Mitspielfähigkeit: Sportliches Training als formative Praxis [1. Aufl.] 9783839429327

How do social practices and »their« subjects affect each other? Micrological analyses of the formative practice of sport

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German Pages 290 Year 2014

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Mitspielfähigkeit: Sportliches Training als formative Praxis [1. Aufl.]
 9783839429327

Table of contents :
Editorial
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Zugänge zum Handeln im Sport
2. Theoretischer Rahmen für die empirische Analyse
3. Methodik
4. Eine Praxeografie sportakrobatischen Trainings
Fazit
Literatur

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Kristina Brümmer Mitspielfähigkeit

Praktiken der Subjektivierung | Band 5

Kristina Brümmer

Mitspielfähigkeit Sportliches Training als formative Praxis

Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät IV – Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Kristina Brümmer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2932-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2932-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Prof. Dr. Sabine Kyora, Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche Literatur der Neuzeit Prof. Dr. Gesa Lindemann, Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, Institut für Evangelische Theologie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Systematische Theologie und Religionspädagogik Prof. Dr. Norbert Ricken, Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Fachrichtung Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft Prof. Dr. Reinhard Schulz, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Philosophie Prof. Dr. Silke Wenk, Kulturwissenschaftliches Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Kunstwissenschaft

Kristina Brümmer (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich »Soziologie und Sportsoziologie« des Instituts für Sportwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie der Praktiken, des Körpers und des Sports, Konzepte praktischen Wissens, Ethno- und Praxeografie sowie Abstimmungs- und Subjektivierungsprozesse im Sport.

Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie und Sportsoziologie Prof. Dr. Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Neuere und Neueste Geschichte Prof. Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Gunilla Budde, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Prof. Dr. Rudolf Holbach, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte des Mittelalters Prof. Dr. Johann Kreuzer, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Philosophie

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung | 9 1. Zugänge zum Handeln im Sport | 19 1.1 Sportpsychologische Handlungs(regulations)theorien | 19 1.2 Theorien ‚anderen Wissens‘ | 26 1.2.1 Heuristiken und Intuitionen im Sport | 28 1.2.2 Implizites Wissen im Sport | 31 1.2.3 Polanyis Theorie impliziten Wissens und ihre Rezeption in der Sportpsychologie | 34 Implizites Wissen als Bewegungsgefühl | 36 1.2.4 1.2.5 Affordanzen und implizites Wissen | 42 1.3 Erstes Zwischenfazit | 44 1.4 Sportliches Handeln in praxissoziologischer Perspektive | 45

2. Theoretischer Rahmen für die empirische Analyse | 49 2.1 Praxeologische Grundannahmen | 50 2.1.1 Vorbemerkung zum Verhältnis von Praxeologie, Empirie und Sport | 52 2.1.2 Die Überindividualität und Kollektivität von Praktiken | 53 Die lokale und materielle Situiertheit und 2.1.3 die spezifische Temporalität von Praktiken | 55 2.1.4 Die Körperlichkeit von Praktiken | 56 2.1.5 Die Normativität und Intentionalität von Praktiken | 59 2.1.6 Die Öffentlichkeit und prinzipielle Beobachtbarkeit von Praktiken | 60 2.1.7 Das Verhältnis von Praktiken und Handlungen | 62 2.2 Die praxeologischen Zugänge in der Diskussion | 64 2.2.1 Die Fortschreibung etablierter Dualismen | 65 2.2.2 Praktiken als gelingende Routinen | 66 2.2.3 Die Formierung von Mitspielern: Inkorporierung oder Subjektivierung? | 70 2.3 Zusammenführung: Forschungsfragen | 75

Methodik | 79 3.1 Grundzüge ethno- und praxeografischer Forschung | 80 3.1.1 Ethno- und Praxeografie als Forschungshaltungen | 80 3.1.2 Das Verhältnis von Empirie, Theorie und Methodik: Die Konstruktion des Forschungsgegenstandes | 83 3.2 Eigenes Vorgehen | 87 3.2.1 Die Auswahl des Feldes | 87 3.2.2 Der Feldzugang und die frühen Phasen der Beobachtung | 89 3.2.3 Der Rückzug aus dem Feld | 96 3.2.4 Die Einführung der Videokamera | 100 3.2.5 Videogestützte Interviews als ergänzende Methode der Beobachtbarmachung | 103 Die Subjektivierung von Praxeografierfähigkeit | 105 3.2.6 3.3 Ausblick auf das folgende Kapitel: Die Fallanalysen | 109

3.

4. 4.1 4.2 4.3

Eine Praxeografie sportakrobatischen Trainings | 113

Die Sportakrobatinnen-Gruppe als Community of Practice | 113 Die Choreografie: tänzerische und akrobatische Praktiken | 119 Mikroanalysen der sportakrobatischen Trainingspraxis | 125 4.3.1 Der disziplinierende Auftakt | 127 Das Üben und der Vollzug akrobatischer Praktiken: 4.3.2 Fälle eins bis drei | 139 4.3.2.1 Begründung der Fallauswahl | 139 4.3.2.2 Fall eins – Die Organisation eines Eintritts | 144 4.3.2.3 Fall zwei – Die Diagnose und Bearbeitung eines Problems | 169 4.3.2.4 Fall drei – Der selbstorganisierte Umgang mit Unsicherheit | 191 4.3.3 Zweites Zwischenfazit | 206 4.3.4 Die Entstehung und Aneignung neuer Praktiken: Fälle vier und fünf | 214 4.3.4.1 Vorbemerkung | 214 4.3.4.2 Fall vier – Die Umarbeitung einer akrobatischen Praktik | 217 4.3.4.3 Fall fünf – Die transformierende Aneignung einer tänzerischen Praktik | 232

Fazit | 251 Literatur | 271

Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs 1608 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“ an der Carl von Ossietzky Universität entstanden ist. Da das Buch ohne die Unterstützung einer Vielzahl von Personen sicher nicht fertig geworden wäre, möchte ich mich an dieser Stelle bei den wichtigsten von ihnen bedanken. Mein besonderer Dank gilt zunächst Thomas Alkemeyer, der mir während der letzten Jahre als Betreuer nicht nur stets mit Rat und Tat zur Seite stand, sondern mich immer wieder auch ermutigt hat, am Ball zu bleiben. Bei Jürgen Streeck bedanke ich mich für seine konstruktiven Hinweise und seine nachdrücklichen Ermahnungen, dem empirischen Material bis in seine kleinsten Details hinein die allergrößte Aufmerksamkeit zu schenken. Auch Dagmar Freist und Robert Gugutzer danke ich für ihre Beiträge zum Abschluss meiner Promotion. Einen ebenso großen Anteil an der Fertigstellung der Studie wie die wissenschaftlichen Betreuer und Gutachter haben die Sportakrobatinnen, die mich zwei Jahre lang als Teil ihrer Gruppe akzeptiert, mir zahlreiche Fragen beantwortet und für Interviews zur Verfügung gestanden haben. Bedanken möchte ich mich vor allem bei den Trainern ‚Melanie‘ und ‚Christoph‘ sowie bei ‚Diana‘; sie haben mir mit viel Geduld und großer Aufgeschlossenheit tiefe Einblicke in die faszinierenden Welten des Leistungssports und der Sportakrobatik ermöglicht. Ich hatte und habe das große Glück, Teil eines tollen Arbeits- und Diskussionszusammenhangs zu sein. Ein wichtiger Teil meines Danks gilt deshalb meinen Kolleginnen aus dem Arbeitsbereich „Soziologie und Sportsoziologie“ sowie meinen Mitstreitern aus dem bereits erwähnten Graduiertenkolleg für ihre vielfältigen Formen der fachlichen, handwerklichen und persönlichen Unterstützung bei der Erstellung der Arbeit. Stellvertretend für sie seien insbesondere Alexandra Janetzko, Robert Mitchell und Roman Eichler genannt, die mir während der Promotionsphase stets nicht nur wichtige Gesprächspartner, sondern

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auch gute Freunde waren. Auch Anna, Nadine, Melvin und David haben – als langjährige Weggefährtinnen und fortwährende Motivationshilfen – ihren je eigenen wichtigen Teil zum Erfolg beigetragen. Zu guter Letzt gilt mein spezieller Dank meinen Eltern und Carlos: für ihre allumfassende Unterstützung und Zuversicht auch und insbesondere in den Phasen, in denen ich nahezu unausstehlich war, sowie ihren unerschütterlichen Glauben an mich und meine Arbeit. Oldenburg im Januar 2015

Kristina Brümmer

Einleitung

E RKENNTNISINTERESSE Es liegt geradezu auf der Hand, dass Sportler1 regelmäßige und langwierige Trainingsprozesse durchlaufen müssen, in deren Zuge sie eine Reihe unterschiedlicher Wissensbestände und Fähigkeiten erwerben, bevor sie im Sport bzw. im Rahmen der verschiedenen Sportarten handeln und als Mannschaftskollektiv zusammenspielen können. Trotz dieser Evidenz sowie des Umstandes, dass das Phänomen des (sozialen) Handelns bereits von Max Weber (1984) als der Gegenstand der Soziologie identifiziert wurde, erweisen sich die Fragen nach der Mikrologik eines gekonnten Agierens im Sport sowie der Entwicklung sportlicher Handlungs-, Mit- und Zusammenspielfähigkeit – sieht man von einigen wenigen Ausnahmen einmal ab – im Bereich der Sportsoziologie als nahezu unbearbeitet. Wie Alkemeyer (2006) diagnostiziert, gilt das Interesse einer Soziologie des Sports nach wie vor in erster Linie dessen Organisationsstrukturen, ökonomischen, politischen und institutionellen Rahmenbedingungen sowie Regeln und Vorgaben. So ist im Bereich der Sportsoziologie ein bemerkenswerter Korpus von systemtheoretischen Arbeiten vorfindbar, deren Interessensschwerpunkte zum einen auf der historischen Entwicklung des Sports als sozialem System (vgl. z.B. Cachay/Thiel 2000) oder zum anderen auf den Chancen und Grenzen der Inklusion bzw. Integration unterschiedlicher sozialer Gruppen in den (Vereins- oder Schul-)Sport (vgl. z.B. Kleindienst-Cachay/Cachay/Bahlke 2012; Teubert 2009) liegen. Unausgeleuchtet bleibt dabei jedoch, wie im Anschluss an

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Zum Zweck der besseren Lesbarkeit wird in der Arbeit mit der Ausnahme des empirischen Teils (Kapitel vier), in dem mit der Verwendung der weiblichen oder männlichen Funktionsbezeichnungen (Trainer, Sportlerinnen) ausdrücklich nur Akteure des bezeichneten Geschlechts gemeint sind, das generische Maskulinum verwendet. Das weibliche Geschlecht ist dabei jeweils mitgemeint.

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die Inklusion die strukturellen Rahmenbedingungen im und durch das konkrete Agieren der Teilnehmer ausgestaltet und durch Training praktisch zu füllen gelernt werden. Die vorliegende Arbeit macht sich die Bearbeitung eben dieses Forschungsdesiderats zur Aufgabe. In der soziologischen Teildisziplin der Sportwissenschaft weitgehend vernachlässigt, fällt die Frage nach den Voraussetzungen eines (zunehmend) versierten Agierens im Sport hauptsächlich in den Hoheitsbereich ihres psychologischen Forschungszweiges, in dem es im Verlauf der vergangenen 25 Jahren zu einigen maßgeblichen Umorientierungen gekommen ist. Bis in die 1990er Jahre hinein dominierten in der Sportpsychologie solche Zugänge, die sich in Anlehnung an etablierte Handlungstheorien ihrer Mutterdisziplin in erster Linie für die mentale Organisation von sportlichen Handlungen sowie die dem manifesten Tun vorausgehenden Denk-, Planungs- und Entscheidungsakte und expliziten Sinn- und Wissensgehalte interessieren. Im Zuge einer fächerübergreifenden Aufmerksamkeitsverschiebung gewinnen seither jedoch zunehmend solche Deutungsangebote an Einfluss, die die Implizitheit sowie mitunter auch die Körperlichkeit handlungsleitenden Wissens unterstreichen und empirisch zu belegen versuchen. Festgehalten wird von diesen alternativen Konzeptionen gleichwohl an einem für die handlungstheoretischen Ansätze der Sportpsychologie charakteristischen methodologischen Individualismus, in dem die Vorstellung zum Tragen kommt, dass soziale Zusammenhänge – im Falle des Sports also beispielsweise Spiele und Teamprozesse – als Summe der Einzelhandlungen individueller Akteure zu betrachten und zu erforschen sind.2 Auf geradezu symptomatische Weise zeigt sich dieser methodologische Individualismus in einem im Jahr 2012 publizierten Kommentar des renommierten Sportpsychologen Oliver Höner, in dem dieser Folgendes proklamiert: „Gemeinsam war jedoch sämtlichen Erfolgen [der Fußballmannschaften, die in 2012 die Europameisterschafts- und Champions-League-Finals erreichten; KB], dass sie auf einer hohen Qualität von Einzelspielern basierten.“ (Höner 2012: 270) Den verschiedenen sportpsychologischen Erklärungsansätzen und Untersuchungen unterliegt die Vorstellung souveräner und (im Rahmen der verschiedenen Konzeptionen auf unterschiedliche Weisen)

2

Hand in Hand geht mit dem methodologischen Individualismus dabei vielfach eine Art Kontextinsensitivität, die sich darin äußerst, dass für empirische Untersuchungen experimentelle Versuchsanordnungen eingerichtet werden und von den in diesen Anordnungen gewonnenen Erkenntnissen über die Prinzipien und Grundlagen eines gekonnten sportlichen Handelns auf ein Handeln in den üblichen Kontexten von Training und Wettkampf geschlossen wird.

E INLEITUNG

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wissender Sportler-Subjekte, aus deren Mitte heraus den Voraussetzungen und Prinzipien sportlichen Handelns auf den Grund gegangen wird. Mit dem Ziel, einen plausiblen Gegenvorschlag zu den sportpsychologischen Erklärungsansätzen zu formulieren und zur Schließung der eingangs identifizierten Forschungslücke beizutragen, wird für die Entwicklung einer theoretischen Optik, mit deren Hilfe am Beispiel sportakrobatischen Trainings3 das Machen von Sport und die Entwicklung sportlicher Handlungs- und Mitspielfähigkeit empirisch untersucht werden sollen, auf einschlägige neuere praxissoziologische Konzeptionen (insb. Reckwitz 2003; Schatzki 2002; Schmidt 2012) zurückgegriffen. Charakteristisch für diese ist die Überzeugung, die Analyse des Sozialen gerade nicht bei einzelnen, gleichsam ‚naturwüchsig‘ handlungsfähigen und wissenden Subjekten sowie deren individuellen Handlungen zu beginnen, sondern sie an sozialen Praktiken – etwa dem Fußballspielen, dem Autofahren, dem Halten eines Vortrags – anzusetzen. Unter Praktiken werden dabei in den genannten Zugängen organisierte, typisierte und wiedererkennbare Bündel bzw. Verkettungen von Aktivitäten verstanden, die durch eine irreduzible Kollektivität und Überindividualität, konkrete Situiertheit, Körperlichkeit und Beobachtbarkeit sowie eine spezifische Normativität und Intentionalität charakterisiert sind. Akteure interessieren in einer solchen Perspektive als Mitspieler4 dieser Praktiken unter anderen, die erst und nur in ihrer Teilhabe an diesen Praktiken zu handlungs- bzw. genauer: mitspielfähigen Subjekten werden. Die Anlegung einer praxeologischen Optik rückt Fragen danach in den Blick, welche Wissensbestände und Fähigkeiten das Mitspielen-Können in Praktiken verbürgen und auf welche Weisen Mitspielfähigkeit5 in Praktiken überhaupt erworben wird.

3

Vgl. Kapitel 3.2.1 für die Erläuterung der Gründe der Auswahl gerade dieses empirischen Gegenstandes.

4

Es gibt eine ganze Reihe praxissoziologischer Arbeiten, die sich einer „Heuristik des Spiels“ (Schmidt 2011: 38) oder des Sports bedienen, um oft übersehene Dimensionen des Sozialen (z.B. seine Körperlichkeit und Implizitheit) kenntlich zu machen (vgl. genauer Kapitel 2.1.1). Der Gebrauch der Begriffe Mitspieler und Mitspielfähigkeit erklärt sich vor diesem Hintergrund.

5

In den Theorien, die zur Entwicklung dieser Forschungsfragen herangezogen werden, ist der Begriff des Wissens prominenter als der der Mitspielfähigkeit. Aus folgendem Grund wird für die vorliegende Arbeit trotzdem letzterer favorisiert: Unter den Wissensbegriff werden zumeist erworbene und erlernte Gehalte subsumiert, die dem praktischen Tun zu Grunde liegen, dieses organisieren und zu einer sinnvollen und zielgerichteten Aktivität machen (vgl. für die Verwendung des Wissensbegriffs in der Soziologie z.B. Knoblauch 2008). Als Wissen gelten dabei Gehalte, die auf die Erledigung

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Im Feld soziologischer Theorien ist den Praxistheorien das Verdienst zuzusprechen, für eine systematische Berücksichtigung ansonsten vielfach übersehener Dimensionen des Sozialen – etwa seiner genuin körperlichen und impliziten, d.h. vorbewussten und nicht-sprachförmigen oder -diskursiven, Aspekte sowie insbesondere auch seines Vollzugscharakters – Sorge zu tragen. Plausibilisiert wird die Forderung zur Ernstnahme dieser oft vergessenen Seiten des Sozialen häufig anhand von Beispielen aus dem Bereich des Sports (vgl. Kapitel 2.1.1). Nicht zuletzt deshalb scheinen diese Ansätze wiederum für die empirische Analyse von Phänomenen aus den Bereich des Sports oder des sportlichen Trainings geradezu prädestiniert. Im Zuge einer für die Anfertigung der vorliegenden Arbeit angestellten ausgiebigen Theoriearbeit sowie der Erprobung praxissoziologischer Prämissen am Gegenstand des sportakrobatischen Trainings unter den oben skizzierten Fragestellungen wurde jedoch deutlich, dass die herangezogenen praxissoziologischen Arbeiten zu drei Vereinseitigungen tendieren, die wichtige Merkmale und Facetten des empirischen Gegenstandes zu verdunkeln drohen. Diesen Vereinseitigungen wird im Zuge der Ausarbeitung eines theoretischen Rahmens für die empirische Analyse kritisch und korrigierend begegnet.6 Erstens wird an den betreffenden praxistheoretischen Ansätzen kritisiert, dass ihr Interesse vorrangig impliziten und verkörperten Wissensgehalten gilt, wohingegen explizite und verbalisierbare Bestände in den Analysen weitgehend vergessen und damit Dualismen von implizit und explizit sowie sprachlich und körperlich, die diese Ansätze selbst zu überwinden beanspruchen, perpetuiert werden. Zweitens werden Praktiken zumeist als routinierte und sozial geregelte Vollzüge konzeptualisiert und untersucht, die selbstläufig und störungsfrei über ihre Teilnehmer hinweg prozessieren und diese für ihre Ziele und Zwecke „rekrutieren“ (Schmidt 2012: 218; Shove/Pantzar/Watson 2012: 63). Übersehen werden mit einem solchen Verständnis von Praktiken die Interaktionen sowie die Bewältigungsanstrengungen, Eigeninitiativen und verschiedenen Formen des Engage-

bestimmter Aufgaben gerichtet sind, also funktionale Bestände, welche die praktische Bewältigung sich stellender Aufgaben verbürgen. Begreift man nun Wissen als einzig relevante Ressource für den Vollzug von Aktivitäten, gerät aus dem Blick, dass und inwiefern für die praktische Erledigung bestimmter Aufgaben auch Aspekte wie Motivation, Engagement, Disziplin, Konzentration oder Vertrauen eine Rolle spielen. Mit dem Begriff der Mitspielfähigkeit sollen eben diese vielfältigen Voraussetzungen der Teilnahme an und des Vollzugs von Praktiken berücksichtigt werden. 6

Dies bedeutet zugleich, dass der als Optik für die empirische Analyse entwickelte und herangezogene Theorierahmen ist nicht allein literatur-, sondern bereits auch schon selbst „empiriegeladen“ (Hirschauer 2008a) ist.

