. 2) Rudolf Wagner wies bereits darauf hin, daß der Anteil der musikliebenden Laien am Nürnberger Musikleben einmal systematischer beachtet werden müsse. Vgl. „Wilhelm Breitengraser“, Mf, II. Jg. 1949, S. 166. s) An auszugsweisen Veröffentlichungen diesbezüglicher Dokumente, sämtlich jüngeren Datums, sind u. a. zu nennen: für Nürnberg: Wilibald Nagel, Die Nürnberger Musik­ gesellschaft (1588—1629). MfM, 27. Jg. 1895, S. lff.; Max Seiffert, Vorwort zu: DTB (Nürnberger Meister der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts) VI. Jg., Bd I; für Torgau: Otto Taubert, Die Pflege der Musik in Torgau, Torgau 1868; für Mühlhausen: Philipp Spitta, Die musikalische Societät und das Convivium musicale zu Mühlhausen im XVII. Jahrhundert. MfM, II. Jg. 1870, S. 70 ff.; für Friedland: Max Seiffert, Die musi­ kalische Gilde in Friedland (1600— ca. 1675). SIMG I. Jg. 1899—1900, S. 142 ff.; für Prag: Ernst Rychnovsky, Ein deutsches Musikkollegium in Prag im Jahre 1616. ZIMG VI. Jg. 1904—1905, S. 20 ff. 4) Lechner schreibt z. B. in seinem Vorwort zum ersten Villanellen-Band von 1576, daß „ ... zu jeden unnd allen Zeiten / neben den geistlichen Texten / auch stets weltliche Componirt" und daß diese „in ehrlichen Versammlungen und Gastungen (also im bür­ gerlichen Laienkreise) geübet werden“.

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in einem bürgerlichen Gemeinwesen dieser Zeit geradezu eine wesentliche Voraussetzung für die Existenz und volle Entfaltung einer wirklich be­ deutenden Komponistenpersönlichkeit darstellt. Schon in Anbetracht von Leonhard Lechners überreichem kompositorischen Schaffen in Nürnberg — er hat dort, soweit es sich heute übersehen läßt, während seines kaum zehn­ jährigen Aufenthalts weit über die Hälfte seines Lebenswerkes vollendet, wovon wiederum das Liedschaffen den größeren Teil bestreitet — lohnt es den Versuch wohl, diesen Voraussetzungen einmal nachzugehen. Es geht dabei um eine Zeit, in der das Erwachen des Nationalstaats­ gedankens, seine Koinzidenz mit Luthers Reformation und als Folge der beginnende Zerfall des abendländischen Weltreiches innerhalb kurzer Zeit, seit etwa 1530, die Menschen in eine neue, krisenhafte Situation stellte, die auf die Dauer eine Introversion der führenden Kräfte bewirkte. Interessen und Energien der führenden Stände wurden mehr und mehr von geistiger Auseinandersetzung in Anspruch genommen. Von den Portraits der Dürer­ zeit blicken noch Männer, Ratsherren und Kaufleute herab, voll Unterneh­ mungsgeist und wagender Tatkraft nach außen gewandt. Einige Jahrzehnte später betrachten wir Männer derselben Geschlechter: Gelehrtengesichter, in sich gekehrt, bald in maskenhafter Pose, erstarrt in Distanz, Humanisten, Kenner und Liebhaber der Künste und Wissenschaften, Sammler seltener Dinge, bewußte Erben, Söhne und Enkel der Reformation — Bilder des sogenannten Manierismus des späteren 16. Jahrhunderts. Zwar verstand man sich auch jetzt noch gut auf das Regiment der Republik und hütete die bewährte Tradition der Ordnung, aber das politische Handeln der „Erbaren und Ehrvesten“ wurde doch immer zögernder und „fürsichtiger“ 5). Nicht mehr auf der vollen Höhe der Kunstblüte der ersten Jahrzehnte des Jahr­ hunderts blieb Nürnbergs Bedeutung als Mittelpunkt bürgerlicher Kultur. Hier, im Zentrum Deutschlands, aber noch im traditionsreicheren süd­ deutschen Kulturbereich gelegen, mit direkter ständiger Verbindung zu den Städten Oberitaliens und offen zum protestantischen Norden, liefen in den Händen der führenden Stände noch weit bis in das 17. Jahrhundert die Fäden des geistigen Lebens zusammen. Die angedeutete Entwicklung schließt bekanntlich auch auf musikalischem Gebiet eine tiefgreifende Wandlung ein, in deren Verlauf die Epoche der Cantus-firmus-Bearbeitungen ihren Abschluß fand, zunächst am deutlichsten erkennbar im Bereich des mehrstimmigen deutschen Liedes, jener Gattung also, die in der bürgerlichen Stadt einzig privater Pflege vertraut war6).* 8 Der Tod Ludwig Senfls (1542), eines ihrer letzten und vollkommensten Re­ präsentanten, leitete ihr Ende ein. Noch erschienen 15 56 in Nürnberg Georg 6) Typisch für die skrupulöse Haltung des Rats sind Nürnbergs politische Manöver wäh­ rend des Schmalkaldischen Krieges. Vgl. Emil Reicke, Geschichte der Reichsstadt Nürn­ berg. Nürnberg 1896, S. 882 ff. 8) Vgl. Hans Joachim Moser, Das deutsche Chorlied zwischen SenfI und Häßler. JbP 1928, S. 43 ff.; s. a. Elisabeth Dahmen, Die Wandlungen des weltlichen dtsdi. Liedstils im Zeitraum d. 16.Jhs. Diss. Königsberg 1935; ferner Kurt Huber, Ivo de Vento. Diss. München 1919, unveröffentlichter 2. Teil.

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Försters vierter und fünfter Teil „Teutscher Liedlein". Aber auch hier war die Zeit des Übergangs verhältnismäßig kurz und im wesentlichen nur eine Frage des Generationswechsels. Im Jahre 1561 starb als einer der letzten des bedeutenden älteren Humanistenkreises der um Reformation, Schul- und Musikwesen hochverdiente Kantor M. Sebald Heyden, zwei Jahre später sein Kollege M. Ambrosius Wilphlingseder 7). Nachdem 1568 auch Georg Förster verschieden war, zeichnet sich bereits der Grund für die neue Entwicklung in Nürnberg ab. Während sich an den musikalischen Institutionen der Schulund Kirchenmusik seit der Reformation prinzipiell wenig geändert hatte, nahm nach der großen Pest von 1562 8) seit dem Ende der 60er Jahre die private Musikpflege dank der Initiative beamteter Humanisten und gebildeter Patrizier wieder einen großen Aufschwung. Am 31. Oktober 1568 konstituierte sich im Hause des Patriziers Nicolaus Nützel eine „erbare musicalische Versammlung", ein bisher unbeachtet ge­ bliebenes Sodalicium musicum, eine Gesellschaft von Humanisten, gebildeten Kennern und Liebhabern, die sich die private Pflege und Förderung der musikalischen Kunst zum obersten Ziel setzte. Ihrem Vorbild und ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber allem Neuen dürfte es wesentlich mit zu ver­ danken sein, daß man in der bürgerlichen Reichsstadt Nürnberg trotz vieler Nachteile gegenüber den Residenzen noch einmal durch Leonhard Lechners kompositorische Leistung den Anschluß an höfische Musikkultur fand. Von dieser denkwürdigen konstituierenden Sitzung der musikalischen Kränzleinsgesellschaft ist ein handschriftliches Dokument erhalten, das unsere Vorstellungen von der bürgerlichen Musikpflege jener Zeit aufs schönste bestätigt und ergänzt und darum hier im Wortlaut mitgeteilt sei9). Das Manuskript trägt den Titel: (f. lr) „Der Musikalischen Krentzleinsgesellschafft Ordnung". Das Vorwort, in dem die Gesellschaft neben ihren Zielen auch ihre Auffassung von der Musik niedergelegt hat, spiegelt deutlich Luthers Ge­ danken „von der himmlischen Kunst Musica" wieder. (f. 2r:) Vorrede Der heylig Königlich Prophet Dauid hat nicht one sondere grosse erhebliche vrsachen den Kindern Israel die mensuralem oder vocalem vnnd Instrumentalem Musicam (wie aus seinen hinterlassnen Psalmis auch augenscheinlich zu sehen ist) so offt vnd vleissig beuolhen, dann er mit der Instrumentalischen Musica (als Im ersten buch Samuelis am 16. Cap. geschriben steht) dem Saul den vnruigen bösen gaist vertriben, So hat er mit der Vocalischen vilmals Inn angst vnnd triebnus 7) Vgl. Sandberger, a.a.O., S. XIV f. 8) Vgl. E. Reiche, a.a.O., S. 954. 9) Den Hinweis auf dieses Manuskript verdankt der Verfasser der freundlichen Mitteilung von Herrn Dr. Rudolf Wagner. Das Dokument wird in der Sächsischen Landesbibliothek unter der Signatur Msc. M 185 aufbewahrt. In der Literatur wird das Ms. erwähnt bei Max Seiffert, Die musikalische Gilde in Friedland. A.a.O. S. 142; ferner bei Johannes Rautenstrauch, Luther und die Pflege der kirchlichen Musik in Sachsen. Leipzig 1907, S. 127. Einige Absätze daraus wurden bereits 1937 von einem unbekannten Verfasser (Sign.: k.) im Fränkischen Kurier, 104. Jg., Nr. 174 vom 26. Juni, S. 6 veröffentlicht. Das Ms. ist durch Wasserschaden teilweise schwer lesbar geworden. Einige zweifelhafte Stellen werden in eckige Klammern gesetzt.

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sidi selbst getröstet, Gottes namen, macht vnd herrliche thaten gepreiset, Jme gedancket, auch andere Leuth durch sein Exempl Gott zu loben und ehren vermanen wollen. Wann nun diese hochlöbliche Kunst gleich keinen andern nutz (f. 2V:) mehr hett dann nur diesen, [wie heut noch ist], nemblich das einer mit rechtem gebrauch dadurch Gott dienen kan, so wer doch dise vbergnug, aber da findet sich aus viler fürtrefflicher hocherleuchter Personen erfarung, das dise hochlöbliche Kunst Musica mit Jrem lieblichen thon ein gäbe Gottes ist, auch die bösen begirden und naigungen des menschlichen gemüths dermassen Jm Zaum heit und regiert, das sy die traurigkeit Jnn Freud verwandelt, die klainmutigen tröstet den schmertzen vnd arbeit lindert, vertreibt sorg, nimbt Zorn neyd vnnd haß, gibt guttigkait, freud, scherpft die vernunfft, verhindert affterreden und dergleichen schedliche ding. So ist auch dise Kunst bey den alten Vätern unnd Propheten Jnn solchen grossen wirden und ehrn gewesen, das sy dieselbig dem waren Gottesdienst zugeordnet. So haben auch alle heyligen Jre Gottselige gedanckhen In Vers, Reymen (f. 3r:) und gesang gebracht. Diß sollen ja vrsachen gnug [sein, das wir] der schön und herrlich gäbe Gottes der hochlöblich Kunst Musica vor allen anderen Künsten, alsuil nur immer menschlich vnnd muglich ist, sollen teglich exercirn vnd erhalten helffen, fürnehmlich aber die Musicam mensuralem oder vocalem, so zugleich mit Jrem lieblichen Lauth das menschlich Leben ergetzt und mit einem Christlichem andechtigem Text der Seelen nicht undienstlich ist. Es erfordert aber solche Musica mensuralis oder Vocalis fürnemlich Gesellschafft, vnnd dann Gesell­ schafft gute Ordnung unnd Gesetz. Damit nun vilangeregte löbliche Kunst Musica durch dergleichen mittel nicht verpleib, Also haben hernach bemelte Personen Jnn betrachtung der gaben (so Jnen der (f. 3r:) allmechtig Gott Jnn diser Kunst neben andern auch genediglich verlihen vnnd mitgethailt hat) sich schuldig erkandt mittl vnd weg zusuchen vnd fürzunehmen, damit vilbemelte löbliche Kunst Musica (souil an Jnen gelegen) hinfuro, wie bishero gepflantzet vnnd erhalten werde, vnnd sich darauff einer freundtlichen ehrlichen gesellschafft vnnd Krentzleins verglichen, vff maß vnnd weg, wie vnderschidlich hernach volgt. (f. 4r:) Krentzleinsordnung Zum ersten soll hinfüro ein jeder Krentzleinsherr das Krentzlein an keinem andern tag, dann nur am Mitwuch anstimmen vnd halten. Zum Andern sollen die Krentzleins Personen an bestimptem Krentzleinstag bey dem Krentzleinsherrn umb mittag oder Zwölf Uhr der clainern10) erscheinen, Da aber einer oder mehr sich verweilen vnd aussen sein wurden, soll alsdann der Krentzleinsherr nach ausgang der stund, das ist umb ain Vhr der clainern ein halbe stundvhr umbkehrn, vnd die Jnnerhalb solcher Zeit kommen ein Dreyer, die aber nach außgeloffner Vhr erscheinen, ain Sechser zur straff geben. Zum Dritten sollen die Krentzleinspersonen so geschefft halben nicht zum Krentzlein erscheinen können Jr gebärende Krentzleinszech dem Krentzleinsherrn zuschicken und der Krentzleinsherr dieselben Jnn die Puchsen zustossen vnnd der Gesellschafft zum bessten neben anderm uffzuheben verpunden sein. Zum Vierdten sollen die Krentzleinspersonen für sich selbs nicht macht haben ain oder mehr Personen mit zum Krentzlein zufürn. Da aber der Krentzleinsherr ainem oder mehr solches gestatten vnnd er10) In Nürnberg verwendete man zwei Stundenzählungen. Die nah der kleineren Uhr ist auch die heute gebräuchliche. Nach der größeren Uhr wurden Tag und Nacht gesondert gezählt. Vgl. H. Grotefend, Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der neueren Zeit. Hannover 1891, 1, S. 185 f.

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(f. 5r:) lauben wurde, sollen sie alßdann für die mitgefürte personen die Krentzleinszech zugeben schuldig sein. Zum Fiinfften wo aber der Krentzleinsherr ain oder mehr personen zu seinem Krentzlein laden wollt, das soll Er gut fug vnd macht haben. Zum Sechsten soll auch ain Jeder Krentzleinsherr macht haben an seinem ge~ burenden Krentzleinstag solche geseng vffzulegen vnnd singen zulassen die Jme gefallen. Zum Sibenden sollen sich die Krentzleinsverwandten am tag des Krentzleins alles Spilens, dessgleichen auch vnnutzen (f. 5V:) geschwetzs, geschrais, getzäncks vnd schandparer wort, damit die Musica turbirt vnnd menschliche Zucht unnd Erbarer wandel verletzt wurdet gentzlich vnnd allerding enthalten. Wo aber einer oder mehr des vberfarn wurden, sollen dieselben vff erkantnus gestrafft werden. Zum Achten sollen die Krentzleinsherrn an Jren Krentzleinstagen den Krentzleinspersonen nichts anders dann nur Keß Brot vnnd Obs wie es die Zeit mit Jr bringt und Im mangel des Obs ainen Ayerkuchen, damit ein maß gehalten werden soll sampt zimlich gutem Wein vffsetzen. Da aber ainer oder mehr solchs vberfarn wurden, sollen dieselben Jnn die straff gefallen sein. (f. 6r:) Zum Neundten soll ein Jede Krentzleinsperson dem Krentzleinsherrn am bestimpten Krentzleinstag zur Zech geben ein maß Weines Nemlich Sechsvndzwantzig Pfenning. Zum Zehenden soll ein yeder Krentzleinsherr das Krentzlein ain halbe stund vor fünf Vhr der clainern bey straff Zwölff pfenning dem angehendem Krentzleinsherrn der Ordnung nach vffsetzen vnnd alsdann kein Person wider Jren guten willen lennger vffhalten. Zum Ailfften sollen alle Krentzleinsverwante nach fünf vhr der clainern vom Krentzleinsherrn vff betzalung der krentzleinszech bey straff Zwölff pfenning ab­ scheiden, es were dann sach, das der Krentzleinsherr (f. 6V:) ainen oder mehr mit gutem willen zu seinem nachtmal geladen hette. Zum Zwölfften soll ein yeder Krentzleinsherr seinen Krentzleinstag Innerhalb Yiertzehen tagen nachdem Ime das Krentzlein ist vffsetzt worden nicht anstinunen, Entgegen aber auch vber drey wochen, souer nicht feriae oder erhebliche vrsachen einfallen nicht vffschieben bey poen zwenvndsibentzig pfening. Zum Dreytzehenden. Wo aber ein Krentzleinsherr ettwo aus erheblichen Vr­ sachen sein Krentzlein vber viertzehen tag oder drey wochen nicht halten köntte, solle Er zu verhuettung auffgesetzter straff seinem (f. 7r:) nachgehendem Krentzleinsherrn das Krentzlein zuestellen welchers dann auch annemen vnnd zuhälten schuldig sein soll. Zum Viertzehenden sollen alle halbe Jar, zu dem bestettigten Krentzleinsherrn sonst noch drey Krentzleinspersonen von gemainer Krentzleinsgesellschaft erwelt werden, die ob diser Ordnung halten, die Verbrecher straffen vnnd von Jnen Jedesmals einnemen. Wo denn ainer oder mehr aus den erwelten Richtern nicht bey dem Krentzlein erscheinen, oder gescheffts halb sein könntten, oder für Jre Person selber straffbar erfunnden wurden, soll alsdann ein anderer Richter an desselben statt erkieset werden und also Jmmerzue ain (f. 7V:) Krentzleinsherr dem andern die straffwirdigen Personen sampt antzal der straff zueschicken. Zum Fünfzehenden wann dann nach dem willen Gottes unter den Krentzleins­ personen ainer mit todt abgehet oder sich sonst von der geselschafft absundert, Sollen alsdann die Krentzleinspersonen zu ergentzung der Musicalischen Gesell190

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schafft personen (deren vber 13 nit sein sollen) etlich Personen fursdilagen vnnd alsdann die drey eltisten Jm Krentzlein macht haben, aus den furgeschlagnen Per­ sonen ainen oder mehr zuerwelen u) vnnd aufzunemen. Zum Sechszehenden sollen (f. 8r:) hinfuro alle diejenigen, so vff erkantnus der Musicalischen Gesellschafft Jnn diß Krentzlein kommen Jnn gemainer gesellschafft Puchsen ain goldgulden zu geben schuldig sein. Zum Sibentzehenden vnd letzten sollen der Krentzleinsherr vnd die drey Rich­ ter das straff vnnd erlegt gellt der gemainen gesellschafft vleissig vffheben vnnd dauon je bißweilen mit vorwissen vnnd rath der gesellschaft gute gesang oder aber Musicalische Instrumenta kauffen. (f. 8V:) Jedoch behelt Jnen gemaine gesellschafft hiemit austrucklich bevor Dise Gesetz vnnd Ordnung Jedesmals nach Jrem geuallen zu mindern, zu mehr[en] oder gar abzuthun und aine vonn newem zumachen. Adi den 22. Octobris des 1568 Jars, sein diese Leges in Herrn Niclas Nützels behausung verlesen vnnd confirmirt worden.

Endlich stehen auf f. 9r u. 9V unter den laufenden Nummern 1 bis 22 die eigenhändigen Unterschriften aller Personen, die sich im Laufe* der Jahre auf diese, für die Nürnberger Regelfreudigkeit so typische Ordnung ver­ pflichteten. Es sind dies zunächst die 13 Gründungsmitglieder (vgl. § 15 der Ordnung)12): 1. A4. Andreas Bohemus oder Behem13), ein gelehrter Schulmann, beliebter Poet und Altsprachler. Er studierte bei Melanchthon in Wittenberg. 1568 wurde er Lehrer an der Egidien-Schule und Inspektor der 12 Choralknaben. Vom Jahre 1571 an stand Bohemus 40 Jahre lang, bis zu seinem Tode 1611, als Rektor der Schule zu St. Lorenz vor, war also während Lechners Nürnberger Aufent­ halts dessen unmittelbarer Vorgesetzter. 2. A4. Johann Molitor oder Müllner 14), Schwager des Bohemus, ein als Philippist bekannter Geistlicher. In Nürnberg 1528 geboren, studierte er in Wittenberg ebenfalls bei Melanchthon, promovierte 1551 zum Magister und war dann zu­ nächst bis 1567 als Pfarrer in Nürnberger Landgemeinden tätig. Er wurde dann Diakon an St. Lorenz und siedelte endlich 1575 an die Sebalder Kirche über, wo er bis zu seinem Tode 1605 blieb. 3. A4. Martin Faber15); neben seinem Namen trägt die Hs. den Vermerk: Pie in Christo decessit die 27. Sept. 1574. 4. Hieronymus Rorscheid 16), ein Nürnberger Notar. An den linken Rand der Hs. ist, kaum noch leserlich, das folgende ihn betreffende Distichon geschrieben: Deficiente simul sensu tactuque sepulto Morte repentina concidit exanimis. n) Schreibfehler im Ms.: etwelen. 12) Neben einzelnen Namen finden sich stark verblaßte, großenteils unleserlich gewordene Randnotizen von verschiedener Hand, meist nur Todes- oder Austrittsdaten, die, soweit sie zu entziffern waren, in den biographischen Bemerkungen berücksichtigt werden. 18> Vgl. G. A. Will, Nürnberger Gelehrtenlexikon. Nürnberg 1755—1808, Th. I, S. 90. Sandberger (a.a.O., S. XXXVI) bringt ihn verschiedentlich mit der Nürnberger Familie Behaim in Verbindung. 14) Vgl. Will, a.a.O., Th. II, S. 675; A. Würfel, Diptycha eccl. Sebaldinae. Nürnberg 1756, S. 48. ls) Über einen Magister Faber war trotz mehrfacher Nachfragen in den Archiven nichts zu erfahren. 16) Vgl. Will, a.a.O. Th. VI, S. 298; s. unten S. 27 f.

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5. Paulus Dulner17), ein bedeutender Nürnberger Goldschmied und Dichter, seit 1584 Genannter des gröberen und ein Jahr später Handwerker des kleineren Rates. Er starb 1596. 6. Wolfgang Preysecker18), Bürgerschreiber. Sein Name ist in der Hs. mit dem Dulners durch eine Klammer verbunden; daneben Endet sich ein unleserlicher Vermerk. 7. Sebaldus Münstererlö), ein Nürnberger Kaufmann und Mitglied des größeren Rates, dem bedeutende Gelehrtheit nachgerühmt wird. (Vgl. unter Nr. 9.) 8. Niclas Nützel2Ü), ein musikliebender Nürnberger Patrizier, der in seinem Haus auch 1574 den Stadtpfeifern zu besserem Üben ein Probelokal zur Verlügung stellte. Seit 1566 zählte er zu den Genannten des größeren Rates, war dann Rathausvogt, bis er 1585 an der Pest starb. (Vgl. Nr. 9.) 9. Johannes Hayden 21), zweiter Sohn des berühmten Sebald Heyden, Organist an der Sebalder Kirche, wurde 1582 Genannter des größeren Rats. Er starb 1613. Die Namen Johannes Haydens wie auch die Niclas Nützels und Sebald Münsterers sind in der Hs. durch eine Klammer verbunden, neben der vermerkt ist: „Deseruere coronam“. Das Datum des Austritts ist leider völlig unleserlich. 10. M. Johannes Ernestus 22), vermutlich ein Schulmann. 11. Al. Michael Rauenpusch 23), ein Geistlicher und neulat. Dichter. Er studierte um 1555 in Wittenberg. Laurenz Dürnhofer war sein guter Freund und Lehrer (vgl. Nr. 12). Durch dessen Vermittlung wurde er 1568 als Kaplan an die St.-Egidien-Kirche in Nürnberg berufen. 1575 wurde er an J. Molitors Statt Diacon zu St. Lorenz und ist dort 1585 an der Pest gestorben. Hinter seinem Namen trägt die Hs. den Vermerk: obiit peste die 9. Octobr. A° 85. 12. M. Laurentius Dürnhofer2*), seit 1567 vorderster Geistlicher an der St.-Egi­ dien-Kirche, Stiefsohn des bekannten Nürnberger Verlegers Joh. Petrejus. Er studierte in Wittenberg bei Melanchthon und Paul Eber, deren beider Vertrau­ ter er war. In Nürnberg wurde er in den Konfessionsstreitigkeiten das Haupt der philippistisch gesinnten Geistlichen. Er starb 1594. 13. A4. Mauricius Heling25); Will nennt ihn einen „großverdienten und berüchtig­ ten Theologen“. 1522 in Elbing geboren, studierte er seit 1542 zunächst in Frankfurt/Oder, dann in Wittenberg bei Luther und vor allem bei Melanch­ thon, dessen Vertrauter er wurde. 1555 kam er mit Melanchthon wegen des Osiandrischen Streits nach Nürnberg und wurde an Stelle des abgesetzten Pre­ digers Culmann als vorderster Geistlicher an St. Sebald eingesetzt. Am 2. März 1575 sahen sich jedoch die Stadtväter veranlaßt, ihn als Philippisten und ver­ kappten Calvinisten mit allen Ehren (Titel und Gehalt) vorzeitig in den Ruhe­ stand zu versetzen. Er starb 1595. 17) Vgl. vom Verfasser, Der Nürnberger P. D. als Dichter geistlicher u. weltlicher Lieder L. Lechners. AfMw, 11. Jg. 1954, S. 315 ff. 18) Vgl. J. M. Trechsel, Verneuertes Gedächtnis des Nürnbergischen Johannis-Kircb-Hofs . . . Frankfurt u. Leipzig 1735, S. 565. 19) Vgl. J. F. Roth, Verzeichnis aller Genannten des größeren Rats. Nürnberg 1802, S. 8 3. 20) Vgl. Roth, a.a.O. S. 88; s. a. Sandberger, a.a.O. S. XXVIII f. 21) Vgl. Will, a.a.O. Th. II, S. 49, u. Th. VI, S. 36; s. a. J. G. Doppelmayr, Historische Nachrichten von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern. Nürnberg 1730, S. 212. 22) In der Literatur und den Archiven war nichts über ihn zu erfahren. 23) Vgl. Will, a.a.O. Th. III, S. 267 f.; s. a. Karl Schornbaum, Nürnberg im Geistesleben des 16. Jhs. Mitt. d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Nbg., 40. Bd. 1949, S. 28. 24) Vgl. Will, a.a.O. Th. I, S. 301 ff.; K. Schombaum, Die Chronik der Familie Dürnhofer. Mitt. d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Nürnberg, 42. Bd. 1951, S. 171 ff. 2Ö) Vgl. Will, a.a.O. Th. II, S. 80 ff., und Th. VI, S. 55 f.

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An die Stelle der im Laufe der Jahre durch Tod oder Weggang ausgeschiedenen M. Faber, S. Münsterer, N. Nützel, J. Hayden und M. Rauenpusch traten als neue Mitglieder: 14. D. Georg Palm 26), ein in Wittenberg und Ingolstadt studierter Mediziner, der seit 1568 als ordentlich zugelassener Arzt in Nürnberg praktizierte. Er wurde 1570 Genannter des größeren Rats und starb am 20. April 1590. 15. M. Johann Picart27), der erste Professor für Theologie am 1575 gegründeten Altdorfer Gymnasium. Er studierte seit 15 59 als Stipendiat eines Nürnberger Patriziers in Wittenberg, wo er auch noch Melanchthon hörte, den er zeit sei­ nes Lebens hoch verehrte. 1565 zum Magister promoviert, bekam er zunächst Schuldienste zu Neumarkt, wurde dann Lehrer an der Sebalder Schule und 1574 Diacon an St. Sebald. Obwohl er im Religionsstreit nicht offen hervortrat, war er doch Philippist und heimlicher Calvinist. 1584 starb er als Katechetik-Pro­ fessor der Altdorfer Akademie. 16. Volcker Coiter28) war Niederländer, in Groningen 1534 geboren. Er studierte in Montpellier und auf mehreren ital. Universitäten, wurde Dozent in Bologna und übte dort eine erfolgreiche Lehrtätigkeit als Anatom aus. Nach sieben­ jähriger Tätigkeit wurde er hier auf Grund von Verleumdungen durch ein In­ quisitionsgericht eingekerkert. Er war reformierten Glaubens. Nach der Haft­ entlassung wurde er 1567 Leibarzt des Herzogs Ludwig von Bayern in Amberg, übte dort auch am neugegründeten Pädagogium wieder seine Lehrtätigkeit aus. Durch Vermittlung seines Freundes Joachim Camerarius wurde er dann als Stadtarzt nach Nürnberg berufen. In der Hoffnung, als Feldarzt reichere Gele­ genheit für anatomische Untersuchungen zu finden, entschloß er sich 1576, als Feldmedicus in den Krieg zu ziehen. Noch im gleichen Jahre erlag er in einem Feldlager in der Champagne einer mörderischen Seuche. In der Hs. steht zu seinem Namen kaum leserlich vermerkt: Hic polemiatros (griech. Lettern) Casimiri, Principis Palatini in expeditione Gallica tabe consumptus obiit in campania apud comitem de Bryen, castris positis ad castellum Dieu Ville, redeunte jam exercitu in Germaniam, paceque in Galiis confecta ac publicata: Anno salutis partae 1576, Die 2. junii & c(eter)a. Es folgt das Distichon: Volcher(us) Coiter Morte est abreptus acerba Justene [ornabit] nostra corona rogum. 17. AL Wolfgangius Hecius29), ein Schulmann. Er wurde am 20.11. 1585 als Nach­ folger des Paul Prätorius Rektor der Sebalder-Schule. In der Hs. mit Nr. 15 durch Klammer verbunden. Daneben unleserlicher Ver­ merk. Eine weitere Notiz zu Hecius darunter: ... ad sodalicium, cum Altorphio in urbem remigrasset. 18. D. Johann Richthauser20), seit 1576 Genannter des größeren Rats. Er diente 26) 26) 27) 28) 29) so) 13

Vgl. Will, a.a.O. Th. II, S. 112, und Th. VII, S. 92. S. a. K. König, Diss. med. Würz­ burg 1954. Vgl. Will, a.a.O. Th. II, S. 112, und Th. VII, S. 92.Dr.-Arbeit Klaus König. Vgl. Will, a.a.O. Th. III, S. 167 ff.; Will, Geschichte und Beschreibung der Nürnbergischen Universität Altdorf. Altdorf 1795, S. 8. Siegfr. Sdieurl. Vgl. R. Herrlinger, Volcher Coiter (1534—1576). Nbg. 1952. Bd. 1 der Beitr. z. Gesch. der medizinischen und naturwissenschaftlichen Abbildung. Vgl. Sandberger, a.a.O. S. XXXVI. Vgl. Will, a.a.O. Th. III, S. 317; s. a. Trechsel, a.a.O. S. 951; ferner Roth, a.a.O. S. 93.

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der Stadt Nürnberg von 1574 bis 1585 als ordentlidi bestellter Arzt und starb am 13. Okt. 1585 an der Pest. Neben dem Namen in der Hs. ein Vermerk, wahrscheinlich das Datum des Todes. 19. D. Marquard Fror31), ein Rechtsanwalt aus bekannter Augsburger Patrizier­ familie. Er wurde 1542 geboren, ging in Tübingen zur Schule, studierte dann zunächst in Genf und reiste weiter nach Italien, wo er in Bologna studierte und 1563 promovierte. Seit 1575 war er in Nürnberg als Ratskonsulent tätig, wurde dann 1585 Kanzler des calvinistischen Pfalzgrafen Joh. Kasimir und 1589 von diesem geadelt. 1592 kehrte er nach Nürnberg in sein früheres Amt zurück, wo er bis zu seinem Tode 1601 verblieb.

Neben dem Vornamen stehen in der Hs. zwei nicht zu entziffernde Zeilen. Da von den neu hinzugetretenen Mitgliedern J. Picart und V. Coiter noch vor 1585 starben, ergänzte sich die Gesellschaft nochmals durch die Wahl dreier Herren: 20. A4. Johannes Klingenbeck32), gebürtiger Nürnberger, wurde 1580 Diakon bei St. Egidien, 1585 Mittagsprediger bei St. Jakob und 1592 Diakon an der Sebalder Kirche. Als heimlicher Calvinist dankte er 1598 ab und erhielt die Stadtprediger-Stelle zu Amberg, wo er vermutlich gestorben ist. 21. M. Wolfgangus Waldung 33) (1554—1621), ein hochverdienter Professor an der Altdorfer Akademie. Er hatte in Wittenberg und Jena Philosophie, Physik und Medizin studiert, kam 1582 nach Nürnberg als Lehrer an die Spitaler Schule und wechselte 158 5 an die Sebalder Schule über. 1592 wurde er Präzeptor in Altdorf. Waldung schrieb zahlreiche lateinische Gedichte und Schauspiele. 22. D. Andreas Linck34), Nürnberger Rechtsanwalt und Genannter des größeren Rates, verzog 1587 nach Neumarkt, kehrte später wieder nach Nürnberg zu­ rück, wo er 163 5 in Armut starb. Von 1585, dem Jahr der großen Pest in Nürnberg, stammen die letzten

Eintragungen im Manuskript, so daß man wohl annehmen muß, die Gesell­ schaft habe das große Sterben nicht übedauert35). Dieses Sodalicium war ohne Frage nicht die erste Musikgesellschaft dieser Art in Nürnberg. Allein schon die genaue Kodifizierung der Satzungen läßt auf reiche Erfahrung in musikalischer Geselligkeit schließen. In den glanz­ vollen Zeiten als nach der Reformation im Jahre 1526 unter dem Beirat Melanchthons das Gymnasium bei St. Aegidien gegründet worden war36), hatte sich bald um den „Dichterkönig“ M. Helius Eoban Hesse ein humani­ stischer Freundeskreis versammelt, der sich ebenfalls „Sodalitium“ nannte. Nach den Erzählungen des Joachim Camerarius (sen.)37) gehörten dieser Gesellschaft damals an: der berühmte Willibald Pirckheimer, die Patrizier Hector Pömer, Hieronymus Ebner und Hier. Paumgartner (sen.), von den 81) Vgl. Will, a.a.O. Th. IV. S. 208; s. a. Anzeiger für Kunde der dtsch. Vorzeit, 1 862, IX, S. 150 (Einzelnotiz), und Schombaum, a.a.O. 1949, S. 28 u. 29. 32) Vgl. Will, a.a.O. Th. VI, S. 222. 83) Vgl. Will, a.a.O. Th. IV, S. 164 ff., u. Th. VIII, S. 380. 84) Vgl. Will, a.a.O. Th. II, S. 453 f.; s. a. Roth, a.a.O. S. 98. 35) Vgl. unten S. 224. S6) Vgl. H. W. Heerwagen, Zur Geschichte der Nürnberger Gelehrtenschulen. Gymn.-Progr. Nürnberg 1863. 87) Vgl. Joachim Camerarius, Narratio de Eobano Hesso, comprehendens mentionem de compluribus illius aetatis doctis et eruditiis. Norimbergae 1553 (unpaginiert); s. a. R. Wagner, Wilhelm Breitengraser. Mf, II. Jg. 1949, S. 173.

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Schulmännern Eoban Hesse, Joachim Camerarius, Lazarus Spengler, Sebald Heyden, Johann Ketzmann, Joh. Mylius, Thomas Venatorius, ferner Wentzel Linde, Albrecht Dürer und der Musiker Wilhelm Breitengraser. Wenn in diesem Kreise auch vielleicht die humanistische Dichtkunst den Vorrang vor der Musik hatte und dies Sodalicium auch wohl den baldigen Zerfall des Gymnasiums, der den Fortgang der meisten bedeutenden Lehrer nach sich zog, nicht lange überdauerte, so spricht doch manches dafür, daß sich unser Sodalicium musicum von 1568 als direkte Nachfolgegesellschaft jener früheren betrachtete. So ist es nicht nur die traditionellerweise aus symboli­ schen oder auch nur aus praktischen Gründen begrenzte Zahl der Mitglieder (vgl. § 15 der Kränzleinsordnung), die etwa mit der des früheren Sodaliciums übereinstimmt und offensichtlich auch für alle späteren Musikgesellschaften verbindlich war: noch lebte von den Freunden des Eoban Hesse der in Leipzig lehrende Joachim Camerarius, mit dem man brieflich in Verbindung stand38); auch blieb die Kontinuität über Johannes Heyden und Andreas Linck als Nachkommen von Mitgliedern der alten Gesellschaft gewahrt; endlich und nicht zuletzt hielt man die Tradition in der Verehrung des fast allen gemeinsamen Präzeptors Melanchthon aufrecht, wovon noch unten die Rede sein wird. In diesem Zusammenhang ist auch eine Episode aus der „GoldschmiedeChronik“ des Breslauers Wolfgang Vincentz von großem Interesse39). Vincentz berichtet dort von seiner Nürnberger Gesellenzeit aus dem Jahre 1552: es habe dort ein Malergeselle mit Namen Michael Baier nach dem Vorbild einer Baseler Hüttenbruderschaft zu Nürnberg die Bruderschaft Constantia St. Johannis gegründet, eine GesellenVereinigung mit strengen Satzungen und hohen Ansprüchen an ihre Mitglieder, die sich vor allem aus Gold­ schmieden, Stechern, Bildgießern, Schreibern, Studenten, Buchführern und Druckern rekrutierte. Mit Singen und Lautenspiel habe sich die Bruderschaft zwei Mal wöchentlich im Weinhaus versammelt, wo bei Strafe ein geringes Maß im Trinken nicht überschritten werden durfte. Musiziert worden sei auch bei sonntäglichen Wanderungen in die Umgebung Nürnbergs. Bei den Ratsherren, die zunächst mißtrauisch hinter dem geselligen Treiben „eine verdeckte aufrührerische Gesinnung“ argwöhnten, habe sich die Bruderschaft bald durch wohlgelungene musikalische Ständchen ins beste Licht zu setzen gewußt. Als Repertoire führt Vincentz „deutsche, fränkische und etliche welsche Liedlein, Liebesliedlein,hurtige Wanderliedel und schöne geistliche Gesänge zur Laute“ an. Wie lange diese Bruderschaft Bestand gehabt hat, ist ungewiß. Nach allem, was man aus dem Bericht des Wolfgang Vincentz 38) Joachim Camerarius, der Letzte aus dem Freundeskreis der Reformatoren, ein Freund und Verehrer Melanchthons, war auch der eigentliche Initiator und Berater bei der Gründung der Altdorfer Akademie. Vgl. Will, Gesch. d. Univ. Altdorf. A.a.O. S. 7 f. 39) Vgl. Wolfgang Vincentz, Die Goldschmiede-Chronik der ehrbaren Goldschmiede-Ältesten Martin und Wolfgang, auch Mag. Peter Vincentz. — Herausgegeben von Curt Rudolf Vincentz. Hannover o. J. (1918). S. a. einen Auszug daraus von Wolfram Fischer in: Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks. Göttingen 1957, S. 44 ff. = Quellen­ sammlung zur Kulturgeschichte Bd. 13. Für den Hinweis auf die Chronik ist der Verf. Herrn Direktor Dr. Pfeiffer vom Nürnberger Stadtarchiv zu Dank verpflichtet. 13*

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entnehmen kann, ist diese für die gesellige Musikpflege der Zeit so typische exklusive ständische Organisation von Handwerksgesellen durchaus mit den musikalischen Kränzchen der seßhaften Bürger und Patrizier in Parallele zu setzen; ja, man könnte sogar vermuten, daß über die Person des Gold­ schmieds Paul Dulner, der 1553 in Nürnberg seßhaft wurde und im Jahr darauf als Meister das Bürgerrecht verliehen bekam, eine direkte Verbindung von der Bruderschaft zur Kränzleinsgesellschaft von 1568 gegeben war40). Aus der Zeit vor 1568 finden sich, was die musikliebende Nürnberger Laienwelt angeht, zwar sonst noch manche Notizen; es handelt sich dabei aber immer nur um Hervorhebungen von musikalischen Fähigkeiten einzelner Personen4i). Nur ein einziger Hinweis, der sich möglicherweise auf das Bestehen einer anderen früheren Musikgesellschaft bezieht, ist in den Haus­ haltsbüchern Paul Behaims I. enthalten42). Vom 9. Februar 1562 ist dort vermerkt: Adi 9. februarii hab ich das krenzleinsmal gehabt, so gewest is, hab ich der Christof Hallerin, meiner Schwester, halten, hab ich für visch und anders zalt, so zu eim tisch 7 S 26 d. Dem Hans, statpfeifer (möglicherweise ist Johann zum klaficordia verert 2 ® 3 d.

dise fasnacht an mir aufgesetzt, dis jar zu vol gehört hat, 3 fi. Hübschmann gemeint)

Nun kann es theoretisch zwar Kränzleinsgesellschaften mit den verschie­ densten Zielsetzungen geben, auch war es bei Gastereien vornehmer Bürger durchaus üblich, daß man Stadtpfeifer oder einen Organisten zur musikali­ schen Aufwartung heranzog43). Aber selbst wenn es sich, wie man der Ein­ tragung auch entnehmen könnte, nur um ein alljährlich im Hause eines andern Freundes oder Verwandten gefeiertes Fastnachtfest gehandelt hat, kann man annehmen, daß der jeweilige Hausherr und die Gäste auch aktiv an der Musik teilnahmen. Gründliche musikalische Bildung und auch die Fähigkeit, ein Instrument zu spielen, gehörten in der vornehmen Nürnberger Gesellschaft des 16. Jhs. zum guten Ton. In der Schule schon wurden die jungen Leute im Choralund Figuralgesang, wie auch in den theoretischen Grundlagen der Musik unterwiesen. Daß sich daneben die Nürnberger Patrizier auch die private Musikausbildung ihrer Kinder angelegen sein und etwas kosten ließen, zeigen wieder am besten Paul Behaims Haushaltsbücher: 1567 fol. 22a. 18. März zalt für 3 gesangpüchlein für mein Paulus (geb. 8. Okt. 1557) 6 & 9 d.

40> Zu P. Dulner vgl. o. S. 192 und u. S. 218. 41) R. Wagner führt in seinem Aufsatz über Breitengraser zahlreiches Material an. Vgl. MF 1949, S. 166 ff. 42) Veröffentlicht in: Mitt. d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Nbg. Heft 7, 1888. S. a. Sandberger, a.a.O. S. XVII. 43) Als Beleg nur ein weiteres Beispiel aus P. Behaims Haushaltsbüchern vom Jahre 1567: Fol. 17a. Adi 20. februari hab ich dem Paulus Lautensack verert und zum neuen jar geben umb er mir zu etlich gastungen aufm instrument geschlagen hat, 1 fl. 1 'S 6 d.

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Adi 9. november hab ich mein Paulus zum Organist lassen gen, sol in auf dem klafficordia lernen schlagen und sol ich im alle 4 wodien 1 fl. zu lernen bezalen, dem Paulus Lautensack, hab ich im auf die hant zalt 1 fl. 1568 fol. 22b. Verert dem Lautensack, er sein clafficordia dem Paulus gelihen 4 ® 24 d. Adi 12. jenner zalt dem Bonefazius Nottle für ein clafficordia, darauf mein Paulus lernen sol, cost 2 fl. fol. 16a. Adi den 19. mei zalt ich dem Grienewold, den Ofel (Christoph Behaim, geb. 1562) auf der lauten zu lernen und für seiten, dud 1 fl. 3 S 10 d. Diese Ausgaben für den Musikunterricht der Söhne (es scheint damals, nach den Beträgen zu schließen, einigermaßen feste Sätze für privaten Unter­ richt gegeben zu haben) waren keineswegs umsonst gewesen, denn 20 Jahre später spielte der junge Paul Behaim als Mitbegründer der Nürnberger Musikgesellschaft von 1588 noch eine wichtige Rolle im privaten Musik­ leben 44). War das musikalische Kränzlein von 1568 schon nicht das erste, so blieb es auch nicht das letzte und einzige zu seiner Zeit. Seine Gründung wurde schnell andern Muskliebhabern zum Vorbild. Vier Jahre später (1572) wid­ mete Leonhard Lechners ehemaliger Lehrer Ivo de Vento von München aus einer anderen musikalischen Gesellschaft in Nürnberg seine vierstimmige Sammlung: „Schöne außerlesene newe Teutsche Lieder. ..“ und schrieb dabei im Vorwort zur Begründung seiner Dedikation: „. . . Darzu mich allein ursachet / ewer weitberümbt Sodalicium Musicum, welches mir / ewer aller grossen lust und begirde zu erkennen gibt / der hoch angelegte fleiß / daß jhr nemlich die rechten Fontes und Originalia die fürtrefflichsten und besten / inn der löblichen und aller eltisten kunst und freudenmacherin der Music, widerumb mit großem Unkosten an den tag last kommen . . .“. Die Widmung dieser Sammlung ist nicht an den Rat der Stadt in corpore gerichtet, wie Osthoff und Sandberger annehmen 45), sondern nur an die Mitglieder einer musikalischen Ratsgesellschaft. Ivo de Vento spricht in seinem Wort nicht nur von „ewer weitberümbt Sodalicium Musicum“, sonderi bittet auch die „Music verwonten“ Herren, aus deren Titelnennung hervorgeht, daß es sich sowohl um Angehörige des kleineren als auch des größeren Rats handelt, daß er in ihrem „Contubemio auch für einen Alumnum erkent unnd ein­ geleibt werde“. Darüber hätte der Rat in corpore natürlich gar nicht ent­ scheiden können. Endlich stellt Ivo de Vento den Herren die Widmung weiterer Kompositionen in Aussicht, indem er schreibt, es „. . . sol nach­ mals / was unser Pythagoras weitergibt / der löblichen gesellschaft ferner auch Communicirt und mitgetheilt werden / . . .“ Aus den angeführten Titeln („Ehrwürdige, Edle, hoch und wolgelerte Ehmveste, Fürsichtige, Ersame unnd Achtbare“) ergibt sich auch, daß das Kränzchen von 1568 nicht gemeint sein kann, gehörten ihm doch damals nur zwei Ratsverwandte, und zwar nur Mitglieder des weniger bedeutenden größeren Rats, des Genanntenkollegiums, 44) Vgl. unten S. 224. 45) Vgl. H. Osthoff, Die Niederländer und das deutsche Lied. Berlin 1938, S. 251 f. u. S. 265 f.; desgl. Sandberger, a.a.O. S. XXVI f.

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an und diese, N. Nützel und S. Münsterer, hatten zu diesem Zeitpunkt die Corona vermutlich schon verlassen 46). Jeder Zweifel wird endlich dadurch behoben, daß Ivo de Vento sein Versprechen wahr machte und derselben vornehmen Ratsgesellschaft 1575 sein letztes Werk, seine VielsprachenSammlung, dedizierte, diesmal mit namentlicher Aufführung aller Widmungs­ adressaten47)- Die von Ivo de Vento genannten Herren sind wiederum mit sehr wenigen Ausnahmen dieselben, denen Lechner 1579 seine fünf stimmigen Regnart-Bearbeitungen widmete; zu ihnen gehören beide Male auch Niclas Nützel und Sebald Münsterer. Es kann somit gar kein Zweifel bestehen, daß sich bald nach der Grün­ dung des auf 13 Personen beschränkten musikalischen Kränzleins von 1568 eine zweite musikalische Gesellschaft zusammenfand, deren Mitglieder fast ausschließlich dem Rat der Stadt angehörten, und daß dieses Sodalicium, dem Vento seine Sammlungen von 1572 und 1575 widmete, identisch mit der „Erbarn Musicalischen Versammlung“ ist, der Lechner 1579 die RegnartBearbeitungen dedizierte. Um diesem neugegründeten Ratskränzchen beizu­ treten, gaben auch Sebald Münsterer und der Patrizier Niclas Nützel ihre Mitgliedschaft bei der ersten Gesellschaft auf, vielleicht aus religiösen Grün­ den (s. unten S. 201 f.), sicher aber auch, weil sie sich mehr ihren Standesund Amtsgenossen verbunden fühlten. Der zweiten Nürnberger Musikgesell­ schaft gehörten, soweit es sich aus Ivo de Ventos und Lechners Widmungen ergibt, als ständige Mitglieder an48): 1. D. Abraham Lescker49), ein Rechtsgelehrter, 1520 in Zwickau geboren, diente zuerst als kaiserlicher Kammergerichtsassessor in Speyer. 1568 kam er als Rats­ konsulent nach Nürnberg, wo er 1575 starb. 2.Hieronymus Baumgartner (jun.)50), Sohn des berühmten Patriziers H. Paumgartner (vgl. oben S. 194). Er lebte von 1539 bis 1602 und war einer der Grün­ der der Altdorfer Hochschule und ihr Kurator. Auch sonst erwarb er sich große Verdienste um das Schul- und Kirchenwesen der Stadt. Von den zahlreichen Ämtern, die er im Laufe seines Lebens bekleidete, waren die eines vordersten Losungers und Reichsschultheißen die vornehmsten. 3. Philipp Geuder51), ein Nürnberger Patrizier. Er studierte mit seinem jüngeren Bruder Anton zusammen von 1552 bis 1556 in Padua und Bologna, ein weite46) Vgl. oben S. 192, Nr. 7, 8 u. 9, 47) Vgl. Ivo de Vento, Quinque motetae, duo madrigalia, Gallicae cantiones duae, et quatuor Germanicae . . . München 1575 (6). Die einzelnen Werke sind den verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft gewidmet: Nr. 2 (lat.) A. Lescher, Nr. 3 (lat.) B. Pöhmer, Nr. 4 (lat.) H. Paumgartner, Nr. 5 (franz.) Ph. Geuder, Nt. 6 (ital.) J. Nützel, Nr. 7 (franz.) H. Pfintzing, Nr. 8 (franz.) A. Geuder, Nr. 9 (dtsch.) N. Schleicher, Nr. 10 (dtsch.) J. Lochner, Nr. 11 (lat.) S. Münsterer, Nr. 12 (dtsch.) J. Newdorffer. Die Text­ wahl scheint dafür zu sprechen, daß Vento die Herren persönlich kannte. Diese Ver­ mutung legt auch schon sein Vorwort zu den Liedern von 1572 nahe. 48) Die vier Mitglieder, die Lechner 1579 in der Widmung nicht mehr erwähnt, die seit 1575 durch Tod, Krankheit oder aus anderen Gründen aus der Gesellschaft ausschieden und durch die Wahl anderer Ratsmitglieder ersetzt wurden, stellen wir an den Anfang der Liste. 49) Vgl. will, a.a.O. Th. II, S. 509. 61) Vgl. Will, a.a.O. Th. I, S. 534; J. G. Biedermann, Nbger. Patriziat. Nbg. 1748. Tab. 51.

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res Jahr in Frankreich zu Bourges die Rechte und übernahm dann bis zu seinem Tod 1581 in Nürnberg hohe Ämter. Von ihm soll Landgraf Wilhelm von Hessen gesagt haben: „Wenn Nürnberg mehr Philipp Geudere hätte, so würde es der Republik Venedig nichts nachgeben." 4. Niclas Schleicher52), Mitglied des größeren Rats. 5. Bartholomeus Power53), geb. 1533, Glied jenes Geschlechts, dem der dem alten Sodalicium um Eoban Hesse verbundene Hector Pömer angehörte. Er wurde nach der Auflösung des Nürnberger Gymnasiums nach Leipzig zu Joachim Camerarius (vgl. S. 13) geschickt, studierte dann in Wittenberg bei Melanchthon und in Ingolstadt. Nach kurzem Aufenthalt in Nürnberg setzte er sein Studium in Frankreich in Poitiers und Bourges fort, bis er 1558 durch den Tod seines Vaters nach Nürnberg zurückgerufen wurde. 1563 kam er in den kleineren Rat und versah bis zu seinem Tode 1590 zahlreiche wichtige Ämter. 6. Joachim Pömer54), geb. 1539, ein Vetter des Vorigen. Er kam 1567 in den kleineren Rat, wurde Rugs- und Waldherr, 1578 alter Bürgermeister, 1580 er­ ster Umgeld-Herr und Viertelsmeister im Karthäuser-Viertel. 1588 legte er sämt­ liche Ämter nieder und starb acht Jahre darauf. 7. Joachim Nützel55), lebte von 1531 bis 1607. Als Mitglied des kleineren Rats nahm er in den Konfessionsstreitigkeiten für die Philippisten Partei. 8. Christoph Für er56), damals wohl die interessanteste Persönlichkeit unter den Patriziern. 1541 geb., studierte er zunächst in Straßburg alte Sprachen und Philosophie, unternahm dann 1562 eine Studienreise nach Italien, wo er an den Universitäten Padua, Bologna, Mailand, Siena und Rom hörte. 1565 machte er eine Reise durch das gelobte Land, sah Ägypten, Syrien und Arabien. 1566 unternahm er von Venedig aus eine neue Reise nach Ungarn, wo er gegen die Türken kämpfte. Endlich gelangte er 1570 durch Polen und Böhmen zurück nach Nürnberg. Hier wählte man ihn seiner Verdienste und Erfahrungen wegen in den kleineren Rat und in zahlreiche Ämter, bis er zum obersten Losunger und Reichsschultheißen aufstieg, nachdem er vom Kaiser geadelt war. Er starb am 21. Nov. 1610. 9.Hans Pfinzing51), 1546 geboren, Nbger. Patrizier, wurde 1574 in den kleineren Rat gewählt. Er starb bereits 1582. 10. Hieronymus Schürstab58), aus Nbger. Patrizierfamilie, seit 1574 Mitglied des größeren Rats. Er starb 1584. 11. Anton Geuder59), geb. 1539, Bildungsgang wie der seines Bruders Philipp unter Nr. 3. Seit 1565 arbeitete er als Assessor am Stadtgericht, kam dann als Nach52) Vgl. Siebmacher, Das große u. vollst. Wappenbuch. Nbg. 1734. 53) Vgl. Will, a.a.O. Th. III, S. 208; Biedermann, a.a.O. Tab. 575; P. Freherus, Theatrum virorum eruditione clarorum . . . Nbg. 1688, p. 921. 54) Vgl. Will, a.a.O. Th. VII, 183 f.; dess.Nbger. Münzbelustigung. Nbg.1800, Th. II, 25 ff. (dort Abb. einer Münze mit Pömers Bild und Wahlspruch); Biedermann, a.a.O. Tab. 573. 85) Vgl. Martin Pfintzing, Lexicum genealogicum patriciarum familiarum. (Um 1700.) Ms. Nr. 242 d. Staatsarchivs in Nbg.; s. a. Schombaum, a.a.O. 1949, S. 3. 56) Vgl. Will, a.a.O. Th. I, 495; Biedermann, a.a.O.; Trechsel, a.a.O. und „Fürerisches Trauergedächtnus“ (St.-Bibl. Nbg.). 57) Vgl. Biedermann, a.a.O. 58) Vgl. Roth, a.a.O. S. 92. 5#) Vgl. Will, Nbger. Münzbel.. .. Th. I, S. 153 ff. (dort eine Münze mit Geuders Bild aus d. J. 1603); s. a. Biedermann, a.a.O.

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folger seines Bruders in den kleineren Rat (1582) und bekleidete bis zu seinem Tode 1604 zahlreiche Ämter, von denen in unserem Zusammenhang die des Kirchenpflegers, Scholarchen und vordersten Kurators der Altdorfer Akademie die wichtigsten sind. 12 .Jobst Lodmer60), ein Nürnberger Notar, seit 1548 Genannter des größeren Rats, starb 1584. 13. Sebald Münsterer (siehe oben S. 192). 14. Johann Neudorffer61), Sohn des berühmten Schreib- und Rechenmeisters Neudorffer, übte denselben Beruf aus wie sein Vater, war seit 1570 Mitglied des größeren Rats. Er lebte von 1543 bis 1581. 15. Georg Keulkau 62), 15 3 3 bis 1600, ein Nürnberger Kaufmann und Genannter des größeren Rats. 16. Niclas Nützel (siehe oben S. 192). Konnten wir bisher zwei Musikgesellschaften ermitteln, das Kränzlein von 1568, zu dem vornehmlich beamtete Humanisten, Geistliche, Schulmänner, Ärzte und Rechtsgelehrte gehörten, und seit spätestens 1571 das Sodalicium der würdigen Ratsherren und Patrizier, so läßt sich seit 1577 noch eine dritte musikalische Gesellschaft feststellen. Diesmal waren es sieben musikbegeisterte Junioren aus dem Patriziat, die sich zu einer „Erbaren Musicalischen Gesellschafft und Zusammenkunft“ verbanden. Von diesem dritten Nürnberger Musizierkreis haben wir allein Kenntnis durch Lechners Sammlung „Newe Teutsche Lieder mit vier und fünnf Stimmen . . .“ vom 25. März 1577 63). Zwei Jahre bevor Lechner mit seinen Regnart-Bearbeitungen und den Madrigalen seinen „großgünstigen Herren und Patronen“, der gesamten älteren Ratsgesellschaft, für „allerley wolthaten und guten geneigten willen“ dankte, fühlte er sich zunächst der jüngeren Generation, „seinen günstigen Junckern und Kantoribus“, verpflichtet. Im Vorwort geht Lechner auch auf die Beweggründe der Dedikation näher ein: „. .. Nachdem ich dann ein zeitlang her an E.E. als meinen gönstigen Junckern sonderlich und sambtlich / nit allein / was lieb / lust / und freud dieselben zur Musica tragen / als dieser Kunst wolverstendige und erfarne / sonder auch / was zu ubung und fortpflantzung derselbigen / soviel an jnen gewesen / ein Erbare Musicalische Gesellschafft und zusammenkunfft angerichtet und ver­ wieget / darzu auch keinen Unkosten gespart / vermercket hab / auch sonsten gönstige neigung neben erzeigen alles guten gegen mir / überflüssig gespürt. . .“. Die sieben Widmungsadressaten, sämtlich unverheiratete junge Patrizier, die ihre Studien bereits hinter sich hatten64), sind: 60) S. Hs. Nr. 515 des Nbg Staatsarchivs; vgl. Roth, a.a.O. S. 79. 61) Vgl. Will, Nbger. Münzbelustigung. Th. II, S. 401 ff. (dort eine Münze mit dem Bild Newdorffers von 1579); vgl. Doppelmayr, a.a.O. S. 204. •*) Vgl. Roth, a.a.O. 83) Vgl. L. Lechner, Werke, Bd. 3. Kassel 1954, hrsg. v. Verfasser. 84) Die Angehörigen des Patriziats wurden erst mit der Eheschließung, dann aber auto­ matisch, in den größeren Rat aufgenommen. Universitätsstudium war zwar so gut wie selbstverständlich; man erwarb jedoch im allgemeinen keine akad. Grade, um sich damit nicht die Möglichkeit zu nehmen, in den kl. Rat aufgenommen zu werden.

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Johanna Nützel85), geb. 1544, seit 1585 Gen. des größeren Rats. Er verwaltete später bedeutende Ämter und stieg bis zum vordersten Losunger und Reichs­ schultheißen auf. Er starb 1620. Man rühmte ihm große Klugheit nadi. Gabriel Nützel66), ein Vetter des Obengenannten, war zu Lechners Zeit Assessor und Schöffe am Nürnberger Stadt- und Ehegericht. Er starb 1638. Gabriel Scheurl67), geb. 1551, ein Kollege des G. Nützel am Stadtgericht, wurde 1579 Gen des größeren Rats, später Pfleger des „gemeinen" Almosens". Er starb 1618. Franz Schleicher66), wurde 1577 Gen. d. gr. Rats, lebte bis 1610. Gabriel Schleicher69), des Vorigen Bruder. Starb 1593. Johann Unterholtzer 70), seit 1578 Gen. d. gr. Rats, ist 1586 gestorben. Nicolaus Rottengatter71), seit 1579 Gen. d. gr. Rats, ist 1622 gestorben.

Obwohl die beiden ersten Gesellschaften weitgehend durch den Stand und die Ratsgesellschaft von der Juniorengesellschaft durch Generations­ unterschied getrennt waren, bestanden außer der selbstverständlichen gemein­ samen Liebe zur Musik und zu den schönen Künsten zahlreiche Verbindungen und Beziehungen zwischen den Mitgliedern der drei Kränzchen. Dabei fallen die vielen verwandtschaftlichen Bindungen wohl weniger ins Gewicht als vielmehr das allen gemeinsame humanistische Bildungserlebnis und -ideal. Viele der Männer hatten dieselben Schulen, dieselben Universitäten im Inund Ausland besucht, hatten gemeinsame Lehrer und Freunde. Das humani­ stische Freundschaftsnetz, das sich unabhängig von den Konfessionen über die europäischen Kulturländer spannte, war damals außerordentlich eng. Als weiteres verbindendes Element kommt noch hinzu, daß sich die führenden Humanistenkreise in Nürnberg, Patrizier wie besoldete Beamte, mit nur wenigen Ausnahmen noch einer theologisch-humanistischen Sondertradition verpflichtet wußten, die in die ersten Jahre der Reformation zurückreicht. Philipp Melanchthon hatte sich damals mit der Planung und Einrichtung des Nürnberger Gymnasiums große Verdienste um das Schulwesen erworben. Er hatte seither einige Male Nürnberg besucht, und seine weltmännisch verbind­ liche und tolerante Art hatte ihm die regierenden Nürnberger Herren zu Freunden gemacht. Deren Söhne wiederum waren meist durch das Studium in Wittenberg zu seinen Anhängern geworden. So kam es, daß man Melanch­ thon auch dort in seinen Lehren folgte, wo sie später von denen der stren­ gen Lutheraner abwichen, also in der Lehre vom freien Willen, der Aus­ legung der Einsetzungsworte und damit in der toleranten, ja sympathisieren­ den Haltung zum Calvinismus. Mit dieser theologischen Sonderstellung ge­ rieten das Patriziat (mit nur wenigen Ausnahmen) wie auch die ihm nahe65) Vgl. Hs. 249 d. Nbger. Staatsarchivs. 6fl) Vgl. Leichenpredigt auf seinen berühmten Sohn Gabriel (St.-Bibi. Nbg.); s. a. Will, Nbg. Münzbel. Th. II, S. 174 ff. 67) Vgl. Hs. 249 d. Nbger. Staatsarchivs. 68) Vgl. Roth, a.a.O. S. 93. 89) Vgl. Hs. 249, a.a.O. 70) Vgl. Roth, a.a.O. S. 93; G. Aubin - A. Kunze, Leinenerzeugung und Leinenabsatz (1940) S. 195. 71) Vgl. Totenbücher im Nbger. Staatsarchiv; s. a. Roth, a.a.O., S. 94.

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stehenden Humanistenkreise, am sinnfälligsten repräsentiert durch die musi­ kalische Kränzleinsgesellschaft von 1568, in immer stärkeren Gegensatz zu dem orthodox lutherisch eingestellten Teil der Geistlichen, die die Bürger­ schaft, vor allem die Zünfte nahezu geschlossen hinter sich wußten 72). Gab die offizielle Nürnberger Lehrnorm durch ihre Abweichungen von den Eini­ gungsbestrebungen des streng lutherischen Nordens schon Anlaß zu außen­ politischen Komplikationen73), so drohten die seit 1577 offen zum Ausbruch gekommenen dogmatischen Streitigkeiten zwischen den beiden Parteien der Nürnberger Geistlichen eine innerpolitische Krise heraufzubeschwören. Die Ratsmitglieder mußten ihre privaten Sympathien zugunsten der öffentlichen Ruhe und des Rufs der Stadt hintanstellen; wurde doch bereits andernorts verbreitet, Nürnberg wende sich dem Calvinismus zu 74). Während jedoch der Rat mit mehr oder weniger Glück eine halbwegs unparteiische Vermittler­ rolle spielte, war für die Mitglieder der musikalischen Kränzleinsgesellschaft von 1568 weniger Grund zur Zurückhaltung gegeben. Aus den Streitigkeiten wird ersichtlich, daß sich in der Kränzleinsgesellschaft die führenden Männer der den Calvinisten nahestehenden Partei der Philippisten versammelt hat­ ten. Die Geistlichen Laurenz Dürnhofer und Mauricius Heling, beide Grün­ dungsmitglieder der Gesellschaft, waren die exponiertesten Vertreter der philippistischen Partei75). Neben Dürnhofer und Heling traten auf philippistischer Seite vor allem die Kränzleinsmitglieder M. Rauenpusch, J. Moli­ tor, J. Richthauser, M. Fror und H. Rorscheit hervor. Man macht sich schwer einen Begriff davon, mit welcher Erbitterung die theologischen Kämpfe von beiden Seiten ausgetragen wurden. Es kam zu regelrechten Bespitzelungen von beiden Parteien. Von lutherischer Seite gab man Anweisungen, welche Fragen man stellen müßte, um calvinisch Gesinnte zu erkennen, und auch die Philippisten blieben die Gegenmaßnahmen nicht schuldig. So wird berichtet, daß Richthauser einmal mit den beiden Notaren H. Rorscheit und J. Lochner zum Gottesdienst ging, um den Führer der lutherischen Geistlichen, Schelhamer, zur Rede zu stellen. M. Rauenpusch geriet sogar mit dem lutherischen Geistlichen Engelprunner bei der Beichte nach der Absolution in heftigen Wortwechsel. In welchem Maße aber auch die Bevölkerung in den Streit hin­ eingezogen wurde, erhellt folgende Begebenheit, die für uns darum beson­ ders interessant ist, weil sie sich im unmittelbaren Wirkungskreis Lechners abspielte 76). Im Mai 1579 trafen Lechners beide Kollegen von der Lorenzer Schule, die Schuldiener G. Körber und J. Keßler mit dem Stadtpfeifer Martin Paumann zusammen. Schornbaum nimmt wohl mit Recht an, daß diese Begeg72) Vgl. dazu K. Schombaum, a.a.O. Mittr. d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Nürnberg. 1949. 73) Vgl. Schornbaum, a.a.O. S. 16. 74) So wurde z. B. dem Arzt Dr. Rücker am 27. Januar 1578 ein Leipziger Pasquill zugestellt mit dem Titel: „Treue Warnung vor der geistlichen Hurerei der Stadt Nürnberg." Vgl. Schombaum, a.a.O. S. 19 f. 75) Vgl. Schornbaum, Die Chronik der Familie Dürnhofer. Mitt. d. Verf. f. Gesch. d. Stadt Nbg. 42. Bd. 1951, S. 171. 78) Wir geben die ganzen Vorgänge zusammengefaßt nach Schornbaum, a.a.O. 1949, S. 28 ff. wieder, wo auch die Quellen verzeichnet sind.

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nung nicht zufällig stattfand, sondern in der Absicht, Paumann in eine Dis­ kussion zu verwickeln und zu provozieren. Jedenfalls gab Paumann im Ge­ spräch seinem Unwillen über die religiöse Entwicklung Ausdruck und ging dabei so weit, von einem „Ausbund der Calvinisten“ zu sprechen, der in der Stadt sein Wesen treibe und der nichts anderes wert sei, als daß man ihn aus der Stadt treibe. Besonders klagte er das musikalische Kränzlein (die Ge­ sellschaft von 1568) an, das sich bei D. M. Fror versammelte: es sei der calvinischen Sekte zugetan und verwandt. Am Himmelfahrtstag, dem 28. Mai, kam es während der Vesper, bei der höchstwahrscheinlich auch Lechner zu­ gegen war, zu einem erneuten Zusammenstoß zwischen den beiden Schul­ dienern und M. Paumann, der diesmal noch von dem Zinkenbläser Jakob von der Hufen unterstützt wurde. Die Schuldiener setzten ihren Rektor An­ dreas Behem davon in Kenntnis, und dieser erstattete Meldung beim Rat. Die Sache zog weitere Kreise. Paumann berief sich auf den lutherischen Pre­ diger Schelhammer. D. Fror und D. Richthauser beschwerten sich ihrerseits beim Rat über Schelhammer und Paumann. Der philippistenfreundliche Rat war zunächst der Meinung, Schelhammer sei der eigentliche Unruhestifter. Die Untersuchung erwies aber dann doch wohl die Schuld beider Parteien. Das Urteil des Rates in dem Prozeß fiel für die Mitglieder der Kränzleins­ gesellschaft recht günstig aus. Martin Paumann wurde mit 14 Tagen Gefäng­ nis bestraft; er sollte „auf einem versperrten Turm mit dem Leib und Was­ serbüßen und sich hinfort „dergleichen unrechtmäßigen Ausschreiens gegen ehrliche unschuldige Leute bei ferner eines ehrbaren Rats ernstlicher Strafe enthalten, sich seines Selbstberufs erinnern und denselben mit Fleiß ohne Nachteil und Verkleinerung anderer Leute abwarten“. Da sich Paumann auf Schelhammer berufen hatte, bekam dieser ebenfalls vom Rat Bescheid: weil der Rat „ihn, Herrn Doctor Fror, bisher in Religionssachen viel ein anders erkannt, daß er Herrn Doctor sowohl auch seine Mitbrüder zufrieden und unausgeschrien lassen sollte, sonst könnten sie nicht umgehen, gegen ihn deswegen die Gebühr vornehmen zu lassen". Jakob von der Hufen bekam nur eine sträfliche Rede. Der Schuldiener Keßler wurde ernstlich gerügt, weil er mit seinem „Forscheln“ Anlaß zu Paumanns Diffamieren gegeben habe. Alle übrigen Beteiligten, D. Richthauser, die Notare Rorscheit und Lochner, sowie die beiden Katechismusprediger Rauenpusch und Molitor, wurden eben­ falls verwarnt. Welche Rolle der junge Lechner in diesen Auseinandersetzun­ gen spielte, bleibt unklar, da sein Name in den betreffenden Akten nirgends erwähnt ist. Bekannt ist nur, daß er damals schon dem evangelischen Glau­ ben anhing77). Man wird jedoch bei der Klärung seiner sozialen und künst­ lerischen Stellung in den Musikgesellschaften und zu einzelnen ihrer Mit­ glieder auch die konfessionelle Spaltung zwischen den calvinistenfreundlichen Humanisten und den lutherischen Stadtpfeifern im Auge behalten müssen, da Lechner über die letzteren später Aufsicht zu führen hatte und darum auch auf ihre religiöse Empfindlichkeit Rücksicht nehmen mußte. Wann Leonhard Lechner nach Nürnberg kam, ist noch immer nicht ge­ nau zu ermitteln gewesen. Außer den bekannten Anhaltspunkten spricht noch 77) Vgl. K. Ameln, L. Lechners Bekenntnis. MuK 1953, S. 21 ff

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ein anderer Umstand dafür, daß er sich zu Anfang des Jahres 1575 dort niederließ. Nämlich am 3. Juli dieses Jahres wurde in Altdorf das neuerrichtete Gymnasium feierlich eröffnet. Es ist durchaus möglich, daß sich Lechner dabei um das vorgesehene Amt eines „ordentlichen Musicus“ bewarb 78) und im Hinblick darauf überhaupt nach Nürnberg gekommen war. Wie dies Amt besetzt wurde, ist leider nicht überliefert. Wenn Lechner sich jedoch zunächst mit der dürftigen Stelle eines Kollaborators an St. Lorenz begnügen mußte, ähnlich wie 50 Jahre früher der Komponist Wilhelm Breitengraser und 26 Jahre später Melchior Frank 7Ö), so lag das außer an dem Mangel einer abgeschlossenen akademischen Bildung wohl vor allem an seinem jugend­ lichen Alter. Über Lechners Anstellung hatte Hieronymus Paumgartner als oberster Scholarch und Kirchenpfleger zu entscheiden gehabt, wodurch zu­ gleich eine erste Berührung mit der musikalischen Ratsgesellschaft gegeben war. Andererseits wird Lechner auf Grund seiner Stellung als Schuldiener an St. Lorenz auch rasch Kontakt mit der Kränzleinsgesellschaft von 1568 bekommen haben, war doch sein Rektor dort, der Magister Behem, ihr Grün­ dungsmitglied. Wenn auch eine ordentliche Mitgliedschaft in diesem Kränz­ chen für Lechner anfangs noch gar nicht in Frage kam, da er einerseits noch kein eigenes Hauswesen besaß und da andererseits der Alters- und Rang­ unterschied eine große Rolle spielte, so wird er doch auf Grund seiner huma­ nistischen Bildung und seiner ausgebildeten Tenorstimme, vor allem aber wegen seines nicht zu übersehenden überragenden kompositorischen Talentes und Fleißes sehr bald häufiger, gern gesehener Gast in diesem Kreise gewe­ sen sein, zumal Johann Heyden, der einzige Berufsmusiker in der Gesell­ schaft, inzwischen ausgeschieden war. Lechner war nicht mit leeren Händen nach Nürnberg gekommen; das zeigt seine große lateinische Motettensamm­ lung, die er noch 1575 herausgab und in der bereits, bei aller Abhängigkeit von seinem Lehrer Lasso, Genie und Eigenart des jungen Meisters zu erken­ nen ist80). Mit der Widmung dieser ersten Sammlung an Hieronymus Paum­ gartner hat Lechner den Dank für seine Anstellung zum Ausdruck gebracht und seinen ersten Beitrag zur Nürnberger Kirchen- und Schulmusik geleistet. Er hätte keinen würdigeren und einflußreicheren Mäzen für sein erstes Werk finden können. Sein Vorwort vom 28. Oktober 1575 ist so bescheiden ge­ halten, wie es dem Anfänger gegenüber einem so bedeutenden Mann wie Paumgartner zukam. Es ist darin von einigen seiner Freunde die Rede, auf deren günstiges Urteil und Anraten hin er sich mit dem Werk an den Scholarchen gewandt habe. Man kann kaum zweifeln, daß es sich bei diesen Freunden um Angehörige der Kränzleinsgesellschaft handelt, bot sich doch für Lechner in ihrem Kreis zuerst Gelegenheit, seine Kompositionen zu er­ proben und kritisch würdigen zu lassen. 78) Vgl. Will, Gesch. u. Beschr. d. Nbg. Universität Altdorf, a.a.O. Lechners Motette zur Einweihung der Hochschule (beigedruckt seiner fünf stimm. Liedsammlung von 1577) kann für diese Vermutung sprechen. 79) Vgl. R. Wagner, a.a.O.; s. a. Sandberger, a.a.O. S. LXXVIII u. LXXXIV ff. 80) „Motectae sacrae, quatuor, quinque et sex vocum..." Nürnberg 1575, im Rahmen der Lechner Ges.-Ausg. hrsg. von Lutz Finscher, Kassel 1957.

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Nicht zuletzt auf diese Motettensammlung hin wird man auch im Rats­ kränzchen auf Lechner aufmerksam geworden sein. Audi von seiner nächsten Sammlung, dem ersten Teil der dreistimmigen Villanellen, schreibt Lechner im Vorwort (v. 18. II. 1576), daß er sie „ .. . nun / auff guter Herrn und Freund ansuchen und begeren / in publicum außgehn lasse ..." und daß er diese Lieder dem Hans Pfintzing von Henfenfeld, Mitglied des kleineren Rats und der musikalischen Ratsgesellschaft, „ .. . auß etlicher anregung und wolmeinen ..." nicht allein darum dedizieren und zuschreiben wolle, „ .. . dieweil E. E. ein sonderlicher Liebhaber und förderer der Musica, und selbst ein Musicus ist / Sondern auch / dieweil ich von E. E. allen günstigen willen gespüret und erfarn / Auch noch / wie ich glaubwirdig berichtet / E. E. mich mit sonder geneigtem gemüt befolhen hat". Dem Vorwort ist jeden­ falls zu entnehmen, daß Lechner zu dieser Zeit auch schon in der musikali­ schen Ratsgesellschaft Fuß gefaßt hatte. Diese Verbindung wird dadurdi weiter gefestigt und bestätigt, daß Lechner ein Jahr später, nach dem Erfolg der ersten Villanellen, wieder einem Mitglied der Ratsgesellschaft, Anton Geuder zu Heroldsberg, im März 1577 seinen zweiten Teil der Villanellen widmete. Die Begründung der Dedikation lautet ähnlich wie die vorige: „ . . . Demnach aber Ehrnvester Junckherr E. E. ein sondere liebhaberin und beförderin der Music / unnd inn derselben vor anderen / jhrs gleichen geübt und erfaren ist / auch mir umb dieser kunst willen / (in der ich mich doch nicht so / wie ich gern wer / erfarn und geübt sein bekennen muß /) von derselben allerley wolthaten / und guter genaigter will offtmals ist erzeigt worden / hab ich solche Liedlein E. E. dadurch mein dankbar gemüt zuver­ melden / dedicirn wollen der tröstlichen Zuversicht E. E. werde diese meine arbeit günstigklich von mir an und auffnemen / und mich jr wie bishero fortan lassen befolhen sein." Über Lechners Verhältnis und seine Beziehungen zur Ratsgesellschaft während der ersten Nürnberger Jahre lassen sich nur mit einigen Vorbehal­ ten Rückschlüsse aus den Protokollen der Nürnberger Musikgesellschaft von 1588 ziehen81). Man wird dabei die mindere soziale Stellung Lechners als Schulgehilfen und Musikers sowie sein jugendliches Alter gegenüber der zum Teil aristokratischen Standeshoheit der würdigen Kränzleinsherren berück­ sichtigen müssen. Wahrscheinlich war es zunächst so, daß man auf Beschluß der Gesellschaft in der Erkenntnis, was für ein „gewaltiger Componist und Musicus “) er sei, an Lechner herantrat und ihn aufforderte, gegen Honorar an den Zusammenkünften teilzunehmen. Dieses Angebot wird für Lechner nicht nur eine große Ehre, sondern in Anbetracht seines geringen Schulgehilfen-Gehalts auch materiell ein unerläßlicher Gewinn gewesen sein. Es ist jedoch unbedingt anzunehmen, daß Lechner auch in diesem Kreise im gleichen Maße, wie sich sein Ruhm und seine Anerkennung als Künstler weit über Nürnberg hinaus verbreiteten, auch menschlich und sozial aus der miß­ lichen Stellung eines bloß bezahlten Bediensteten herausgehoben wurde, wie vor ihm sein großer Lehrer Lasso und nach ihm Hans Leo Häßler. 81) Vgl. W. Nagel, a.a.O. S. 6 f. 82) Vgl. unten S. 206. 205

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Neben diesen durch die ersten Widmungen und Vorreden dokumentierten Beziehungen zur musikalischen Ratsgesellschaft stand Lechner seit spätestens 1576 schon mit einer Reihe jüngerer Angehöriger des Patriziats in Verbin­ dung, die eine dritte Musikgesellschaft zu gründen beabsichtigten und sich dazu Lechners Mitwirkung sicherten. Zu der vermutlich im Frühjahr 1577 er­ folgten Gründung widmete Lechner den sieben Mitgliedern der neuen Ge­ sellschaft (eine Woche nach der Herausgabe des zweiten Villanellen-Bandes) am 25. März seine erste Sammlung weltlicher und geistlicher madrigalischer deutscher Lieder mit vier und fünf Stimmen. Das Vorwort zu dieser Samm­ lung gehört zu den schönsten der Zeit83); ihm hat Lechner die Disposition und zahlreiche Textstellen aus Luthers Vorrede „Von der himmlischen Kunst Musica“ nach der deutschen Übersetzung Johann Walters von 1564 zu­ grundegelegt, diese aber durch Rechtfertigung und Lob weltlicher Musik und durch viele Beispiele aus dem humanistischen Bildungsbereich ergänzt. Hatte er Paumgartner gegenüber bescheiden auf einen Exkurs über die Musik ver ­ zichtet, und spürt man aus den Vorreden an Pfinzing und Geuder ebenso den unüberbrückbaren, selbstverständlich gewahrten Abstand zur „Obrig­ keitsperson“, so kann man doch dem Vorwort an seine „günstigen Juncker und Kantores“ entnehmen, daß sich Lechner in diesem neuen Kreise unter seinen Altersgenossen als musikalischer Mentor und trotz des Standesunter­ schiedes mehr als gleicher unter gleichen gefühlt haben mochte. Nach drei Jahren angestrengtesten Schaffens hatte Lechner mit der Ver­ öffentlichung seines vierten Werkes die erste Phase seiner Nürnberger Zeit erfolgreich gekrönt. Alle vier Sammlungen, von denen allein drei ausschließ­ lich für das Repertoire privater Musikpflege in Frage kamen, hatte er Mit­ gliedern der musikalischen Gesellschaften gewidmet; er hatte sich als Kom­ ponist und Vorkämpfer einer neuen, wortgerechten und affektbetonten Musik in den traditionsbewußten und konservativen Nürnberger Kreisen durchge­ setzt 84), hatte sich viele Freunde und Gönner erworben und stand nun im Mittelpunkt des regen Musiklebens der Stadt. Im Gegensatz zu diesem Auf­ schwung standen noch Lechners dürftige Einkünfte aus dem Schulgehilfen­ amt (60 fl.), die ohne private Zuwendungen von Gönnern allein sicher nicht ausgereicht hätten, einen eigenen Hausstand zu gründen 85). Aber auch Lechners pekuniäre Lage erfuhr bald eine erhebliche Verbesserung. Nach dem Erscheinen seiner vier- und fünfstimmigen Lieder hatte sich Lechner wahr­ scheinlich auf den Wink einflußreicher Gönner hin an den Rat der Stadt mit der Bitte um Gehaltsaufbesserung gewandt. Sein Ersuchen wurde erfüllt, weil er, wie es im Ratsprotokoll vom 26. Juli 1577 heißt, „ein solch gewaltiger Componist und Musicus“ sei86). In diesem Jahr, da Lechner die erste Höhe des Erfolges errreichte und in dem auch der Theologenstreit wieder heftig entflammte, trat in unmittelbare 83) Veröffentlicht in: L. Lechner, Werke, Band 3; vgl. dazu das Begleitwort des Verf. 84) Noch im Vorwort zur Liedsammlung von 1572 hatte Ivo de Vento an den altväterlich guten, pythagoräischen Geschmack der Mitglieder der Ratsgesellschaft appelliert t 85) Vgl. M. Schreiber, L. Lechner Athesinus (1553—1606). Sein Leben und seine Kirchen­ musik. Diss. München 1932, S. 19 f. 88) Vgl. Sandberger, a.a.O. S. XXIII; ferner Schreiber, a.a.O. S. 25, Anm. 138.

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Beziehungen zu Lechner und der musikalischen Kränzleinsgesellschaft von 1568 erstmals eine Persönlichkeit, die einige Zeit später für mehrere Jahre dem musikalischen und literarischen Leben in Nürnberg weiteren Auftrieb geben sollte: der 1539 aus Mellrichstadt in Franken gebürtige Humanisten­ dichter Paul Schede Melissus 87). Audi wenn man von seiner Bedeutung als Dichter lateinischer, deutscher und italienischer Verse wie auch als Kompo­ nist, die noch heute kaum beachtet und erkannt ist, absieht, so sind sein Leben und Bildungsgang für einen freischaffenden Humanisten bürgerlicher Herkunft jener Zeit so typisch und auch in unserem Zusammenhang so interessannt, daß eine eingehendere Darstellung hier wohl gerechtfertigt ist. Paul Schede hatte bis 1557 zunächst in seiner Vaterstadt, dann in Erfurt und Zwickau die Schule besucht. Er studierte darauf in Jena Poetik und ver­ waltete dann ein Jahr (bis 1560) in Königsberg (Franken) die Kantorei. 1561 begab er sidi nach Wien, wo er sich bald die Gunst Kaiser Ferdinands und dessen Sohnes, Maximilians, erwerben konnte, im Frühjahr 1564 zum poeta laureatus erhoben und mit der nobilitas beschenkt wurde. Noch im gleichen Jahr begab er sich nach des Kaisers Tod über Prag nach Wittenberg, wo er in dem gastlichen Hause Paul Ebers Aufnahme fand und seine sprach­ lichen und historischen Studien fortsetzte. Nebenbei widmete er sich auch der Komposition und gab während seines kaum zweijährigen Aufenthaltes zwei musikalische Werke heraus, die „Historia de navicula vehente Christum et periclitante in mari“, eine fünf stimmige Motette nach Matth., Marcus und Lucas von 1565 mit einer eifernden Vorrede gegen unsaubere weltliche Ge­ sänge, und im gleichen Jahr eine größere Sammlung mit meist mehrteiligen lateinischen Motetten, einer griechischen, und drei bemerkenswerten cantusfirmus-frei komponierten, selbstgedichteten deutschen Liedern88), betitelt: „Pauli Schedii Melissi cantionum musicarum quattuor et quinque vocum liber unus, Viteberg. 1566." Dieser Sammlung, in der Schede unter anderen Werken auch die Symbola seiner Wittenberger Freunde vertonte, ist auch zu entnehmen, daß sein bester Wittenberger Freund der Magister und spätere Nürnberger Prediger Laurenz Dürnhofer war, dessen Symbolum aus dem 27. Psalm „unam petii a Domino ..." am Anfang komponiert ist89) und an dessen Adresse sich das einleitende Widmungsgedicht richtet. Paul Schede hatte wohl gehofft, in Wittenberg seßhaft zu werden. Als jedoch seine Be­ werbung um die Tochter seines väterlichen Freundes Paul Eber scheiterte 90), 87) Vgl. zum folgenden O. Taubert, Paul Schede (Melissus), Leben und Schriften. Torgau 1S64. S. a. L. Krauß, Die gereimte Psalmübersetzung des fränkischen Dichters Paul Schede-Melissus (1572). In: Neue kirchliche Zeitschrift XXXI. Jg., 1920, S. 433 ff. 88) Diese deutschen Lieder dürften zu den allerersten Werken im neuen, durchkomponierten Liedstil gehören/ 89) Andere Nbger. Widmungsadressaten sind M. G. Mauricius und H. Schaler. Vgl. dazu C. H. Sixt, Paul Eber — ein Stück Wittenberger Leben aus den Jahren 15 32 bis 1569. Ansbach 1857. 90) Autobiographische Dokumente aus dieser Zeit sind die aparten, von Zinkgref in „Mar­ tini Opicii Teutsche Poemata und Aristarchus wieder die Verachtung Teutscher Sprache . (Straßburg 1624) veröffentlichten Lieddichtungen des Melissus. Das zweite Lied (p. 163), „Rot Röslein wolt’ ich brechen. könnte geradezu als Vorlage für Goethes „Heiden­ röslein“ angesehen werden.

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verließ er die Stadt, zog zunächst nach Leipzig, wo er mit Joachim Camerarius bekannt und befreundet wurde 91)> und folgte dann einem Ruf des Bischofs Friedrich nach Würzburg. Noch im selben Jahr reiste er wieder nach Wien, um dort die Ausbildung von 42 jungen Edelleuten zu überneh­ men, mit denen er nach Ungarn in den Krieg zog. Da ihm diese Tätigkeit und vielleicht auch die katholische Umgebung mißfielen, nahm er bald wie­ der seinen Abschied und begab sich noch im Sommer 1567 zu weiteren Stu­ dien über Belgien nach Frankreich, nach Paris. Vor dem zweiten Bürgerkrieg mußte er von dort nach Burgund fliehen und fand 1568 bis 1571 endlich einige Ruhe in Genf. Dort wurde er vom Calvinismus erfaßt. 1571 lernte er auf dem Reichstag zu Speyer den Kurfürsten Friedrich III. von der Pfalz kennen und erhielt von diesem einen Ruf nach Heidelberg. Hier konnte er im folgenden Jahr seine deutsche Übersetzung des Goudimel-Psalters ver­ öffentlichen, die ihm eine umfangreiche Polemik eintrug. Neben literarischen Arbeiten hatte er von Heidelberg aus Gesandtschaftsreisen für seinen Fürsten zu unternehmen, die ihn weit durch Deutschland führten. Zu dieser Zeit schon unterhielt er Freundschaftsbeziehungen zu den meisten literarischen Berühmt­ heiten und zahlreichen anderen bedeutenden Persönlichkeiten in Deutschland, Frankreich, Italien und England92). Durch den Tod seines calvinistischen Kurfürsten und den durch dessen Sohn Ludwig VI. kurz darauf so rigoros durchgeführten Versuch, die lutherische Lehre wieder einzuführen93), sah sich Paul Schede zu Anfang des Jahres 1577 gezwungen, sein altes Wanderleben wieder aufzunehmen. Diesmal war Italien sein Ziel. Viele Gründe sprechen dafür, daß er seinen Weg dahin über Nürnberg nahm. Als Calvinist mußte er großes Interesse daran gehabt haben, sich an Ort und Stelle über die Nürn­ berger Glaubensstreitigkeiten zu orientieren, in die mehrere seiner alten Freunde, vor allem Dürnhofer und der Ratskonsulent Herdesian, verwickelt waren; ferner gab es von Nürnberg nach Italien die besten Reiseverbindungen; auch tat man gut daran, sich vor einer längeren Auslandsreise mit Emp­ fehlungen zu versehen, die Paul Schede nirgendwo besser als in Nürnberg bekommen konnte (z. B. lebte Dürnhofers Bruder damals ständig in Pa­ dua 94). Den wichtigsten Anhaltspunkt dafür, daß Paul Schede im Frühjahr 1577 wirklich in Nürnberg gewesen ist, gibt uns ein Brief95), den Melissus an L. Dürnhofer am 31. Juli aus Padua schrieb und einem Brief an J. Camerarius (um Porto zu sparen) einlegte; dort heißt es: „ .. . Bene valeo, mi suavissime Dymhofere, et in Italia et versus et cantica pango, quibuscum aures tum animi delectantur. Interim cogitabis, isticne non possit excudi #1) In diese Zeit fallen auch die ersten Verhandlungen zwischen Camerarius und dem Nürn­ berger Rat über die Gründung der Altdorfer Schule. •**) Vgl. Paul Schedes erste große Poesiensammlung: Melissi schediasmatum reliquiae. Frank­ furt 1575. 8S) Vgl- K. F. Vierordt. Geschichte der evangelischen Kirche in dem Großherzogtum Baden. Karlsruhe 1856, 2. Bd. S. 7 ff. •4) Vgl. K. Schombaum, a.a.O. Mitt. 42. Bd. 1951, S. 185. ®8) Dieser Brief befindet sich in der Nürnberger St.-Bibl. unter der Sign. Will III 2° 331—3 36. Den Hinweis verdankt der Verfasser der freundlichen Mitteilung von Herrn Dr. R. Wagner.

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melodia; an Ledinerus versus illos Hendecasyllabos musicis harmoniis venustari, scire aveo.“ Im weiteren trägt Schede seinem Freund Dürnhofer noch Grüße an das Sodalicium (Kränzchen von 1568) und an den Konsulenten Herdesian auf. Es kann somit kaum noch ein Zweifel bestehen, daß Melissus vor seiner Italienreise in Nürnberg war, da er Lechner bereits so gut kannte, daß er ihm die Komposition seiner „Ohr wie Geist erfreuenden Elfsilbler“ anvertraute. Wo auch hätte sich Melissus von Lechners musikalischer Quali­ fikation besser überzeugen können als bei den Übungen der musikalischen Kränzleinsgesellschaft? Dieser Brief ist aber noch in anderer Hinsicht interessant. Aus einem Dank- und Lobgedicht des Paul Schede an Lechner, das dieser nebst anderen seiner nächsten Sammlung, den Magnificat-Kompositionen von 1578 voran­ stellte, erfahren wir, daß Lechner der durch Dürnhofer vermittelten Bitte des Melissus tatsächlich nachgekommen ist96). Die betreffende Strophe des Ge­ dichts lautet: Pro duplici labore Gratia duplex Referenda venit tibi, Lechnere Musice. Vix unum petere Ausus fueram munusculum, Intercessione mutua Veteris amici Dyrnhoferi: Tu geminas idem Suave meritum, tibique Gemino obligans me vinculo Obstringis irresolubilem.

Die Frage, welche Kompositionen Lechners gemeint sein können, denen die Texte des Melissus zugrunde liegen, ist nicht mit absoluter Sicherheit zu beantworten (die richtigen könnten verloren sein); da aber in dem Brief an Dürnhofer von „Hendecasyllaben“ die Rede ist, Elfsilbler aber für lateinische Dichtung kaum in Frage kommen und unter Lechners Kompositionen auch nicht bekannt sind, elfsilbige deutsche Verse dagegen in der fraglichen Zeit von Lechner, soweit bekannt, — außer denen Regnarts — nicht komponiert wurden, und da es auch unwahrscheinlich ist, daß Melissus sich in Italien ausgerechnet an deutschen Versen versuchte, kann es sich eigentlich nur um italienische Dichtungen handeln. Nichts liegt aber näher, als daß die den Reg­ nart-Bearbeitungen von 1579 beigefügten, sehr besinnlichen italienischen Madrigale Lechners gemeint sind. Diese Vermutung wird dadurch bestätigt, und nahezu Gewißheit, daß zwei der insgesamt drei Texte in der gesamten italienischen Madrigalliteratur singulär sind 97) und sowohl der Form nach 96) Vorgedruckt der Sammlung „Sanctissimae virginls Mariae canticum .. . Quatuor vocibus compositum per Leonardum Lechnerum Athesinum. Norib. 1578.“ Vgl. auch M. Schreiber, a.a.O. S. 58. ö7) Es handelt sieb um die Texte: la. Comme nave ch'in mezzo all onde sia. b. Cosi son ig, nel piant’, aspro e d’amaro. 2. Fato, fortuna, predestinazione. 14

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(Elfsilbigkeit) als auch inhaltlich (sie zeigen eine typisch deutsche spirituelle Besinnlichkeit) den Angaben des Briefes und der Mentalität Paul Schedes entsprechen. Die meisterhafte Komposition dieser Werke rechtfertigt in jeder Weise das hohe Lob, das Melissus Lechner in dem Gedicht zuteil werden läßt; sie ist wahrhaftig eine würdige Basis der für Lechner so wichtigen Freundschaft und Zusammenarbeit mit Paul Schede. Ein weiteres Gedicht widmete Melissus Lechner etwa zur gleichen Zeit; dieser nahm es wie das vorige in seine Magnificat-Sammlung von 1578 auf. Es scheint, daß Melissus hierin auf Grund seiner neuen italienischen Ein­ drücke — er lernte in Italien unter anderen auch Gioseffo Zarlino kennen ö8) — an Diskussionen anknüpfte, die er in Nürnberg mit Lechner und anderen Freunden auf den musikalischen Zusammenkünften der Kränzleinsgesell­ schaft geführt hatte. Da es sich hierin also nicht allein um Lechners Lob, sondern vielmehr um die dichterische Formulierung des für die damalige Zeit modernsten musikalischen Standpunkts handelt, lohnt es sich, wie auch spä­ ter, die drei zusammenhängenden Epigramme vollständig wiederzugeben wü)-

Ad Leonardum Ledinerum Iam venit ad summum divinae plenior artis Cognitio, nomen cui sua Musa dedit. Hane quia tu vocem lepidis concentibus ornas, Verbaque dant aptos sensibus apta modos; Ipse etiam tanges apicem, Lechnere, supremum, Harmonicos inter connumerande choros. Discipula est modo Pythagorae mea muta Camena, Harpocratemque annos egit agetque novem: Post iter Ausonium mea Teuto, Celta, Latinus, Italus et Graius carmina lecta canet. Interea cantus et tu quoque cantibus äuge: Ars dives numquam pauperat artificem. Saepius est mecum contentio magna quibusdam, Queis nova prae veterum, ceu nihil, harmonia est. Anteferunt priscas, Lechnere, recentibus odas, Phonasci rudibus quas cecinere modis. Fare; quotus quisque est, fuerit cui syllaba curae Longa brevisque, pari consocianda notae? Ut nihil affectum movetl ut nihil absona mulcetl Ut male respondet textus ad ipsa melel Sk sind weder bei E. Vogel (Bibliothek der gedruckten weltlichen Vocalmusik Italiens aus den Jahren 150CV—1700. 1. u. 2. Bd. Berlin 1892) noch sonst verzeichnet, noch führte eine Anfrage Dr. K. Amelns beim Kölner Petrarca-Institut zu einem anderen Ergebnis. 98) Vgl. Paul Schede, Sdiediasmata poetica . . . secundo edita multo auctiora. Paris 15 86, pr. pars. ") Vgl. Paul Schede, a.a.O. 1586, tert. pars, p. 51; s. a. M. Schreiber, a.a.O. S. 58.

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His puer imbutus, peccavi invitus et ipse100); Cui nil, Clementem 101) praeter, in ore fuit. Sentio nunc aliter, nisi verba melodia servet Apta sonis, nulla est si bona; nulla bona est. Publica si nostros Aphorismos viderit aura, Queis praecepta novae mystica trado technae, Utilius concors animi censura patebit, Judicji melius stabit imago mei. Testatum Lechnere palam tum fecero, quid vel Laudem, vel culpem: quae bona, quae mala sint. Absurdum veto, concinnuum, probo, quaero decorum, Quo sine concentus gratia cuncta perit. Haec ubi deest, quamvis reboet, mihi inesse videtur Nullus in ore sonus, nullus in aure tonus.

Diese Verse lassen bereits einiges von der Bedeutung erkennen, die Paul Schede neben Lechner als Vermittler und Verfechter der neuen musikalischen Richtung in Nürnberg zukommt. Die hier formulierte, in Lechners Musik bereits verwirklichte musikalische Aesthetik, mit der Melissus sich konse­ quent und selbstkritisch von dem älteren pythagoräischen Musikideal abwen­ det, ist in unserem Zusammenhang gerade deswegen so wichtig, weil Ivo de Vento noch fünf Jahre vorher die Mitglieder der musikalischen Ratsgesell­ schaft in der Vorrede zu den Liedern von 1572 als Hüter der pythagoräischen Tradition angesprochen hatte 102). Melissus dagegen klagt, daß immer noch viele Leute die ungefügen alten Gesänge, die ihm gleichsam nichtig (ceu nihil) erscheinen, den neuen vorziehen. Als echtem Humanisten liegt ihm besonders die musikalische Berücksichtigung kurzer und langer Silben am Herzen. Er vermißt ganz allgemein die Korrespondenz von Text und Musik, er vermißt den Affekt (!) in der alten Musik. Lechner dagegen erhält von ihm größtes Lob, da er seine Musik „mit lieblichem Zusammenklang der Stimmen ziere, und geeignete Worte seinen Gefühlen auch entsprechende Melodien eingeben“, womit er sagt, daß Lechner schon eine wortgezeugte, affektbetonte Musik schrieb, gegen die wohl in den Nürnberger Musik­ kreisen noch immer einige Mitglieder der älteren Generation Bedenken tru­ gen. Man kann nach diesem Widmungsgedicht vermuten, daß Lechner zu dieser Zeit auch direkt mit Paul Schede korrespondierte. Es ist auch nicht unmöglich, daß Lechner auf Anraten des Melissus die Magnificat-Sammlung dem Bischof von Würzburg widmete, da Melissus die Verhältnisse am würz­ burgischen Hofe gut kannte. Die Energie, mit der sich Lechner neben seinem Schulamt weiterhin der Musik widmete, ist nicht allein aus seinem großen Ehrgeiz zu erklären — sie ist die Besessenheit eines großen Künstlers. Sein nächstes gedrucktes Werk, die Regnart-Bearbeitungen und drei Madrigale, datiert vom 1. Januar 1579, ,0°) Dieses Bekenntnis ist z. B. im Hinblick auf das Lied Nr. XV aus „über unus cantionuni musicarum" (1566) durchaus am Platze. 101) Möglicherweise ist Clemens non Papa als Vertreter der älteren Stilrichtung gemeint. 102) Vgl. oben S. 197 Anm. 45. 14*

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ist, wie alle seine Nürnberger Liedsammlungen dem Kränzleinswesen ver­ bunden sind, der bekannten Ratsgesellschaft gewidmet. Wieder sind es „allerley wolthaten und guter geneigter willen“, die Lechner von den zwölf Mitgliedern der erbarn musikalischen Versammlung“, wie er schreibt, „ . . . von E. E. und E. W. samentlich unnd sonderlich . . . offtmals gespürt und erfaren . .und für die er mit der Zueignung seinen Dank abstattet. Außer seinen speziellen Gönnern, Hans Pfintzing und Anton Geuder, denen Lechner schon seine Villanellensammlungen dediziert hatte, gehören zu den Widmungsadressaten die Herren Bartholomeus und Joachim Pömer, Joachim Nützel und Hieronymus Schürstab als Angehörige des kleineren Rates, sowie Jobst Lochner, Sebald Münsterer, Johann Neudorffer, Georg Keulhau und Niclas Nützel als Genannte des größeren Rates. Hieronymus Paumgartner und Philipp Geuder gehörten damals nicht mehr dem Sodalicium an. Neben diesem sehr ansehnlichen Werk gab Lechner noch im selben Jahr einen ersten und zweiten Teil „Selectissimae cantiones“ von Orlando di Lasso in Druck; das war eine große Herausgeberarbeit, mit der Lechner sowohl das Werk seines verehrten Meisters vor Entstellungen bewahren, wie der Nürnberger Kirchenmusik einen Dienst erweisen wollte. Bereits am 13. No­ vember des folgenden Jahres (1580) schloß Lechner seine Herausgebertätig­ keit vorläufig mit der Ausgabe der vier- und fünfstimmigen Messen Lassos ab, die er dem Mitglied der Ratsgesellschaft Johannes Neudorffer zueignete. Paul Schede, der wenige Wochen vorher ruhmbeladen aus Italien als Gast nach Nürnberg zurückgekehrt war — man hatte ihn in Padua zum Comes Palatinus und Eques auratus ernannt und ihn in Rom mit der Verleihung des Ehrenbürgerrechtes geehrt —, würdigte Lechners Arbeit mit den Versen: m) Colligis exornasque tui suavissima Lassi Cantica, sinceris emaculata notis. Vidimus excudi specimen geniale laboris: O reliquis itidem da, rogo, luce frui! Hinc Musae, Lechnere, tibi debere fatentur Plus, quam vel Lasso solvit Apollo suus: Aut certe Lassus tantum tibi debet, ut inter Se Musasque adsit mutua debitio. Ein weiteres Gedicht des Paul Schede zu Lechners Namenstag wurde wahr­ scheinlich zur gleichen Zeit geschrieben. Es ist leider etwas verschlüsselt, so daß manche Stellen nicht eindeutig zu interpretieren sind:104) Ecce Leonardum revehit lux sexta Novembris, Teque jubet memorem nominis esse tui. Nos quidem ante quidem memores; ideoque ligatum Teutonico ritu te dare amicas manus: Sic tarnen, ut solvi possis; modo pendere cordi i°3) ygj p Schade, a.a.O. P. 114. 104) Vgl. P. Schede, a.a.O. P. 118.

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Sit tibi, quod pendi Musica turba cupit. Juris es ipse tui: nil cogeris. accipit ultro, Quod das sponte tua, juris et illa sui. Quis, Ledinere, moram trahis? actum est namque sodalis Arbitrium nostro subjacet arbitrio. Folgendes kann man diesen Zeilen entnehmen: Die „musica turba" — es dürfte kaum eine andere als die Kränzleinsgesellschaft von 1568 in Frage kommen — hatte beschlossen, Lechner als reguläres Mitglied in ihren Kreis aufzunehmen. Dies geht schon daraus hervor, daß man Lechner, falls er der Aufforderung nachkäme, eine Summe Geldes zu zahlen auferlegte („Modo pendere cordi sit tibi", vgl. § 16 der Kränzleinsordnung). Melissus als ständiger Gast der Gesellschaft hatte den Auftrag, Lechner von der ehren­ vollen Berufung in Kenntnis zu setzen. Er stellt Lechner den Entschluß völlig frei („Juris es ipse tui: nil cogeris."), drängt ihn dann aber doch anzunehmen („Quis, Lechnere, moram trahis?"). Wir wissen nicht, wie Lechner sich ent­ schieden hat. Wenn Lechner zu jener Zeit überzeugter Lutheraner — also nicht Philippist — war, was jedoch nicht sicher ist, wäre es durchaus mög­ lich, daß er aus religiösen Gründen oder auch nur aus Rücksicht auf die lutherischen Stadtpfeifer ablehnte; sein Name steht jedenfalls nicht in der Kränzleinsordnung. Andererseits stehen gerade seine beiden letzten für Nürn­ berg geschriebenen Werke in engem Zusammenhang mit der Kränzleinsgesellschaft von 1568 105), Mit der Rückkehr des Melissus hatte für Lechner eine Zeit weiteren Aufschwungs begonnen, in welcher er die größte Höhe seines Ruhmes er­ reichte und sich auch an der Seite seines weltmännisch gewandten Freundes eine gesellschaftliche Position errang wie kaum ein Nürnberger Musiker vor ihm. Diese Stellung war praktisch erreicht zur Zeit der wohl seit mehreren Jahren schon vorbereiteten Ausgabe des zweiten Bandes „Sacrarum cantionum ..." für fünf und sechs Stimmen, die Lechner diesmal dem gesamten Nürnberger Rat am 9. April 1581 zum Dank für das Wohlwollen der Bürger und die Gunst der Patrizier widmete 106). Wieder übernahm Paul Schede die literarische Würdigung in Form eines Epigramms, in dem er Lechner nicht nur wie üblich höchstes Lob spendet, sondern zugleich unter Anwendung des für jene Zeit sehr fruchtbaren Begriffspaares von „Kunst“ und „Natur" auf Lechners Musik im stilistischen Vergleich mit der Musik älterer und jüngerer Komponisten ein objektiv richtiges Urteil fällt107): Quo penetrat duplex ars et natura? quid ultra Consuetas vires illa vel illa sapit? Nil est, quod veteres cecinere. per ardua tendit Aetas haecce, novas quaerere docta vias. Has indefesso sequeris conamini, sollers 10!5) Siehe unten. S. 220 f. 106) Vgl. Lechners Vorrede zur Sammlung. 107) Vgl. P. Schede, a.a.O. P. 117; s. a. M. Schreiber, a.a.O. S. 5 8:

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Harmonicos agili promere mente sonos; Teque ipsum superas, Leonarde, recentibus odis. Quae tibi Latous praemia digna dabit? Natura veteres quia vincis, et arte recentes; Laurea prisca tua est, et nova palma tua est.

Das Charakteristische aller Musik Lechners ist hier unabhängig von den gattungsbedingten Unterschieden klar erkannt und formuliert als vollkom­ mene gegenseitige Durchdringung von Ars und Natura, d. h. von überlieferter abstrakt-kontrapunktischer Kunst und neuer wortgerechter, affektbetonter Klangsinnlichkeit, wobei Lechner in letzterer Beziehung der Vorrang vor den alten, im Hinblick auf die Beherrschung der kontrapunktischen Kunst vor allen jungen Komponisten der Preis gegeben wird. Lechner hat mit der Widmung seiner Motetten auch ein wichtiges äußeres Ziel erreicht. Seiner im Vorwort ausgesprochenen Bitte, man möge ihn für würdig erachten, mit Ämtern betraut zu werden, scheint der Rat der Stadt schnell nachgekommen zu sein, denn im Oktober 1582 Unterzeichnete Lechner eine Huldigungskomposition an Herzog Joachim Ernst von Anhalt mit seinem neuen Titel „Reip. Norib. Archimusicus“ 108). Einige andere Gelegenheits­ kompositionen aus den Jahren 1582 bis 1583, zu denen Melissus ebenfalls die Texte schrieb, trugen weiter zum Ansehen ihrer Autoren bei10ß). Aus der Reihe dieser Werke ragt als ganz einzigartige Komposition auf eine höchst bedeutende Dialog-Dichtung Paul Schedes das dreichörige 24stimmige Epithalamium für Sebald Welser I. und Magdalena Imhof hervor. Dieses Werk hat seine eigene Geschichte, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann 110). Interessant ist jedoch in unserem Zusammenhang in An­ betracht der gewaltigen Dimensionen dieser Komposition zu wissen, daß Melissus auf seiner Italienreise Andrea Gabrieli kennengelernt hat und jedenfalls mit der mehrchörigen venezianischen Musik aus erster Quelle vertraut war111); demzufolge kann man wohl annehmen, daß Melissus, der ohnehin eine Vorliebe für Ausgefallenes und Besonderes hatte, an der groß­ artigen Konzeption des Werkes beteiligt war. Paul Schede wußte überhaupt auch mit großem Geschick seine poetische Begabung, die auch Lechner zugute kam, zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen; mußte es ihm doch darauf ankommen, möglichst rasch festen Fuß in der Nürnberger Gesellschaft zu fassen. Sicher wäre ihm, der damals immer noch, 10«) Ygj Schreiber, a.a.O. S. 24. 109) Ein 24stimmiges Epithalamium für Sebald Welser I. und Magdalena Imhof vom 15. Januar 1582, eine fünfstimmige Hochzeitskomposition für den Rechtsanwalt Joh. Chr. Gugel und Susanna Weiermann vom 6. Febr. 1582 und ein sechsstimmiger Gesang zur Hoch­ zeit des Ratskonsulenten Chr. Andr. Julius und Maria Muffel vom April 1583. Vgl. Schreiber, a.a.O. S. 24 f. n°) Vgl. vom Verf.: Zur Komposition „Quid, chaos“ für 24 Stimmen von Leonhard Lechner Doktoranden-Festschrift für R. Gerber, Göttingen 1952 (Maschinenschr.). Weitere inter­ essante, die Gesch. des Werkes betreffende Umstände wird voraussichtlich der Besitzer der Hs., Hubert Frh. von Welser, zusammen mit dem Verf. bei der in Aussicht ge­ nommenen Neuausgabe des Werkes veröffentlichen. m> Vgl. P. Schede, a.a.O. P. 118.

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oder vielmehr seiner religiösen Haltung wegen wieder, unbeamtet und unbehaust war, eine Professur an der Altdorfer Akademie sehr willkommen gewesen112). Bei der Calvinistenfreundlichkeit der meisten Ratsmitglieder und dem fast durchweg philippistisch gesinnten Lehrkörper der Hochschule konnte er damals im Falle einer Vakanz ohne weiteres Aussicht auf eine solche Anstellung haben. Schon in Italien hatte Paul Schede sich die Freund­ schaft des reichen jungen Patriziers Sebald Welser erworben, von dem er sich auch Einfluß auf die Universitätsangelegenheiten versprechen konnte m). Nach Nürnberg zurüdegekehrt, hatte Melissus sich zunächst um die Gunst des Rats bemüht, dem er eine umfangreiche lateinische Gedichtsammlung widmete, die den Titel trägt: „Meie sive odae ad Noribergam et VHviros Reip. Norib.“ 114). Da er auf die alte Freundschaft der Mitglieder des musikali­ schen Kränzchens von 1568 ohnehin zählen konnte, wandte er sich weiter an die einflußreiche musikalische Ratsgesellschaft mit einem Epigramm „Ad suavissimum Musicae Patriciae Sodalicium in Urbe Norib." 115): Quo primum peramica die consortia vestra Miscuit harmonicis Musa canora sonis, Orta polo fuerat prosperrima flamma sereno, Quae, reor, Orpheae fulserat ante lyrae. Non igitur minim est, etiamnum sidere dextro Si viget ac durat suave Sodalicium. Euge cohors jucunda, sacris redimit a corollis In longos morem perpetuate dies; Sitis ut exemplo post fata nepotibus ipsis, Quam fuerit melli dulcis amicitia. Res ut honesta magis nulla est, ita non nisi cives Vestri persimiles, patriciosque decet.

Daß Paul Schedes Bemühungen um die Freundschaft der Mitglieder des Rats­ kränzchens besten Erfolg hatten, bezeugen zahlreiche Gedichte an einzelne Kränzleinspersonen. Sie sollen hier jedoch nur soweit berücksichtigt werden, wie sie Aufschluß über die Musikgesellschaften und Lechners oder Schedes Stellung in ihnen geben können. Sebald Münsterer, der Melissus offenbar als erster Kränzleinsherr der Ratsgesellschaft zu den Übungen geladen hatte und in ihm obendrein noch den Musiker ehrte durch die Wahl seiner fünfstimmigen Lamentatio „Vae, vae Babylon . . .“ („Cantionum musicarum . . .“ 1566, Nr. VI) bekam zum Dank das folgende Epigramm116): 112> Ohne die Hoffnung auf eine Anstellung hätte sich Melissus kaum vier Jahre lang in Nürnberg aufgehalten. m) Zur Person Sebald Welsers vgl. „Die Welser — Des Freiherrn Michael v. Welser Nach­ richten über die Familie". 2 Bde. Nürnberg 1917. 114) Melissus bekam für dieses Werk laut Ratsverlaß vom 7. Dezember 1580 200 fl. verehrt. 115) Vgl. P. Schede, a.a.O. P. 113. 116) Vgl. P. Schede, a.a.O. P. 118.

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Sponte quo ignotum verbis adfaris amicus, Mynsteriae gentis dulce, Sebalde, decus; Et vuitus otfers placidos, ultroque patentem Arcessis Visum, quam patet ampla, domum: Pectoris agnosco sinceri candida signa. Doctus enim Musas, numina docta, colis. Hinc enim ante alias nostram ausus es eligere öden, Quae, Vae vae Babylon, voce gemente canit, Aonides te mutuo ament, niveique rependant Munera candoris munere candidulo. Faxo equidem, ne te et carissima pignora natos Unquam paeniteat suavis amicitiae. Nempe immortales fiunt, animamque perennant, Quos et amant Musae, quos et amant Charites. Den jungen Patrizier Georg Volckamer — es ist derselbe, der 1588 Lechners ehemalige Juniorengesellschaft mit neubegründete 117) —, der damals offenbar noch nicht zum Junioren-Kränzchen gehörte und sein Außenstehen mit seiner unzureichenden Stimme erklärt haben mochte, suchte Melissus (vielleicht im Auftrag der Gesellschaft) durch großes Lob seiner gesanglichen Fähigkeiten eines Besseren zu überzeugen118): Quod tua vox et apud matrem patruumque canendi Scita, mihi multis est celebrata modis: Volcamer, hac in re tibi nulla injuria facta est. Ut sensi, pretium verba tulere suum. Ac certe (ne quid vestris tarnen auribus addam) Argute modulans vox tua dulce sonat: Dulce sonat, mentemque rapit dulcedine mira. Ecquis enim rauco gutture pellicitur? Consule Lechnerum concentus rite peritum: Ni fateatur idem, sponte ego lite cadam. Aut igitur canta male musicus; aut bene cantans Ne laudes vocis, neu tua temne bona. Die Anrufung Lechners als Schiedsrichter in diesem höflichen Streit zeugt von der Autorität, die Lechner in dem Sodalicium der jungen Patrizier besaß. Ein Geburtstagsgedicht an Hieronymus Schürstab zeigt, daß man auf den Zusammenkünften der Ratsgesellschaften solchen Anlaß auch musikalisch zu würdigen pflegte 119): Natalis tuus est, Hieronyme; quaere melodos, Et symphoniaci pectora laeta gregis. Vivamus, cantemus io tibi musica melli: Tu scis organicos arte eiere modos. 117) Georg Volckamer, geb. 1560, erster eingeschriebener Student der Altdorfer Schule, studierte dann 1579 in Italien. Möglicherweise lernte er dort bereits Melissus kennen. Vgl. Will, a.a.O. Th. IV, S. 191 f.; siehe unten S. 218 u. 222. 118> Vgl. P. Schede, a.a.O. P. 116. 11#) Vgl. P. Schede, a.a.O. P. 113.

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Nos Genium, felix haec lux tibi saepe recurrat, Discimus, harmonico turba dicata choro. Fidus es, et caris merito jucundus amicis: Schyrstabii taceant organa muta fidem?

Sogar der Umstand, daß Johann Molitor bei den Übungen der musikali­ schen Kränzleinsgesellschaft einmal heiser wurde, ist für Melissus Anlaß zu humorvollen Versen 12°): De Philomela Ioannis Molitoris Norib. Certanti sociis noctesque diesque canendo Improba dum reficit guttura nulla quies; Ilicet (heu miseramf) tua Daulias expiravit Iane, gravi maestum tacte dolore jecur. Quid miseram dixi? Fatumne beatius ullum est, Inter cantandum quam potuisse mori?

Ein Höhepunkt in der musikalischen Geselligkeit Nürnbergs war zweifel­ los der zweite Besuch Orlando di Lassos gegen Ende des Jahres 1581 121). Selbstverständlich war, daß man den berühmten Gast auch zu Versammlungen der musikalischen Gesellschaften einlud, wobei sich eine Begegnung Lassos mit seinem Schüler Lechner für beide Teile sehr erfreulich denken läßt. Melissus war mit Lasso schon seit langer Zeit bekannt. Natürlich versäumte er die Gelegenheit nicht, seinen verehrten Freund mit einer Lobeshymne zu bedenken, die nur leider nichts Konkretes über das Ereignis enthält122): Quantus apud Macedum reges Milerius ille Timotheus melicae claruit arte lyrae; Tantus apud Bavarum magnos illustria corda, Lasse, duces clares dulcibus harmoniis. Inde celebratas tua Fama volavit in aulas, Regibus exhilarans Caesaribusque animum. Non tarnen hi solum placita mulcedine gaudent: Transit ad cives consonor iste canor. Concentu vario mentes auresque fruuntur, Quas rapit ad Musas melle refertus amor. Vis quanta artifices, proceres apud ordinem et imum Auctor ubi in pretio est, est honore melosl

Handelte es sich bei diesen Beispielen um Gelegenheitsgedichte, zu denen sich jeweils der konkrete Anlaß rekonstruieren ließ, so kann die Menge aller übrigen erhaltenen Epigramme doch immerhin Aufschluß über spezielle Freund- und Gönnerschaftsverhältnisse zwischen Melissus und Mitgliedern der Musikgesellschaften wie des Patriziats geben. Man wird auch kaum fehl­ gehen, wenn man diese Freunde des Melissus zugleich auch für Lechners 120) Vgl. P. Schede, a.a.O. P. 116. 121) Vgl. Sandberger, a.a.O. S. XXVI f. 122) Vgl. P. Schede, a.a.O. p. 121. Vier weitere Gedichte an Lasso, darunter eine Elegie, verfaßte Melissus schon vor 1575 zu unbekannter Gelegenheit.

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Freunde und Gönner hält. Insgesamt lassen sich nach der hier oft zitierten zweiten Ausgabe der Schedeschen Poesien 28 Personen als Nürnberger Freunde ermitteln. Als spezielle Gönner kommen vor allem Sebald Welser I., dem Melissus, einschließlich der in einem privaten Sonderdruck enthaltenen Werke, 14 Gedichte widmete, und Joachim Pömer, der 12 Epigramme zu­ geeignet erhielt, in Frage. Lechner und Laurenz Dürnhofer als seinen nächsten Freunden widmete er je 5 Gedichte. Johann Molitor ist mit 4 Epigrammen, Paul Dulner, Michael Rauenpusch, Georg Palm als Mitglieder der Kränz­ leinsgesellschaft von 1568, sowie die Herren Hieronymus Paumgartner, Anton Geuder und Georg Volkamer sind mit je dreien vertreten. Auf Joachim Münsterer, Georg Paul Nützel und den Ratskonsulenten Christoph A. Julius sind je 2 Gedichte erhalten. Endlich hat Melissus Philipp und Julius Geuder, sowie Hieronymus Schürstab, Nicolaus Rottengatter, Christoph Fürer, Gabriel Scheurl, Christoph Herdesian, Wolfgang Stromer, Joh. Löffel­ holz, Barnabas Poemer, Karl Imhof und Stephan Neudorff er mit je einer Widmung bedacht. Zieht man nun in Betracht, daß die meisten Adressaten selbst Humanisten waren und als solche jedenfalls imstande, die erwiesene Höflichkeit in Versen zu erwidern m), dann hat man etwa einen Eindruck von dem Umfang der literarischen Produktion im Dienst humanistischer Freundschaft. Neben der Pflege lateinischer Gelegenheitspoesie, die Mitglieder aller drei Gesellschaften verband, lassen sich in diesen Kreisen auch Bemühung und Interesse für deutsche Verskunst, speziell für deutsche Lieddichtung, fest­ stellen. Als Ergebnis solcher Bemühungen kommen bereits einige Texte aus den ersten Liedsammlungen Lechners, den Villanellen und den madrigalischen Liedern von 1577, in Frage124), dann aber vor allem zahlreiche Texte aus Lechners neuer großer Liedsammlung von 1581, die durch ihre Widmung an den berühmten Goldschmied und Ratsverwandten Wenzel Jamnitzer und durch den in der Vorrede Lechners enthaltenen Hinweis auf die Herkunft der Texte in engsten Zusammenhang mit dem Wirken der musikalischen Kränzleinsgesellschaft von 1568 zu bringen sind. Auf Grund stilkritischer Textuntersuchungen sowie des in der Vorrede enthaltenen Hinweises, daß der Dichter der Texte wie Jamnitzer Goldschmied sei, ferner eines Widmungs­ gedichts des Melissus an den Goldschmied Paul Dulner, in welchem auf dessen dichterische Betätigung angespielt wird, und nicht zuletzt auf Grund der persönlichen Beziehungen zwischen Paul Dulner, Wenzel Jamnitzer und Lechner hat der Verfasser bereits den Nachweis der Autorschaft Paul Dulners an den zum Teil sehr bedeutenden deutschen Dichtungen aus Lechners neuer m) Dafür ist besonders ein Epigramm (a.a.O. P. 114) an Anton Geuder aufschlußreich Lediner selbst wußte dem Melissus auch in lat. Versen zu antworten, die er außerdem noch in Musik setzte. Vgl. die recht geistreichen Verse von Nr. VIII „Mellitissime quaeso mi Melisse..." aus dem zweiten Buch „Sacrarum cantionum“ von 1581. ln dieser Sammlung befinden sich übrigens noch weitere weltliche Motetten, die mit dem Kränzleinswesen in Zusammenhang zu bringen sind; vgl. Nrn. 17 u. 23. 124) Vgl. vom Verf.: Historische und stilkritische Studien zu Leonhard Lechners Strophen­ liedern, phil. Diss. Göttingen 1957, S. 66 u. 84.

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Liedsammlung von 1581 zu erbringen gesucht125). Fehlte dort noch als letztes Glied in der Beweiskette eine authentische Dichtung von Paul Dulner, so darf hier als solche mit gutem Recht eine Grabsteininschrift für Ursula Dulner, die Mutter des Dichters, eingesetzt werden126): A.D. 1585 den 18. April Geschach des Herren guter Will Daß die Erbar Christlich Fraw In Zuversicht und gut vertraw Im Herren ist Entschlaffen, Gott hats also geschaffen. Er wirdt sie widrumb Aufferwecken, Ihr Feil mit Christi Blut bedecken. Ursula Dullnerin war sie genandt, Gott hat sein Gnad zu Jr gewandt. Damit dürfte die Autorschaft Paul Dulners an den Texten der LechnerSammlung von 1581 nunmehr erwiesen sein. Eine Reihe dieser Texte setzt bei ihrem Dichter die Kenntnis italienischer Strophen- und Versformen vor­ aus. Nichts liegt näher als die Annahme, daß man in dem auch literarisch interessierten Freundeskreis im Zusammenhang mit musikalischen Fragen Probleme deutscher Sprache und Dichtung im Vergleich mit der modernen italienischen Verskunst diskutierte 127). Sowohl Paul Dulner wie auch Lechner werden dabei von der großen literarischen Erfahrung Paul Schedes gelernt haben; war doch Melissus vor den Dichtern Fischart, Lobwasser, Schwabe und Weckherlin der erste gewesen, der deutsche Worte in romanische Formen und Versmaße gebracht hatte128). Dulners Texte mit ihrer kraftvollen, aus­ druckshaften Sprachgestaltung und ihren von italienischem Einfluß zeugenden Formen, in ihrer Bindung an protestantisches Gemeindelied und älteres deut­ sches Gesellschaftslied lassen sich wirlich kaum anderswo als in dem be­ sonderen künstlerischen und geistigen Klima dieses Nürnberger Freundes­ kreises entstanden denken. Seit der Widmung des zweiten Motettenbandes an den Nürnberger Rat war Lechner nicht mehr darauf angewiesen, um die Gunst hochgestellter Nürnberger Persönlichkeiten zu werben. So konnte er die beiden letzten für Nürnberg bestimmten Werke in den Dienst seiner persönlichen Freundschaft zu dem Goldschmied und Dichter Paul Dulner stellen. Die oben erwähnte Sammlung „Newe Teutsche Lieder mit fünff und vier Stimmen . . .“ von 1581 widmete er zwar dem Goldschmied und Handwerker des kleineren Rates Wenzel Jamnitzer, jedoch spricht vieles dafür, daß Lechner damit vor allem seinem Freund Dulner, der dem Jamnitzer sehr verbunden war, einen Ge­ fallen tat129). 123) Vgl. AfMw, 11. Jg. 1954, S. 315 ff. Vgl. Trechsel, Verneuertes Gedächtnis des Nürnbergischen Johannis-Kirch-Hofs .. . Frank­ furt u. Leipzig 1735, p. 354 f. 127) Hierfür spricht auch das oben S. 210 f. wiedergegebene Gedicht des Melissus an Lechner. 128) ' Vgl O. Taubert, a.a.O. S. 2. 12°) Vgl. AfMw, 11. Jg. 1954, S. 319 f. 126)

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Stand Lechners letzte Nürnberger Liedsammlung schon wie alle früheren in engem Zusammenhang mit dem Kränzleinswesen und im Dienste der Freundschaft zu Paul Dulner, so tat Lechner im folgenden Jahr ein übriges, diese zweifache Bindung zu festigen. Am 21. September 1583 schloß Lechner seine Herausgebertätigkeit ab mit der Veröffentlichung des großen Sammel­ werks: „Harmoniae miscellae / Cantionum sacrarum, Ab Exquisitissimis Aetatis nostrae musicis . . .“ zu fünf und sechs Stimmen und widmete die Sammlung „praestanti et honesto viro, Domino Paulo Dulnero . . . affini, fautori et amico suo optimo“ aus Dankbarkeit und in Freundschaft. Es war das letzte Werk, das Lechner für Nürnberg zusammenstellte, wenngleich es nicht das letzte blieb, das in Zusammenhang mit dem Nürnberger Kränzleins­ wesen zu bringen ist. Etwa zur gleichen Zeit, während des Rektorats des Grafen Nikolaus von Ostrorog an der Altdorfer Akademie, findet sich im Matrikelbuch der Hoch­ schule unter den Namen anderer Studierender auch Leonhard Lechners Name und Stand eingetragen13°). Zur Erklärung dieses Sachverhalts gibt es nur drei Möglichkeiten: Lechner wollte in Altdorf ein vor seinem Nürnberger Amtsantritt begonnenes Studium abschließen, um in Nürnberg ein höheres, besser bezahltes Amt bekleiden zu können, oder aber er war in Altdorf als ordentlicher Musicus angestellt worden, in welchem Fall seine Eintragung insofern nicht außergewöhnlich wäre, als in den Matrikelbüchern auch sonst gelegentlich Namen von Angestellten (Tanz- und Fechtmeistern) zu finden sind. Für diese beiden Möglichkeiten spräche auch eine Huldigungskompo­ sition Lechners an den Rektor Nikolaus Graf von Ostrorog, deren DialogText wieder von Melissus stammt und in dessen Poesiensammlung Aufnahme gefunden hat181), während Lechners achtstimmige Vertonung als verloren anzusehen ist. Als dritte Möglichkeit wäre immerhin denkbar, daß sich Lechner, der noch immer nicht das Bürgerrecht in Nürnberg hatte, vor seiner Reise nach Heching;en, die er auf Einladung des Grafen Eitelfriedrich von Hohenzollern durch Vermittlung des gräflichen Rates Johann Drezel im Herbst 1583 unternahm, wenigstens für alle Fälle unter den Rechtsschutz der Altdorfer Akademie stellen wollte 132). Bemühungen, Lechner mit verlockenden Angeboten anderweitig zu ver­ pflichten, reichen bekanntlich schon in das Jahr 1577 zurück133). Der Rat der Stadt hatte seitdem mit Gehaltsaufbesserung und Titelverleihung alles getan, was in seinen Kräften stand, um Lechner in Nürnberg zu halten. Zieht man aber in Betracht, daß damals Kapellmeister in höfischen Diensten ein Mehrfaches an Gehalt bezogen, als die Nürnberger üblicherweise Lechner bieten konnten, dann wird klar, daß es sicher nicht so sehr die Gehalts­ aufbesserung (seit 1577 bezog L. jährlich 90 fl.) und Titelverleihung war, 130) Vgl. Die Matrikel der Universität Altdorf (1575—1809), hrsg. von Elias von Stein­ meyer. Würzburg 1912. 131> Vgl. P. Schede, a.a.O. P. 152. J32) Ygj Lechners Vorwort zur Messenausgabe von 15 84. S. das Vorwort zur Ausg. der Altdorfer Matrikel. i33y ygj Sandberger, a.a.O. S. XXIII.

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die den Komponisten noch zum Bleiben veranlaß ten; vielmehr werden es vor allem persönliche Bindungen und besonders die Musikgesellschaften gewesen sein, die ihn trotz der bescheidenen materiellen Verhältnisse in Nürnberg hielten — denn wo wären ihm sonst neben vielseitiger musikalischer Betäti­ gung so bedeutende literarische und theologische Anregungen geboten worden? Nach seinem Besuch bei dem Grafen von Hohenzollem aber, wo ihm höfischer Glanz und fürstliche Gunst und Freigebigkeit in hellstem Licht erschienen waren, mußte Lechners noch im Vorwort des zweiten Motetten­ bandes geäußerter Entschluß, für immer in Nürnberg zu bleiben, ins Wanken geraten134). Es würde ein übergroßes Maß an Selbstverleugnung gekostet haben, hätte Lechner als aufstrebender junger Musiker auf das höchste erreichbare Ziel der Musikerlaufbahn, Hofkapellmeister zu werden, verzichtet. Gleich nach seiner Rückkehr von der Reise nach Hechingen bereitete Lechner den Druck seines Gegengeschenkes für den Hohenzollerngrafen vor, eines Bandes mit drei fünf- und sechsstimmigen Messen und zehn IntroitusKompositionen 135). Er konnte dabei wohl in der Hauptsache auf Werke zurückgreifen, die er seit etwa 1580 für Nürnberger Festgottesdienste ge­ schrieben hatte, so z. B. auf die erste sechsstimmige Messe, die zur Hochzeits­ feier Sebald Welsers auf geführt worden war136). Melissus übernahm es, dem im Januar 1584 fertiggestellten Werk eine Huldigungsode an Eitelfriedrich von Hohenzollem beizufügen, in der er die Familie und den musischen Sinn des Grafen preist137). Melissus wird auch einer der wenigen von Lechners Nürnberger Freunden gewesen sein, die dem jungen Komponisten rieten, die offenbar bald nach der Widmung erfolgte Berufung an den Hechinger Hof anzunehmen. Viele Gründe ließen sich anführen, warum die Nürnberger Lechner nur sehr ungern aus ihrer Stadt fortließen. Seit den Tagen Konrad Paumanns hatte man noch keinen so bedeutenden Musiker wie Lechner wieder in Diensten gehabt. Bei der hoffeindlichen Einstellung und der stolzen Liebe zur alten reichsstädtischen Ordnung mußte man es bitter empfinden, daß man gerade im Rahmen dieser Ordnung einem Künstler, den man gern in seinem Dienst behalten hätte, nicht die sozialen und materiellen Möglich­ keiten bieten konnte, die ihm an den immer mächtiger und glänzender sich entfaltenden Fürstenhöfen zur Verfügung standen. Man war zu stolz auf die im Rahmen der selbstgewählten bürgerlichen Ordnung gebotene Bescheidung, als daß man für Andersdenkende viel Verständnis hätte aufbringen können. Diese Einstellung kommt auch in den verifizierten Lebens- und Regierungs• 134) Dort schrieb Lechner noch (hier übers.): «Für meine Person, ihr Herren Senatoren, steht es nun fest, in Eurer Stadt meine Bleibe gefunden zu haben . . . ich habe es mir über­ legt; trotz der vielen Versprechungen der Freunde im Hinblick auf die gute Besoldung kann mich nichts dazu verleiten, Eurer Stadt den Rücken zu kehren.“ 135) „Liber Missarum sex et quinque vocum. Autore Leonardo Lechnero Athesino. Adjunctis aliquot Introitibus in praecipua festa . . . JSForimb. 1584.“ i3ö). Vgl. Schreiber, Die Kirchenmusik des Kapellmeisters L. Lechner Athesinus. Regens­ burg 1935, S. 72 f. 137) Vgl. P. Schede, a.a.O. Pr. pars, p. 126; s. a. M. Schreiber, a.a.O. 1932, S. 65.

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maximen des späteren Ratsherrn Georg Volckamer (siehe oben S. 216) zum Ausdruck138): Kirchen und Schulen halt rein / Mit grossen Herren laß dich nicht ein / Das Bürgerrecht mach nicht zu gemein / Stell überflüssig Ausgab ein / Bindnus vermeid / erhalt das dein / Such gemeinen Nutz und nicht den dein / So wird dir wol gerathen seyn.

Daher wird auch verständlich, daß man Lechners Ersuchen um das Bürger­ recht solange nidit nachkommen wollte, bis er nach Nürnberg zurückgekehrt sei139). Erschwerend mußte für Lechners Abschied ins Gewicht fallen, daß er nicht nur an einen katholischen Hof ging, sondern noch dazu an einen Hohenzollernhof; hatten doch seit dem zweiten markgräflichen Krieg die kleinen Fehden und Schikanen, denen Nürnberg von Seiten der benachbarten brandenburgisch-hohenzollemschen Markgrafen ausgesetzt war, niemals wirk­ lich aufgehört 14°). Es gab also Grund genug für die Nürnberger, Lechners Wegzug, der etwa im Juni 1584 erfolgte141), zu mißbilligen. Die Nürnberger Herren wußten persönliche und öffentliche Belange wohl voneinander zu trennen; da man politische Erwägungen aber selbstverständlich persönlichen voranstellte, wird Lechners so glückliche und erfolgreiche Nürnberger Zeit doch wohl nicht ohne Mißklang geendet haben. Die Tatsache, daß man Lechner ein Jahr später in seinem unseligen Streit mit dem Hohenzollerngrafen so gänzlich fallen ließ, wäre ebenfalls damit, wie überhaupt aus der überaus vorsichtigen politischen Haltung des Rats, zu erklären 142). Die Wert138> Vgl. bei Paul Freher, Theatrum virorum eruditione clarorum. Nürnberg 168 8. i39) Vgi Ratsverlaß vom 17. Juni 1584; s. Sandberger, a.a.O. S. XXIII. 14°) Vgl. E. Reicke, a.a.O. S. 891 u. 928 ff. An den damals regierenden Markgrafen Georg wandte sich dann auch der beleidigte Graf Eitelfriedrich, um Lechners Bewerbung in Dresden zu hintertreiben, Vgl. O. Kade, L. Lechner und sein Streit mit dem Grafen Eitelfriedrich v. Hohenzollern. MfM, Jg. 1, 1869, S. 194. 141) Vgl. Sandberger, a.a.O. S. XXIII. Lechners Gesuch um das Bürgerrecht läßt vermuten, daß er von vornherein nur an einen kürzer befristeten Aufenthalt in Hechingen dachte. 142) Über die Ursache von Lechners Streit mit dem Grafen Eitelfriedrich kamen O. Kade (a.a.O. S. 184 f.) und M. Schreiber (a.a.O. S. 28) zu falschen Vermutungen, weil sie davon ausgingen, daß Lechner damals noch katholisch war. Lechners abrupter Fortzug erscheint jedoch in ganz anderem Licht, faßt man einmal die konfessionelle Entwicklung am Hechinger Hof ins Auge, die für einen eifrigen Protestanten auf längere Zeit un­ tragbar sein mußte. Als solcher aber war Lechner an den katholischen Hof gekommen. In das Jahr 1584 fiel nun der unglückliche Reformationsversuch des Erzbischofs Gebhard Truchseß von Köln, der auch das dem Erzbischof verschwägerte gräfliche Haus Hohenzollem betraf. Dieses Ereignis entfachte den religiösen Eifer des Grafen Eitelfriedrich in höchstem Maße. In einem Stiftungsbrief des Grafen ist noch in demselben Jahr 15 84 von „verführerischen, verdampten Ketzereyen alß Luterisdien, Calvinischen, Zwinglischen und dergleichen mehr abergläubischen Religions-Secten“ als „hochschädlichen Seelenmörderischen und verdambten Werkh. die Rede, „das ... in etlichen dieser Grafschaft Hohenzollern ahnwonnenden orthen häufflich überhandtgenohmen . . . Derowegen disem hochschädlichen Irrseligen Uebl, sovihl an Unnß, mit fürträglichen, auch hierzu dienstlichen Mitlen zu begegnen . . .“. (Die Urkunde befindet sich im städtischen Archiv zu Hechingen. Vgl. dazu Peter Manns, Gesch. d. Grafschaft Hohenzollern im 15. und 16. Jh. Hechingen 1897, S. 229 ff.). Daß Lechner unter diesen Umständen alles

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Schätzung Lechners als Komponist dürfte jedoch von der Affäre in keiner Weise berührt worden sein; so finden sich z. B. in einem 428 Titel um­ fassenden Bibliothekskatalog im Nachlaßinventar seines Nürnberger Gönners Sebald Welser I. vom 25. Juli 1591 u. a. noch Lechners Bußpsalmen von 1587 verzeichnet. Es ist ganz sicher kein Zufall, daß zur gleichen Zeit mit Lechner auch Melissus die Stadt verließ, in der er fast vier Jahre Gast gewesen war; auch wird man Hans Leo Häßlers Fortzug mit Lechners Abschied in Verbindung bringen können143). So wurden die musikalischen Kränzchen von einem doppelten Verlust betroffen. Ob es in den Gesellschaften wegen Lechners Fortgang zu Mißstimmigkeiten kam, läßt sich nur vermuten. Möglicherweise ist ein Gedicht des Melissus, das sehr neutral „Gegen den Mutwillen unseres Jahrhunderts“ betitelt ist und etwa aus dieser Zeit stammt, in solchem Sinne zu deuten144): Quid graculi, quid noctuae, Quid milvii, quid voltures Inconditis clamoribus Obstrepitis Philomelae? Cantandi Philomela perita Vos graculos et noctuas, Vos milvios et voltures Suavissimis concentibus Hactenus ut superavit, Sic et post mihi vos superabit. Hoc cygnus oscen auguror, Ales Melissi candidus, Idemque Phoebi proprius. Si nigra pectora Phoebus Odit, an haec amet ipse Melissus?