E INLEITUNG

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ments (Goffman 2009) ihrer Teilnehmer, in und mit denen diese Praktiken eine bestimmte Richtung oder Gestalt geben und sie auf eine je spezifische – und dennoch wiedererkennbare – Weise ausformen. Drittens wird die Entwicklung von Mitspielfähigkeit in Praktiken im Rahmen der einschlägigen neueren praxissoziologischen Arbeiten zuallererst als vorbewusster Akt der Einschreibung von Wissen sowie Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata in Körper modelliert, in dessen Zuge die Teilnehmer auf die Anforderungskataloge einer betreffenden Praktik eingestellt und zum Vollzug routinierter Körperbewegungen befähigt werden. Aus dem Blick gerät dabei, inwiefern die Teilnehmer auch „gewußt und gewollt“ (Foucault 1986: 18) an ihrer eigenen Qualifizierung mitwirken und in diesem Prozess nicht nur Wissen und Fähigkeiten auf vorreflexive Weise in Körper eingeschrieben werden, sondern auch Reflexions- und Urteilsfähigkeiten Geltung erlangen, die es ihnen ermöglichen, sich – z.B. auch kritisch – zum praktischen Geschehen, in das sie involviert sind, zu positionieren und in diesem zu orientieren. Um die Bedeutung der Teilnehmer sowie ihrer subjektiven Zugänge in und zu Praktiken zu stärken, ohne dabei auf die Vorstellung souveräner und gleichsam ‚naturwüchsig‘ handlungsfähiger Subjekte zurückzufallen, wird die praxeologische Optik durch subjektivierungs- und interaktionstheoretische Überlegungen ergänzt und justiert. Diese analytische Erweiterung schließlich führt zu einer Präzisierung der forschungsleitenden Fragestellungen, die nun folgendermaßen zu spezifizieren sind: Welche Fähigkeiten und Wissensbestände verbürgen das Mitspielen-Können in sportlichen bzw. sportakrobatischen Praktiken, in welchen unterschiedlichen Modi (vom routinierten Mitmachen bis zum lenkenden und reflexiven Eingreifen) kann in diesen Praktiken ‚kompetent‘ mitgespielt werden, wie geben Teilnehmer den Praktiken in ihrem interaktiven Zusammenspiel eine spezifische Form und Richtung und wie erfolgt schließlich die Subjektivierung7

7

Mit dem Subjektivierungsbegriff sind ein besonderer Modus des Erwerbs sowie bestimmte Merkmale von Mitspielfähigkeit in Praktiken angesprochen. Besser als die in soziologischen Praxistheorien verbreiteteren Begrifflichkeiten der Sozialisation, Habitualisierung oder Inkorporierung, die primär auf die Anpassung von Teilnehmern an eingespielte Routinen und die vorbewusste Einschreibung von Wissen oder Schemata in Körper abheben, erlaubt er es, auch solche Fähigkeiten in den Blick zu bringen, die es den Teilnehmern von Praktiken erlauben, sich reflexiv zu sich stellenden Anforderungen, dem eigenen Tun oder auch dem der Mitspieler zu verhalten. Eine Analytik der Subjektivierung richtet die Aufmerksamkeit insbesondere darauf, dass sich Individuen bestimmter sozial regulierter und überindividueller Formen anbequemen und sich in kollektive Zusammenhänge einfinden müssen, um als handlungsfähige und zu-

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von Mitspielfähigkeit im sportakrobatischen Training?8 In diesem Sinne ist für die Arbeit insbesondere die Gleichzeitigkeit der Ausformung sportakrobatischer Praktiken und der (Selbst-)Bildung ihrer Mitspieler von Interesse. Ziel ist es, am empirischen Gegenstand des sportakrobatischen Trainings offenzulegen, wie Praktiken in den lokalen Interaktionen ihrer Teilnehmer vollzogen und ausgeformt werden und wie die Teilnehmer in demselben Prozess Wissen und Fähigkeiten erlangen, die ihnen unterschiedliche Möglichkeiten der kompetenten bzw. als kompetent anerkannten Partizipation an diesen Praktiken eröffnen. Sportliches Training interessiert in eben diesem Doppelsinn als formative Praxis. Während die analytische Kategorie Praktik sich nämlich vorrangig auf sozial geregelte Aktivitätenbündel bzw. routinierte Aktivitätentypen im Sinne empirisch identifizierbaren Entitäten oder Formen bezieht, rücken mit dem Begriff der Praxis stärker die Dimensionen des ausgangsoffenen Vollzugs und der lokalen Ausformung von Praktiken in den konkreten Interaktionen ihrer Teilnehmer in den Blick.9

rechenbare Subjekte Anerkennung zu finden. Gerade in dieser Einfindung werden sie gleichsam in ihrer körperlich-mental-affektiven Gesamtheit ergriffen und erlangen sie eine „Teilsouveränität des Handelns“ (Harrasser 2013: 127), die es ihnen ermöglicht, aktiv, gestalterisch und „wirksam“ (Jullien 1999) in praktische Zusammenhänge einzugreifen und zu diesen Stellung zu beziehen. Und zuletzt macht der Subjektivierungsbegriff auf ein Spannungsfeld aufmerksam, in dem sich der Erwerb von Mitspielfähigkeit in Praktiken abspielt: nämlich jenes von Eigenaktivität und Passivität, von aktivem Sich-selbst-zu-etwas-Machen und von Anderen-zu-etwas-gemachtWerden, von Selbst- und Fremdführungen (vgl. genauer Kapitel 2.2.3). 8

Bei der Unterscheidung dieser Fragen handelt es sich um eine analytische Differenzierung. Empirisch lassen sich das Mitspielen in Praktiken und der Erwerb bzw. die Subjektivierung praktikspezifischer Mitspielfähigkeiten nicht trennen und gehen Hand in Hand. Im Vollzug von Praktiken wird stets auch Mitspielfähigkeit (weiter-) entwickelt, wie Barry Barnes (2001: 25) betont: „Both riding in formation and acupuncture are practices learned from other people, in these instances from fellow occupants of specific occupational roles. And in both instances learning continues after the acquisition of ‘competent member’ status, as part of the business of participation in practice itself. It is part of the nature of a shared practice that learning what it is and enacting it are inseparable”.

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Vgl. zu dieser analytischen Unterscheidung von Praktiken und Praxis auch Alkemeyer/Buschmann (2015) sowie die Differenzierung von practice-as-entity und practice-as-perfomance in Shove/Pantzar/Watson (2012).

E INLEITUNG

Z UM AUFBAU

DER

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ARBEIT

Mit ihren Leitfragen positioniert sich die Arbeit im Schnittfeld von sportwissenschaftlichen Ansätzen zum (zunehmend) gekonnten Agieren im Sport, interdisziplinären Wissensdiskursen sowie soziologischen Körper-, Subjektivierungsund insbesondere Praxistheorien. Im ersten Kapitel wird zunächst der Stand sportwissenschaftlicher Forschungen zum Handeln im Sport dargelegt. Den Auftakt bilden dabei handlungs(regulations)theoretische Zugänge aus dem Bereich der Sportpsychologie (Kapitel 1.1). Subsumiert unter die von den Arbeitssoziologen Böhle et al. (2001) übernommene Überschrift des ‚anderen Wissens‘, erfolgt in Kapitel 1.2 die Hinwendung zu solchen Ansätzen, die im Vergleich mit den handlungstheoretischen Vorschlägen impliziten, intuitiven, verkörperten und erspürten Wissensbeständen ein besonderes Interesse schenken und damit eine Aufmerksamkeitsverschiebung in der Sportwissenschaft forcieren, die sich in ähnlicher Weise auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen beobachten lässt (vgl. auch Brümmer 2009). Beendet wird das zweite Kapitel schließlich mit einem abrissartigen Überblick über die Lage praxissoziologischer Forschungen zu Sport und sportlichem Training (Kapitel 1.3). Im zweiten Kapitel wird die theoretische Optik für die empirische Analyse sportakrobatischen Trainings umrissen. Dabei werden im ersten Schritt wesentliche Grundannahmen ausgewählter neuerer praxissoziologischer Arbeiten skizziert und gewürdigt (Kapitel 2.1). Im zweiten Schritt werden diese auf der Folie von Erkenntnissen aus den Bereichen soziologischer Interkations- und Subjektivierungstheorien sowie einer ersten Auswertung des empirischen Datenmaterials kritisch zur Diskussion gestellt, um so die eigene Analytik zu schärfen und zu korrigieren (Kapitel 2.2 und 2.3). Das dritte Kapitel widmet sich sodann der Darlegung der Forschungsmethodik. Die empirische Erforschung der sportakrobatischen (Trainings-)Praktiken und Prozesse der Subjektivierung sportakrobatischer Mitspielfähigkeit erfolgte im Lichte ethno- bzw. – zumal es in der Arbeit nicht primär um die Erforschung von Gruppen oder Ethnien, sondern von Praktiken geht –: praxeografischer Forschungsverfahren.10 Die interessierenden Praktiken und deren Teilnehmer wurden zur Erforschung in ihrem ‚natürlichen‘ Kontext auf- und in vivo untersucht. Dabei lag der Primat auf Methoden der (videogestützten) Beobachtung und (dichten) Beschreibung, mit deren Hilfe ein detailgenauer Blick auf jene Mechanismen des Vollzugs und der Ausformung von Praktiken sowie der sich in ihrem Rahmen ereignende Subjektivierungsprozesse geworfen wurde, die den Akteuren selbst in der Pragmatik und Evidenz des Alltäg-

10 Vgl. zur Unterscheidung von Ethnografie und Praxeografie Kapitel drei.

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lichen und Selbstverständlichen normalerweise verborgen bleiben (vgl. auch Schindler 2011a: 20). Methoden des Interviews und der Befragung, denen im Rahmen der meisten qualitativen Untersuchungen nach wie vor eine hegemoniale Bedeutung beigemessen wird, kam demgegenüber eine nachgeordnete Bedeutung und ergänzende Funktion zu (vgl. auch Reckwitz 2008a: 196). Die Auswertung des empirischen Materials erfolgte überdies vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass sich weder Theorien noch Methoden vor einen empirischen Gegenstand schieben dürfen, um den Eigenheiten des Feldes und seiner Praktiken sowie den Perspektiven der praktisch engagierten Akteure gerecht zu werden und diese nicht zu verdunkeln (vgl. auch Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991). Theorien wurden in dieser Hinsicht als die empirische Analyse rahmende und durch diese irritierbare Vorschläge verstanden, wie ein Gegenstand gesehen werden kann. Zugleich wurden auch Forschungsmethoden im Sinne einer „sensible[n] Methodologie“ (Blumer 1954 zit. nach Kalthoff 2008: 18) flexibel gehalten und den Erfordernissen und Besonderheiten des Feldes auf eine solche Weise angepasst, dass sie seine Praktiken bzw. die Aktivitäten seiner Teilnehmer unter den Vorzeichen des formulierten Erkenntnisinteresses besonders gut beobachtbar zu machen erlaubten. Im Methodenkapitel wird aus diesen Gründen auf die dezidierte Darlegung eines komplexen Methoden- und Analyseinstrumentariums verzichtet und stattdessen das eigene forschungspraktische Vorgehen offengelegt und transparent gemacht. Beim vierten Kapitel handelt es sich um den empirischen Teil und Kern der Arbeit. In ihm werden die Ergebnisse einer zweijährigen Phase der Feldforschung beim Training einer professionellen Sportakrobatinnen-Gruppe präsentiert. Zum Großteil ist dieses Kapitel in Fallanalysen organisiert, mit denen ein Detailblick auf die Mikrologik auf die sportakrobatische Trainingspraxis sowie die Akte der Subjektivierung sportakrobatischer Mitspielfähigkeit geworfen wird. Den Auftakt des vierten Kapitels bildet eine kurze Charakterisierung der Sportakrobatinnen-Gruppe (Kapitel 4.1). Hierauf folgt ein Abschnitt zur formalen Unterscheidung zweier Sorten sportakrobatischer Praktiken – der akrobatischen auf der einen und der tänzerischen auf der anderen Seite – sowie zu deren differenten Anforderungsstrukturen und Vollzugsprinzipien (Kapitel 4.2). Es schließt sich die praxeografische Beschreibung und Analyse des sportakrobatischen Trainings an (Kapitel 4.3). Dabei wird zunächst die typische Anfangsphase des Trainings betrachtet und verschiedene Praktiken des Aufwärmens, Vorbereitens und Einstellens der Sportlerinnen auf die folgenden Trainingsanforderungen identifiziert. Es folgen Detailanalysen fünf ausgewählter Trainingsepisoden, mit denen die Prinzipien der Einübung und des Vollzugs akrobatischer und tänzerischer Praktiken ausgeleuchtet werden. Im Fokus der ersten drei Fallanalysen

E INLEITUNG

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(Kapitel 4.3.2.2 bis 4.3.2.4) stehen der Vollzug und die Einübung akrobatischer Praktiken. Das Interesse gilt im Rahmen der Analysen dieser Trainingsepisoden hauptsächlich Fragen danach, wie die Teilnehmer des Feldes, d.h. Akrobatinnen und Trainer, mit den Anforderungen dieser Sorte von Praktiken umgehen, sie diese in ihren lokalen Interaktionen und transsituativ, d.h. über verschiedene Situationen hinweg, gemeinsam bewältigen und sich dabei zu kompetenten Mitspielern machen bzw. voneinander zu solchen gemacht werden. Die ersten drei Fallanalysen beziehen sich auf unterschiedliche akrobatische Praktiken und Akrobatinnenkonstellationen verschiedener Kompetenzniveaus. In der ersten Fallanalyse wird vornehmlich danach gefragt, wie die Neueinsetzung einer Teilnehmerin in eine ihr noch weitgehend unbekannte Praktik erfolgt, vor welche Herausforderungen dies alle Beteiligten stellt und in welchen Schritten ihr Eintritt und ihre Qualifizierung organisiert werden (Kapitel 4.3.2.2). Im zweiten Fall geht es demgegenüber darum, wie unter Eingriff des Trainers Probleme einer Sportlerinnen-Gruppe bei der Ausführung einer akrobatischen Praktik zu bearbeiten und Unsicherheiten einzuhegen versucht werden (Kapitel 4.3.2.3). Der dritte Fall schließlich rückt den selbstorganisierten Umgang mit auftretenden Ausführungsproblemen in den Blick, interessiert sich also dafür, wie die an einer akrobatischen Praktik beteiligten Sportlerinnen ohne Trainerhilfe mit Problemen und Unsicherheiten umgehen und sich als Team zu arrangieren und zu organisieren suchen (Kapitel 4.3.2.4). Im Vergleich mit den Fällen eins bis drei sind die Fälle vier und fünf thematisch etwas anders gelagert und untersuchen Prozesse der Ausformung und Aneignung11 neuer, d.h. allen Teilnehmerinnen zunächst unbekannter, akrobatischer (Kapitel 4.3.4.2) und tänzerischer (Kapitel 4.3.4.3) Praktiken. Der Analysefokus liegt im Fall der letzten beiden Trainingsepisoden auf der Frage danach, wie Schritt für Schritt und unter Beteiligung verschiedener, menschlicher und nicht-menschlicher, „Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004: 73) Neues hervorgebracht und verstetigt wird. Mit der im Rahmen der vorliegenden Arbeit durchgeführten praxeografischen Studie sportakrobatischen Trainings ist die Hoffnung verbunden, in dreifacher Hinsicht zu einer Verfeinerung und Komplementierung bereits vorhandener Arbeiten und gewonnener Erkenntnisse beizutragen: Erstens soll die Arbeit einen Beitrag zu aktuellen praxissoziologischen Diskussionen und diesen angrenzenden Diskursen (etwa der Körper- oder Wissenssoziologie) leisten und in methodologischer Hinsicht Wissen über Dimensionen und Aspekte einer praxeografischen Erforschung des Sozialen und des Sports bereitstellen. Zweitens soll die Arbeit auf gegenstandsbezogener Ebene zu einer Präzisierung der Einsichten

11 Vgl. zum Aneignungsbegriff genauer Kapitel 4.3.4.3.

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über das Machen von Sport sowie sportliches Training beitragen und damit den einschlägigen sportwissenschaftlichen Diskurs über diese Themenbereiche ergänzen. Und drittens ist mit der Arbeit die Hoffnung verbunden, dass die am Beispiel der praxeografischen Erforschung sportakrobatischen Trainings gewonnenen Erkenntnisse auch in allgemeinsoziologischer Hinsicht von Relevanz sind – etwa im Hinblick auf das Verständnis der Hervorbringung und Wechselseitigkeit von sozialen Ordnungen und ‚ihren‘ Subjekten. Ausgelotet werden diese Beitragspotenziale im Fazit der Arbeit.

1. Zugänge zum Handeln im Sport

1.1 S PORTPSYCHOLOGISCHE H ANDLUNGS ( REGULATIONS ) THEORIEN In den zwei Dekaden zwischen 1970 und 1990 bestimmten handlungs(regulations)theoretische Konzeptionen, die ihren Weg von der Psychologie in die Sportwissenschaft fanden, die Diskussionen um ein versiertes Agieren im Sport maßgeblich mit. Mit ihrer Durchsetzung endete die Blütezeit des Behaviorismus und gewannen ein anderes Menschenbild sowie ein alternatives Verständnis von menschlicher Aktivität an Deutungsmacht. Waren der Mensch im Rahmen behavioristischer Denkmodelle noch als informationsverarbeitendes System begriffen und seine Aktivität als lineare Reiz-Reaktion-Kopplung beschrieben worden, rückten im Zuge der sogenannten kognitiven Wende Prozesse in den Mittelpunkt des Interesses, die sich zwischen Reiz und Reaktion im Inneren des Menschen abspielen. Seither wird systematisch – und in Anlehnung an die von Max Weber 1921 in seinem Werk Wirtschaft und Gesellschaft eingeführte Differenzierung – zwischen Verhalten und Handeln unterschieden.12 Während der Begriff des Verhaltens für unwillkürliche und reaktive körperliche Aktivitäten reserviert wird, bleibt der Begriff des Handelns solchen Fällen vorbehalten, in denen der Mensch als aktiver Urheber seines eigenen Tuns auftritt, sich selbst bewusst und gewollt

12 Weber reserviert den Begriff des Handelns für solche Fälle des menschlichen Verhaltens, in denen Handelnde mit ihrem Tun einen subjektiven Sinn verbinden: „,Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbunden.“ (Weber 1984: 19; kursiv i.O.) Von ‚einfachem‘ Handeln wiederum unterscheidet Weber soziales Handeln als „ein solches Handeln, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (ebd.; kursiv i.O.).

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Ziele setzt, Entscheidungen fällt, Pläne bildet und selbstbestimmt auf seine Umwelt einwirkt (vgl. Werbik 1978: 11), in denen also das im Falle des Verhaltens lineare Verhältnis von Reiz und Reaktion durch eine Reihe interner und subjektiver Bewusstseinsakte entkoppelt ist (vgl. von Cranach et al. 1980: 24ff.; Groeben 1986: 71; Volpert 2003: 13). Zumal es eben diese Bewusstseinsleistungen und internen subjektiven Prozesse sind, die im Verständnis der Handlungs(regulations)theorien eine Aktivität erst zu einer sinnvollen, zielgerichteten sowie ‚intelligenten‘ Handlung und von ‚bloßem‘ Verhalten unterscheidbar machen, gilt diesen ihr primäres Interesse. Vor diesem Hintergrund schreibt der Sportpsychologe und Handlungs(regulations)theoretiker Nitsch (2004: 21), dass (Bewegungs-)Handlungen nicht als „raumzeitliche Ereignisse hinreichend bestimmbar“, also auf beobachtbare Vollzüge reduzierbar seien, sondern ihre spezifische Bedeutsamkeit erst aus den subjektiven Bewusstseinsleistungen des Handelnden bezögen. Die Analyse von Bewegungshandlungen erfordere deshalb eine Erfassung jener nicht-beobachtbaren, der Außenperspektive also nicht (direkt) zugänglichen, internen Prozesse, die den beobachtbaren Vollzügen zu Grunde lägen und verlange nach einer systematischen Entschlüsselung der Innensicht und subjektiven Bedeutungs- und Motivstruktur des Sich-Bewegenden qua Warum- und Wozu-Fragen (vgl. ebd.: 16f.).13 Angesprochen ist mit dieser analytischen Schwerpunktsetzung und methodischen Forderung eine Unterscheidung und Ungleichstellung von nicht-beobachtbaren inneren Vorgängen und beobachtbaren körperlichen Vollzügen. In der Soziologie findet sich diese bei Alfred Schütz im Begriffspaar von Handlung und Handeln abgebildet und festgestellt. Schütz bezeichnet den ideellen Entwurf,

13 Ähnliche Überlegungen zur Methodik der Erfassung von Handlungen finden sich auch in der Soziologie, so z.B. bei Weber und Schütz/Luckmann. Ersterer sieht die grundlegende Aufgabe von Soziologen darin, soziales Handeln deutend zu verstehen und in seinem Ablauf und seinen Wirkungen zu erklären, indem sie den subjektiv gemeinten und auf das Verhalten anderer bezogenen Sinn, der hinter dem beobachtbaren Verhalten eines Akteurs verborgen und zunächst diesem allein vorbehalten ist, entschlüsseln und rekonstruieren. Explizierbare subjektive Sinngehalte einzelner Handelnder bilden in Webers Verständnis die „Basisebene jeder Handlungserklärung“ (Schneider 2008a: 37). Und auch Schütz/Luckmann (1984: 15) betonen, dass „der Handelnde, […] die letzte Instanz [ist], die angehört werden muß, wenn es festzustellen gilt, ob in einem vorliegenden Fall gehandelt wird oder nicht. Nur er weiß, worauf – falls überhaupt auf etwas – das Geschehen entworfen wurde.“

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mit dem Ziele, Schritte sowie (Weil- und Umzu-)Motive14 des Tuns spezifiziert und mental vorweggenommen werden, als Handlung, den körperlich-materiellen Vollzug des Entwurfs als Handeln. Dabei ist es in seinem Verständnis die (ideelle) Handlung, die dem Handeln seinen Sinn verleiht: „So gesehen steht das Handeln voll und ganz im Dienst der Handlung. Die Handlung ist das Maß des Handelns, das als Erfüllungsgehilfe des Entwurfs das Ideal in der Praxis realisieren soll. Der ‚Sinn des Handelns ist die vorher entworfene Handlung‘ (Schütz 2004: 157).“ (Kurt 2008: 19)

Die sich im Begriffspaar von Handeln und Handlung ausdrückende Zweiteilung sinnvoller und zielgerichteter menschlicher Aktivität wird von einschlägigen Handlungs(regulations)theorien der Psychologie und der Sportpsychologie aufgegriffen und weiter ausdifferenziert, indem Handlungen hier gleich in mehrere Phasen unterteilt werden. Illustriert sei diese Differenzierung zunächst am überaus prominenten Rubikon-Modell der Psychologen Heckhausen und Gollwitzer, das vielen der sportwissenschaftlichen Konzeptionen als Referenzrahmen und Bezugsquelle dient. Das Rubikon-Modell bestimmt Handlungen als idealtypischen Ablauf aus vier Phasen (vgl. Achtziger/Gollwitzer 2007): denen der prädezisionalen Motivation, der präaktionalen und aktionalen Volition sowie der postaktionalen Motivation, welchen jeweils bestimmte „Bewusstseinslagen“ und „kognitive Orientierungen“ (Goschke 2002: 288) entsprächen. In der ersten Phase einer Handlung, so wird unterstellt, wägt der Handelnde zunächst Wünsche und Handlungsalternativen ab, bildet dann in der zweiten Phase eine verbindliche Absicht, mit der er eine definitive und unumkehrbare Entscheidung15 zum Handeln trifft, und plant unter Verarbeitung von Vorwissen einzelne Handlungsschritte, „die spezifizieren, bei welcher Gelegenheit welche Handlungen ausgeführt werden sollen und wie antizipierte Schwierigkeiten überwunden werden sollen“ (ebd.). In der dritten Phase erfolgt die eigentliche Handlungsausführung, welche schließlich in der vierten Phase bewertet und im Hinblick auf Ursachen für Erfolg oder Misserfolg analysiert wird (vgl. Achtziger/Gollwitzer 2007).

14 Mit der Unterscheidung von Weil- und Umzu-Motiven stellt Schütz zwei Zeitlichkeiten in Rechnung, die bei der Organisation von Handlungen zur Geltung kommen: Weil-Motive speisen sich aus vergangenen Erfahrungen, während sich Umzu-Motive in die Zukunft orientieren (vgl. Schütz/Luckmann 1984: 33ff.). 15 Dieser Moment des Entschlusses bildet den entscheidenden Punkt einer Handlung, der dem Modell seinen Namen verleiht: Hier wird, bildlich gesprochen, der Rubikon überschritten und gibt es für den Handelnden kein Zurück mehr.

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Auch für sportwissenschaftliche Handlungstheorien bildet die psychische Strukturierung individueller sportlicher Handlungen den Mittelpunkt des Interesses. In seinem Rahmenkonzept für die sportpsychologische Forschung definiert Jürgen Nitsch (2004) drei Funktionsphasen einer sportlichen Handlung: Den Auftakt der „triadische[n] Phasenstruktur einer Handlung“ (Nitsch/Munzert 1997: 124) bildet die Phase der Antizipation, in welcher die „(potenzielle) Ausführung einer Handlung vorentworfen“ (Nitsch 2004: 20) wird. In der Antizipationsphase werden vom Handelnden unter Berücksichtigung der Ausgangssituation, in der er sich befindet, sowie in Abhängigkeit von wahrgenommenen Gestaltungsspielräumen und früheren Erfahrungen Intentionen gebildet, Ziele und Handlungsschritte spezifiziert sowie Handlungsalternativen abgewogen, kurzum: ein Handlungsplan entwickelt. Dieser wird in der folgenden Phase der Realisation in die Tat umgesetzt und vollzogen.16 Beschlossen wird eine Handlung mit einer dritten Phase der Interpretation, welcher Nitsch eine Kontroll- und Evaluationsfunktion zuweist. In ihr werden der eingangs generierte Handlungsplan mit dem tatsächlichen Vollzug abgeglichen, die Folgen und Ergebnisse einer Handlung in Relation zu den Ausgangserwartungen evaluiert und schließlich neue Wissensbestände und subjektive Bezugsmaßstäbe für zukünftige Handlungen und Planungen entwickelt (vgl. Nitsch 2004: 20; Nitsch/Munzert 1997: 232ff). Nitsch beschreibt sportliches Handeln ferner als einen Systemprozess, der sich im Person-Aufgabe-Umwelt-Bezug ereignet und vom Menschen als „biopsychosoziale[r] Einheit“ (Geißler/Hörz 1988 zit. nach Nitsch 2004: 13) ausgeht. Mit diesem Systempostulat stellt er in Rechnung, dass an jeder Handlung und in jeder Handlungsphase verschiedenartige „Wahrnehmungs-, Denk-, Gedächtnis-, Emotions-, Motivations- und Volitionsvorgänge[n]“ (ebd.) mitwirken und mit dem kognitiven, dem automatischen und dem emotionalen System unterschiedliche handlungsregulierende Systeme beteiligt sind, die sich – wie er betont – teilweise einer bewussten Kontrolle entziehen.17 Indem er dem Bewusstsein jedoch „eine herausragende Rolle in der menschlichen Handlungsre-

16 Ebenso wie in den Handlungs(regulations)theorien der Psychologie bleibt an dieser Stelle eine Spezifikation der Details der körperlichen Umsetzung des zuvor generierten Plans jedoch aus. 17 Es wird auch davon ausgegangen, dass handlungsleitendes Wissen während des Handlungsvollzugs zwar in großem Umfang, nicht jedoch vollständig bewusst gehalten wird. Im Zuge von Automatisierungsprozessen werde ursprünglich explizites Wissen prozeduralisiert, sinke also aus dem Bewusstsein ab und wirke schließlich als implizites Wissen an der Handlungsregulation mit (vgl. zu dieser Prozeduralisierungsthese auch Anderson 2000: 319ff.).

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gulation“ (Nitsch 2004: 21) zuschreibt, den expliziten und bewussten Regulationsinstanzen insbesondere für die Auseinandersetzung mit neuen und komplexen Situationen eine besondere Bedeutung zuweist und schließlich betont, dass Bewegungshandlungen ihre Bedeutsamkeit aus den subjektiven Motiv- und Sinnstrukturen der Handelnden beziehen, kommt in seinem Analysevorschlag gleichwohl ein Bias für das Be- und Gewusste sowie für explizite und explizierbare Wissens- und Sinngehalte zum Tragen. Nicht nur theoretisch-konzeptionell wie Nitsch, sondern auch empirisch setzt sich unter anderem der Sportpsychologe Höner (2005) mit der handlungstheoretischen Analyse des Sports auseinander. Mit einer an das Rubikon-Modell von Heckhausen und Gollwitzer angelehnten Studie zielt er auf die Erfassung taktischer Entscheidungshandlungen im Fußball. Im Rahmen seiner Untersuchung werden verschiedene Versuchspersonen unterschiedlicher Kompetenzniveaus mit Videoaufzeichnungen verschieden komplexer Spielsituationen konfrontiert und in einer experimentellen Anordnung vor einem Monitor sitzend aufgefordert zu entscheiden, wie, d.h. mit welcher Art Pass bzw. Abspiel an welchen Mitspieler, in den entsprechenden Situationen zu handeln ist. Um die taktischen Entscheidungshandlungen zu erheben, werden mithilfe des sogenannten EyeTracking-Verfahrens die visuellen Suchstrategien der einzelnen Versuchspersonen als Indikatoren für die der Handlungsentscheidung vorausgehenden und zugrundeliegenden Antizipationsleistungen und Problemlöseprozesse untersucht.18 Die Entscheidung selbst wird per Mausblick und sprachlicher Erläuterung erhoben und schließlich – gemessen an den Kriterien Dauer und Art – mittels eines Expertenrankings bewertet. Das Ziel der Studie besteht in der Erfassung jener Kognitionen, Bewusstseinsleistungen sowie Denk- und Dezisionsprozesse, welche dem konkreten Handlungsvollzug als vorausgehend und verursachend unterstellt werden. Der Fokus der Studie liegt auf der psychischen Organisation individueller Handlungen, nicht jedoch auf deren körperlichen Vollzügen im komplexen Spielgeschehen. Mit der Fokussierung einzelner Fußballspieler und deren mentalen Entscheidungsleistungen folgt Höners Studie der Prämisse eines methodologischen Indi-

18 Eye-Tracking-Verfahren zeichnen die motorische Aktivität des Auges auf. Höner (2005: 124) geht davon aus, dass die motorische Aktivität des Auges erstens als „Folge der den ausgeführten Blickbewegungen zu Grunde liegenden kognitiven Prozesse[n]“ zu verstehen ist und damit zweitens „objektiv messbare Aufschlüsse über die Informationsaufnahme des untersuchten Sportlers“ zu geben vermag.

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vidualismus19: Sie weist einzelnen, punktuellen Entscheidungen den analytischen Primat gegenüber den sozialen Zusammenhängen des Spiels zu, wodurch diese wiederum – gewissermaßen als unintendierter Nebeneffekt des konzeptionellen Designs der Untersuchung – vollständig auf jene zurückführbar und durch sie erklärbar erscheinen. (Fußball-)Spiele geraten unweigerlich als gleichsam ‚entkörperte‘ Summation der subjektiven Kognitionen und Bewusstseinsakte einzelner Spieler und Mitspielfähigkeit im Sportspiel als ebenso körperlose Fähigkeit zum ‚verkopften‘ Entscheiden in den Blick. Im Rahmen der angesprochenen Handlungs(regulations)theorien der Psychologie und Sportpsychologie wird Handeln als kognitiv überaus anspruchsvolle und aufwändige Leistung eines Akteurs modelliert, der Absichten bildet, Wissen verarbeitet, sein Vorgehen schrittweise plant und dieses reflexiv überwacht. Der konkrete körperliche Vollzug einer Handlung in der Welt erscheint demgegenüber als erstaunlich unproblematische Angelegenheit und bleibt konzeptionell unterbestimmt. Handeln wird hier als ein Vorgehen konzeptualisiert, das sich nicht nur in mehreren Schritten ereignet, sondern sich auch in zwei getrennten Welten abspielt (vgl. kritisch zu dieser „Doppelwelten-Legende“ Ryle 1969): Auf der einen Seite steht die mentale und in einer ‚inneren‘ Geisteswelt stattfindende Organisation, aus der das Handeln seinen spezifischen Sinn, seine Intentionalität und Zielgerichtetheit sowie ‚Intelligenz‘ bezieht, auf der anderen sein ‚bloßer‘ körperlicher Vollzug in der materiellen Welt. Als sinnhaft, zielgerichtet sowie gekonnt und damit als Handeln von bloß reaktivem Verhalten abgrenzbar gilt menschliche Aktivität dabei nur unter der Voraussetzung, dass von der beobachtbaren, materiellen Realisation des Handelns angenommen werden kann, dass sie durch nicht-beobachtbare subjektive Vorgänge und verschiedenartige

19 Vgl. zum methodologischen Individualismus auch Weber (1984). Für Weber bilden subjektiv zugeschriebene Sinngehalte einzelner Handelnder nicht nur die „Basisebene jeder Handlungserklärung“ (Schneider 2008a: 37), sondern die Basisebene der Erklärung von Sozialität überhaupt. Er versteht soziale Gebilde und Zusammenhänge wie Gesellschaften oder Organisationen als Aggregationen und Summierungen einzelner Menschen und ihrer Handlungen: „Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eigenen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen […]. Für die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie sind dagegen diese Gebilde [gemeint sind hier soziale Gebilde und Zusammenhänge; KB] lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen, da diese allein für uns verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln sind.“ (Weber 1984: 29f.)