Wie dem auch sei, so bewahrten doch manche Nürnberger Freunde Lechner in seinem Unglück die Treue; hatte er sich auch darin getäuscht, daß der Rat in dem Streit sich seiner annehmen würde, so wußte er doch Frau und Kind fürs erste bei Nürnberger Freunden gut aufgehoben. Überdies gibt es andere Anhaltspunkte dafür, daß Lechner auch nach seinem Fortgang aus Nürnberg und nach seiner neuen Bestallung am Württembergischen Hof nicht alle Brücken zu der Reichsstadt abgebrochen hatte. Er ließ nicht nur alle Drucke späterer Werke weiter von der Gerlachschen Offizin in Nürnberg besorgen, sondern auch zahlreiche Texte seiner späteren und letzten deut­ schen Lieder weisen immer wieder auf Nürnberg als Entstehungsort zurück. daransetzen mußte, um möglichst bald wieder von Hechingen loszukommen, dürfte außer Frage stehen. Neuerlich kommt auch K. Ameln zu denselben Schlüssen. Vgl. seinen Vortrag „L. Lechner“ zum IX. Heinrich-Schütz-Fest in Dresden vom 14. Juni 1956 in „Musik u. Kirche“, 26. Jg., 1956, Heft 5, S. 227 f. l4S) Vgl Sandberger, a.a.O. S. XXIV, XLIII, XLIV, LXXVI. Für eine Verbindung zwischen Lechner und Häßler sprechen auch lechnersche Einflüsse in Häßlers Motettenschaffen. Vgl. Joseph Neises, Studien zur Gesch. der dtsch. Motette des XVI. Jh. Diss. Köln 1927, 2. Teil, S. 54. 144) Vgl. P. Schede, a.a.O. p. 114.

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So stammen zweifellos jene „. .über die hundert schöner lustiger weltlicher Teutscher text“, von denen Lechner 30 in seiner Canzonensammlung 1586 und 1588 komponierte, aus Nürnberg145). «Einer der Music sonderer liebhaber unnd verstendiger“ hatte sie „vor etlich wenig zeit“, wie Lechner im Vorwort 1586 schreibt, „selbs neu gesetzt“ und „zu Componiren heim­ gestellt“. Es muß dies kurz vor seinem Fortgang von Nürnberg oder im Frühjahr 1586 gewesen sein, als Lechner seine Familie von dort nach Stutt­ gart holte146). Man wird nicht fehlgehen, wenn man Paul Dulner für den Autor, Bearbeiter und Sammler dieser Texte ansieht, womit dann noch ein­ mal die Verbindung zur musikalischen Kränzleinsgesellschaft von 1568 ge­ geben ist. Wie lange diese Gesellschaften noch nach Lechners Abschied bestanden, ist nur zu vermuten. Sehr wahrscheinlich kam alle musikalische Geselligkeit für längere Zeit im Jahre 158 5 zum Erliegen, als eine der schwersten Seuchen in Nürnberg ausbrach, der 5400 Personen (etwa jeder achte Einwohner der Stadt) zum Opfer fielen 147). Aus diesem Jahr stammen auch die letzten Ein­ tragungen im Manuskript der Kränzleinsgesellschaft. J. Picartus starb 1584, M. Rauenpusch und der Arzt J. Richthauser erlagen der Pest, Dr. Fror ging noch im gleichen Jahr als Kanzler an den Hof des Pfalzgrafen Johann Kasimir. In der Ratsgesellschaft sah es nicht besser aus: Johann Neudorff er, Philipp Geuder und Hans Pfintzing waren bereits 1581 und 1582 gestorben; Niclas Nützel und Jobst Lochner starben 158 5 an der Pest. Ob die Mitglieder dieser Kränzchen nach dem Verebben der Seuche noch die Initiative hatten, ihre Zusammenkünfte wieder aufzunehmen, erscheint sehr fraglich. Anders steht es mit der jüngeren, von Lechner mitgegründeten Gesellschaft. Sie hatte nur einen Verlustt, den Tod Johann Unterholtzers, zu beklagen. Auch sie wird sich angesichts der drohenden Ansteckungsgefahr aufgelöst haben. Es taten sich jedoch 1588 einige der früheren Mitglieder, Johann Nützel, Gabriel Scheurl, Nicolaus Rotengatter und Georg Volckamer mit sieben anderen Herren, Paul Behaim, Johann Kuhn, Wilhelm Imhof, Wolf Harsdorfer, Chri­ stoph Taig, Andreas Gugel und Jorg Has zusammen und begründeten eine neue musikalische Gesellschaft, die somit als direkte Nachfolgerin jener von Lechner mitgegründeten anzusehen ist148). Die von Willibald Nagel im Auszug veröffentlichten Protokolle dieser Gesellschaft und ihrer Nachfolgerin sind bis zum Jahr 1629 geführt. Sie sind ergiebiger als die Kränzleins­ ordnung von 1568 und konnten im Einzelfall auch zu Rückschlüssen auf die Kränzleinspraxis der Lechnerzeit dienen. 145) VgL vom Verf. a>a>o. S. 108 ff. 148) Vgl. C. Bossert in „Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte“. Stuttgart 1900, S. 261; s. a. M. Schreiber, a.a.O. S. 31. 147> Vgl. E. Reicke, a.a.O. S. 954. 148) Vgl. Willibald Nagel, Die Nürnberger Musikgesellschaft. MfM, Jg. 27, 1895, S. 1 ff. Nagel hat das in der Hs. leicht zu verwechselnde G des öfteren als B gelesen, was Sandberger dann übernahm (vgl. a.a.O. S. XXXVIII). So muß es bei Nagel S. 3 nicht B., sondern G. = Georg Volkhaimer, nicht B., sondern G. = Gabriel Scheuer! und nicht Bugei, sondern Gugel heißen.

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Die hier behandelte Zeit begrenzt nur den ersten, aber wohl frucht­ barsten Abschnitt in der Geschichte der Nürnberger Musikgesellschaften. Von dem Freundeskreis des Eoban Hesse (um 1528) bis zur einstweiligen Auflösung aller Gesellschaften im Jahre 158 5 konnte die musikhistorisch bedeutsame Tradition privater geselliger Musikpflege in Nürnberg verfolgt werden. Im Rahmen dieser Entwicklung stellten sich nach den zu ermitteln­ den Quellen die Jahre von 1568 bis 1585 als eine Zeit des größten Auf­ schwunges für das Kränzleinswesen heraus, was auch durch die allgemeinen historischen Bedingungen bestätigt wird; handelt es sich doch um die Jahre zwischen den großen Seuchen von 1563 und 158 5, in denen Nürnberg auch von Kriegen verschont blieb. Konnten die Nürnberger in diesen Jahren wieder den Anschluß an die musikalische Entwicklung der süddeutschen Höfe ge­ winnen, so ist dies vor allem dem Komponisten Leonhard Lechner als Ver­ treter des neuen, wortgezeugten, affektbetonten musikalischen Stils wie auch der Hilfe seines erfahrenen Freundes Paul Schede zu danken; andererseits fand der Komponist erst in den Musikgesellschaften die Möglichkeiten zur vollen Ausbildung seiner Künstlerpersönlichkeit. Ein reiches musikalisches Oeuvre, zumal das gesamte Liedschaffen Lechners bezeugt dieses überaus fruchtbare wechselseitige Verhältnis. Es ging ferner darum, Einblicke in die exklusive soziale Struktur dieser bürgerlich-patrizischen Kapellen zu ge­ winnen und die Bedeutung ihres Mäzenatentums für die materielle Existenz des städtischen Musikers festzustellen. Ohne Frage wird es ähnliche Formen privater Musikpflege und musikalischer Geselligkeit auch andernorts in der gebildeten bürgerlichen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts gegeben haben; sie haben sich jedoch bisher nirgendwo früher und zugleich konkreter als gerade in Nürnberg nachweisen lassen.

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EIN FRANZÖSISCHER REISEBERICHT ÜBER NÜRNBERG UND FRANKEN VOM AUSGEHENDEN 16. JAHRHUNDERT

Von Hermann Kellenbenz

I Rudolf Stadelmann hat in seiner Darstellung des deutschen Volkes am Ende des Mittelalters*) darauf hingewiesen, wie wertvoll Reiseschilderungen sind, die von Ausländern mit Menschen- und Völkererfahrung stammen. Ihnen, meint er, bietet sich ein Volk am geschlossensten dar. Sie sind, so möchten wir hinzufügen, bei ihrer Urteilsbildung unbefangen und sehen aus dem Erlebnis des Gegensatzes zu ihrem eigenen Volk manches besonders scharf. Allerdings kommt es auch darauf an, wie lange ihnen Gelegenheit geboten ist, ihre Beobachtungen zu machen. Ein kurzes Verweilen an einem Ort ermöglicht oft nur recht flüchtige, unscharfe Eindrücke, die zu falschen Schlüssen führen können. Stadelmann hat für seine Schilderung der deutschen Verhältnisse die Be­ obachtungen von Machiavelli, Antonio de Beatis und Montaigne herange­ zogen. Machiavelli reiste 1508 als Begleiter des florentinischen Gesandten Vettori nach dem Hof Kaiser Maximilians. Montaigne kam 1580 über die Vogesen nach Oberdeutschland. Keiner von beiden hat auf seiner Reise Fran­ ken erreicht. Der Italiener sah nur die Schweiz und Tirol*2), der Franzose reiste von Basel über Konstanz, Lindau, Wangen, Kempten und Landsberg nach Augsburg, um sich dann über den Brenner nach Italien zu begeben 3). Was wohl der Franzose aus dem Bergerac für Eindrücke mitgenommen hätte, wenn er Nürnberg besucht hätte; er, der geistreiche und gebildete Beobachter? Glücklicherweise gibt es andere Reiseschilderungen aus dem *) Rudolf Stadelmann, Das Zeitalter der Reformation. Bearbeitet von Eberhard Naujoks, in: Handbuch der Deutschen Geschichte, neu herausgeg. von Leo Just, II, S. 5. 2) Vgl. Riitratti delle cose deirAlamiagna, in Niccolo Machiavelli, II Principe et altri Scritti Minori. A Cura di Michele Scherillo, 2ia ed. (Milano 1924), S. 3-6-6'. 3) Vgl. Michel de Montaigne, Die Essais und das Reisetagebuch. In den Hauptteilen herausgegeben und verdeutscht von Paul Sakman (Stuttgart 1948), S. 51 ff.

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16. Jahrhundert, in denen auch die Stadt an der Pegnitz gewürdigt wird. Da war Antonio de Beatis, der Sekretär des Kardinals Luigi d’Aragona, der seinen Herrn im Jahre 1517 auf einer Reise in die Niederlande begleitete4). Von Augsburg her kamen sie nach Nürnberg und reisten dann durch Schwaben weiter an den Rhein. Ähnlich wie Augsburg so schilderte der Sekretär auch Nürnberg verhält­ nismäßig eingehend. Er erwähnte die Lage der Stadt in einer Ebene, zum Teil aut Hügeln. Er verwies auf die Kirchen, Straßen, Häuser und Plätze Nürnbergs, würdigte die Hallerwiese, die Reichskleinodien und Reliquien. Die zahlreichen Kunstdenkmäler wurden wohl etwas summarisch abgetan, nur des „Schönen Brunnen“ mit seinen Skulpturen und seinem „aus mehr als 30 Röhren hervorsprühenden Wasser“ wurde besonders gedacht. Auch sonst, fährt der Sekretär fort, habe die Stadt viele Brunnen, die jedoch nicht so schön seien wie dieser. Starke Beachtung findet die Wehrhaftigkeit der Stadt. Nürnberg besitzt eine treffliche Artillerie, wenn sie auch nicht so zahlreich ist wie die in Innsbruck und Trient. Die Straßen können mit großen und starken Ketten abgesperrt werden. Dann gibt es Vorratshäuser. Da ist ein langes und großes Lagerhaus, das nur Kohlen enthält, damit im Fall einer Belagerung aus Mangel an Brennmaterial die Eisenarbeiten nicht eingestellt werden müssen. Außerdem besitzt die Stadt 18 Magazine, die mit Nahrungs­ mitteln wie Hafer und Roggen angefüllt sind. Eines der Magazine besichtigte der Kardinal, dabei wurde ihm Roggen gezeigt, der mehr als hundert Jahre alt war. Schließlich machte der Sekretär noch einige bemerkenswerte Beobach­ tungen über das Gewerbeleben der Stadt. In Nürnberg, so berichtet de Beatis, wohnt eine große Zahl von Kaufleuten aller Nationen. Es fehlt zwar ein gro­ ßer Strom, aber es fließt ein Wasser mitten durch die Stadt, das viele Mühlen treibt, in denen mit Hilfe von Wasserrädern in nicht zu zählender Menge grobe und feine Metalldrähte hergestellt werden. Endlich erwähnt der Sekre­ tär noch, daß in Nürnberg ein ausgedehnter Handel getrieben wird mit Fellen von weißen Füchsen und Luchsen, mit Hermelin und Zobel, die von Rußland und vom nördlichen Ozean kommen. Dreißig Jahre später hat ein anderer Italiener Nürnberg geschildert, wie­ derum ein Mann in Sekretärsstellung, der als Geschichtsschreiber bekannte Girolamo Faleti5). In den Diensten von Francesco d’Este stehend, hatte er Gelegenheit, die Stadt kennenzulernen, als Karl V. auf seinem Zug an die Elbe gegen den Kurfürsten von Sachsen Ende März 1547 sich eine Woche lang an der Pegnitz aufhielt. Starken Eindruck machte auf den Italiener die Umgebung Nürnbergs, die an und für sich sandig, durch ein klug ersonnenes Bewässerungssystem in fruchtbares Acker- und Gartenland verwandelt worden sei. Durch Geschicklichkeit und Erfindergeist, meinte Faleti, beschaffen sich 4) Die Reise des Kardinals Luigi d'Aragona durch Deutschland, die Niederlande, Frank­ reich und Oberitalien, 1517/1518, beschrieben von Antonio de Beatis. Als Beitrag zur Kulturgeschichte des ausgehenden Mittelalters veröffentlicht und erläutert von Ludwig Pastor (Freiburg/Br. 1905). 5) Vgl. W. Friedensburg, Nürnberg im Jahre 1547. Ein Bericht Girolamo Faletis, in Mitt. d. Ver. f. Geschichte d. Stadt Nürnberg 15 (1902), S. 195 ff. 15*

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die Bewohner der Stadt so, was ihnen von der Natur versagt ist. Dann hebt Faleti den Anteil der vielen Fremden hervor, die sich in Nürnberg aufhalten. Insbesondere sind es die Florentiner, die sich mit Fleiß und Ausdauer dem Handel widmen. Auch Faleti ist beeindruckt von den Mühlen, die am Laufe der Pegnitz stehen, um Getreide zu mahlen, Holz zu sägen, Tücher zu walken und Eisenplatten zu zerschneiden und zu walzen. Auf der von der Pegnitz umflossenen und von Tannen bestandenen Insel Schütt befinden sich zahl­ reiche Häuser von Handwerkern des Textilgewerbes und zahlreiche Schmiede, ein äußerst geschicktes Volk, das einen guten Teil zum Reichtum dieser Stadt beiträgt. Bemerkenswert findet der Sekretär auch die Großzügigkeit, die die Stadt fremden Handwerkern gegenüber erweist, was aber nur geschieht, um die Kenntnisse und Fähigkeiten dieser Leute auszunützen. Und wieder wird uns das Bild einer Stadt mit gefüllten Zeughäusern und wohlversehenen Spei­ chern gezeichnet. Der Blick Faletis verweilt schließlich noch beim „Schönen Brunnen“, bei der Frauenkirche mit ihrem kunstvollen Uhrwerk, der Sebalduskirche, dem Burgberg und zwei kleineren Erhebungen außerhalb der Stadt, von denen die eine trefflichen Sandstein liefert, den man meist für die schö­ nen Paläste verwendet, die laufend errichtet werden. II Wir hatten das Glück, im letzten Band der Mitteilungen die umfangreiche Beschreibung Nürnbergs kennenzulernen, die der Engländer William Smith 1594 verfaßt hat6). Smith kam in jenen Jahren nach Nürnberg, als die in Ant­ werpen lebenden Engländer infolge des niederländischen Aufstandes Schwie­ rigkeiten hatten und mancher englische Tuchbereiter nach Nürnberg zog. Er verheiratete sich mit einer Nürnbergerin und lebte über ein Jahrzehnt, bis 1591, hier. Im Hauptberuf war er zwar Tuchhändler, aber seine Liebhaberei galt den Familienwappen, den Stammbäumen und der Geschichte. Smith be­ klagte, daß er nicht ausführlicher schreiben konnte, weil die mißtrauischen Ratsherrn es nicht gern sahen, daß die Welt draußen so viele Einzelheiten über ihre Stadt erfuhr. Er unterließ deshalb eine eingehendere Schilderung der Stadt und ihrer Umgebung und widmete sich mehr den Sitten und Gebräuchen ihrer Bewohner, ihrer Verfassung und den Inhabern der städtischen Ämter. Freuen wir uns auch über den Fleiß und die Gewissenhaftigkeit, mit denen er all diese Dinge behandelt, so bedauern wir es um so mehr, daß er nicht ausführlich von den 68 Mühlen schreibt, die damals innerhalb der Stadt vom Wasser der Pegnitz getrieben wurden, sowie von der außerhalb der Stadt gelegenen Papiermühle. Es ist ein glücklicher Zufall, daß wir eben jetzt mit der Schilderung Nürn­ bergs durch einen Franzosen bekannt werden, die aus der selben Zeit stammt, ®) William Smith: A Description of the Cittie of Noremberg (Beschreibung der Reichs­ stadt) 15 9v/34. Das Gebäude befand sich in der Karlsstraße 1. 1592 war Hanns Homauer Wirt zum „Pitterholt“, 1597 wird Matthes Sperber, gewesener Wirt zum „Pitterholdt“, erwähnt Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Archivdirektor Prof. Dr. G. Pfeiffer vom Stadtarchiv Nürnberg. 22) Gemeint ist die „Lange Brücke“ am Säumarkt, vom Volksmund offenbar auch „Säubrücke“ genannt.

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vius spricht in seiner Europa2S) davon 24) ziemlich ausführlich und sagt, daß die Stadt nicht sehr alt ist, was man wohl verstehen kann. Der kleine Fluß Pegnitz durchfließt die Stadt, er bildet mehrere Kanäle, veranlaßte den Bau vieler Brücken und treibt etwa 66 Mühlenräder. Der Markgraf von Brandenburg nennt sich Vicomte 25) von Nürnberg und behauptet, daß das Schloß, das wir oben erwähnten, ihm gehört. Seine Vor­ fahren haben gegen diese Stadt große Kriege geführt, und einer von ihnen belagerte sie etwa 60 Jahre lang26), aber vergeblich. Zum Zeichen ihres er­ folgreichen Widerstands ließen die Nürnberger über den Mauern vier dicke Türme errichten, die sie Humpen nannten, um damit auf des Markgrafen Wohl zu trinken; sie sind hinreichend mit schönen Feldschlangen und ande­ ren Waffen versehen. Zu ihren Füßen und in allen Gräben der Stadt sieht man eine Anzahl Hirsche und Hindinnen, die das ganze Jahr über Junge wer­ fen. Es steht fest, daß diese Stadt früher Herzog Albrecht von Franken ge­ hört hat, aber sie wurde nach seinem Tod unter Ludwig III.27) ans Reich ge­ bracht, der sie erweiterte und mit Mauern umgab. Unter Karl IV. schuf man die schönen und tiefen Gräben, die man jetzt noch sieht. Die Republik der Herren von Nürnberg erstreckt sich in einer Richtung 12 Meilen in die Länge und besitzt vier oder fünf Städte und mehrere Dörfer, die sie den Pfalzgrafen weggenommen hat, die einst von Kaiser Friedrich28) geächtet worden waren. Diese Republik allein zahlt für den Türkenkrieg ebensoviel wie der größte Fürst des Reichs29). Während meines Aufenthalts an besagtem Ort begab ich mich zur Frau Kurfürstin30) nach der Stadt Neumarkt in der Oberpfalz (Neuagoras latei­ nisch), um ihr ein Paket der Fürstin von Oranien zu überbringen. Dort sah ich den Herrn Kurfürsten von der Pfalz, den ersten Fürsten des Reiches, in der Gesellschaft mehrerer Herren und Fürsten, die zu Besuch gekommen waren, so den Markgrafen von Ansbach, den Landgrafen von Leuchtenberg, die Grafen von Oldenburg, von Hohenlohe31), von Mansfeld und einige andere. Ich begrüßte auch Herrn Ancel32), den Gesandten von Frankreich, 23) Enea Silvio de Piccolomini, der spätere Papst Pius II, 1405—1564. Über seine „Europa“ und seine „Germania“ vgl. etwa Pastor, a.a.O. S. 21 f. 24) Gemeint ist natürlich die ganze Stadt Nürnberg. 2r>) Vicomte, ursprünglich Vizegraf, wohl deshalb, weil es im Französischen keine bessere Wiedergabe für „Burggraf“ gibt. 26) Gemeint ist Markgraf Albrecht Alcibiades (1527—1557). 27) Gemeint ist Ludwig der Bayer (1282 [1341] — 1347). 28) Offenkundig eine Verwechselung. Im Landshuter Erbfolgekrieg ächtete Kg. Maximilian I. den Pfalzgrafen Ruprecht. 29) Gemeint ist Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz (1574—1610). 30) Gemeint ist die Kurfürstin von der Pfalz. 31) Ein Angehöriger der niedersächsischen Familien von Hol'Ie oder von Halle scheidet wohl aus. 82) Ancel, Guillaume, Gesandter Heinrichs III. und Heinrichs IV. von Frankreich in Deutsch­ land, von 1576—1612. Nach dem Bündnis Heinrichs IV. mit Elisabeth von England (1596) hatte Ancel den Auftrag, die deutschen protestantischen Fürsten und Städte zum Anschluß an dieses Bündnis zu bewegen. Ancel begann seine Mission damit, daß er den Kurfürsten von der Pfalz aufsuchte. Vgl. Dictionnaire de Biographie Fran^aise II, Paris 1936, Sp. 783 f.

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den ich dort traf, und nachher, als ich wieder in Nürnberg war, wohnten wir sechs Tage zusammen im selben Quartier. Nachdem ich mich drei Tage am Hof des Herrn Kurfürsten auf gehalten hatte, kam ich durch ein sehr bergiges und mit Buschwerk bestandenes Land nach der Stadt Altdorf, einer kleinen Stadt, drei Meilen entfernt, wo die Her­ ren von Nürnberg seit 24 Jahren eine schöne Akademie und in allen Fakul­ täten sehr gelehrte Männer berufen haben. Die Stadt ist sehr klein, aber dafür ist sie sehr hübsch; wenn man sich in ihrer Mitte befindet, kann man leicht die zwei Tore sehen. Das Kollegiengebäude ist hübsch gebaut, und in der Mitte des Hofes befindet sich ein sehr schöner und großer runder Brunnen. Es gibt dort keinen Hörsaal, der nicht einen schönen Ofen hat und sehr gut mit schön gearbeiteten und bemalten Sesseln und Bänken gleicher Art geschmückt ist. Die Stipendiaten der Herren (von Nürnberg) wohnen mit eini­ gen Professoren in diesem Kollegium. Es gibt an dieser kleinen Akademie drei ausgezeichnete Professoren der Rechte, nämlich Scipio Gentilis3S), der mir die handgeschriebenen Bücher des verstorbenen Herrn Donellus34) zeigte, Konrad „Risterhussius“ 35) und Wesembechius36), den Neffen von Matthäus, der die Paratiteles gemacht hat37). Sie haben auch an scharfsinnigen Philosophen Ph. Scherbius38) und Nie. Torellus39), und als Mathematiker Praetorius40) sowie in der Eloquenz Georg Clatianus41). Um eine Gesellschaft von Kaufleuten zu erwarten, die sich nach Thüringen und Meißen begeben wollte, kehrte ich von Altdorf nach Nürnberg zurück, das drei kleine Meilen entfernt ist, und das auf einem Weg, der so gerade ist wie eine Linie zwischen großen sandigen Kiefernwäldern, an denen dieses Land so reich ist. Diese Republik steht unter allen Europas im Rang nach Venedig und hat sich noch nie in einem so blühenden Zustand befunden wie jetzt. Und was besonders zu ihrem Ruhm beiträgt, ist der Umstand, daß sie keine Gemeinde aus niederem und gemeinem Volk darstellt, sondern nur aus Personen, denen die Erfahrung und lange Reisen in ferne Länder die Kenntnis der schönsten Geschäfte der Welt verschafft hat und die sich fast alle den schönsten und nützlichsten Wissenschaften gewidmet haben und widmen. Sie 33) Scipio Gentilis, geb. 156*3 in Castello di Sangenesio in der Mark Ancona, wurde 1590 Professor Juris in Altdorf und Konsulent der Stadt Nürnberg, gest. 1616, vgl. Ch. G. Joecher, Allgemeines Gelehrten-Lexikon II, Leipzig 1750, Sp. 924. 34) Donellus = Hugues Doneau (1527—169'5), vgl. Chatenay, a.a.O., S. 106. 33) Gemeint ist Conrad Rittershusius, geb. Braunschweig 1560, 1591 Doctor Juris in Basel, anschließend Professor Juris in Altdorf, gest. 16*13, Joecher III, Sp. 2116. S6) Wesembechius, Petrus, d. J., geb. Antwerpen 1546, gest. 1603 als Hofrat in Coburg, Joecher IV, Sp. 1909. 37) Paratiteles: Matthäus Wesembeck verfaßte „Paratitla juris etc.“ 38) Philippus Scherbius, geb. Bischofszell, Schweiz, seit 1586 Professor der Logik, Meta­ physik und Medizin in Altdorf, gest. 1605, Joecher IV, Sp. 254. 39) Nicolaus Taurellus (1547—1606), geb. zu Montbeliard, vgl. Chatenay, a.a.O., S. 106. 40) Praetorius, Johannes, geb. Joachimsthal 1539, seit 1576 oberster Professor Mathematum in Altdorf, gest. 1616, Joecher III, Sp. 1748. 41) Georges Clacianus (1549—1607), vgl. Chatenay, a.a.O., S. 106.

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haben alle nur das Ziel, auf den Nutzen der Republik bedacht zu sein, ohne sich in andere Dinge einzumischen. Man sieht selten Uneinigkeit unter ihnen, und dies nur deshalb, weil sie aus Erfahrung wissen, daß sie mittels dieser Eintracht glücklich leben und Wohlstand erwerben, soviel ihrer auch sind. Kurz, dieses Staatswesen wird ganz aristokratisch regiert, denn das Volk hat hier nichts zu sagen, nur die vom Senat haben die Gewalt in der Hand, die, um sich die Zuneigung des Volkes zu verschaffen, es machen wie einst Perikies und Demosthenes, indem sie den Angesehensten unter dem Volk auf­ erlegen, ein wenig mehr geschmückt zu gehen als die Handwerker; und wenn die Messen herannahen, versammeln sie, bevor sie dorthin ziehen, das Volk, um es, indem sie den Anschein erwecken, als ob sie es in einigen Angelegen­ heiten um seinen Rat fragen, sich immer geduldiger und gehorsamer zu machen. Der Senat ist zusammengesetzt aus achtundvierzig Patriziern, die mit ihren Pensionären42), gelehrten Juristen, über alle Fragen beschließen. Besag­ ter Senat ist eingeteilt in Junge und Alte, wobei zwei die Leitung haben, die man Losunger nennt. Diese sind wie Fürsten, und es gibt niemand, der mit ihnen bedeckten Hauptes spricht. Sie genießen deshalb viel Ehre, weil ihre Autorität und Würde ihr ganzes Leben lang währt. Und jeder strebt nach dieser Ehre, d. h. von denjenigen, die Patrizier sind. Wenn sie sich in die Stadt begeben, so tun sie es nur in der Kutsche. Kein Fremder, der in der Stadt wohnt, kann ein Amt bekleiden, außer denjenigen, die aus Augsburg sind, die die schönsten Ämter ausüben können, ähnlich wie umgekehrt die Augsburger den Nürnbergern alle Ämter offen halten. So wahren diese beiden blühenden Republiken ihre Freundschaft, die die mächtigsten in Deutschland sind, nach Ulm, das 18 oder 20 Grafschaften und Baronien besitzt. Wenn einer vom Nürnberger Senat einen Fehler gemacht hat, befiehlt ihm, wenn sie sich versammelt haben, einer von ihnen im Namen aller, sich 14 oder 15 Ränge tiefer als bisher zu setzen; nur wenn er einen ganz großen Frevel begangen hat, nehmen sie ihm sein Amt, aber auf eine sehr geschickte Art, so daß das Volk meist nichts davon erfährt. Sie gebrauchen dabei den Weg, daß sie ihm durch einen seiner engsten Freunde sagen lassen, er müsse auf das Amt verzichten und es freiwillig zur Verfügung stellen; sie machen dies, um ihre Ehre zu wahren, aus Sorge, man könnte sagen, daß er43) mit Ge­ walt und durch Zwang enthoben worden sei. Wenn jemand sein Amt zur Verfügung stellen will, sei es aus Krankheit, aus Altersgründen oder aus einer andern Ursache, so kann er dies jederzeit machen, und deshalb kann er trotzdem zu den Beratungen kommen und seine Ansicht vortragen, sooft er will. Sie bedienen sich in allem und überall des Zivilrechts44), vorausgesetzt, daß es ihren Gebräuchen nicht schadet. In Zivilprozeßsachen ist die Beru42) Gemeint sind die Ratskonsulenten oder Consiliarii. Esprinchard kam aus den Nieder­ landen, wo das entsprechende Wort Pensionär oder Ratspensionär war. 43) Esprinchard hat „ils", aber es muß hier wohl „il" stehen. 44) Gemeint ist das Römische Recht, ius civile.

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fungsinstanz die Kaiserliche Kammer von Speyer, aber in Kriminalsachen ur­ teilen sie in oberster Instanz. Es gibt in dieser Republik einen gewissen Be­ amten, der zu allen Stunden in den Straßen unterwegs ist, um nach Bettlern Ausschau zu halten. Herr Gerder45), ein Edelmann der Stadt, ließ uns das sehr reiche Arsenal der Stadt sehen, in dem sich Waffen befinden, mit denen man mehr als zwan­ zigtausend Mann bewaffnen kann. Dieses Arsenal befindet sich gerade gegenüber der St. Lorenzkirche und ent­ hält 5 sehr große Gewölbe, die in ihrer ganzen Länge einander stützen. Man sieht dort eine unendliche Zahl an Geschützen, alle aus Bronze, der Größe nach zu dreien oder zweien aufgestellt, ebenso auch die übrigen kleineren Waffen. Es gibt da eine große Menge an Kugeln, Panzern, Picken, Hellebar­ den, alten Hakenbüchsen verschiedener Art mit allem ihrem Zubehör. Wir sahen dort mittlere Kanonen aus Bronze, alle zusammengefügt und so gegos­ sen, daß man mit ihnen mit einem Schlag 70 Schüsse abfeuern kann, mit den andern 30, 20, 10 und so bis 4. Es gibt eine Art Hakenbüchsen, die ein Mann leicht tragen und mit denen er vier Schüsse abfeuern kann. Es gibt mehrere Bronzeinstrumente, die wie große Böller und geeignet sind, künstliches Feuer zu werfen. Man sieht da auch einige Maschinen aus Eisen, mit denen man Mauern untergraben und zum Einsturz bringen kann, wie der Kaiser es im letzten Jahre mit denjenigen versuchte, die er von be­ sagtem Arsenal kommen ließ. Darin sieht man ebenso große Wurfmaschinen nach antiker Art und ein sehr starkes, großes Krokodil46), das etwa 18 Fuß lang ist. Derjenige, dem dieses Arsenal unterstellt ist, heißt Johann Leunorp, ein sehr gewandter und bewundernswerter Ingenieur, den ich sah, und der eine Salbe gemacht hat (sie befindet sich in diesem Arsenal, wird einem aber nicht gezeigt); wenn man damit einen Harnisch oder ein anderes Eisenstück, das 12 Pfund schwer ist, einreibt, wird es besser und für jede Probe sicherer sein als ein anderes, das zwanzig wiegt. Er47) bewirkt auch durch ein anderes Ge­ heimnis, daß das trockene Pulver nie Feuer fangen wird, auch wenn man es ins Feuer wirft. Ganz nahe der Stadtmauer hat er einen herrlichen Brunnen mit fünf Stockwerken geschaffen, der Wasser aus schönen Fontänen wirft, die sich vor der Kirche von St. Lorenz befinden48), und aus 38 andern, die einige Bürger in ihren Häusern haben; obiger Brunnen ist mit Hilfe eines kleinen Kanals des kleinen Flußes Wisbach483) gemacht (so genannt wegen des Dorfs, von dem er kommt), der den Graben der Stadt und die Mauer durchquert. Es gibt in der Stadt keine Juden, man hat sie eine große halbe Meile ent­ fernt, sie wohnen da in Fürth, wie diejenigen von Köln in Deutz. Gegenüber 45) Hier handelt es sich um einen Irrtum Esprinchards oder des Herausgebers, gemeint ist Jakob Geuder von Heroldsberg und Neunhof, S. 72 hat Chatenay richtig Geuder. 46) Handelt es sich hier um ein Kriegsinstrument? Oder war es ein präpariertes Tier, ein Museumsstück, auf das er in seinem Bericht über seinen Münchener Aufenthalt anspielt? Vgl, S. 2'39. 47) Leunorp. Gemeint ist Johann Löhner 48) Gemeint ist der Tugendbrunnen. 48a) Gemeint der Fischbach.

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der Frauenkirche auf dem Marktplatz, wo sich auch die Börse befindet, steht ein sehr prächtiger Brunnen aus Marmor mit einer sehr hohen vergoldeten Pyamide. Im Rathaus der Stadt (das gerade gegenüber liegt) gibt es nichts Schönes zu sehen, als den Großen Saal und die großen Gefängnisse, die sich darunter befinden. Die zwei wichtigsten Kirchen der Stadt, in denen sich eine große Zahl von Bildwerken befinden, sind diejenigen von St. Sebald und St. Lorenz. In der­ jenigen von St. Sebald sieht man das Grabmal dieses Heiligen aus Bronze, denn er war der Gründer dieser Kirche. An diesem Grabmal, das sehr schön ist, sieht man die Wappen von Frankreich und England. In der St. Lorenz­ kirche gibt es eine Lampe, in der sich ständig brennendes Öl befindet, das zwei Bürger unterhalten, andernfalls würden sie eine gewisse Rente verlieren. Die Stadtmauern sind aus sehr schönen Hausteinen gebaut, sowohl auf der Seite des Grabens als auch innen49) und man braucht gute zwei Stunden, um sie zu umschreiten. Man kann ganz um sie herum gehen mit Ausnahme lediglich einer Seite, wo Gärten sind, und man muß dabei ziemlich in die Niederung eines großen Vororts hinabsteigen. Die Uhren dieser Stadt schlagen die Stunden des Tages und der Nacht, je nachdem die Tage lang oder kurz sind, entsprechend dem Lauf der Sonne. Es gibt eine so große Menge an Hirschen in diesem ganzen Land Franken und vor allem gegen Ansbach und gegen die Oberpfalz zu, daß die Fürsten nie auf die Jagd gehen, ohne wenigstens an die hundert zu schießen; deswegen sieht man alle ihre Häuser geschmückt mit zahlreichen Hirschgeweihen. In ganz Franken, ebenso wie in andern Provinzen Deutschlands gibt es öffentliche Bäder, wohin ein jeder geht, um ein Schwitzbad zu nehmen und sich zu waschen, wann er will, wobei man jedesmal etwa 71/* Schilling be­ zahlt. Die angesehenen Personen der Stadt besuchen diese öffentlichen Bäder kaum, sondern haben eigene in ihren Häusern, wo sie sich abreiben und auf köstliche Weise behandeln lassen. Angehörige aller Stände und beiderlei Ge­ schlechts besuchen diese Orte ein- oder zweimal im Monat; das macht sie so frisch und verleiht ihnen das Wohlbefinden, dessen sie sich erfreuen. Ganz wie in Frankreich die Zimmermädchen in den Gasthöfen von denjenigen, die abreisen, ihr Nadelgeld verlangen, so sind sie auch in Deutschland gewohnt, von ihnen etwas fürs Bad, d. h. eine Silbermünze, zu verlangen. Franken hat das Land Schwaben und Bayern im Süden, den Rhein im Westen, Böhmen im Osten und im Norden die Länder Thüringen und Hessen. Es ist schwer, in diese Provinz zu gelangen, denn sie ist fast ganz umgeben von hohen Bergen und dichten Wäldern, u. a. vom Hercynischen Wald50), der es wie eine Mauer umgibt. Die Flüsse dieses Landes, soweit sie schiffbar sind, sind der Main, die Saale, die Tauber und der Neckar, der bei Heidelberg vorbeifließt. Im Terri­ torium von Bamberg (das sich in diesem Land befindet) gibt es eine sehr 4Ö) Esprinchard hat in seiner Formulierung offenbar die Seiten verwechselt. 50) Der Herausgeber gibt Hercynie mit Schwarzwald wieder, Esprinchard dachte offensicht­ lich an die mitteldeutschen Wälder.

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große Menge Süßholz51), das dort soviel wächst, daß man zu seiner Beför­ derung Handkarren braucht. Dieses Land gehört fünf Fürsten, nämlich dem Markgrafen von Ansbadi, Burggrafen von Nürnberg, und dem pfälzischen Herrn Kurfürsten, die beide weltlich sind. Ferner den Bischöfen von Bamberg und Mainz und dem von Würzburg, der sich Herzog von Franken nennt und auch mit diesen Titeln angesprochen wird. Deshalb hat er, sei es bei der Messe oder wenn er andere Zeremonien vornimmt, vor sich auf dem Altar ein blankes Schwert und eine entfaltete Fahne. Es ist ein Grundsatz des Domkapitels, daß es niemals einen zum Bischof dieser Stadt und Herzog von Franken wählt, der von Herzogen oder Grafen abstammt, sondern nur solche, die einfacher adliger Abstammung sind. Wenn der Bischof seinen Einzug in die Stadt hält, sieht man ihn begleitet von einer großen Zahl Reiter, aber wenn er selbst eingezogen ist, steigt er vom Pferd und kleidet sich in einen häßlichen grauen Mantel, dann umgürtet er sich mit einer Kordel und begibt sich anschließend in diesem erbarmungswürdigen Zustand, Hände und Kopf unbedeckt, zum Kapitel, in dem er, nachdem er seinen Treueid geleistet, auf seinen Thron erhoben wird. Die Bewohner dieses Landes sind sehr stolz, sie halten viel von sich, verachten die andern Nationen, ja machen sich über einen jeden lustig, siehe die Bücher über die Sitten und andere Werke" 5S). Am 17. April, eine Stunde nach Mittag, verließ Esprinchard Nürnberg, um über Erlangen und Baiersdorf weiterzureisen. Im markgräflich-ansbachisehen Baiersdorf sah er eine große Zahl schöner behauener Steine, die einer der markgräflichen Vorfahren hierher hatte schaffen lassen, um eine Festung zu bauen gegen diejenige von Forchheim, die der Bischof von Bamberg hatte errichten lassen, aber Kaiser Karl V. hinderte ihn daran, weil sowohl der Bischof als auch die Stadt Nürnberg dagegen Einspruch erhoben. Esprinchard verweist dabei auf die Bestimmung des Reichs, daß kein Fürst innerhalb der Zweimeilengrenze einer Reichsstadt eine Festung bauen dürfe. Eine Meile von Forchheim entfernt sah Esprinchard eine kleine Stein brücke, die das Land des Markgrafen von dem des Bischofs trennte. Sie interessierte den Juristen aus einem besonderen Grunde: Wenn einer ein Ver­ brechen begangen hat, ließ er sich sagen, und in das Geleit des anderen Für­ sten flieht, ist er in Freiheit. Nachdem die Reisenden in Forchheim übernachtet hatten, kamen sie am Freitag, d. IS. April, durch ein „schönes und gutes Land". Sie aßen zu Mittag in Bamberg, einer „schönen und vornehmen Stadt, die mit ihren Vororten sehr lang ist". An Bamberg interessierte Esprinchard der Dom mit seinen vier schönen Türmen, die Regnitz53), die unter schönen 51) Reglisse, von lat. liquiritia, Süßholz. Es ist nicht klar, was für ein Gewächs Esprinchard hier meint. 52) Im Text: vid. Iib. de morib. gent. et al ms. = Vide libros de moribus gentium et alia manuscripta. 58) Esprinchard hat irrtümlich „Pregnitz".

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Steinbrücken in zwei Armen durch die Stadt fließt, dann die Residenz des Bischofs gegenüber der großen Brücke, und schließlich wieder die Geschichte der Stadt. Nach dem Essen kam die Reisegesellschaft, bei der sich Esprinchard be­ fand, durch schönes Land mit guten Ackerböden, einigen Weinbergen und mehreren Dörfern; sie machte dann Halt in Gleißen, einem Dorf des Herzogs von Coburg, um dort zu übernachten. Am Samstag, d. 19. April, frühmorgens ging die Reise weiter über Coburg, einer sehr freundlichen Stadt mit einem starken Schloß auf einem Hügel, umgeben von vielen Weinbergen. Saalfeld, Rudolstadt, Jena gehörten zu den nächsten Stationen der Route, die von Thüringen nach Sachsen, über die Lausitz und Schlesien nach Krakau führte. Nun wandte sich Esprinchard nach Süden, durch Mähren reisend kam er nach Wien, von wo aus er einen Abstecher nach Gran machte. Dann interessierte ihn Böhmen, über Prag und Pilsen gelangte er zurück nach Oberdeutschland. Durch Bayern und Schwaben reisend, machte er von Heidelberg aus wieder einen Abstecher nach Frankfurt, um dann das Rheintal aufwärts Basel zu er­ reichen. Weiter ging es über Genf und Lyon das Rhonetal abwärts ins Languedoc, das Land seiner Vorfahren. Orthez sah er noch einmal, dann Bayonne, dicht an der spanischen Grenze. Durch das Gebiet der Landes kom­ mend, lag Bordeaux am Wege, und am 24. Mai 1598 langte Esprinchard schließlich wieder in La Rochelle an.

IV Fast vierzehn Monate hatte diese Reise gewährt. Die Route durch Fran­ ken bildete dabei einen verhältnismäßig kleinen Ausschnitt. Immerhin brauchte Esprinchard für das Stück von Frankfurt über Nürnberg nach Coburg volle vierzehn Tage. Aber die meiste Zeit davon hielt ihn Nürnberg und sein Territorium fest. Was er in der Reichsstadt an der Pegnitz und in dem Uni­ versitätsstädtchen Altdorf sah und erlebte, hinterließ in ihm außerordentlich nachhaltige Eindrücke. Mehrfach kommt er in seinem Reisebericht noch auf Nürnberg zu sprechen. So, als er eine Madonnenfigur aus Gold und Edel­ steinen schildert, eine Pariser Arbeit, die Isabella von Bayern, die Gemahlin Karls VI. von Frankreich, der Frauenkirche in Ingolstadt schenkte. Der Her­ zog von Bayern habe für dieses von den Ingolstädtern sorgsamst gehütete Kunstwerk eine Unmenge Geld geboten, um es für seine Kunstkammer zu be­ kommen. „Die (d. h. der Rat) von Nürnberg haben 20 000 Gulden geboten nur zu dem Zweck, damit einige ihrer Handwerker, die in allen Dingen der Bild­ kunst sehr geschickt sind, es drei oder viermal sehen können, um das Kunst­ volle daran zu betrachten. Aber die von Ingolstadt wollten nicht darauf eingehen, indem sie erklärten, daß dieses Stück allein mehr als ein ganzes König­ reich wert sei." Als Esprinchard die Kunstkammer des bayerischen Herzogs in München besichtigt, fallen ihm unter verschiedenen Fischen zwei Krokodile auf, „die fast so groß sind wie dasjenige von Nürnberg". Dann sind es die Häuser Augsburgs mit ihren Ziegeldächern, die ihn an diejenigen Nürnbergs 239

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erinnern, und das Regiment der Stadt Augsburg, das ihm ähnlich eingerichtet erscheint wie dasjenige der Pegnitzstadt64). Esprinchards Beziehungen zu Nürnberg griffen indessen noch tiefer, als das Reisejournal erkennen läßt. Einiges davon kann man wohl aus dem Journal selbst noch entnehmen. Es muß auffallen, daß Esprinchard, der reisende Pri­ vatmann, der Kurfürstin von der Pfalz ein Paket von der Fürstin von Oranien überbrachte, daß er sich drei Tage lang in Neumarkt aufhielt, wo eben der Pfälzer Kurfürst mit verschiedenen deutschen Fürsten und Herren und der französische Gesandte weilten, und daß er dann mit diesem Gesandten 6 Tage lang im Gasthaus zum Bitterholz in Nürnberg wohnte55). Vom französischen Gesandten Ancel ist bekannt, daß er eben damals die Aufgabe hatte, die protestantischen deutschen Fürsten und Städte zum Anschluß an das Bündnis zu bewegen, das Heinrich IV. 1596 mit Elisabeth von England gegen Habs­ burg geschlossen hatte. Esprinchard verschweigt uns, ob und was er mit diesen internationalen diplomatischen Machinationen zu tun hatte. Er erwähnt aber auch nicht, daß er mit Philipp Camerarius Freundschaft schloß. Philipp Camerarius56), Fachkollege Esprinchards, Ratskonsulent der Stadt Nürnberg und erster Prokanzler der Altdorfer Akademie, interessierte Esprinchard vor allem wegen seiner „Meditationes historicae“. Das war eine Sammlung von Lese­ früchten eines typischen Späthumanisten. Der historisch interessierte Esprin­ chard fand darin zahlreiche Zitate aus den Werken von Kirchenvätern, Mora­ listen und Historikern, Anekdoten, gute Ratschläge und anderes mehr. Dieses Werk erschien 1604, nach dem Tod Esprinchards, in französischer Sprache. Die Übersetzung hatte wohl in erster Linie der reformierte Geistliche in Genf Simon Goulart besorgt. Aber Esprinchard wirkte dabei mit, doch wissen wir über diese Mitarbeit nichts Genaueres. Die dritte Auflage dieses Werkes, die 1610 erschien, widmete Goulart dem Nürnberger Patrizier Jakob Geuder, dem gegenüber er in seiner Widmung von Esprinchard als ihrem gemeinsamen Freund spricht. Und nun erinnern wir uns, daß Geuder es war, dem Esprin­ chard es verdankte, daß er das Arsenal der Stadt Nürnberg besichtigen durfte. Der englische Tuchhändler Smith nennt in seiner Beschreibung Nürnbergs wohl Zahlen hinsichtlich der Wehrkraft der Stadt57), schweigt sich aber über das Arsenal der Stadt aus. Offenbar wurde ihm der Einblick nicht gestattet. Esprinchard wurde diese Vergünstigung zuteil. Dies ist einer der Punkte, durch die Esprinchards Schilderung der Stadt sich von derjenigen Smiths unterscheidet und beide sich schön ergänzen. Dank seiner besonderen Beziehungen konnte der juristisch ausgebildete, weitgereiste und vermutlich auch diplomatisch interessierte Franzose hier Details der Stadt kennenlernen, die dem englischen Kaufmann trotz seines längeren Aufenthalts in der Peg­ nitzstadt verborgen blieben. Diese Details, wozu auch der Vergleich der Wehrkraft Nürnbergs mit derjenigen des pfälzischen Kurfürsten gehört, bil54) Vgl. Chatenay, a.a.O., S. 172, 185, 189, 193, 197. 55> Vgl1. S. 233 f. und Chatenay, a.a.O., S. 5'3. R8) Ober Philipp Camerarius vgl. Chatenty, a.a.O., S. 72, sowie Friedrich Hermann Schu bert, Ludwig Camerarius 1573«—16-51. Eine Biographie, Kallmünz/Opf. 1955, S. 12. ß7) Vgl. Smith, a.a.O., S. 232.

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den einen wesentlichen Reiz der Schilderung Esprinchards. Das andere Wert­ volle, das wir aus ihr entnehmen können, ist der starke Gesamteindruck, den Nürnberg auf den Franzosen, den Ausländer, machte. Nürnberg ist nach „Venedig die angesehenste Stadtrepublik Europas, und die Stadt hat noch nie so geblüht wie heute". Und in Verschiedenem erscheint die Art, wie Nürnberg regiert wird, dem Kaufmannssohn aus La Rochelle klug und vor­ bildlich. Es ist bezeichnend für den Humanisten Esprinchard, daß seine Inter­ essen recht vielseitig waren. An Nürnberg fesselte ihn nicht nur die geo­ graphische Lage, die Verfassung, die Wehrkraft und der Gewerbefleiß der Stadt, auch über ihre Bauwerke und ihre Kunstwerke berichtet er, wenn er davon auch mehr das historisch Interessante und Kuriose als das künstlerisch Einmalige erfaßt. Die wissenschaftliche Note wird noch verstärkt durch das, was Esprinchard über Altdorf bringt. Dabei weiß er von der kleinen Univer­ sitätsstadt mit wenigen Strichen einen feinen Gesamteindruck zu vermitteln. Gewiß, Esprinchard hat nicht so geistreich und lebendig geschildert wie Montaigne, aber im Rahmen der europäischen Reiseliteratur des 16. Jahr­ hunderts wird Esprinchards Journal künftig einen angesehenen Platz einneh­ men, und wenn man etwas von der Atmosphäre Nürnbergs um 1600 erfahren will, dann wird man immer wieder auch zu Esprinchard greifen.

Anhang1)

Leopold Chatenay, Docteur es lettres Vie de Jacques Esprinchard Rochelais et Journal de ses voyages au XVIe siede, S.E.V.P.E.N., 13, rue du Four (Paris, 1957). Le lendemain qui estoit mardy huittiesme du moys d’apvril passames par Neustatlin, et Emskirchen, villes appartenantes au marquis d’Ansbach, item par le Furth grand village a demie lieue de Nuremberg, la ou se tiennent les Juifs; et demie heure apres arrivasmes en la ville de Nuremberg, et vinsmes loger au Bitterholt en la rue Ofterseibruchen, ou marche aux pourceaux, pres de la riviere. Le pays qui est alentour de ceste ville est fort sablonneux et sterile, et rempli d’une tres grande quantite de pins, plantes tous a la ligne, et tres plaisans a voir. La 2) ville de Nuremberg est sans controverse une des plus magnifiques et gentiles villes de l’Allemagne, tant en bastimens qui sont tous presque comme de grands palais et se flanquent les uns les autres, qu’en beaute de rues, et grandeur de Circuit. Elle est renommee par tout le monde a cause de la grande traffique qui i est, et des subtils ouvrages qui s’i font en toutes sortes de mestiers mechaniques. Les maisons de la ville sont presque toutes peintes par le dehors, et n’i a rien a dire a leur magnificence, sinon qu’elles sont toutes couvertes de thuiles, et non d’ardoise, de laquelle en toute l’Alemagne il n’i a que Coulongne, qui soit couverte. II i a dans la ville un chasteau tres ancien, assis sur une haute colline commandant a icelle; on vient par une grande descente de ce chasteau tout droit den la place, et en la bourse. Aeneas Sylvius en son Europe en discourt bien au long, et dit que la ville n'est pas fort ancienne, ainsi qu’il est bien aise de juger. Vgl. dazu Chatenay, a-.a.O., S. 104—111. 2) Bei Chatenay, a.a.O., S. 104, steht irrtümlich le. 16

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La petite riviere Pegnits la traverse, et fait en icelle plusieurs canaux et grand nombre de ponts, et fait tourner environ soixante six roues de moulins. Le marquis de Brandebourg se dit viconte de Nuremberg, et pretend que le chasteau dont nous avons cydessus parle luy appartienne. Ses ancestres ont fait de grandes guerres a ceste ville, et Tun d’iceux l’assiegea il i a environ soixante ans. Mais en vain, en signe de quoy ceux de la ville firent bastir quatre grosses tours sur les murailles, qu’ils nommerent des gobelets pour boire au marquis: et sont suffisamment munies de belles couleuvrines, et autres munitions. On voit aux pieds d’icelles, et par tous les fosses de la ville quelque nombre de cerfs et de biches qui font tous les ans des petits. C’est une chose asseure que ceste ville a d’autrefois appartenu a Albert duc de Franconie, mais eile fust devolue apres sa mort a l’Empire soubs Louys troisiesme, qui l’amplifia, et ceignit de murailles: soubs Charles quatriesme on i feit les beaux et profonds fosses, qu’on i voit. La Republique de Messieurs de Nuremberg s’estend d’un coste douze lieues, en longueur, et possede quatre ou cinq villes et plusieurs villages, qu’elle a usurpe sur les contes palatins, qui avoient d’autrefois este proscrits par Fempereur Frederic. Ceste seule Republique contribue autant pour la guerre des Turcs, que le plus grand prince de l’Empire. Pendant mon sejour audit lieu, je m’en allay saluer Madame FElectrice et lui porter un paquet de Madame la princesse d’Orange, en la ville de Neumark (Neuagoras en latin) qui est au haut Palatinat, en laquelle je veis Monsieur l’Electeur palatin premier prince de FEmpire, accompagne de plusieuurs seigneurs et princes qui Festoient venu visiter, comme le marquis d’Ansbach, le lantgrave de Leichtenberg, les contes d’Oltenburg, de Hollo, de Mansfelt, et quelques autres. J’i salluay aussi Monsieur Ancel Ambassadeur de France, lequel je rencontrai, et depuis logeasmes six jours ensemble en un mesme logis, lors que je fus de retour a Nuremberg. Apres avoir sejournee trois jours en la Cour de Monsieur FElecteur je vins par un pays fort montagneux, et rempli de boscages, en la ville d’Altorf, qui est une petite ville a trois lieues de la — ou Messieurs de Nuremberg ont depuis 24 ans $a fonde une belle Academie, et appele de tres doctes personnages, en toutes facultes. La ville est tres petite, mais en recompense eile est bien jolie, estant au milieu d’icelle on peut facilement voir les deux portes. Le College est gentiment basti et i a au milieu de la cour d’iceluy une fort belle, et grande fontaine ronde. II n’i a aucun auditoire de professur, qui n’ait un beau poisle, et qui ne soit fort bien accomode de belles chaires peintes et ouvragees, et de bancs de mesme fa$on. Les entretenus de Messieurs demeurent en ce College, avec quelques professeurs. II i a en ceste petite Academie, trois excellens professeurs en droit, a scavoir Scipion Gentilis, qui me montra les livres de feu M. Donellus escrits a la main, Conradus Ristershussius, et Vvesembechius nepveu de Mathieu qui a fait les Paratiteles. Ils ont aussi pour subtils philosophes Ph. Scherbius et Nie. Torellus, et pour mathematicien Praetorius, comme aussi en eloquence Georg Clatianus. D’Altorf pour attendre la compagnie des marchands qui vouloient aller en Turinge et Misnie, je m’en revins a Nuremberg qui en est a trois petites lieues, et ce par un diemin aussi droit comme une ligne entre de grandes forests de pins sablonneuses, dont toutes ceste contree abonde. Ceste Republique est signalee entre toutes celles de l’Europe, apres celle de Venise, et jamais n’a este si fleurissante, qu’elle est pour le jourd’huy. Et a cela qui augmente grandement sa louange, qu’elle n’est point composee d’une commune de basse et vile estoffe, ains seulement 242

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de personnages auxquels l’experience, et la longue peregrination en de loingtains pays, a acquis la connoissance des plus belles affaires du monde, et qui se sont presque tous adonnes, et s’adonnent continuellement aux plus belles et profitables Sciences. Ils ne se proposent tous que ce but, a scavoir d’aviser au profit de la Republique, sans se mesler d’autres affaires. On voit rarement des discordes entre eux, et n’i a point de raison pourquoy cela se face ainsi, sinon qu’ils trouvent par experience que par le moyen de ceste conformite les uns avec les autres, ils vivent heureusement, et s’enrichissent tant qu’ils sont. En somme, ce gouvernement est seulement aristocratique, car le peuple n’i a rien que voir, ni ne peut i exercer aucun estat, ains ceux qui sont du Senat, qui pour se le rendre plus affectionne, tout ainsi que jadis faisoient Pericles, et De­ mosthenes, ottroye aux plus apparens d’entre le peuple, d’aller un peu mieux pare que les artisans, et quand les foires approchent, l'assemble avant d’i aller, pour, faisant semblant de luy demander son avis sur quelques choses, se le rendre ainsi que dessus tousjour plus patient et obeissant. Le Senat est compose de quarante huit patrices, qui decident de toutes choses avec leurs pensionnaires qui sont de scavans docteurs en droit. Et est ledit Senat divise en jeunes, et en vieux il i a en iceluy deux superieurs qu’on nomme Losingres, qui sont comme princes, et n’i a aucun qui parle a eux qu’a teste descouverte; ce qui les fait tant honorer est que leur authorite et dignite ne se finist qu’avec leur vie ; et que chacun aspire a tel honneur, c’est a scavoir ceux qui sont des patrices et ne vont jamais par la ville, sinon en coche. Aucun estranger habitant dans la ville ne peult aspirer a aucun office, exceptes ceux de la ville d’Ausbourg, qui i peuvent exercer les plus belles charges, ainsi qu’il est reciproquement permis a ceux de Nuremberg d’exercer tous offices audit Ausboug, et ainsi se maintiennent en amitie ces deux florissantes Republiques, qui sont les plus puissantes d’Allemagne, apres Ulme qui possede dix huit ou vint tant contes que baronneries, Si quelcun du Senat de Nuremberg a fait quelque faute, lors qu’ils sont assembles, un d’entre eux au nom de tous luy fera commandement de descendre quatorze ou quinze rangs plus bas que le sien, n’est si c’est quelque grand forfait, ils le demettent de sa charge, mais d’une fa$on fort adextre, de sorte que le peuple n’en scait le plus souvent rien. Le moyen qu’ils tiennent en ceci est, que par un de ses plus grands amys ils lui font dire qu’il aye a s’en demettre, et la deposer volontairement, ce qu’ils font pour garder leur honneur, de peur qu’il ne soit dit> qu’ils en ayent este demis par force, et par contrainte. Quand quelcun se vuelt demettre de sa charge, soit a cause de maladie, de vieillesse, ou autre chose, il le peult tousjours faire, et ne rester pour cela d’aller au conseil donner son avis toutefois et quant qu’il luy plaira. Ils se servent du droit civil en tout, et partout, pourveu qu’il ne deroge point ä leurs coustumes. En proces civil il i a appel a la chambre Imperiale de Spire, mais en proces criminels ils jugent souverainement. II i a en ceste Republique un certain officier, qui est ä toutes heures par les rues, pour voir s’il i a aucun brimbeur» ou mendiant. Monsieur Gerder8) gentilhomme de la ville, nous feit voir le tres riche arsenal de la ville, ou il i a des armes pour armer plus de vint mille hommes. Cest arsenal est tout contre l'Eglise S. Laurens, et contient cinq tres grands celiers qui se tiennent Tun l’autre tout de leur long. On i voit une infinite de 3) Gemeint ist Geuder. 16*

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pieces cTartilleries toutes de bronze, disposees de rang les unes apres les autres de trois a trois, ou de deux en deux, ainsi que le reste des autres moindres armes. II i a une grande quantite de boulets, d’habits de fer, de piques, d’halebardes, et vieilles harquebuzes de diverses fa^ons avec tous leurs fourniment. Nous i veismes des canons moyens de bronze, tous joints ensemble, et ainsi fondus, avec lesquels on peut d’un seul coup tirer septante coups, avec les autres trente, vint, dix et ainsi jusques a quatre. II i a une sorte d’harquebuzes que un homme portera aisement, et tirera d’icelles quatre coups. II i a plusieurs instruments de bronze, qui sont comme de grandes et capables boistes pour jeter des feux artificiels. On i voit aussi quelques engins de fer propres a enfoncer et renverser des murailles, comme FEmpereur essaya Fannee passee, avec ceux qu’il envoya demander dudit arsenal. Dans lequel se voyent semblablement de grosses arbalestes a l’antique, et un tres gros et grand crocodile Iong d'environ dix huit pieds. Celuy qui a Ia charge de cest arsenal est un nomme Jehan Leunorp tres subtil et admirable ingenieur que je veis, et qui a fait un onguent (lequel est en cest arsenal, mais ne se montre point) duquel si on frotte une cuirasse, ou autre fer pesant douze livres il sera meilleur et plus asseure a toute espreuve, qu’un autre qui en pesera vingt: II fait aussi par un autre secret, que la poudre seiche ne prendra jamais, encore qu’on la jettast au feu. II a fait tout pres de la muraille de la ville une magnifique fontaine a cinq estages, qui jette de Feau es beließ fontaines qui sont devant le temple de S. Laurens, et en trente huit autres que quelques bourgeois ont en leurs maisons, la susditte fontaine est faitte par le moyen d’un canal de la petite riviere Wisbach 4) (ainsi nommee a cause du village, dont eile vient) lequel traverse le fosse de la ville et la muraille de dedans. 11 n’i a point de Juifs en la ville, ains en sont esloignes d’une grande demie lieue et font leur residence au Feurt, comme ceux de Coulongne au Duits. II i a vis a vis du temple Nostre Dame, en la place du marche en laquelle aussi se tient Ia bourse, une tres magnifique fontaine, faitte de marbre, qui a une tres haute pyramide doree. II n’i a rien de beau a voir dans la maison de la ville (qui est tout de contre) que la grande sale, et les grandes prisons, qui sont au dessoubs d'icelle. Les deux principales Eglises de Ia ville, es quelles i a infinie quantite d’idoles sont celles de S. Laurens, et S. Sebol. En celle de S. Sebol se voit le sepulchre dudit Saint, de bronze, car il i a este fondateur de ceste Eglise. Ence sepulchre qui est tres beau, on voit les armoiries de France et d’Angleterre. Il i a en celle de S. Laurens, une lampe, ou il i a incessamment de l’huile ardante, que deux bourgeois entretiennent autrement ils perdroient une certaine rente. Les murailles de la ville sont basties de tres belles pierres de tadle, tant dehors que dedans le fosse, et fault deux bonnes heures a les circuir. On se peult proumener tout a Fentour d’icelle, excepte d’un coste seulement ou il a des jardinages, et fault passer bien bas au dessoubs d'un grand fauxbourg. Les horloges de ceste ville, sonnent les heures du jour, et de la nuit, selon que les dits jours sont longs ou courts, par l’ordre du soleil. Il i a une si grande quantite de cerfs en tout ce pays de Franconie, et sur tout vers Ansbach, et vers le hault Palatinat que jamais les princes ne vont ä la diasse, qu’ils n’en apportent du moins quelque centaine, et pour ce voit on toutes leurs maisons decorees d'une infinite de cornes desdits cerfs. 4) = Fischbach. 244

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Par toute la Franconie, ainsi qu’es autres provinces d’Allemagne i a des bains publics, ou un diacun se va faire suer, et laver quand il veult, et baille on a chaque fois environ sept sols et demy. Les plus signalees personnes des villes, ne frequentent guaires ces bains publics, ains en ont de particuliers en leurs maisons, ou ils se font frotter, et accomoder fort delicieusement. Toutes conditions de personnes et de sexe hantent ces lieux la une ou deux fois le moys, qui est ce qui les rend si frais, et en bon point, comme ils sont. Tout ainsi qu’en France les chambrieres demandent leurs esplingues es hosteleries, a ceux la qui en partent, aussi en Allemagne ont elles accoustume de demander leur bain, c’est a scavoir quelque piece d’argent pour i aller. La Franconie a le pays de Sueve et de Bavieres au midy, le Rhin a l’occident, la Boheme a l’orient, et au septentrion, les Pays de Turinge et de Hessen. Ceste province est de difficile entree, a cause qu’elle est presque toute environnee de hautes montagnes et d’espesses forest, comme entre autres de celle d’Hircinie, qui l’entoure comme une muraille. Les fieuves de ce pays, qui sont naviguables, sont le Main, la Sale, le Thuben s) et le Necre qui passe a Heidelberg. II i a au territoire de Bamberg (qui est en ce pays) tres grande quantite de regalise, qui i croist en teile sorte, qu’on ne la transporte qu’a charrettes. II i a cinq princes auxquels appartient ceste province, qui sont le marquis d’Ansbach, burgrave de Nuremberg, et Monsieur l’EIecteur palatin, tous deux seculiers. Item les evesques de Bamberg, de Maience, et de Wirtzbourg, qui se dit duc de Franconie, et est ainsi qualifie en ces titres. A raison de quoy, soit qu’il face la messe, ou qu’il soit empesche en d’autres coeremonies il a devant luy sur l’autel une espee desguainee, et un enseigne desployee. C’est une maxime que le chapitre des chanoisnes n’eslit jamais aucun pour evesque de ceste ville, et duc de Franconie, s’il est de race de ducs ou de contes ains seulement ceux qui sont de simple maison noble. Le jour que Iedit Evesque fait son entree en la ville, on le voit accompagne d’un grand nombre de gens a cheval, mais estant entree dedands, luy mesme descend de cheval, et s’habille dune meschante casaque grise, puis se ceint d’une corde, puis en ce miserable estat les mains et la teste nue s’en va vers le chapitre, auquel apres avoir fait serment de fidelite, il est esleve en son throsne. Les habitans de ce pays sont fort superbes, praesumans beaucoup d’eux, et mesprisant les autres nations, voir se moquans d’un chacun, vid. lib. de morib. gent. et al. ms.56).

5) Gemeint ist die Tauber. 6) Vide libros de moribus gentium et alia manuscripta. Esprinchard spielt hieT u. a. auf Tacitus „De situ, moribus et populis Germaniae“ an. Vgl. Chatenay, a.a.O., S. 111, Anm. 106.

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MAG. ZACHARIAS THEOBALD, DER VERFASSER DES „HUSSITENKRIEGS" Ein Kraftshofer Exulantenpfarrer

Von Richard Klier

I Vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts bis in die Zeit des Dreißigjäh­ rigen Krieges bot die Reichsstadt Nürnberg vielen evangelischen Glaubens­ flüchtlingen aus den österreichischen Alpenländern, aus der Oberpfalz und in geringerem Maße aus Böhmen eine Zufluchtsstätte. Unter ihnen waren viele, besonders diejenigen, die aus der Steiermark, aus Kärnten und Ober­ österreich stammten, welche der Glanz alten, in Krieg und Frieden bewährten Adels umgab; doch keiner dieser Exulanten übertraf an Gelehrsamkeit den deutschböhmischen Landgeistlichen M. Zacharias Theobald, von dem zwar kein prächtiges Epitaph verblaßten Ruhm kündet, dem jedoch durch Jahr­ hunderte sein Hauptwerk über den Hussitenkrieg die Ehre eintrug, von erle­ senen Geistern gelesen, studiert und zitiert zu werden. Die berühmte, bei Karlsbad in Böhmen gelegene Zinnbergstadt Schlaggenwald zählt Zacharias Theobald neben dem großen Humanisten Kaspar Bruschius *) und neben dem Altdorfer Professor Christoph Crinesius*2) zu ihren großen Söhnen. Am 13. Juli 1584 wurde er hier als Sohn des gleichnamigen Rektors der dortigen Lateinschule geboren. Seine Mutter war eine Tochter des Schlaggenwalder Ratsherrn Melchior Multz, dessen Familie sich durch Reichtum und Bildung auszeichnete 3). Als Taufpaten werden die angesehen­ sten Bürger des Ortes genannt, der Bergmeister, später Zehentner Georg Heßler und der Primarius (1. Bürgermeister) Sebastian Koppel4). *) 2) 8) 4)

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ADB III, 453 und Neue Deutsche Biographie II, 690. ADB 4, 597 f. Kr 39, 63. Erhard Schmid, Bibliotheca Norimbergensis etc.., Handschrift der Stadtbibliothek Nürn­ berg, Bd. I, S. 3 52, Sign.: Will III, 16, fol.