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Bewusstseinsleistungen gesteuert und kontrolliert wird. In dem Maße, wie der eigentliche, praktische Vollzug des Handelns unthematisch bleibt, wird auch der Beitrag des Körpers zu einem versierten und als ‚intelligent‘ zu qualifizierenden Handeln übersehen und bleibt dieser auf den eines bloßen „Erfüllungsgehilfen“ (Kurt 2008: 19) oder Epiphänomens der internen Repräsentation reduziert. Mit geradezu frappierender Deutlichkeit gewinnt die Abstraktion von den Vollzugsdimensionen und den genuin körperlichen Bedingungen eines erfolgreichen Handelns in der empirischen Studie Höners Kontur. Obwohl er sich als Sportwissenschaftler um die Analyse von Handlungen in einem Feld bemüht, in dem Körper offensichtlich im Vordergrund der spielerischen Auseinandersetzungen stehen und körperliche Fertigkeiten unabdingbar für ein gelingendes Agieren erscheinen, werden die Körper der Versuchspersonen in seiner Untersuchung nahezu vollständig ‚aus dem Spiel‘ genommen. Die Fußballspieler werden aus den praktischen und kollektiven Zusammenhängen und fundamental körperbezogenen Handlungskontexten des Spiels ‚herausgeschnitten‘ und in einer experimentellen Anordnung vor einem Computermonitor stillgestellt.20 Handlungen im Sportspiel Fußball werden damit weniger als praktischkörperliche Vollzüge, denn vielmehr als rational-reflexive Entscheidungsleistungen operationalisiert und auf das Treffen diskreter und sprachlich mitzuteilender Entscheidungen über die beste Vorgehensweise reduziert; Fußballspieler darüber hinaus als merkwürdig körperlose Geistes- und Einzelwesen in den Blick genommen. Die Handlungs(regulations)theorien gehen vom Menschen als gleichsam ‚naturwüchsig‘ handlungsfähigem Subjekt aus, dessen Handeln über Begrifflichkeiten wie die des subjektiven Sinns, der Handlungsplanung, der Zielgerichtetheit

20 Höner räumt zwar ein, dass die „Einbettung eines Eye-Tracking-Systems in ein experimentelles Setting“ Inkonsistenzen der empirischen Befundlage begünstigen könne und davon auszugehen sein müsse, dass „methodische Merkmale des experimentellen Settings das Entscheidungsverhalten in extremer Weise beeinflussen können“ (Höner 2005: 120). Gleichwohl greift er auf diese „übliche Methode“ der Kognitionsforschung im Sport zurück, um die „menschliche[n] visuelle[n] Informationsaufnahme“ (ebd.: 124) zu erfassen, ohne dabei ausdrücklich auf die Grenzen der Generalisierbarkeit bzw. Übertragbarkeit seiner Ergebnisse auf ‚reale‘ Spielsituationen hinzuweisen. Es erscheint jedoch fragwürdig, ob am Bildschirm erbrachte Entscheidungsleistungen und sprachlich benannte Handlungsstrategien Aussagen über sportliches Handeln erlauben, die ohne weiteres auf komplexe Spielsituationen, in denen beispielsweise unter den Bedingungen körperlicher Erschöpfung oder einer direkten Gegnereinwirkung entschieden und agiert werden muss, übertragen werden können.

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oder des Willensaktes aus seinem inneren Zentrum heraus erklärt wird. Zwar wird in Rechnung gestellt, dass für das menschliche Handeln durchaus verschiedene Regulationsmomente – so auch implizite, emotionale und automatisierte – Bedeutsamkeit besitzen. Gleichwohl gilt das Augenmerk der angeführten Erklärungsmodelle vornehmlich expliziten Sinnstiftungen sowie den kognitiven Leistungen des Bewusstseins. Als handlungsrelevante Wissensbestände gelten und interessieren in diesem Zusammenhang zuallererst solche Ressourcen, die ihren Ort gleichsam ‚im Kopf‘ der Handelnden haben, von diesen reflektiert und auf die Warum- und Wozu-Fragen des Handlungs(regulations)theoretikers hin, der die Absichten, Ziele, Intentionen und den Sinn von Handlungen wiederum mit deren Hilfe im Sinne einer „Nachvollzugshermeneutik“ (Bergmann 2012a: 125) zu rekonstruieren hat, versprachlicht und expliziert werden können.

1.2 T HEORIEN ‚ ANDEREN W ISSENS ‘ Seit nunmehr einigen Jahrzehnten sind in verschiedenen Wissenschaften – z.B. den Sozial- und Kulturwissenschaften, der Philosophie, Psychologie, der Arbeits- und Organisationssoziologie, der Hirnforschung sowie eben auch der Sportwissenschaft – verstärkte Bemühungen zu beobachten, solche Ressourcen, Sinngehalte und Tätigkeitsformen, die im Rahmen der prominenten Handlungs(regulations)theorien allenfalls am Rande mitberücksichtigt werden und auch in hegemonialen Wissensdiskursen ein Schattendasein fristen oder gar als ‚nicht-intelligent’ und damit als Nicht-Wissen de-qualifiziert werden (vgl. Böhle 2003; Böhle/Porschen 2012), zu größerer Anerkennung zu verhelfen (vgl. auch Brümmer 2009). Begleitet von einer fundamentalen – und mitunter überspitzten – Kritik an den Grundfesten der etablierten Theorien als dualistisch und intellektualistisch verengt, bricht sich eine Aufmerksamkeit für ein implizites oder intuitives Wissen, für sinnlich-körperliche und gefühlsmäßige Wahrnehmungen und Erkenntnisqualitäten sowie für Aktivitäten, die zwar nicht ausgiebig durchdacht und intentional geplant, aber dennoch gekonnt, gerichtet, zielführend und in dieser Hinsicht ‚intelligent‘ sind, Bahn. 21

21 Vorreiter dieser Kritik und Entwicklung ist der von Gilbert Ryle erstmalig im Jahr 1949 veröffentlichte Versuch über den Begriff des Geistes. Hierin wirft Ryle intellektualistischen (Handlungs-)Theorien vor, auf einem „Dogma vom Gespenst in der Maschine“ (Ryle 1969: 13) zu beruhen und eine Doppelwelten-Legende zu instituieren. Er kritisiert die Darstellung des menschlichen Geistes als ein in einem maschinenanalog aufgefassten Körper verschanztes und verborgenes Wesen, das diesen durch kog-

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Begründet werden die Aufwertung und Berücksichtigung solcher Wissensformen, die gern unter den Begriff des „anderen Wissens“ (Böhle et al. 2001; Sevsay-Tegethoff 2007) subsumiert werden, sowie die Re-Modellierung eines ‚intelligenten‘ Handelns insbesondere auch mit dem Verweis auf eine konzeptionelle Leerstelle traditioneller Handlungs(regulations)theorien: Aus der Perspektive der Theorien ‚anderen Wissens‘ können diese ein erfolgreiches Agieren unter Bedingungen des Zeitdrucks, der Unsicherheit, Kontingenz und Unplanbarkeit kaum angemessen erklären. Unter diesen Bedingungen erweise sich ein Vorgehen nach dem Modell eines planmäßig-rationalen Handelns wenig erfolgversprechend und gerate dieses in offenkundige Erklärungsnotstände. Solche Situationen erforderten vielmehr ein flexibles und schnelles Agieren jenseits bewusster Kognitionen und Kalkulationen auf der Grundlage eines intuitiven oder impliziten Wissens (vgl. z.B. Böhle/Weihrich 2009). Diese Fähigkeit zum schnellen und präreflexiven Agieren auf der Grundlage impliziten Wissens sei dabei, so ein gängiger Topos, nicht nur in verschiedenen sozialer Feldern, bei alltäglichen Tätigkeiten wie dem Autofahren (vgl. Hörning 2001) ebenso wie beispielsweise bei industriellen oder maschinengestützten Arbeitstätigkeiten (vgl. Böhle 2004), angesprochen, sondern werde auch deswegen immer wichtiger, weil sich im Zuge einer Zweiten und Reflexiven Modernisierung (Beck/ Bonß/Lau 2001) Unsicherheitszonen in sämtlichen Gesellschafts- und Tätigkeitsbereichen immer weiter ausdehnten (vgl. auch Böhle/Weihrich 2009). Geradezu prototypisch sei die Herausforderung der Bewältigung inhärent unsicherer Situationen unter Zeitdruck insbesondere auch für den Bereich des Sports, in

nitive Operationen bedient und bemängelt die Konzeptionalisierung eines ‚intelligenten‘ Handelns als das Tun zweier Dinge: des Erwägens von Plänen und (Regel-) Wissen (knowing that) in einer „Schattenhandlung“ (Neuweg 2001: 63) auf der einen und des Umsetzens dieser Pläne auf der anderen Seite. Zumal es zahlreiche Fälle gäbe, in denen „einer schlecht praktiziert, was er vorzüglich predigt“ (Ryle 1969: 60) und sich ein guter Theoretiker als schlechter Praktiker erweise, ist – so Ryle – davon auszugehen, dass ein gekonntes Handeln nicht ursächlich auf ein explizites und diskursives knowing that zurückzuführen ist. Intelligenz und Wissen sind in seinem Verständnis nicht in okkulten Prozessen vor einer Handlung zu verorten, sondern liegen in der Ausführung selbst: „Wenn ich etwas mit Intelligenz tue, dann tue ich nur ein Ding, nicht zwei; meine Handlung hat eine besondere Art der Ausführung, nicht besondere Vorgänger.“ (ebd., S. 36). Ryle unterminiert hiermit die verbreitete Reservierung des Wissens- und Intelligenzbegriffs für explizite Bestände und betont demgegenüber mit der Einführung des Begriffs des knowing how den fundamental praktischen und impliziten Charakter handlungsleitenden Wissens.

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dem Unsicherheiten und Zeitknappheit etwa durch einen direkten Gegner- oder Partnerbezug sowie (sportart-)spezifische Reglements, die das sportliche Handeln künstlich erschweren, gleichsam auf die Spitze getrieben sind (vgl. Alkemeyer 2009). In den folgenden Abschnitten gilt die Aufmerksamkeit nun solchen Erklärungsansätzen, die sich dem Machen von Sport im Zuge der beschriebenen interdisziplinären Aufmerksamkeitsverschiebung anders als traditionell handlungs(regulations)theoretisch nähern. Zwar machen diese verschiedenen Ansätze Anleihen bei teilweise äußerst disparaten Bezugstheorien – von der Kognitionspsychologie über die Neurophysiologie bis hin zur Phänomenologie und Praxissoziologie. Gemeinsam ist ihnen jedoch das Bestreben, ‚andere‘ Wissensformen und Handlungsregister für die Konzeptionalisierung eines versierten Agierens im Sport geltend zu machen.22 1.2.1 Heuristiken und Intuitionen im Sport In der Sportpsychologie hat sich in jüngerer Zeit insbesondere Markus Raab in Kollaboration mit verschiedenen Arbeitsgruppen um die Hinterfragung und Überwindung der Idealtypisierung eines rational-reflexiven Vorgehens verdient gemacht. In verschiedenen empirischen Studien zeigen Raab und Kollegen,23 dass ein versiertes Agieren vor allem in den zeitlich engen und informationell komplexen Situationen der Sportspiele nicht durch ausgiebige Kalkulationen, eine Abwägung verschiedener Handlungsalternativen oder die Prozessierung expliziter Pläne und Wissensbestände verursacht wird, sondern sich vielmehr im Modus einer „begrenzten Rationalität“24 ereignet. Handlungsleitend – so ein Ergebnis der Untersuchungen – sind in erster Linie sogenannte Heuristiken, also „genetisch, kulturell und individuell hervorgebrachte und übermittelte Faustre-

22 Vgl. für eine Übersicht über diese in den folgenden Abschnitten erläuterten Konzepte ‚anderen Wissens‘ in der Sportwissenschaft auch Brümmer (2010). 23 Vgl. Gröschner/Raab (2006), Johnson/Raab (2003) sowie Raab/de Oliveira/Heinen (2009). 24 Das Konzept der begrenzten Rationalität wurde vom amerikanischen Sozialwissenschaftler Herbert Simon eingeführt. Im Modus der begrenzten Rationalität wird dann entschieden und gehandelt, wenn ein Akteur nicht alle in einer Umwelt verfügbaren Informationen verarbeitet und alle möglichen Vorgehensweisen kalkuliert, sondern das Abwägen von Handlungsmöglichkeiten dann stoppt, wenn eine zufriedenstellende und der Umwelt bzw. Handlungssituation angemessene, also adaptive und in dieser Hinsicht ‚intelligente‘, Strategie identifiziert wurde (vgl. Raab/Gigerenzer 2005).

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geln“ (Gigerenzer 2007: 29), die der Umwelt nur die wichtigsten handlungsrelevanten Informationen entnehmen und sich im phänomenalen Erleben als Intuitionen, spontane Einfälle oder Eingebungen äußern. Intuitive Einfälle und Entscheidungen sind in dieser Perspektive also nicht als bloße Impulse oder trügerische und irrationale Launen zu verstehen, sondern folgen den Gesetzmäßigkeiten der durch Erfahrung erworbenen Heuristiken und bilden gegenüber extensiven Denk- und Kalkulationsprozessen die mithin ‚ökonomische‘ Basis eines ‚intelligenten‘ und erfolgsversprechenden Handelns und Entscheidens gerade in schwierigen, komplexen und zeitlich engen Kontexten und Umwelten (vgl. ebd. sowie Raab/Gigerenzer 2005).25 Am Beispiel einer empirischen Untersuchung von Entscheidungsleistungen im Handball verdeutlichen Johnson/Raab (2003) die Bedeutung der sogenannten Take-the-First-Heuristik. In der Untersuchung wurden verschiedene Versuchspersonen mit aus der Perspektive der jeweils ballführenden Spieler festgehaltenen Videoauszeichnungen unterschiedlicher Angriffssituationen konfrontiert, die unmittelbar vor dem Abspiel des Balls angehalten wurden. Sofort nach der Unterbrechung des Videos wurden die Versuchspersonen dazu aufgefordert zu benennen, welche Aktion sie selbst an der Stelle des Ballführenden realisieren würden. Im Anschluss an die Abfrage dieser ersten spontanen Handlungspräferenzen erhielten die Versuchspersonen sodann die Aufgabe, dasselbe Videostandbild ohne zeitliche Beschränkungen genau zu betrachten und im Hinblick auf weitere Abspieloptionen zu analysieren. Die auf diese Weise zusammengetragene Optionenliste, welche einerseits intuitive Einfälle sowie andererseits auf einer ausführlichen Analyse und rational-reflexiven Durchdringung der in den Videos stillgestellten Spielsituationen basierende Optionennennungen enthielt,

25 Im Rahmen ihres fünfphasigen Modells des Fertigkeitenerwerbs argumentieren Dreyfus/Dreyfus (1988) aus phänomenologischer Perspektive, dass ein planmäßigrationales Vorgehen gerade nicht für das versierte Agieren von Experten, sondern für die früheren Phasen des Fertigkeitenerwerbs und das Agieren von Novizen charakteristisch ist. Experten hingegen agieren in ihrem Verständnis anders; sie erfassen Situationen unmittelbar und agieren spontan und intuitiv: „Wenn keine außergewöhnlichen Schwierigkeiten auftauchen, lösen Experten weder Probleme noch treffen sie Entscheidungen; sie machen einfach das, was normalerweise funktioniert.“ (ebd.:55; kursiv i.O.) Dreyfus/Dreyfus betonen ausdrücklich, dass es sich bei den Intuitionen von Experten nicht um übernatürliche und unerklärliche Eingebungen oder Inspirationen handelt, sondern diese immer nur dann Geltung erlangen, wenn aufgrund früherer Erfahrungen Ähnlichkeiten zu vergleichbaren und bereits bewältigten Situationen und Fällen erkannt werden (vgl. ebd.: 54ff.).

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wurde schließlich von allen Teilnehmern der Studie bewertet. Die kollektive Evaluation schließlich führte zu dem Ergebnis, dass die spontan und intuitiv unter Zeitdruck generierten Entscheidungen und Handlungsoptionen gegenüber jenen, welche auf ein ausführliches Durchdenken der Spielsituation zurückgehen, als erfolgversprechender eingeschätzt wurden (vgl. Johnson/Raab 2003; Raab/de Oliveira/Heinen 2009). Zur Präzisierung und Erklärung des in der HandballStudie virulent werdenden Phänomens der Angemessenheit und Leistungsfähigkeit spontaner Urteile und intuitiven Wissens ziehen Johnson/Raab die Take-theFirst-Heuristik heran. Diese Faustregel, die insbesondere Experten bzw. erfahrenen Sportlern in Anschlag gebracht wird (vgl. ebd.), besagt, dass in bestimmten – vertrauten und bekannten, aber unbestimmten und kontingenten – Kontexten ein Sich-Verlassen auf eine der ersten im Bewusstsein auftauchenden Handlungsmöglichkeiten den größten Erfolg verspricht und deswegen auf ein erschöpfendes und zeitlich aufwändiges mentales Durchspielen und Abwägen verschiedener Möglichkeiten verzichtet werden kann. Als eine weitere für das Agieren und Entscheiden im Sport fundamentale Faustregel wird die sogenannte Blickheuristik gehandelt, welche etwa beim Fangen und Zurückschlagen fliegender Bälle zum Tragen kommt. Im Falle der Berechnung fliegender Bälle besagt sie „Fixiere den Ball, beginne zu laufen, und passe deine Laufgeschwindigkeit so an, dass der Ball aus deinem Blickwinkel mit konstanter Geschwindigkeit steigt“ (Gigerenzer 2007: 19; kursiv i.O.), kondensiert alle für das erfolgreiche Fangen oder Zurückschlagen erforderlichen Informationen auf ökonomische Weise und macht damit ein zeit- und kapazitätsaufwändiges Lösen komplexer Differenzialgleichungen überflüssig (vgl. ebd.: 17ff.). In den Ausführungen über die Relevanz der Blickheuristik wird eine enge Verzahnung von Kognitionen, Wahrnehmungen und (Selbst-)Bewegungen unterstellt, welche gegenwärtig auch im Rahmen verschiedener sport- und kognitionspsychologischer Erklärungsansätze zum Thema Embodiment stark diskutiert wird. Ohne dass der Vielzahl der unterschiedlichen unter diesem Schlagwort firmierenden Ansätze mit dieser Bestimmung auch nur annähernd Rechnung getragen wird, kann konstatiert werden, dass eine Art Minimalkonsens in der Annahme besteht, dass das kognitive System nicht völlig autonom operiert, sondern Kognitionen von Körperbewegungen und Wahrnehmungen beeinflusst werden.26 Zumal in dieser Perspektive das motorische System „einen nicht unwesentlichen

26 Vgl. zur inhaltlichen Differenzierung der Embodiment-Forschung in die Teilbereiche von embodied perception, embodied cognition und embodied action z.B. das im Jahr 2010 von Hohmann/Heinen/Raab herausgegebene Themenheft Embodiment der Zeitschrift für Sportpsychologie.

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Einfluss auf höhere kognitive Funktionen hat“ (Hohmann/Heinen/Raab 2010b: 105) und „vergangene Handlungen und damit sensomotorische Erfahrungen unsere Kognitionen beeinflussen“ (Beilock/Hohmann 2010: 121), muss „the mind […] be understood in the context of its relationship with a physical body that interacts with the world“ (Wilson 2002: 625). Mit dem Konzept der Heuristiken wird in Rechnung gestellt, dass Kognitionen und Wissensbestände zum einen nicht umfänglich bewusst und explizit sein müssen, um ‚intelligente‘ Handlungen zu ermöglichen und zum anderen nicht von einem sich bewegenden Körper abzuspalten sind. Gleichwohl bleibt es wie in den handlungs(regulations)theoretischen Ansätzen auch in diesem Denkrahmen – obwohl die Semantik des Begriffs Embodiment anderes suggeriert – das „höhere“ (Hohmann/Heinen/Raab 2010b: 105), kognitive Regulationssystem, das als das eigentlich handlungsleitende System angesehen und untersucht wird. 1.2.2 Implizites Wissen im Sport Neben den Studien, die den Wert von Intuitionen und Heuristiken betonen und empirisch belegen, ziehen auch sportpsychologische Untersuchungen zur Bedeutung impliziten Wissens und Lernens im Sport die Erklärung eines versierten Bewegungshandelns durch ideelle Regulationsmomente und explizite Sinn- bzw. Wissensbestände in Zweifel. Einen entscheidenden Beitrag liefert in dieser Hinsicht das von Armin Kibele entwickelte Konzept des Bewegungsprimings (vgl. Kibele 2001a), mit welchem er folgende empirische Beobachtung zu erklären sucht: Erfahrene Sportler sind selbst noch unter Bedingungen großen Zeitdrucks und in komplexen, sich schnell verändernden situativen Konstellationen in der Lage, erfolgreich zu agieren, können jedoch häufig nur wenige Details über ihr erfolgreiches Tun verbalisieren und scheinen folglich das diesem zugrundeliegende Wissen nicht sprachlich-diskursiv verfügbar zu halten. Kibele problematisiert und rahmt diese Beobachtung mit einem Verweis auf die wegweisende Arbeit des ungarischen Philosophen Michael Polanyi über Implizites Wissen (1985), die im entsprechenden Diskurs als wohl meistzitiertes Buch eine Vorreiterstellung einnimmt.27 Polanyi untersucht menschliches Erkennen ausgehend von der Tatsache, „daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“ (ebd.: 14) und

27 Polanyis einschlägiges Werk wird nicht nur in der Sportwissenschaft, sondern auch in zahlreichen anderen Wissenschaftsdisziplinen breit rezipiert. Vgl. für die Arbeitssoziologie z.B. Porschen (2008), die Wirtschaftswissenschaft/das Wirtschaftsmanagement Schreyögg/Geiger (2004), die Pädagogik und Erziehungswissenschaft Hackl/Neuweg (2004) sowie die Kommunikationswissenschaft jüngst Loenhoff (2012).

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proklamiert, dass in der Ausübung sämtlicher praktischer Tätigkeiten, Fertigkeiten und Geschicklichkeiten wie etwa dem Fahrradfahren ein Wissen zum Tragen kommt, das den Ausübenden selbst in der Ausübung nicht bewusst ist und von ihnen eben deshalb nicht in Sprache gefasst werden kann. Das Konzept des Bewegungsprimings schließt zwar an die philosophischen Erörterungen Polanyis an, argumentiert schließlich jedoch auf der Grundlage dreier kognitionspsychologischer und neurophysiologischer Erkenntnisse. Erstens geht es von der Existenz eines impliziten Gedächtnis- und perzeptuellen Repräsentationssystems aus, das als Priming bezeichnet wird (vgl. auch Tulving/ Schacter 1990). In diesem System werden im Zuge des Agierens in einer spezifischen Umwelt deren Merkmale und Reizkonfigurationen intern repräsentiert und gespeichert. Diese impliziten Wahrnehmungsrepräsentationen werden, so Kibeles zweite grundlegende Annahme, mit motorischen Repräsentationen zu Handlungscodes verknüpft, perzeptuelle und motorische Repräsentationen also nicht unabhängig voneinander in getrennten Gedächtnissystemen abgebildet, sondern gemeinsam codiert und neuronal verbunden.28 Je öfter ein Sportler auf ein in der Umwelt stattfindendes und wahrgenommenes Ereignis mit einer spezifischen Bewegung reagiert, desto stärker und fester wird diese neuronale Kopplung, so dass schließlich die Wahrnehmung bestimmter Reize die hiermit verbundene motorische Aktion jenseits des Bewusstseins spontan zu induzieren vermag. Drittens schließlich argumentiert Kibele, dass Informationen unbewusst wahrgenommen und verarbeitet werden können. Die neuronale Grundlage hierfür verortet er in einer Funktionsdifferenzierung des visuellen Kortex in einen – langsamen und in einer bewussten Abbildung endenden – ventralen und einen – schnellen und nicht in einer bewussten Repräsentation endenden – dorsalen Strang. Der Verarbeitungsweg über den dorsalen Strang bedingt, dass Wahrnehmungen gleichsam ‚am Bewusstsein vorbei‘ handlungsrelevant werden können (vgl. auch Neumann/Ansorge/Klotz 1998). Das schnelle und erfolgreiche Handeln erfahrener Sportler in komplexen und zeitlich engen Kontexten sowie die spätere Unfähigkeit, ihr eigenes Tun sprachlich zu erläutern, werden vor dem Hintergrund von Kibeles Ansatz dadurch erklärbar, dass durch das wiederholte Agieren in einer bestimmten Umgebung deren charakteristische Reize in einem impliziten Gedächtnissystem gespeichert und mit motorischen Repräsentationen gekoppelt werden, so dass durch unbewusste Wahrnehmungen bekannter Reize die mit der entsprechenden perzeptuellen Repräsentation verbundene motorische Repräsentation auf implizite Weise,

28 Vgl. zur Common-Coding-Hypothese von Wahrnehmung und Bewegung z.B. auch Prinz (1997) sowie Hommel et al. (2001).

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d.h. ohne intermediäre Willens-, Denk- und Planungsakte und bewusste Kognitionen, ausgelöst bzw. geprimt wird (vgl. Kibele 2001a; 2001b; 2002).29 Auch jüngere Ansätze zum Bewegungslernen vollziehen eine Abkehr vom Primat des Expliziten und stellen damit die Gültigkeit solcher Bewegungslehren, die auf die Vermittlung von Bewegungsregeln und Sollwertbeschreibungen sowie eines umfangreichen Maßes an deklarativem Wissen über Ablaufdetails einer zu erlernenden Bewegung setzen, in Frage.30 Verschiedene Studien, die sich für die Effekte unterschiedlicher Instruktionen auf motorische Lernprozesse interessieren, zeigen, dass die Vermittlung deklarativen Wissens um die Regeln und Ausführungsprinzipien einer zu erlernenden Bewegung keineswegs Lernerfolge garantiert. Insbesondere in Kontexten, in denen verschiedene Aufgaben zur selben Zeit und noch dazu unter Stress bewältigt werden müssen, erweisen sich explizit vermittelte bzw. durch ein explizites Ausführungswissen organisierte Bewegungen als hochgradig störanfällig. Implizit – etwa mithilfe von Instruktionen wie Metaphern oder Analogien, welche nur wenige Informationen über die zu erlernende Bewegung transportieren und diese bildhaft kondensieren – erlernte bzw. durch ein implizites Wissen organisierte Bewegungen erweisen sich im Gegensatz dazu gerade unter den genannten Bedingungen als robuster und erfolgreicher. Lernerfolg kann – so ein wichtiges Ergebnis der verschiedenen Untersuchungen – durchaus negativ mit dem Umfang an explizitem und explizierbarem Wissen korrelieren (vgl. z.B. Liao/Masters 2001; Masters et al. 2008; Poolton et al. 2009; Tielemann/Raab/Arnold 2008).

29 Im Gegensatz zu sportwissenschaftlichen Handlungs(regulations)theorien, die davon ausgehen, dass implizites Wissen das automatisierte oder prozeduralisierte, also aus dem Bewusstsein herabgesunkene, Resultat vormals expliziter Bestände ist, zeigen Kibeles Arbeiten, dass implizites Wissen von vornherein auf implizite Weise erworben werden kann und nicht zuerst als expliziter Inhalt vorliegen muss. 30 In der überaus einschlägigen Bewegungslehre von Meinel/Schnabel (2006) etwa wird an verschiedenen Stellen die Auffassung vertreten, dass für das Erlernen von Bewegungen theoretische Kenntnisse um deren Ablaufdetails unabdingbar sind. So betonen sie z.B.: „Andererseits gelingt das Erlernen neuer oder die Verbesserung und Verfeinerung bereits erworbener Bewegungsvollzüge nun umso besser, schneller und rationeller, je mehr Kenntnisse dem Lernenden […] über die Struktur der Bewegung selbst zur Verfügung stehen.“ (ebd.: 147) Und weiter: „Intellektuelle Voraussetzungen für das motorische Lernen bestehen zum einen im Wissen um den angestrebten richtigen Bewegungsablauf, um motorische ‚Kniffe‘, Feinheiten und Regeln, die die jeweilige Technik betreffen, zum anderen im Denkvermögen des Sportlers.“ (ebd.: 158)

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1.2.3 Polanyis Theorie des impliziten Wissens und ihre Rezeption in der Sportpsychologie Die Erklärungsansätze der Sportpsychologen Raab und Kibele führen im Hinblick auf die Erklärung eines gekonnten Agierens die zumindest partielle Unbewusstheit handlungsleitender Kognitionen und Wahrnehmungen sowie die diskursive Unverfügbarkeit handlungsleitender Wissensbestände ins Feld. Dabei lassen sie jedoch die Erkenntnisqualitäten des empfindsamen Körpers, denen in Polanyis Erörterungen ein geradezu fundamentaler Stellenwert zukommt, weitgehend unberücksichtigt. Während sich Kibele für den Körper in erster Linie in dessen neurophysiologischen Funktionen bzw. als neurophysiologisches Korrelat unbewusster Wahrnehmungen und Erfahrungen interessiert, werden dem Körper in den Diskussionen um Heuristiken, Intuitionen und Embodiment der Status eines physikalischen Zulieferers von Informationen für das ‚höhere‘ und handlungsleitende kognitive System attribuiert und damit schlussendlich die Reproduktion etablierter und auch in den Handlungs(regulations)theorien zum Tragen kommende Hierarchien von Körper und Geist forciert. Für Polanyi selbst hingegen stellt der empfindsame Körper die unhintergehbare Unterlage dar, aus der nicht nur Wahrnehmungen und praktische Geschicklichkeiten oder Fertigkeiten, sondern sämtliche, auch vermeintlich ‚höhere‘ Formen des Verstehens, Denkens und Erkennens hervorgehen (vgl. Polanyi 1985: 10); in seinem Verständnis ist implizites Wissen zuallererst ein körperlichempfindender Akt.31 Zu Beginn seiner Arbeit charakterisiert Polanyi (ebd.: 15) implizites Wissen als eine „stumme Macht“, welche Einzelheiten zu einer kohärenten Entität und bedeutungsvollen Gestalt integriert und immer dann zur Geltung kommt, wenn ein Erkennender oder praktisch Agierender seine Aufmerksamkeit von Einzelmerkmalen auf eine Ganzheit oder ein Ziel umrichtet. Mit seinen Ausführungen macht der ungarische Philosoph Anleihen bei der Gestaltpsychologie, die im Hinblick auf die Organisation der visuellen Wahrnehmung bereits vor ihm zeigen konnte, dass Gesichter dann (wieder-)erkannt werden

31 Polanyi hat implizites Wissen nicht als etwas Substanzielles, sondern als eine besondere Weise des ‚Wissens-in-Aktion‘ vor Augen: „Knowledge is an activity which would be better described as a process of knowing.“ (Polanyi 1969: 132 zit. nach Klappacher 2006: 31) In der englischen Originalversion seiner Schrift über Implizites Wissen (1985) spricht er deswegen überwiegend nicht von tacit knowledge, sondern von tacit knowing, um mit der grammatischen Progressivform dem Prozesscharakter des impliziten Wissens Rechnung zu tragen.

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können, wenn sich der Betrachtende nicht auf einzelne physiognomische Merkmale, sondern auf ein Gesicht als Ganzes konzentriert: „Implizites Wissen einer kohärenten Entität stützt sich auf unser Gewahrwerden der einzelnen Merkmale dieser Entität, um sich dieser letzteren zuzuwenden. […] Schalten wir dagegen unsere Aufmerksamkeit auf die einzelnen Merkmale um, so verlieren diese ihre Funktion als einzelne Merkmale, und die Entität, der unser Interesse galt, entzieht sich uns.“ (ebd.: 37)

Polanyi geht nun zunächst insofern über die Erkenntnisse der Gestalt- und Wahrnehmungspsychologie hinaus, als er zeigt, dass die integrative Kraft impliziten Wissens nicht nur in Wahrnehmungsakten, sondern auch in praktischen Fertigkeiten und Geschicklichkeiten wirksam wird. So betont er, dass sich das Können eines Klaviervirtuosen gerade nicht entfalten kann und sein Spiel gelähmt zu werden droht, wenn sich dieser auf die Aktivitäten einzelner seiner Finger oder einzelne Noten konzentriert (vgl. ebd.: 25). Gleiches gilt Polanyis Auffassung nach beim Fahrradfahren: Die explizite Konzentration auf die Bewegungsabläufe einzelner Körperglieder und die kognitiv-analytische Versenkung in die Ablaufdetails können die Fertigkeit behindern oder gar „paralysieren“ (ebd.: 26). Eine Fertigkeit entfaltet sich nur unter der Voraussetzung, dass der Fahrende seine Aufmerksamkeit auf den gewissermaßen ‚holistischen‘ Akt bzw. das Ziel des Fahrens selbst konzentriert und folglich Details seines praktischen Tuns auch auf Nachfrage hin nicht (mehr) sprachlich zu explizieren vermag. Entscheidend ist nun, dass Polanyi den Vorgang der Integration von Einzel- zu Ganzheiten als einen Akt der Einverleibung, Verinnerlichung oder Einfühlung32 qualifiziert: „Sie [die Dinge der Welt; KB] erscheinen uns als diejenigen Entitäten, auf die wir von jenen aus unsere Aufmerksamkeit richten, gerade so, wie wir unseren Körper als die äußeren Dinge empfinden, denen wir uns von ihm aus zuwenden. In diesem Sinne könnten wir sagen, daß wir uns die Dinge einverleiben, wenn wir sie als proximale Terme33 eines im-

32 An dieser Stelle bezieht sich Polanyi unter anderem auf Dilthey und Lipps, die Einfühlung und Empathie als eigentliche Wissensmodi des Menschen verstehen (vgl. ebd.: 24). 33 Polanyi spricht von zwei Termen impliziten Wissens. Als proximalen und körpernahen Term bezeichnet er die Einzelheiten, von denen im Akt des impliziten Wissens die Aufmerksamkeit abgelenkt wird. Als distalen und körperfernen Term bezeichnet

36 | M ITSPIELFÄHIGKEIT pliziten Wissens fungieren lassen – oder umgekehrt, daß wir unseren Körper [bzw. unsere Körperempfindungen; KB] soweit ausdehnen, bis er sie einschließt und sie uns innewohnen.“ (ebd.: 24)

Auch vermeintlich theoretisch-abstrakte oder rein intellektuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten wie das Führen eines mathematischen Beweises oder die wissenschaftliche Erkenntnis beruhen in Polanyis Verständnis auf Akten der Einverleibung und Einfühlung und rekurrieren auf genuin implizite Verstehens- und Erkenntnisvermögen. Selbst eine wissenschaftliche Theorie kann in dieser Sicht nur in der körperlich-praktischen Anwendung selbst erlernt werden; sie wird erst dann wirklich beherrscht, wenn sie verinnerlicht und ausgiebig zur praktischen Deutung von Erfahrungen verwendet wurde (vgl. ebd.: 27f.). Für Polanyi stellt der empfindende Körper damit jenen ‚Ort‘ dar, an dem im Akt des impliziten Wissens bedeutungslose Einzelheiten zu bedeutungstragenden Gestalten integriert werden. Er ist in seiner Perspektive das originäre Instrument und die Einfühlung oder Einverleibung der originäre Modus, in dem der Mensch sämtliche Kenntnisse über die Welt erlangt und erfolgreich in dieser agieren kann.34 Für Polanyi hat jedwedes Können, Wissen und Verstehen seinen Ursprung im empfindsamen Körper. 1.2.4 Implizites Wissen als Bewegungsgefühl Neben den kognitionspsychologisch ausgerichteten Ansätzen existieren gewissermaßen an den Rändern der Sportwissenschaft phänomenologische Zugänge, die sich insofern als hochgradig anschlussfähig an Polanyis Theorie des impliziten Wissens erweisen, als sie auf die unhintergehbare Bedeutung körperlichsinnlicher und gefühlsmäßiger Erkenntnispotenziale und Regulationsmomente für ein erfolgreiches Bewegungshandeln abstellen. Unterschiedliche theoretischempirische Arbeiten aus den Bereichen der Sportpsychologie und -soziologie liefern Hinweise darauf, dass für die situations- und fehlersensitive – und in dieser Hinsicht ‚intelligente‘ – Handlungsregulation erfahrungsabhängig sich ausdifferenzierende körperlich-sinnliche Eindrücke, Empfindungen und Wahrnehmungen sowie gefühlsmäßige und subjektive, für Dritte nicht unbedingt nachvollziehbare, Einschätzungen und Urteile von grundlegender Relevanz sind. Dieses

er demgegenüber die durch die integrative Kraft impliziten Wissens hergestellte Entität (vgl. ebd.: 18f.). 34 So hält Polanyi (ebd.: 40) die körperliche Empfindungsfähigkeit auch für „[d]as frappierendste Moment unserer eigenen Existenz“.