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Der Vater Theobalds wurde im Jahre 1549 in dem Bergstädtlein Michels­ berg (St. Michaelsberg) bei Plan in Westböhmen geborenö), das unter dem Grafen Moritz Schlick (1526—1578) den Anschluß an die lutherische Lehre gefunden hatte 56). Wenn Zacharias Theobald sen. die Schule seiner Heimat­ stadt besucht hat, so muß er Simon Reutter, der von 1554 bis 15 56 in Wit­ tenberg studiert hatte, zum Lehrer gehabt haben; denn im Wittenberger Ordiniertenbuch heißt es in seinem Eintrag vom 28. April 1563, daß er sechs Jahre an der Schule von Michelsberg Lehrer war, bis er von der ganzen Ge­ meinde zum Pfarrdienst berufen wurde 7). Zacharias Theobald sen. treffen wir dann später an der Universität Leipzig im Wintersemester 1570, wo er unter dem Namen Zacharias Diewalt in die Matrikel der hohen Schule ein­ getragen worden ist8). (Daraus ist zu ersehen, daß der junge Student noch den deutschen, noch nicht gräzisierten Familienamenn Diewalt trug, was auch dadurch bestätigt wird, daß Geschichtsquellen der Stadt Plan den späte­ ren Pfarrer nur Tiebald9) nennen.) Erst sehr spät ließ er sich an der hochberühmten Universität Wittenberg10)* einschreiben (18. Mai 1577). Der Grund, weshalb er das so spät tat, wird wohl gewesen sein, daß er sein Brot selbst verdienen mußte. Als sein Altersgenosse, der aus Tachau stammende Basilius Dresler (Drechsler), der Lehrer an der Planer Schule war, im Früh­ jahr des Jahres 1577 nach Wittenberg reiste, um dort am 4. März das Magi­ sterexamen abzulegen, vertrat ihn währenddessen Zacharias Theobald im Unterricht n). Nach der Rückkehr Dreslers ging er selbst, wie oben schon angegeben, an die Leucorea, um wahrscheinlich genau so wie sein Freund die Magisterwürde zu erwerben. Im Jahr der Geburt seines gleichnamigen Soh­ nes (1584) wird er bei einem Rechtsstreit ludi rector (Leiter der Latein­ schule) in Schlaggenwald genannt12). Um das Jahr 1590 sehen wir ihn als Pfarrer in Altsattel (14 km sw Mies) 13) und nach dem Tode des Brücker Pfarrers Thomas Wenlerus Marpurgensis am 7. November 1592 wurde er dessen Nachfolger, angeblich erst im Jahre 1595 14). Als gebildeter Mann war er auch in der Dichtkunst erfahren. Das zeigte sich, als am 11. November 1608 der reiche Tachauer Bürgerssohn Rudolf Wudicker von Hohenstein, der schon 1606 an der Universität Jena studiert hatte, mit Maria, der Tochter des Nürnberger Kaufmanns und Genannten Martin Adler, in Tachau in 5) Die fürstlich Stolberg-Stolberg’schen Leichenpredigten Bd. IV, 2 (Leipzig 1932), S. 488. Nr. 22 073. 6) Eduard Senft, Geschichte der Herrschaft und Stadt Plan in Böhmen, Plan 1876, S. 74 f. 7) Georg Buchwald, Wittenberger Ordiniertenbuch, Bd. II (1560—1572), Leipzig 1895, S. 19, Nr. 294. s) Georg Erler, Die jüngere Matrikel der Univ. Leipzig, Bd. I, S. 78. ö) Ed. Senft, a.a.O., S. 96 und Einleitung S. VI. 10) Carolus Ed. Foerstemann, Album Academiae Vitebergensis II, S. 268 a (wird zitiert Alb. Ac. Viteb.). n) Leichenpredigt M. Basilius DresleT (f 23. XI. 1614 in Plan), gehalten von Matthias Gebhardus Planensis, Pfarrer der Schwanbergischen Herrschaft Tschelief und Weseritz. Landeskirchlidies Archiv Nürnberg, Fenitzer — Bibi. 4 0 482. 12) Kr 38, S. 274. ls) Anton Frind, Die Kirchengeschichte Böhmens IV, 392. Frind im sich; denn er glaubt den Geschichtsschreiber 2. Theobald jun. vor sich zu haben. 14) Ed. Senft, a.a.O. Seite 96.

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Westböhmen den Ehebund schloß; denn in dem zu Ehren des jungen Paares erschienenen Epithalamion steht an erster Stelle ein lateinisches Hochzeits­ gedicht des Mag. Zacharias Theobald sen., der sich nach seinem Dienstort Bruck bei Plan „Pastor Pontanus“ nennt15). Das Schrifttum enthält auch Ge­ dichte der beiden Nürnberger Diakonen Melchior Rinder16) und Georg Klein 17). Der Erstgenannte war später mit dem Sohn des Brücker Pfarrers befreundet, möglicherweise wurden diese Beziehungen bei der Hochzeitsfeier in Tachau im Jahre 1608 aufgenommen. Z. Theobald sen. starb am 21. Ja­ nuar 1613 in Bruck18). Als die Eltern nach Altsattel zogen, blieb Zacharias Theobald jun. weiter in Schlaggenwald (wahrscheinlich bei seinen Verwandten), um die sechsklassige Lateinschule des Ortes zu besuchen. Unter den Lehrern brachte er dem dort vom Jahre 1599 bis 1607 tätigen Rektor Johann Hauer, der aus Grafen­ wöhr in der Oberpfalz stammte, besondere Verehrung entgegen. Für dessen Tüchtigkeit spricht es, daß er im Jahre 1607 vom Rat der Stadt Eger als Rek­ tor an die dortige Lateinschule berufen wurde, wo er bis zum Jahre 1624 gewirkt hat19). Das überzeugungstreue Luthertum, das ihm bei den Eltern, Verwandten und in der Schule entgegentrat, bestimmte seine religiöse Hal­ tung bis zur letzten Stunde seines Lebens, und der Zinnbergbau seiner Va­ terstadt weckte in dem Knaben ein lebendiges Interesse an den Geheimnissen der Natur, wovon einige Schriften zeugen 20). Nach Absolvierung der Latein­ schule in Schlaggenwald — nur diese eine hat er besucht — ging er an die Universität Wittenberg, die nach den Lehrstreitigkeiten des sechzehnten Jahrhunderts zwischen Philippisten und orthodoxen Lutheranern ein Hort der Rechtgläubigkeit geworden war21). Er wurde am 16. Mai 1603 immatriku­ liert22); im Oktober des gleichen Jahres folgte ihm sein Schlaggenwalder Freund Christoph Crinesius, der vorher in Leipzig studiert hatte 23). Unter Theobalds Lehrern an der Wittenberger Hochschule ragte besonders Leon15) Spit. K 99, 8 ° (Nr. 47) im Landeskirchlichen Archiv Nürnberg. A. L. Krejcik (Kr 39, 64, Anm. 2) ist der Auffassung, daß die Herkunftsbezeichnung „Pontanus“ auf die Stadt Brüx in Böhmen (tschech. Most == Brücke = Pons) hinweise, seine Nachfor­ schungen dortselbst waren daher erfolglos. Kr spricht von eineT Vermutung Wills in dieser Hinsicht, ich konnte jedoch in dessen Gelehrtenlexicon III, S. 22 nur feststellen, daß er ihn Pfarrer von „Pruck“ nennt, ohne anzugeben, wo der Ort liegt. 16) Will G. A., Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon, III, 328. 17) Ebda. II, 293. Klein stammt aus Lengenfeld im Vogtland, wurde im Jahr 1614 Pfarrer in Tachau in Westböhmen und kehrte im Jahre 1627 nach Nürnberg zurück. 18) Nach der Leichenpredigt. Siehe Anm. 5/ 19) Erhard Schmid, Bibi. Nor. I, S. 3 52. A. HorCicka, Die Lateinschule in Schlaggenwald. Jahresbericht des k. k. deutschen Grabengymnasiums in Prag 1894, S. 19. 20) Siehe Theobalds Arcana naturae, S. 4: „Ich bin zu Schlaggenwaldt in einer Bergstatt zu Mühe und Elend geborn und darinnen erzogen worden. Bin oftmals in das Bergwerck, die Hub genannt, ... selbst mit eingefahren ..." 21) Über den neuesten Stand der Forschungen über die lange Zeit verächtlich behandelte Wittenberger Orthodoxie vgl. G. Hoffmann, Orthodoxie I (Luth. Orth.) in: Brunotte — Weber, Evangelisches Kirchenlexikon II, Göttingen 1958, Sp. 1753—1758. 22) Bernhard Weissenborn, Album Academiae Vitebergensis. Jüngere Reihe, Teil I (1602 bis 1660), S. 8. 2S) Ebda. I, S. 15, dazu Anm. 4, S. 15.

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hard Hutter24) hervor, der entscheidend zum Sieg der Orthodoxie an der Leucorea beigetragen hat, weshalb ihm der ehrende Beiname „Luther redivivus“ zuteil wurde. Ganz im Sinn der Konkordienformel (1577), die ihm göttlich inspiriert schien, war er ein scharfer Gegner der anderen protestan­ tischen Richtungen. Bereitwillig nahm der junge Schlaggenwalder die Lehren seiner Professoren an und blieb bis zu seinem Lebensende der Orthodoxie treu. Als er den philosophischen Lehrgang als Anfänger besuchte, hielt er zwei Dispuationen ab, die für seine damaligen geistigen Interessen kenn­ zeichnend sind. Im Jahre 1603 disputierte er unter Tobias Knobloch über „De physica in genere“ (Über die Naturlehre im allgemeinen) und „De fossilibus in genere“ (= Über die Bergwerke im allgemeinen), woraus zu ersehen ist, wie stark bei ihm die in seiner Knabenzeit geweckte Anteilnahme an den Dingen der Natur ausgeprägt war. Eine Disputation über metaphysische Fragen kam dazu243). Die Magisterwürde erlangte er schon am 27. März 1604 25). In der Zeit von 1605 bis 1607 war er als Hofmeister unbekannter deutschböhmischer Adeliger tätig, die er bei einer Reise durch tschechische Städte begleitete, damit sie die böhmische Sprache, die damals beim Landtag und bei den ober­ sten Landesbehörden Alleingeltung hatte, erlernen sollten26). Diese Bil­ dungsreise der jungen Adeligen benützte er dazu, sich nach Quellen zur Ge­ schichte des Hussitenkrieges umzusehen. Die böhmischen (tschechischen) glaubwürdigen Manuscripta, die er auf fleißiges Umfragen, besonders in Taus aus der nachgelassenen Liberei des tschechischen Historikers Lupac z Hlavacova27) vorgelegt bekam, ließ er, soweit sie tschechisch waren, ver­ deutschen, weil er dieser Sprache nicht oder nur in geringem Maße mächtig war. Als er seinen pädagogischen Auftrag erledigt hatte, durchreiste er allein 24) Realenzyklopädie für prot. Theol. u. Kirche, hrg. von Albert Hauck, Bd. VIII, 497—500. 24a) WUl. Gel. Lex. IV, 22. 25) B. Weissenborn, Alb. Ac. Viteb., Jüng. R.-r I, S. 8, Anm. 2. 2ö) Zach. Theobalds „Hussitenkrieg“, Wittenberg 1609, S. 1. Die tschechischen Forscher A. L. Krejcik (Kr. 39, S. 66) und A. Kraus, Husitstvi I, S. 243 vertreten die Ansicht, daß Theobald als Lehrer jungen böhmischen Adeligen die deutsche Sprache beibringen sollte. Das ist aber nicht richtig, wie aus der Vorrede zu Theobalds Hussitenkrieg klar hervorgeht. Es heißt dort: „Als ich aber hernacher mit etlichen jungen von Adel, welche die Sprach lernen sollten, in böhmische Städte geschickt wurde, fraget ich fleißig nach, ließ mir viel böhmische glaubwürdige manuscripta, derer ich nicht wenig zu Tausz in der Liberei M. Procopii Lupacii gefunden, verdeutschen ..." Daraus geht hervor, daß Theobald unter „böhmisch“ nichts anderes als „tschechisch“ verstand, welcher Aus­ druck sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert durchsetzte und damals von den Tschechen leidenschaftlich abgelehnt wurde. Theobald hat in den böhmischen (tschechischen) Städten fleißig nachgefragt und dort böhmische (tschechische) Handschrif­ ten vorgelegt bekommen, die er sich übersetzen ließ. Theobald war der tschechischen Sprache nicht oder nur im geringen Maße mächtig, das geht auch aus einer Bemerkung Huss. II, S. 132 hervor; daß sein Freund P. A. H. ihm eine (lateinische) Epistel des Biskupecii, weil sie viel slavonische Wort enthielt, ins Deutsche übersetzt hat. P. A. H. könnte gewesen sein Andreas Hercynius, Rektor der Saazer Lateinschule, mit dem Theo­ bald bekannt war. Vgl. seine Genealogica ... series, Wittenberg 1612, Topographie Saaz.) Vgl. auch A. Kraus, Husitstvi I, 247: Constantin von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, 44. Teil, S. 205 und Adolf Bachmann in ADB 37, 682 vertreten in dieser Frage dieselbe Ansicht wie ich. 27) OSLM, Bd. 16, S. 465 f.

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die vornehmsten böhmischen (tschechischen) Städte, wobei er mit Pfarrern, Lehrern und Stadtschreibern bekannt wurde, so daß er für seine Quellen­ sammlung „nit schlechte Sachen zusammenbrachte“. Was auf diesen Reisen seine Aufmerksamkeit erregte, können wir gele­ gentlichen Bemerkungen in seinen Werken entnehmen. In Prag sah er im Jahre 1607 durch die Gunst eines kaiserlichen Laboranten das kaiserliche Lusthaus (Belvedere?) mit seinen Sehenswürdigkeiten28), auch dem kaiser­ lichen Lustgarten mit den Auerochsen stattete er seinen Besuch ab 2Ö). Die Denkmäler der Hussitenzeit zogen ihn besonders an. Er erwähnt die an der Außenseite des Corporis-Christi-Kirchleins angebrachten Tafeln, die seit 1437 verkündeten, daß die Hussiten „wahre Söhne“ der Kirche seien. Inschriften gleichen Inhalts bemerkte er auch über den Portalen auf der Innenseite der Tein- und St. Michaelskirche in der Altstadt. Den großen vergoldeten Kelch am Giebel zwischen den beiden Türmen der Teinkirche, ein Siegeszeichen der hussitischen Bewegung, übersah er nicht. Das dabei befestigte vergoldete Schwert hätte einige Jahre vorher ein Zimmermann auf Anstiften der Jesuiten bei „eitler“ Nacht weggenommen30). Wir verdanken Theobald eine wert­ volle Beschreibung der Bethlehemskapelle, wo einst Hus gepredigt hatte 31). Er erwähnt dabei, daß in diesem Gotteshaus viele Deutsche, besonders Nürn­ berger, beigesetzt werden. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, daß die­ ses Gebäude, von dem nur geringe Gebäudereste vorhanden waren, im Jahre 1952 wieder nach alten Plänen und Beschreibungen auf gebaut wurde. Er hat auch 2izkas Grabmal in Tschaslau besucht und beschrieben32). Dabei er­ wähnt er: „Sein Bildnis habe ich zu Czaßlau, Thabor, Raby (9 km NO Schüttenhofen), zu Prag auf dem Altstädter Rathaus gesehen . . .“ All diese sieht er für falsch an, das im Besitz der Herren von Grießbeck hält er „vor das beste“. Aus dieser Aufzählung ersehen wir, wo er überall geweilt hat. Doch muß noch ergänzt werden, daß er im Jahre 1607 nach Podiebrad (an der Elbe) gekommen sein muß 83); denn er hat in diesem Jahre in dem Kirch­ lein bei dem genannten Ort geweilt, das einst zur Sühne für die widerrecht­ liche Hinrichtung von zehn Kuttenberger Bergleuten, die sich an einem Auf­ stand gegen ungerechte Beamte i. J. 1496 beteiligt hatten, errichtet worden war. Auch Saaz hat er im Jahre 1607 besucht33a). Daß Theobald Westböh.men, die Heimat seiner Vorfahren, bis Taus und Pilsen und von da aus bis zum Erzgebirge genau kannte, muß als selbstverständlich angesehen werden. Nach fünfjähriger Vorarbeit erschien sein Werk „Hussitenkrieg“ in dem bedeutendsten Wittenberger Verlag B‘. Samuel Selfisch im Jahre 1609. Zwei Studienkollegen aus Schlaggenwald, Christoph Crinesius und Valentin Multz 34), ehrten den jungen Schriftsteller durch zwei lateinische Widmungs28) 29) 80) 3I) 82) 33) 33a) S4)

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Theobald, Arcana naturae S. 92 u. 146. Huss. I1, 200 und I2, 146. Huss. I1, 422 u. I2, 321. Huss. I1, 34 f. u. I2, 27 ff. Huss. I1, 311—313 u. I2, 227—230. Huss. III, 130. Z. Theobald, Genealogica .. . series, Wittbg. 1612, unter Saaz. Valentinus Multzius wurde im Januar 1606 an der Leucorea immatrikuliert. Alb. Ac. Viteb., Jüng. R., Teil I, S. 38.

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gedichte. Das Werk war dem Vorkämpfer des Luthertums in Böhmen, dem Grafen Joachim Andreas von Schlick35), gewidmet, der im Jahre 1621 seine Glaubensüberzeugung mit dem Tod auf dem Schaffot büßen mußte. Am 8./18. November 1607 wurde Theobald vom Rat der Stadt Schlag­ genwald zum Konrektor der Lateinschule der Stadt ernannt36). Bald danach dürfte er sich mit Katharina, der Tochter des Diakons Martin Wegele in Schlaggenwald, vermählt haben. Am 15./25. Februar 1611 wurde den Ehe­ leuten ein Söhnlein auf den Namen Johannes getauft 37). Ein Jahr später wurde er von dem Herrn von Kuttenplan (3 km N Plan), Jobst Adam von Schirnting, auf die Pfarrstelle dieses Ortes berufen 38). Deshalb legte er bei dem berühmten Professor Leonhard Hutter die theologische Prüfung ab und wurde daraufhin am 4. März 1612 von dem Wittenberger Superintendenten Friedrich Baltuin ordiniert. Theobald blieb nicht lange in Kuttenplan; denn als im Jahre 1613 der Pfarrer Christoph Pfreimder (oder Pfreumbder) von Heiligenkreuz bei Hostau gestorben war, folgte er dem Rufe Wolf Friedrich Lammingers von Albenreuth auf diese vakant gewordene Pfarrstelle 39). Sein Landsmann und wahrscheinlicher Verwandter Mag. Stephan Mulz begann am 4. Februar 1614 im benachbarten Hostau mit einer Leichenpredigt auf Susanna, das Töchterlein des Grafen Lorenz von Guttenstein und dessen Ge­ mahlin Sibylla geb. von Schlick, seinen Seelsorgedienst. In dieser Predigt, die gedruckt vorliegt, erwähnt er, daß vor nicht ganz einer Jahresfrist die Geist­ lichen Adam Genselius (Hostau) und Christoph Pfreimbder gestorben seien. Danach ist anzunehmen, daß Mulz und Theobald ziemlich gleichzeitig ihre Stellen angetreten haben40). Theobald blieb auf dieser Pfarrstelle bis zu seiner Flucht nach Nürnberg im Jahre 1620 oder 1621. Auf Grund einer „Vocation“ seines Kollators Wolf Friedrich Lamminger von Albenreuth auf Heiligenkreuz, der als Kapi­ tän zweier Fähnlein Fußvolks an der Belagerung Pilsens durch den Grafen von Mansfeld im Herbst des Jahres 1618 beteiligt war, stellte sich Theobald 35) 3C) 37) 8R)

ABD 31, 500—504. Kr. 3 8, S. 276, Nr. II. Ebda. S. 276, Nr. III. Ebda. S. 276, Nr. IV. Krejcik hat den Text des Ordiniertenbuches „ad pastorale officium, quod est in Chotnow plano(aO, vocatus . . .“, falsch interpretiert; denn er trennte Chotnow und plano durch ein Komma, deshalb nahm er an, daß Theobald in einem Ort Chotnow Pastor gewesen sei. Ein derartiger Ortsname kommt aber in den böhmi­ schen Ländern nicht vor. Chotnow Plana = tschechisch Chodovä Planä = Kutten­ plan. Die Herren von Schirnding waren in dem genannten Ort Grund- und Patronats­ herren vom Jahre 1560 bis 1622 (Senft, Gesch. d. Herrsch, u. St. Plan, S. 8-2 u. 107). S9) Kr 39, S. 67. In der Predigt über die „Auslegung der Wort der Einsetzung des hoch­ würdigen Abendmahls" vom 11. Nov. 1619 erwähnt er, daß er schon sechs Jahre das Predigeramt in Heiligenkreuz als Nachfolger Christoph Pfreumbders innehabe. Kollator der Kirche von Heiligenkreuz waT nach der Widmung der vor Pilsen gehaltenen „Heerpredigt" Wolf Friedrich Lamminger von AlbenTeuth auf Heiligenkreuz, nicht Josef Lamminger von Albenreuth auf Weißensulz, wie Krejcik angenommen hat. 40) Stephanus Mulzius dürfte nach dem Majestätsbrief (1609) der erste evang. Pfarrer von Tachau gewesen sein. Sein Nachfolger war Pfarrer Georg Klein aus Nürnberg (siehe Anm. 17/). (Katalog d. fürstl. Stolberg-Stolberg’schen Leichenpredigten-Sammlung II, S. 154, Nr. 9929.)

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im Feldlager vor Pilsen ein, wo er etliche Predigten hielt, von denen er „auf Ermahnen und Bitten der gantzen Compagni" eine über das „Gebet des theuren Obristen Judae Maccabaei" (Apogr. 1, Makk. 4, 30—3 3), die er am 7. Oktober 1618 neuen Kalenders gehalten hatte, drucken ließ41). Die schon oft geäußerte Ansicht, Theobald sei Feldprediger gewesen, muß daher fallen gelassen werden. Es bot ja keine Schwierigkeiten, das etwa 50 km von Hei­ ligenkreuz entfernte Pilsen in kurzer Zeit zu erreichen. Daß er krankheits­ halber diese „Feldprediger-Stelle" aufgeben mußte, ist daher auch nicht an­ zunehmen. Die Vorrede der Heerpredigt trägt das Datum Heiligenkreuz, 28. Oktober 1618; um diese Zeit dürfte sein Auftrag schon abgelaufen ge­ wesen sein. Als am 27. August 1619 der pfälzische Kurfürst Friedrich V. durch die rebellierenden Stände Böhmens zum König gewählt worden war, war der Pfarrer von Heiligenkreuz als überzeugter Lutheraner über das nach seiner Meinung von den Jesuiten ausgestreute Gerücht, „als weren die sub utraque [in Böhmen durch den neuen König] alle calvinisch worden", so empört, daß er dazu in einer im Druck erschienenen Predigt über die „christ­ liche in Buchstaben göttliches Worts gegründete Außlegung der Wort der Einsetzung des hochwirdigen Abendmahls", deren Vorrede das Datum: Heili­ genkreuz, 11. November 1619, trägt und Josef Lamminger von Albenreuth auf Weißensulz gewidmet war, Stellung nahm42). Diese Predigt sollte be­ weisen, daß die Protestanten Westböhmens, wenn schon nicht die des ganzen Königreichs Böhmen, die orthodoxe Abendmahlslehre als Kern der lutheri­ schen Lehre als allein verbindlich ansahen und die kalvinische als häretisch ablehnten. Zur Rettung der Ehre seines Vaterlandes Böhmen führt er in der Vorrede der Predigt u. a. aus: „Es ist war, diese meine Confession wird nicht beweisen, daß gantz Böhem lutherisch sey, aber ich kan das mit Bestand der Warheit schreiben, daß in der Revier Einbogen, Eger, Tachaw, darinnen ich von Jugend auf gewesen bin, ich nicht weiß, daß über drey (so sehr heimlich eingeschlichen) gewesen seyn, so öffentlich sich calvinisch haben in ihrem Predig-Ambt hören lassen, so hab ich auch von meinen Eltern und Groß­ eltern nicht gehört, daß seyt der Zeit, (da) sie auß dem hussitischen crepusculo [Dämmerlicht] in das helle Tagliecht der Lutherischen Confession kom­ men seyn, daß die Zwinglischen (also haben sie geredt) sich auf der Cantzel haben dürfen hören lassen und ist der zwinglische Name bey ihnen so sehr als der türckische verhaßt gewesen." Im Jahre 1620 wurde auch die Gegend, in der Theobald wirkte, mit Krieg überzogen. Aus diesem Grunde bat er vor dem 30. September 1620 über den Nürnberger Waagmeister Veit Spengler, der aus Adorf im Vogtland stammte, den Rat der Stadt Nürnberg um die Erlaubnis4S), „seinem Weib und Kindern, die er anhero zu schicken Vorhabens, eine Zeitlang bei einem Burger, als Simon Halbmeiern zu vergönnen". In seinem Schreiben teilte er „viel parti 41) Siehe Anhang: Titel der Werke Theobalds Nr. 10. Krejcik hat diese Predigt nicht gekannt, daher vertrat er die falsche Auffassung, daß Theobald Feldprediger bei dem Grafen von Löwenstein gewesen sei (Kr 39, 67). 42) Siehe Anhang: Titel der Werke Theobalds Nr. 5. 43) Kr 38, 277, Nr. V. Über Veit Spengler: Verkündbuch, Landeskirchliches Archiv Nürnberg

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cularia wegen des beharnischen Kriegswesens“ mit. Der Rat beschloß, ihm zu willfahren, „damit er desto mehr Ursach habe, seine Avisen zu continuiren“; demnach weilte Theobald damals noch in Böhmen; denn sonst wäre es ihm ja nicht möglich gewesen, seinen Auftrag auszuführen. Seine Frau und seine Kinder sollten bei dem Drucker und Verleger Simon Halbmeier Unterkunft finden 44). Dieser war demnach im Herbst 1620 schon mit Zacharias Theobald bekannt; vielleicht verhandelten die beiden schon über die Herausgabe der zweiten Auflage des „Hussitenkrieges“, die im nächsten Jahr in dem Nürn­ berger Verlag erschien. Zacharias Theobald dürfte kaum dem Wunsch des Nürnberger Rats nach weiteren Berichten über den Kriegs verlauf in Böhmen erfüllt haben; denn es ist anzunehmen, daß er nach der Niederlage der ständich-protestantischen Partei in der Schlacht am Weißen Berge am 8. November 1620 und nach der Flucht seines Kollators Wolf Friedrich Lamminger von Albenreuth, der in die Rebellion verstrickt war45), sich nach Nürnberg begab. Gleich zu Beginn des Jahres 1621 muß er hier geweilt haben; denn seiner zweiten Auflage des „Hussitenkriegs“ ist ein Porträt, ein prächtiger Kupferstich, beigegeben, der die Jahreszahl 1621 trägt und nur in Nürnberg entstanden sein kann 46). Das Porträt muß aber schon vor dem 21./31. März 1621 entstanden sein; denn an dieem Tag wurden Theobald, der jedem der Herren Losunger ein Exem­ plar seines Hussitenkriegs, in dem sich der Stich befindet, präsentiert hatte, 25 Gulden, ungefähr das Fünffache des Wertes der beiden Bücher, ver­ ehrt47). Eines von diesen Dedikationsstücken ist noch erhalten (siehe Abb.!)* Wertvoller als die Verehrung in Geld, die er für das Werk seines Ge­ lehrtenfleißes erhalten hatte, war für den Exulanten Theobald die Gunst der Herren des Rats, die er auf sich gelenkt hatte. Er war diesem kein Unbe­ kannter mehr. Seinen Bemühungen, wieder im Kirchendienst unterzukommen, sollte bald Erfolg beschieden sein. Am 25. September (8. Okt.) 1621 wurde er an den Mag. Johann Fabricius, den Prediger bei St. Sebald, zur Prüfung und einer Probepredigt gewiesen 48) mit der Vertröstung des Rats, „daß man seiner, wann etwas ledig werde, eingedenk sein wolle“. Als das St. Rochusspital für die dort liegenden kranken Soldaten eines Seelsorgers bedurfte, wurde am 5./15. November 1621 der dortige Spital­ meister vom Rat beauftragt, Theobald zu ersuchen, dies auf sich zu neh­ men49). Für diesen nicht ungefährlichen Dienst in dem Pestkrankenhaus, das

L 52, 23. Dez. 1605. 44) Über Halbmaier vgl. Gottfried Ernesti, Die woleingerichtete Buchdruckerey . . ., Nürn­ berg 1721 (nicht paginiert/). 45) Thomas Bilek, Das nordwestliche Böhmen und der Aufstand im Jahre 1618, Mittn. d. Vereins f. Gesch. d. Dt. in Böhmen, Bd. 24 (1886), S. 293. 46) Über die vorhandenen Porträts vgl. G. W. Panzer, Verzeichnis von Nürnbergischen Portraiten aus allen Staenden. Nürnberg 1790, S. 242. 47) Kr. 38, 277, Nr. VI u. VII. 48) Ebda. S. 277, Nr. VIII. 49) Ebda. S. 287, Nr. IX u. XI.

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für alle ansteckenden Krankheiten zuständig war, erhielt Theobald am 17./27. April 1622 fünfzig Gulden zugesprochen50). Der Beschluß des Rats der Stadt Nürnberg vom 28. Januar (7. Februar) 1622, „Zachariae Theobaldi ingedenk zu sein, wann ein Pfarrdienst auf dem Land ledig" werde, wirkte sich darin aus, daß man Theobald veranlaßte, am 8. Mai 1622 die „Libri normales" zu unterfertigen51), so daß die Formali­ täten erfüllt waren, welche die Vorausetzung für die Übernahme in den Kirchendient des Nürnberger Rats waren. Schließlich setzten sich die Herren Wilhelm, Jobst und Hans Wilhelm Kreß von Kressenstein 52) als Grundher­ ren von Kraftshof dafür ein, daß der Rat, dem das Präsentationsrecht in der dortigen Pfarrei zustand, Theobald anstelle des alten unfähigen Pfarrers Jo­ hann Vogel dort einsetzte 53). Dieser war darüber sehr ungehalten, und als Theobald am 29. Sept. (9. Okt.) 1622 in sein Amt eingesetzt wurde, hatte der alte Pfarrer seine Dienstwohnung noch nicht geräumt, so daß Theobald mit seiner Familie einstweilen im Hinterhaus der Gastwirtschaft Hans Ebers­ bergers Quartier nehmen mußte54). Anderer Verdruß kam dazu: Als der neue Pfarrer am 26. November d. J. die Trauung zweier junger Leute in das Eheregister eingetragen hatte, fügte er folgende Nota an: „Den Ausrufzettel, so Herr Pfarrer von Erlangen ertheilt, hatt mihr mein antecessor aus Neid nicht zugestellt." In den von ihm geführten Trauregistern sehen wir ihn seines Amtes wal­ ten. Streng schied er die Bräute, die in Ehren bei der Trauung ein Kränzlein tragen durften von denen, die dieses Schmuckes nicht wert erschienen und nur eine Haube oder einen Schleier aufhaben durften. So bemerkt er bei einer Trauung am 8. März 1624: Nota bene: Die arme Blinde hats ubersehen und anstad des Krantzes ein Hauben aufgesetzt! Paradox erschien es ihm, daß bei einer Braut, die eine Hauben aufgehabt, das Kind bei der Hochzeit mit der Mutter gedankt habe. Auf strenge Kirchenzucht sehend, mußte er es mißbilligen, daß ein Taufpate „zuvor in Nürnberg ein Reuschlein getrunken, ehe er zu Gevattern gestanden (12. II. 1623). Zu den kleinen Nöten des Alltags gesellten sich bald die großen Sorgen, welche der Dreißigjährige Krieg mit sich brachte. Am 12. November 1623 mußte der Kraftshofer Pfarrer ein Kind aus Wöhrd taufen, dessen Eltern „wegen der Pappenhaimbischen Reuther in die Gärten geflohen" waren. Am 20. Januar 1625 vertraut er dem Taufbuch an, daß ein Kind von Almoshof „wegen des durchzihenten Volcks" in Nürnberg bei St. Sebald getauft wurde. Im Herbst des Jahres 1626 flüch­ teten die Bewohner des Kirchspiels von Krafthof die wertvollste Habe in *°) Ebda. S.278, Nr. XII. 51) Andreas Würfel, Diptycha ecclesiarum in oppidis et pagis Norimbergensibus etc., Nürn­ berg 1759, S. 338 f. 52) Karl Friedrich Frank zu Döfering, Die Kressen, Schloß Senftenegg 1936, Wilhelm 1560—1640, Nr. 237, Sp. 394—408; Jobst, 1565—1640, Nr. 250, Sp. 419—423; Hans Wilhelm, 1589—1658, Nr. 262, Sp. 45 3—491. 53) Kr. 3 8i, S. 279, Nr. XIII u. XIV. 54) Kr. 38, 280, Nr. XVI. Das Tauf und Eheregister, in das Krejcik Einblick nahm, befindet sich jetzt im Landeskirchlichen Archiv. Hans EbeTsberger war Wirt und Gastgeb, wie aus dem Taufregister Kraftshof Nr. 12, S. 7 (Landeskirchl. Archiv Nürnberg) hervorgeht.

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ihre St. Georgskirdie, die ja durch die befestigte Friedhofsmauer geschützt war. Soldaten, die trotzdem zu plündern versuchten, standen nur davon ab, als ihnen die Dorfbewohner zwanzig Taler Ranzion auf ihre Drohung hin gaben 55). In diese Zeit fiel die Geburt seines Söhnleins, das am 29. August 1623 auf den Namen Friedrich getauft wurde. Mutter war die zweite Gemahlin Zacharias Theobalds, Elisabeth, die Tochter des weiland „hochgelehrten und fürnemen Herrn Wolfgang Ölkansen, Syndici, Stadtschreibers und Stadrich­ ters der kaiserlich freyen Bergstad Schlaggenwald", wie es im Taufregister heißt56). Theobald besaß in Schlaggenwald, von seiner mütterlichen oder von beiden Frauen her etliche Güter, derentwegen er von dem damals schon mit Katholiken besetzten Rat zitiert wurde. Theobalds Schreiben auf diese Vorladung wurde von dem Rat dieser Bergstadt in einem Schreiben an Nürn­ berg als anzüglich und unbescheiden zurückgewiesen und weiterhin die An­ nahme eines Privatschreibens von ihm abgelehnt. Es wurde dem Kraftshofer Pfarrer ein peremptorischer Termin von sechs Wochen gesetzt, in dem er per­ sönlich oder durch einen Bevollmächtigten „seine Notdurft" anbringen könnte. Der Rat sah sich wegen dieser Sache genötigt57), „ihne sein Unbe­ scheidenheit zu verweisen". Am 14./24. Februar 1626 wurde vom gleichen Rat beanstandet, daß er bei Nacht mit dem Degen im Dorf herumschwärme 58). Der Grund dieses merkwürdigen Verhaltens könnte gewesen sein, daß ihm die Nederin [Näherin?] des Dorfes „allerlei Hohn und Üppigkeit bewiesen" hat, weshalb dieser vom Nürnberger Rat auferlegt wurde, „ihne nicht allein hinfüro unbeleidigt zu lassen, sondern auch aus dem Dorf hinweg zu machen und eine andere Herrschaft zu suchen". Theobald scheint von schwacher Leibesbeschaffenheit gewesen zu sein. Schon im Jahre 1621 war er krank im St. Rochusspital gelegen 59), doch im Frühjahr 1626 brach ein schweres inneres Leiden aus, zu dem chronische Heiserkeit kam 60). Von Ostern bis Pfingsten und vom fünften Sonntag Trini­ tatis bis Allerheiligen, insgesamt 23 Wochen konnte er den Predigtdienst nicht versehen und mußte deswegen von einem Vicarius, seinem späteren Nachfolger Balthasar Reinsperger, einem gebürtigen Nürnberger, vertreten 55) Verlässe des Nürnberger Rats (Staatsarchiv Nürnberg), Nr. 2062, f. 62’ (9. Nov. 1626). Vgl. dazu auch RV 2066, f. 6, RV 2067, f. 19. 56) Tauf- und Eheregister Kraftshof Nr. 11, Landeskirche. Archiv Nürnberg. 57) Kr 38, 282 f., Nr. XXIV. 58) Kr 38, 284, Nr. XXVIII. „Degen“ muß in diesem Zusammenhang nicht unbedingt die Waffe bedeuten; denn nach Ausweis der Kirchenbücher von Kraftshof aus jener Zeit gab es in dem eingepfarrten Dorf Neunhof eine Familie Degen. H. W. Kreutzer, Staats­ archiv Nürnberg, danke ich für den freundlichen Hinweis. 59) Kr 38, 278, Nr. IX. 60) Siehe Trostgedicht von Christoph Crinesius in Theobalds nachgelassenem Werk „Arcana naturae“, teilweise abgedruckt in diesem Aufsatz am Ende des ersten Teiles. Auf die chronische Heiserkeit weist der sonst schlecht unterrichtete Dr. med. Paulus Freher in seinem Werk Theatrum virorum eruditione clarorum, Nürnberg 1688, S. 429 hin. Freher könnte recht haben, weil Theobald während seiner Krankheit zwar als Prediger ver­ treten werden mußte, jedoch die schriftlich zu erledigenden Amtsgeschäfte nach Aus­ weis der Kirchenbücher und des Schriftwechsels mit dem Rat weitet ausführte.

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werden61). In die Zeit seiner Krankheit fiel seine Designierung zum Profes­ sor der Mathematik an der Universität Altdorf nach dem Tod des Johann Kaspar Odontius am 17. Juli 1626 62). Ob er besondere Fähigkeiten auf die­ sem Fachgebiet hatte, ist nicht bekannt. Auf die Berufung weist ein Jahr nach dem Tode Theobalds sein Freund Prof. Crinesius in seinem Trostgedicht in dem nachgelassenen Werk „Arcana naturae“ hin, das zum Teil in diesem Aufsatz abgedruckt ist. Bis zum ersten Dezember 1626 machte Zacharias Theobald die Eintra­ gungen in das Kirchenbuch (Tauf- und Eheregister) selbst; doch an diesem Tage ist auch Reinsperger durch eine Eintragung vertreten. Vielleicht war er mit dem 1. Dezember 1626 zur Ruhe gesetzt worden und zog nun als tod­ kranker Mann mit seiner Familie nach Nürnberg, wo er im Krämersgäßlein unter der Burg eine Wohnung bezog. Am 10. Januar 1627 erhielt er nach einem Beschluß des Landalmosenamtes, dem die Pfarrei Kraftshof unterstand, als zur Ruhe gesetzter Pfarrer zu Kraftshof in seiner großen Krankheit zwölf Gulden zu einem Bibal (Trinkgeld)83). Am 24. Januar 1627 wurde sein Leib auf dem St. Johannisfriedhof zur letzten Ruhe bestattet64). Wo er begraben liegt, ist nicht mehr festzustellen, doch dürfte sein Wort, daß es „aller historicorum Glück ist, daß ihr Name wie ein schöner Rosamarien-Stock auf ihrem Grab grünet“ auf ihn anzu­ wenden sein. Ein Jahr nach seinem Tode hat sein Freund und Landsmann, der Altdorfer Professor Christoph Crinesius, in einem lateinischen Trost­ gedicht, das mit anderen dem nachgelassenen Werk „Arcana naturae“ vor­ angestellt ist, als genauer Kenner des Lebenswerkes des Verstorbenen fol­ gende Würdigung geschrieben: Stannifera urbs Sylvae genuit nos Slacconis ambos, Haecque MFxaklocpikov te dedit esse virum. Hussica tu doctis mandasti proelia chartis, Proelia Germanis notificanda viris. Weigeliae contra blasphemum dogma catervae Strinxisti calamum, non sine laude, tuum. Nuper et Hebraeae mysteria noscere linquae Coepisti, doctus verba Pelasga loqui. Iamque Palaecomen fueras mittendus in urbem, Ut socius fieres utilis arte Scolae. Sed tua mors tetigit praecordia (flebile dictu)

61) Landalmosenamt Nürnberg: Jornal Nr. 193 (1626/27), 18. Okt. 1626, dasselbe Cassabuch dieses Amts Nr. 456, 18. X. 1626. Staatsarchiv Nürnberg. 62) Johann Gabriel Doppelmayer, Historische Nachricht von den Nürnbergisdien Mathematicis und Künstlern, Nürnberg, 1730, S. 95, Anm. c. 63) Staatsarchiv, Landalmosenamt, Jornal nr. 193 (1626/27), Ausgaben vom 10. I. 1627, Cassabuch Nr. 456, Titel: Gemeine Extra Ordinari-Ausgab, 10.1.1627. 64) Kr 28, 286, Nr. XXXIII, Nürnberger Totenbücher von 1652—1627, fol. 195, Staats­ archiv Nürnberg Rep. 56, Nr. 29.

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Hepatis et laesite tulit atra lues. Decedens equidem migrasti ad sydera terris, Sed partum ingenio stat sine morte decus. Gratulor aeternam tibi, mi Theobalde, quietem, Utque mihi similis detur in Axe, precor. Exeoort%ov;

Te perlMIt, TheobaLDe sagaX, Vis FebrVa, IVXta At genIVs VegetVs VIVet In aXe ooqpc~)v.

Übersetzung: Die zinnreiche Stadt Schlaggenwald hat uns beide gezeugt; sie hat Dich zu einem die Bergwerke liebenden Mann gemacht. Die Hussitenkriege hast Du in gelehrten Büchern beschrieben, um den Deutschen diese Kämpfe be­ kanntzumachen. Du hast in lobenswerter Weise gegen die gotteslästerliche Lehre der Weigelschen Rotte Dein Schreibrohr gezückt. Neuerdings hast Du begonnen, in die Geheimnisse der hebräischen Sprache einzudringen; die Sprache der Griechen ist Dir als Gelehrter bekannt. Du warst schon bestimmt, in die Stadt Altdorf (Palaeocome) geschickt zu werden, damit Du als Kollege nützlich sein mögest in der Kunst des Unterrichts, als der Tod Dir die Ge­ gend des Herzens und der Leber (weinend gesteh ich’s) berührt und die furchtbare Krankheit Dich schließlich hinweggerafft hat. Zwar bist Du, die Erde verlassend, zu den Sternen aufgestiegen, doch der durch Talent erwor­ bene Ruhm kennt den Tod nicht. Ich wünsche Dir Glück zur ewigen Ruhe, mein Theobald, und bete darum, daß sie mir in ähnlicher Weise zuteil werde. Eteostichon [= Chrono stichon]: Dich hat die Gewalt des Fiebers hinweggerafft, scharfsinniger Theobald, aber Deine lebendige Seele lebe im Himmel der Weisen/

II Das erste Werk des jungen Magisters Zacharias Theobald und wie es sich später heraussteilen sollte, auch sein bedeutendstes ist der „Hussitenkrieg, darinnen begriffen das Leben, die Lehr und Tod M. Johannis Hussii und wie derselbige von den Böhmen, besonders Johann Zisska und Procopio Raso ist gerochen worden". Nach dem Datum des Vorwortes (Wittenberg, den 26. April 1609) zu schließen, muß das Buch gerade zu dem Zeitpunkt in 17

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dem bedeutenden Verlag Samuel Selfisch1) in der Elbstadt erschienen sein, als die protestantischen böhmischen Stände von ihrem schwachen König Rudolf II. die Gleichberechtigung ihres Bekenntnisses mit dem katholischen am 9. Juli 1609 ertrotzt hatten. Bezeichnend ist ja, daß das Buch, das einen weiten Leserkreis auf das Herzland Europas hinwies, dem energischsten Ver­ treter der lutherischen Glaubensrichtung in Böhmen, dem Grafen Joachim Andreas Schlick, gewidmet war, wie schon erwähnt wurde. Nach den Worten der Vorrede hatte der neugebackene Magister der Philosophie schon im ersten Jahr seiner neuen Würde (1604) begonnen, Material für eine Geschichte des ersten Hussitenkriegs zu sammeln. Als er zu Wittenberg „aus sonderlichen zu den Historien Lust etliche Tractätlein neben etlichen in Latein Brief und die Tomos M. Johann Hussii, des böhmi­ schen Martyris", gelesen hatte und dabei feststellen mußte, „wie unbillig und unchristlich dieser Mann von dem concilio zu Costnitz ist neben M. Hieronymo Pragensi verbrannt worden", hätte er begonnen, was er „damals in Historien finden mögen, zusammenzuschreiben und Hajeci2), Dubravii3), Lupacii4) neben ander historicorum Schriften zu durchsuchen". Theobald begnügte sich aber nicht nur mit den über die hussitische Bewegung vorliegenden Werken der Geschichtsschreiber, sondern besuchte in den Jahren 1605 bis 1607 die hussitischen Gedenkstätten in Prag, Tabor und Tschaslau und noch anderswo, wie anzunehmen ist. Seine dort gemachten Beobach­ tungen, die er in sein Hauptwerk einfließen ließ, haben heute noch Quellen­ wert und können von keinem ernsten Geschichtsforscher übersehen werden. Kann man heute sein Werk nicht mehr als Grundlage für eine neue Dar­ stellung der hussitischen Bewegung verwenden, so muß doch anerkannt wer­ den, daß seine Methode, an Ort und Stelle die Denkmäler der großen böhmischen Glaubensbewegung kennenzulernen, gut war. Sein Bestreben, handschriftliche Zeugnisse über sein Stoffgebiet aufzufinden, ist zu loben. Er liebte auch moralisierende Bemerkungen. Auf den Vorwurf, „daß er fort und fort ethicalische Diseurs mit einmenge,,, antwortet er, daß er das nur zu dem End tue, „damit sie, die Leser, nicht allein bessern der Sachen Bericht, sondern auch einen Lust daran haben mögen". Die Historien sollen zum Nachdenken anregen, wenn sie nicht „rockenstubnerische Mährlein" sein sollen5). Erdbeben, Kometen, Stürme sieht er als Warnungszeichen Gottes an *) H. Leonhard, Samuel Selfisch, ein deutscher Buchhändler am Ausgange des 16. Jahr­ hunderts, Leipzig 1902. 2) Wenceslaus Hagecus a Liboczan, tschechich Vaclav Häjek z Libocan, starb 9. März 1553 in Prag. Vgl. Bertold Bretholz, Geschichte Böhmens und Mährens, Bd. I (Reichen­ berg 1921), S. 9 f. 8) Johann Dubravius (tschech. Doubravsky ze Skäly), 13. Bischof von Olmiitz, schrieb in elegantem Latein die „Historia regni Bohemiae“ (15 52). Für den Zeitraum von 1400 bis 1517, den Theobald bearbeitet hat, war sein Werk ziemlich wertlos, weil es ganz von dem Lügenchronisten Häjek abhängig war. 4) Siehe Teil I, Anm. 27. Das Hauptwerk des Lupacius ist sein nach dem Vorbild des Wittenberger Professors D. Paul Eber herausgegebener historischer Kalender „Rerum Boemicarum Ephemeridis historicae über primus“, der 1578 in Nürnberg gedruckt und im Jahre 1584 in einer verbesserten Ausgabe in Prag herauskam. Vgl. OS1N. 16, 465 f. ß) Huss. II, 115.

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und vergißt nicht, gleich den Chronisten seiner Zeit darauf besonders hinzuweisen. Das Buch „Hussitenkriege muß gut abgesetzt worden sein; denn nach­ dem Theobald in den Jahren 1611 und 1612 bei seinem alten Verleger drei kleinere Schriften6), auf die noch zurückzukommen sein wird, veröffentlicht hatte, begann er, den ersten Teil um die Stellen zu kürzen, die sich nicht mit dem Hussitenkrieg befassen. Dabei fielen z. B. weg das ganze 3 5. Kapitel, das den „Kuttenbauren" (Choden) gewidmet war, und die phantasievolle Erzählung Häjeks von der schönen Helena auf Frauenberg (Pfraumberg)7). Dem ersten Teil fügte er noch zwei weitere und die Böhmische Konfession an. Der zweite Teil führt vom Ende des 1. Hussitenkrieges bis zum Tod des jungen Königs Ladislaus Posthumus (1437—1457) und der dritte Teil be­ handelt die Zeit des Hussitenkönigs Georg von Podiebrad und der beiden Jagellonenkönige. Er schloß aber seine Darstellung der Ereignisse nicht mit dem Tod des Königs Ludwig in der Schlacht bei Mohäcz (1526) ab, sondern mit dem „frölichen Aufgang des ewigen Evangelii in Teutschland“ im Jahre 1517 8), woraus zu ersehen ist, daß er die Geschichte des Hussitentums vor dem genannten Jahre nur als eine Vorstufe, als Zeit der Dämmerung (crepusculum) vor dem Aufleuchten der Sonne einer neuen Zeit in den Ab­ lauf der Kirchengeschichte eingereiht sehen wollte. In dieser Auffassung fühlte sich Theobald auch durch die (angebliche) Prophezeiung des Hus(tschech. Gans), daß der „teutsche Elbschwan" nach ihm kommen müsse, bestärkt9). Theobald hatte wohl vor, die neue erweiterte Auflage des „Hussiten­ krieges" zur Jahrhundertfeier der Reformation (1617) drucken zu lassen10); denn er erwähnt in der Vorrede, daß er keinen „füglichen" Verleger finden konnte, was leicht zu verstehen ist, wenn man bedenkt, daß das gedruckte Buch später 8 55 Quartseiten umfaßt hat. Jedenfalls war das Buch schon im wesentlichen fertig, „ehe der Krieg in Böhem angegangen" (1618), wie es in der Vorrede heißt. Daß auch nach dem genannten Jahr an dem Manuskript gefeilt wurde, geht aus dem Geständnis Theobalds hervor11): „. . . wolle 6) Siehe Anhang: Titel der Werke Theobalds Nr. 2 (Adumbratio), Nr. 3 (Series) und Nr. 4 (Fichtelberg). 7) Huss I1, 216 und 169. 8) Huss III, 4. ö) Luther sagte darüber: „Sanct Johannes Hus hat von mir geweissagt, da er aus dem gefe(n)gnis jnn Behemerland schreib, sie werden jtzt eine gans braten (denn Hus heißt eine gans), aber über hundert jaren werden sie einen schwanen singen hören, den sol­ len sie leiden. Da sols auch bey bleiben, ob Gott wil.“ Aus der „Glosse auf das ver­ meinte kaiserliche Edikt 1531“ in D. Martin Luthers Werken, krit. Gesamtausgabe, 30. Bd., 3. Abt., S. 387, Zeile 18 ff. Theobald kannte diese Weissagung aus den „LutherHistorien“ des Joh. Mathesius. Vgl. H. Volz, Die Lutherpredigten des Johannes Mathesius, krit. Untersuchungen, Leipzig 1930, S. 76. Dazu auch Adolf Hauffen, „Huß eine Gans — Luther ein Schwan", Untersuchungen und Quellen zur germanischen und roma­ nischen Philologie, Joh. v. Kelle dargebracht von seinen Kollegen und Schülern, 2. Teil (Prager deutsche Studien Nr. 9), Prag 1908, S. 1—28. 10) Arnost Kraus, Nemeckä literatura na pude CSR. do roku 1848. Ceskoslovenska vlastiveda VII, Pisemnictvi (Die deutsche Literatur auf dem Boden der CSR. bis zum Jahre 1848. Tschechoslowakische Heimatkunde VII, Schrifttum), Prag 1933, S. 303. n) Huss. III, 29. 17*

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Gott, ich hette das Elend, so jetzt mein hoch- und übelgeplagtes Vatterland Böhem betrifft, nicht erlebet." Theobald war es bestimmt Ernst damit, eine möglichst unparteiische Dar­ stellung des Verlaufs der Hussitenwirren zu bringen, wie aus seiner Äußerung hervorgeht, daß er mehr in päpstischen als böhmischen Scribenten nachgelesen, „darum destoweniger der Verdacht sein kann, als hätte ich einer Parthey mehr als der andern zugelegt". Wie schwer es ihm fiel, die Werke der katholischen Geschichtsschreiber durchzuarbeiten, geht aus einer Bemerkung zu Beginn des dritten Teiles des „Hussitenkriegs" (S. 3) hervor: „...jetzt habe ich durchgebahnet durch den Sylvischen, Krantzischen, Hagekischen, Cochläischen und anderen bäpstischen Schnee." Es darf wohl gesagt werden, daß sein Werk viel an Lebendigkeit verloren hätte, wenn er gegenüber seinem Stoff nur kühle Objektivität hätte walten lassen. Am gründlichsten hat sich bisher Arnost Kraus, einst Professor der deutschen Literatur an der tschechischen Universität in Prag, mit dem Werk Theobalds auseinandergesetzt12). Er hat einwandfrei nachgewiesen, daß der Schlaggenwalder Gelehrte sehr stark von dem im Jahre 1541 zum ersten Mal erschienenen Werk „Ceskä kronika" (= Böhmische Chronik) des tschechi­ schen Chronisten Vaclav Häjek z Libocan abhängig gewesen ist. Da Theobald der tschechischen Sprache nicht oder nur in sehr geringem Maße mächtig war, kann er es nur in der deutschen Übersetzung des Kaadner, später Komotauer Stadtschreibers Johann Sandei kennengelernt haben, die zuerst im Jahre 1596 in der Altstadt Prag von Nikolaus Straus gedruckt und von dem Brüxer Bürger Andreas Weidlich verlegt worden ist. Wie ist es zu erklären, daß dieses Werk des „böhmischen Livius" auf Theobald und seine Zeitgenossen so einen großen Eindruck gemacht hat? Einmal war es das scheinbar reiche geschichtliche Wissen, das in diesem Buche vor dem Leser ausgebreitet wurde, zum andern war es die lebendige Erzählkunst Hajeks, welche die Leser zu packen verstand13). Erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts (1762—1786) gelang dem ge­ lehrten Piaristen Gelasius Dobner der Nachweis, daß in diesem Werke die meisten Begebenheiten erdichtet oder sagenhaft ausgeschmückt waren, und die Jahreszahlen, die besonders das Vertrauen der Leser erweckt hatten, für die ersten Jahrhunderte der böhmischen Geschichte skrupellos erfunden worden waren 14). 12) Kraus, Husitstvi I, 243—248. ls) Siehe Anm. 2, Teil II. Von der tschechischen Ausgabe der Häjek’schen Böhmischen Chronik (1541) erschien erst im Jahre 1819 eine zweite Auflage, dagegen war das Interesse der deutschen Leserwelt an der Übersetzung Sandeis so groß, daß sie im Jahre 1697 in Nürnberg im Verlag Balthasar Joachim Endters in einer zweiten Auflage, die Kaiser Leopold „dem Großen“ gewidmet war, erscheinen konnte und bald darauf im Jahre 1718 in Leipzig bei Thomas Fritsch eine dritte erleben konnte (Vgl. dazu Cenek Zibrt, Bibliografie öeske historie, Teil II, Prag 1902, Nr. 18 51, S. 580). 14) Eugen Lemberg, Der deutsche Anteil am Erwachen des tschechischen Volkes, in: Hel­ mut Preidel, Die Deutschen in Böhmen und Mähren, Gräfelfing bei München 1950, S. 315 und Jaroslav Vlcek, Dejiny ceske literatury, Bd. II (Prag 1951)> S. 122 ff.

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Es ist sehr wahrscheinlich, daß Zacharias Theobald jun. schon als Latein­ schüler in der reichen Bergstadt Schlaggenwald diese umfangreiche Neu­ erscheinung (Folioformat 1) kennen- und schätzengelemt hat. Mußte nicht schon das Äußere des Buches, sofern es ihm in Leder gebunden und in Gold­ schnitt entgegentrat, den Eindruck hervorrufen, ein erlesenes Geisteserzeugnis vor sich zu haben? Als daher der junge Konrektor von Schlaggenwald die erste Auflage seines Buches zusammenstellte, war er noch ganz im Bann des Zauberers Hajek. Er konnte sich zwar sein Leben lang wie alle seine Zeit­ genossen und auch die folgenden Historikergenerationen seines Einflusses* nicht entziehen, doch läßt sich feststellen, daß er in der zweiten erweiterten Auflage des „Hussitenkriegs“, wahrscheinlich angeregt durch lautgewordene Kritik an Häjeks Chronik und an seinen eigenen Schriften, Hajek kritischer entgegenzutreten wagte. Einige Beispiele seien dafür angeführt: In der zweiten Auflage des „Hussitenkriegs“, Teil 2, S. 47, kritisiert er Hajek und fährt dann fort, daß er den Historicis, die zu einer bestimmten Zeit gelebt und geschrieben, lieber als Hajek glaube. Im Teil 2, S. 150, übernahm Theobald eine Erzählung von Hajek, nach der zwei Mönche mit einem Brief des Prager Domkapitels nach Rom geschickt, aber bei Klattau von einem Adeligen gefangen worden sein sollen. Sie seien in den Turm der Stadt Klattau ge­ worfen worden, wo Wunder geschehen seien. Hajek erwähnt bei dieser Be­ gebenheit (Böhmische Chronica 1596, S. 149), sie sei in der genannten Stadt verzeichnet worden und sei vielleicht auf dem Rathaus daselbst noch zu finden. Als sich Theobald darnach erkundigte, „wollte niemand etwas darvon wissen, sondern mich viel, daß ich fabulis Hagecianis glaub, außgelachet“. Scharf tritt er Hajek entgegen, wo er über den Tod und die Bestattung der Witwe Johanna des Hussitenkönigs Georg von Podiebrad berichtet (Teil III, S. 130): „Hagek hauet allhie über die Schnur, sagt, man hab sie nach Prag geführt, aber Cuthenus 15) stimmt mit mir überein, so ist ihr Leichstein noch zu Melnick in der Kirchen zu finden, welchs bey mir mehr gilt als Hageci Bericht.“ Will man dem Geschichtsschreiber Theobald gerecht werden, so darf man nicht die strengen Maßstäbe der modernen Geschichtswissenschaft bei ihm anlegen, sondern muß sein Werk im Rahmen seiner Zeit sehen. Der tschechi­ sche Gelehrte Jaroslav Vlcek, der wie der von ihm verehrte Hermann Hettner die ideengeschichtliche Auffassung in der Literaturgeschichte vertreten hat, kann uns den richtigen Weg zum Verständnis Theobalds zeigen. Im Band I (S. 3 51) seiner Geschichte der tschechischen Literatur16) führt er u. a. aus: „Der [eine bewußt katholische Tendenz verfolgende] Verfasser der Böhmi­ schen Chronik erreichte, was er beabsichtigte. Sein Buch wurde die Brille, durch die das tschechische Lesepublikum in seiner großen Mehrheit durch fast drei Jahrhunderte auf die Vergangenheit seines Volkes blickte. Aber Hajek erreichte noch mehr: Bis zur kritischen Geschichtsforschung der Neuzeit wurde 15) Martin Cuthenus (tschech. Kuthen ze Sprimsberka) lebte von ca. 151CX—1564. Aus welchem Werk dieses wenig bedeutenden Geschichtsschreibers Theobald seine Nach­ richten entnommen hat, konnte ich nicht feststellen. ,e) Dejiny Ceske literatury, 2 Bände, Prag 1951.

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fast von der ganzen Historiographie des In- und Auslands die Häjek’sche Chronik als die verläßlichste und vollkommenste, mit einem Wort klassische Quelle der böhmischen Geschichtsschreibung angesehen und häufig und voll Vertrauen aus ihr geschöpft und weiter darauf aufgebaut; das Werk durch Übersetzungen verbreitet. Deshalb hat die neuzeitliche Auseinandersetzung mit dem Werk, das absolute Geltung in Anspruch nahm, nur schwer und langsam die alte Tradition durch einen ebenso absoluten Standpunkt zu erschüttern vermocht/' Zum Verständnis der Leistung Theobalds kann es beitragen, wenn wir sein Verhältnis zu Häjek mit der Einstellung vergleichen, die der bedeu­ tendste Vertreter des sogenannten Goldenen Zeitalters der tschechischen Literatur, Daniel z Veleslavina (1546—1599), diesem Chronisten gegenüber eingenommen hat. Theobald übt hie und da an dem Verfasser der „Böhmi­ schen Chronik" Kritik, die aber den Wert des Werkes im großen und ganzen unangetastet läßt, jedoch Veleslavin, der bekannte Buchdrucker und Schrift­ steller, lobt und verteidigt ihn. Die Lügenhaftigkeit Häjeks, die wir ihm heute besonders ankreiden, entschuldigt er damit, daß er in dieser Hinsicht die Poeten nachgeahmt hätte, die wie er das Volk belehren und unterhalten wollten. Auch die Werke von Herodot und Livius enthielten vieles Erdichtete, Unsichere und Unbegründete, ja sogar lächerliche Dinge. Der verständige Leser werde leicht die Wahrheit von Erfundenem zu scheiden wissen (Theo­ bald und seinen Zeitgenossen ist das ebenso wie späteren Generationen nur in geringem Maße gelungen!). Besonders schätzt Veleslavin die zahlreichen Zeitangaben der Chronik. Diese seien das Auge der Geschichte. Ohne dieses Auge gleiche der Leser einem Wanderer, der in der Finsternis ohne Laterne oder in einem unbekannten Wald ohne Führer herumirre. Bei dieser Wert­ schätzung der Chronik Häjeks ist es verständlich, daß es Veleslavin als Glück für die tschechische Literatur seiner Zeit angesehen hätte, wenn das längst vergriffene Werk in einer verbesserten und erweiterten Auflage hätte er­ scheinen können (Vlcek, a.a.O. 399 f.), was erst 1819 (!) geschah. Eine zu scharfe Kritik am „Hussitenkrieg" Theobalds ist auch deshalb nicht am Platze, weil bedeutendere Geschichtsschreiber, als er einer gewesen, Fälschungen gutgläubig als Wahrheit hingenommen haben. Der erste baye­ rische Geschichtsschreiber von Format, Johannes Aventinus (1477—1534), hat in seinen berühmten „Annales Bojorum“ („Bayr. Chronik") für die ältere Geschichte seines Vaterlandes „den lügnerischen Erfindungen eines Annius von Viterbo" Glauben geschenkt und Frantisek Palacky, dem großen tschechi­ schen Historiker, ist der berechtigte Vorwurf nicht erspart geblieben, daß er sich bei der Darstellung der ältesten böhmischen Geschichte von den von Vaclav Hanka gefälschten Grüneberger und Königinhofer Handschriften be­ einflussen ließ 17). A. Kraus hat Theobald auch vorgeworfen, daß er in seinem Hauptwerk nicht nur den falschen Angaben des „böhmischen Livius" gefolgt ist, sondern 17) Franz X. von Wegele, Aventin, Bayerische Bibliothek, Bd. 10, Bamberg 1890, S. 29 f. — Bertold Bretholz, Geschichte Böhmens und Mährens, Bd. I, Reichenberg 1921, S. 16 f

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auch dessen ungünstige Beurteilung der Hussiten übernommen hatl8). Theobalds Zizka sei der Häjeks. Nur aus Rach- und Raubgier sei irgendein Kloster zerstört oder die Bevölkerung einer Stadt hingemordet worden. Bedauernd stellt Kraus fest: „Aus dieser Quelle sollten sich auf Jahrhunderte hinaus die Protestanten über die Hussiten in der festen Überzeugung belehren lassen, daß dieses Bild das günstigste sei, das sich von ihnen zeichnen ließe und die Katholiken zitierten sie, dabei feststellend, daß so die Hussiten von einem für sie eingenommenen Parteigänger geschildert werden/' Dazu ist zu bemerken, daß Theobald nach dem auf dem Titel seines Werks angegebenen Programm, die Rache der Böhmen, besonders Zizkas und Prokops des Kahlen, für die Verbrennung des Hus darzustellen, gar nicht anders konnte, als die Kriegszüge der Hussiten in diesem Sinne zu schildern. Welch großen Anklang schon die erste Auflage von Theobalds „Hussitenkrieg" in der Leserwelt fand, ist daraus zu ersehen, daß das Werk von dem aus Heidelberg stammenden Schulmeister Jakob Pontanus (oder Brücker) ins Lateinische übersetzt wurde und im Jahre 1621, demnach gleichzeitig mit der stark erweiterten und verbesserten deutschen Auflage, erschienen ist19). Das Buch war dem Gesandten des englischen Königs Jakob I. in Deutschland, Jacobus Hay, vicecomes Doncastria (= James Hay, Viscount Doncaster) gewidmet. Die Widmung ist datiert „Neo - Hanovia, den l.März 1621", woraus hervorgeht, daß sich damals der Übersetzer in der in schnellem Aufbau begriffenen, von kalvinischen Wallonen und Flamen besiedelten Neustadt Hanau aufhielt. Als Grund für seine Übersetzung gibt Pontanus in der Wid­ mung an20): „. .. ich zweifle nicht im geringsten daran, daß der Autor selbst, wenn er nicht zufälligerweise durch das Schicksal dem Leben entrissen worden ist oder wenn er noch am Leben ist und nicht durch andere Beschäftigungen abgehalten wird, dieses Werk in das viel glänzendere lateinische Gewand hätte kleiden können. Da aber jetzt aus bestimmten Gründen eine Über­ setzung gebraucht wird, konnte und wollte ich die Bitte des Buchdruckers nicht abschlagen." Daraus ist zu ersehen, daß dem Übersetzer der Autor Theobald völlig unbekannt war. Da ein kaiserlicher Schutzbrief für das Originalwerk nicht vorlag, wurde dieses ohne Wissen des Verfassers den 18) Kraus, Husitstvi I, 248. lö) Pontanus wurde als Jacobus Brücker am 14. Nov. 1594 an der Universität Heidelberg immatrikuliert, später tritt er uns als Kollaborator in Sobernheim, dann als Lehrer in Frankenthal und Pfarrverseher von Mörsch entgegen. Vom Jahre 1610 bis 1612 war er Lateinlehrer in Frankenthal und von 1613 bis 1619 Schulmeister in Oberdiebach. Vgl. Georg Biundo, Pfälzisches Pfarrer- und Schulmeisterbuch, Geschichte der prote­ stantischen Kirche der Pfalz, Bd. I (Kaiserslautern 1930, S. 129. Dazu Gustav Toepke, Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386—1662, 2. Teil, S. 176, Nr. 189, und Julius Zimmermann, Das sogenannte „Rote Buch", Quellen und Studien zu hessi­ schen Schul- und Universitätsgeschichte, herausgegeben von Wilhelm Diehl, Darmstadt 1911, S. 152, 175 u. 185. Über James Hay vgl. The Dictionary of National Biography, Vol. IX, S. 265 f. (London 1917). 20) Text des Originals: „ . . . mihi dubium omnino nullum est, quin ipse autor, nisi forte vel fata ipsum rebus humanis exemissent, vel, si etiamnum superest, alia negocia abstraxissent, opus hocce suum multo splendidiora toga Romana amicire potuisset, quia tarnen hoc tempore certis de causis interpretatione illa nobis opus fuit, typographo petenti eam denegare nec debui, nec volui."

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Gepflogenheiten jener Zeit entsprechend ins Lateinische übersetzt und ver­ öffentlicht. Die prächtige „Toga Romana“, in die Pontanus das Werk Theobalds hüllte, hat wohl den Vorteil für den Verfasser gehabt, daß sein Buch über Deutschland hinaus bekannt wurde, doch muß es als großer Mangel des „Bellum Hussiticum“ angesehen werden, daß der Übersetzer die von Theobald ins Deutsche übertragenen lateinischen Urkunden wieder zurückübersetzt hat. Was dabei herausgekommen ist, möge folgender Vergleich zeigen: Es wurden zwei Sätze aus dem Bericht des Hus über seine Reise von Prag nach Nürnberg vom 20. Oktober 1414 ausgewählt (Frant. Palacky, Documenta mag. Joannis Hus, Prag 1869, S. 75, Nr. 39): Text der Originalurkunde: „Postea in Nova civitate valde grate omnes Teutonici me viderunt. Vaydam pertransivimus habentes magnum populum in admiratione.“ Übersetzung Theobalds (Huss I1, 50 oder I2, 40): „Hernacher zur Neustad haben mich alle Teutsche gern gesehen. Als wir durch Wenden [I2 Weyden] durchzogen, sahen uns ihrer viel mit Ver­ wunderung an." Rückübersetzung durch Pontanus (Bellum Huss. S. 20): „Postea Neapoli Germani omnes me aequissimis oculis aspicere et Vandali multi nos regionem suam transeuntes cum admiratione intueri.“ Der Druckfehler „Wenden“ in der ersten Auflage statt richtig „Weyden“ (verbessert in der 2. Auflage) wurde von dem Übersetzer brav übernommen. Theobalds „Hussitenkrieg“ blieb Jahrhunderte lang ein geschätztes Standardwerk für die Geschichte der hussitischen Bewegung. Einige Beispiele sollen das beweisen: Gottfried Arnold 21) stützte sich darauf in seiner ge­ waltigen „Unpartheiischen Kirchen- und Ketzerhistorie“ (1699); doch ver­ achtete auch er Hajecus nicht. Der französische Bierliner Geistliche Jaques Lenfant22) schöpfte vertrauensvoll aus dem „Hussitenkrieg“ für sein großes Werk „Histoire du Concile de Constance“ (1714), das in den Jahren 178 3 bis 1788 in Preßburg und Wien von dem aus Nürnberg stammenden pro­ testantischen und von der Aufklärung beeinflußten Wiener Kaufmann Michael Christian Hirsch 28) unter dem Titel „Geschichte des Hussitenkriegs und des Konziliums von Basel“ in deutscher Übersetzung erschienen ist. A. Kraus hat bei der Besprechung dieses Werks ganz übersehen24), daß Hirsch sein Mitstreiter ist; denn dieser rügt im Vorbericht des Bandes I (S. IX) Lenfant deshalb, weil er die Hussiten „als barbarische, blutgierige Leute abgemahlet, so wie er sie in dem Balbinus und in verschiedenen kalixtinischen und katholischen, sowie auch in einigen protestantischen Schriftstellern, als z(um) E(xempel) im Theobaldus, . .. gefunden“. Der böhmische Historiker Franz Pelzei26) zog Theobalds „Hussitenkrieg“ für seine „Kurzgefaßte Geschichte Böhmens“ (Prag 1774) ebenso heran wie später der Bonner bzw. Wiener 21) 22) 2S) 24) 25)

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A. Kraus, Husitstvl II, 34. Ebda. II, 115 ff. Ebda. II, 184. Ebda. II, 184. Ebda. II, 147 ff.