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weitgehend implizite, gefühlte und erspürte Bewegungswissen oder „Bewegungsgefühl“35 (Schönhammer 1991: 257; vgl. auch Lippens 2004) ermöglicht es Sportlern, ihre Bewegungen auch in kontingenten und unsicheren Kontexten sowie unter Zeitdruck adaptiv und situativ an die entsprechenden Umgebungsbedingungen anzupassen.36 Es fungiert dabei einerseits im Tun selbst als schnelle und flexible Instanz der Bewegungsregulation und -justierung. Andererseits vermögen, wie Schönhammer (1991: 259f.) unterstreicht, gekonnte und „[g]ewohnte Bewegungsweisen ihrerseits ein Bewegungsgefühl gewissermaßen zweiter Ordnung zu evozieren, eines, das nicht die Bewegung anleitet/ausrichtet, sondern der verselbständigten Bewegung ‚betrachtend‘ beiwohnt: nicht spüren, damit es läuft, sondern spüren, daß es läuft.“ (kursiv i.O.) Angedeutet ist mit der in diesem Zitat angelegten Unterscheidung von Bewegungsgefühlen erster und zweiter Ordnung, dass diesem Wissen nicht nur eine regulative, sondern auch eine reflexive Funktion zukommt. Es ermöglicht als „kinaesthetic awareness“ (Sutton 2007: 775) – als kinästhetische Aufmerksamkeit oder Bewusstheit – die Beurteilung der Bewegung sowie gegebenenfalls ihre Korrektur noch während des Vollzugs selbst und erlaubt ein fehlersensitives Vorgehen, indem es dem Sportler sofort signalisiert, wenn etwas anders als sonst oder schief läuft (vgl. ebd.). Reflexivität wird im Konzept des Bewegungsgefühls nicht, wie dies im Rahmen der (sport-)psychologischen Handlungs(regulations)theorien häufig ge-

35 Schönhammer (1991: 257) betont: „Sofern das Subjekt sich auf die Ausführung einer Bewegung konzentriert, erscheinen ihm aber nicht physiologische Parameter oder Regelkreise, sondern ein sprachlich nur andeutungsweise bezeichenbares Gemisch von (innerleiblichen, visuellen und akustischen) Eindrücken und inneren Ausrichtungen. Der vage Begriff ‚Bewegungsgefühl‘ kommt der Sache vielleicht am nächsten.“ 36 Es wird durchaus auch von sportpsychologischen Handlungs(regulations)theorien berücksichtigt, dass in der Organisation von Handlungen emotionale Regulationsmomente wirksam werden. Allerdings wird in diesem Zusammenhang zugleich unterstrichen, dass Handeln insbesondere in komplexen Situationen und Zusammenhängen maßgeblich durch das Bewusstsein gesteuert werde (vgl. Kapitel 1.1). Im Rahmen der phänomenologischen Zugänge wird das Bewegungsegfühl nicht als zufällige Emotion oder Gefühlsregung, sondern als durch praktische Erfahrungen erworbenes und auf die praktische Bewältigung von Aufgaben bezogenes implizites Bewegungswissen gefasst, welchem insbesondere auch in schwierigen, anspruchsvollen und komplexen Kontexten eine herausragende Relevanz zukommt. Vgl. hierzu auch neuere Arbeiten der Hirnforschung wie z.B. Damasio (2007) und Roth (2003), die zeigen, dass Gefühle essenziell für ‚vernünftige‘ Handlungen und rational-reflexiven Entscheidungen häufig überlegen sind.

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schieht, für die kognitiven Phasen der Planung und Evaluation einer Handlung reserviert, sondern im körperlichen Vollzug einer Handlung selbst lokalisiert und nicht als ‚reine‘ Verstandesleistung verstanden, sondern als ein genuin praktisches und körperlich-spürendes Vermögen kenntlich gemacht.37 Während im Rahmen sportpsychologischer Zugänge das Bewegungsgefühl in erster Linie als eine dem individuellen sportlichen Handeln zugrundeliegende Regulations- und Reflexionsinstanz in den Blick gebracht wird, thematisieren Arbeiten aus dem Bereich der (Sport- und Körper-)Soziologie dieses als wichtige Größe für die Abstimmung von Bewegungen zwischen zwei (oder mehr) Interaktionspartnern. Als Ergebnis autoethnografischer Studien versteht so etwa die Soziologin Allen Collinson (2008) körperlich-sinnliche Empfindungen und gefühlsmäßige Eindrücke als maßgebliche Informationsquellen für die Koordination zwischen zwei gemeinsam Laufenden. Zusammen zu laufen setzt in ihrem Verständnis ein durch gemeinsames Training entwickeltes verkörpertes Wissen sowie ein sich aus visuellen und akustischen Eindrücken speisendes Gespür für die Laufumgebung und den Laufpartner voraus. Auf der Basis einer fein differenzierten Wahrnehmung der Atmung, Mimik, Körperhaltung sowie des Laufstils des anderen sowie aufgrund von ritualisierten verbalen sowie nonverbalen Austauschprozessen entwickeln die Interaktionspartner ein Gefühl dafür, ob und wie die eigene Laufweise modifiziert und angepasst werden muss, um einen gemeinsamen Laufrhythmus zu finden bzw. beizubehalten und damit das Gelingen dieser Bewegungsinteraktion zu gewährleisten: „In particular, running-together requires of participants considerable effort and attention to the maintenance of approximately the same pace in order not to lose too great a degree of proximity and produce running-alone. Accomplishing running at more or less the same

37 Ähnliche Vorschläge, Reflexivität nicht als analytisch-distanzierende Denk- und Bewusstseinsleistung zu fassen, die sich vor oder nach dem Vollzug einer Aktivität ereignet, sondern als eine Art praktischer und sensibler Aufmerksamkeit im körperlichen Vollzug einer Handlung zu verorten, finden sich auch in Bourdieus Erläuterungen zum praktischen Reflektieren (vgl. Bourdieu 2001: 208f.), in Donald Schöns (2009: 49ff.) Erläuterungen zu einer reflection-in-action oder dem Konzept einer besonnenen Rationalität nach Dreyfus/Dreyfus (1988: 62). Umschrieben wird mit diesen verschiedenen Begrifflichkeiten eine Form des Nachdenkens, die – wie Bourdieu in seinem Spätwerk, den Mediationen (2001), erläutert – „nichts mit dem [Nachdenken] eines scholastischen Denkers zu tun“ (ebd.: 208) hat, sondern „über angedeutete Körperbewegungen […] der Praxis zugewandt bleibt und nicht demjenigen, der sie vollführt“ (ebd.).

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pace for the majority of the time presents quite a challenge, however, given that corunners are highly unlikely to run at the same pace ‚naturally‘, that is, left to set their own pace independently of the other.” (ebd.: 52f.)

Obwohl die Koordination des gemeinsamen Laufens also offenkundig ein Hochmaß an Aufwand und Aufmerksamkeit erfordert, so betont Allen Collinson, genügen miteinander vertrauten Läufern etwa kurze Blicke ins Gesicht oder auf die Körperhaltung des Anderen zur wechselseitigen Anpassung des Laufstils und -tempos. Das der Koordination des gemeinsamen Laufens zugrundeliegende Wissen bleibt der Praxis für gewöhnlich implizit, leitet diese stillschweigend sowie scheinbar mühe- und anstrengungslos38 an und ermöglicht zudem die Antizipation und schnelle Reaktion auf plötzlich auftretende Herausforderungen. Viele Kreuzungspunkte mit den Ausführungen Allen Collinsons zum gemeinsamen Laufen besitzen die Arbeiten des Sport- und Körpersoziologen Robert Gugutzer (z.B. 2010 und 2012), in denen er – unter Bezugnahme auf die Neophänomenologie von Hermann Schmitz – die Bedeutsamkeit eines leiblichen Spürens für das (Inter-)Agieren in Sport und Tanz theoretisch herleitet und empirisch belegt. Den Kristallisationspunkt der schmitzschen Neophänomenologie bildet ein „pathischer Leibbegriff“ (Gugutzer 2012: 13), mit dem der Leib vom physikalischen Körper unterschieden wird. Leiblichkeit bedeutet für Schmitz nicht die Gebundenheit an einen Körper, sondern das spürbare und affektive Betroffen- bzw. Ergriffensein von etwas; ihn interessieren die Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Erkenntnisvermögen des empfindsamen Leibes, der im Akt der Wahrnehmung oder des Erkennens gleichsam über die physikalischen Körpergrenzen hinaus expandieren kann.39 In Anlehnung an Schmitz versteht Gugutzer

38 Dass die im Normalfall scheinbar mühe- und anstrengungslos gelingende Interaktion hochgradig voraussetzungsvoll ist, wird etwa dann virulent, wenn die gemeinsame und routinierte Laufkoordination z.B. durch eine Verletzung gestört wird. In solchen Fällen muss das die gemeinsame Praxis fundierende Wissen mühevoll und aufwändig expliziert werden (vgl. Allen Collinson 2008). 39 Dieses Interesse unterscheidet Schmitzʼ Neophänomenologie von vielen anderen phänomenologischen Zugängen, in denen – wie etwa bei Merleau-Ponty – ebenfalls ein Leibbegriff an prominenter Stelle steht (vgl. Gugutzer 2012: 30). Merleau-Ponty interessiert sich im Gegensatz zu Schmitz nicht für die besonderen Qualitäten leiblicher Wahrnehmungen und Erfahrungen, sondern thematisiert den Leib als fundamentale Bedingung und Mittel des Menschen „überhaupt eine Welt zu haben“ (Merleau-Ponty 1966: 176). In seinem Verständnis beruhen Erkennen und Intentionalität auf einer „vorprädikativen Einheit“ (Wacquant 2006: 41) oder einem „Chiasmus“ (Merleau-

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den Leib als Ort und Gedächtnis eines durch praktische Erfahrungen erworbenen Wissens, oder – wie er in Anspielung auf Bourdieus Konzept des praktischen Sinns sagt – „Spürsinns“ (Gugutzer 2002: 116; vgl. auch Gugutzer 2012: 67). Diesem Spürsinn, der sich einer rational-reflexiven Kontrolle oft „eigensinnig“ (ebd.: 53) widersetze, wird von Gugutzer eine zentrale Relevanz für ein versiertes Bewegungshandeln jenseits bewusster Intentionen und expliziter Sinnzuschreibungen beigemessen. Worauf es aus seiner Sicht beim Sich-Bewegen ankommt, beschreibt er unter Zitation Gernot Böhmes folgendermaßen: „Ungestört, ‚erfolgreich‘ sich zu bewegen, stellt sich als die grundlegende ‚Aufgabe [dar], das Körperding, das wir auch sind, unter Leitung unseres leiblichen Spürens in Bewegung zu setzen‘ (Böhme 2003: 294). Sich den situativen Anforderungen entsprechend zu bewegen, impliziert anders gesagt, ‚durch leibliches Spüren körperliche Bewegungen zu formieren‘ (Böhme 2003: 297).“ (Gugutzer 2012: 52)

Der Umstand, dass Körper und Leib nicht zusammenfallen und damit auch leibliches Spüren nicht an individuelle Körpergrenzen gebunden ist, bedingt, dass es sich der Spürsinn ausdehnen und auf verschiedene Interaktionspartner verteilen kann. Schmitz bezeichnet diese Ausdehnung des leiblichen Spürens auf andere als Einleibung und betont, dass diese sowohl in Gestalt einer solidarischen Einleibung (wie etwa im Paartanz) als auch einer antagonistischer Einleibung (wie etwa beim Boxen) auftreten kann (vgl. hierzu auch Böhle/Fross 2009). Am Beispiel einer empirischen Untersuchung zur Contact Improvisation – als ein Fall solidarischer Einleibung – arbeitet Gugutzer (2010) die Bedeutung des Spürsinns als entscheidendes Organisationsprinzip menschlicher Interaktionen heraus. Gugutzers Studie zeigt, dass dem Spürsinn im tänzerischen Verständigungsprozess drei Funktionen zukommen: Erstens ist er darauf gerichtet, sich selbst zu spüren, um zweitens eine Bewegung gut ausführen zu können. Drittens wird dem Spürsinn darüber hinaus aber auch eine soziale Funktion zuteil, insofern er es dem

Ponty 2004: 172) von Mensch und Welt. Diese ursprüngliche und unvermittelte Weise des Zur-Welt-Seins bezeichnet Merleau-Ponty auch als Zwischenleiblichkeit bzw. Interkorporalität: „Innen und außen sind überhaupt nicht voneinander zu trennen“ (Wacquant 2006: 41) und von jeher miteinander verflochten; „[d]er Leib vereinigt uns durch seine Ontogenese direkt mit den Dingen“ (Merleau-Ponty 2004: 179). Bedingt durch diesen untrennbaren Zusammenhang von Leib und Welt sind intentionales Handeln und Verstehen möglich, ohne dass das reflektierende Bewusstsein den Dingen der Welt objektivierend und vermittelnd gegenübertritt und diese als vom Ich getrennte Instanzen voraussetzt.

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Tanzenden ermöglicht, den Interaktionspartner am eigenen Leibe zu spüren und auf dessen Bewegungen reagieren zu können (vgl. ebd.: 176ff.). Der Spürsinn ermöglicht in dieser letzten Funktion eine präreflexive Verständigung zwischen den Tanzenden sowie die Koordination des gemeinsamen Agierens, ohne dass das reflektierende Bewusstsein oder der Verstand vermittelnd eingreifen müssten (vgl. Gugutzer 2012: 61f.).40 Von der Bewegung des einen Interaktionspartners gehen in dieser vorreflexiven Verständigung Zumutungen – Gugutzer (2010: 170) nennt sie mit Schmitz „Bewegungssuggestionen“ – aus, die der andere Tanzende unmittelbar leiblich wahrnimmt und die für ihn Impulse zum (Re-) Agieren setzen. Es sind diese Bewegungssuggestionen, die nicht nur von den Bewegungen anderer Menschen, sondern auch von Dingen oder insbesondere Rhythmen evoziert werden können, welche den leiblichen Spürsinn eines Akteurs aufrufen und diesen zum Sich-Bewegen oder Handeln überhaupt erst animieren. Im Konzept der Bewegungssuggestionen ist eine Idee angelegt, mit der Gugutzer entscheidend über die zuvor dargestellten sportwissenschaftlichen Ansätze zum impliziten Wissen oder Bewegungsgefühl hinausgeht: Mit diesem Konzept wird Bewegungshandeln nicht länger aus der Mitte eines – auf welche Weise auch immer – wissenden Subjekts erklärt, sondern als Akt eines leiblichspürenden Angestoßen-Werdens des Agierenden durch ihm gewissermaßen ‚außermittige‘ Zumutungen konzeptualisiert. Eine identische Denkfigur durchzieht Gugutzers Ausführungen über soziale Situationen, die er wiederum in Auseinandersetzung mit der schmitzschen Neophänomenologie entfaltet. Gugutzer nimmt an, dass Handelnde stets in soziale Situationen eingebettet sind, die über einen

40 Die Arbeitsgruppe um den Arbeitssoziologen Fritz Böhle macht darauf aufmerksam, dass leibliche Verständigung nicht auf menschliche Interaktionen beschränkt ist, sondern auch im Kontext von industrieller Arbeit und Mensch-Maschine-Interaktionen wirksam ist. Die Wahrnehmung von und Auseinandersetzung mit technischen Sachverhalten, so ein Ergebnis der Studien, ist nicht auf objektivierbare Informationen zu reduzieren, sondern konstitutiv auf subjektive Empfindungen sowie ein implizites und erspürtes Erfahrungswissen angewiesen. Erfahrene Arbeiter etablieren zu ‚ihrer‘ Maschine eine mithin empathische Beziehung und beurteilen ihr (Nicht-)Funktionieren anhand einer subjektiven und qualitativen Einschätzung der von ihr ausgehenden Geräusche etwa als stimmig oder rund oder als kreischend und schmerzhaft. Dieses leibliche Empfinden verbürgt dabei einen flexiblen und adaptiven Umgang mit situativ auftretenden technischen Unwägbarkeiten sowie eine effiziente „Bewältigung des Unplanbaren“ (Böhle/Pfeiffer/Sevsay-Tegethoff 2004) jenseits objektivierender Denkund ausführlicher Planungsakte (vgl. ebd. sowie Böhle/Fross 2009).

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atmosphärischen Charakter verfügen. Atmosphären wiederum transportieren einen spezifischen und übersubjektiven Sinn, der dann zu einer subjektiven Tatsache werden und Handeln anstoßen kann, wenn er leiblich nahegeht und affektiv berührt. In diesem Verständnis folgt also Handeln nicht individuellen Sinnstiftungen oder Wissensbeständen, sondern realisiert vielmehr den Sinn, der Einzelnen vorgängig in einer sozialen Situation existiert und an dem die sich in einer Situation Befindenden leiblich spürend partizipieren (vgl. Gugutzer 2012: 174ff.). 1.2.5 Affordanzen und implizites Wissen In der ökologischen Psychologie wird auf den im Begriff der Bewegungssuggestionen angelegten Aufforderungscharakter von Bewegungen, Situationen oder Dingen mit dem Konzept der Affordanzen abgehoben, welches auch in verschiedenen Teildisziplinen der Sportwissenschaft einige Aufmerksamkeit erfährt.41 Gibson (1982), der den Begriff der Affordanzen erfunden und maßgeblich geprägt hat, nimmt an, dass Handlungen durch Angebote, Auf- und Anforderungen der Umwelt (etwa durch Dinge oder Ereignisse) motiviert werden, deren Werte und Bedeutungen vom Handelnden nicht erst am Ende einer aufwändigen ideellen Prozessierungs- und Reflexionskette, sondern direkt wahrgenommen werden. Affordanzen liegen dabei insofern quer zu etablierten Subjekt-Objekt-Trennungen, als sie weder rein objektiv vorfindbare Gegebenheiten noch bloß subjektive Wahrnehmungen sind. Dinge der Umwelt existieren als (bedeutungsvolle) Affordanzen und Handlungsanlässe immer nur für jemanden und in dieser Hinsicht immer nur im Dazwischen von Subjekt und Umwelt bzw. Subjekt und Objekt; sie beschreiben eine Relation.42 Gibson (ebd.: 139) führt aus:

41 Vgl. für die Sportpsychologie z.B. Araujo/Davids/Hristovski (2006) und für die Sportsoziologie Alkemeyer/Schmidt (2006) sowie Schmidt (2006a). 42 Mit Waldenfelsʼ Konzepten der Aufforderungskomplexe (vgl. Waldenfels 1994: 481ff.) und des responsiven Handelns (vgl. z.B. Waldenfels 2004) liegen weitere Vorschläge zur Überwindung der notorischen Subjektzentrierung zahlreicher Handlungskonzeptionen vor. So argumentiert Waldenfels, dass Dingen, Situationen und Ereignissen – wie er mit Bezug auf die Gestaltpsychologie Lewins sagt – Appelle und Aufforderungscharaktere innewohnen, die den sie Wahrnehmenden zu einem bestimmten Tun anregen. „Aufforderungskomplexe zeichnen sich also dadurch aus, daß jeweils etwas auftritt, das nicht nur auf etwas anderes bezogen ist, sondern dazu aufruft, dieses andere herbeizuführen. Aufforderungscharaktere sind im eigentlichen Sinne keine Eigenschaften, sondern Fremdbezüge der Dinge. Darin streben die Dinge über sich

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„In Wirklichkeit aber ist ein Angebot weder etwas Objektives noch etwas Subjektives; man könnte auch sagen, daß es beides zugleich ist. Es überwindet die Dichotomie zwischen dem Subjektiven und Objektiven und hilft uns, die Unangemessenheit dieser Zweiteilung zu begreifen. Ein Angebot ist zugleich ein Faktum der Umwelt als auch eines des Verhaltens. Es ist sowohl etwas Physisches als auch etwas Psychisches und doch keines von beiden. Ein Angebot weist in beide Richtungen, auf die Umwelt und zum Beobachter.“

Dass die Wahrnehmung und die Realisierung von Affordanzen im praktischen Tun bestimmten – sozialen und kulturellen – Voraussetzungen unterliegt, die sich zwischen Subjekt und Objekt entspinnende Relation also eine auf diese Weise bedingte ist, wird insbesondere von sportsoziologischen Ansätzen betont, die die Erkenntnisse der ökologischen Psychologie mit dem Habitus-Konzept Pierre Bourdieus (vgl. z.B. 1987a) zu verknüpfen versuchen. Nur für solche Akteure, so lautet das zentrale Argument dieser Ansätze, die durch umfangreiche praktische Erfahrungen für deren Wahrnehmungen prädisponiert sind, geben sich in einer spezifischen Sportumgebung, Spielkonstellation oder an Sportgeräten Handlungsangebote überhaupt zu erkennen und sind diese in kompetenten Handlungen realisierbar. Zu einer Affordanz wird ein Artefakt, eine Situation oder aber die Bewegung eines anderen nur für jemanden, der über zu den sich hierin objektivierenden Bedeutungen und materialisierenden Gebrauchs- bzw. Antwortmöglichkeiten passende bzw. resonanzfähige Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen, einen passenden praktischen Sinn in Gestalt eines verkörperten und impliziten Wissens verfügt (vgl. auch Alkemeyer 2006). Eine ganz ähnliche, relationistische Denkweise fundiert systemdynamische Zugänge zum Bewegungslernen (vgl. Birklbauer 2006: 383ff.; Kelso 1997; Schöllhorn 1998; Thelen/Smith 2007). Ebenso wie die ökologischen Theorien lehnen diese Zugänge Repräsentationsannahmen ab und verorten Bewegungslernen in den dynamischen Interaktionen von Mensch und Welt. Mit dem Postulat einer differenziellen Selbstorganisation gehen sie davon aus, dass Lernen nicht linear voranschreitet, sondern sich in Anhängigkeit von subjektiven Zuständen und individuellen Vorerfahrungen des Lernenden sowie jeweiligen Umgebungsbedingungen – sogenannten constraints – in diskontinuierlichen Schwankungen und über verschiedene Phasenübergänge hinweg fortlaufend situativ selbst reguliert.

hinaus, indem sie an responsive Wesen appellieren, die auf diese Forderungen ansprechen. Wenn etwas zu tun ist, dann für jemanden. Aufforderungskomplexe haben die Struktur: etwas zu etwas für jemanden.“ (Waldenfels 1994: 482; kursiv i.O.)