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Historiker Josef Aschbach 26) (1801—1882) für seine „Geschichte Kaiser Sigis­ munds" (Hamburg 1838—1845). Neben diesen verdienten Gelehrten stehen zwei Dichter, die Theobalds Hauptwerk studiert oder benützt haben. Goethe hat die dreiteilige Ausgabe des „Hussitenkriegs" (1621) gründlich durch­ gearbeitet27), wie seine Auszüge beweisen. Er erwähnt dieses Werk zum ersten Mal am 5. September 1821 und bemerkt in seinem Tagebuch zum 15. Juli 1822 „Theobalds Hussitenkrieg geendigt". Mit der zum Teil tragi­ schen Gestalt Alfred Meißners 28), der als Dichter dem „Jungen Böhmen" zugezählt wird, schließt sich die Reihe derer, die sich dem Werk des Schlaggenwalder Gelehrten verpflichtet fühlten. In seinem lyrischen Epos „Ziska", das im Jahre 1846 erschien und in den Hussiten Genossen im Kampf für die Durchsetzung liberaler Ideale sah, ist die Abhängigkeit in der Wortwahl von Theobalds „Hussitenkrieg" so stark, daß A. Kraus auf fast drei Seiten eine Auswahl von Entsprechungen beider Werke bringen konnte. Eine sehr verdienstvolle Tat Theobalds war die Veröffentlichung einer zweiten bedeutend erweiterten Auflage des Werkes seines berühmten Lands­ mannes Kaspar Bmsdiius „Des Vichteibergs . . . gründtliche Beschreibung" (Nürnberg 1542), das der Schlaggenwalder Konrektor wahrscheinlich im Reise­ gepäck mitführte, als er im Frühling des Jahres 1612 nach Wittenberg reiste, um dort seine theologische Prüfung abzulegen und um ordiniert zu werden; denn die Dedikation an den Rat von Eger trägt das Datum „Wittenberg, Sonntag Jubilate (3./l3.Mai) 1612". Dem Buch, dem er den Titel „Caspari Bruschii redivivi gründliche Beschreibung des Fichtelberges" gab. ist auch ein Widmungsgedicht des Wittenberger Studenten Johann Ludwig Betulius Egranus vorangestellt, das den Titel trägt: „Encomion Piniferi Montis eiusque tractus" (= Lobpreis des Fichtelberges und seiner Umgegend). Dieser Betulius war der Oheim des berühmten Pegnitzschäfers Sigmund von Birken 29), der ja als Sohn des Pfarrers Betulius in Wildstein bei Eger geboren wurde und lange Zeit nur diesen Namen führte. Der Student J. L. Betulius hatte sich erst am 11. April 1611 an der Leucorea immatrikulieren lassen80). Die Ergänzungen Theobalds beziehen sich nur auf Schlaggenwald31) (11 Seiten mehr als in der 1. Aufl.) und auf die beiden Nachbarorte Elbogen (4V2 Seiten mehr) und Karlsbad (statt sechs Zeilen eine ganze Seite!). Besondere Beachtung verdient, daß Theobald das lateinische Gedicht des bedeutenden Humanisten Bruschius „Encomion Hubae Slaccenwaldensis..." in den Text eingerückt hat, wodurch dieser Lobpreis der Schlaggenwalder Hube der Nachwelt erhalten blieb. Theobald auch für die miserable Über26) Ebda. III, 66 ff. 27) Ebda. III, 31 ff. Auszüge in Goethes Werken (Weimarer Ausgabe) 42, 398'ff. Dazu Ergänzungen bei Arnost Kraus, Goethe a Cechove (= Goethe und die Tschechen) im Sbornik filologicky, Bd. VII, 70 ff. 28) Ebda. III, 121 ff. Entsprechungen S. 138—140. 20) Heinrich Gradl, Die Reformation im Egerlande, S. 136 und 23 5. Matthias Simon, Ansbachisches Pfarrerbuch, Nbg. 1957, Nr. 215. 30) Bernh. Weissenborn, Alb. Ac. Viteb., jüng. Reihe, I, S. 108, Z. 104. 81) Vgl. Rudolf Wolkan, Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen bis zum Ausgang des XVI. Jahrhunderts, Prag 1894, S. 448.

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Setzung ins Deutsche, die sich nur in der dritten Auflage dieses Buches S. 59 ff. (Nürnberg 1683) findet, verantwortlich zu machen, halte ich nicht für richtig. Ihm verdanken wir dagegen den wertvollen Hinweis auf den Aufstand der Bergknappen in Schlaggenwald im Jahre 1525 (2. Aufl., S. 44) und die Erwähnung der volkstümlichen Bezeichnung des Sprudels in Karls­ bad, den er „Brudler“ nennt (2. Aufl., S. 63). Seine Schilderung des Zinn­ bergbaus und die das Buch abschließende Abhandlung „De halitu minerali, quem metalli vocant Schwaden“ (= Über den mineralischen Dunst, den die Bergleute Schwaden nennen) beweisen sein Interesse an Fragen des Bergbaus. Er definiert den Schwaden als „crassus arsenicalis vapor, vi caloris summi in fodinis stanniferis ex stanni fecibus ortus“ (= als einen dichten arsenikalischen Rauch, der sich durch die Gewalt der sehr starken Hitze in den Zinn­ gruben aus den verunreinigten Bestandteilen des Zinns entwickelt hat). Zwei kleinere Frühschriften Theobalds sind noch erwähnenswert. Die eine ist ein Abriß der böhmischen Kirchengeschichte mit dem Titel „Chronologica bohemicae ecclesiae adumbratio“, die bei Samuel Selfisch in Wittenberg im Jahre 1611 erschienen ist32). Im nächsten Jahr kam im gleichen Verlag eine Herrscherliste des Königreichs Böhmen mit dem Titel „Genealogica et chronologica iudicum, ducum et regum Bohemiae series“ heraus, der als Anhang eine „topographica eiusdem regni ... descriptio“ beigefügt ist33). Die erstgenannte Schrift gibt einen Überblick über die Kirchengeschichte Böhmens, wobei die Periodisierung bemerkenswert erscheint. Es werden unterschieden eine Zeit der Kindheit, der Jugend, der Reife (von Hus ab) und die Zeit des Alters, die mit der Verleihung des Majestätsbriefes durch Kaiser Rudolf II. im Jahre 1609 beginnt. Die „Series“ zeigt Theobald für die Zeit des Mittelalters ganz abhängig von der erfundenen Chronologie und für die Frühzeit des Landes auch von der erdichteten Genealogie der „Böhmi­ schen Chronik“ Hajeks. Theobald weiß aber nicht nur, daß die Tschechen mit dem Urvater Czech im Jahre 644 in Böhmen eingewandert sind, er kann sogar den Tag dieses Ereignisses genau angeben. Es war der 15. Juli dieses Jahres. Woher er dieses Datum hat, konnte ich nicht feststellen. Die „Series“ ist ohne Topographie in deutscher Sprache mit dem Unter­ titel „Ordenliche Beschreibung aller Schiedleut, Hertzogen und Königen im Land zu Behem, wie sie auffeinander gefolget seyn und wie lang sie regieret haben“ in den Jahren 1619 und 1620, als Böhmen im Mittelpunkt der europäischen Politik stand, erschienen. Der ersterwähnte Druck erschien ohne Angabe des Druckers und des Herstellungsortes. Streng sachlich werden die beiden Gegenkönige Böhmens angeführt. Ferdinand II. wurde am 29./19. Juni 1617 zu Prag gekrönt, „Fridericus ist anno 1619, den 26./16. Augusti an sei­ nem Geburtstage zum König erwehlet und den 4. Novembris / 25. Oct. neben seinem Gemahl zu Prag gekrönet worden“. Was darunter steht, ist schon 82) Siehe Cenek Zibrt, Bibliografie ceske historie II, Nr. 3083, vgl. auch Kraus, Husitstvl I, 244.

83) Zibrt, Bibliogr. ö. h. II, 3084, ausführlicher ebda. I, 1671. Vgl. Josef Volf, Nezname vydani Theobaldovy Series iudicum z r. 16191 Cas. Nar. Musea, 97. Jg. (1923), S. 96.

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ein Bekenntnis: VIVat FrlDerlCUs spes BoheMIae/ (= 1619). War das die Ansicht Theobalds? Ich glaube es nicht; denn er dürfte kaum beim Drude dieses Folioblattes um die Druckerlaubnis gefragt worden sein. Ich selbst erhielt das Blatt von der Staatsbibliothek in Augsburg. Es ist möglich, daß es in dieser Stadt gedruckt worden ist. Die Ausgabe der Series in acht Quart­ blättern, die im Jahre 1620 im Verlag David Franck in Augsburg erschienen ist, führt an, daß die Wahl und Krönung Friedrichs V. von der Pfalz als Ergebnis „eines schrecklichen und schädlichen Schisma und Confusion" anzu­ sehen sei34). Auch diese Äußerung dürfte kaum auf Theobald zurückzu­ führen sein. Als Theologe der orthodoxen Richtung des Luthertums hat sich Theobald hauptsächlich im Kampf gegen die Weigelianer und Rosenkreutzer, die für ihn ein und dasselbe waren, hervorgetan. In Nürnberg hatten diese Schwarm­ geister auch Anhänger gefunden, die sich aber gut zu tarnen wußten. In einer bisher in Deutschland nicht beachteten Arbeit hat der tschechische Forscher Frantisek Kaderavek 35) die Behauptung aufgestellt, daß der unter dem Deck34) Adolf Bachmann, Zacharias Theobald, ADB. 37, 682 f. Bachmann ist, wie ein Ver­ gleich zeigt, ganz von Constantin von Wurzbach (Z. Theobald in: Biogr. Lexikon des Kaiserthums Österreich, 44, S. 205—207) abhängig. 35) Fr. Kaderavek, M. Daniel Schwenter. K tristapadesätym narozeninäm autora nekterych rosekrueiänskyeh spisü Zum 3 50. Geburtstag des Autors einiger Rosen­ kreuzer-Schriften). In: Vestnik krälovske ceske spolecnosti nauk. Trida filosofickä — historicko roenik 1934. Memoires de la Societe royale des Sciences de Boheme, classe des lettres, annee 1934, Prague 1935, Teil IV, S. 1—8 (tschechischer Text mit vier Abbildungen und S. 9—11 ausführliches englisches Resume.) Im Besitz von Kaderavek befand sich ein Exemplar der „Pandora“, in dem auf den Seiten 16—18 (Siehe die erwähnten Abbildungen/) in einem Kryptogramm der wirk­ liche Name Theophils, der solange „hart genug geschwigen“ (Zuname Schweighart//)* verborgen ist. In handschriftlichen Randbemerkungen ist die Auflösung in der Geheim­ schrift der „Chymischen Hochzeit“ des großen Schwaben Valentin Andreae (Kad. Abb. 1, S. 3) angegeben. Wenn wir auch Kaderavek für seine Anregungen dankbar sein müs­ sen, so darf doch nicht übersehen werden, daß aus dem Kryptogramm n u r der Vor­ name des Verfassers, Daniel, einwandfrei zu erschließen ist, daß jedoch die Ableitung des Familiennamens von der zweiten Silbe des Verbs“ ver schwan d“, die in Kaderäveks „Pandora“ (Abb. 4, S. 6) unterstrichen ist, wegen der schwachen Begründung auch falsch sein kann, umsomehr, weil noch ein anderer Anwärter auf den Decknamen Schweighart vorhanden ist, der den gleichen Vornamen trägt, nämlich Dr. phil. et med. Daniel Mögling, der im Jahre 1623 Leibarzt des weiter unten genannten hessi­ schen Landgrafen Philipp gewesen ist (Hermann Kopp, Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit, Heidelberg 18 86, II, S. 7 und Will-Erich Peucker, Die Rosenkreutzer, Jena 1928, S. 177 f.). Für die Ansicht Kaderäveks könnte folgendes sprechen: Dr. Caspar Tradell, der vom Herzog Johann Friedrich (von ?) mit einer Kommission in Nürnberg beauftragt war, schrieb am 25. Januar 1618 an den hessischen Landgrafen Philipp (zu Butzbach) als Freund rosenkreutzerischer Schriften, daß er in seiner Nürnberger Herberge mit einem Frater (der Rosenkreutzer), der dazumal mit einem anderen Herren dahingelangt sei, „brüderliche Freundschaft“ geschlossen habe. Er hätte sich „an seinem hohen Verstand, Judicio und Geschicklichkeit nicht genugsam verwundern können“. Schließlich hätte ihm sein neuer Freund seine Schrift „Pandora“ geschenkt, da er aber diese nicht wohl verstehen konnte, hätte er ihn gebeten, „seine gedruckte ,Pandora* etwas weitläufiger [zu] interpretieren“, was auch in einem halben Tag vor ihm ausgeführt wurde. Die so entstandene Schrift „Speculum sophicum (Rhodostavroticum) „habe er in einer Abschrift dem Brief beigelegt. Aus diesen Angaben geht hervor, daß Dr. Tradell in Nürnberg

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namen Theophilus Schweighart auf tretende Verfasser der RosenkreutzerSchriften „Pandora sextae aetatis“ (1617) und „Speculum sophicum Rhodostavroticum“ (1618) nach einem im erstgenannten Büchlein enthaltenen Kryptogramm niemand anders als der Altdorfer Professor der semitischen Sprachen und der Mathematik, Daniel Schwenter, gewesen sei. Als Zacharias Theobald gerade mit der Abfassung von zwei Kampf­ schriften gegen die Weigelianer und Rosenkreutzer beschäftigt war, wurde in Nürnberg aufgedeckt, daß der getaufte Jude Joseph Paulus, der ehemalige Posener Rabbiner Joseph Hezech, den Pfarrer M. Wolfgang Siebmacher oder Cribarius von St. Leonhard „in ein Weigelianen Schwarm“ verführt habe. Dazu kam noch, daß Paulus, seit dem Jahre 1617 erblindet, seinem Freund eine Schrift von 46 Bogen mit dem Titel „De glorioso regno Christi in hoc seculo mundano et ultimo adventu Christi ad iudicium“ (— Über das glor­ reiche Königreich Christi in diesem weltlichen Jahrhundert und über die letzte Ankunft Christi zum Gericht) diktiert hatte, welche die Hauptgrundlage der Anklage bildete. Über den Verbleib dieser Schrift ist leider nichts bekannt. Paulus floh schon vor Abschluß des Verfahrens und Siebmacher wurde, weil er nicht widerrufen wollte, seines Dienstes am 16. April 1623 enthoben36). Die erste Schrift, welche Theobald gegen Weigelianer und Rosenkreuzer veröffentlichte, war „Salomonis Kirchenbraut, das ist gründliche Erklärung des Hohenlieds Salomonis analytice und paraphrastice verfaßt..." Die Ab­ handlung, die dem ältesten Losunger und Schultheiß Georg Volckamer ge­ widmet war, enthält in der Vorrede wertvolle Aufschlüsse über die Einstellung Theobalds gegenüber dieser Sekte. Abgeschlossen wurde die Schrift in Kraftsmit dem Verfasser der beiden genannten Schriften, dessen Deckname Theophil Schweig­ hart war, zusammengetroffen ist. Es könnte Daniel Schwenter gewesen sein. Weitere Forschungen, besonders über die Beziehungen Dr. Caspar Tradells zu Schweighart (Schwenter oder Mögling) erscheinen vorerst notwendig. Über die Zeit der Universi­ tätsstudien Caspar Tradells sind wir durch die knappen und gediegenen Angaben in Elias von Steinmeyers Matrikel der Universität Altdorf, Bd. II (Würzburg 1912), S. 5 84 gut informiert. Er war der zweite Sohn aus dritter Ehe Georg Tradells, des Augsburger Ratskonsulenten und Gesandten dieser Stadt beim Reichstag in Regensburg (15 30— 1598). Caspar studierte im Jahre 1593 an der Universität in Ingolstadt, im Jahre dar­ auf finden wir ihn in Altdorf und in den Jahren 1599 und 1601 studierte er Jura an deT Universität Orleans. Das paßt für einen Fürstendiener. Peuckert bezeichnet ihn im Register seiner weiter unten angeführten Schrift als „hessischen Leibarzt“. Über seine weitere Lebensgeschichte konnte ich in der Literatur nichts finden. Herrn Dr. Heinrich Kunstmann, dem Lehrbeauftragten für slawische Sprachen an der Universität Würzburg, bin ich für den Hinweis auf den Aufsatz von Fr. Kaderavek zu Dank verpflichtet. Der Brief Dr. Tradells ist abgedruckt bei K. W. H. Hochhuth, Mit­ theilungen aus der prot. Secten-Geschichte in der hessischen Kirche, l.Teil, 4. Abt., Zeitschrift für die historische Theologie, N. F. 27. Bd. (1863), S. 1891—191. Vgl. auch Peuckert, Die Rosenkreutzer, S. 171 f. 86) Franz Ludwig Frh. von Soden, Kriegs- und Sittengeschichte der Reichsstadt Nürnberg, Erlangen 1860, Bd. II, 230 f. In Band I, 472 erwähnt er nach Inhalt der Stadtrechnun­ gen, daß der Buchhändler Simon Halbmaier vom Rat der Stadt Nürnberg am 22. Februar (4. März) 1618 für allerlei Schwenckfeldische Tractätlein, die Valentin Weigel vor eini­ ger Zeit der Öffentlichkeit übergeben hatte, 45 fl. 3 Sch. ausgezahlt erhalten habe. — Vgl. auch Matthias Simon, Evang. Kirchengeschichte Bayerns, 1. Auf!., 2. Bd., Mün­ chen 1942, S. 479.

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hof am 29. September 1622. Als Grund für seine Teilnahme an der Polemik führt er in der Vorrede S. 9 an: „Ich hett mich mein Lebtag über das Hohe Lied nit gemacht, ich hett wol an die alte Teutsche Version der Biblien, so vor Lutheri Geburt gedruckt, nit gedacht, wo sie nicht das Hohe Lied, das doch ein canonicum scriptum, hetten verfälschet, als zu sehen in Speculo magiae supernaturalis eines Authoris anonymi und in Auro seculo redivivi deß annagrammatistischen Hinrici Madathani und fast in all ihren würmigen Schrifften, darinnen sie auch die gute alte Teutsche Bibel hervorsuchen und gleichsamb, wer etwas darhinter, commendiren, umb welches wegen ich sie auß dem Original unter unsers seeligen Lutheri Verdolmetschung mit Fleiß gesetzet." Kein Verständnis bringt Theobald den überschwänglichen Formu­ lierungen der Rosenkreuzer entgegen, wenn sie vom Zug des Vaters, dem innerlichen Gehör, der gelassenen Gelassenheit, dem innerlichen Empfinden und der übersüßen Süßigkeit sprechen (Vorrede S. 5). Während nun Theobald in „Salomonis Kirchenbraut“ Versikel für Versikel durchgeht und mit seinen Erklärungen versieht, die nur verständlich sind, wenn man sich den Gegner immer vor Augen hält, so ist seine Haupt­ schrift „Wiedertäufferischer Geist, das ist glaubwürdiger und historischer Bericht, was Jammer und Elend die alten Wiedertäuffer gestiftet und an­ gerichtet, daraus zu schließen, was man von den neuen genannten Weigelianern, Rosenkreutzern und Pansophisten zu gewarten hab, weiln sie — wie in dem Tractat erwiesen — einerlei Lehr führen ..." von einer über­ zeugenden Schlichtheit und Klarheit. Er widmete sie seinen Patronen, den Losungsschreibern Marx Christoph Gugel, Elias Ölhafen und Christoph Schlauderspach. Über den Zweck seiner Schrift, der schon im Titel angedeutet ist, äußert er sich S. 24 folgendermaßen: „. . . es ist mein Intention, in dem Scripto zu erweisen, daß die Weigelianer und ihre Zucht, die Rosencreutzer und Pansophisten, wie sie sich jetzt nennen, Widertäuffer seyn Nach einer ausführlichen geschichtlichen Einleitung über die Schwarm­ geister in Deutschland zur Zeit der Reformation, wobei er auf Karlstadt, Nikolaus Storch, Thomas Münzer, den Bauernaufstand im Jahre 1525, die Wiedertäufer zu Münster, in Mähren und Polen eingeht, kommt er zum Hauptteil, in dem er von bestimmten Thesen ausgehend (z. B. Punkt 1: Die Wiedertäufer verwerfen die Predigt), auf Grund der Schriften Weigels den Nachweis führt, daß dessen Anhänger auch wiedertäuferische Ansichten vertreten, daher als Wiedertäufer anzusehen sind. Diese Schrift erfüllte ihren Zweck so gut, daß sie gewissermaßen als protestantischer „Ketzer­ hammer “ noch im Jahre 1702 im Verlag Wilhelm Andreas Meyer in Köthen als erste Schrift in der Sammlung „Anabaptisticum et enthusiasticum Pan­ theon und geistliches Rüsthaus" erscheinen konnte. In seinem Hauptwerke über den Hussitenkrieg findet der Leser schon in der ersten Auflage, immer wieder eingestreut in den Text, Beschreibungen von merkwürdigen Quellen, etwa die Quelle bei der Burg Riesenberg bei Taus87), die Salzquelle von Schlan 38) und anderswo, die ganz und gar nichts «7) Huss. I1, S. 331. 38) Ebda. S. 388.

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mit dem Thema des Buches zu tun haben. Theobald war eben nicht nur Theologe von Beruf oder Historiker, sondern seit seinen Kindertagen ein Freund der Natur, der dem Wissen seiner Zeit entsprechend ihre Geheim­ nisse zu enträtseln suchte. In der Beschreibung des Fichtelbergs hatte er sei­ ner Neigung entsprechend über den Bergbau wertvolle Ausführungen machen können, doch die Zusammenfassung seines naturwissenschaftlichen Wissens sollte die Aufgabe seiner letzten Lebensjahre sein. Das Werk, das der stets kränkelnde Kraftshofer Pfarrer zusammengetragen hat, trägt den Titel „Arcana naturae, das ist sonderliche Geheimnus der Natur, sowohl aus glaub­ würdigen Autoribus als aus eigener Erfahrung zusammengetragen ..." Die beglückende Freude, das gedruckte Werk in den Händen zu haben, wurde ihm nicht mehr zuteil; denn es wurde im Jahre 1628 aus dem Nachlaß von den Hinterbliebenen herausgegeben. Möglich wurde das aber erst durch die groß­ zügige Hilfe des aus Elbogen stammenden Tachauer Exulanten und Nürnber­ ger Materialisten Achatius Hilling 3Ö), der den Verlag des Werkes übernahm. Über die Entstehung des Buches heißt es u. a. in der Vorrede, weil der Ver­ fasser „ .. . in Böhem geboren, welches Land mit edlem metallischen Schatz unter der Erden vor andern begabt, hat er zur Recreation und Ergötzlichkeit viel Zeit mit zugebracht . . . und da er seine horas succesivas [= Freizeit] nit leer wollen lassen hingehen oder mit verbottener Hantierung verderben", hat er sich darübergesetzt „und was ihme für Arcana gezeigt worden, aufs Papier gebracht". Das Interesse, das seinem „Hussitenkrieg" oder dem „Wiedertäuferischen Geist" zuteil wurde, hat die nachgelassene Schrift nicht gefunden; denn auf dem Gebiet der Naturwissenschaften ist er nur ein Dilettant gewesen, so daß mit der Veröffentlichung dieser Schrift nur einem Steckenpferd des Dahin89) Achatus Hilling wurde geboren am 2./12. Mai 1591 zu Elbogen in Böhmen und starb am 21./31. Okt. 1670 in Nürnberg. Er war der Sohn des Eibogner Apothekers Gregorius Hilling (1566—1622), dessen Geschäftsbuch in der Handschriftensammlung der Er­ langer Universitätsbibliothek (Kat. d. Handschr. d. Universitätsbibi. Erl. 11, Nr. 1208) erhalten ist. Achatius lernte auch als Apotheker, praktizierte eine Zeitlang in Wien und begab sich darnach wieder nach Hause, um im Geschäft den Vater, der als Bürger­ meister und Kämmerer seiner Stadt viel zu tun hatte, zu vertreten. Im Jahre 1615 eröffnete er eine Apotheke in Tachau in Westböhmen, wo er auch bald im Rat der Stadt erscheint. Im Jahre 1621 verzichtete er wegen seines lutherischen Bekenntnisses auf seine Ehrenstelle und begab sich nach der Eroberung Tachaus durch die kaiserlichen Völker am 2. Februar 1621 mit seiner Frau und seinem Söhnlein, völlig ausgeplündert, nach Nürnberg, wo er in Wöhrd eine Wohnung fand. Um wieder zu Vermögen zu kommen, wurde er Feldapotheker bei den Mansfeldischen Truppen und konnte nach seiner Rückkehr schon am 27. Oktober 1622 das Bürgerrecht der Stadt Nürnberg er­ werben (Staatsarchiv Nürnberg, Rep. 52 b, Amts- und Standbücher Nr. 301, fol. 6). Das bei dieser Gelegenheit angegebene Vermögen betrug 6500 Gulden (der Kipper­ und Wipperzeit). Hervorzuheben ist, daß er in der gefährlichen Kriegszeit vornehmlich Handel nach Böhmen hinein trieb. Als seine Gemahlin Sabina geb. Waldmann am 24. Nov. 1652 starb, weilte er gerade „seiner Handlung wegen zu Pilsen“. Im Jahre 1631 war er schon Genannter des Rats der Stadt Nürnberg (Roth, Verz. d. Genannten, S. 119). Der seiner Leichenpredigt beigefügte Lebenslauf ist erhalten (Stadtbibi. Nürn­ berg: Gen H 104), vgl. auch Christoph Andreas Im Hof, Sammlung eines Nürnbergischen Münzkabinetts, I. Teil, 2. Abt., Nürnberg 1782 (2 Medaillen/) und J. Ferd. Roth. Gesch. d. Nürnb. Handels II (Leipz. 1802), S. 59.

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gegangenen Genüge getan wurde. Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß jeder, der sich mit dem Bergbau, besonders dem des Landes Böhmen beschäftigt, gut tut, in das Werk Einblick zu nehmen. Nur auf die bekanntesten Werke des Magisters Zacharias Theobald konnte im zweiten Teil dieser Studie eingegangen werden, doch hat auch die­ ser Ausschnitt aus seinem Schaffen, dem nur etwas mehr als zwei Jahrzehnte zugemessen waren, gezeigt, daß er kein unwürdiges Mitglied der deutschen Gelehrtenrepublik war. Wenn ihm auch nach seiner Flucht die Tore seines Vaterlandes Böhmen für immer verschlossen blieben, so ist ihm sein Platz in der „Bohemia docta“ für immer gesichert geblieben. Noch zu Lebzeiten seines Mäzens Achatius Hilling (1591—1670) bemühte sich der berühmte tschechische Jesuit Bohuslaw Baibin40) durch dessen Vermittlung um den Kauf nachgelassener Schriften Theobalds. Als jedoch dessen Erben erfuhren, daß sich die Jesuiten darum bemühten, waren sie durch kein Preisangebot zu bewegen, etwas davon herzugeben. 40) Jat. Vlcek, a.a.O., Bd. I, 5S2 ff., recht eingehend auch im Dictionnaire d’Histoire et de Geographie ecclesiastiques von Alfred Baudrillart, fortges. v. A. De Meyer und £t. Van Cawenbergk, Bd. VI (Paris 1932), Sp. 316—319. Über den Ankaufsversuch Balbins vgl. Kr 39, 65, Anm. 1 nach dessen Mitteilung in „Bohemia docta" ed. Ungar, Tom. II, S. 76.

Anhang Titel der in diesem Aufsatz genannten Werke Zacharias Theobalds 1. Hussitenkrieg, darinnen begriffen das Leben, die Lehr und Tod M. Johannis Hussii und wie derselbige von den Böhmen, besonders Johann Zisska und Procopio Raso ist gerochen worden. Alles aus glaubwirdigen Geschichtschreibern, alten Monu­ menten und Manusscriptis mit Fleiß zusammengetragen und Teutscher Nation aller­ dings gnugsam zum nötigen Bericht in öffentlichen Druck verfertigt durch M. Zachariam Theobaldum den Jüngern. Wittemberg, 1609, 4 °. Gedruck bei Lorenz Seuberlich, in Verlegung B. Samuel Selfisch, Buchführer. 2. Chronologica Bohemica ecclesiae adumbratio. Authore M. Zacharia Theobaldo iuniore. Wittebergae 1611, 4°. Typis suis exscripsit Laurentius Seuberlich, impensis Samuelis Selfisch. 3. Genealogica et chronologica iudicum, ducum et regum Bohemiae series, topographica eiusdem regni non magis inclyti quam christiani iuxta veteres et recentiores descriptio paucis plana plene tradita a M. Zacharia Theobaldo iuniore. Wittebergae. Ex officina typographica Laurentii Seuberlichii, impensis Samuelis Seifisch. 1612, 4 °. 4. Gaspari Bruschii redivivi gründliche Beschreibung des Fichtelberges, aus wel­ chem vier schiffreiche Wasser, der Mayn, die Eger, die Naab und Saal entspringen, darinnen viel alter Historien erkläret werden, item eine klare Beschreibung des Flus­ ses Eger und aller infließender Wasser und anstoßenden Flecken, besonders auch des Schlackenwaiderischen Zinnbergwerks, welches die Hueb genennt wird, wie das­ selbe itziger Zeit zu finden, neben Vermeidung, was der Schwaden sei, so die Berg­ leute ersticket, auf ein neues übersehen und mit einem nützlichen Register vermeh­ ret durch M. Zachariam Theobaldum iuniorem. Wittemberg. Gedruckt bei Lau271

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rentio Seuberlichen, in Verlegung Herrn Samuels Selfischen, Buchführers, im Jahr 1612, 4 °. 5. Christliche in Buchstaben göttliches Worts gegründete Auslegung der Wort der Einsetzung des hochwürdigen Abendmahls unsers Herrn und Heilands Jesu Christi in der Kirchen zum Heiligenkreuz gepredigt von M. Zacharia Theobaldo, Schlaccowaldensi Bohemo. Gedruckt im Jahr 1620. 4 °. 6. Bellum hussiticum, quo M. Johannis Hussii vita doctrinaque et mors comprehenditur utque Bohemi, inprimis vero Joannes Zisca et Procopius Rasus vindicationem ipsius susceperint, luculenter exponitur. Omnia e gravibus scriptoribus, veteribus monimentis atque manuscriptis magno Studio congesta inque Germanorum gratiam, que necessariae notitiae sufficiant, ipsorum lingua in lucem edita a M. Zacharia Theobaldo iuniore, nunc autem certis de causis Latino sermone reddita (per Jacobum Pontanum Heidelbergensem). Francofurti in officina Danielis et Davidis Aubriorum et Clementis Schleichii anno 1621, fol. 7. Hussitenkrieg, darinnen begriffen das Leben, die Lehr, der Tod M. Johannis Hussii, auch wie derselbe von den Böhmen besonders Johann Zischka ist gerochen und seine Lehr hernacher in dem Königreich erhalten worden. Alles auß glaub­ würdigen Geschichtsschreibern, alten Monumenten und Manuscripten mit Fleiß zu­ sammengetragen, auf ein neues übersehen, corrigiret, mit zweien Teilen vermeh­ ret, biss auf Sleidanum continuiret, mit einem nothwendigen Register aller drey Theile versehen und Teutscher Nation zu einem nötigen Bericht neben angehängter rechter Böhmischer Confession in Truck verfertiget durch M. Zachariam Theobaldum Schlaccowaldensem Bohemum. Nürnberg 1621. 4°. Gedruckt und verlegt bei Simon Halbmayern. 8. Salomonis Kirchenbraut, das ist gründliche Erklärung des Hohenlieds Salomonis analytice und paraphrastice verfaßt, auch die alte deutsche biblische Ver­ sion mit des Herrn Lutheri seligen coniungirt und in Druck verfertigt durch M. Zachariam Theobaldum, dieser Zeit Pfarrern zu Kraftshof. Gedruckt und verlegt zu Nürnberg durch Simon Halbmayern, anno 1622, 4°. 9. Wiedertäufferischer Geist, das ist glaubwürdiger und historischer Bericht, was Jammer und Elend die alten Wiedertäuffer gestiftet und angerichtet, daraus zu schließen, was man von den neuen genannten Weigelianern, Rosenkreuzern und Pansophisten zu gewarten hab, weiln sie — wie in dem Tractat erwiesen — einerlei Lehr führen, frommen Christen zu einer treuherzigen Warnung, unschuldigen und in ihrer lieben Einfalt verwirrten, verführten Herzen zu einer nöthigen Unterrich­ tung mit Fleiß und ohne einigen Falsch aus bewehrten Historien colligirt durch M. Zachariam Theobaldum, dieser Zeit Pfarrern zu Krafthof. Nürnberg. 1623, 4 °. Gedruckt und verlegt durch Simon Halbmayern. 10. Heerpredigt auß dem schönen Gebet deß theuren Obristen Judae Maccabaei, gehalten in dem christlichen Feldläger vor Pilsen, 7. Octobris Greg(orii) deß 1618. Jahrs von M. Zacharia Theobaldo juniore etc. Gedruckt zu Friedberg durch Michael Sanfftmuth, 1618, 4°. (Diese Predigt befindet sich im Landeskirchlichen Archiv in Nürnberg: Signatur Spit. L 25, 4 °.) A. L. Krejcik kannte nur den Titel.) 11. Arcana Naturae. Das ist: Sonderliche Geheimnus der Natur, so wol aus glaubwirdigen Autoribus, als auch aigner Erfahrung zusammengetragen durch wey­ land den ehrwürdigen und wolgelerten Herren M. Zachariam Theobaldum, Pfarrern zum Krafftshof. Gedruckt zu Nürnberg bei Ludwig Lochnern, in Verlegung Achatii Hillings, Burgern und Materialisten in Nürnberg, im Jahr Christi 1628. 4 °.

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EFFIGIES M. ZACHARIA THEOBALDI ATATI5: XXXVII AN°Cm.CD D CXXI.

Bildnis des Zacharias Theobald aus seinem „Hussitenkrieg".

öflrfrttun griffen/

Gc&eii/tocl£cbr/t>ar£bt>f m. joha n. kis Hussl.auc^fttwterfetöct>onptnSeinen/bc* fontaW^mm'Jtfdjfa/ ifl ^erod^m / ttttfe feine U£t§ 104) 105) 106)

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P. an S. A. Fabricius. Basle, 11. 10. 1673; V, S. 452, n. 36. P. anVo. Patavii, 26.1.1689; V, S. 453, n. 136. Karola Katharina P. an Vo. E gynecaeo, 17. 3. 1684; V, S. 454', n. 4. P. an S. A. Fabricius. Basic, 11. 10. 1673; V, S. 452, n. 36. P. anVo. Patavii, 26. 12. 1679; V, S. 453, n. 90. Acta Eruditorum. Leipzig. 1684. S. 253.

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die ihm die Vorlesungen und die Kranken übrigließen, verwendete er für das Studium der „verehrungswürdigen" Antike 107). Als er endlich zum Pro­ fessor der Chirurgie ernannt wurde, packte ihn von neuem der Fleiß und er nahm sich vor, rastlos zu schaffen, was ihm eigentlich durch die Gewohnheit schon zur zweiten Natur geworden sei (laboribus improbis ... consuetudine jamjam in natura versis)108). Ob Patin hier übertreibt, können wir nicht nachprüfen. Sicher ist aber, daß seine Berufspflichten ihn sehr in Anspruch nahmen. Seine ärztliche Praxis, von der er fast nie redet, hatte sich nach und nach auf die Umgebung der Stadt Padua ausgedehnt. Am Schluß eines Schreibens an Volkamer bemerkt er, daß der Brief kurz vor dem Besteigen der Kutsche nach Vicenza, wo Kranke ihn erwarteten, geschrieben worden sei109). In Padua und Venedig, wohin neu entdeckte Altertümer per Schiff gelangten, hat er als Antiquar und Numismatiker die Hände voll zu tun. Deswegen gibt er sich mehr als je mit Medaillen und Münzen ab, zu deren Bearbeitung er außer den drei bei ihm wohnenden und unter seiner Aufsicht schaffenden Kupferstechern noch eine Anzahl von Handwerkern beschäftigt110). Und die Zeit drängt ihn derart, daß manche Briefe in kürzerer Zeit ge­ schrieben werden müssen, als der Spargel zum kochen braucht m). Dabei hat er noch einen umfangreichen Briefwechsel zu erledigen, der nach Angabe seiner Tochter ihn Tag und Nacht am Schreibtisch festhält, vor allem, wenn es sich um Briefe an die Freunde in Deutschland handelt112). Der Arbeit hingegeben, lebt Patin mit seiner Familie still und zurückgezogen. Aus Angst vor Gefahren, die ihn angeblich von der Straße her bedrohen, schließt er am Abend die Haustüre zu, sperrt sich gegen die Außenwelt ab und läßt nur die Deutschen ein, die ihn besuchen wollen. Denn es vergehe keine Nacht, in der nicht dieser oder jener ermordet werde, kein Tag, an dem man nicht von Hinterhalt, Verbrechen und schlimmen Taten höre. Sein Haus ist wie ein Staat im Staat; er lebe in seinem Arbeitszimmer mit den Toten, d. h. mit den Büchern, seinen „humanisierenden Lieblingen", mitunter sogar gegen den Einspruch seiner Frau, die freimütig und halb im Scherz erkläre, die Gelehrten seien nicht nach ihrem Geschmack m). Erregbar, wie er war, hat wohl Patin bei der Schilderung der nächtlichen Unruhe in Padua schwarz gemalt. Seine Erfahrungen jedoch finden wir in dem Bericht von J. G. Keyssler zum Teil bestätigt, der bei seinem Besuch in Padua 1730 feststellte, daß dort nachts die Passanten ihres Lebens nicht sicher seien 114). Außer allen diesen Aufgaben hatte sich Patin noch vorgenommen, die Erziehung seiner Kinder, der er eine besondere Bedeutung beilegte, selbst in die Hand zu nehmen. Da ihm als Humanisten das Ideal der gelehrten Frau vorschwebte, hielt er seine beiden Töchter frühzeitig zum Lernen an. 107) 108) 109) no) m) 112) m) 114)

P. anVo. Patavii, 8.11.; 12.1.1681; V, S. 453, n. 94 u. 95. P. an Vo. Patavii, 15.6.1681; V, S. 45 3, n. 96. P. an Vo. Patavii, 15. 10. 1684; V, S. 453, n. 111. P. anVo. Patavii, 16.8.1690; V, S. 453, n. 145. P. anVo. Patavii, 27. 6. 1688; V, S. 453, n. 133. Gabriele-Karola P. an J. G. V. II. 23.2.1688; V, S. 454, n. 3. P. anV. Patavii, 23.2.1678; V, S. 453, n. 81. J. G. Keyssler, o. c. S. 626.

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Die eifrigste beim Studium sollte auch sein liebstes Kind sein. Was andere Mädchen für unnützen Tand ausgeben, sollten sie für Bücher, geographische Karten und genealogische Tabellen anlegen. Auf diese Weise hoffte er ihnen frühzeitig die Weisheit einzuprägen. Die beiden Mädchen befaßten sich hauptsächlich mit Theologie, Philosophie und Geschichte und durch den Aus­ tausch geistiger Anregungen vertrieben sie die Ärgernisse des Lebens115). Von seinen Schülerinnen verlangte Patin noch, daß sie als künftige Gelehrte lateinisch schreiben und reden könnten116). Gabriele, die der Vater für das Studium geboren glaubte, gab sich diesem mit solchem Eifer hin, daß er sich von ihr außerordentliche Leistungen erhoffte. Und so kam es, daß sie im Alter von 14 Jahren auf die philosophische Doktorprüfung vorbereitet wurde 117). Nach der Grabschrift Patins in der Domkirche in Padua hätte Gabriele mit kaum 15 Jahren eine öffentliche Disputation über verschiedene philosophische Sätze unter dem Vorsitz ihres Vaters abgehalten und wäre damit der erstrebten Doktorwürde näher gerückt118). Als aber der Vater der obengenannten Helena Lukrezia Piscopia Joh. Baptista davon hörte, erhob er sofort Einspruch gegen die geplante Doktorfeier. Er duldete nicht, daß die seiner Tochter kurz zuvor erwiesene Auszeichnung einer anderen Frau in Padua verliehen würde 119). Mit Rücksicht auf den Gegner, den mächtigen Vertreter des Staates bei der Universität, gab Patin sofort nach, aber dieser Eingriff der Obrigkeit erschütterte sein Inneres sdiwer. „Hier wird der Mord als der stärkste Ausdruck der Freiheit betrachtet und der Bürger ist seines Lebens kaum sicher. Wie glücklich, ihr Deutschen, die ihr, auf eure Tugend vertrauend, durch gerechte Gesetze, edle Gesittung und Bestrafung der Laster­ haften das Leben eurer Mitmenschen schützt/" 12°) Mit diesem halb ver­ schleierten Hieb auf die Willkür des Prokurators machte sich das beleidigte Gemüt Luft. Den Ereignissen vorauseilend und des Erfolges sicher hatte Patin seine Freunde auf die bevorstehende akademische Feier vorbereitet und um Lobgedichte gebeten. Er hatte schon eine Anzahl davon gesammelt, die nach­ träglich gedruckt werden sollten. Selbstverständlich durfte Volkamer nicht fehlen, auch dann nicht, wenn bloß sein Name unter den Gratulanten er­ scheinen sollte. Volkamer traute sich nicht recht, der Aufforderung nachzu­ kommen. „Er fühle sich nicht zum Dichten befähigt und es sei leichter aus einem Bimsstein Flüssigkeit als auch ihm einen Vers herauszupressen. Arnold dagegen, ein Schwan unter den Schwänen, der schon in der Welt der Ge­ lehrten Proben von seinem Können gegeben habe, sei der rechte Mann dazu. Unter den Dichtern komme er sich wie eine Gans vor, wie ein Davits unter Ödipus. Er fürchte, das gute Jüngferchen (castissima Venerilla) könne an seinem unbeholfenen Gratulationserguß Anstoß nehmen. Schließlich entschloß 115) P. an Vo. Patavii, 24. 2. 1680; V, S. 453, n. 91. Lyc. S. 103. 116) Kar.-Kath. P. an J. G. V. II. Patavii, 4. 8. 1684; V, S. 454, n. 5. 117) P. an Vo. Patavii, 26. 12. 1679; V, S. 453, n. 90. 118) J. J. Keyssler, o. c. S. 646. 119) P. an Lukas Schroeck II. Patavii, 6. 5. 1680; V, S. 45 3, n. 56b. 12°) P. an Lukas Schroeck II. Patavii, 6. 5. 1680; V, S. 45 3, n. 56b.

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er sich allen Bedenken zum Trotz, dem Dichterchor beizutreten und der geliebten Gabriele „der Blume der Jungfrauen zuliebe" ein Gedicht nach Padua zu schicken. Arnold aus Nürnberg, Schellhammer und Wedel aus Jena schlossen sich an. Auch der Präsident der deutschen Akademie der Natur­ forscher und Stadtphysikus in Schweinfurt, Joh. Michael Fehr, hatte einen Brief mit Versen an Patin geschickt, der aber leider nicht ankam121). Wagen­ seil legte seinem Glückwunschbrief ein Armband bei. Dieses Geschenk wurde der Anlaß zu einem pathetischen Auftritt, der bei dem Absender sicherlich starkes Erstaunen hervorgerufen hätte. Als die Sendung mit dem Geschenk ins Arbeitszimmer gebracht und vor den Gratulanten geöffnet wurde, stellte sich heraus, daß die größte der das Armband schmückenden Gemmen beim Transport zerbrochen war. Patin las den Brief vor und zeigte das beschädigte Schmuckstück. Da einer der Anwesenden daraufhin eine spöttische Bemerkung über die Deutschen machte, ergriff Patin das Wort und mit dem Brustton der Überzeugung drehte er den Spieß um. „Ihr scheltet die Deutschen als armselig und Halbbarbaren, ihr seht aber, was sie mir heute geschenkt haben, abgesehen von allen Freundlichkeiten, die mir in Deutschland bezeugt worden sind. Dieser hier, der an mich schreibt und meiner Tochter ein Armband schenkt, ist mir in keiner Weise etwas schuldig, und ist es nie gewesen. Niemals wird es mir einfallen, denjenigen, der aus Seelengröße vom eigenen nimmt, um damit andere zu bereichern, für armselig, vielmehr werde ich ihn für reich halten. Und wie geschickt und freundlich er schenkt, könnt ihr nicht ermessen und noch weniger nachmachen, so sehr verabscheut ihr die Seelengröße und den Edelmut. Statt dessen zieht ihr die Verleumdung der Wohltat vor. Was tut ihr, wenn ihr eurem Arzt oder eurem Gönner etwas für geleistete Dienste schuldet? Oft wünscht ihr, sie möchten sterben, damit ihr auf diese Weise von eurer Schuld befreit werdet. Oder wenn ihr denkt, daß die geleistete Hilfe vergütet werden sollte, dann schickt ihr ein paar Flaschen Wein oder ein billiges Geschenk oder gezuckerte Kuchen und glaubt, damit eure Schuld abgegolten zu haben." Alle blieben stumm, als ob ich ihnen die Zerstörung Trojas vorgetragen hätte und keiner konnte etwas erwidern. Es war ein Scherz, fügte Patin hinzu. Aber ein echt Patinischer, den sich der Hausherr, der den Stoiker herauszukehren und im Bewußtsein seines Rechtes die Schwächen seiner Mitmenschen zu richten liebte, seinen Gästen gegenüber erlaubt hatte122). Ungeachtet der mißglückten Promotion ging das Studium im Hause Patin weiter. Der Vater verwies nun seine Töchter im Sinne der Aufklärung auf die Geschichte als die Lehrmeisterin eines glücklichen Lebens. Nach Erlernung der Grundsätze der Astronomie und der Geographie sollten sie sich dem Studium des Altertums zuwenden, den antiken Münzen, den Abbildungen der Gebäude und allem, was die Wahrheit lehrt. Dagegen sollten sie die zweifel­ haften und erdichteten Überlieferungen verschmähen, an die sich die Un121) Briefentwurf von Vo. an P. (Nürnberg), 1. 1. 1680; V, S. 667, n. 194. — P. an Vo. Patavii, o. O. u. D. (1680), n. 92. — P. an Vo. Patavii, 2. 8. 1679; V, S. 453, n. 89. 122) P. an Vo. E Musaeo Patavino, 30. 8>. 1680; V, S. 453, n. 9'3. 123) P. an Lukas Schroeck II. Patavii, 61. 5. 1680; V, S. 453, n. 56*>.

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wissenden, die Mönche und andere anklammern, weil sie mehr auf ihren Vorteil als auf den der Nachkommen bedacht sind 123). Das Ziel, das sich Patin als Lehrer im eigenen Haus gesetzt hatte, wurde erreicht. In verhältnismäßig kurzer Zeit vermochten seine Töchter sich in der Gelehrtenwelt Achtung zu verschaffen. Wie weit sie den Unterricht an der Universität genossen, sagen die Briefe nicht. Gabriele veröffentlichte 1682 eine lateinische, in das Forschungsgebiet ihres Vaters fallende Dissertation über die Bedeutung des auf einer Münze des Antoninus Caracalla geprägten Phönix. Sie wurde in den Acta eruditorum rezensiert124). Ebenso eifrig und zielbewußt trat Karola Katharina in die Fußstapfen ihrer Schwester. Wohl mutete Patin ihr zuerst weniger zu als Gabriele, doch konnte er bald fest­ stellen, daß die jüngere Tochter der älteren im Lernen nicht nachstand. Auch bei ihr brach die Gelehrsamkeit frühzeitig durch und kam sogar der Familie in einem kritischen Augenblick sehr zustatten. Als im Jahre 1683 Wien ent­ setzt wurde, brauste ein Sturm der Begeisterung durch die von den Türken bedrohten Länder, gleichzeitig aber im Volk auch ein Wutausbruch gegen Frankreich, den Erbfeind der Habsburger. In Venedig namentlich nahm der Volksaufruhr so bedrohliche Formen an, daß der französische Gesandte inter­ venieren mußte. „Nicht nur die Nürnberger und die Sachsen“, schreibt Patin nach Nürnberg, „werden für Türken oder Halbtürken gehalten, auch die Franzosen, die unter den Flügeln des Löwen des heiligen Markus leben. Die Behörde schreitet wohl ein, aber was tun gegen eine wütende Plebs? Aus Sorge um meine Lieben beschloß ich, meine Freude über die Befreiung Wiens öffentlich unter Beweis zu stellen und veranlaßte meine jüngere Tochter eine Lobrede auf den Kaiser zu halten.“ Patin dachte zunächst daran, die Kundgebung in der geräumigen Halle seines Hauses abzuhalten, wo, meinte er, der größere Teil der Bürger und sogar adelige Damen sich ein­ finden würden. „Vorige Woche wußte man noch nicht, was ich vorhätte, jetzt aber werden die Leute sehen, daß ich auch zu etwas tauge und daß mein Vorgehen in der Öffentlichkeit willkommen sein wird. Er wolle die Rede seiner Tochter drucken und eine Anzahl Abzüge an die gemeinsamen Freunde in Nürnberg schicken lassen“ 125). Die Versammlung fand statt, aber nicht im Hause Patins, sondern in der Akademie dei Ricoverati. Die junge Rednerin entledigte sich tapfer und geschickt ihrer Aufgabe. Sie pries den sieggekrönten Kaiser nach allen Regeln der Kunst und schloß mit einem wohl von ihrem Vater nahegelegten Hinweis auf die huldvolle Gesinnung, die der Kaiser ihm stets bewiesen habe. Wenn wir Patin glauben wollen, blieb die Wirkung dieses rhetorischen Ergusses nicht aus. Die ganze Stadt beglückwünschte die Familie Patin wegen ihrer Liebe für die Deutschen und der Graf von Lamberg ließ melden, daß der Kaiser die Rede gelesen und bewundert habe 126). Das liebste Andenken an diesen denkwürdigen Tag erhielt die Rednerin von 124) De Phoenice in Numismata Imperatoris Antonini Caracalla expressa. Epistola GabrielidisKarolae Patinae, Parisianae, Academicae. Venetiis 168 3. S. Acta Eruditorum. Leipzig. 1691. S. 550—552. 125) P. an Vo. Patavii, 12. 10. 16831; V, S. 453, n. 106. 128) P. an Vo. Patavii, 17. 12. 1683; V, S. 453, n. 107

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Volkamer, der ihr für die schöne Rede über die Befreiung Wiens eine Münze überreichte, auf der die Belagerung und der Entsatz geprägt waren. Carola Katharina bedankte sich für die schöne Gabe, die sie stets an ihren verehrten Gönner erinnern werde 127). Die Lobrede wurde, wie Patin angekündigt hatte, in Druck gegeben. Mir stand eine Ausgabe ohne Angabe des Ortes und des Verlegers aus dem Jahre 1684 zur Verfügung, die in einem Sammelband der Universität Erlangen (Hist 691Ka) enthalten ist. Der Titel ist mit seinem Wortschwall für diese Zeit recht bezeichnend 128). Dem lateinischen Text steht eine deutsche Übersetzung gegenüber. Auf dem Titelblatt ist infolge einer Namens Verwechslung die Rede der Schwester Gabriele zugeschrieben. Der Sammelband besteht aus acht Stücken, die in der Zeit von 1683 bis 1686 entstanden sind und sich bis auf das letzte auf den türkischen Krieg beziehen. Zwischen das dritte und vierte Stück ist das in echtem B'arock gestochene Bild der Gabriele Patin, der angeblichen Verfasserin, eingefügt worden. Ich vermute, daß es auf dasjenige zurückgeht, das Volkamer in Nürnberg ausführen ließ (S. 304). Der betreffende Band ist höchstwahrscheinlich in Nürnberg oder Umgebung entstanden; denn von den 8 Schriften sind fünf in der Reichsstadt, zwei in Augsburg und eine einzige in Genua verlegt worden. Wer, wenn nicht Volkamer, wäre wohl in Franken auf den Gedanken gekommen, die Tochter Patins zu porträtieren. Nach Aussage ihres Vaters habe Karola später im Sinne gehabt, auch zu Ehren der Befreiung Budas eine Rede zu halten. In diesem Fall aber blieb es bei der Absicht129). Die jüngere Tochter Patins ist vor allem durch die Herausgabe einer Auswahl von bekannten Gemälden mit einem Kommentar hervorgetreten, in dem sie versucht, die Vorzüge und manchmal auch die Fehler der ab­ gebildeten Meisterwerke herauszuheben 13°). Das Werk erschien in Padua 1691 und wurde in den „Acta eruditorum“ besprochen. Auch im Frankenland ist die Verfasserin nicht unbeachtet geblieben. Ihr wurde ein Aufsatz in den fränkischen „Acta erudita et curiosa“ gewidmet mit dem Titel: Vom Charak­ ter der Charlotte Catherine Patin 1S1). In der Familie Patin wurde das Studium von Vater und Kindern so intensiv betrieben, daß die Mutter ihrerseits dazu Lust bekam und zu Schrift­ stellern anfing. 1680 gab sie eine Sammlung von „Reflexions morales et chretiennes“. Eine Anzahl Exemplare wurde nach Nürnberg verschickt an 127) Kar.-Kath. P. an Vo. E gynecaeo, 17. 3. 1684; V, S. 454', n. 4. 128) Der Fürtrefflichen und Hochgelehrten Jungfer Gabrielis Carola Patinin über die glücklich entsetzte und völlig wiederum befreyte Kayserlich-Residenz-Stadt Wien auf der italieni­ schen Academie Padua in lat. Sprache abgehaltene und dem unüberwindligsten Sieg­ prangenden Rom. Kayser Leopolden zugeschriebene überaus zierliche und wohlabgefasste Lob-Rede wegen der darinnen herzlich hervorscheinenden hohen Beredsamkeit nach­ drücklichen schönen Sachen netten und sehr wohlkommenden Red-Arten in das Teutsche nach dem eigentlichsten Wortverstande übersetzt. Und gleich als ein gar ungemeines und darbey hauptsächlich curiöses Kunst-Stück der Weltberühmten Urheberin zu hoch­ verdienten Ehren und Ruhm hervorgegeben. Gedruckt im Jahr 1684. 129) P. an Vo. Patavii; V, S. 453, n. 129. 18°) Tabellae selectae ac explicatae a Carola Catharina Patin. Patavii. 1691. 240 S. fol. 1S1) Fränkische Acta erudita et curiosa. 7. Sammlung. 1727. S. 491—501.

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Volkamer, an die Stadtbibliothek, an Ebner, Arnold, Fabricius, Hönn, Viatis und Stöberlein, in der Annahme, daß die damit Bedachten, Männer ver­ schiedenen Standes, aber alle der Frömmigkeit zugetan, die Betrachtungen der Frau nicht ungern lesen würden 132). Auf der Adressenseite eines Briefes an Volkamer vom 20.9.1684 ist von fremder Hand folgender Spruch ge­ schrieben, der womöglich auf die schriftstellerische Tätigkeit von Frau Patin anspielt: Ecce Patina, Minerva Latina! Patrima virago Tota latere nequit, tota patere negat133). Von Gabriele Patin ist behauptet worden, sie hätte 1865 eine Lobrede zu Ehren Ludwigs XIV. in der Paduaner Akademie gehalten. In den Briefen war keine Spur davon zu finden134). Die Verheiratung der älteren Tochter machte Patin noch mehr Kopf­ zerbrechen als ihre Erziehung. Schon deswegen, weil er in einem fremden Land leben mußte, ohne auf eine Rückkehr in die Heimat und dort auf die Verleihung eines hohen Amtes hoffen zu dürfen. Vor allem war bei seiner Geringschätzung der Italiener an eine Eheschließung mit einem Einheimischen schwerlich zu denken. Andererseits konnte er nicht warten, weil im Falle eines frühzeitigen Todes seine Familie Gefahr lief, in Not zu geraten 135). Zunächst sollte die ältere an die Reihe kommen; die jüngere, die angeblich durch ihre Studien ganz in Anspruch genommen, ans Heiraten nicht dachte, wollte der Vater lieber bei sich behalten 136). Gabriele, mit den Augen des Vaters gesehen eine Schönheit, ein Juwel an Leib und Seele, eines Thrones würdig, lebte zurückgezogen im Elternhaus. Die Heiratskandidaten, die sie sprechen durften, die besten Menschen der Welt und meist Ausländer, waren von ihr entzückt. Leider hielt keiner um ihre Hand an. Von der Paduaner Jugend wollte Patin nichts wissen. „Die jungen Leute unserer Stadt", sagte er, „sind wohl gescheit und redegewandt, im Grunde aber sind sie Tauge­ nichtse und noch mehr als Mönche den Ausschweifungen hingegeben." Sein Wunsch ging dahin, kluge Männer für seine klugen Töchter ausfindig zu machen, damit sie kluge Kinder auf die Welt brächten; denn der Dummen gebe es mehr als genug. Am liebsten hätte er Gabriele mit einem Deutschen verheiratet. „Wenn sich einer fände, der mir gefiele, würde ich ihm außer einer anständigen Mitgift zu einem angesehenen Lehrstuhl verhelfen. Sie selbst, die mich seinerzeit in Heidelberg und Straßburg besucht hat, spricht deutsch und in ihrer kindlichen Unbefangenheit bildet sie sich ein, sie sei für einen Deutschen geboren" 137). Er sucht weiter und hofft im Lauf von zwei Jahren den seltsenen Vogel zu fangen. „Seit zwei Jahren bin ich wie 132) P. an Vo. Patavii, 24. 2. 1680; V, S. 453, n. 91. 13s) P. an Vo. Patavii, 20. 9. 1684; V, S. 453, n. 110. 134) Zedier, Universal-Lexikon. Bd XXVI, S. 1324 — Nouvelles de la Republique des lettres. 1686. S. 83. 135> P. an Vo. Patavii, 20. 1. 1688; V, S. 453, n. 132. 186> P. an J. M. Faber. Patavii, 4. 10. 1686; V, S. 452, n. 15. 137> P. an Vo. Patavii, 12. 1. 1679; V, S. 453, n. 85.

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Diogenes mit der Laterne auf der Suche nach einem Schwiegersohn unter den Gebildeten, habe leider niemanden gefunden 138). Viele Aufschneider, arme und eingebildete Menschen, um nicht mehr zu sagen, haben um meine Tochter angehalten, sie sind aber abgewiesen worden. Ich hätte einen Arzt allen anderen vorgezogen, aber es war keiner da, woraus ich entnehme, daß unsere heilige Kunst sehr tief gesunken ist.“ Endlich meldete sich ein Heirats­ lustiger. „Er ist kein Analphabet, er hat schon Philosophie getrieben und kennt mehrere Sprachen, das Französische namentlich wie seine Mutter­ sprache. Und da er unsere Tochter unendlich liebt, haben wir sie ihm gegeben“ 139). Die Ehe scheint geschlossen worden zu sein; denn kurz nach dem Tod ihres Vaters im Jahre 1693 übersiedelte Karola Katharina mit der väterlichen Bibliothek in das Haus ihres Schwagers in Venedig 14°). Die Unbefangenheit, mit der sich Patin über seine privaten Angelegenheiten mit Volkamer unterhält, zeigt uns, wie eng das Verhältnis zwischen beiden geworden war, seitdem der Heimatlose sich in Padua endgültig niedergelassen hatte. Von jener Zeit ab setzte ein regelmäßiger Briefwechsel ein, dem erst der Tod ein Ende machte und der sich nach und nach über die beruflichen Erlebnisse hinaus auf das ganze Familienleben erstreckte. Als Patin erfuhr, daß die Tochter Volkamers Anna Susanna sich mit einem Arzt aus Breslau namens Heinke verlobt hätte, beeilte er sich, herzliche Glück- und Segens­ wünsche zu übersenden und dem Schwiegersohn seine Freundschaft anzu­ bieten. „Mögen aus ihrem Ehebund des Großvaters würdige Enkel hervor­ gehen, die er, Patin, schon im voraus, wie aus einem natürlichen Anspruch heraus, liebhabe.“ Diese warme Anteilnahme war leider in diesem Fall fehl am Platz. Die Verlobung, wenn sie überhaupt zustande kam, führte nicht zur Ehe. Der nächste Brief schlägt daher einen anderen Ton an. „Ich habe Heinke nie gesehen und doch geliebt, weil ich glaubte, daß er deiner oder beinahe deiner geworden sei. Aber ich bin ganz deiner Meinung; denn es ist besser, auf einen Schwiegersohn zu verzichten als einen solchen zu haben, dem unsere Sitten und Lebensauffassungen fremd sind“ 141). In der Familie Patin unterhielt man sich gerne über den Nürnberger Kollegen. Es verging fast kein Tag, an dem er nicht von jemandem erwähnt wurde. Wenn Vater und Töchter über irgendeine Frage stritten, wurde darüber diskutiert, wie wohl Volkamer über den strittigen Punkt urteilen und was er wohl daraufhin tun würde. Denn sie hielten ihn für den besten Schieds­ richter142). Wie viele Gebildete jener Zeit sammelten die beiden Freunde zu ihrer eigenen Erbauung Portraits berühmter Leute, vorzugsweise Gelehrter, und tauschten gelegentlich solche miteinander; diesen Zeitvertreib nahm Patin nach dem Vorbild Varros und anderer sehr ernst; denn wie die Alten es 138) 139) 14°) 141> 142)

P. an J. G. V. II. Patavii, 24. 2. 1688; V, S. 454, n. 3. P. an Vo. Patavii, 16. 8. 1690; V, S. 453, n. 145. Kar.-Kath. P. an J. Böhm. Padova, 18. 12. 1693; S. 454, n. 1. P. an Vo. Patavii, 3. 4.; 25. 7. 1687; V, S. 453, n. 130 u. 131. P. an Vo. Patavii, 17. 12. 1683; V, S. 453, n. 107.

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immer wieder behaupteten und wie er es an sich selbst bemerkte, fühlten sich treffliche Menschen durch solche Bilder zur Tugend angereizt" 143). Bald wurde der Wunsch nach Bildern von Familienangehörigen laut. Patin madite damit den Anfang, indem er eine bemalte Doppeltafel nadi Nürnberg sandte. Auf der einen Hälfte war das Porträt seines Vaters Guy, auf der anderen sein eigenes. Nicht lange danach versprach Patin Volkamer das Porträt seiner Frau mit der scherzhaften Bemerkung, daß ein Italiener das nicht tun würde, aus Angst, daß der Empfänger seine Wünsche von dem Konterfei auf das Original übertragen könnte, was allerdings bei Deutschen und Franzosen nicht zu befürchten wäre. Ein Jahr darauf erhielt Patin ein Porträt Volkamers, das Frau Patin, eingedenk der Verdienste des Absenders um die Ihrigen, sich zu küssen erlaubte und das von den Töchtern herzlich begrüßt wurde 144). Schon vor der erwähnten Gratulationsfeier anläßlich der in Aussicht stehenden Promotion der Gabriele hatte Volkamer das Bild des Mädchens erbeten. Da der Vater anscheinend Hemmungen verspürte, diesem Wunsch nachzukommen, und mit der Absendung des Bildes zögerte, wiederholte Volkamer seine Bitte und zwar nachdrücklich. Er hoffe bestimmt, das ge­ wünschte Bild bald zu erhalten, und dulde keine Weigerung mehr145). Daraufhin entschloß sich Patin, ein gemaltes Porträt seiner Tochter abzu­ schicken, das Volkamer stechen ließ. Mit einem Abdruck bedankte er sich bei der Familie Patin. Drei Jahre danach traf wieder ein Paket mit Bildern ein; darin befanden sich die Porträts von Volkamer und von Gabriele. Da lachte man herzlich über das Beisammensein des ältlichen und des jugend­ lichen Gesichtes, das als Zeichen der Liebe des älteren Herren zu dem jungen Fräulein gedeutet wurde 146). Als Patin eines Tages auf dem Krankenbett an die Zukunft und an den Tod dachte, kam ihm in den Sinn, zu Ehren seines Vaters und zur Erbauung von Frau und Töchtern ein Familienbild hersteilen zu lassen. Um das ganze wirkungsvoller zu gestalten, sollte es demjenigen nachgeahmt werden, das der jüngere Holbein, mit dessen Kunst Patin sich in Basel vertraut gemacht hatte, für den Kanzler Thomas Morus in England gemalt hatte. Das Gemälde war auf eine Länge von 6 Fuß berechnet. Eine Replik sollte nachher in kleinerem Format gestochen werden. Patin wandte sich an einen Maler in Padua, Noel Jouvenet, der aus einer weitverzweigten französischen Künstler­ familie stammte und einen guten Ruf genoß. Das Gemälde kam zustande, aber der Stecher, dem die Replik hätte anvertraut werden sollen, fehlte. Wieder einmal bat Patin Volkamer um Hilfe. „Da der Maler der Meinung ist, daß der Stich weder mit der Nadel noch mit Aquaforte graviert werden könne, sondern mit dem Messer, muß ich zu euch Deutschen meine Zuflucht nehmen, da ihr so erfindungsreich, geschickt, geduldig, arbeitsam und in 143) 144) 145) 146)

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P. an Vo. Patavii, 13. P. an Vo. Patavii, 20. Briefentwurf von Vo. P. an Vo. Patavii, 27.

10. 1677; V, S. 453, n. 80. 6. 1678; 8. 8. 1679; V, S. 453, n. 82 u. 89. an P. (Nürnberg) 15. 12. 1679; V, S. 667, n. 193. 5. 1685; V, S. 453, n. 118.

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allem so tüchtig seid, sowohl in der Praxis wie in der Lehre 147). Volkamer fand in dem Nürnberger Stecher Joh. Chr. Sartorius den gesuchten Künstler, der den Kupferstich nach den genauen Angaben des Auftraggebers und zu dem vereinbarten Preis von 20 Talern anfertigte 148). Das Gemälde ist vom Vater und von der Tochter beschrieben worden. Danach stellen sich in wohl­ durchdachter und dem Familienempfinden abgelauschter Reihenfolge die ein­ zelnen Personen vor: Der Vater sitzt, an seine Schulter gelehnt weist die Mutter ihre Töchter auf das Bild des Großvaters Guy, des Vorbildes der Familie, hin. Gabriele, sitzend, hält ein Buch offen vor sich, das sie ihrer Mutter erklärt. Karola steht mit einer Erdkugel in der Hand neben ihrem Vater, der sie unterweist. Das Ganze ein Symbol vielseitiger Gelehrsamkeit148). Der erste Abzug fand den Beifall Patins, wenn er auch mehr Lebhaftigkeit durch eine bessere Ausarbeitung der Licht- und Schattenstellen gewünscht hätte 149). *

Der Briefwechsel Patin — Volkamer führt uns auch in das Leben der größeren Familie, der Universität, ein, geht aber leider an dem eigentlichen Lehrbetrieb vorbei und beschränkt sich in der Hauptsache auf die Beziehungen Patins zu seinen Kollegen und zu den Studenten. Bei der Einstellung des Franzosen den Italienern gegenüber und nachdem die Begeisterung über die Lebensverhältnisse im neuen Wirkungskreis abgeebbt war, konnte sich ein kollegialer, geistig aufgeschlossener Verkehr zwischen dem Neuberufenen und den einheimischen Mitgliedern des Lehrkörpers nur schwer anbahnen. Patin selber klagt, wie wir schon festgestellt haben, daß der Kreis seiner Freunde in Padua sehr eng begrenzt sei. Er ist fest davon überzeugt, daß seine Amtsgenossen auf ihn neidisch und eifersüchtig sind. „Wer nicht in Padua gewohnt hat, kennt die Paduaner schlecht. Niemals werden ihnen die Ausländer gefallen. Wenn je die Eifersucht geherrscht hat, dann war es hier. Man sei jetzt so weit gekommen, daß man nicht mehr wie früher sagen könne: Eifersüchtig wie ein Bettler auf den anderen, sondern wie ein Arzt auf seinen Kollegen" 15°). Andererseits mögen die anderen Mitglieder des Lehrkörpers an dem selbstbewußten Auftreten des Doktors der Pariser Fakultät Anstoß genommen haben, mehr noch als an seiner Herkunft. Denn ortsfremde Lehrer hat es von jeher an der Universität Padua gegeben; für sie waren sogar wichtigere Professuren statutengemäß Vorbehalten lsl). Wenn aber je an der Universität Ausländer schief angesehen wurden, dann traf dieses Mißtrauen nicht die Deutschen. Im Gegenteil waren sie an und für sich beliebt und wurden von der Behörde gern berufen. Mehr als einmal, sagt 147) P. an Vo. Patavii, 18. 6. 1689; V, S. 453, n. 139. 148) Nach der Rezension des Tafelwerks in den Acta Eruditorum. Leipzig, 1691 S. 459. P. an Vo, Patavii, 15. 11. 1684; V, S. 453, n. 112. 149) P. an Vo. Patavii, 29. 9. 1680; V, S. 453, n. 142. — Thieme-Becker, o. c. Bd 29, S. 480. 15°) P. an Vo. Patavii, 12. 1. 1679-; V, S. 453, n. 85. ,51) Tomasini, o. c. S. 220—221. 20

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uns Patin, hätten die Herren in Venedig bei Berufungen den deutschen Be­ werbern den Vorzug gegeben, wenn an ihnen nicht dies oder jenes auszu­ setzen gewesen wäre152). Damit war Patin natürlich einverstanden und als ob er selber ein Deutscher gewesen wäre, rief er voll Bewunderung aus: „Wer hätte zur Zeit des Tacitus vorausgesehen, daß schließlich Deutsche an eine so berühmte Universität berufen werden würden!“ 153) Wie freute er sich, als er erfuhr, daß Volkamer in Frage gekommen war, als die 1649 durch den Tod des berühmten Anatomen und Botanikers Vessling erledigte Professur wiederbesetzt wurde 154). Diesen Vorzug genossen die Deutschen, obwohl die Republik Venedig auch mit ihnen hie und da betrübliche Er­ fahrungen gemacht hatte. So weiß Patin von einem Mediziner aus Holstein namens Barendon folgendes zu berichten: Im Alter von 60 Jahren hatte er die erste Professsur für praktische Medizin in Padua übernommen. Vorher war er 30 Jahre lang als praktischer Arzt und Leibarzt des Königs in England tätig gewesen. Der Senat in Venedig hatte ihm ein Gehalt von 800 silbernen Dukaten zugebilligt. Allerdings waren es venezianische, die im Wert geringer standen als die anderen. In Italien angekommen, forderte Barendon goldene Dukaten, wie sie ihm angeblich versprochen worden seien. Von ihm hatten seine Kollegen bisher noch nichts gehört. Man erzählte sich aber, daß er Hippokrates, Galen und Avicenna nie gelesen hätte, obwohl er diese Autoren vor den Studenten erläutern und kommentieren müßte, für Patin ein höchst übermütiges, gewagtes, ja wahnsinniges Unterfangen 155). Patin selber wünschte sich dringend einen deutschen Kollegen und sprach sich mit Volkamer darüber aus. Die Stellung eines Professors in Padua sei durchaus angesehen und er wisse bestimmt, daß die „Moderatores“, der zuständige Ausschuß für Berufungen, ebenso wie er, einen Deutschen wünsch­ ten. Wohl würde er den Bürgern in der Stadt nicht gefallen, allein was habe das zu bedeuten? Wenn er sich seinen Aufgaben gewachsen zeige, sei ihm das Wohlwollen des Dogen und des Senats sicher. Er dürfte jedoch nicht zu jung sein. Wenn er sich vorher an einer anderen Universität bewährt hätte, wäre es für ihn von Vorteil. Sollte er, Patin, in die Stelle des Vertreters der theoretischen Medizin vorrücken, so würde er ihn als seinen Nachfolger auf den gut dotierten Lehrstuhl für praktische Medizin empfehlen. Aber er müßte jeden Streit um den dem Alter und den Dienstjahren gebührenden Vorrang vermeiden. Wenn er damit einverstanden wäre, würde er in ihm einen Bruder finden. Auf das Vorrangrecht legte er einen besonderen Wert. Er hätte schon erlebt, daß ein junger, von ihm seinerzeit in Paris geprüfter Doktor sich in Padua um eine wichtigere Professur als seine eigene beworben hätte. Sofort sei er dem Bewerber entgegengetreten und habe sein Gesuch zu Fall gebracht156). Vier Wochen später kommt Patin auf dasselbe Thema zurück. Da er die feste Hoffnung habe, bald befördert zu werden, wäre es an der 152) 153) 154) 155) 156)

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P. P. P. P. P.

an Vo. Patavii, 12. 8. 1683; V, S. 453, n. 105. an Vo. 7. 12. 1678; V, S 45 3, n. 84. an Vo. Patavii, 24. 3. 1689; V, S. 453, n. 137. an Vo. Patavii, 12. 10. 168 3; V, S. 453, n. 106. an Vo. Patavii, 17. 12. 1683; V, S. 45 3, n. 107.

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Zeit, seine jetzige Stelle mit einem Deutschen zu besetzen. Wen Volkamer empfehlen möge, dem wolle er als liebstem Bruder zu Diensten stehen. Er müsse ihm aber versprechen — und Volkamer sollte dafür bürgen —, daß er ihn als in der Gunst der deutschen Landsmannschaft Stehenden unterstützen werde. Unter dieser Bedingung biete er ihm seine Freundschaft an und da er Land und Leute kenne, werde er wohl wissen, was zu tun sei, damit der Berufene nicht bereue, den Ruf angenommen zu haben 157). Leider hatte Patin die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der von ihm ersehnte Lehrstuhl wurde einem Mitbewerber übertragen, so daß der aus Deutschland erwartete Nach­ folger keine Veranlassung mehr hatte, die Reise nach Italien anzutreten. Zwei ihm näherstehende und charakterlich grundverschiedene Amtsgenos­ sen hat Patin in seinen Briefen schlicht und naturnahe gezeichnet: den einen seinen Beruf mit sittlichem Ernst ausübend, den anderen dagegen den Freuden des Leibes zugetan. Der einsam lebende Professor Scarabicius, ein wackerer Praktiker und erfinderischer Geist, ursprünglich ein einfacher Bader, hatte sich selbständig eine eigene Heilmethode geschaffen, seine Familie zu Ehren und Vermögen gebracht, was ihn mit berechtigtem Stolz erfüllte. Ein Sonder­ ling scheint er dabei auch gewesen zu sein; denn jedem, der ihm das letzte Geleite geben würde, vermachte er eine 1 Pfund schwere Kerze mit dem dazu­ gehörigen Handschuh. Gleich darauf folgt das in heiterer Stimmung hingeworfene Bild des Anatomen Domenico Marchetti. „Willst du eine lustige Geschichte hören?“ fragte er Volkamer. „Vor kurzem ging D. Marchetti, ein Mann von 59 Jahren, nach Venedig um den Karneval mit einer Sängerin, von der er ein Kind hat, fröhlich zu verbringen. Diese erhielt bei einem Theater eine Gage von 200 Pistolen. Marchetti versprach ihr das Doppelte, wenn sie mit ihm wohnen wolle. Jetzt ist das Frauenzimmer wieder schwanger. Sic itur ad astral“ t58) *

Zur Zeit Patins, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, hatte die seit 1222 bestehende Universität Padua ihre Glanzperiode überschritten, ja sie war sogar, wenn wir dem Urteil von zeitgenössischen Reisenden glauben dürfen, in Verfall begriffen. Der Franzose M. Mission, der Padua 1657 besuchte, fand die Universität öde und leer. Einige Jahre später schätzt J. G. Keyssler die Zahl ihrer Studenten auf 4—500 159). Die mit der Stadt und Umgebung seit 1405 in die Botmäßigkeit Venedigs geratene Universität hatte noch viel von ihrer mittelalterlichen Verfassung behalten. Die Studenten 157) P. an Vo. Patavii, 14. 3. 1686; V, S. 453, n. 125. 15e) Keyssler, o. c. S. 626; M. Misson, o. c. S. 214. 159> Tomasini o. c. passim — Anonym, La universitä di Padua e i suoi istituti. Padova. 19*00 (passim). Blasio Brugi, Atti della nazione germanica dei legisti nello Studio di Padova. 1912. Blasio Brugi, Rotulus et matricula D. D. Juristarum et artistarum Gymnasii Patavini. A. 1592—93 (passim). Antonio Favaro, Atti della Nazione Germanica artistica nello Studio di Padova I (1911) passim.

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z. B. wurden noch streng nach Landsmannschaften (Nationen) eingeteilt, die mit eigenen Statuten versehen an der Verwaltung der Universität regen Anteil nahmen. Fachmäßig bildeten sie zwei Gruppen, die Fakultäten, manch­ mal auch Universitäten genannt, die Juristen und die Artisten; d. h. die Mediziner, die Philosophen und die Theologen. An Mitgliederzahl, an Ansehen und an Privilegien waren die Juristen den Artisten überlegen: ihre Fakultät zählte 22, die der Artisten dagegen 7 Landsmannschaften. Von sämtlichen Nationen war die deutsche die stärkste, einflußreichste und an­ gesehenste. Sie galt als die Vertreterin des Römischen Reiches deutscher Nation, führte die offizielle Bezeichnung „inclyta augusta Natio“ und stand beim Staat in hoher Gunst. Sie umfaßte die Studenten aus den ultramontanen Ländern, nämlich aus Deutschland und Österreich. Jede Nation suchte aus ihrer Mitte und zur eigenen Verwaltung eine Anzahl von Funktionären aus: einen Consiliar, zwei Bibliothekare, mehrere Prokuratoren und Assessoren, außerdem aus der Reihe der Professoren einen Protektor, daneben manchmal einen Komprotektor. Sämtliche Nationen der Artistenfakultät wählten zusam­ men in einer öffentlichen Versammlung einen Rektor, einen Syndikus, even­ tuell einen Prorektor und einen Prosyndikus, die für das Wohl der Fakultät der Artisten zu sorgen hatten. Ähnlich verfuhren die Juristen, so daß es zwei Rektoren gab. Die Wahl des Rektors und des Syndikus mußte von der städtischen und der staatlichen Behörde bestätigt werden. Die Dauer der Ämter wurde auf ein Jahr befristet, damit mehr Bewerber an die Reihe kommen könnten 160). In den Briefen Patins ist nur von der deutschen Nation die Rede. Als überzeugter Anhänger der Deutschen stellte sich Patin restlos in den Dienst der deutschen Landsmannschaft, mit der er sich wie verwachsen fühlte. In seinem Lebenslauf hebt er mit sichtlicher Genugtuung hervor, daß Bil­ dungsbegierige von überallher nach Padua kamen, um dort zu promovieren. Es verginge kein Jahr, in dem nicht viele Ausländer, namentlich Deutsche und Griechen sich dorthin begäben und mit aller Herzlichkeit empfangen würden 161). Ob für die Zeit Patins diese Behauptung noch volle Geltung hat, ist fraglich. Die Angaben darüber in seinen Briefen sind nicht eindeutig und beziehen sich lediglich auf die Artisten. Danach hätte es 168 5 vierzig Me­ diziner gegeben, 1683 wären es ziemlich viele, 1688 und 1689 wiederum weniger gewesen. Aus alledem scheint hervorzugehen, daß, wie die Uni­ versität überhaupt, die deutsche Landsmannschaft in der für uns in Frage kommenden Periode ihre beste Zeit hinter sich hatte. Die deutschen Studenten wurden von Patin aufs beste betreut, vor allem, wenn sie mit einem Empfehlungsschreiben seiner Freunde zu ihm kamen. „Die jungen Leute, die du mir empfehlen wirst, werden mir stets willkommen sein", schreibt er an S. A. Fabricius. Dasselbe teilte er Volkamer mit, fügte aber hinzu: „Ich werde sie sicher nicht als Fremde, sondern als meine besten 160> Lyc. S. 10. Patavii, 12. 161) P. an S. A. Patavii, 13.

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P. an Vo. Patavii, 12. 10. 1683; V, S. 453, n. 106. — P. an J. G. V. II. 10. 1689'; V, S. 454, n. 152; 7.7. 1688, V, S. 454, n. 150. Fabricius. E musaeo Patavino, 23. 3. 1679; V, S. 452, n. 52. P. an Vo. 10. 1677; V, S. 453, n. 80.

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Freunde, als Brüder aufnehmen. Und sollten sich darunter solche befinden, die Lust hätten, hier fleißig zu studieren, so schicke sie her, daß sie bei mir wohnen“ 162). Nach einem damals unter den Universitätsprofessoren auf­ gekommenen Brauch gewährte Patin einer Anzahl deutscher Studenten Kost und Logis. Wenn er seine Kollegen in Nürnberg aufforderte, ihm junge Deut­ sche nach Padua zu schicken, schilderte er anschließend die Vorzüge seiner fortschrittlichen „Pension“. „Mein Haus ist so geräumig, daß es ein Palast genannt werden kann. Ich besitze eine medizinische Bibliothek, wie es viel­ leicht keine zweite in dieser Gegend gibt. Die ganze Zeit bin ich mit öffent­ lichen und privaten Studien beschäftigt, so daß schon durch mein Beispiel jedermann zum Arbeiten angeregt wird. Außerdem wird zwischen dem Mittagund Abendessen das anstrengende Studium der Medizin unterbrochen. Dafür aber geben wir uns mit gefälligeren Dingen ab, und kein Student wird es bereuen, an solchen Übungen teilgenommen zu haben, vorausgesetzt daß er von dem Geist beseelt ist, den ich bei den meisten Deutschen gefunden habe. Allerdings ist er in diesen Gegenden nicht zu finden. Warum? Vermutlich aus folgenden Gründen: die Studenten essen allein und, wie ich höre, dürftig. Sie essen so in Gedanken versunken, daß jedermann es ihnen anmerkt. Sie essen in der Angst, daß eine vergiftete Speise Petrus für Paulus töten könnte. Mein Tisch dagegen ist, soweit meine Verhältnisse erlauben, reichlicher. Guter Laune und ohne Sorgen pflege ich meinen Leib, aber so, daß man nicht glaube, ich sei oder scheine dem Studium der Philosophie entfremdet. Ich wache über meine Freiheit und über die meiner Familie und ich wünsche von niemandem in meiner Umgebung, daß er etwas gegen seinen Willen tue“ 163). Auf alle Fälle sorgte er nach seinen Worten so gut er konnte für die Deutschen. Beim Studium wie im Privatleben war er ihnen behilflich und, wenn sie in Geld Schwierigkeiten gerieten, was wohl öfters der Fall war, griff er in seinen Geldbeutel. Er war sich auch seiner Dienstfertigkeit durchaus bewußt. „Niemals, heißt es in einem Brief an Volkamer, wird ein Deutscher von Padua Weggehen, der nicht von meiner Liebe zu der verehrungswürdigen deutschen Nation Zeugnis ablegt“ 164). Innerhalb der Landsmannschaft wählten sich die Mediziner einen Infor­ mator, dessen Aufgabe darin bestand, den Doktoranden kurz vor dem Rigorosum allerhand beizubringen: „was zu tun und zu antworten sei, dann die sogenannten puncta und Casus, die patavinische Heilmethode und die geeig­ neten Arzneien“. Wir würden ihn heutzutage Repetitor in extremis nennen166). Im Jahre 1683 wurde Patin zum einzigen Informator der deutschen Na­ tion auf Lebenszeit ernannt, ein Erfolg, der bei dem Gewählten große Freude auslöste und ihn bewog, darüber ausführlich nach Nürnberg zu berichten: „Auf einem Konvent der Deutschen wurde beschlossen, einen Informator, den man unbedingt brauche, zu ernennen. Dieser Beschluß wurde von sämt­ lichen Anwesenden ohne Widerspruch gebilligt.“ Unmittelbar darauf wurde 168) 163) 164) 165)

P. P. P. P.

an Vo. Patavii, 13. 10. 1677; V, S. 45 3, n. 80. an Vo. Patavii, 1. 4. 1683; V, S. 453, n. 103. an Vo. Patavii, 15. 7. 1681; V, S. 453, n. 96. an Vo. E musaeo Patavino, 13. 2. 1683; V, S. 453, n. 101.

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ich unter großem Beifall zum einzigen Informator der Inelyta natio augusta auf Lebenszeit ernannt. Gleich nach der Wahl bekam ich in meiner Woh­ nung den Besuch des Prosyndikus und einer Anzahl Studenten, die mir das Ergebnis der Wahl mitteilen wollten. Ich erklärte ihnen, daß ich als Beauf­ tragter der Landsmannschaft alles für sie tun wolle. Ihnen gehöre nicht nur mein Wissen, so bescheiden es auch sei, sondern auch meine Geldtasche. Ich hätte die Germanen stets für die besten Menschen gehalten und, sollte es notwendig werden, wäre ich bereit, für sie zu sterben“. Darauf verabschie­ deten sie sich; denn die späte Stunde gestattete ihnen nicht länger außerhalb ihrer Wohnung zu sein. Ich aber bat drei höhere Beamte der Landsmann­ schaft nach Erledigung ihres Dienstes zu mir zurückzukommen. Sie stimmten zu, und sogar der Prosyndikus, den ich nicht eingeladen hatte, schloß sich ihnen an. Kurzum wir waren in heiterer Stimmung und, um jeder Gefahr vorzubeugen, bat ich, der ich sie zu Tisch eingeladen hatte, bei mir zu über­ nachten. Ein Student aus Güstrow in Mecklenburg namens Rügenwald schlief in meinem Zimmer. Mit Spielen, Scherzen und freundschaftlicher Unterhal­ tung wurde die Bescheidenheit meines Hausstandes ausgeglichen. Bis auf die Pracht eines Festmahles blieb nichts zu wünschen übrig. Ich erzähle dir alle diese Dinge, damit du siehst, wie ich mit den Deutschen lebe und was sie auch in Zukunft von mir zu erwarten haben. Ich bitte dich, alle Freunde, die ich in Deutschland habe, vor allem aber Wagenseil und Scheffer davon zu unterrichten“ 165). Das Amt eines Informators hat Patin gerne geführt, und nicht ohne Stolz meldet er nach Nürnberg, daß im Laufe von drei Wochen vier Deutsche promoviert hätten, die von ihm „informiert“ worden seien. Und damit hätte er mehr geleistet, als man von ihm erwartet hätte. Allerdings geschah das nicht aus reiner Liebe zur Wissenschaft, sondern in seinem eigenen Inter­ esse; denn er wußte, daß er sich dadurch die Gunst der Aufsichtsbehörde erwarb 168). Doch mit dem besten Willen konnte er nicht hindern, daß zwi­ schen ihm und der akademischen Jugend Konflikte entstanden. „Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich ihnen nicht einen Vorteil verschaffe, aber sie mer­ ken es nicht. Unsere „patavinizierten“ Deutschen sind nicht mehr wie sie waren, als sie in ihrer Heimat erzogen wurden, worauf ich schon mehrmals hingewiesen habe. Hier verderben sie bald und kommen nicht mehr zur Be­ sinnung, bevor sie die Stadt verlassen. Viele unter ihnen haben versucht, mich zu der deutschen Nation zu optieren, doch widersetzten sich zwei. Der eine davon ist ein gewisser Meyer aus Nürnberg, der, wie ich höre, zu seinen Angehörigen zurückgekehrt ist. Ihr unsinniges Votum machte die Absichten der die Mehrheit bildenden Jünglinge zunichte. Und doch wußten sie, daß der hochangesehene Senator und Moderator der Universität Baptista Nanio mir ein Haus für die deutschen Studenten in Aussicht gestellt hatte. Es war das sichtliche Bestreben dieses vornehmen Herren, dieses Haus, das früher den Mönchen gehört hatte, der deutschen Nation im Namen des Staates zu übergeben, damit es den Musen wieder diene. Darin hätten sie die Bibliothek 166) P. an Vo. Patavii, 15. 7. 1681; V, S. 453, n. 96. E musaeo Patavino, 10. 7. 1683; V, S. 453, n. 104.

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der Landsmannschaft sidier und ohne Kosten zur allgemeinen Benützung un­ terbringen, für ihren Consiliar seines Amtes würdige Räume und für etwa 30 Studenten unentgeltliche Wohnungen einrichten können. Das Erdgeschoß sollte an Wirte, Bäcker und an für den Lebensunterhalt wichtige Geschäfte vermietet werden, die sich alle nach dem Willen der Deutschen hätten rich­ ten müssen/' Trotzdem wollten sie nicht, daß Patin in die deutsche Nation gewählt würde. „Wohl ihnen/ Aber ich glaube nicht, daß derjenige, der sich nicht um das öffentliche Wohl kümmert, jemals seine eigenen Angelegen­ heiten glücklich erledigen wird." Damit ging die Hoffnung auf eine ansehn­ liche Stiftung verloren 167). Enttäuschungen anderer Art mußte er hinnehmen. So wurde er von einem Mitglied der Deutschen Nation, einem Uskoken 168), ganz zu Unrecht an­ gegriffen. Kurz danach stellte sich letzterer zur Promotionsprüfung ein. Sat­ zungsgemäß hätte Patin dem Kandidaten den Doktorhut überreichen müssen. Er lehnte es aber ab, obwohl er dem Schuldigen, der seine Vorwürfe zurück­ genommen oder für falsch erklärt hatte, verziehen hatte. Dieser und ein an­ derer hätten sich für eine oder zwei Zechinen dazu bringen lassen, ihm etwas am Zeug zu flicken. Das sei nicht deutsch, meinte Patin, das rieche vielmehr nach einem Dieb oder Türken 169). Er fand, daß manche Prüfungskandidaten recht wenig wußten und daß sie sich länger in Padua hätten aufhalten müs­ sen, um sich mehr in ihre Wissenschaft zu vertiefen. Leider kämen viele nach Italien nur, um die Genüsse auszukosten, die das Land ihnen zu bieten habe und die man sich leicht vorstellen könne. Und wenn sie ihren Geldbeutel beinahe geleert hätten, bäten sie ihn mit Tränen in den Augen, ihnen mit der Lanzette zu helfen. „Lieber Patin, mache doch, daß ich noch in dieser Woche promovieren kann. Du kannst es und mir ist es unmöglich, mich hier länger aufzuhalten. Du würdest über die Mittel staunen, die ich habe an­ wenden müssen, um einen solchen Wunsch zu erfüllen" 170). In den Statuten der deutschen Landsmannschaft war auch die Wahl eines Protektors auf Lebenszeit vorgesehen, der berufen war, im Leben der Kor­ poration eine wesentliche Rolle zu spielen. Er mußte in schwereren Fällen dem Consiliar beistehen und innerhalb und außerhalb der Universität bei dem städtischen Magistrat wie beim Senat und dem Dogen in Venedig die Belange der deutschen Nation nach bestem Wissen und Gewissen vertreten. Daher verlangte man von den Bewerbern, die dem Lehrkörper angehören mußten, Würde, verständige Gesinnung und Ansehen 171). Dieses Amt war sehr begehrt, besonders von dem ehrgeizigen Herrn Patin, der sich schon 1681 darum bemüht hatte. Ein schlauer Paduaner hatte ihm gegenüber be­ hauptet, Patin hätte die besten Aussichten, Nachfolger des Protektors Frige187) PP. an Vo. E musaeo Patavino, 6. 4. 1679; V, S. 453, n. 88. 168) Uskoken nannte man die Südslawen, die nach dem Einfall der Türken in ihr Land im 15. Jh. ins deutsche Reich flüchteten, dort als Grenzsoldaten gegen die Türken kämpf­ ten und seit 1617 in Kroatien angesiedelt wurden. 169) P. an Vo. 12. 10. 1688; V, S. 453, n. 106. 17°) P. an Vo. E musaeo Patavino, 16. 7. 1683; V, S. 453, n. 104. 171) A. Favaro, Atti della Nazione Germanica artistica I, S. L.

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melica zu werden, wenn es ihm gelänge, für seine Bewerbung die Unterstüt­ zung des Kaisers oder eines der hohen Herren am Hof zu gewinnen. Darauf­ hin setzte sich Patin mit dem in Wien lebenden Bruder seines Freundes Fabricius in Verbindung mit der Bitte, er möge sich bei den betreffenden Per­ sönlichkeiten für ihn verwenden und darauf hinweisen, daß er in besonderem Maße Germanophil sei; denn nur als solcher könne er Gegenliebe finden. Er möge ihn außerdem bei dem Gesandten Venedigs in Wien, dem Grafen a Torre, empfehlen 172). Als von der Wahl eines neuen Schirmherrn geredet wurde, sprach er sich in seinen Briefen sehr eingehend und sehr interessiert über die Angelegen­ heit aus, wobei er Licht und Schatten nach eigenem Ermessen verteilte. Der Protektor der deutschen Nation war damals der schon erwähnte Graf Frigemelica, der Vertreter der theoretischen Medizin. Mit Rücksicht auf sein vor­ gerücktes Alter beantragte der Prosyndikus J. F. Xaver von Wenheim, ein Wiener, einen Komprotektor als Beistand des amtierenden Protektors zu ernennen und schlug gleichzeitig den Grafen Borromeo, seinen guten Freund, vor. Es wurde ihm entgegengehalten, daß Graf Borromeo, der vor kurzem die Schirmherrschaft über die englische Nation übernommen hatte und den Deutschen nicht wohlgesinnt sei, nicht in Frage käme. Seine Ernennung würde ihnen zum schweren Schaden geraten. Patin dagegen sei für dieses Amt in jeder Hinsicht geeignet. Daraufhin erhob sich großer Lärm. Nach wiedereingetretener Ruhe beschloß die Versammlung, vier Studenten zum Grafen Frigemelica abzuordnen, die ihn nach seiner Meinung fragen sollten. Dieser erklärte, daß er die Wahl eines Komprotektors weder billigen noch mißbilligen wolle. Aber die Deutschen sollten sich hüten, durch eine solche Wahl irgend jemandem zu nahe zu treten, damit nicht der Gesandte des Kaisers oder die venezianische Republik oder auch eine fremde Macht da­ gegen Einspruch erhebe. Er selber sei nicht so sehr vom Alter gebeugt, daß er unbedingt einen Beistand brauche. Wenn jedoch die deutsche Nation einen Komprotektor wünsche, so sei ihm Borromeo oder Patin durchaus recht. Als die Antwort Frigemelicas bekannt wurde, kam man darin überein, daß man von Borromeo absehen und Patin wählen müsse. Nichtsdestoweniger hielt schließlich der Konvent für zweckmäßig, die Wahl zu verschieben. Nicht lange danach starb Graf Frigemelica, und die Nation mußte zur Wahl eines Nach­ folgers schreiten. Borromeo und Patin standen sich wieder als Kandidaten gegenüber. Wenn Patins Bericht zuverlässig ist, hätte sein Mitbewerber, ein energischer, zielbewußter und einflußreicher Gegner, mit Schmiergeldern und Drohungen die Wähler bearbeiten lassen. Einer seiner Anhänger schrie los, Patin habe seinen König verraten, er sei verrufen und verrufen alle Fran­ zosen. Die Folge war, daß beide, Borromeo und Patin, durchfielen und daß ein dritter, Georg a Torre, das Rennen machte. Da der neue Protektor schon 77 Jahre alt war, blieb Patin die Aussicht erhalten, mit Hilfe der vernünf­ tigen Deutschen die von ihm ersehnte Würde in nicht zu ferner Zeit zu er­ langen. Seine Gegner seien törichte, bestechliche Germanen, der eine, ein Paduaner von deutschen Eltern, der andere ein Kärntner und zu Österreich 172> P. an Vo. E musaeo Patavino, 12. 1. 1682; V, S. 453, n. 97.

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gehörig. Unter ihnen außerdem ein frevelhafter Taugenichts, ein Uskoke, mit dessen Namen er seinen Brief nicht besudeln wolle 178). Dieser Mißerfolg wurde etwas später durch eine doppelte Ehrung einiger­ maßen ausgeglichen. Die deutsche Landsmannschaft beschloß, das Familien­ wappen der Patin an der Wand der Aula des Collegiums Bö, wie damals das Hauptgebäude der Universität hieß, über dem Haupteingang malen zu las­ sen mit der Widmung in lateinischer Sprache: Ihrem wohlverdienten, durch Sitte, Sprache und Freundschaft aufs engste verbundenen Informator als Denk­ mal tiefster Liebe und ewiger Verehrung. Seit mehr als 100 Jahren wurden in dieser Weise die Namen von Studenten, die sich als Rektoren, Syndici oder Consiliarii hervorgetan hatten, sowie die von verdienten Professoren verewigt. Dieser Brauch hörte 1687 auf, so daß das Patinische Ehrenwappen noch rechtzeitig zu den 3000 „Stemmi“ kam, die heute noch die Wände der Universität zieren 174). Nicht genug damit, erhielt er noch den Titel eines Komprotektors und sogar eines „Protector designatus“, der ihn im voraus zum Nachfolger des Grafen a Torre bestimmte, falls dieser das Zeitliche segnen würde 175). Nun stieg Patins Stimmung. Er hätte sich nichts Schöneres wünschen können. Bald werde man sehen, was er für die Deutschen zustande brächte. Dabei dachte er an die Errichtung eines Hauses, in dem seine lieben Studenten frei und kostenlos wohnen würden 176). Leider muß diese neue Würde bald in Ver­ gessenheit geraten oder hinfällig geworden sein, denn als Graf Torre zwei Jahre später starb, schritt man zur Wahl eines Nachfolgers, ohne daß man auf den Protector designatus Rücksicht nahm und ohne daß Patin selber gegen ein solches Vorgehen Einspruch erhob. Er stellte sich wieder zur Wahl gegen den alten Gegner Borromeo und einen Kollegen Pompilius Scotus. Im Hinblick auf das Ergebnis der Abstimmung war er durchaus zuversichtlich, umsomehr als der derzeitige Prosyndikus Wrembenfeld sich durchaus loyal verhalten hatte 177). Aber siehe da! Zwei Monate darauf meldete er nach Nürnberg in bedrückter Stimmung, daß die deutsche Nation sich für Borro­ meo entschieden hätte. Zunächst seien die Aussichten günstig gewesen; die Stimmen hätten sich auf ihn und Scott verteilt. Aber durch die Machenschaf­ ten der Wiener und Krainer hätte sich Wrembenfeld umstimmen lassen und Borromeo schließlich den Sieg davongetragen. Ein schwerer Schlag für Patin! Was sei da zu tun? Dulden und schweigen! Unverschämte Jungen, die den Hund verlassen, um mit dem Wolf zu heulen! Bald würden sie den Schaden ermessen, den sie dadurch erlitten hätten. Was sein Schwanz wert ist, er­ kennt der Fuchs erst, wenn er ihn verloren hat. Sie haben Padua verlassen, als wenn sie sich schämten, vor mir zu erscheinen; sie mögen sich draußen 173) P. an Vo. Venetiis, 12. 8. 1683; V, S. 453, n. 105. 174) Anonym, La universitä di Padova e suoi istituti scientifici. Padova. 1900. — Enciclopedia italiana Bd XXV, S. 893. 175) P. an Vo. E. musaeo Patavino, 8. 9. 1686; V, S. 453, n. 106. 176) P. an J. M. Faber. E musaeo Patavino, 4. 10. 1686; V, S. 452, n. 15; P. an Vo. 8. 9. 1686; V, S. 453, n. 128. 177) P. an Vo. Patavii, 2. 11. 1688; V, S. 453, n. 135.

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einen Gönner suchen, der es ihnen ermöglicht, die von mir entliehenen 5 5 Dukaten zurückzuzahlen. Ach die törichten, untreuen, undankbaren Jünglinge/ Sie sind wohl in Deutschland geboren, sie leben aber in Italien l78). Zum Trost dafür wurde ihm später fünf Monate vor seinem Tod die Schirm­ herrschaft über die polnische Nation angeboten. Er nahm sie an, doch konnte er den Schlag nicht verwinden, den ihm die Deutschen versetzt hatten. „Hät­ ten doch unsere Deutschen dasselbe getan! Leider sind die jungen Leute der Vernunft schwer zugänglich" 179). Im Verkehr mit den Musensöhnen Paduas machte Patin gute und schlechte Erfahrungen. Die einen lebten und arbeiteten ordentlich. Das waren die „optimi juvenes“, die er herzlich schätzte und lobte, sich aber sonst mit ihnen nicht weiter beschäftigte. In seinen Briefen wie überall machen die guten Menschen nicht von sich reden. Sie haben keine Geschichte. Es seien hier ein paar Fälle herausgegriffen. Da ist z. B. Michael von Lochner aus Nürn­ berg, der 1684 mit dem Sohn Volkamers nach Padua reiste und von Anfang an sich das Wohlwollen seines Lehrers zu erwerben suchte. Patin nennt ihn einen gelehrten, gut erzogenen und ehrenwerten Jüngling, ein Vorbild für die akademische Jugend. Von Lochner brachte es später zum Direktor der Akademie der Naturforscher 18°). Viel zu loben fand Patin auch an Chr. Magnus Fetzer, einem Verwandten Volkamers, dem Sohn des Altdorfer Pro­ kanzlers, der nach bestandenem Lizentiat der Jurisprudenz in Altdorf sich im Ausland durch den Verkehr mit berühmten Männern weiterbilden woll­ te 181). Patin nahm ihn herzlich auf, fand aber an ihm etwas auszusetzen: er sei zu bescheiden und zu schüchtern. Er hätte ihn nämlich zu einer Mahl­ zeit im kleinen Kreis eingeladen, aber der junge Fetzer traute sich nicht, in einer Gesellschaft zu erscheinen; er schützte Krankheit vor und blieb zuhause 182). Einige kamen auch aus Norddeutschland: Ephraim Fürstlof aus Danzig und ein Patriziersohn namens Streitlin; beide wurden übertroffen durch den Mecklenburger Rügenwald aus Güstrow, der wegen seiner Ehrlichkeit und Gelehrsamkeit hoch zu loben und dazu noch außerordentlich praktisch sei, kurzum die Zierde „nationis inclytae augustae Germanicae“. Es war der­ selbe, der die Ehre hatte, nach einer lustigen Kneipe im Hause Patins das Schlafzimmer des Herrn Professors zu teilen 183). In die Gruppe der tüchtigen Studenten gehört unbedingt Georg Theodor Speirmann, der Sohn eines Braunschweiger Rates. Nach Patins Urteil auch ein echt deutscher Jüngling, rechtschaffen, anständig, gelehrt und jedes sonstigen Lobes würdig. „In Padua angelangt, vertraute er sich mir als Informator an ebenso freund­ schaftlich wie großzügig, und zwar gegen den Widerstand einiger Deutscher. 178) 179) 18°) 181) 182) ,83)

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P. an Vo. Patavii, 26. 1. 1689; V, S. 453, n. 136. P. an Vo. Patavii, 4. 5. 1693; V, S. 453, n. 146. P. an Vo. Patavii, 17. 9. 1685; V, S. 453, n. 121. W-N. II, S. 485—490. Briefentwurf von Vo. an P. (Nürnberg) 18. 10. 1688; V, S. 667, n. 201. P. an Vo. Patavii, 26. 1. 1689; V, S. 453, n. 136. P. an Vo. Ex musaeo Patavino, 13. 2. 1683; V, S. 453, n. 100; 7. 3. 1683; V, S. 453, n. 102.

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Er hat in meinem Arbeitszimmer studiert, an meinem Tisch gegessen und so­ gar bei mir geschlafen, fürwahr wie ein Kollege und Hausgenosse. Kaum war ein Monat vergangen, als ich ihn (der tatsächlich in allen Handgriffen seiner Kunst äußerst geschickt war) für promotionsreif erklärte. Die private Prüfung fand statt und verlief glücklich, wie es immer bei mir der Fall ist; auch der sich anschließende akademische Schmaus, den der durchlauchtigste Fürst von Friesland durch seine Gegenwart beehrte. Wir waren alle bester Laune und eingedenk des Helianthus (der Beiname Volkamers in der Akademie der Naturforscher), der Zierde Deutschlands, leerten wir das Glas auf sein Wohl. An diesem vorzüglichen Jüngling, bereits Doktor der Philosophie und der Medizin, wirst du den Stand ersehen, in dem sich die berühmte und ehrwür­ dige deutsche Landsmannschaft befindet: von allen geehrt, aber — ich wage es zu sagen —- durch sich selbst besudelt d. h. durch die Schuld einiger un­ reifer Studenten, die sich über ihre Familienverhältnisse und ihren Stand hinaus erhaben dünken. Bei uns wechselt oft die Bühne. Je nachdem uns ver­ ständige Menschen geschickt werden oder törichte uns vorzeitig verlassen, fällt viel Ehre oder Tadel auf die verehrte Nation zurück 184). Bei aller Schwärmerei für seine Deutschen mußte Patin in Padua doch bald einsehen, daß viele unter ihnen nichts von dem idealen Germanen hatten, den er sich erdacht hatte, ja daß sie sogar sittlich recht schwache Menschen seien und vielfach ein Lotterleben führten. Oft genug rügt er in seinen Briefen die im akademischen Leben eingerissenen Mißstände. „Unsere Studenten studieren nur noch dem Namen nach. Sie verschmähen den Unter­ richt und halten sich lieber in Schenken und Freudenhäusern als in den Hör­ sälen auf185). Keine Landsmannschaft wird wie die deutsche vom Staat be­ günstigt. Allein dieser Vorteil wird verkannt. Wehe diesen elenden Studen­ ten, die Bacchus und Venus mehr Zeit opfern als den Wissenschaften, unse­ ren Idolen! Von vierzig Medizinern besuchen bloß zwei mein Hauptkolleg, in dem ich ihnen die Grundsätze der Medizin unentgeltlich erläutere 188). Die meisten kehren schuldenbeladen in ihre Heimat zurück, ohne ein Buch ange­ schafft zu haben. Gelernt haben sie fast nichts, kennen aber die Schenken und die Dirnen. Ach wie können diese besten Menschen derart verkommen! Sie suchen die Wirte und die Dirnen auf, meiden aber die Professoren, falls sie sie nicht fürs Promovieren brauchen 187). Nicht nur die sittlichen Aus­ schweifungen, sondern auch der Hochmut der Jugend, ihr Pochen auf ihre Vorrechte, auch wenn sie zu Mißständen führen, werden gebrandmarkt. Einen Mißstand z. B. erkennt Patin darin, daß die deutschen Studenten unbedingt auf ihrem Vorrang bestehen, so daß sie bei einem feierlichen Zug der Uni­ versität rechts, die Dozenten aber links gehen. Patin hält das für die falsche Auslegung eines Privilegs, einen Irrtum, von dem sie erst frei werden, wenn sie in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Sie sind schon gemahnt worden, aber sie ziehen vor zu schwänzen und Eselsohren zu tragen, als ihren Übermut 184) 185) 186) 187)

P. P. P. P.

an Vo. Patavii, an Vo. Patavii, an Vo. Patavii, an Vo. Patavii,

17. 3. 1683; V, S. 45 3, 23. 10. 1678; V, S. 453, 12. 1. 1679; V, S. 45 3, 12. 10. 168 3; V, S. 45 3,

n. 108. n. 83. n. 85. n. 106

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zu mäßigen188). Bei solchen Menschen muß man auf alles gefaßt sein; und tatsächlich hat Patin Dinge erlebt, die ihn schwer bedrückt haben. Noch un­ ter dem Eindruck des Geschehenen schildert er sie ausführlich und recht leb­ haft seinem Briefpartner. Ich möchte sie meinerseits als Kulturbilder der guten alten Zeit hier wiedergeben. „Höre einmal, wie der Syndikus der deutschen Landsmannschaft sich bei der Promotion unsterblich blamiert hat. Er ist durchgefallen, und zwar mit Recht; denn er hat kein einziges Wort Vorbringen können. Er hat eine von mir abgefaßte Rede auswendig gelernt, daraufhin aber die ganze Nacht pokuliert und kam so erschöpft zur Prüfung, daß er den Mund nicht aufmadien konnte. Der Durchgefallene hat zwar sein Versagen bereut, leider zu spät. Da ich mit den Deutschen stets das Beste will, habe ich für ihn Partei er­ griffen und ihn mit Lobsprüchen verteidigt, die beim Magistrat, den Pro­ fessoren und Studenten Beifall finden mußten. Aber sein Schweigen setzte meiner Redekunst eine Grenze. Solches erlebt man häufig mit Kandidaten, die sich nicht auf die Prüfung vorbereiten wollen. Mir tut es um solche Leute leid, die herbeigeholt werden, um die Gesundheit ihrer Mitmenschen zu ret­ ten und die ihre eigene nicht pflegen können. Ich versuche immer, die Deut­ schen zu entschuldigen. Als der Podesta sich einmal darüber wunderte, daß ich für solche Menschen einträte, die eine schwere Rüge verdient hätten, erwiderte ich: „Verzeihen Exzellenz, ich entschuldige die Deutschen, welche die deutschen Sitten wahren. Leider werden sie von den Italienern verdor­ ben." Der Podesta lachte; er wußte, daß ich die Wahrheit sagte 189). Auch Schützlinge Volkamers haben die deutschfreundliche Gesinnung Patins auf eine harte Probe gestellt; das sehen wir aus dem Verhalten des Johannes Buning, des Sohnes eines Leipziger Apothekers. „Gleich nach sei­ ner Ankunft in Padua teilte er einem Freunde mit, daß er nicht des Stu­ diums wegen gekommen sei, sondern um sich auszutoben. Als die deutsche Nation dabei war, einen Informator zu wählen und ich als Kandidat vorge­ schlagen worden war, stand jener Buning unter meinen Gegnern. Er meinte, man brauche keinen Informator, der nicht zur Ehre, wohl aber zum Schaden der Landsmannschaft gereichen würde. Bald danach ging er nach Venedig und ich war dabei, ihn zu vergessen, als dein Brief ankam, aus dem ich ent­ nahm, daß du mit seinem Vater sehr befreundet warst und es dir lieb wäre, wenn ich dem Sohn helfen könnte. Sofort schlug in mir die Stimmung um. Ich las deinen Brief dem Prosyndikus vor. Dieser tadelte Buning, weil er sich geweigert hatte, die Nation um ihre Vermittlung zu bitten und diese ab gelehnt habe, als sie ihm angeboten wurde. Auf mein Drängen hin wurde dein Schreiben an die Moderatoren mit einer Empfehlung von mir und der Bitte um Milde weitergeleitet. Einer von ihnen, der Prokurator Mauroceno, mein Gönner, der den Prozeß eingeleitet hatte, erzählte mir folgendes: lieber Patin, der Jüngling, für den du sprichst, hat viele Übeltaten begangen und sich noch schlimmerer Dinge schuldig gemacht. Daß er Kranke behandelt hat ohne Berechtigung, d. h. ohne den Doktortitel, geht uns kaum an; daß er 188) P. an Vo. Patavii, 17. 12. 1678; V, S. 453, n. 84. 189) P. an Vo. Patavii, 23. 10. 1678; V. S. 453, n. 83.

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einen Furunkel oder ein Phlegmon für Pestsymptome gehalten, ist zwar für ihn sehr schimpflich, entzieht sich aber unserer Kompetenz. Daß er aber sich versteckt hat, während man ihn suchte, die Behörde hinsichtlich seiner Be­ handlung der Kranken belogen und durch seine verkehrten Aussagen die Stadt und das Stadtgebiet in den Verdacht, von einer schleichenden Pest be­ fallen zu sein, gebracht hat und daß die Ortschaften der Umgebung, durch dieses Gerücht aufgeregt, gedroht haben, den Verkehr mit Padua einzustel­ len, das haben wir nicht dulden können. Ich erkundigte mich bei dem An­ kläger über die ihm auf erlegte Strafe von 55 Dukaten und seine Verurteilung zu 5 Jahren Gefängnis, von denen du in deinem Brief sprichst. Ich erfuhr, daß beides nicht zuträfe und das Urteil noch nicht gefällt sei. Ich fragte, ob ich Buning im Gefängnis besuchen dürfe. Dies sei nicht möglich, antwor­ tete er, solange die Verhandlung nicht abgeschlossen sei. Wenn ich aber an den Gefangenen zu schreiben wünsche, so würde er selber meinen Zettel bestellen. Auf meine Bitte hin versprach er mir, den Prozeß mit größter Milde zu beschleunigen. Ich richtete dann ein paar Zeilen an Buning in das Gefängnis, in denen ich ihm versicherte, daß weder sein Vater noch du noch ich ihn im Stich lassen würden. Er sollte nur gutes Mutes sein, ich würde weiter für ihn sorgen und zwar solange, bis ich von seiner Befreiung hören würde. Ich schreibe dir dies alles, damit du weißt, wie die Deutschen hier geliebt werden. Ich höre in meiner Umgebung sagen, daß, wenn ein anderer wie Buning sich in Venedig so schwer vergangen hätte, er sicherlich zum Tod verurteilt worden wäre" 190). Ein räudiges Schaf war auch der aus Augsburg stammende Studiosus Schuster. Auch er gehörte zu denen, die Patin als Informator ablehnten, eine Haltung, die ihm zum Verhängnis hätte werden können, denn Patin war Mitglied des Prüfungsausschusses. Aber dieser nahm es ihm nicht übel und half ihm sogar, den Doktorhut zu erwerben. Deswegen konnte er es nicht glauben, als ihm zu Ohren kam, daß dieser Schuster die Patin zu Ehren am Universitätsgebäude angebrachte Tafel beschädigt hätte191). Weiteres über den Undankbaren erfahren wir aus Nürnberg. Dieser Schuster, schreibt Volkamer, sei nach bestandener Prüfung nach Augsburg zurückgekommen und habe sich dort gegen eine Vergütung von Seiten der Stadt als Chirurg, Okulist und Lithotomist betätigt und jetzt wolle er sich in die Augsburger Ärzteschaft aufnehmen lassen. Aber der mit Volkamer und Patin befreundete Augsburger Arzt Lukas Schröck II., der Präsident der Akademie der Natur­ forscher, sei gegen seine Aufnahme. Er wolle Schuster nicht als Kollegen haben und seine kaiserlichen Titel und Würden durch dessen Wahl nicht herabwürdigen. Es wäre überhaupt sehr zu wünschen, daß solche Handwerker von der Promotion femgehalten würden, damit Apotheker und Barbiere sich nicht in die für Gebildete bestimmten Berufe zum Schaden der Studenten einschlichen 192). 19°) P. an Vo. Ventiis, 23. 9 1682; V, S. 453, n. 98. 191) P. an Vo. E musaeo Patavino, 3. 4. 1687; V, S. 45 3, n, 130. 192) Vo. an P. Briefentwurf (Nürnberg) 18. 10. 1688; V, S. 667, n. 201.

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Kaum hatte Schuster Padua verlassen, als sich ein 25jähriger Österreicher aus Linz bei Patin meldete, ein Buckliger, dessen Gestalt aber nichts Böses hätte ahnen lassen. „Er wohnte und aß bei mir und nahm an unseren Familiengesprächen teil. Er wurde in der üblichen Weise zum Vizesyndikus ernannt. Dann verließ er mein Haus mit dem Versprechen, seine Schulden zu bezahlen, nachdem er vorher noch einige Gulden von mir geborgt hatte. Einige Tage danach erfuhr ich, daß er bei einer Zecherei laut geschrien hätte: Es leben die Österreicher, nieder mit den Franzosen! Ich habe nie einen Streit mit ihm gehabt, aber nach seinem Benehmen halte ich ihn für fähig, mit ein paar frechen Kommilitonen mein Ehrenwappen zu zerstören. Nach einiger Zeit wurde mir erzählt, daß dieser Jüngling Norbert Schuch heiße und daß sein Vater Chirurg, womöglich Bartscherer gewesen sei. Tatsächlich riecht der Sohn nach Rasur und Hochmut. Der törichte Jüngling! Er wollte sich lieb Kind bei mir machen, um von mir weiter zu pumpen. Aber seine Frechheit ist mir zur Genüge bekannt! Jetzt schickt er mir deutsche Studenten zur Information. Ich habe ihm hochherzig erwidert, ich sei nicht auf einen Impuls von ihm angewiesen, es kämen genug anständige Menschen zu mir, auf die übrigen könne ich verzichten/' Schließlich sei noch auf das freche Auftreten zweier schlesischer Studenten kurz hingewiesen, deren Namen Patin sich vorsichtig notiert hatte, Adam Wentzel de Reichelt und Jo. Will de Braban, und an deren Echtheit er gar nicht zweifelte. In Begleitung eines Landsmannes namens Engel, eines sehr ordentlichen und sehr lieben Jünglings, stellten sie sich Patin vor und brachten es im Laufe des Gespräches fertig, eine Taschenuhr und eine goldene Münze aus seinem Raritätenschatz zu entwenden. Diese betrüblichen Er­ lebnisse haben die Hochachtung Patins vor den Deutschen vorübergehend schwer beeinträchtigt und ihn zu bitteren Klagen über sie in einem Brief an Volkamer veranlaßt. „Was du über die Deutschen schreibst, trifft noch besser zu als das, was Tacitus berichtet. Es ist so weit gekommen, daß wir auch unter den Deutschen die Treue suchen müssen. Hier verkommen be­ stimmt die meisten. Glücklich diejenigen, die in einem solchen Pfuhl nicht verderben!" 193) Johann Georg Volkamer junior in Padua

Unter den studierenden Deutschen in Padua zur Zeit Patins nimmt in unserem Briefwechsel Johann Georg Volkamer II. den Ehrenplatz ein. Der Entschluß, seinen Sohn zur Weiterbildung für den ärztlichen Beruf nach Padua zu schicken, dürfte dem Vater nicht schwer gefallen sein. Die dortige weltbekannte Universität hatte er selber wiederholt besucht und sich das Vertrauen der deutschen und der böhmischen Landsmannschaft erworben. Die erstere ernannte ihn zu ihrem Bibliothekar, die zweite zu ihrem Konsiliar lö4). Außerdem wirkte dort sein Kollege und Freund Patin, der bei der 103) P. an Vo. Patavii, 24. 3. 1689; V. S. 453, n. 137; E musaeo Patavino, 3. 4.; 25. 7. 1687; V. S. 453, n. 130 U. 131. lö4) W-N., IV, S. 121—125. — Doppelmaier, o. c. S. 108—110.

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Nachricht, daß ein Sohn Volkamers zu ihm kommen sollte, voll Freude nach Nürnberg schrieb, er begrüße ihn schon von der Ferne als seinen Sohn und verspreche sein Möglichstes zu tun, um ihm die Gesittung, das Wissen und alles, was zu einem rechtschaffenen, tüchtigen Arzt gehöre, auf freundschaft­ liche Art beizubringen. Auch veranlaßte er die deutsche Nation, dem Vater zu melden, daß die ganze Landsmannschaft seinen Sohn wie einen Freund empfangen und in den Privatkonvent feierlich einführen würde lö5). Haupt­ sache sei, meinte Patin, daß der Neueingetroffene seine Zeit nützlich ver­ bringe und mit „unseren Waren belastet" nach Nürnberg zurückkehre. Bei ihm habe er die Möglichkeit, verhältnismäßig leicht fremde Sprachen zu erlernen. Dank der regelmäßigen Unterhaltung mit seinen Töchtern würde er nach einigen Monaten italienisdi sprechen können und wenn er so weit wäre, käme das Französische an die Reihe, das er sich womöglich ohne einen besonderen Lehrer aneignen könne. Für die Übung im mündlichen Gebrauch des Lateinischen stünde ihm derselbe Vorteil zu Gebote, denn in seinem Museo werde nur lateinisch geredet. Volkamer jedoch legte das Hauptgewicht auf das Latein, aber ein reines Latein, das sein Sohn am ehesten im Gespräch mit den verehrlichen Haustöchtern erlernen würde. Ob er sich mit dem Italie­ nischen abgeben solle, werde man mit der Zeit sehen 196). Vor allem anderen, meint Patin weiter, müßte auf die berufliche Ausbildung oder, wie die Griechen sagten, auf die Pflege des „bos arator“ Rücksicht genommen werden. Dazu seien die theoretischen Vorlesungen da, die Leichensezierungen mit Erläuterungen, die von maßgebenden Medizinern abgehaltenen Konsul­ tationen und schließlich der Privatunterricht, den er von ihm selbst nach Belieben erhalten könne. Falls Joh. Georg krank würde, verpflichtete sich Patin, ihn in eigener Person zu behandeln und ihm überhaupt ein Wohnund Schlafzimmer zu verschaffen, wo er sich in Gesellschaft von Freunden mit Studium und Spiel die Zeit angenehm vertreiben würde. Am besten vermeide er den Verkehr mit Kärntnern und Steirern, denen die deutsche Sprache und noch viel mehr die deutsche Lebensart unbekannt seien, die zügellos lebten wie die Italiener und sich in keiner Weise um die Tugend kümmerten. Lediglich weil sie Untertanen des deutschen Kaisers seien, hätten sie Anteil an den Vorrechten der deutschen Studenten. Man könne sich leicht vorstellen, was aus ihm in einer solchen Gesellschaft werden würde. Hinsicht­ lich der Reise rät Patin dem Studiosus Volkamer, sich so einzurichten, daß er gegen Mitte Oktober Padua erreiche. So könnte er sich am besten in die neuen Verhältnisse einleben und sich mit frischen Kräften dem im November beginnenden Studium widmen, was ein ganz besonderer Vorteil für ihn wäre. Denn am Beginn des akademischen Jahres sei der Lehrbetrieb in vollem Gang und in voller Besetzung, die Hörsäle gut besucht und die Professoren ihres Ansehens halber bestrebt, die besten und interessantesten Vorlesungen abzuhalten. Mit Dezember nehme der Lehrbetrieb schon ab. Leider traf der schon lange erwartete junge Volkamer erst am 9. No­ vember 1684 ein. Das schlechte Wetter, die etwas angegriffene Gesundheit 195) P. an Vo. Patavii, 1. 4.. 16. 7. 1683; V, S. 453, n. 103 u. 104.

19e) Briefentwurf von Vo. an P. (Nürnberg) 24. 9. 1684; V, S. 667, n. 195.

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und ein dreitägiger Aufenthalt in Venedig hatten seine Ankunft verspätet. Obwohl er erst 22 Jahre alt war, als er die Bildungsreise nach Italien antrat, kam er doch als altes Semester in Padua an; denn er hatte schon vorher in Jena und Altdorf Chemie und Medizin studiert und an der Heimatuniversität die medizinische Lizentiatenprüfung bestanden. Daher konnte man von vorn­ herein damit rechnen, daß er nicht lange in Padua bleiben würde und daß der von Patin ausgedachte Studienplan nicht voll zur Ausführung gelangen würde. Patin hieß ihn herzlich willkommen und bald darauf meldete er das glückliche Ereignis mit sehr schmeichelhaften Worten für den neuen Gast: Joh. Georg sei seines Vaters würdig, sittsam, anständig, ein echter Deutscher. Es vergehe kein Tag, an dem er nicht etwas schreibe oder zu schreiben ver­ suche. Er besuche fleißig die Vorlesungen, nicht aus lauter Neugier, wie die meisten seiner Kommilitonen, sondern aus Interesse an der Sache. Er gebe sich mit dem Italienischen ab, das ihm wohl in zwei Wochen geläufig sein werde. Er, Patin, treibe mit ihm vor allem Lateinisch, und damit er es fließend spreche, ahme er mit ihm die Symposia nach Form und Inhalt nach. Volkamer hatte Patin geschrieben, daß sein Sohn auf der Reise nach Ita­ lien von zwei Freunden begleitet sei, Martin Friedr. Lochner aus Nürnberg, von dem schon die Rede war, und M. Scheffel aus Wismar. Beide seien seiner Gunst würdig und er bäte ihn, für ihre Unterkunft zu sorgen, womöglich in der Nähe seines Hauses, damit die jungen Leute bequem miteinander ver­ kehren könnten. Es geschah alles nach Wunsch. Wenn er darum gebeten worden wäre, hätte Patin am liebsten den jungen Leuten Logis unter seinem Dach verschafft197). Als er die beiden Reisegefährten näher kennen gelernt hatte, mußte er herzlich lachen über das Urteil seines Freundes und die beiden grundverschiedenen Menschen: der junge Lochner, immer tadellos, fleißig, des höchsten Lobes würdig; Scheffel dagegen blieb bis Mittag im Bett, hielt sich fern vom Studium und zog ein junges Mädchen allen Philosophen der Welt vor. Wenn er im Freundeskreis saß, bedauerte er, kein Brauer zu sein und war seinen Eltern gram, weil sie ihn zum ärztlichen Beruf zugeredet hätten. «Muß man da nicht über die nichtigen Hoffnungen der Eltern für ihre Kinder lachen/ Dein Sohn aber ist viel klüger, denkt an so etwas nicht und geht den Weg, den du ihm gewiesen hast. Diesen Weg halte ich auch für den richtigen und er wird nie bereuen, ihm gefolgt zu sein. Er ist um 100 Parasangen besser als seine Studiengenossen». Das schönste Erlebnis des jungen Volkamer in Padua dürfte wohl der Ausflug gewesen sein, den er mit einigen Studiengenossen unter der Leitung ihres Lehrers zur Besichtigung der Lagunenstadt während des Karnevals machte. Er hatte schon ein Mal abgelehnt, Patin nach Venedig zu begleiten, um die anatomischen Übungen nicht zu versäumen, die angeblich in Padua äußerst genau und interessant abgehalten wurden; da aber diesmal die Reise in die Faschingsferien fiel, fand er sich bereit, daran teilzunehmen. Mit Rücksicht auf seinen Ehrengast hatte Patin ein festumrissenes Programm lfl7) Briefentwurf von Vo. an P. (Nürnberg) 4. 10. 1684; V, S. 667, n. 195.

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11 Ci

CO L L E

Joh. Gg. Volkamer, Kupferstich von Leonhard Heckenauer.

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93

Charles Patin, Kupferstich von M. Dechois.

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zusammengestellt und es sogar Volkamer senior zur Information vorgelegt: eine Kombination von theoretischem und Anschauungsunterricht: 1. Bekräftigung politischer Lehren. 2. Betrachtungen über Tagesereignisse in einer lebensfreudigen Großstadt. 3. Besichtigung von öffentlichen und privaten Gebäuden mit Sehenswürdigkeiten, Gemäldegalerien, dem Dogen­ palast, dem Collegium medicum, der Bibliothek von St. Marcus und weiteren derartigen Besonderheiten. Unter den Bildern im Dogenpalast hebt Patin eines hervor, das deutsche Besucher besonders interessieren sollte: „Johann Georg wird dir einmal von den Gemälden erzählen, die er hier gesehen hat; darunter das, auf dem Papst Alexander III. den Fuß auf den Nacken des vor ihm hingestreckten Barbarossa stellt.“ Das Bild ist von Zucarro Federico und in der Enciclopedia italiana (Bd II, S. 344) abgebildet. Merkwürdigerweise hatte schon der Vater Patins für dieses Ereignis der deutschen Geschichte ein lebhaftes Interesse gezeigt. Vorgesehen waren außerdem musikalische Darbie­ tungen, anständige selbstverständlich. «Andere namhafte Orte wollen wir auch besuchen, Murano z. B. mit seinen Spiegelfabriken, seinen großen Gefäßen, seinen vielgerühmten Austern soll unsere Augen und unseren Geist fesseln. Dazu einiges über vornehme Geschlechter Venedigs und fremde Machthaber. Was wäre hier von Bacchus zu sagen, dessen Genüsse abgesehen von den Weinen Korfus und Kephaloniens uns kaum zugute kommen werden! Denn der Paduaner Wein übertrifft den, der in Venetien wächst oder eingeführt wird, um gepanscht zu werden. Von Venus keine Rede, wenn nicht von der himmlischen, dem Symbol der Tugend und der Wohltätigkeit198) u- 199). So bildend und so anregend solche Ausflüge auch waren, vermochten sie doch nicht, den jungen Mediziner länger in Padua zu halten. Wie manch anderer Student aus Deutschland vor ihm, den der Zauber der Ewigen Stadt anlockte, hatte sich Volkamer junior fest vorgenommen, das Studium in Padua mit einer Romreise zu verbinden. Gleich nach der Rückkehr aus Venedig traf er die Vorbereitungen für die Weiterreise. Dieser Entschluß mag eine gewisse Enttäuschung bei Patin hervorgerufen haben, der wohl insgeheim gehofft hatte, daß er dem Sohn seines verehrten Kollegen den Doktortitel verleihen würde. Er fand sich jedoch damit ab und versprach dem Vater, Empfehlungsschreiben an bekannte italienische Gelehrte, an den Bibliothekar Magliabechi in Florenz, an den Apotheker Zanoni, den Ana­ tomen Malpighi in Bologna und an den Antiquar und Numismatiker Bellorium in Rom dem Abreisenden auf den Weg mitzugeben 199). Gegen Mitte März 1685, nachdem Patin sich vergewissert hatte, daß die Gegend frei von Soldaten und die Wege nach Rom absolut sicher seien, nahm Johann Georg von seinen Gastgebern Abschied und in Begleitung von Studiengenossen trat er die Romreise an. Seine Gefährten hießen Eberhard 198) P. an Vo. Patavii,

1. 4.; 16. 7. 1683; V, S. 45 3, n. 103 U. 104; 4. 8.; 20. 9.; 18. 10.; 15. 1.; 13. 12. 1684; V, S. 453, n. 109, 110, 11, 11; 6. 2.; 24. 2. 1685; V, S. 4'53, n. 114 u.115. 199> P. an Vo. Patavii, 24. 2., 6. 3. 1685; V, S. 453, n. 115 u. 116. — Mitteil, des Vereins für Geschichte Nürnbergs. 47. Band. 1956. S. 329.

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Papelier aus Kolmar, sein intimer Freund, Freiherr von Krosigk aus Anhalt und dessen Erzieher G. B>. Gloxin, ebenfalls aus Kolmar. Drei von diesen jungen Leuten begegnen uns in einem Register der deutschen Landsmannschaft für das Jahr 1685 wieder mit Angabe des Amtes, das sie damals an der Universität bekleideten. Danach war Gloxin Konsiliar, J. G. Volkamer aus Nürnberg Bibliothekar, genau wie sein Vater im Jahr 1638, und Papelier Assessor 200). Kaum in Rom angelangt, machten die Reisenden einen Abstecher nach Neapel und kehrten noch vor der Karwoche nach Rom zurück, zum Leidwesen Patins, der diese dem Bildungswert der Reise abträgliche Hast nicht billigen konnte. Es sei kein jugendlicher Eifer mehr, sondern eine „furia francese“. Obwohl der Baron Krosigk und sein Begleiter ursprünglich die Absicht hatten, drei Monate in Rom zu verweilen, trennten sie sich nach kurzer Zeit von ihren Reisegenossen und wanderten weiter nach Frankreich. Der Sohn Volkamers, sein treuer Achate Papelier und ein dritter Deutscher rüsteten sich zur Rückkehr in die Heimat. Nicht lange darauf erschien auf ein­ mal Papelier in Padua vor dem verblüfften Patin, der ihn sofort nach Volkamer fragte. Der allein zurückgekehrte erzählte ihm dann: „Wir brachen zu dritt von Rom auf, ich und der dritte in unserer Gesellschaft in einer „Sedia“ genannten Kutsche, Volkamer zu Pferd, und erreichten Ronciglione, eine Tagereise von Rom. Am anderen Morgen — durch wessen Schuld, weiß ich nicht — stürzte mein Freund vom Pferde und brach sich das rechte Schien­ bein. Um irgendeine Hilfe zu beschaffen, ließ ich eine Sänfte kommen, in der Johann Georg nach Rom zurückgelangte. Dort wurde er dem Patrizier Nützel und einem Herrn Thomann aus Augsburg zur Betreuung anvertraut.“ Dieser Schilderung fügte Patin in seinem Schreiben an Volkamer die Worte hinzu: „Der deinem Sohn zugestoßene Unfall hat uns alle in tiefe Trauer versetzt. Meine Frau ergeht sich in allerlei Vorwürfen gegen mich, weil ich Johann Georg erlaubt hätte, abzureisen. Im übrigen brauchst du dich nicht um den Verunglückten zu sorgen. Ich nehme alles auf mich, was die Lage der Dinge erfordern wird“ 201). Nach dem Bericht Professor Wills im Nürnberger Gelehrtenlexikon wurde der junge Volkamer vom päpstlichen Wundarzt so geschickt behandelt, daß er nach neun Wochen wieder reisefähig war. Als die Genesung in Padua bekannt wurde, frohlockte die Familie Patin, die der Unfall schwer bedrückt hatte 202). Am 10. Oktober 168 5 trennte sich der Zurückgekehrte wieder von seinen Paduaner Freunden, bei denen er fast ein ganzes Jahr gewohnt hatte. Der Briefwechsel zwischen Padua und Nürnberg hörte deswegen nicht auf. Patin kann den Sohn dem Vater gegenüber nicht genug loben; in ihm werde er bei der Ausübung seines Berufes einen Atlas, einen hilfsbereiten Herkules finden. Als er aus Nürnberg erfuhr, daß Joh. Georg sein Studium in Paris fortsetzen solle, fühlte er sich als Pariser von diesem Entschluß aufs höchste 200) Ant. Tavaro, Atti della Nazione Germanica nello Studio di Padova. I (1911) S. XXX. 201> P. an Vo. E musaeo Patavino, 7. 6. 1685; V, S. 45 3, n. 119. 202) P. an J. G. V. II. Patavii, 5. 7. 1685; V, S. 453, n. 148.

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gcsdimeidielt und mit Argumenten, die ihm die Anhänglichkeit an die Heimat eingab, malte er dem jungen Nürnberger die Vorzüge eines Auf­ enthaltes in der französischen Hauptstadt aus. „Du wirst dort einem Volk begegnen, dem, abgesehen von den überall vorhandenen Halunken, die deutsche Redlichkeit nicht abgeht. Du wirst an dem freundlichen Umgang mit beiden Geschlechtern und an der Sympathie aller anständigen Leute für die Deutschen deine Freude haben. Du wirst herrliche Dinge sehen und ich zweifle nicht einen Augenblick, daß du das Land gelehrter und weiser ver­ lassen wirst, denn dort wird des Wissens und noch mehr der Weisheit halber studiert. O könnte ich dich dorthin begleiten!" 203) Als sich zwischen Vater und Sohn Unstimmigkeiten ergaben, versuchte Patin zu vermitteln. Er wies den Sohn auf seine Pflichten gegen den Vater hin. „Du als echter Deutscher, als ein Volkamer solltest deinem Vater mehr Geduld beweisen, umsomehr als du eine höhere Bildung genossen und Philosophie studiert hast. Eingedenk der uns lieb gewordenen Lebens­ auffassung, solltest du auf die Geistesart deines in ganz Europa verehrten Vaters Rücksicht nehmen." Dem Vater riet er, mit der Jugend Nachsicht zu haben. Man müsse sie sich austoben lassen; mit den Jahren werde sie sich schon fangen und beruhigen 204). Bis in seinen letzten Brief trat er für Johann Georg ein: „Was deinen Sohn anbelangt, bin ich anderer Meinung und Hoffnung als du. Ich halte ihn für einen außerordentlich gelehrten und klugen Kopf. Wie könnte es überhaupt anders sein, da er sich an deinem Beispiel, an deiner Lehre und an deinen Ratschlägen gebildet hat?" 205) Und darin hat die Zukunft Patin recht gegeben. *

Wie von dem Vater war der junge Volkamer bei seiner Ankunft in Padua auch von den Töchtern mit großer Freude empfangen worden. Die jüngere, Karola Katharina, hatte ihm sogar schon brieflich ihr Bedauern ausgesprochen, daß er nicht vor dem Herbst käme, weil ihm dadurch die Genüsse Italiens, die köstlichen, den französischen und deutschen vorzu­ ziehenden Melonen entgingen. Er könne sich allerdings später an den herr­ lichen Trauben und süßen Feigen entschädigen. Aber wichtiger für ihn sei die Möglichkeit, durch tägliche Unterhaltung mit ihr oder ihrer Schwester das Französische oder das Italienische zu erlernen 206). Frohe Stunden haben die jungen Leute in des Vaters Zimmer am Kamin plaudernd und scherzend miteinander verbracht. Und wie der aus Frankreich auf Besuch gekommene Neffe wird der junge Nürnberger nach Arbeitsschluß mit den Töchtern des Hauses Tric-Trac gespielt und getanzt haben. Patin 203) 2a4> 205) 206)

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P. an J. G. Volkamer II. E musaeo Patavino, 7. 7. 1688; S. 453, n. 150. P. an Vo. Patavii, 3. 4.; 25. 7. 1687; V, S. 453, n. 130 u. 131. P. an Vo. Patavii, 4. 5. 1698; V, S. 453, n. 146. Kath.-Karola Patin an J. G. V. II. Patavii, 4. 8. 1684; V, S. 154, n. 5.