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1.3 E RSTES Z WISCHENFAZIT Über alle Unterschiede hinweg sind den in den letzten Abschnitten dargestellten Ansätzen ‚anderen‘ Wissens die Tendenz und das Bemühen gemein zu plausibilisieren, dass für ein gekonntes Agieren im Bereich des Sports Wissensformen, Fähigkeiten und Vorgehensweisen gefragt sind, denen in hegemonialen Handlungs(regulations)theorien eine allenfalls sekundäre Bedeutung beigemessen wird. In ihrer Gesamtheit tragen die alternativen Modelle zu einer systematischen Erweiterung des Diskurses um ein ‚intelligentes‘ Handeln bei, befreien implizite, intuitive, erspürte oder verkörperte Fähigkeiten von irrationalen Konnotationen und unterziehen diese einer kategorialen Aufwertung, indem sie sie als grundständige Wissensformen kenntlich machen. Gemeinsam ist den verschiedenen – und mitunter sehr heterogenen – Konzeptionen ‚anderen‘ Wissens damit ein anti-intellektualistischer Impetus. Zu Recht hinterfragen und kritisieren sie, dass in Konzeptionen, die sich vorwiegend für die rational-reflexiven, planmäßigen, expliziten und sprachförmigen Anteile eines versierten Handelns interessieren, eine dualistische und hierarchische Auffassung des Verhältnisses von Körper und Geist fortgeschrieben wird. Auf der Folie dieser Kritik argumentieren sie schließlich für eine Überlegenheit vorsprachlicher und präreflexiver Wissensformen sowie gefühlter und körperlich-leiblicher Erkenntnisqualitäten im Hinblick auf die Realisation körperlicher Fertigkeiten. Gelegentlich überspitzen die Theoretiker ‚anderen‘ Wissens dabei jedoch ihre Kritik und schreiben selbst typische Gegenüberstellungen fort. Wenn etwa Polanyi (1985: 25f.) in manchen Formulierungen nahelegt, dass bewusste Denkakte und Analysen das implizite Wissen seiner integrativen Kraft berauben und praktische Fertigkeiten paralysieren sowie Bedeutungen zerstören können oder Gugutzer betont, dass es nicht nur in sportlichen, sondern auch in alltäglichen Interaktionen darum gehe, zu spüren statt nachzudenken,43 droht die Gefahr, dass Dualismen von Körper und Geist, Implizitheit und Explizitheit oder auch von Denken und Fühlen oder Spüren, welche diese Modelle eigentlich zu überwinden beanspruchen, gleichsam ‚durch die Hintertür‘ unter umgekehrten Vorzeichen wieder eingeführt und die menschlichen Wissens-, Erkenntnis- und Handlungsfähigkeiten wiederum nur einseitig in den Blick genommen werden. Nicht zuletzt kommt diese Gefahr zur Reproduktion etablierter Gegensätze in der Bezeichnung ‚anderes Wissen‘ selbst zur Geltung, insofern diese nämlich ein

43 „Menschen verstehen sich in alltäglichen Interaktionen mindestens ebenso sehr oder oft in dem leiblichen Sinne, dass sie den subjektiv gemeinten Sinn ihres Interaktionspartners erspüren, anstatt ihn rational zu erfassen.“ (Gugutzer 2006a: 4537; Herv. KB)

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Denken in antagonistischen Kategorien von ‚Das-eine-gegen-das-andere‘ nahelegt. Trotz mancher Unterschiede, die die auf den vorangehenden Seiten besprochenen alternativen Erklärungsmodelle von Handlungs(regulations)theorien absetzen, besteht zumindest eine Kontinuität darin, dass auch jene vielfach noch den für diese charakteristischen methodologischen Individualismus übernehmen und hiermit die Tradition fortschreiben, Handeln und soziale Zusammenhänge wie Spiele von einzelnen Akteuren aus zu denken und zu untersuchen. ‚Anderes Wissen‘ erscheint vielfach als eine Art individueller Besitz, welchen der Handelnde im Tun gleichsam ungehindert ‚ausagiert‘ und dessen Erwerbs-, Geneseund Aktualisierungsbedingungen zumeist weitestgehend unspezifiziert bleiben.44 Ansätze zur Überwindung dieser sehr dominanten und beständigen Subjektzentrierung finden sich in den von Gugutzer für die Analyse des (Inter-)Agierens in Sport und Tanz in Anschlag gebrachten Konzepten der Bewegungssuggestionen und sozialen Situationen sowie in jenen sportsoziologischen Arbeiten, die das Affordanzkonzept für die Modellierung des (sportlichen) Handelns fruchtbar machen. Den Ausgangspunkt dieser Ansätze bilden nicht ein Subjekt und dessen individuelle Handlungsfähigkeiten oder Wissensbestände. Vielmehr wird Handeln hier als ein grundsätzlich außermittiges, relationales Geschehen begriffen und in das Dazwischen von Situation bzw. Kontext und Handelndem verlagert. Zum Handeln kommt es in dieser Perspektive nur dann, wenn ein Akteur durch die Wahrnehmung von Objekten, Bewegungen und Ereignissen in seiner Umwelt aufgrund eines praktischen Sinns oder Spürsinns zum Agieren angestoßen wird. Zwar betont Gugutzer in Absetzung von Schmitz, der die Fähigkeit zum leiblichen Spüren als anthropologisches Datum unterstellt, dass der Spürsinn trainiert werden kann und sozial sowie kulturell formiert ist (vgl. z.B. Gugutzer 2006a: 4541). Auch in seinen Arbeiten finden sich jedoch Formulierungen, die den Leib als universelles Datum voraussetzen und bleibt das konkrete Wie der Genese und Formierung des Spürsinns weitgehend im Dunkeln.

1.4 S PORTLICHES H ANDELN PRAXISSOZIOLOGISCHER

IN

P ERSPEKTIVE

Die vorliegende Arbeit ordnet sich in eine Reihe von theoretisch-empirischen Studien ein, die sich der Frage nach der Mikrologik des Machens von Sport unter Anlegung einer praxissoziologischen Analytik annähern. Auch in praxeologi-

44 Ausnahmen bilden die sportpsychologischen Untersuchungen zum impliziten Lernen.

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scher Perspektive45 wird zumeist davon ausgegangen, dass für das gekonnte Agieren im Sport implizite und verkörperte Wissensbestände von vorrangiger Bedeutung sind. In fundamentalem Gegensatz zu den bisher diskutierten Konzeptionen ‚anderen‘ Wissens interessieren sich praxissoziologische Ansätze für dieses Wissen jedoch nicht primär in Zurechnung zu individuellen Handelnden, sondern in Zurechnung zu Praktiken, d.h. organisierten und typisierten Bündeln von Aktivitäten, wie dem Fußballspielen, dem Boxen oder Kämpfen. In diesen Praktiken sind Akteure keine völlig autonomen und ‚naturwüchsig‘ wissenden sowie handlungsfähigen Subjekte, sondern Teilnehmer unter anderen, die erst im Zuge ihrer Partizipation an den Praktiken die gefragten Handlungs- oder besser: Mitspielfähigkeiten entwickeln. Das vorrangige Interesse einer Praxeologie des Sports gilt eben deshalb nicht nur der Frage danach, was es für ein Wissen ist, das sportliche Praktiken organisiert und zusammenhält, sondern auch der – von den Konzepten ‚anderen Wissens‘ vielfach vernachlässigten – Frage danach, wie sich die Teilnehmer einer Praktik an diesem partizipieren und den Status kompetenter Mitspieler erst erlangen. Die in Gugutzers Arbeiten und dem Affordanzkonzept angelegte De-Zentrierung des handelnden Subjekts wird damit von praxeologischen Ansätzen gleichsam zugespitzt und radikalisiert: In dieser Perspektive werden nicht sportliche Handlungen von einem von vornherein als wissend und handlungsfähig unterstellten Subjekt aus gedacht, sondern das Subjekt sowie sein Wissen und seine Mitspielfähigkeiten umgekehrt von sportlichen Praktiken und seiner Beteiligung an diesen ausgehend verstanden und untersucht. Diese analytische Privilegierung von Praktiken gegenüber einzelnen Handlungen und individuellen Handelnden übersetzt sich in das methodische Design jener praxeologischen Arbeiten, die den Sport und seine Akteure auch empirisch untersuchen. Diesen Arbeiten liegen keine experimentellen Verfahren zugrunde, mit denen die eine Praktik konstituierenden Aktivitäten dekomponiert, aus den üblichen Kontexten von Spiel, Training und Wettkampf in ein Labor verlagert und Untersuchungspersonen aus praktischen „Verflechtungszusammenhängen“ (Elias 2004: 146) ‚ausgeschnitten‘ werden. Stattdessen handelt es sich bei ihnen um (auto-)ethnografische Studien, mit denen sportliche Praktiken in vivo beobachtet und schließlich analysiert werden. Larissa Schindler (2011a) beispielsweise untersucht Praktiken des Kampfkunsttrainings dahingehend, wie in ihnen praktisches Wissen kommuniziert bzw. vermittelt und so sukzessive Kampffertigkeiten angebahnt werden. Ähnliche Fragen stehen auch für Thomas Alkemeyer im Vordergrund einer praxeologischen Untersuchung des Sports. So fragt er nicht nur danach, welche Fähigkeiten und Wissensbestände Mitspielfähigkeit

45 Vgl. Kapitel 2.1.1 zur Unterscheidung der Begriffe Praxistheorie und Praxeologie.

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etwa im Fußball verbürgen (vgl. Alkemeyer 2006), sondern interessiert sich auch dafür, wie im Setting sportlichen Trainings im Rahmen verschiedener – impliziter, sich nicht ausdrücklich als solche zu erkennen gebender, und expliziter, pädagogisch-didaktischer – Praktiken des Zeigens praktisches Wissen für Trainerkorrekturen und Aneignungen verfügbar gemacht wird (vgl. Alkemeyer 2011; Alkemeyer/Michaeler 2013). Die wohl prominenteste praxeologische Arbeit über den Sport stellt eine autoethnografische Studie Wacquants (2003) dar. In dieser reflektiert und interpretiert er seine eigene langjährige Teilnahme am Boxtraining im Hinblick auf die „implizite und kollektive Pädagogik“ (ebd.: 103) sowie die Mechanismen der Ausbildung eines boxerischen Habitus und praktischen Sinns in Praktiken des Trainierens und des Kämpfens selbst. Die vorliegende Arbeit folgt der Tradition dieser praxeologischen Zugänge zu Sport und sportlichem Training. Sie unterscheidet sich von diesen jedoch in ihrem Analysefokus und Interesse an Subjektivierungsprozessen. Im Unterschied zu den bereits existierenden praxeologischen Zugängen zum Sport steht hier nicht nur die Frage im Fokus, wie die Teilnehmer von Praktiken an dem diese organisierenden Wissen zu partizipieren lernen oder einen Habitus ausbilden, der ihnen die Ausführung praktikadäquater Bewegungen ermöglicht, sondern soll insbesondere auch herausgearbeitet werden, wie die Teilnehmer von Praktiken lernen, sich in diesen zu orientieren, Praktiken (etwa auch im Angesicht von Unsicherheiten oder ‚Störungen‘) gemeinsam vollziehen oder auch verändern und sich dabei als Team selbst organisieren. Es geht damit darum, die Gleichzeitigkeit der Ausformung von Praktiken und der (Selbst-)Bildung ihrer Teilnehmer konzeptionell auszuarbeiten und empirisch auszuleuchten.

2. Theoretischer Rahmen für die empirische Analyse

Im Feld der Soziologie kommt den Praxistheorien das Verdienst zu, die körperlichen, impliziten und beobachtbaren Dimensionen sowie insbesondere den Vollzugscharakter des Sozialen weitaus konsequenter zu berücksichtigen als die meisten anderen soziologischen Theorien (etwa Handlungs-, Struktur- oder Systemtheorien) und mit ihrem Interesse an sozialen Praktiken sowohl einen Individualismus und Mentalismus als auch einen kruden Strukturalismus bzw. Determinismus zu vermeiden. In diesem Kapitel erfolgt im Anschluss an eine (würdigende) Darstellung zentraler Grundannahmen der neueren einschlägigen praxeologischen Arbeiten von Reckwitz (2003), Schatzki (2002) und Schmidt (2012) eine kritische Auseinandersetzung mit diesen. In ihrem Zuge wird argumentiert, dass die betreffenden Zugänge dazu tendieren, Praktiken als routiniert gelingende, selbstläufige Vollzüge in den Blick zu nehmen, in welche einzelne Teilnehmer über implizite Wissenstransfers und eine präreflexive Inkorporierung von Schemata eingepasst werden. Vernachlässigt wird in dieser Perspektive weitgehend, wie sich die Teilnehmer zum einen selbst in Praktiken orientieren, deren Anforderungen ganz konkret bewältigen, und sie zum anderen „gewußt und gewollt“ (Foucault 1986: 18) an ihrer eigenen Hervorbringung als kompetente Mitspieler mitwirken. Um diesen Verkürzungen zu begegnen und den Perspektiven der Teilnehmer in Praktiken stärker Rechnung zu tragen, ohne diese dabei jedoch als autonome Zentren der Initiative vorauszusetzen, wird vorgeschlagen, die praxeologische Analytik durch interaktions- und subjektivierungstheoretische Überlegungen zu ergänzen. Im dritten Schritt schließlich werden aus den praxeologischen Grundannahmen und den identifizierten Kritikpunkten bzw. Präzisierungsnotwendigkeiten Forschungsfragen und Beobachtungsschwerpunkte entwickelt, die die empirische Analyse leiten werden.

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2.1 P RAXEOLOGISCHE G RUNDANNAHMEN Unter dem Schlagwort des practice turn46 (Schatzki/Knorr Cetina/v.Savigny 2001) haben sich seit den 1980er Jahren im Feld der Sozial- und Kulturwissenschaften verstärkt theoretische Ansätze herausgebildet, die Sozialität und menschliche Aktivität unter den Vorzeichen eines Primats der Praxis sowie einer „De-Zentrierung des Subjekts“ (Reckwitz 2003: 297) diskutieren und neu konzeptualisieren. Die grundsätzliche Gemeinsamkeit dieses von Andreas Reckwitz (ebd.) unter den Begriff der Praxistheorien subsumierten Bündels an familienähnlichen Analyseansätzen, zu welchen er etwa Latours Actor-Network-Theorie, Bourdieus Theorie der Praxis, die ethnomethodologischen Studies of Work (Garfinkel, Bergmann) oder Giddensʼ Strukturierungstheorie rechnet, besteht darin, dass sie soziale Phänomene weder von souveränen Subjekten und deren individuellen Absichten, Entscheidungen, Plänen oder Handlungen noch von abstrakten Strukturen aus erklären, sondern mit ihren Erörterungen in Fortführung eines bereits beispielsweise bei Marx, Wittgenstein oder im amerikanischen Pragmatismus angelegten Denkstils an einer materiellen und kollektiven sozialen Praxis ansetzen. Dabei postulieren sie eine Irreduzibilität des praktisch-materiellen Tätigseins auf mentale Akte oder prägende Strukturen und weisen sozialer Praxis insofern einen vorrangigen Status bei, als sie davon ausgehen, dass sich sämtliche Erkenntnis-, Denk-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeiten des Menschen erst in dieser ausbilden.47 Im Vordergrund neuerer praxissoziologischer Arbeiten steht nun jedoch nicht vorrangig die Auseinandersetzung mit sozialer Praxis – hier verstanden als materieller und kontingenter Tätigkeits-, Vollzugs- und Wirkungszusammenhang – im Allgemeinen, sondern der Versuch, eine Konzeption sozialer Praktiken – verstanden als kulturell geformte, ort- und zeitspezifische und empirisch

46 Ob diese Entwicklung tatsächlich – wie der Begriff des turns nahelegt und vielfach behauptet wird – einen Paradigmenwechsel markiert, hinterfragt allerdings Bongaerts (2007). Statt ein innovatives Konzept von Sozialität und Handeln zu entwickeln, griffen die entsprechenden Theorievorschläge vielmehr lediglich auf Ideen und Denkfiguren zurück, die bereits in jenen handlungstheoretischen Konzeptionen selbst angelegt seien, gegen welche sich die praxistheoretischen Ansätze in Stellung brächten und ihre Argumente profilierten. 47 So betont Marx in seiner achten These über Feuerbach: „Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.“ (http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_533.htm; kursiv i.O.)