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hat eine Familienszene kurz geschildert, die uns die Zeit und das Milieu miterleben läßt. „Hippokrates, erklärte Johann Georg, hat seine Zeit hinter sich. Seine Lehre ist veraltet. Laßt uns jetzt eine neue schaffen oder erfinden. Zur Bekräftigung dieser Ansicht führte nun Karola die Witze unseres Komödiendichters Moliere an, worüber wir alle herzlich lachten. Ich aber warf ein: „Unser Volkamer junior hat wie ein Jüngling gesprochen. Später als Mann wird er männlich und als Greis weise auftreten. Aber ich fürchte, daß unsere Karola als altes Weib noch wie ein Kind faseln und nie zur Weisheit gelangen wird. Das Mädchen lachte und wir alle mit ihm. Wenn unser lieber Herr Doktor doch auch mit uns lachen würde 1 207) Lange wirkte bei Karola die Erinnerung an die schöne Zeit nach. Vier Jahre nach der Trennung übermittelte Patin dem Sohn Volkamers die Emp­ fehlung seiner Familie und ließ seine jüngere Tochter das Wort führen: Wie gerne würde ich noch mit Johann Georg lateinisch reden. Damals als ich mit ihm am Kamin Narreteien tauschte, war ich noch zu jung. Jetzt würde uns der Stoff für ernstere Gespräche nicht fehlen'' 208). Nach der Abreise des Gastes wurde die junge Freundschaft beiderseits brieflich weiter­ gepflegt. Gabriele brachte ihre Verehrung für die Familie Volkamer in aller Form zum Ausdruck und versicherte Johann Georg ihrer Hochachtung, die sie ihm bezeigen würde, wenn sie nicht so fern von einander lebten. Ihr Wunsch sei, daß ihre beiderseitige aufrichtige Freundschaft weiterbestehen möge. Denn weder Gott noch ihr Vater hätten ihr verboten, die Tugend, wo sie ihr auch immer begegne, zu erkennen, zu schätzen und zu verehren 200). Die Schwestern hegen wohl beide dem früheren Hausgenossen gegenüber Gefühle der Hochachtung und der Freundschaft, drücken sie aber verschieden aus. Die ältere, ihr Gemüt beherrschend, hält die gebotene Distanz ein; die jüngere dagegen ist temperamentvoller und unmittelbarer. Bei ihr bricht das Gefühl durch, der Stil wird warm und innerlich. Wie Gabriele beglück­ wünscht sie den Freund zu der glücklichen Rückkehr in seine Familie, fügt aber noch hinzu: „Wenn ich ein Junge wäre, wie gern würde ich dich durch Deutschland begleiten, deine Eltern umarmen und die deutschen Sitten kennenlernen, die so gut zu den französischen passen." Die Aussicht, ein oder zwei Jahre mit Erlaubnis ihres Vaters in Deutschland zu verbringen, hat sie beglückt und beglückt sie jetzt noch mehr, da sie so nahe an ihrer Erfüllung ist. Und sollte ihr Freund daran denken, sein Studium in Frank­ reich oder in England fortzusetzen, so würde sie recht gern mit ihm dahin reisen210). Der Brief, den sie fünf Jahre später schrieb, als sie etwa 25 Jahre alt war, ist noch zutraulicher. „Wir haben früher in Vaters Zimmer mit­ einander gescherzt, laß es mich jetzt wieder tun. Wer mir sagen würde, daß du mir nicht mehr gut bist, dem würde ich nicht glauben, auch wenn es “

207) P. an Vo. 20. 1. 1688'; V, 453, n. 132. Kar.-Kath. Patin an J. G. Volkamer II. 1. 2. 1884; V, S. 154, n. 6. 208) P. an J. G. Volkamer II. Patavii, 28. 10. 1689'; V, S. 453, n. 152. 209> Gabr.-Kar. Patin an J. G. Volkamer II. Patavii, 23. 2. 1688’; V, S. 454, n. 3. 21°) Kar.-Kath. P. an J. G. Volkamer II. E gynecaeo nostro Patavino, . 16 1686; V, S. 454, n. 6. 1

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wahr wäre. Es kommt bestimmt die Zeit wieder, da wir die heiteren Plau­ dereien, an denen ich soviel Freude gehabt habe, wieder aufnehmen werden. Wisse, daß ich dich liebe; und als Zeichen meiner Liebe schicke ich dir ein Exemplar meiner „Tabellae selectae" zu. Ich bin deiner Zuneigung sicher, auch wenn du mir nicht schriebest. Wenn du mir aber schreibst, wisse, daß deine Briefe mir äußerst teuer sein werden. Lebe wohl, teures Haupt! Liebe meinen Vater, meine Mutter und meine Schwester, aber hüte dich, daß du Karola Katharina nicht gut bist, die dich so liebt und stets lieben wird 2U). Gewiß, das Wort „amare“ und „redamare" sind im barocken Briefstil so oft und so gerne verwendet worden, daß ihre ursprüngliche Bedeutung auch unter der Feder junger Leute verblassen konnte. Aber unsere Briefschreiberin be­ dient sich ihrer mit soviel Schwung und Warmherzigkeit, daß man nicht mehr an den anfangs angedeuteten Scherz denkt, vielmehr auf die Vermutung kommt, daß sich bei dem Mädchen die Freundschaft in ein zarteres Gefühl verwandelt hat. Von den Briefen des jungen Volkamer an die beiden Freundinnen in Padua ist nicht viel erhalten. Man kennt sie zum Teil nur aus den Äuße­ rungen, die sie bei den Adressaten auslösten. Nach der Aussage Patins richtete er so schmeichelhafte Worte an Karola Katharina, daß der Vater es für ratsam hielt, das Schreiben zurückzubehalten, damit seine Tochter sich nicht zu viel darauf einbilde 212). Aus diesen wenigen Spuren gewinnt man doch den Eindruck, daß der Aufenthalt im Hause Patins ihm teure Erinnerungen hinterlassen hat. Der im Jahre 1693 erfolgte Tod des Herrn Patin setzte dem Briefwechsel ein Ende. Für die seinem Sohn gewährte Gastfreundschaft fühlte sich Volkamer aufs höchste verpflichtet. Die günstigen Berichte, die ihm Patin von Zeit zu Zeit zukommen ließ, schrieb er mehr der Freundschaft des Gastgebers als den Verdiensten des Gastes zu. „Möge dieser", erwiderte er, „sich der hohen Ehre in eine so illustre Familie aufgenommen zu werden, würdig zeigen!" Er selber wußte nicht recht, wie er seine Dankesschuld abtragen solle, hoffte jedoch, sie mit der Zeit loszuwerden. Das geschah auf dem Weg ansehnlicher Geschenke an die einzelnen Mitglieder der Familie. Einmal ließ er zwanzig ungarische Dukaten überreichen, ein anderes Mal vier wunderschöne silberne Münzen mit historischem Wert. Eines Tages erschien zur Mittagszeit im Hause Patins ein Beauftragter Volkamers aus Rovereto, wo sein Vater Johann eine Seidenfabrik errichtet hatte, mit „wahrhaftig goldenen Händen" und beglückte Eltern wie Kinder mit Edelsteinen und Goldstücken218). In dem von Professor Will abgefaßten Lebensabriß von J. G. Volkamer II. wird auch sein Aufenhalt in Padua berührt. Nach Will hätte Patin die Absicht gehabt, seine Tochter Gabriele mit Johann Georg zu vermählen. Dieser Heiratsplan wird in dem Briefwechsel mit keinem Wort erwähnt. Ich 211> Kar.-Kath. P. an J. G. Volkamer II. *12) P. an J. G. Volkamer II. Patavii, 7. m) P. an Vo. Patavii, 24. 2. 1685; 15. P. an J. G. V. II. E gynecaeo, 1. 2.

Patavii, 11. 6. 1691; V, S. 454, n. 77. 7. 1688; V, S. 453, n. 150. 1. 1686; V, S. 453, n. 115 u. n. 125. — Kar.-Kath. 1686; V, S. 454, n. 6.

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vermute beinahe, daß Will die Namen der beiden Mädchen verwechselt hat; denn nicht Gabriele hat an Volkamer junior nach Nürnberg „gar verbindlich und nett lateinisch geschrieben und etwas von ihren gebildeten Werken überreicht", sondern Karola, die, wie ich oben vermerkt habe, ihm ein Exemplar ihrer „Tabellae selectae" als Zeichen ihrer Zuneigung übersandt hat214). Sonstiges aus dem Briefwecksei

Die Erinnerung an die langjährige Verbundenheit hat das Empfinden der alternden Freunde tief bewegt, eine Gemütsbewegung, die bei dem über­ schwänglichen Patin nicht weiter auf fällt, bei Volkamer jedoch uns in Er­ staunen versetzt, weil sie den Gelehrten, den praktischen Arzt und Geschäfts­ mann, der er war, im Bann einer rührseligen Schwärmerei zeigt. „Ach, wenn das Alter mir erlaubte, zu euch zu eilen, wie gerne würde ich mich in eure Arme werfen, um mich mit euch zu freuen! Nichts würde ich unversucht lassen, um meine wahren Gefühle euch gegenüber zu bezeigen. Aber welche Wünsche könnten vergeblicher sein? Vielleicht wird mein Lebensgeist endlich bei den Sternen, von denen er herabgestiegen ist, bei einer Begegnung dich grüßen, wo er mit deiner Seele verbunden, sich ergötzen wird an ewigen Freuden, Annehmlichkeiten und Erquickungen. Unterdessen wird unser Leich­ nam in seinem Grabe ruhen, bis er aufgeweckt werden wird zu seiner letzten Wiedervereinigung" 215). Zur geistigen Annäherung beider Gelehrter trug noch der Umstand bei, daß ihnen fast zu gleicher Zeit Ehren zuteil wurden, die sie als die feier­ liche Anerkennung eines erfolgreichen Schaffens aufs höchste beglückten. Am 1. November 1678 wurde Volkamer und am 4. Mai 1679 wurde Patin in die Akademie der Naturforscher aufgenommen 216). Die Wahl Patins er­ folgte auf die Empfehlung Volkamers und seines Augsburger Kollegen Lukas Schroeck II. Der Dank an den Nürnberger Gönner ließ nicht auf sich warten. „Das Gefühl, zu den deutschen Gelehrten zu gehören, erfüllt mich mit Stolz und meine Erkenntlichkeit kennt keine Grenzen. Du kannst von mir ver­ langen, was du magst; ich werde es tun, auch dann, wenn es gegen meinen Willen ginge" 217). Auf die Auszeichnungen, die er sich im Dienste der deutschen Lands­ mannschaft erwarb, legte Patin einen so großen Wert, daß er es für an­ gebracht hielt, sie sofort seinen Freunden in Nürnberg mitzuteilen. Volkamer jedoch hatte an Ehren und Würden weit mehr aufzuweisen als er. Mit sicht­ licher Befriedigung führt er sie diesem vor: 1686 die goldene Medaille mit dem Bild des Kaisers, den Titel eines kaiserlichen Leibarztes für dem Hause Österreich geleistete Dienste, den eines Direktors der Leopoldiner Akademie 214) W.-N. IV, p. 127-131. 215) Vo. an P. Briefentwurf (Nürnberg) 8./18. 10. 1688; V, S. 667, n. 201. 216) J. D. F. Neigebauer, Gesch. d. Kaiserl. Leop.-Carol. Akad. der Naturforscher. Jena 1680. S. 193. 217) P. an Vo. Patavii, 6. 4. 1679; V, S. 453, n. 86.

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für die Hilfe beim Zustandekommen der „Ephemeriden“, dem Organ dieser gelehrten Gesellschaft, und kurz danach als Krönung seiner gelehrten Be­ tätigung die Ernennung zum Präsidenten der genannten Akademie mit allen damit verbundenen Würden und Vorrechten 218). Damit hatte sich der Nürn­ berger Gelehrte eine Vorrangstellung in der medizinischen Welt seiner Zeit verschafft, die A. E. Büchner, einer seiner Nachfolger im Präsidium der Akademie, mit dem dazugehörigen Pathos bestätigte. „Gloria majorum et suis ipsius meritis longe excellentissimus senex Johannes Georgius Volkamerus, splendidissimus medicorum Norimbergensium ordinis senior atque primarius“ 219). Meine Familie frohlockte, schrieb Patin, als sie die Nachricht von der dir erwiesenen Ehre vernahm, denn meine Töchter konnten daraus er­ sehen, in welchem Ansehen du unter den Gelehrten stehst 22°). Aber ein Glückwunsch genügte Patin nicht; die Verdienste seines Freundes sollten von ihm auch noch öffentlich gewürdigt werden. Als sein Kommentar über das Kenotaph des Artorius, des Leibmedicus des Kaisers Augustus, im Druck erschien, widmete er ihn Volkamer als beständiges Denkmal der Volkamerischen und der Patinischen Freundschaft. „Nimm als kaiserlicher Leibarzt das Kenotaph eines verstorbenen kaiserlichen Leibmedicus unter deinen Schutz. Die Nachkommen werden es dir reichlich vergelten. Solange Apollo die Musen regiert, wirst du als kaiserlicher Leibarzt, Präsident der deutschen Akademie der Naturforscher, Leuchte der Gelehrten und Tröster der Kranken weiter­ leben“ 221). Diese Lobpreisung erwiderte Volkamer mit gleichem Schwulst. Er verstünde nicht, warum Patin soviel Aufsehens mit ihm mache, da er sich doch um ihn und seinen Sohn so große Verdienste erworben habe. Welchen Ruhm Patin sich unter den Gelehrten errungen habe, vermögen weder Frankreich noch Italien zu verkünden. Der zu Lebzeiten so berühmte Guido erstehe in seinem Sohn wieder, der dank den in Italien geernteten Erfolgen seinen Namen zur Unsterblichkeit bringen werde. Deswegen könne er nichts besseres tun, als ihm diese Schrift zu dedizieren „zur Verbreitung seines Rufes und zur Bestätigung seiner beständigen Verehrung" 222). Die von Padua nach Nürnberg gerichteten Briefe erwähnen Persönlich­ keiten der Reichsstadt, die Patin bei seinem Besuch im Jahre 1672 kennen gelernt hatte und, obwohl er ihnen damals anscheinend nahegestanden hat, in seinem Reisebericht nicht nennt: z. B. Joachim Sandrart von Stockau (1606—1688) und dessen Enkelin Maria Susanna, eine bekannte Zeichnerin und Stecherin 223). Sandrart schickt ihm Bücher nach Venedig und Maria Susanna erhält durch Volkamer das Bild der Gabriele Patin. Als Patin erfährt, daß Maria Susanna den Maler Joh. Paul Auer heiraten soll, überW.-N. IV, S. 120—125. A. E. Büchner, Academiae . . Naturae Curiosorum historia. Halle. 1755. S. 3 85. P. an Vo. Patavii, 30. 10. 1686; V, S. 453, n. 129. P. an Vo. Patavii, 3. 8. 1689; V, S. 453, n. 140. Commentarius Caroli Patini in antiquum Cenotaphium Marci Antonii Medici Caesaris Augusti. Patavii 1689. S. 429—431. 222) Vo. an P. Briefentwurf (Nürnberg) 21./31. 8. 1689; V, S. 667, n. 202 u. 204. Die

218) 219) 22°) 221)

betreffende Schrift hat Vo. nicht angegeben. 223) W.-N. III, S. 452.

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sendet er ihr herzliche Glückwünsche. „Möge sie eine glückliche Ehe eingehen und viele Auers zur Welt bringen, lauter Ehrenmänner, wie man sie von solchen Eltern erwarten kann! Wenn ich und meine Tochter Gabriele mit dem Pferd des Pacolets (dem Zauberpferd eines Fabelwesens) nach Nürnberg reisen könnten, würden wir der Hochzeit und dem Hochzeits­ mahl gerne beiwohnen und uns daran ergötzen. Unsere Wünsche werden uns dabei vertreten." Im Briefwechsel wird auch eine beim Venediger Senat anhängige Angelegenheit Sandrarts kurz erwähnt, die nicht näher bezeichnet wird, aber mit dessen künstlerischer Tätigkeit in Zusammenhang steht. Die hohe Behörde hatte über eine Belohnung für den Nürnberger Künstler zu beschließen. Es war schon 5 mal abgestimmt worden und jedesmal war eine Gabe von 25 venezianischen Dukaten herausgekommen. Patin bemühte sich weiter bei den Herren zugunsten Sandrarts, bis die in Aussicht gestellte Bezahlung von 250 Dukaten endgültig beschlossen wurde. Patin, der die Sache des Nürnberger anscheinend vertrat, fand, daß die Summe zu gering sei, aber, fügte er hinzu, es käme öfters vor, daß die hohen Herren nicht einmal soviel gäben. Auch riet er davon ab, den angebotenen Titel eines Ritters von Sankt-Markus anzunehmen, um mehr Dukaten herauszuschlagen. Mehr erfahren wir nicht über diese Angelegenheit. Da, nach dem Bericht über Sandrart im Gelehrtenlexikon von Will-Nopitsch, Joachim von Sandrart in den letzten Jahren seines Lebens zum Ritter von Sankt Markus ernannt wurde, so wird er in diesen Briefen Patins tatsächlich gemeint sein 225). Der jüngste der Nürnberger Bekannten Patins ist wohl der Arzt J. C Hönn gewesen, der, 1654 in Nürnberg geboren, dort 1684 sein Leben beschloß. 1674 studierte er in Altdorf und bestand dort 1678 die medizinische Doktorprüfung. Während seiner akademischen Studienzeit hielt er sich in Padua bei Patin auf, an den er von Volkamer empfohlen worden war. Beide Ehegatten hielten große Stücke auf ihren Gast wegen der erwiesenen Ge­ fälligkeiten. Dem Herrn des Hauses leistete er Botendienste, wenn es sich um eine Sendung nach der Reichsstadt handelte, er ging aber auch andere Wege, wenn es auf das Wohlwollen der Hausfrau ankam. „Meine Frau", erklärt Patin, meint es sehr gut mit ihm. „Dein Nürnberger, der uns ein­ mal ,Lebkouch‘ schenkte, wird kaum in der Doktorprüfung stecken bleiben, denn er kommt mir recht strebsam und gelehrt vor. Ich wünsche ihm alles Glück für die Zukunft, ein Haus, eine Frau und einen Pflugochsen, wie die Spartaner sagten, d. h. ein stilles Heim, das Weib, das Salomo vergeblich suchte und im Sinne des Pflugochsen eine gut gehende ärztliche Praxis“ 226). Als Hönn sich 1678 in Nürnberg niederließ, heiratete er die Tochter eines Altdorfer Buchdruckers namens Hagen **7), worüber Volkamer und Patin sich ihre Gedanken machten. „Ich bedaure vielleicht noch mehr als du diesen Entschluß", erklärte Patin Volkamer, „an dem er noch am meisten tragen 2Ä5> P. an Vo. Veneriis1, 12. 8. 16'83; V, S. 453, n. 105. Patavii, 18. 10. 17; 17. 12. 1683; V, S. 453, n. 106—107. 228) P. an Vo. Patavii, 3. 10. 1678; V, S. 453, n. 83. 227) v. Steinmeyer, die Matrikel der Univ. Altdorf. II, S. 206.

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wird. Früher schien er mir sehr klug für sein Alter, aber jetzt halte ich ihn für töricht bei seinen Jahren. Seine arme und gemeine Frau wird ihm viel zu schaffen machen. Wäre es nicht besser für beide gewesen, auf ein solches Dasein zu verzichten?“ 228) Nichtsdestoweniger lebten Patin und Hönn weiter im besten Einvernehmen. Nicht lange danach bedankte sich Patin bei seinem jüngeren Kollegen für die Übersendung einer Münze und ver­ sprach dafür dem Absender sein Bild zu schenken. Gleichzeitig berichtete er kurz über die Vorkommnisse an der Paduaner Universität, über die Stu­ denten, die sich darüber beklagten, daß sie ihre Schulden nicht los würden. Aber, schloß der Schreiber, es lebe Hönn, es leben die anderen, die nur anständigen Vergnügungen nachgingen!“ 229). Patin hat die Freunde, die er während seines kurzen Aufenthaltes in der Reichsstadt kennen lernte, nach seinem Weggang nie mehr gesehen, doch hat er sie nicht aus dem Sinn verloren. Bis zu seinem Tode hat er ihnen durch Volkamer Grüße ausrichten oder irgendeine seiner eigenen oder seiner Töchter Schriften überreichen lassen. Am häufigsten wurden die Namen von J. G. Volkamer I, S. A. Fabricius, J. Chr. Wagenseil, Chr. Arnold, Sandrart und nicht zuletzt die mit Rücksicht auf den Stadtrat, dem er sich so ver­ pflichtet fühlte, oft beschenkte Stadtbibliothek erwähnt. Auch tauchen hie und da die Namen von Viatis, Stöberlein, Hönn auf und von zwei hilfs­ bereiten Patriziern, Paul Ebner, der ihm die Werke Pirckheimers besorgte, und Karl von Welser, der als Numismatiker mit Patin korrespondierte 23°). *

Die beiden Ärzte haben selbstverständlich auch berufliche Anliegen mit­ einander besprochen, doch nicht so oft und nicht so ausführlich, daß ihre Korrespondenz dadurch ein besonderes Gepräge erhalten hätte. Erwähnens­ wert ist vor allem die Tatsache, daß Patin sich eine Zeit lang einer Aufgabe gewidmet hat, die das gelehrte Europa ihm zum hohen Verdienst angerechnet hätte, wenn er sie hätte zum Abschluß bringen können. Der Vertreter der theoretischen Medizin in Altdorf, Kaspar Hofmann (1572—1648), hatte sich viele Jahre hindurch mit den Werken Galens befaßt in der Absicht, eine neue, geordnete, verbesserte, mit lateinischer Übersetzung und Kommentar versehene Gesamtausgabe seines Schrifttums zu besorgen. Als er starb, hinter­ ließ er ein handschriftliches Material, das 20 Bände in Folio umfaßte. Kurz vor seinem Tode mußte er einsehen, daß er mit der geplanten und allgemein dringend erwarteten Ausgabe nicht fertig werden würde. Er suchte deshalb eine jüngere Kraft für die Fortsetzung zu gewinnen. Er fand sie in seinem Schüler J. G. Volkamer I, dem er sein Manuskript zu einem vereinbarten Preis überließ. Da die derzeitigen wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland es 228) P. an Vo. Patavii, 7. 12. 1678; V, S. 453, n. 84. 229) P. an J. C. Hönn. E musaeo Patavino, 8. 8. 1679: V, S. 45 3. n. 55. 230) W.-N. IV, S. 213-214.

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Volkamer nicht erlaubten, an die Herausgabe eines so umfangreichen Werkes heranzutreten, hob er das wertvolle Manuskript in seiner Bibliothek in ErWartung besserer Zeiten auf. Mittlerweile versuchte er, mit Hilfe von Pro­ spekten die Gelehrten und die Verleger für sein Unternehmen zu gewinnen. Anscheinend ohne Erfolg; denn am Anfang der achtziger Jahre lag die Hand­ schrift noch unbearbeitet bei ihm 231). Am 7. März 1683 teilte Patin Volkamer mit, daß er soeben einen Brief des berühmten Antonio Magliabechi aus Florenz erhalten habe, in dem von Volkamer die Rede sei. „Ich habe“, sagte der Italiener, „unter dem mir zugesandten Bild deiner Tochter den Namen des berühmten Herrn Volkamer gelesen. Von Herrn Koringius und anderen weiß ich, daß das so ersehnte Manuskript der Werke Galens mit dem Kom­ mentar des gelehrten Hofmann sich bei ihm befindet. Welch unvergleichlichen Dienst würden Sie der ganzen Gelehrtenrepublik leisten, wenn Sie den gelehrten Herrn dazu bewegen könnten, endlich die Handschrift ans Licht zu bringen!“ „Überlege dir, lieber Freund und Gönner, was ich Magliabechi erwidern soll! Galen zu Ehren, mit dessen Namen die Akademie der deut­ schen Naturforscher mich unverdienterweise ausgezeichnet Jiat, im Gedenken an Hofmann, den teuren Freund meines seligen Vaters, würde ich gern diese Arbeit übernehmen. Es wäre mir gleich, ob das Werk in Deutschland oder in Venedig gedruckt würde. Padua möchte ich auf keinen Fall vorschlagen, weil die dortigen Druckereien nie etwas Gediegenes hervorgebracht haben noch hervorbringen werden“ 232). Die noch vor Ende März desselben Jahres aus Nürnberg eingetroffene Antwort wurde sofort an Magliabechi nach Florenz zur Stellungnahme weitergeleitet, begleitet von einem Gutachten der Nürnberger Ärzteschaft über die geplante Ausgabe Galens. Inzwischen be­ faßt sich Patin schon in Gedanken mit der künftigen Aufgabe und den zu überwindenden Schwierigkeiten. „Was die Geldfrage anbelangt, werden wir von den Fürstlichkeiten, die ihr Vermögen für den Krieg, für Schauspiele und andere Vergnügungen vergeuden, nicht viel erwarten können. Die Paduaner Drucker, alle ungebildete, unfähige und arme Leute, werden nicht zu gebrauchen sein, wohl aber die aus Venedig, wo die Aldi, die Giunti und andere, die beste Tradition fortsetzen. Ich wüßte schon jemanden dort, der zuverlässig wäre; leider ist er reicher an Talent als an Geld. Trotzdem traue ich mir zu, mich der Aufgabe zu unterziehen, und wenn ich nach einem oder zwei Jahren meine häuslichen Dinge in Ordnung gebracht habe, bin ich bereit, mit Gottes Hilfe mich an das große Werk heranzuwagen. Ich schätze, daß die Ausgabe auf acht Foliobände kommen wird, aber je größer der Aufwand und die Mühe, desto größer der Ruhm. Hier hätten wir Papier, wie wir es wünschen könnten, und wären auch in der Lage, jedes beliebige herzustellen. Das Leben käme mir viel schöner vor, wenn ich ein solches Werk fördern und herausgeben könnte. Ich will es auch bestimmt ver­ suchen“ 23S). Je mehr er es sich überlegt, umsomehr stellen sich Bedenken 231) J. J. Baieri, Biographiae Professorum Medicinae, qui in Acad. Altdorfina vixerunt Norimbergae 1728. S. 36—65. — C. G. Hühn, Galeni opera omnia. I (1821) S. 262 ff. 232) P. an Vo. E musaeo Patavino, 7. 3. 1683; V, S. 453, n. 102. 233) P. an Vo. E musaeo Patavino, 16. 7. 1683; V, S. 25 3, n. 106.

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ein: 6 Foliobände werden es werden; er allein könne es unmöglich schaffen und der Verleger ebenfalls nicht. Deswegen scheine es ihm ratsamer, das Unternehmen hinauszuschieben. Andererseits sei ein zu langer Aufschub von Nachteil. Deshalb schlage er Volkamer vor, die Arbeitslast zu verteilen. Ein Gelehrter für jeden Band; den ersten würde Volkamer besorgen, er selbst den zweiten. Um die übrigen Herausgeber wolle er sich bemühen. Papier, Format, Lettern hätte Volkamer zu bestimmen. Drei Jahre vergehen, bis wir wieder von Galen hören. Auf einmal fragt Volkamer bei Patin an, ob denn das von ihm angefangene Opus nicht bald fertiggestellt sei. Er rechnet noch bestimmt damit, daß unter der Leitung eines so tüchtigen Mitarbeiters nicht nur Galen sondern auch der ebenfalls von Hofmann revidierte Theophrastus dem Drucker übergeben werden könne, und zwar in Holland bei den Elzevirs, die er wegen ihrer klaren Schrift und ihres helleren Papiers den Italienern vorzieht 234). Von diesem Schreiben an wird es in dem Brief­ wechsel Patin — Volkamer um die Galen-Ausgabe still. Nach dem Tod Volkamers ging das ungedruckte Galen-Manuskript in den Besitz seines Schwiegersohnes G. Thomasius über, dessen Bibliothek später veräußert wurde. Bei dieser Gelegenheit kam das Hofmannsche Manuskript in die Hände des englischen Handschriften- und Bücher-Sammlers Anthony Askew (1722—1778)

235).

Als Arzt bekennt sich Patin in der Praxis wie in der Theorie noch zu der seinerzeit bereits überlebten Therapeutik der Pariser Fakultät, die ihm von seinem Vater eingeprägt worden war. Die kleinen medizinischen Schriften, die er als Mitglied der Leopoldinischen Akademie veröffentlichte, haben unter den Fachleuten kein Aufsehen erregt und sind bald in Vergessenheit geraten. Doch begegnen uns hie und da in seinen Briefen Äußerungen, aus denen zu ersehen ist, daß der wissenschaftliche Fortschritt nicht spurlos an ihm vor­ übergegangen ist. Wohl weiß er noch den Aderlaß, das Allheilmittel seines Vaters, zu preisen. Er lobt auch einen seiner deutschen Studenten, der von Neapel als lepraverdächtiger Patient zu ihm nach Padua zurückgekehrt war, und, obwohl ein Anhänger der chemischen Heilmittel, zu seiner Therapie seine Zuflucht genommen hatte. „In diesem Fall hätten die chemischen Rezepte nicht helfen können, wohl aber der Aderlaß, der allein imstande sei, die schädlichen Säfte abzuführen“ 236). Er lehnt den Aderlaß aber bei einer Verschleimung ab, die ohne Husten und Fieber verlief 237). Die An­ sprüche der sich chirurgisch betätigenden Bader und Barbiere, die sein Vater als Sprecher der Pariser Fakultät leidenschaftlich bekämpft hatte, fanden ebensowenig in dem Sohn einen Verteidiger. Aber das Fach der Chirurgie, das er eine Zeit lang in Padua lehrte, hat er nach Kräften gefördert. „Es ist gut, daß dein Sohn sich rechtzeitig der Chirurgie zugewandt hat; denn sie ist für den Arzt unentbehrlich und von großem Nutzen.“ Auf Wunsch der 284) Vo. an P. (Nürnberg) 30. 6. 1686; V, S. 667, n. 198. 235) Dictionary of National Biography. London (1885). II, S. 192—193. — A. v. Haller, Bibi, anatomica. I, S. 82. 236) P. an Vo. Patavii, 20. 1. 1688; V, S. 453, n. 132. 237) P. an Vo. Patavii, 6. 3. 1685; V, S. 453, n. 116.

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deutschen Nation hat der Magistrat Venedigs beschlossen, daß der Vertreter des Faches außer den Vorlesungen chirurgische Übungen abzuhalten habe, was sich als sehr vorteilhaft herausstellte. Dadurch ist den Studenten die Möglichkeit gegeben, die Glieder der Leichen zu sezieren und mit Hilfe des Seziermessers die Wunder der Natur zu erforschen. Dieses Verfahren gefällt mir außerordentlich und ich ziehe es den chemischen Praktiken weit vor, wenn ich auch von diesen nicht ganz abweichen möchte“ 238). Mit J. G. Volkamer II, der Chemie und Medizin gleichzeitig betrieb und den Neuerern in vielem zugetan war, spricht er sich noch aufgeschlossener aus, ohne jedoch seine Grundsätze zu verleugnen. „Ich lobe deine Kenntnisse in der Chirurgie und habe sie auch in der Pharmazie gelobt und würde sie sogar in der Chemie loben, wenn ich nicht wüßte, daß du diesem Fach vielleicht zu sehr zuneigst. Die Heillehre des Hippokrates und des Galenus wird aber stets den Primat behalten, weil sie allein der Vernunft und der Natur entspricht“ 230). Im Jahre 1679 befiel die Pest Österreich und seine Hauptstadt, nachdem sie vorher Polen und Ungarn verödet hatte. Obwohl Padua nicht unmittelbar bedroht war, hielt es Patin für seine Pflicht, sich an der Bekämpfung der Seuche zu beteiligen. Bei der Erforschung ihrer Ursachen und Symptome wurde er durch die Schrift eines Paduaner Apothekers, Stefano Coleto, auf die Antidotus Carolina aufmerksam gemacht, die bei der Epidemie von 1570 unter der fürsorglichen Leitung des Mailänder Erzbischofs Carolo Borromeo, nach dem sie genannt wurde, Wunder gewirkt hätte. Sie bestand aus drei Pillen, einer zum Abführen, einer zum Schwitzen und einer für das Herz. Patin selbst hielt ebenfalls große Stücke auf diese Antidotus, die innerhalb von wenigen Stunden mit allen Symptomen der Pest aufräumte, als ob irgendein Gott sie erfunden hätte. Er müsse gestehen, daß er sie für das beste Rezept gegen die Seuche halte und daß er sie, solange er am Leben bliebe, preisen wolle 240). Für ihn kam es zunächst darauf an, dieses souveräne Medikament unter den Fachleuten bekannt zu machen. Zu diesem Zweck ließ er zwölf Proben davon an die Leibärzte des Kaisers nach Wien schicken mit der Bitte, ihn von den Ergebnissen ihrer Versuche zu unterrichten. Aber auch die Männer der Wissenschaft sollten von der Antidotus Carolina er­ fahren. Den geeigneten Weg dazu bot ihm die Akademie der deutschen Natur­ forscher, in die er soeben auf genommen worden war. Als Neuling allerdings wagte er nicht, von sich aus vorzugehen. Er fragte vorher bei Lukas Schröck in Augsburg und bei Volkamer an, ob sie mit seiner Absicht einverstanden wären, seine soeben abgeschlossene Schrift über die Pest der Leopoldiner Akademie zu widmen und den Mitgliedern eine Anzahl Proben des so ge­ schätzten Heilmittels zum Experimentieren zuzuschicken. Die Antwort von Lukas Schröck kennen wir nicht, wohl aber die Volkamers. Nach Worten der Anerkennung und des Dankes für das Angebot und die sich darin offen­ barende deutschfreundliche Gesinnung bemerkte er, daß Deutschland für 238) P. an Vo. Patavii, 14. 3. 1686; V, S. 453, n. 125; 15. 6. 1686; V, S. 453, n. 126. 239) P. an I. G. Volkamer II. Patavii, 24. 2. 1688; V, S. 154, n. 3. 24°) Dissertatio therapeutica habita in Lyceo Patavino a Carolo Patino. Augusta Vindelicorum. 1683. S. 61 ff.

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solche Experimente nicht mehr in Frage käme, da es seit Jahren pestfrei sei. Bald darauf war audi Wien außer Gefahr und die befragten Leibärzte ließen nichts mehr von sich hören241). Als die Abhandlung über die Pest 1683 erschien, war die Seuche schon seit zwei Jahren erloschen. Trotzdem hielt es der Verfasser noch für angebracht, seine Schrift seinen Kollegen der Akademie zu widmen. *

Dem Beispiel seines Vaters folgend, gab sich Patin frühzeitig mit Büchern ab und blieb sein Leben lang ein eifriger Büchersammler, ungeachtet der schlimmen Erfahrungen, die er als solcher in Frankreich gemacht hatte. „Ich weiß, daß diejenigen, die Bücher kaufen, schlecht dabei fahren. Mein Vater ist dadurch nicht reicher geworden. Aber was tut es! Aristippos liebte das Geld, Plato die Bücher; letzterer hat den anderen an Ruhm weit übertroffen“ 242). lind wie schwer mag ihn die Nachricht getroffen haben, daß die von ihm in Paris zusammengetragene Bücherei bei einem Brand zum größten Teil vernichtet wurde, und nicht nur seine eigene, sondern auch die seines verstorbenen Vaters, die in dem Obergeschoß des Hauses eines Freundes untergebracht waren. Das hielt ihn aber nicht davon ab, seiner Liebhaberei weiter nachzugehen, und das manchmal im großen. Die sich bietende Ge­ legenheit, eine Bibliothek von alten, wertvollen medizinischen Werken zu erwerben, bereitete ihm viel Sorgen und Freude zugleich 243). Die buchhänd­ lerische Tätigkeit Patins tritt während seines Aufenthaltes in Basel in den Jahren 1672—1676 besonders stark hervor. Die Sorge um den Lebensunterhalt mag ihn dazu veranlaßt haben; denn er bittet Fabricius in Nürnberg, ihm den Erlös aus dem Verkauf seiner Werke sofort nach Basel zu schicken, da er ihn notwendig brauche. Dieser leistete ihm bei seinen Büchergeschäften wert­ volle Hilfe. Die ihm von Patin zum Verkauf zugesandten Bücher hob er auf, bis er sie gelegentlich zu dem vom Verfasser angesetzten Preis absetzen konnte. 6 Taler für die „Imperatorum Numismata", anderthalben Taler für die „Ein­ leitung in die Geschichte der Medaillen", Fracht und sonstige Unkosten in­ begriffen 244). Außer Fabricius bemühte sich Patin, die Nürnberger Buchhandlung Endter für seinen Büchervertrieb zu interessieren, indem er ihr unter anderem ein in seinen Augen vielversprechendes Angebot machte: ein sehr hoher Herr in Paris, der Besitzer einer reichhaltigen Bücherei und durchaus nicht knauserig, habe ihn beauftragt, das Schönste, Seltenste und Interessanteste vom deut­ schen Schrifttum für ihn ausfindig zu machen. Wenn die Herren Endter ihm ein Verzeichnis von den schönsten Nummern ihres Verlags auf allen Gebieten M1) P. an Vo. Patavii, 26. 12. 1679; V, S. 453, 15. 12. 1679; V, S. 667, n. 193. 242) P. an Vo. Patavii, 27. 5. 1685; V, S. 453, 243) P. an Vo. Patavii, 17. 12. 1683; V, S. 453, 244> P. an Fabricius. Venedig, . 3. 1684; V, S. 1

n. 90. — Vo. an P. Briefentwurf (Nürnberg) n. 118. n. 107; 27. 5. 1685; V, S. 453, n. 118. 452, n. 43.

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und in allen Sprachen übersenden wollten, würde er es sofort nach Paris schicken. Das Geld sei sehr teuer in Deutschland; deswegen müsse man jede Gelegenheit ausnützen, ausländische Zahlungsmittel zu erhalten. Die Firma Endter scheint aber nicht auf das Geschäft eingegangen zu sein 245). In der mer­ kantilen Tätigkeit Patins spielt ein auf dem Büchermarkt sehr begehrtes Werk eine besondere Rolle, nämlich die Commentarii de bibliotheca caesarea Vindobonensi des Peter Lambeck in acht von 1665 bis 1679 erschienenen Bänden. 1673 hatte Fabricius acht Exemplare der vier ersten Bände zur Aufbewahrung erhalten, bis er sie zum Preis von 18 deutschen Gulden verkaufen könne. Es stünde ihm frei, sie um einen Gulden billiger abzustoßen. Der Preis der fünf ersten Bände sei auf mindestens 43 französische Pfund festgesetzt. Ein Exemplar kam an den Herzog von Württemberg, ein zweites an den Mark­ grafen von Durlach 246). Zwei Sammlungen antiker Inschriften, die er als Altertumsforscher unbedingt brauchte, wußte sich Patin auf dem Weg des Tausches zu verschaffen. Gegen zwei Exemplare des „Syntagma inscriptionum antiquarum“ des Reinesius (Leipzig 1682) gab er fünf Stück seines eigenen „Lyceum Patavinum“. Das Werk Gruters „Inscriptiones antiquae totius orbis Romanorum“ (2 Bde 1603) beabsichtigte er in derselben Weise zu erwerben. Ob diesmal der Tausch zustande kam, ist aus den Briefen nicht zu belegen 247). Für einen Freund bestellte Patin bei Volkamer die in Nürnberg erschienene und im Ausland gut bekannte „Mathesis enucleata“ des Altdorfer Professors J. Chr. Sturm. Als das Buch auf sich warten ließ, erlaubte er sich, seinen Freund an seinen Wunsch zu erinnern 248). Aber auch ganz andere Dinge als Bücher gingen von Nürnberg aus über die Grenze. Einmal erbat sich Patin eiserne oder kupferne Stempel zur Ver­ goldung von Büchern, weil die Buchbinder in Padua nichts derartiges hätten, was empfehlenswert wäre. Wann Volkamer dem Wunsch Patins nachkam, steht nicht fest. Vier Jahre später läßt sich der Besteller in derselben An­ gelegenheit wieder hören: Ich schicke die eisernen Stempel zurück; der Buchbinder hat sich für die im Bestellbrief eingeklammerten Muster ent­ schieden. Solche möchte ich also für zwei Taler bekommen. Sollten noch schönere zu haben sein, würden sie um so lieber in Empfang genommen werden“ 249). *

Ähnlich wie der Vater pflegte der Sohn politische Ereignisse seiner Zeit in seinen Briefwechsel einzubeziehen und gegebenenfalls persönliche Betrach­ tungen, Lob oder Tadel, daranzuknüpfen. Für einen Humanisten wie Patin, der den Türkenkrieg in bedrohlicher Nähe miterlebt hatte, wäre eine andere Geisteshaltung undenkbar; denn nicht weniger als bei den unmittelbar Be­ troffenen, bei den Österreichern und den Venezianern, ist bei Patin das 245) 246) 247> 248) 249>

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P. P. P. P. P.

an Fabricius. Basel, 20. 5. 1673; V, S. 453, n. 33. an Fabricius. Basel, 2. 2. 1673; V, S. 452', n. 29. an Vo. Patavii, 12. 5.; 12. 10.; 17. 12. 1683; V, S. 45 3, n. 105, 106, 107. an Vo. Patavii, 18'. 6.; 29. 9. 1689; V, S. 45 3, n. 139 u. 142. an Vo. Patavii, 17. 9. 1685; 12. 11. 1689; V, S. 453, n. 121 u. 123.

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Gemüt durch die folgenschweren Wechselfälle dieses Kampfes zwischen zwei Welten in Mitleidenschaft gezogen worden. Wie bei den übrigen Zeitgenossen hat die Nachricht von der Belagerung Wiens bei ihm Angst und Bestürzung ausgelöst. „Die Türken bedrängen uns alle wie die Bürger der Hauptstadt; überall hört man nur von ihnen. Fürwahr ein Unheil, das Österreich ver­ wüsten wird! Laßt uns Gott bitten, daß er dieses Land den wilden und grausamen Tieren von Türken nicht preisgeben möge!“ 250) Merkwürdiger­ weise aber sagt er nichts über den Entsatz der Stadt Wien, obwohl dieser überall einen unbeschreiblichen Jubel hervorrief. Vielleicht ist ihm der Haß­ ausbruch gegen die Franzosen noch näher gegangen, der im Volk gleich nach der Befreiung einsetzte und ihn veranlagte, seine loyale Gesinnung dem Kaiser gegenüber öffentlich zu bekunden. Ein Jahr später kommt er noch auf diese Episode zurück. „Die Wut der Plebs gegen die Franzosen, die von vielen albernen Menschen „Halbtürken“ geschimpft wurden, hat sich endlich gelegt. Sie ist in Venedig, Padua, Bologna, Genua, Rom und in anderen Städten Italiens in Erscheinung getreten, in der Hauptsache von Spaniern geschürt mit der Behauptung, der allerchristlichste König hätte den ungarischen Rebellen gegen den Kaiser Geld und Hilfsmittel zukommen lassen und die Osmanen zur Belagerung Wiens angespornt. Wie schamlos! Ich weiß bestimmt, daß der allerchristlichste König seinen vertrauten Hofleuten gesagt hat, er würde gegen Mahomet soviele Truppen vorrücken lassen als der Kaiser wünsche. Aber dieser sei entschlossen, lieber alles preiszugeben, als französische Sol­ daten zu Hilfe zu rufen. Für den Wahnsinn der Könige müssen die Völker büßen/ Ein Glück, daß der Türke aus der Hauptstadt weggejagt, der Groß­ wesir erdrosselt und die Völkerliga endlich zustande gekommen sei. Falls sie sich behauptet, schwebt Konstantinopel in höchster Gefahr; denn die Flotte Venedigs führe keine unnützen Geschütze und man dürfe wohl von ihr erwarten, daß sie im Ägäischen Meer Wunder verrichte 251). Die schwer erkämpfte Rückeroberung der Stadt und Festung Ofen findet jedoch die gebührende Achtung und wird auf eigene Art kommentiert. „Gott sei Dank, Buda ist, wie wir hören, von den Kaiserlichen besetzt worden. Die Freude bei der Bevölkerung ist so groß, daß sie die Deutschen nicht weniger als die Republik Venedig bejubelt. Wie ruhmvoll die Befreiung Ofens für die Deutschen ist, kann ich nicht genug betonen. Alle bewundern ihren Mut. Aus Rom erfährt man, daß an dem Tag der Einnahme der Stadt 25 Kardinäle ernannt worden seien, deren Namen ich dir nennen würde, wenn ein Vclkamer sich darunter befände. Soldaten sind um die Häuser der Juden zu ihrem Schutz aufgestellt worden, denn man kann sich kaum vor­ stellen, wie sie beim Volk verhaßt sind. Und tatsächlich sind die meisten wert­ lose Menschen. Es heißt, daß 5000 Juden und nicht viel weniger Janitscharen getötet und Gold und Silber in großer Menge gefunden worden seien. Eine nützliche und glorreiche Tat!" “*) 250) P. an Vo. Venetiis, 12. 8. 1683; V, S. 453, n. 105. 251) P. an Vo. Patavii, 27. 3. 1684; V, 453, n. 108. 252) P. an Vo. E musaeo Patavino, 8. 9. 1686; V, S. 453, n. 128.

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Fürwahr ein blutdürstiges und uns erschütterndes Freudengeschrei, das man aus dem Mund eines so friedfertigen Menschen wie Patin nicht er­ wartet hätte. Mit nicht geringerem Interesse verfolgt Patin die Kriegsoperationen der Republik Venedig, welche fest entschlossen war, die Türken mit all ihrer Macht zu Wasser und zu Lande zu bekämpfen. Deutsche Söldner aus Braun­ schweig, Hannover, Hessen und Sachsen, deren Tapferkeit und Edelmut die schönsten Hoffnungen rechtfertigen, wurden in das Innere Griechenlands geschafft. „Möge Gott die Ruhe in Europa, vor allem in Deutschland, wieder­ herstellen und Scharen solch tapferer Menschen gegen die Türken rücken lassen 253). Die Republik führt den Krieg so vorsichtig, daß das Reich und Polen, deren Soldaten durch Feindeshand oder Hunger zugrunde gehen, von ihr lernen könnten.“ Bei diesem Vergleich kann der Franzose nicht umhin, die Überlegenheit der französischen Kriegsführung zu betonen. „Wie anders günstig würde sich der Krieg abwickeln, wenn die Türken mit Ludwig dem Großen zu tun bekämen, den ich mir nicht so sehr kämpfend als siegend vorstelle! Sein Heer gleicht einem wohlbefestigten Platz, dem im Innern nichts fehlt. Dank der Fürsorge des französischen Heros ist alles im Überfluß vorhanden und zu billigem Preis. Daher die Siege, der Ruhm und die Nieder­ werfung der Feinde. Wir fürchten uns nicht mehr vor dem Türken als unserem mächtigsten Gegner. Er herrscht zwar noch über weite Gebiete, aber seine Macht ist gebrochen. Kaum kann er noch 100 000 Mann zusammenziehen, die der Allerchristlichste leicht in die Flucht schlagen würde. Habt ihr nicht, ihr Deutschen, früher eure Feinde zersprengt! Die Vielheit der Regenten ist das schlimmste Übel. Möge also der Ruhm Deutschlands aufblühen, daß es zum Wohl des Glaubens und der Musen die Barbaren zurückwerfen kann! 254). Unter dem schwedischen General Königsmarck erstürmten die Deutschen die wichtige Festung Medon an der südwestlichen Küste Griechenlands, ein Sieg, der nach der Beschreibung Patins in Padua mit heller Begeisterung gefeiert wurde. „Alle Glocken läuten um die Wette, die Feuer leuchten, die Werkstätten sind geschlossen, nur wenige studieren, ich jedoch Tag und Nacht“ 255). Als Arzt trat Patin mit den Befehlshabern insofern in Berührung, als der an einer Brustbeinfistel leidende Graf Verneda, ein Fanzose, sich seiner Be­ handlung anvertraute. Dieser Graf, ein Greis von 70 Jahren, stand seit 45 Jahren im Dienste Venedigs, hatte an der Verteidigung Kandias gegen die Türken von Anfang an teilgenommen und dann die Stelle eines Chef­ ingenieurs und Gouverneurs von Korfu übernommen. Er galt in seinem Fach für so erfahren, daß er, solange er sich in Venedig aufhielt, von den Macht­ habern zu Rate gezogen wurde. Im darauffolgenden Frühjahr wollte er nach Korfu zurückkehren, ein Kommando bei der Flotte übernehmen und von da 253) P. an Vo. Patavii, 18. 6. 1689; V, S. 455, n. 139. 254) P. an Vo. Patavii, 25. 8. 1685; V, S. 453, n. 120. 255) P. an Vo. Patavii, 4. 7. 1686; V, S. 453, n. 127.

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vielleicht nach Konstantinopel gelangen, das von vielen und namentlich von Patin ersehnte aber nicht erreichte Endziel des Krieges 250). Mittlerweile hatte Volkamer recht trübe Nachrichten vom Kriegsschau­ platz in Südwestdeutschland nach Padua geschickt. „Euer Allerchristlichster König (ach, wenn er es wirklich wäre!) verheert unser römisches Reich, dringt in die Pfalz ein, fällt Speyer an, den Sitz des Reichsgerichtes, versucht Philippsburg zu umzingeln, von wo aus er das Land durch Streifzüge be­ unruhigt. Wir haben niemanden, der für uns handelt. Unsere Soldaten ver­ weilen immer noch in der Türkei und es bleibt uns keine Hoffnung mehr außer Gott. Die Straßen sind voll von Menschen, die nach unserer Stadt fliehen, eine Menge Siegesdenkmäler des Kaisers werden vernichtet. Gott möge dem Feind eine bessere Gesinnung schenken! In zwei oder drei Tagen werden wir wissen, zu welchem Volk wir gehören sollen" 257). Voller Mitgefühl für diese beklagenswerte Lage erwiderte Patin in gleicher Stimmung. „Wir sind in schlimme Zeiten geraten, in denen es kaum möglich ist, ordentlich und ruhig zu leben. Nieder mit den französischen Soldaten, die es wagen, Nürnberg und Altdorf anzugreifen, diese beiden Städte des Wissens und der Freiheit! Obwohl unzählige Legionen zusammengezogen werden, ist, wie ich höre, ernsthaft vom Frieden die Rede zwischen Deutschen und Franzosen. Allerdings wird der Krieg gegen die Holländer schrecklich sein. Ich bitte dich, Georg Frank 258), unseren Kollegen der Akademie zu grüßen. Ich würde lieber Leibarzt und Professor in Heidelberg sein, als mich nach Nürnberg vor dem Kriegselend zu retten. Daß die Akademien von Heidelberg und Tübingen fast zerstört worden sind, erfüllt mich mit Trauer und Schmerz. Wenn der goldene Friede gegen die bösen Ratschläge nicht Abhilfe schafft, werden wir noch schlimmere Tage erleben. Dieser mein Wunsch kann viel­ leicht als gutes Omen für eine bessere Zukunft gedeutet werden, da der Friede mit den Türken geschlossen worden ist oder es bald werden soll. Ich bitte Gott, daß er auch die Rheinprovinzen damit beglücken möge, die sonst von beiden Heeren verwüstet werden" 259) Mit diesen Betrachtungen will ich die Erläuterungen zu dem Briefwechsel Patin — Volkamer abschließen. Die wenigen Briefe, die auf das Jahr 1689 folgen, sind entweder im vorhergehenden mitverwertet oder für unseren Zweck belanglos. Übrigens hat das Schicksal den beiden Freunden, die etwa 25 Jahre lang miteinander korrespondierten, fast gleichzeitig die Feder aus der Hand genommen. J. G. Volkamer I starb am 17. Mai, Charles Patin am 10. Oktober 1693. Letzterer mußte den größten Teil seines Lebens in der Fremde verbringen, der er schließlich aus Vernunftgründen den Vorzug vor seiner Heimat gab; war es ihm doch in Padua gelungen, sich nach sehr bescheidenen Anfängen eine wohlgesicherte Existenz zu schaffen und sich trotz mancher menschlichen Schwächen, durch seine gelehrten Schriften, seine 258) P. an Vo. E musaeo Patavino, 8. 9. 1686; V, S. 453, n. 128. 257) Vo. an P. Briefentwurf (Nürnberg) 8./18. 10. 1688; V, S. 667, n. 201. 258) Franck von Frankenau, Georg (1643—1704). Professor der Medizin in Heidelberg, cf. V, S. 185. 259) P. an Vo. Patavii, 26. 1.; 24. 3. 1689; V, S. 453, n. 136', 137.

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Tätigkeit als Universitätsprofessor und als Arzt einen Namen zu machen* Nicht ohne Stolz weist er in seinen Briefen auf die vornehmen „Ultra­ montanen“ hin, die ihn in Padua auf suchten: den jungen Fürsten von Braun­ schweig, den Sohn des Königs von Dänemarck, den Fürsten Karl Rudolf aus dem Hause Württemberg, der ihm bei seiner Rückkehr aus Griechenland einen Besuch abstattete; dazu noch den österreichischen Grafen von Zinzendorf, der sich sogar mehrere Tage bei ihm aufhielt, ohne von einer Anzahl durchreisender Engländer, den „Mylords“, zu reden 20°). Patins Angehörige bezeigten ihm eine letzte Ehre, indem sie ihm mit Erlaubnis des Kapitels eine Grabschrift in der Domkirche rechts vom Altar des heiligen Karl anbringen ließen 261). An diesem nicht datierten Epitaphium ist zweierlei bemerkenswert, ja rätselhaft. So wird darauf Bezug genommen, daß sich Patin erfolgreich gegen Verleumdungen verteidigt hätte, worüber in den Briefen nichts verlautet. Weiter fällt es auf, daß die ältere Tochter Gabriele Karola, die doch vor dem Tod ihres Vaters geheiratet hatte, ihren Mädchennamen führt mit dem Zusatz Santa Paulina, was vorher noch nie der Fall war und woraus man folgern kann, daß sie, früh verwitwet, einem religiösen Orden beigetreten sei. Was die jüngere Schwester anbelangt, so begegnet sie uns wieder als Verfasserin einer 1745 erschienenen Novelle ganz und gar im Geschmack des 18. Jahrhunderts 262). Sie setzte also die schriftstellerische Tradition der Familie Patin fort, die von ihrem Großvater begründet und von ihrem Vater weiter gepflegt worden war. 260) P. an Vo. Patavii, 11. 11. 1689; 16. 8. 1690; V, S. 455, n. 143—145; an J. M. Keyssler, Patavii, 3. 6. 1691; V, S. 452, n. 16. f#1) J. J. Keyssler, o. c. S. 646. *62) Catalogue general de la bibliotheque nationale. Band 131, S. 286.

Bibliographie Abkürzungen: V

R. h. L. di. Bayle W.-N. Lyc. Doppelmaier Keyssler Misson Tomasini Thieme P. Vo.

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A. Quellen. I. Unedierte lateinische und französische Briefe im Katalog der Handschriften der U.Bibliothek Erlangen verzeichnet. Band V: Die Briefsammlung des Nürnberger Arztes Chr.-Jak. Trew von E. SchmidtHerrling herausgegeben. Erlangen 1940. 1. Briefe von Charles Patin an J. M. Faber, S. A. Fabricius, f. G. Volkamer I, J. G. Volkamer II, G. W. Wedel, J. C. Hönn, Lukas Schroeck II, S. 452, 453, 454; 2. Briefe von Gabriele-Karola und Karola-Katharina Patin an J. G. Volkamer I, J. G. Volkamer II, J. Böhm, S. 454; 3. Briefentwürfe von J. G. Volkamer I an Charles Patin, S. 667; 4. Brief von J. G. Volkamer II an Charles Patin. S. 672, n. 5. II. Relations historiques par Charles Patin, medicin de Paris. 1673 1 Bd. B. Schrifttum Lettres choisies de feu M. Gui Patin. . . . Cologne. P. de Laurens. 1691 3 Bde. Bayle, P. Dictionnaire historique et critique. Amsterdam 1720 4 Bde. Will-Nopitsch, Nürnbergisches Gelehrten-Lexikon. Nürnberg-Altdorf 4 Bde. 1756—1758. Supplementband 1802—1805. Charles Patin, Lyceum Patavinum seu icones et vitae professorum. Patavii 1682. J. G. Doppelmaier, Historische Nachricht von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern. Nürnberg 1730. J. G. Keyssler, Fortsetzung neuester Reisen. Hannover 1741. M. Misson, Voyage d'Italie. Utrecht 1743 2 Bde. Gymnasium Patavinum Jakobi Tomasini. . . . Utini 1654. Thieme-Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Leipzig 1907 ff. Charles Patin. J. G. Volkamer I.

ELFENBEINKUNSTWERKE NÜRNBERGER PROVENIENZ zugleich ein Beitrag zu Nürnbergs Beziehungen nach Dänemark Von Eugen vonPhilippovich

Die Situation des vergangenen Krieges hat bedeutende Kunstverluste, fühlbare Lücken in manchen Museen entstehen lassen. Das Germanische Museum in Nürnberg, das Herzog-Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig, beides hochbedeutende Bewahrungsstätten deutschen Elfenbeins, haben we­ sentliche Einbußen speziell auf diesem Gebiet erlitten. Nürnberg, die alte Reichsstadt, war nun einstmals die Hauptstadt deutschen Elfenbeins, speziell, wenn wir die Leistungen der Kunstdrechsler betrachten. Hier soll der Versuch einer Rekonstruktion dieser Spezialkunst, an Hand im Ausland erhaltener Bestände dieser alten Nürnberger Kunstwerke, unternommen werden. Das Bildmaterial soll einen abgerundeten Eindruck über das Schaffen im Nürnber­ ger Raum geben; es stammt im wesentlichen aus den skandinavischen Landen. Beziehungen Nürnbergs zu Mitgliedern regierender Häuser, die durch Ge­ nerationen ihr lebendiges Interesse an der Kunstdrechslerei dokumentiert haben, sind einerseits durch Mitglieder der Nürnberger Drechslerfamilie Zick und andererseits durch das Haus Habsburg belegt. Eine nicht geringe Zahl anderer Häuser, wie beispielsweise Hessen-Kassel, das dänische Königshaus, speziell die sächsischen Fürsten, haben sich für solche Fertigkeiten interessiert. Peter Zick (1571—1629) hat Kaiser Rudolf in Prag in der Drechslerkunst un­ terrichtet, während Lorenz Zick (1594—1666) von Kaiser Ferdinand zu sei­ nem Kammerdrechsler ernannt wurde und sich deshalb 1643 nach Regensburg und von dort weiter nach Wien begab. Im darauffolgenden Jahr kehrte er wieder nach Nürnberg zurück. Die Jahreszahl 1643 trägt ein Aufsatz von seiner Hand, der sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet. Der Ruhm der Zick’schen Erzeugnisse drang nun nicht nur bis zu den Grenzen der habsburgischen Lande, sondern weit darüber hinaus. Speziell fand er natürlich Widerklang in den Ländern, deren Herrscher selbst mit der Drechslerkunst aus eigenstem Interesse verbunden waren. Zu diesen gehörte vor allem das regierende Haus in Dänemark mit Sitz in Kopenhagen. Der Name der dänischen Hauptstadt gibt in seiner deutschen Lesart kei­ nerlei Aufschlüsse; dagegen vermittelt die dänische Bezeichung in ihrer Auf­ lösung sogleich einen Eindruck über die Bedeutung der Stadt. Die dänische Bezeichnung lautet „Kobenhavn“, wobei das „o“ mit dem Querstrich im Laut 22*

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dem „ö" gleichzusetzen ist. Die Stadtbezeichnung setzt sich aus zwei Worten zusammen, wobei die Zusammensetzung aus den Worten Koben + havn be­ steht. Das Schlußwort heißt „Hafen", während das erstere Wort mit „kaufen" zu identifizieren ist. Den Sinn des Namens könnte man also mit Kaufhafen bzw. formbesser mit Kaufmannshafen wiedergeben. Auch die schwedische Be­ zeichnung für Kopenhagen entspricht in der Landessprache mit „Köpenhamn" sinnentsprechend der gleichen Übersetzung. Wie aus dem Stadtnamen hervorgeht, ist Kopenhagen in früher Zeit be­ reits ein bedeutender Handelsplatz. Nichts ist natürlicher, als daß auch Nürn­ berg durch seine weltweiten Erzeugnisse Bande zu dieser Handelsstadt im Norden knüpfte. Wie in unsern Tagen gab die Mode dem Sammeleifer ihre Richtung; damals liebte man Kunst- und Wunderkammem. Nürnberg wurde ein ganz besonders wichtiger Umschlagsplatz von Raritäten und Antiquitäten. Die Zeit, da den Kirchen, speziell den großen Wallfahrtskirchen, als Dank­ opfer aus fernen Ländern Seltenheiten gebracht wurden, wurde mehr und mehr abgelöst durch die Lust und das Interesse der weltlichen Herrscher, Schätze in ihren Palästen aufzustapeln, um so die Grundlage zu Museen da­ maliger Anschauung zu legen. Die Bezeichnung drückt es selbst aus, daß in diesen Kunst- und Raritätenkammern oftmals nicht gerade der größte Nach­ druck auf „Kunst" gelegt wurde. Im Rahmen dieses Aufsatzes interessiert nun das spezifisch nürnbergische Element der sogenannten Schaustücke, welche dort hergestellt wurden und mit deren Erwerbung ein Kunstkammerbesitzer ein ganz besonderes Prunk­ stück vorzuweisen imstande war. Die sogenannten Schaustücke sind Elfenbein­ arbeiten von Kunstdrechslern, die bei der Ausarbeitung besonderen Wert auf minutiöse schwierigste Drechslerarbeiten legten. Hier muß nun näher auf die zeitgenössische Betrachtungsweise hinsichtlich des Wertes solcher Kunststücke bzw. der Kunstdrechslerei überhaupt eingegangen werden. Teuber1) führt eine Reihe hoher und höchster Persönlichkeiten an, die bei ihm die Fertigkeit der Kunstdrechslerei erlernt hätten. Es zeigt sich also, daß die Drechslerei auf jeden Fall zu den standesgemäßen Beschäftigungen gehörte. Wir finden unter anderem Zar Peter d. Gr. von Rußland unter den Kunstdrechslem, wobei er ganz Erkleckliches geleistet hat. Dem Interesse dieses Kreises entsprechend, war auch die Wertschätzung der Drechslerei unter den Zeitgenossen eine ganz andere als heute, wo man geneigt ist, diese Schaustücke als Spielereien abzutun und die individuellen Arbeiten der Bildhauer den maschinellen Fertigungen der Kunstdrechsler vor­ zuziehen. Nun befinden wir uns heute im Maschinenzeitalter, wo die Erzeug­ nisse der Massenproduktion das Interesse an individuellen Arbeiten erweckt haben. Damals waren jedoch die Verhältnisse genau umgekehrt; denn einer Unzahl von Bildschnitzern stand die kleine Gruppe der Kunstdrechsler gegen­ über, die nicht nur über eine ausgesprochen technische Begabung verfügen mußten, sondern auch im Besitz einer sehr kostbaren Drehbank sein mußten. *) Joh. Martin Teuber: Vollständiger Unterricht von der gemeinen und hohem Drehkunst, etc. Regenspurg-Wien 1740.

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So ist uns der Preis 2) der Drehbank der Königin Sophie Magdalena von Dänemark überliefert, der 1600 Reichtaler betrug. Die Drehbank3), für die 1736 von Kapitän Diderich Thura Rechnung gelegt wurde, war allerdings ein Prachtstück; sie wies nämlich in geschlossenem Zustand die Form einer reich intarsierten Kommode auf. Eine weitere, sicherlich wesentlich einfacher aus­ geführte Drehbank wird zehn Jahre später von Lorenz Spengler um 300 Reichs­ taler geliefert. Man vergleiche mit diesen Zahlen das Jahresgehalt des Hof­ kunstdrechslers, des eben genannten Lorenz Spengler, aus ungefähr den glei­ chen Jahren: vierhundert Reichstaler. Es zeigt sich also, daß eine Drehbank nicht wesentlich weniger als das Einkommen eines ganzen Jahres kostete und somit nicht einem großen Personenkreis erreichbar sein konnte. Damit ist aber auch gleichzeitig gesagt, daß die Anzahl der ausgeführten Kunstdrechs­ lerarbeiten keineswegs sehr hoch gewesen sein kann. Sie wurden als Rarität, in doppelter Hinsicht, einmal als seltene Stücke und zum anderen als kostbar ausgeführte Kunstwerke entsprechend geschätzt. Die Zahl der geschnitzten Arbeiten mußte also naturnotwendig bei weitem die der gedrechselten über­ treffen; denn die wenigen und billigen Gerätschaften eines Bildhauers standen jedem Künstler unschwer zur Verfügung. Die Erschließung der ostasiatischen Handelsmärkte brachte dann noch zusätzlich den vorher teuren Werkstoff ver­ billigt ins Land. Damit stand dieser einer großen Zahl von Elfenbeinschnitzern zur Verfügung. Spitzenkönner entwickeln sich im allgemeinen auf einer breiten Basis. Nürn­ berg hat diese Breitenentwicklung zu bedeutendster Blüte gebracht, wie beispielsweise Roth 4) zu Beginn des 19. Jhrhdts. darlegt, als er anführt, daß bisweilen eine einzige nümbergische Werkstätte in einem Jahr 30 000 Dut­ zend hölzerne Trompetchen gefertigt hat. Nicht nur die Erzeugnisse dieses technischen Fleißes oder seine kunsthand­ werklichen Spitzenleistungen sind die Basis der Anerkennung Nürnbergs in Kopenhagen gewesen. Auch andere Bande haben beide Städte miteinander verbunden. Aus England wird Markus Tuscher 1743 5) nach Kopenhagen berufen. 1705 in Nürnberg geboren, stirbt er bereits acht Jahre nach der Ankunft in der dänischen Hauptstadt. Tuscher, der sich in London aufgehalten hatte, 2) 8) 4) 6)

F. R. Friis: Kulturhistoriske Studier 1904—09. Pag. 5 5—61. Kobenhavn 1909. De Danske Kongers Kronologiske Sämling paa Rosenborg Slot, Inv.No 4382. Roth: Geschichte des Nümbergischen Handels. Leipzig 1801. Bricka: Dansk Biografisk Leksikon. Artikel Tuscher. Kobenhavn 1943. Hier wird an­ gegeben, daß Tuscher im November nach Kopenhagen kommt. Der gleiche Fehler wird im Nachruf bei Lorenz Spengler angegeben. Hier durch F. L. Mourier in „Iris og Hebe". Kobenhavn 1808, in seinem Nachruf „Historisk Lovtale over Lorenz Spengler“. Nach­ dem beide zusammen mit dem gleichen Schiff aus England ankamen, ergibt sich, daß Lorenz Spengler bereits mit einem Oktoberdatum einen Brief in die Schweiz abgehen läßt. Lediglich das Tagesdatum wird bei den mittlerweile verschollenen Originalen einmal mit 3., das andere Mal mit 31. Oktober angegeben, woran nur Spenglers Eigen­ art schuld ist, da er einen Schlußpunkt so schwungvoll verziert, so daß man darunter einen „l“ verstehen kann. Zu Tuscher vgl. auch Mummenhoff in: MVGN 21 (1915) S. 188 ff.

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kam dort mit dem dänischen Leutnant zur See, F. L. Norden, in Verbindung. Dieser hatte auf Veranlassung König Christians VI. von Dänemark eine Reise durch Ägypten und Nubien unternommen. Seine Reiseschilderung wurde nach vorhandenen Skizzen von Tuscher mit Kupferstichen illustriert. Der Marinechef, Generaladmiral Fr. Danneskiold-Sams0e, sorgte dafür, daß Tuscher nach Dänemark kam. Einer der Begleiter, die Tuscher zur Mitreise eingeladen hatte, war Lorenz Spengler, ein bedeutender Elfenbeinkünstler, welcher kurz vor seiner Abreise in London einen sogenannten Dreifaltigkeits­ ring verfertigte. Doppelmayr6) bildet auf Tafel V unter Figur 1 einen solchen ab und berichtet, daß Stephan Zick nur insgesamt drei solcher auserlesenen Kunstwerke schuf. Tuscher wurde 1748 Professor an der Akademie, brachte es zum Hof­ maler und hinterließ eine Reihe von Malereien, welche teilweise verloren gegangen sind. Graphische Entwürfe von ihm bilden die Grundlage zu be­ deutenden Bernsteinarbeiten 7) in der Sammlung der dänischen Könige auf Schloß Rosenborg in Kopenhagen, welche von seinem Reisegefährten, dem genannten Lorenz Spengler aus Schaffhausen, ausgeführt wurden. Die Ver­ bindung mit Philipp von Stosch, mit dem Tuscher in Italien beisammen war, hatte auch das Ergebnis, daß er sich mit verschiedenen Problemen ausein­ andersetzte, für die dieses klassische Land Italien die Voraussetzungen bot. So wandte er eine spezielle Säulenanordnung an, welche er nach seiner Hei­ matstadt Nürnberg „Norico“ benannte. Ein anderer Künstler ist Philipp Sänger (Sengher), der, gleichfalls aus Nürnberg stammend, am dänischen Hof beschäftigt war. Über Sängers Auf­ enthalt in Italien, wo er bei Cosimo III. in Florenz beschäftigt war, ist sicheres Material vorhanden, u. a. ein Bildnismedaillon des Fürsten. Über die Tätigkeit Sängers in Dänemark hingegen sind wir lediglich durch ein Gedicht aus dem Jahre 1683 informiert. Überhaupt ist in manchen Fällen für die Drechsler die Dichtung als Quelle heranzuziehen. Die Reime können freilich zumeist einer literarischen Kritik nicht standhalten. Außer dem genannten Gedicht, das J. C. Spengler8) teilweise anführt, bringt schon Hans Sachs ein Verslein zu einem Stich des Jost Amman. Im 16. Jhdt., 1589, verfaßt Hans Weber in Nürnberg ein Lobgedicht zur Ver­ herrlichung der Drechslerkunst. Daraus läßt sich immerhin ein Überblick über die Vielfältigkeit der Drechslerei gewinnen; denn unter anderem wird auch Achat als Drechslermaterial angeführt. Aus der zweiten Hälfte des 17. Jhdts., beigedruckt als Anhang zum Zeremoniell der Drechsler von M. Fridericus Frisius, Leipzig 1705, existiert ein Gedicht von Joachim Müllner, der gegen 1647 in Nürnberg geboren wurde. Ein weiteres bedeutsames Ge­ dicht, gleichfalls von kläglicher Reimqualität, befindet sich in Kopenhagen. 6) Joh. Gabriel Doppelmayr: Historische Nachricht von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern. Nürnberg 1730. 7) Inv.-No 23—77. Der zugehörige Entwurf im Besitz der Kobberstiksamling, Statens Mu­ seum for Kunst, Kopenhagen. 8) J. C. Spengler: Artistiske Efterretninger som Bidrag til dansk Kunsthistorie. Kjobenhavn 1818.

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Dieses, in deutscher Sprache, ist insoferne bedeutsam, als es eine Aussage über die reliefgedrehten Bildnismedaillons macht, eine Spezialität, welche vermutlich in Nürnberg ihre Entstehung hat. Philipp Sänger war einer der ganz wenigen Vertreter jener Künstler, welche unter der Bezeichnung Reliefdrechsler ihr Bestes geleistet haben. Das vorerwähnte Bildnismedaillon Cosimos III. ist ein Beispiel dafür. Dieses Medaillon, in Elfenbein ausgeführt, ist nicht, wie man normalerweise an­ nehmen sollte, mit der Hand geschnitzt. Es ist in einem technischen Vorgang hergestellt worden, zu dessen Durchführung eine Drehbank nötig war. Neben Sänger hat sich der aus Bartenstein in Ostpreußen stammende Friedrich Kleinert (1633—1714), der hauptsächlich in Nürnberg arbeitete, ebenfalls mit dieser speziellen Kunst abgegeben. Namentlich sind uns etwa zehn solcher Künstler bekannt, wobei mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, daß in Nürnberg die Wiege dieser Kunst zu suchen ist. Kleinert, der seit 1664 in Nürnberg lebte, hat sich von 1680 an mit dem Münzprägen ab­ gegeben. Seiner Werkstatt entstammen die in nahezu allen Sammlungen befindlichen gepreßten Brettspielsteine, deren historische Szenen in die Jahre vor der Jahrhundertwende zu setzen sind. Hat sich aus dem Weber’schen Gedicht ersehen lassen, daß Achat ein Drechslermaterial war, so bezeichnet Doppelmayr Kleinert auch als Silber­ drechsler. Die einzige effektiv gedrechselte Silberdreharbeit, die mir be­ gegnet ist, befindet sich in Kopenhagener Privatbesitz. Es handelt sich nicht um eine nachgedrehte Arbeit, sondern sie wurde von Anbeginn aus dem Material herausgedreht. Ein kleines, nur mehr in Abschrift erhaltenes Gedichtchen unterstreicht deutlich, daß es sich um eine gedrehte Arbeit han­ delt. Dieses gedrechselte Nadelbüchschen, das auch gleichzeitig Fingerhut und Signet ist, stammt aus dem Jahre 1756 und war ein Brautgeschenk an Gertraut Sabina Trott, die Lorenz Spengler ehelichte. Die Prachtentfaltung des Barock, das Interesse der Renaissance, sich dem Technischen zuzuwenden, hat viele solcher Tafelaufsätze entstehen lassen, die tüchtige Kunsthandwerker erforderten. Die Aufsätze sollten nicht nur luxuriöse Gebilde sein, sondern auch in dem einen oder anderen Moment Überraschungen bieten. Ihre Bezeichnung als Trinkspiele kennzeichnet schon eher ihren Zweck, denn allzu einfach war es nicht, aus diesen Geräten zu trinken. Nautiluspokale, Tiere, wie Einhorn oder Wildschwein, deren Haupt abgenommen werden konnte, worauf man daraus trinken konnte, waren beliebte Spielereien der Goldschmiede. Eine andere Abart stellen die so­ genannten Trinkschiffe vor, die vielfach mit Geschützen armiert sind und mit prall gefülltem Segel dargestellt werden. Das Hauptinteresse galt so einem Stück, das sich außer in seiner schönen Form auch noch mit irgendeiner technischen Raffinesse präsentieren konnte. So hat Jakob Jensen Nordmand, Kunstkammerverwalter in Kopenhagen, ein Schiff aus Einhorn gemacht, dessen Anker aus Gold war, gleich den Be­ schlägen, und das Segel ebenfalls aus Einhorn, so dünn wie eine Eierschale. Das Bemerkenswerte an diesem Schiff war nun — zumindest für die Zeit343

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genossen —, daß dieses Schiff in einem Becher mit Wein nach bestimmten Richtungen schwimmen konnte. Des Rätsels Lösung war sehr einfach; denn es wurde mit einem Magneten dirigiert. Von anderen Trinkspielen, in der Form der Globusbecher, besitzt Rosenborg eine ganze Reihe, darunter auch einen von dem bedeutenden Zürcher Goldschmied Abraham Geßner 9), der sich hiebei u. a. einer sehr bedeutsamen Kupferstichfolge10) Paul Flint’s aus dem Jahre 1611 bediente. Von anderen Schätzen, deren Herkunftsort Nürnberg ist, besitzt Schloß Rosenborg in Kopenhagen beispielsweise die Reiterstatue von Kaiser Leo­ pold I., welche der in Nürnberg zu großem Ruhm der Stadt tätige G. Leygebe geschaffen hat. Doppelmayr bildet auf Tafel VI die Reiter Statuette ab, welche Leygebe aus einem 29 Pfund schweren Block herausgearbeitet hat, so daß nach zweijähriger Arbeit, um 1660, nur mehr etwa ein Viertel des ursprüng­ lichen Gewichtes in dem fertigen Werk übrig blieb. Unstreitig erwarb sich Georg Labenwolff ganz besonderen Ruhm mit seinem Neptunsbrunnenn), den der Nürnberger nach Dänemark lieferte. Völlige Sicherheit, wie es zu einer ersten Berührung Labenwolffs mit Däne­ mark kam, besteht nicht, doch ist die Annahme begründet, daß Labenwolff am hessischen Hofe mit dem berühmten dänischen Astronomen Tycho Brahe zusammenkam, für dessen Wohnsitz, Schloß Uranienborg auf der Insel Hven, er ebenfalls einen Springbrunnen lieferte. Im Winter 1676/77 ist Georg Labenwolff jedenfalls das erste Mal in Dänemark und kommt mit König Friederich II. in Verbindung. So bedeutsam der Labenwolff’sche Brunnen war, so bedauerlich ist es, daß er nicht mehr existiert. Wieder ist Doppelmayr der Retter in der Not, denn unter Tafel XI bildet er den Brunnen ab. Als bekrönende Gestalt der Meeresgott Neptun, der aus einer Tritonmuschel, in die er hineinbläst, drei Wasserstrahlen herausrinnen läßt, die gleiche Zahl, die aus den Spitzen des Dreizacks ausströmt. Die Hauptattraktion lag aber darin, daß sich der Neptun durch den Druck des Wassers dauernd im Kreise herum drehte, während Figuren, die sechs Nationen personifizieren, vom Brunnenrande Wasserstrahlen auf die Mitte zuschossen. Labenwolff hat das fertige Werk zur Generalprobe am Stadtgraben in Nürnberg, Ende 1582, drei Tage lang zur Belustigung der Bevölkerung ausgeprobt. 1583 sandte er es dann nach Kronborg, wobei ein Sohn und zwei Vettern zur Aufstellung mitreisten. Das Schicksal hat es nicht gut gemeint mit der Kronborg-Fontäne, denn bereits 1659 wird der Brunnen von den Schweden geraubt, das Meiste wird umgeschmolzen und nur drei kleinere Zierfiguren, Juno, Venus und Pallas, finden sich noch heute und geben im schwedischen Nationalmuseum einen bescheidenen Resteindruck von diesem berühmten Nürnberger Kunstwerk. 9) E. v. Philippovich: Abraham Geßners Globusbecher in Kopenhagen. Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte. Heft 1/2, pag. 85 ff. Basel 195 8. 10) 12 Schtucklein. Etlicher. Schnawlwaidt. Mit 4 Fandast. Köpfen verfertiget, und gemacht. dürch Paülüm Flindt. Nöribergensem Ao. 1611. 1J) V. Thorlacius-Ussing: Danmarks Billedhuggerkunst fra Oltid til Nutid. Kobenhavn 1950. Pag. 152.

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Die Reihe der bedeutenden Techniker aus Nürnberg ist damit nicht zu Ende; denn in der Gestalt des „Mechanicus“ Hans Hautsch erscheint wie­ derum ein tüchtiger Handwerker, dessen Arbeiten Aufsehen in Dänemark erregten1Ia). Hautsch hatte einen mechanischen Wagen konstruiert, in dessen geschlossenem Verdeck vier Mann verborgen waren und deren Kräfte dazu ausreichten, den Wagen zu bewegen. Nachdem sich natürlich erwarten ließ, daß die vielen Gaffer die Bewegung des Wagens behindern würden, so hatte Hautsch das Haupt eines geschnitzten Drachen montiert, der Wasser zu speien imstande war und damit dafür sorgen konnte, daß die Neugierigen sich zurückzogen. Zwei Posaunen blasende Engel kündigten bereits auf längere Entfernung das Gefährt an. Einen solchen Wagen hatte er 1649 fertiggestellt; das Gefährt wurde vom schwedischen Kronprinzen für 500 Reichstaler erstanden und im Folge­ jahr nach Stockholm verbracht. Dies hatte zur Folge, daß der nächste fertig­ gestellte Wagen an den interessierten König von Dänemark geliefert wurde. Hautsch hat nun ein weiteres Kunstwerk geliefert. Es handelte sich um ein in drei Etagen unterteiltes Gebäude, in welchem sich verschiedene Szenen abspielten. Die unterste Etage zeigte die Erschaffung der Welt, den Streit Kains mit Abel und weitere biblische Geschehnisse. In der mittleren Dar­ stellung waren 72 Handwerker mit ihren Geräten an der Arbeit und zuoberst befand sich ein Bad mit Wasserkünsten in Funktion. Das ganze Wunderwerk konnte durch eine Kurbel von einem Mann in Gang gesetzt werden und erregte erhebliches Aufsehen. In seiner Art entspricht es wohl ungefähr einem ähnlichen Werk, das heute noch in Schloß Hellbrunn bei Salzburg in Betrieb ist und dort immer noch in voller Funktion vorgewiesen wird. Im Gegensatz zu dem mechanischen Wagen, abgebildet auf Tafel IV, Figur 2, läßt uns Doppelmayr hier im Stich. Stattdessen finden wir jedoch in dänischen Belegen Unterlagen dazu. Am 27. August 1664 wird für Flans Heutschen aus Nürnberg ein Paß ausgestellt. Hier können wir wohl an­ nehmen, daß sich unter Hans Heutschen der genannte Johann Hautsch ver­ birgt. Er kommt mit einigen in Ballen verpackten Sachen, welche der König erwirbt. Der Wert, welchen man dem Kunststück beilegt, wird mit 1500 Gulden angenommen und gleichzeitig angeführt, daß er mit seinen Söhnen achtzehn Jahre daran gebastelt habe. Im Oktober des gleichen Jahres liefert, 1t. Rechnung, der Tischler Hans Balche eine Schublade, vierundeinhalb Ellen lang und zwei Ellen breit, welche zur Aufnahme des Kunststücks berechnet war. Bis zum Jahr 1673 befand es sich dann im Lusthaus im königlichen Park, worauf es nachher in die Kunstkammer kam. Hautsch, der 1595 ge­ boren wurde, soll zur Zeit der Abschlußarbeiten an seinem Kunstwerk einen unansehnlichen Eindruck auf seine Besucher gemacht haben und starb lt. Doppelmayr am letzten Jännertag des Jahres 1670. Nürnberg hat nicht nur Kunstwerke nach dem Norden gesandt, sondern vor allem auch eine Reihe von Künstlern. Zu einer Zeit, in der die Ver­ vielfältigungstechnik auf so bescheidene Möglichkeiten wie praktisch nur den lla) vgl. dazuE. Hautsch in MVGN 46 (195 5) S. 5 33 ff.

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Kupferstich allein angewiesen war, brachte man den ausübenden Künstlern ein ungleich größeres Interesse entgegen als heute, wo diese Kunst nahezu als erloschen betrachtet werden muß. Ein bedeutender Mann auf dem Gebiet des Kupferstichs war Franz Michael Regenfuß; 1713 in Nürnberg geboren, stirbt er in Kopenhagen 1780, nach­ dem er erstmals das Land im Jahre 1754 betreten hat. Von 1760 an wird er als Hofkupferstecher genannt. Regenfuß hat in seiner Heimatstadt begonnen, sich nicht nur als natur­ historischer Sammler zu betätigen, sondern auch für die Verbreitung der Kenntnis der gesammelten Dinge zu sorgen. Er trug sich mit dem hoch­ fliegenden Plan, ein umfassendes Conchylienwerk herauszugeben. Zu diesem Zwecke begann er von 1754 an mit der Ausführung der Kupferplatten, wovon er 1751 bereits zur Probe zwölf Platten gefertigt hatte. Diese Probe­ serie bildete die Grundlage zur Erstausgabe von 1758, wobei jedoch alles ausgemerzt wurde, was die ursprüngliche deutsche Herkunft verraten konnte. Diese dänische Ausgabe hatte jedoch mit unerwarteten Schwierigkeiten zu kämpfen, welche wohl im wesentlichen in wissenschaftlichen Hintergründen zu suchen war. Ihre Auflage war auch ganz niedrig, denn sie betrug nur 25 Stück. Bereits im Folgejahr erschien jedoch, mit offiziell beibehaltener alter Ausgabejahreszahl, eine vor allem wissenschaftlich revidierte Auflage, an der u. a. Lorenz Spengler mitarbeitete und in dessen Nachlaß 12) sich die Regenfuß’schen Platten befanden. Regenfuß selbst lebte unter ständigem wirtschaftlichen Druck und nur eine Kabinettsordre vom 3. 1. 1781 rettete die Fortsetzungen des Conchylienwerkes vor der Beschlagnahme durch die Gläubiger. Eine Renaissance erlebte das Bildwerk durch die Ausgabe eines Bändchens des Inselverlages vom Jahr 1936. Johann Martin Preisler (1715—94), ein weiterer Nürnberger Künstler, wurde 1750 an der Akademie in Kopenhagen Professor. Seine Arbeiten hatten auf die übrigen Kupferstecher großen Einfluß. Er stand vor allem unter französischem Einfluß; er war von Paris 1744 zugereist und starb in Kopen­ hagen. Seine Zusammenarbeit mit den bedeutenden zeitgenössischen Künst­ lern — er stach ihre Arbeiten nach — ist an vielen Beispielen überliefert; gewisse Werke sind nurmehr durch seine Stiche bekannt. Eine ganze Reihe von Künstlern hat sich außer den Genannten in Däne­ mark aufgehalten. Ihre Anführung13) hier erfolgt in alphabetischer Reihen­ folge, wobei die den Lebensdaten nachfolgenden, nicht eingeklammerten Zahlen den Aufenthalt in Dänemark umreißen: Johann Ayerschöttel (1640 bis 1702), Maler, ca. 1667—1702. Georg Wilhelm Baurenfeind (1728—63), Kupferstecher, ca. 1753—61. Johann Christoph Bayer (1738—1812), Maler, ca. 1768—1812. Barbara Regina Dietsch (1716—83), Malerin, ca. 1750?. 12) Skiftebog (Nachlaßverzeichnis) nach Lorenz Spengler. Pag. 56 u. 57. Rigsarkiv Kopen­ hagen. ,s) Merete Bodelsen: Foreign Artists in Denmark. Festschrift Hans Vollmer. Leipzig 1957. Bezüglich „Labenwolff“ ist wohl eine Ergänzung angebracht, denn sein Todesjahr wird hier offen gelassen (— 1576—83 —), was an sich unverständlich ist, da Doppelmayr genau angibt, daß Labenwolff Ende Mai 85 verstorben ist.

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Johann Gottlieb Friedrich (ca. 1742—1809), Kupferstecher, 1771—1809. J. Haas (ca. 1720—1775), Kupferstecher, 1752—75. Peter Hoffmann, Bronze­ gießer, — 1607—08 —. Georg Abraham Nagel (1712—79), Maler und Kupfer­ stecher, 1745—46?. Martin Rößler (1727—82), Maler, ca. 1755—82. Michael Rößler (1705—77), Kupferstecher, 1749?, 5 5—57. Alexander Tregardt oder Dreghardt (gest. 1654), Goldschmied, 1632—54. Carl Ludwig Wüst (1723 bis 57), Kupferstecher, ca. 1745—49 (51). Es fällt auf, daß der ganz überwiegende Teil der hier angeführten Künstler sich im achtzehnten Jahrhundert in der dänischen Landeshauptstadt einfand. Es hat in diesen Jahrzehnten ein verhältnismäßig sehr starker künst­ lerischer Zustrom aus Nürnberg eingesetzt. Auch die drei außerhalb dieser summarischen Liste angeführten Künstler, Tuscher, Regenfuß und Preisler, sind innerhalb dieser Zeitspanne am dänischen Hofe beschäftigt. Die Be­ schäftigung deutscher Künstler, darunter eben auch der Nürnberger, mag auch darin ihre Erklärung finden, daß zu gewissen Zeiten am dänischen Hof in sprachlicher Hinsicht das Deutsch dominierte. Ein weiteres Moment war, daß man Glaubensflüchtlingen gegenüber eine aufgeschlossene Haltung zeigte und damit viele tüchtige Leute ins Land brachte. Es ist verständlich, daß ein solcher Zustrom von Künstlern nicht vorüber­ gegangen sein kann, ohne seine Spuren zu hinterlassen. Zu bedeutend waren die Städte, das Interesse auf beiden Seiten zu groß, als daß nicht eine Sich­ tung des historischen Bestandes gerade solche Momente aufweisen müßte, die ganz speziell auf Nürnberg hinweisen. Die vorgenannten Künstler haben Zeugnisse ihrer Tätigkeit hinterlassen, ohne daß wir spezifisch nürnbergische Elemente darin sehen müssen. Gewiß haben alle diese Produkte künstlerischer Bestrebungen zur Verbindung der beiden Städte beigetragen, doch selbst Labenwolffs ausgeklügelter Springbrunnen konnte genau so gut aus einer anderen Stadt stammen. Unter den bedeutenden Sammlungen, die Dänemark aufweist, nimmt Schloß Rosenborg 14) unstreitig eine Sonderstellung ein. Es ist die Sammlung der dänischen Könige, die durch die Jahrhunderte hier ihre Schätze gesammelt haben und einer interessierten Öffentlichkeit zeigen. Wie nicht anders zu erwarten ist, nehmen Gerätschaften aus wertvollem Material einen hervor­ ragenden Platz ein, darunter in ganz besonderem Maße Elfenbeingeräte. Diesen sei nun hier unser besonderes Interesse gewidmet, denn unter ihnen findet sich eine ganz spezielle Gruppe, die als spezifisch nürnbergisch an­ zusprechen ist. Elfenbeinarbeiten können in zwei Gruppen aufgeteilt werden, solche, die von Bildschnitzern stammen, und solche, die technisch verarbeitet, also maschinell hergestellt sind. Nürnberg hat zur Genüge bewiesen, daß es technisch hochbegabte Handwerker hervorbrachte. Die Voraussetzungen, daß der dänische Hof an dieser Kunst Interesse fand, gehen auf frühere Jahr­ hunderte zurück. Bereits im 16. Jhrhdt. tritt uns der Ausdruck „Drehkammer" in dänischen Verzeichnissen entgegen und hier zeigt sich, daß darunter weit 14) De Danske Kongers Kronologiske Sämling paa Rosenborg Slot.

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mehr zu verstehen ist, als dieser Ausdruck vermuten läßt. Wohl hat diese Kammer den Namen von der dort aufgestellten Drehbank erhalten, doch befinden sich im gleichen Raum auch die wertvollen Geräte, Schmuckstücke, edlen Metalle, wie auch kostbare Waffen. All dies steht unter der Aufsicht des Drehers, dessen Aufgabe also durchaus nicht nur darauf beschränkt war, den König in der Drechslerkunst zu unterrichten. Ihm waren ganz bedeutende Aufgaben übertragen, wie sich für den Dreher Christians III. 1555 zeigt, der große Auszahlungen vornehmen mußte, die an höchste Beamte zu leisten waren. Dieser Drechsler, Hans Mejer, war bei Abwesenheit des Königs Hausvogt und verwahrte den Schlüssel zur Drehkammer, wie er auch überall in der Burg ungehindert aus- und einging. Entsprechend den ihm unterstellten Werten mußte er ein verläßlicher Mann sein und mehr können als nur drechseln. Wir wissen darüber Bescheid, weil der Baumeister Hans von Diskow in seinem Plan für den Burgumbau 1568 speziell anführt: „ein Dreh­ zimmer oder Wunderkammer“. Ein weiterer Hinweis, daß bereits in frühen Zeiten am dänischen Hofe wirkliches Interesse für die Drechlerei bestand, ist einer Notiz vom 10. 8. 1588 zu entnehmen, daß dem Oswald Drejer nach Frederiks II. Tod 4 Reichstaler bezahlt werden, weil er im Auftrag des Königs dessen Drechslerwerkzeug von Skanderborg nach Kopenhagen zu bringen hatte. Vier Jahre vorher, am 28. Juli 1584, wird der Lehnsmann beauftragt, mit den Steinmetzen zu verhandeln, damit der Turm gebaut werde, in dem er seine Drechslerkammer haben wollte. Der Ausdruck Drechslerturm wurde auch lange für den nordwestlichen Turm von Kronborg verwendet. Viel später, um die Mitte des 18. Jhrhdts., mit Brief vom 15. 8. 1744, berichtet Lorenz Spengler, daß er von der Prinzessin Louise Auftrag erhalten habe, in Schloß Hirschholm die Aufstellung der Drehbank durchzuführen. Das Interesse ist also in allen Kreisen der königlichen Familie für die Kunstdrechslerei wach. In dem ehrenvollen Nachruf, der nach Lorenz Spenglers Tod von seinem Schwiegersohn Mourier15) verfaßt wurde, erscheint eine Reihe von Mit­ gliedern des dänischen Königshauses sowie Verwandter 16) desselben, welche vom Hofkunstdrechsler unterrichtet worden waren. Schloß Rosenborg bewahrt noch heute gedrechselte Elfenbeinarbeiten u. a. von der Königin Louise auf, die von unglaublicher Feinheit sind. Gleichen Ortes wird eine Elfenbeinarbeit gezeigt, welche Spengler zur Erinnerung17) an ihren Tod, 1751, geschaffen hat. Schloß Rosenborg ist als Museum gleichsam eine durch Beispiele belegte Historie des dänischen Herrscherhauses. Es ist gleichzeitig die größte Samm­ lung an Elfenbein im gesamten skandinavischen Raum. Der bedeutenden 15) F. L. Mourier: Historisk Lovtale over Lorenz Spengler. In „Iris og Hebe", aus franzö­ sischer Sprache in das Dänische übersetzt. Kobenhavn 1808. Königin Sophie-Magdalena, Karoline, Fürstin von Ostfriesland. König Frederik V., sowie dessen beide Gattinnen, Louise und Juliane Marie. 18) E. v. Philippovich: Elfenbeinarbeiten hessischer Prinzen des achtzehnten Jahrhunderts in Kopenhagen. Neues Magazin für Hanauische Geschichte. No 4', 3. Band, 1958. l7) Rosenborg, Inv.-No 13—364. Bezeichnet: L. Spengler Toumeur de S. M. le Roy. 1752.

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Stellung entsprechend, die Nürnberg in der Geschichte des gedrechselten Elfenbeins innehat, finden sich hier bedeutsame Stücke vor, deren Auf­ bewahrung im Rahmen dieses Museums von erfreulicher Bedeutung ist, nach­ dem das Germanische Museum seine Elfenbeinschätze verloren hat. Neben Rosenborg ist das Nationalmuseum in Kopenhagen ebenfalls im Besitz einer ganzen Reihe wichtiger Stücke von Nürnberger Provenienz. Bei der Betrachtung dieses Bestandes, wie überhaupt gedrechselter Arbeiten in dänischen Sammlungen, darf nicht außer Acht gelassen werden, daß dieses Land auch selbst über eine Reihe tüchtiger Künstler verfügt hat und somit nicht jedes Stück von vorneherein mit dem Prädikat „nürnbergisch“ versehen werden kann, nur weil es eine sehr gute gedrechselte Arbeit ist. Gewisse spezifisch nürnbergische Eigenheiten schützen uns jedoch vor diesem Irrtum. Wie bereits eingangs erwähnt, hat sich vor allem die Familie Zick mit der Kunstdrechslerei in Nürnberg abgegeben. Eine ihrer wesentlichen Speziali­ täten waren die Contrefaitkugeln. Hierunter hat man vollmassive Elfenbein­ kugeln zu verstehen, deren Inneres so weit ausgedreht wurde, daß sich nur eine oder zwei Scheiben im Hohlraum der Kugeln als Rückstand der vorher massiven Kugel befanden. Die Ausbohrung der Kugel erfolgte durch Öff­ nungen, die erheblich kleiner sind als der Diameter der im Innern verblie­ benen Scheiben. Damit ist bewiesen, daß die Scheiben nicht in die Kugel eingeführt, sondern aus der Masse heraus gedreht wurden. Vielfach hat man dann die Scheiben bemalt; Christus und Maria, manchmal auch ein Porträt, waren das Sujet. Die zueinander gewandten Scheibchen wurden mit Scharnier verbunden und durch Schnüre von außen so auseinander gezogen, daß die Bilder sichtbar wurden, sobald man durch die Drehöffnungen hineinblickte. Die Erfindung dieser Spezialität soll am sächsischen Hofe erfolgt sein, doch hat die berühmte Werkstatt Zick mit ihren weitaus größten Handels­ verbindungen für die Verbreitung dieser Spezialität gesorgt; auch Lobenigks Arbeiten haben die Sammlungen in Dresden bereichert. Doppelmayr unter­ richtet uns durch einen Stich über das Aussehen einer dieser Zickschen Contrefaitkugeln, die in diesem speziellen Fall eiförmig gedreht ist. Die größte Zahl der erhaltenen Stücke ist jedoch vollrund und die Unterscheidung der Qualität basiert im wesentlichen auf der Ausführung des Tragfußes bzw. der Spitzengruppe. Natürlich stammen nicht alle erhaltenen Stücke von Lorenz Zick. Von seiner Hand haben wir ein gesichertes Werk, das sich im Besitz des Kunsthistorischen Museums in Wien befindet und bezeichnet ist: Lorencz Zickh in Nürnberg 1643. Hier begegnet uns das Jahr wieder, in dem Zick an den Hof Kaiser Ferdinands III. berufen wurde, um sein Lehrmeister zu werden. Es stehen uns also nur drei völlig sichere Werke von seiner Hand zur Verfügung, denn außer der genannten Contrefaitkugel bildet Doppelmayr noch einen montierten Vielkanter ab, der eine andere Zicksche Spezialität war. Auch hier gilt das Gleiche, daß die Ausführung des Traggestells maß­ geblich für die Beurteilung der Qualität ist. Ein Kriterium, ob ein solches „Kunststück", wie eine solche Arbeit von den Zeitgenossen genannt wurde, von Lorenz Zick stammt, ist darin zu sehen, daß manchmal die Cuppa ge349

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schnitzt ist und nicht en carreau gedreht ist, wie dies Plumier 18) zeigt. In Amras befindet sich ein solcher Pokal, der allerdings später als Zick an­ zusetzen ist. Lorenz Zicks Cuppa ist in einem solchen Fall sicherlich gedreht, während geschnitzte Beispiele anderen Mitgliedern der Familie zugeschrieben werden. Die hier näher besprochene Gruppe umfaßt auch beide eben besprochenen Formen. Die Zuschreibung an andere Familienmitglieder scheint nicht ganz auf Vermutungen zu beruhen, denn u. a. besteht zumindest die Gewißheit, daß diese Arbeiten aus Nürnberg gekommen sind. Im April 1664 wird für Peter Otto, „Stadt- und Kunstdrechsler zu Nürnberg“, ein Paß19) ausgestellt. Er brachte fünf Kisten mit sich, die 3 Zentner wogen. Im August gleichen Jahres erhält dieser Peter Otto seinen Heimreisepaß und dabei wird vermerkt, daß er mit einigen ihm abgekauften Dingen gekommen sei. Nun ist nicht anzu­ nehmen, daß sich ein Nürnberger Drechsler nach Kopenhagen begab, um seine eigenen bescheidenen Produkte anzubieten, sondern daß er sich mit den seltensten Dingen versah, um sie dem dänisdien König anzubieten. Daß der dänische Herrscher nicht schlecht beraten war, läßt sich schon daraus ersehen, daß er früher aus Nürnberg nur Spitzenstücke erwarb, wie den Labenwolffschen Brunnen bzw. Hautsch’s mechanischen Wagen und seine „Handwerker in Arbeit“. Es ist also mit Fug und Recht anzunehmen, daß dieser Peter Otto, der in den Künstlerlexika nirgends erscheint, keineswegs auch der Verfertiger der Kunstwerke war. Wäre er eine auch nur halbwegs bedeutende Gestalt unter den Nürnberger Künstlern gewesen, so würde Doppelmayr nicht ver­ gessen haben, ihn in seinen „Nachrichten von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern“ aufzunehmen. Auch Murr hätte ihn kaum übersehen. Wir können also eher annehmen, daß Peter Otto ein Handelsmann gewesen ist, so wie der dänische König später, mit Datum vom 9. Juli 1670, den wohl­ angesehenen Georg Michael zu seinem Faktor in Nürnberg macht. Bering-Liisberg20), der über diese Dinge berichtet, meint ganz richtig, daß ein Großteil der in Rosenborg und teilweise im Nationalmuseum auf­ bewahrten Elfenbeinarbeiten von Zick21) stammen müsse. Die Vermutung allein soll uns jedoch nicht genügen; wir können die Arbeiten auch auf andere Details hin einer genaueren Betrachtung unterziehen. Stilistisch läßt sich eine Gruppe von 14 gedrechselten Arbeiten aus dem Rosenborger Bestand auf die Zeit Lorenz Zicks zurückführen. Im Bestand des Kunstindustriemuseums in Kopenhagen befinden sich zwei weitere Arbeiten, die unzweifelhaft einmal der gleichen Gruppe angehört haben und stilistisch mit Arbeiten der Zick­ periode aus Rosenborg übereinstimmende Details wie auch die gleiche Grund18) R. P. Charles Plumier: L’Art de Tourner / Die Kunst zu drechseln. Leipzig 1776. 19) Rigsarkiv (Reichsarchiv) Kopenhagen, Patenten 1664, pag. 55: Peter Otto Kunst- undt Statt Drechsslern in Nürenbergh sambt bey sich habenden fünf Kasten ungefähr Drey Centner schwer, Pag. 168: Rückreisepaß ausgestellt 27. August. 20) H. C. Bering-Liisberg: Kunstkammeret. Kobenhavn 1897. 21) Er schreibt, daß viele dieser Dinge von dem berühmten „Hans Zwick" in Nürnberg ausgeführt worden sein müssen. Es handelt sich um ein Versehen; denn Lorenz Zick ist darunter zu verstehen. „Kunstkammeret", pag. 66.

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konzeption aufweisen. Hiezu gesellen sich verschiedene Arbeiten des National­ museums. Von den Mitgliedern der Zickschen Familie wird Lorerlz am meisten gerühmt. Es folgt sodann Peter. Von einem dritten ist nahezu nirgends eine nähere Erwähnung zu finden und zwar von Johann Caspar Zick. Von ihm findet sich jedoch eine signierte Arbeit in Florenz und zugeschriebene Ar­ beiten lassen eine ähnliche Fertigkeit, zumindest bei einfacheren Arbeiten, vermuten, wie von Lorenz. Die beiden ersteren haben einen klangvolleren Namen, da sie Lehrer für Kaiser Rudolf II. und Ferdinand III. waren. Den Arbeiten, die sie ausführten, liegt nun vielfach die gleiche Grund­ konzeption zugrunde. Das Mittelteil zwischen Contrefaitkugel und Basis­ platte, also der eigentliche Tragfuß einer Arbeit des Bayer. Gewerbemuseums, weist deutliche Übereinstimmung mit Lorenz Zicks signierter Arbeit in Wien sowie dem Vielflächner der Doppelmayrschen Tafel auf. Innerhalb des spiralig gedrehten Tragfußes findet sich ebenfalls parallel zum Stich die Zentralachse gedreht ausgearbeitet. Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Arbeit Zick­ scher Herkunft ist; als Künstler wird Johann Caspar angegeben. Die Ausführung des vorerwähnten Stückes weist noch keine exceptionellen Schwierigkeitsmomente auf. Eine Zuschreibung an Lorenz wäre nicht haltbar. Die Sache ändert sich jedoch bereits wesentlich, sobald wir die beiden Contrefaitkugeln aus der Steiermark betrachten. Es handelt sich um ein Exemplar aus der Schatzkammer der Basilika in Mariazell22) und die zweite Contrefait­ kugel mit der Tragfigur eines Atlanten aus dem Kunstgewerbemuseum in Graz. Beiden sind verschiedene Details gemein: Die Ausdrehöffnung der eigentlichen Kugel besitzt einen deutlich abgesetzten Ring. Über der Kugel findet sich eine flach gedrückte kleine Kugel mit ausgebohrten Öffnungen, die teilweise mit pfeilartigen Stäbchen versehen sind. Darüber findet sich nochmals eine Scheibe mit einem Diameter von 38 mm. Diese Scheibe ist mit einem Schriftsatz versehen, der nicht geschnitzt, sondern ausgedreht ist. Der Text, in zwei Ringsätzen angeordnet, lautet folgendermaßen: SCHREIBEN . UND , TRUCKHEN . GILT . NIT . UIL . MEHR * DURCH . TRAXLER . KUNST . GIBT . GOTT . DIE . EHR * Dieser gedrechselte Schriftsatz ist nun ein völlig sicheres Werkstattkenn­ zeichen, somit eine sichere Richtschnur, daß solche Werke aus der Werkstatt der Zick in Nürnberg stammen. Es sind mir Beispiele aus Wien, Graz, Maria22) Es befinden sich zwei Contrefaitkugeln in der Schatzkammer, wobei beide Stücke mit Schriftplatte versehen sind. Siehe „Führer durch die Mariazeller Schatzkammer“ von O. Wonisch. 4. Aufl. Mariazell 1956, pag. 16, No 8 : Zwei Schaustücke aus Elfenbein mit Hohlkugeln. In einer Kugel ein Medaillon mit Adam und Eva, im zweiten das Porträt des Fürstbischofs von Gurk, Jakob Maximilian Grafen von Thun-Hohenstein (1709—41). Am Fuße des einen der beiden Stücke ein Einhorn. Hiezu als Ergänzung, daß Dr. Wonisch mir brieflich (4.1.195 8) auf meine Einwände mitteilt, daß die Angabe, Portät des Gurker Fürsterzbischofs, irrig sein dürfte. Das Stück ist vermutlich zwischen den Jahren 1709—1721 daselbst geopfert worden. 23) Inv.-No 4503. Abgebildet in Eichler/Kris: Die Kameen im Kunsthistor. Museum. Wien 1927. Höhe 37,5 cm.

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zell sowie je ein Döschen im Ferdinandeum, Innsbruck und Kulturhistorisk Museum Lund, bekannt, dessen Bodeninnenseite schwer erkennbar den glei­ chen Schriftsatz aufweist. Die Contrefaitkugeln sind, mit Ausnahme der Lobenigkschen in Dresden, eine Zicksche Spezialität. Die Schriftplatte findet sich nahezu nur in Ver­ bindung mit den Contrefaitkugeln und die erste Ausführung setzte vor allem besondere Kenntnisse voraus; damit ist wiederum bestätigt, daß nur ein ganz großer Künstler in der Lage war, so ein Kunststück zu fertigen; im Raum Nürnberg bedeutet das, daß Lorenz Zick als Künstler zu vermuten ist, dessen Autorschaft für die dortigen Contrefaitkugeln durch Doppelmayr bewiesen ist. Es findet sich nun im Kunsthistorischen Museum in Wien 23) eine Contrefaitkugel, die unter der Bezeichnung „Konterfettenbecher“ dort figuriert. Die Höhe mit 37,5 cm entspricht der ungefähren mittleren Höhe aller übrigen Contrefaitkugeln. In der Contrefaitkugel finden sich gleichlaufend zu anderen Arbeiten des Lorenz Zick Medaillons mit Christus und Maria. Umlaufend um den größten Diameter der Kugel befindet sich eine Reihe von Muschel­ kameen, verschiedene Porträts vorstellend, die wohl zu der Bezeichnung Konterfettenbecher Anlaß gegeben haben. Aus verschiedenen Erwägungen heraus, die noch an anderer Stelle eingehender angestellt werden sollen, ist dieses Stück Lorenz Zick zuzuschreiben. Hier mag vielleicht Anlaß sein, kurz auf die Bezeichnung der Kugeln einzugehen. Die Herkunft ist wohl aus dem Französischen abzuleiten und hat nichts mit der alten deutschen Bezeichnung Konterfey gemein. Trotzdem kann eine gewisse Unklarheit entstehen, denn die Konterfeydrechsler, zu deren Aufgaben auch die Herstellung der reliefgedrehten Zickschen Schrift­ platte zu zählen ist, bedienten sich zur Herstellung dieser reliefgedrehten Porträts des sogenannten Contrefaitwerkes24), einer so bezeichnten Maschi­ nerie, über die uns mehrere Stiche in Teubers grundlegendem Werk über die Kunstdrechslerei orientieren. In den alten Dresdner Inventaren wird die Be­ zeichnung Contrefaitkugel auch durch Kontrafekt wiedergegeben. Lobenigks Kugel daselbst stammt vom Jahre 1598, während die von Jakob Zeller (gest. 1620) mit einer Bezeichnung versehen ist, die gleichzeitig auf die Jahreszahl hinweist: JACOB ZELLER 1611. Die Lobenigksche Kugel ist als Teilstück zu betrachten, während Zellers Kugel in der Systematik den Nürnberger Arbeiten gleicht. In Details unter­ scheidet sie sich jedoch grundlegend. Die inliegenden Porträtmedaillons stellen den Kurfürsten Christian II. sowie dessen Gattin Hedwig vor. Auf den Medaillondeckeln befindet sich einerseits das sächsische und andererseits das dänische Wappen. Der wesentlichste Unterschied zwischen Dresden und Nürnberg besteht darin, daß es sich in Dresden um ganz wenige Exemplare handelt, während 24) Mit Brief vom 15. August 1744, Copenhagen, berichtet Lorenz Spengler, daß er eine solche Porträtdrediselbank verfertigt habe und für 50 Reichsthaler nach England ver­ kauft habe. VIII. Schaffhauser Neujahrsblatt, S. 13.

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die Nürnberger Contrefaitkugeln eine ausgesprochene Werkstattfertigung in großer Zahl waren. Zurückkehrend zu dem Mariazeller Exemplar mit dem Einhorn, muß auf eine ganz besondere Kunstdrechslerleistung hingewiesen werden. Es ist dies der umsponnene Ring, welcher über der eigentlichen Contrefaitkugel auf­ liegt. Zu den größten Kunststücken der Kunstdrechsler gehörte es, solche sogenannten Dreifaltigkeitsringe zu drechseln. Hier ist nun nicht nur das durchgeführt, sondern es ist außerdem ein eingesponnener Ring mitgedreht. Die Ausführung kann nur ein allererster Meister besorgt haben, unter welchem wir uns Lorenz Zick vorzustellen haben. An Künstlern, welche in der Lage waren, solche Dreieinigkeits- oder Dreifaltigkeitsringe zu drechseln, kennen wir mit Namen nur ganz wenige. Auf dem Gebiet des Elfenbeins wird Stephan Zick als der Nürnberger Künstler mit dem größten Ruf zu nennen sein. Doppelmayr bildet seinen Ring ab, wobei angeführt wird, daß er nur drei solcher Stücke verfertigt hat. Vorher hat der Jesuitenpater Scherer in Ingolstadt sich damit befaßt. Ihm wird die Erfindung dieser technischen Spitzfindigkeit zugeschrieben, doch nehmen die Goldschmiede den Ruhm in Anspruch, bereits früher solche angefertigt zu haben. Lorenz Spengler hat 1743 in London einen gedrechselt, der jedoch verschollen ist. Stattdessen findet sich von dem schwedischen General Magnus Stenbock, der anläßlich seiner Gefangenschaft in Dänemark war, ein solcher Ring in einem Etui, das mit seinem Namen signiert ist. Einen anderen General, der sehr tüchtig auf diesem Gebiete war, finden wir in der Person des österreichischen Feldmarschalls Herzog Josef Friedrich von Sachsen-Hild­ burghausen, welcher sich auf dem Gebiet der Porträtdrechslerei hervorgetan hat. Das einzige Porträtrelief gedrechselter Art25) des Kunsthistorischen Museums in Wien stammt von seiner Hand. Unter den zahlreichen Arbeiten der Zickschen Werkstatt, welche in Rosen­ borg aufbewahrt werden, finden zwei Stücke unser besonderes Interesse. Beide sind Contrefaitkugeln. Vorerst nehmen wir aber Stellung zu dem Elfenbein­ pokal, welcher zwischen Kugel und Spitze ein großes ausgeprägtes Buch­ stabenpaar 26) trägt. Es handelt sich um ein großes C, dem ein A eingearbeitet ist. Die Vermutung scheint mir nicht fehl am Platze, daß es sich um eine Arbeit des Caspar Zick handeln könnte, der damit seinen Namen gegenüber Lorenz oder Peter Zick hervorheben wollte. Eine monogrammierte Arbeit 25) Zweitexemplar abgebildet: J. L. Sponsel, Bd 4, Tafel 35 unter f), pag. 110. Verschie­ dene textliche Ungenauigkeiten bei Sponsel hinsichtlich der Umschrift. Angekauft 1876. Gefertigt 1751, siehe auch: „Führer durch das königliche Grüne Gewölbe zu Dresden“, Dresden 1915, pag. 45, Hinweis, daß das Medaillon zur Grundsteinlegung der Egidienkirche in Kroisenbrunn/N.O. gemacht wurde. Der General wurde 1719 kais. Offizier, 39 Feldzeugmeister, 41 Generalfeldmarschall. Inv.No 3648, Kunsthistorisches Museum, Wien. 26) Rosenborg, Inv.-No 6—393, Höhe 51,4 cm. Die stilisierte Kaiserkrone, über dem CA, soll wohl ein Hinweis auf Nürnberg sein. Die Auflösung des Monogramms „CA“ in Caesar Augustus == Kaiser, wohl nicht gut denkbar, da sich das Stück von Anbeginn an im Besitz des dänischen Königs befand, somit nicht dem Kaiser zugedacht sein konnte. 23

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befindet sich im Palazzo Pitti in Florenz, die am Sockel J. C. Zick ge kennzeichnet ist. Es handelt sich jedoch um eine gravierte Darstellung, wobei auch nicht hervorgeht, um welchen der beiden Caspar Zick es sich handelt, dagegen muß die Rosenborger Arbeit dem Älteren zugeschrieben werden, in dessen Zeitraum sie auch stilistisch gehört. Wir finden an dem Stück ausgeprägte Schwierigkeitsgrade in der drechslerischen27) Behandlung des Materials, wobei lediglich auf die feinen die Cuppa umlaufenden ausgedrehten Ringe verwiesen sei. Die Stachelkugel, an Stelle der dort sonst befindlichen Contrefaitkugel, soll einen besonderen Schwierigkeitsgrad demonstrieren, ist jedoch stilistisch nicht von größerer Bedeutung, während der durchbrochene Korb auf dem Deckel des Bechers schon eher ein vielfach gebrauchtes Element der Zicksehen Werkstatt zu sein scheint. Er begegnet uns in den Stücken aus Mariazell, einem Exemplar im Bayerischen Landesgewerbemuseum und auch in diesem Stück. Eine weitere wichtige Komponente der nürnbergischen Arbeiten findet sich in einem stili­ sierten Blütenkelch, welchen von den abgebildeten Stücken die Grazer Contrefaitkugel, gleich über der Schriftplatte, aufweist. Aus anderen Stücken ist ersichtlich, daß aus dieser Blüte eine feine Spirale herauswächst, welche am Grazer Stück verlorengegangen ist. Der CA-Pokal gehört einer ganzen Gruppe28) von Pokalen und Contrefaitkugeln an, die offenbar nicht alle von gleicher Hand geschaffen worden sind, denen jedoch das Konzept einer Werkstatt ganz zweifelsfrei anhaftet. Es ist deutlich ersichtlich, daß ältere, konservative Werkstättenmitglieder noch an der Ausarbeitung mitbeteiligt sind. Die en carreau-Darstellungen sind teilweise noch handgefertigt, was auch andernorts festgestellt werden kann, so daß man wohl berechtigt ist, in ihren Verfertigern bereits ältere Werkstatt­ mitglieder zu vermuten, welche die neue Technik sich nicht mehr aneigneten. Inventar-Nummer 23-89, Rosenborg, bietet ein interessantes Beispiel einer ausgefeilten Drechseltechnik, indem der Tragfuß die Büste eines gedrechselten Mannes aufweist. Da die Gesamtgruppe dieser Kunststücke unzweifelhaft Nürnberg zuzuweisen ist, können wir daraufhin einen ebenfalls gedrechsel­ ten Griff in Form einer männlichen Büste gleichfalls der Nürnberger Künstlergruppe zuweisen. Er stammt aus dem damaligen Barkhausen'schen Kunstschrank29), Historisches Museum, Frankfurt a. Main, und kann als 27) Carl Friedrich: Beitrag zur Geschichte der Drechslerei, I., S. 129—138; II., S. 161—171, in „Kunst und Gewerbe“, Zeitschrift des Bayerischen Gewerbemuseums zu Nürnberg, 15. Jahrgang, Nürnberg 1881, führt auf S. 163 an, daß sich anscheinend erst im 17. Jahr­ hundert die Kunstdrechslerei von der gewöhnlichen Drechslerarbeit zu scheiden begann. Vermutlich erst in diesem Zeitraum wurde dem Drechslerhandwerk ein Meisterstück gewährt, welches z. B. in einem Globus bestand, nebst Gestell, beides in Holz ausge­ führt, wobei die Kugel hohl gedreht werden mußte, deren Diameter einen rheinländi­ schen Fuß (= 313,8535 mm) betragen mußte. 28) Der 1. Museumsinspektor in Rosenborg, Gudmund Boesen, konnte leider das Foto­ grafieren der Stücke nicht zeitgerecht gestatten, so daß sich diese Gruppe nicht in wünschenwertem Maße hier behandeln läßt. 29) Der Barkhausensche Kunstschrank gelangte Mitte 18. Jhrhdt. in die Stadtbibliothek als Leihgabe. Der Inhalt seit 1945 teilweise verschollen.

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Variante der Tragfußbüste betrachtet werden. Diese weist noch, summarisch angedeutet, rechts und links, Haarsträhnen auf. Ihre Formen sind etwas härter in der Ausarbeitung als die des Griffes. Dieser Tragfuß, mit der vollrund gedrechselten Büste eines Mannes, zählt entschieden zu den Seltenheiten. Die Rosenborger Gruppe der Zickarbeiten weist ferner eine seltener vorkommende Form der Contrefaitkugeln auf, in­ dem sich in der Kugel ein gedrechselter Elfenbeinlustre befindet. Außer den bereits erwähnten Darstellungen von Jesus und Maria finden sich an den Medaillons auch Wappen; wie erwähnt, sind in der überwiegenden Mehrzahl die Contrefaitkugeln mit den Bildern Christi und Mariä versehen. Die ande­ ren Ausführungen sind entschieden seltener anzutreffen. Details der Rosenborger Gruppe lenken die Blicke auf zwei Arbeiten des Kunstindustriemuseums30) in Kopenhagen. Die stark gewellte Form der Cuppa des kleineren Pokals, 29 cm hoch, findet sich aber auch bei den beiden Ar­ beiten des Victoria and Albert Museums, deren Basis in gleicher Form ge­ wellt ist. Die speziell süddeutsche Gestaltung dieser barocken Elemente zeigt jedoch auch ein Leuchter31) des Kurfürsten Maximilian I. von Bayern (1597 bis 1651) aus dem Besitz des Bayerischen Nationalmuseums, ist also nicht nur auf Nürnberg beschränkt. Hiezu ist zu bemerken, daß Regensburg mit drei Generationen Teuber, vor allem jedoch mit Zeller, ein ganz bedeutender Platz in der Geschichte der Kunstdrechslerei gebührt. Weder München noch Regensburg ist es jedoch gelungen, die durch den Handelsfleiß der Stadt Nürn­ berg weithin verbrachten Zick-Erzeugnisse in ihrer Ausbreitung irgendwie beeinträchtigen zu können. Außerdem sind die Teuber’schen Erzeugnisse, so­ weit wir sie aus seiner Tafel kennen, weit mehr Künsteleien, denn Stücke, die ihre Generation künstlerisch überlebten. Interessant ist jedenfalls, daß die künstlerische Herkunft von Elfenbein­ arbeiten von Zinn sich zeigen läßt. Ein Beispiel hiefür ist die Schraubflasche des Nationalmuseums Kopenhagen. Wie Rosenberg82) für J. Michael (Wil­ helm?) Hahn erwähnt, hat dieser in Zinn gearbeitet. Hahn ist jedoch eine noch zu wenig umrissene Persönlichkeit, als daß dies bereits weitere Schlüsse zuließe. Das Museum der Stadt Regensburg besitzt jedenfalls eine gedrech­ selte Zierflasche mit der in Zinn eingelegten umlaufenden Inschrift „Martin Christoph Täuber Regensburg 1684". Die Verbindung zu Zinn ist schon des­ wegen verständlich, weil die Zinnarbeiten vielfach fein nachgedreht wurden. Gegenstände des täglichen Gebrauchs wurden vielfach in Elfenbein nach­ geformt, so z. B. die Gewürzbüchsen, wie wir auch Schminkbüchschen kennen. 30) Kopenhagen, Kunstindustrimuseum A 52/1948, 29 cm hoch. Ausgestellt NY Carls­ bergfonds Jubiläums Udstilling 1952, Ktlg. No 503, erworben aus Oie Olsen’s Auk­ tion III (Kopenhagen, Winkel og Magnussen) No 672. A 53/1948 erworben, gleiche Auktion, No 674, 60 cm hoch; daselbst abgebildet. 31) Abgebildet bei Pelka „Elfenbein", 2. Aufl. Berlin 1923, No 273. 32> M. Rosenberg: „Der Goldschmiede Merkzeichen", Frankfurt 1911, 2. Auf!., S. 595, No 3424; Berlepsch, „Chronik der Goldschmiedekunst", S. 162, bezeichnet Hahn als Goldschmied. Hahn’s Zinnbecher mit Schließ Vorrichtung, abgebildet in Zeitschrift f. hist. Waffenkunde IV, S. 363; beschrieben daselbst, S. 364/65, durch Alfons Diener-Schönberg. 7.3*

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Aus dem Besitz des Nationalmuseums in Kopenhagen stammen zwei elfenbeinerne gedrechselte Leuchter, deren Form engste Anlehnung an Messing­ leuchter Nürnberger Provenienz hat, also Beispiele dafür, daß die Kunst­ drechsler nicht nur prunkvolle Schaustücke schufen. Zur Kulturgeschichte des deutschen Raumes hat Nürnberg einen wichtigen und interessanten Sonderbeitrag geleistet, zu einem Kapitel der Medizin­ geschichte. Hier hat das Elfenbein immer eine wesentliche Rolle gespielt; kommt doch sein Glanz dem Eindruck des menschlichen Körpers sehr nahe. Durch Herstellung wissenschaftlich brauchbarer Demonstrationsobjekte wird das anatomische Modell in Elfenbein ein bedeutungsvolles Mittel für die ärztliche Ausbildung. Es ist vor allem nicht so gefährdet wie das Wachs­ modell, das allein durch zu große Hitze ein plötzliches Ende nehmen oder zumindest in die Gefahr der ungewollten Deformierung geraten kann. Die Zweckbestimmungen der beiden Materialien lagen im übrigen in verschie­ denen Bereichen; denn das Wachsmodell sollte in erster Linie optisch wirken, etwa das Aussehen von Pesttoten 33) oder Leichen in Verwesung zeigen, wo­ hingegen das Elfenbeinmodell die Aufgabe hatte, Demonstration am leben­ den Körper vorzubereiten. Wir kennen anatomische Elfenbeinmodelle von Augen34), Ohren und Ganzfiguren beiderlei Geschlechtes, deren Brust- und Bauchdecke abhebbar sind und einen Blick in das Innere tun lassen, in dem die einzelnen Organe plastisch zusammengefügt sind. Die weiblichen Figuren werden im Zeitpunkt der hochgradigen Schwangerschaft dargestellt, wobei der Embryo sogar mit der zumeist rot gefärbten Nabelschnur dargestellt ist. Wie für Nürnberg nicht anders zu erwarten ist, hat wieder die Familie Zick den Vorrang in der Be­ handlung des Elfenbeins nicht aufgegeben; nur ein anderes Familienmitglied tritt hier deutlicher hervor, nämlich Stephan Zick. In der wichtigsten Elfenbeinliteratur schwankt der jeweilige Bearbeiter jeweils zwischen zwei Namen, wenn er die Bestimmung eines dieser anonymen Modelle vornehmen soll. Zwei Namen tauchen immer auf: Johann Michael Hahn und Stephan Zick. Hier erscheint es nun wünschenswert, einen ganz entscheidenden Punkt festzuhalten, nämlich die Lebensdaten der beiden Künstler. Der erstere, Hahn aus Schweinfurt, wird erst geboren, als Zick in Nürnberg stirbt. Der Unter­ schied des Zeitraumes ist unbeträchtlich, denn Hahn wird 1714 geboren, wäh­ rend Zick ein Jahr später, 1715 stirbt. Dieses Argument wird zu sehr außer acht gelassen, ist jedoch entscheidend wichtig in der Beurteilung der anonymen 3S) Siehe: CIBA-Symposium, Band 3, Heft 6, Februar 1956, Basel; Abb. S. 197, „La Corruzione dei Corpi“, Wachsrelief von Giulio Gateano Zumbo (1656—1701), verwesende Pestleichen darstellend. Zumbo wurde, gleich Philipp Senger, von Cosimo 111. nach Florenz berufen und befaßte sich dort mit anatomischen Studien, als Plastiker. 34) Bereits vor Bscherer’s Kunstauge, ausgeführt von Stephan Zick, publiziert 1680, findet sich im Kunstkammer-Inventarium vom 1. August 1674, eine Eintragung, daß sich ein Auge in Elfenbein, verfertigt von Gyntelberg, auf dem Kopenhagener Schloß vorfand. Ein weiteres wird als in Venedig verfertigt angeführt.

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Stücke, die nur nach rein kulturhistorischen Elementen auf ihr Alter hin un­ tersucht werden können. In dem beigebrachten Abbildungsmaterial von Ar­ beiten Nürnberger Provenienz wird hier erstmalig ein äußerst wichtiges Bild gebracht, nämlich ein anatomisches Modell35), das ganz unzweifelhaft aus dem Zeitraum des Stephan Zick stammt. Die Allongeperücke ist hinreichend überzeugend, den Zeitpunkt mit aller wünschenswerten Deutlichkeit zu de­ monstrieren. Ihre Blütezeit fällt in die zweite Hälfte des 17. Jhrhdts., als Stephan Zick mit seinen Modellen beschäftigt war. In einer gesonderten Stu­ die habe ich eine größere Gruppe solcher Modelle zusammengefaßt, die alle über bestimmte Gruppenmerkmale verfügen und allein durch ihr verhältnis­ mäßig häufiges Vorkommen in verschiedenen Sammlungen zeigen, daß sie einer großen Werkstatt entstammen. Hier sei noch kurz angeführt, daß Stephan Zick’s sogenanntes Kunstauge 1680 in einem Nürnberger Druck30) auf einer Kupfertafel erstmalig abgebildet ist, während Doppelmayrs Stich ein halbes Jahrhundert später kommt. In der Texterläuterung zu dem Auge wird ange­ führt, daß das Auge von einem Verurteilten zu Demonstrationszwecken ver­ wendet wurde, ein Vorgang, der bekannt ist, denn unter normalen Umstän­ den war es kaum möglich auch nur zu einem Skelett zu kommen. Ein solches, hervorragend in Zweidrittel natürlicher Größe ausgeführt, hat das Grüne Gewölbe in Dresden, von der Hand des berühmten Elfenbeinschnitzers J. C. L. Lücke, besessen. Stephan Zick hat sich auch in der Fertigung von Ohren in Elfenbein ver­ sucht, doch darin keine glückliche Hand bewiesen. Jedoch auch solche Arbeiten unbestimmter Zuweisung finden sich in manchen öffentlichen Sammlungen. Jedenfalls nimmt Nürnberg durch die Zick — auch die Söhne haben sich be­ tätigt — eine wichtige Stellung in der deutschen Medizingeschichte ein. Von ausländischen Städten, welche mit Nürnberg in einem künstlerischen Austausch standen, nimmt — elfenbeinbetont — Florenz eine sehr wichtige Stellung ein. Der Zustrom nürnbergischer Kunstwerke in die dortige Samm­ lung der prachtliebenden Fürsten gibt uns nun heute die Möglichkeit, sonst entschwundenes Kunstgut zu sichten. Philipp Senger (Sänger, Sengher), in diesem Artikel bereits einmal erwähnt, tritt in der Inschrift eines Pokales auf, der sich heute im Besitz des Victoria and Albert Museums in London befindet, jedoch unzweifelhaft aus Florenz stammt. Hier nachfolgend die In­ schrift: FIL. SENGER. TORN. DEL. S. G. D. DI. TOSCANA. INVENT. S5) Eine Zuschreibung dieses Stückes, aus dem Besitz des Medizinisch-Historischen Museums der Universität Kopenhagen, an Stephan Zick, stützt sich auf das Faktum der zeitlichen Zuweisungsmöglichkeit durch die Allongeperücke, während die Zuschreibungen durch Berliner, Elfenbeinsmlg. Bayerisches Nationalmuseum, Katalog XIII, IV. Abtlg. No 638, sich nicht auf dieses Argument stützen kann und somit eine reine Hypothese darstellt. Aus diesem Grunde ist das Modell mit der Allongeperücke besonders wichtig. 86) Der Druck findet sich in der Stadtbibliothek Nürnberg unter der Signatur: Will 111.926.4°; die Abbildung eines solchen Kunstauges findet sich in „Kunst und Gewerbe“, Ztschrft. des Bayer. Gewerbemuseums Nürnberg, Jhrgg. 15, Nürnberg 1881, S. 179, Fig. 3. Auf der vorhergehenden Seite die Abbildung der in diesem Artikel besprochenen Arbeit aus dem Gewerbemuseum, die ebenfalls im Katalog der Sammlung, Nürnberg 1928, unter Fig. 55, vorgenommen wird.

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Dieser Pokal ist infolge eines Irrtums in Pelka’s Handbuch ELFENBEINS7) dem Marcus Heiden zugeschrieben. Wie sich aus der Auflösung der Inschrift aber klar ergibt, hat der Drechsler Philipp Senger den Pokal nach einer Idee des Großherzogs von Toskana gefertigt. Hiezu ist als terminus zu bemerken, daß der toskanische Fürst erst seit dem Jahre 1569 Großherzog sich nennen darf. Ein weiterer Pokal ebenfalls irrig bei Pelka geführt und aus dem glei­ chen Museumsbesitz trägt diese Inschrift: PRINCEPS F. MDCLXXXI. Es han­ delt sich hiebei somit um eine Arbeit des Prinzen Ferdinand aus dem Jahre 1681. Er war ein Schüler Sengers. Aus der Erfahrung anderer Fälle heraus ist die Zuweisung von Arbeiten kunstdrechselnder hoher und höchster Persönlichkeiten vielfach unter der Perspektive zu betrachten, daß das vollendete Schaustück wohl den Namens­ zug der betreffenden fürstlichen Person erhielt, jedoch in der Ausführung immer wieder die sehr persönliche Ausdrucksweise des lehrenden Kunstdrechs­ lers aufweist. Aus diesem Grunde sind die beiden Arbeiten eher als Sengersche Werke anzusehen. Im Konzept gleicht die Arbeit mit dem Namenszug des Prinzen Ferdinand sehr dem Elfenbeinpokal D 396 aus dem dänischen Nationalmuseum, indem die Deckelbekrönung in ähnlicher Weise hochwächst. Für Senger ist ja ein dänischer Aufenthalt bezeugt. Das Musee de L'Oeuvre de Notre Dame in Straßburg ist Besitzer einer Deckeldose, deren Metallfassung vergoldet ist. Die bodenseitige Inschrift weist auf einen Martin Zwirnlein, Nürnberg, hin. Ein weiteres Stück, Elfen­ beinrelief, das nicht in den Rahmen dieses Artikels gehört, mit offensichtlich gleicher Handschrift, legt die Auflösung eines daselbst geschnitzten Mono­ gramms in dem Sinne nahe, daß dieser Martin Zwirnlein auch bei dieser Dose der Künstler sein mag. Die Szene der Cuppa zeigt einen großenteils reitenden Troß, der die Be­ gleitung der bepackten Wagen bildet. Auf einem Wagen ein Spielmann, der sein Instrument betätigt. Man ist versucht, das Ganze als einen Kaufmanns­ troß zu betrachten, was man als ein für Nürnberg gut denkbares Motiv ansehen wird. Die Ausführung des Elfenbeinreliefs ist nicht von erster Hand, doch würde sich mit diesem Martin Zwirnlein wiederum ein neuer Name ergeben, nachdem sich auf dem Spezialgebiet des Elfenbeins ohnedies sehr wenige Benennungen auf effektiv kenntliche Namensträger stützen können. Zuviel geht in der Anonymität der Goldschmiedewerkstätten unter, für die lediglich die Meistermarke einen Namen ergibt, der in vielen Fällen für das Elfenbein nicht mit dem namengebenden Goldschmied übereinstimmt. Die Cuppa-Szene zeigt im Hintergrund einen Nadelbaum; das Geschehnis der Deckelszene muß nicht unbedingt mit der Cuppa-Szene übereinstimmen, denn auf der Deckelszene scheint ein Teil der kämpfenden Männer einen Tur37) Otto Pelka: Elfenbein, 2. Auflage, Berlin 1923, Band XVII der Bibliothek für Kunstund Antiquitäten-Sammler, Abb. 276; der andere irrig geführte Pokal Abb. 272. Es muß hier zu einer Verwechslung der Texte und Bildstellen gekommen sein, da auch weitere Arbeiten in der Nummerbezeichnung falsch figurieren.

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ban zu tragen. Audi die Burg im Hintergrund, bei beiden Szenen, ist in ihrer Zeichnung nicht übereinstimmend. Um nochmals abschließend auf das Thema des Namens des vermeint­ lichen Künstlers zurückzukommen, so muß bei solchen Beschriftungen immer eine gewisse Vorsicht walten. So erfreulich es ist, einen neuen, bisher über­ sehenen Namen wieder der Kunstgeschichte einfügen zu können, so sehr un­ terliegen diese Versuche oft der Gefahr eines Irrtums. Die Bezeichnung Mar­ tin Zwirnlein kann also nur mit Vorbehalt38) als richtig angesehen werden. Nürnberg als berühmte Handwerkerstadt hatte noch eine andere Speziali­ tät zu bieten, und zwar Zinnwaren. Jodocus Herman Uhlich, ein deutscher Kanzleisekretär, gibt dem dänischen König Aufklärung darüber, daß Nürn­ berg bei Zinn eine gleiche Spitzenstellung einnehme, wie Augsburg für Silber. Er habe auch einen Meister getroffen, Hans Spathsz, der solche Tafelservice anfertige, wie sie Graf Nostiz in Böhmen besäße und welche ganz den Silber­ arbeiten gleichen sollten. Uhlich ist erst am 8. Juni angekommen und berich­ tet bereits mit Schreiben vom 10. Juni über verschiedene Dinge, und macht dabei die vorerwähnten Nürnberger Angaben. Er führt noch einen Hinweis auf eine Uhr aus Elfenbein an, auf welche er ein Angebot gemacht habe, so wie er in einem Brief vom 4. Juli bemerkt, daß die Preise für geschnitzte Rhinozeroshornbecher sehr verschieden seien. Sie seien kompliziert zu be­ schreiben, doch wenn der König es wünsche, so könne er solche auf Risiko und Rechnung des Königs ohne große Schwierigkeiten senden. Es finden sich jedenfalls noch heute in der Sammlung des Nationalmuseums solche Becher, die stilistisch aus dieser Zeit stammen könnten. Im Kunstkammer-Inventar von 1674 8Ö) ist allerdings auch ein Rhinozeroshornbecher angeführt, den Kai­ ser Rudolf II. selbst gemacht haben soll Uhlich teilt im ersten Brief40) mit, daß er 10 Zentner Zinn des besten Schönefeldischen (?) bestellt habe, nachdem er bei Georg Michael schon vorher 15 Zentner vorgefunden habe. Im zweiten Brief berichtet er in langer Suada über einen 53karätigen Saphir und gibt hiezu einen kleinen querovalen Kupferstich, angesiegelt an das Schreiben, mit. Dieser soll zur Illustrierung der Historie dienen, zeigt jedoch nicht den Saphir. In einem weiteren Schrei­ ben, 20. Juni, wird eines „fürtr effliehen Kunsthändlers Nahmens Georg Lan­ gen" Erwähnung getan, im nachfolgendem, 4. Juli, eines weiteren Kunst­ händlers Paul Fürst. So folgt der letzte Brief, 12. September, worin wir Aus­ kunft erhalten, daß Uhlich aus Augsburg41) eine Amsel besorgt habe, welche 38) In der gleichen Museumssammlung befindet sich das Elfenbeinrelief, Inv.-No IL. 68, dessen Monogramm-Auflösung, gleich der Zwimlein-Dose am Boden angeschrieben, nach unserer heutigen Kenntnis dieses Monogramms irrig vorgenommen ist. Die Handschrift ist die gleiche wie bei der Zwirnlein-Dose. 39) Abgedruckt in „Kunstkammeret“ a.a.O., S. 164. 40) Rigsarkiv (Reichsarchiv) Kopenhagen: T.C.U.A. Realia, Litr. 70, Briefe mit Datum 10. VI., 17. VI., 20. VI., 4.VII., 12. IX. Jahreszahl fehlt! 41) In der mir nicht zugänglichen Wagenseil’schen Commentatio de Civitate Norimbergensi (zitiert nach Bering-Liisberg), soll erwähnt sein, daß die erwähnte Amsel aus Nürnberg war. Wie sich aus Uhlichs Brief ergibt, stammt sie also aus Augsburg. Sie war des­ wegen so berühmt, weil sie sechs verschiedene Melodien hervorbringen konnte.

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später in Kopenhagen eintrifft, und zwar in Begleitung eines Webers, Chri­ stoph Haffner, der weitaus mehr zur Unterhaltung in musikalischer Hinsicht leisten konnte, als die Amsel. Der König wollte ihn gerne bei sich behalten, aber nach 14 Tagen reiste der Nürnberger wieder heim. In Kopenhagen hatte man jedoch einen Eindruck mehr, daß Nürnberg eine Stadt vielfältiger Mög­ lichkeiten war, deren Bürger nicht nur kunstfertige Arbeiten zu schaffen ver­ standen, sondern auch auf andere Weise den Ruhm der Stadt verbreiteten.

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