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identifizierbare Erscheinungsformen sozialer Praxis – zu entwickeln. So betont Andreas Reckwitz, dessen systematisierende und programmatische Überblickarbeiten (insb. 2003) neben den empirisch-konzeptionellen Studien von Robert Schmidt (2012) sowie den Beiträgen des amerikanischen Sozialphilosophen Theodore Schatzki (insb. 2002) in dieser Hinsicht zumindest im deutschsprachigen Raum maßgeblich für das Verständnis sozialer Praktiken sind: „Aus praxeologischer Perspektive geht es weniger um die emphatische Totalität einer ‚Praxis‘, sondern darum, dass sich die soziale Welt aus sehr konkret benennbaren, einzelnen, dabei miteinander verflochtenen Praktiken (im Plural) zusammensetzt: Praktiken des Regierens, Praktiken des Organisierens, […].“ (Reckwitz 2003: 289; kursiv i.O.)

Praktiken werden in den genannten Arbeiten als „typisierte[], routinisierte[] und sozial ‚verstehbare[]‘ Bündel von Aktivitäten“ (ebd.) sowie wiedererkennbare und organisierte „nexuses of action“ bzw. „[of] bodily doings and sayings“48 (Schatzki 2002: 72) verstanden und anhand folgender Kriterien näher spezifiziert: erstens ihrer Überindividualität und Kollektivität, zweitens ihrer lokalen und materiellen Situiertheit sowie ihrer spezifischen Temporalität, drittens ihrer Körperlichkeit, viertens ihrer Normativität und Intentionalität sowie fünftens ihrer Öffentlichkeit und prinzipiellen Beobachtbarkeit. 49

48 Unter sayings versteht Schatzki dabei nicht in erster Linie sprachliche Äußerungen, sondern „doings that say something“, also Gesten wie das Schütteln des Kopfes, das Winken mit der Hand oder das Augenzwinkern (Schatzki 2002: 72). 49 Schatzki (ebd., S. 88) unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Kategorien von Praktiken, den integrative practices auf der einen und den dispersed practices auf der anderen Seite. Während er unter ersteren komplexe Entitäten fasst, die eine Vielzahl von Aktivitäten und Zielen miteinander verbinden, versteht er unter letzteren solche Praktiken, die sich um „a single type of action“ (ebd.) zentrieren und in gleichbleibender Form in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens bzw. unterschiedlichen integrative practices auftauchen. Die in den nächsten Abschnitten folgenden Merkmalsbestimmungen von Praktiken besitzen vollständige Gültigkeit nur für die integrative practices. So verfügen laut Schatzki (2002: 88) beispielsweise die dispersed practices zumeist nicht über eine teleoaffektive Struktur (vgl. Kapitel 2.1.5) und werden lediglich durch ein praktisches Verstehen organisiert.

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2.1.1 Vorbemerkung zum Verhältnis von Praxeologie, Empirie und Sport Um einer Reifizierung von Praktiken durch die Ausführungen der folgenden Kapitel vorzubeugen, scheint es im Vorfeld der Erläuterung der aufgezählten Merkmale von Praktiken wichtig, anzumerken, dass sich eine Vielzahl der unter dem Etikett der Praxistheorien firmierenden Ansätze „in enger Verbindung mit der empirischen Forschungsarbeit und über die Reflexion von Forschungserfahrungen herausgebildet“ (Schmidt 2012: 28) hat und in erster Linie nicht theoriearchitektonische, sondern empirisch-analytische Zielsetzungen verfolgt.50 Die in den folgenden Abschnitten erläuterten Merkmale beschreiben nicht Eigenschaften empirisch ‚vorfindbarer‘ Praktiken-Entitäten, sondern sind als empirisch gewonnene Kriterien zu verstehen, auf deren Folie soziale Phänomene als Praktiken (und eben nicht beispielsweise als Handlungen, Interaktionen oder Strukturen) in den Blick geraten und analysierbar werden. Auffällig ist dabei, dass der Beobachtung der Gegenstände Sport und Spiel für die Entwicklung dieser Kategorien eine geradezu herausragende Bedeutung zukommt. Obwohl sich so nur die wenigsten praxeologischen Arbeiten ausdrücklich und vorrangig für die Analyse sportlicher oder spielerischer Phänomene interessieren – die wenigen Ausnahmen finden sich in Kapitel 1.4 benannt und erläutert –, ziehen zahlreiche praxeologische Ansätze gern und häufig Beispiele und Beobachtungen aus den Bereichen von Spiel und Sport heran, um Sozialität und Aktivität als Praktiken zu perspektivieren und verstehbar zu machen (vgl. Schmidt 2012: 38ff.). Verschiedene Soziologen, deren Arbeiten dem Feld der Praxistheorien zuzurechnen sind, entwickeln, plausibilisieren und schärfen ihre Ausführungen über Praktiken unter Verwendung einer „Heuristik des Spiels“ (ebd.: 38), mit deren Hilfe sie beispielsweise soziale Zusammenhänge als Fußballspiele, soziale Akteure als deren Mitspieler und Handlungsfähigkeit als Mitspielfähigkeit neu beschreiben. So modellieren etwa Elias/Dunning (2003: 338ff.) das Soziale vor dem empirischen Hintergrund einer Beobachtung von Fußballspielen als „Figuration“, in der alle Beteiligten in vielfältigen wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen zueinander stehen, konzipiert Bourdieu (1987a: 122ff.) den praktischen Sinn als einen „Sinn für das Spiel“, um diesen als Mechanismus einer quasi-instinktiven und genuin körperlichen Orientierung in der Welt verständlich zu machen, und ver-

50 Zumal auch die Bezeichnung Praxistheorien diesen vorrangig methodischanalytischen und heuristischen Anspruch der entsprechenden Konzeptionen verschleiert, wird er in der Folge durch den treffender erscheinenden Begriff Praxeologie ersetzt.

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anschaulicht Mead (2000: 81f.) am schnellen Schlagabtausch im Boxen die Mechanismen eines intuitiven und vorreflexiven interaktiven Austauschs signifikanter Gesten.51 Die Perspektivierung des Sozialen als Spiel oder Sport richtet die Aufmerksamkeit auf die Verflochtenheit und Interdependenz von Akteuren und deren Aktivitäten, auf die stummen, körperlichen und normativen Dimensionen beobachtbarer, praktischer Vollzüge sowie auf die implizit-intuitiven Weisen des Verstehens und Agierens. Sie stellt den Blick auf Eigenschaften sozialer Phänomene ein, die „üblicherweise im Alltäglichen, Offensichtlichen und Selbstverständlichen verborgen sind“ (Schmidt 2012: 103) und im Dunkeln bleiben, wenn man das Soziale – wie in der Soziologie gemeinhin üblich – über Handlungen, Interaktionen, Institutionen oder Systeme zu erschließen versucht (vgl. auch Schmidt 2006b: 297f.). Für die Praxeologie besitzen die Gegenstände Spiel und Sport einen hohen analytischen Wert und konstituieren ein „soziologisches Laboratorium“ (Alkemeyer 2006: 287), in dem Beobachtungskategorien entwickelt, Optiken geschult und schließlich auch theoretische Erkenntnisse gewonnen werden können, die in ihrer Relevanz weit über diesen spezifischen Phänomenbereich hinausweisen. 2.1.2 Die Überindividualität und Kollektivität von Praktiken Praktiken werden als organisierte Verkettungen von Aktivitäten und (wieder-) erkennbare Vollzugsformen verstanden und analysiert, die sowohl einzelnen Akteuren als auch deren individuellen Handlungen vor- bzw. übergeordnet sind.52 Es handelt sich bei ihnen erstens um überindividuelle und in dieser Hinsicht soziale sowie zweitens um kollektive Vollzüge bzw. Vollzugsformen. Überindividuell und sozial sind Praktiken insofern, als beispielsweise nicht jeder einzelne Fußballspieler auf beliebige und rein idiosynkratische Weise Fußball spielt, sondern sich jeder Fußballspieler bestimmter sozial regulierter und überindividueller Formen anbequemen muss, um als Fußballer anerkannt zu werden und an den praktischen Zusammenhängen, die wir als Fußballspiel identifizieren

51 Beliebt sind Sportvergleiche auch bei anderen Philosophen und Soziologen, die gemeinhin nicht der Familie der Praxistheorien zugerechnet werden. So illustrieren auch Dreyfus/Dreyfus (1988: 52ff.), Ryle (1969: 59) und Luhmann (1995, S. 251) die Mechanismen eines Handelns jenseits rationaler Planung und sprachlicher Reflexion an Beispielen aus dem Sport. 52 Vgl. Kapitel 2.1.7 zum praxeologischen Verständnis des Verhältnisses von Praktiken und Handlungen.

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und beschreiben, partizipieren zu können.53 Kollektiv sind Praktiken insofern, als an ihrem konkreten Vollzug stets verschiedene Entitäten sowohl menschlicher als auch nicht-menschlicher Art – z.B. natürliche Dinge, materielle Artefakte, Tiere, Infrastrukturen – beteiligt sind, welche auf je ihre Weise einen Beitrag zu ihm leisten, ohne dass die einzelnen Beteiligten diesen jedoch jemals vollständig kontrollieren können. Praktiken gehen nicht von einzelnen Akteuren, und deren individuellen Willensakten und Handlungsentschlüssen aus, sondern überspannen die Aktionen ihrer verschiedenen Teilnehmer als kollektive Verflechtungsgeschehen. Akteure interessieren dementsprechend nicht als autonome Zentren der Initiative, sondern als Mitspieler bzw. Teilnehmer neben anderen, die zu diesen in vielfältigen Abhängigkeitsverhältnissen und Interdependenzbeziehungen stehen (vgl. auch Elias 2004); ihre Handlungen treten als Antworten auf in den praktischen Verflechtungen sich ergebende Anschlussmöglichkeiten in den Blick. In den praxeologischen Erklärungsansätzen tritt „[a]n die Stelle einer Theorie des handelnden Subjektes […] damit eine Konzeption von Teilnehmerschaft“ (Schmidt 2012: 218) und an die Stelle der Frage nach den Dimensionen und Merkmalen individueller und mithin ‚naturwüchsiger‘ Handlungsfähigkeit diejenige nach den Dimensionen und Merkmalen sowie mitunter auch den Genesebedingungen von Mitspielfähigkeit in Praktiken. Uneinigkeit besteht indes zwischen den verschiedenen praxeologischen Positionen darüber, inwiefern unterschiedliche menschliche und nicht-menschliche „Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004: 73) als gleichermaßen einflussreiche Teilnehmer von Praktiken betrachtet werden können. Während die ActorNetwork-Theorie materiellen Artefakten, Dingen etc. einen den Menschen gleichrangigen Aktantenstatus attribuiert (vgl. Latour 1996), versteht Schatzki (2002: 105) sich selbst in Abgrenzung zum symmetrischen Zugang Latours insofern als Vertreter eines asymmetrischen „agential humanism“, als er davon ausgeht, dass menschliche Aktivität im Rahmen von Praktiken zwar an Objekte und Artefakte gebunden und von diesen beeinflusst ist, Menschen jedoch aufgrund ihrer Befähigung zu Reflexion und Intentionalität auf den Fortgang einer Praktik einen ungleich größeren Einfluss nehmen können (vgl. ebd.: 121; vgl. auch Reckwitz 2003: 298). In Anlehnung an Schatzkis Vorschlag wird in der vorliegenden Arbeit begrifflich zwischen Partizipanden und Mitspielern unterschieden. Als Partizipanden werden dabei alle Instanzen – wie z.B. auch Dinge, Räumlichkeiten, Regeln oder Wissensordnungen – verstanden, die in irgendeiner Weise einen Unterschied in einer Praktik machen (vgl. Hirschauer 2004). Der

53 Bei der durchaus üblichen Bezeichnung ‚soziale Praktiken‘ handelt es sich damit um einen Pleonasmus (vgl. auch Jaeggi 2014: 97).

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Begriff der Mitspieler wird für diejenigen Teilnehmer reserviert, die in der Lage sind, sich – auch reflexiv und kritisch54 – zu einer Praktik zu verhalten. 2.1.3 Die lokale und materielle Situiertheit und spezifische Temporalität von Praktiken Zwar schreibt Schatzki menschlichen Teilnehmern und ihren Aktivitäten eine ausschlaggebende Bedeutung für den Vollzug von Praktiken zu, geht hierbei jedoch – wie bereits angedeutet – keineswegs so weit zu unterstellen, dass diese den Verlauf einer Praktik beliebig steuern können. Mit dem Begriff der Site (vgl. Schatzki 2002: 63ff.), welcher in seinem sozialphilosophischen Programm einer Site-Ontology seinen Namen gibt und neben dem Konzept der sozialen Praktik einen ihrer Grundpfeiler bildet, verweist Schatzki darauf, dass Praktiken stets raum-zeitlich situiert und maßgeblich vom materiellen Kontext, in dem sie stattfinden, abhängig sind.55 Praktiken ereignen sich immer an bestimmten Orten und unter Einbeziehung der dort anwesenden Dinge, Körper und Artefakte, welche in Schatzkis Verständnis den Verlauf einer Praktik „vorbahnen“ [channel] (ebd.: 44). Insofern in diesen Materialitäten bestimmte Gebrauchsmöglichkeiten oder Handlungsaufforderungen objektiviert sind, ermöglichen sie bestimmte (Folge-) Aktivitäten erst, während sie andere zugleich verunmöglichen oder zumindest erschweren (vgl. auch Bourdieu/Wacquant 2006: 160; Preda 1999). 56 In praxeologischer Perspektive werden der Kontext einer Praktik weder als beliebig mani-

54 Mit dem Begriff reflexiv ist die Fähigkeit angesprochen, in ein Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zu einem praktischen Geschehen zu treten; mit dem Begriff kritisch die Fähigkeit, sich vom eigenen Tun und dem der anderen nicht zustimmend zu distanzieren. 55 In Laboruntersuchungen – wie etwa einer solchen, die im Rahmen der sportpsychologischen Studie Höners zum Entscheidungshandeln im Sportspiel Fußball zur Anwendung kommt (vgl. Kapitel 1.1.3) – wird von dieser Situierung und Abhängigkeit weitgehend abstrahiert. Hier wird nicht konsequent in Rechnung gestellt, dass Einzelhandlungen immer in übergreifende Praktiken eingebettet und diese wiederum maßgeblich von ihrem Kontext beeinflusst werden. Es wird damit außer Acht gelassen, dass man mit der Simulation eines Spiel- und Sportkontextes in einem komplexitätsreduzierenden experimentellen Untersuchungskontext auch gravierend in die zu untersuchende Praktik bzw. Handlung selbst eingreift. 56 Schmidt (2012: 63) betrachtet in diesem Zusammenhang Dinge, Artefakte und Körper als materielle Träger von sozialen Regeln und als „dauerhafte Depots sozialen Wissens, sozialer Fähigkeiten und Zweckmäßigkeiten“.

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pulier- und veränderbare Randbedingung des Handelns verstanden und Dinge oder Mitspieler auf dessen bloße Epiphänomene oder Hilfsmittel reduziert, noch wird davon ausgegangen, dass der Kontext im Sinne abstrakter Strukturen menschliche Aktivitäten bzw. die eine Praktik konstituierenden doings und sayings kausal determiniert. Vielmehr wird angenommen, dass Praktiken immer auf eine verfügbare Welt bezogen und in diese eingebettet sind, welche ihren Fortgang – in Schatzkis Worten – „präfiguriert“: „By ‚prefiguration‘, I mean how the world channels forthcoming activity. […], prefiguration can be equated with a more familiar phenomenon, constraint and enablement. The present state of social affairs prefigures forthcoming activity by constraining and enabling it.” (ebd.: 44f.)

Charakteristisch für Praktiken ist überdies eine spezifische Temporalität. Sie sind, wie Schatzki schreibt, „open, temporally unfolding nexuses of actions“ (ebd.; Herv. KB). Als Verkettungen von Handlungen entfalten sie sich in der Zeit und sind sie durch eine charakteristische Sequenzialität und Verlaufsbahn gekennzeichnet (vgl. Schmidt 2012: 52). In ihnen laufen Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zusammen: Jede gegenwärtige Aktion nimmt Bezug auf etwas bereits Geschehenes – entweder auf vergangene Aktivitäten oder auf in Trägern wie Körpern oder Objekten sedimentierte Bedeutungen, Regeln oder Wissensbestände –, das seinerseits das aktuelle Tun qua Präfiguration beeinflusst. Zugleich sind Praktiken immer auch in die Zukunft gerichtet und greifen in diese aus: Aktuelle Aktivitäten spannen einen offenen Raum des Möglichen auf und eröffnen und beschränken damit gleichzeitig Fortsetzungsmöglichkeiten in der Zukunft. 2.1.4 Die Körperlichkeit von Praktiken Im Zuge der Wiederentdeckung der Praxis bzw. der Hinwendung zu sozialen Praktiken erfährt im Feld der Sozial- und Kulturwissenschaften auch der (in Praktiken sozialisierte) Körper eine grundlegende Neubewertung. Der practice turn wird deshalb nicht selten auch als ein somatic turn (Schroer 2005) oder body turn (Gugutzer 2006b) ausgeflaggt (vgl. hierzu auch Schmidt 2012: 55). Schatzki versteht die eine Praktik konstituierenden Handlungen in erster Linie als „bodily doings and sayings“ (Schatzki 2002: 72; Herv. KB) und profiliert sie mit diesem Attribut als fundamental körperliche Vollzüge. Und auch Reckwitz hebt mit seinen Bestimmungen von Praktiken als „typisierte Körperbewegungen“ (Reckwitz 2003: 284) bzw. als Konglomerat aus „Bewegungen und Aktivi-

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täten des Körpers“ (ebd.: 290) auf deren grundsätzliche Körpergebundenheit ab. Im Unterschied zu Handlungen, die im Verständnis vieler Handlungs(regulations)theorien (vgl. Kapitel 1.1). ihren ‚Ort‘ in Gestalt ideeller und expliziter Repräsentationen im Bewusstsein der Handelnden haben und unabhängig von ihrem körperlichen Vollzug analysierbar sind, wird von Praktiken und den sie konstituierenden Aktivitäten angenommen, dass sie nicht getrennt von körperlichen Vollzügen existieren. Als ihre wichtigsten Träger werden zu „skillful performance[s]“ befähigte, „kompetente[] Körper“ (ebd.) betrachtet. Ermöglicht und organisiert werden diese skillful performances, so ein praxeologischer Konsens, durch ein implizites Hintergrundwissen, welches inkorporiert ist und seinen Ort als vorsprachliches und -bewusstes know how im Körper selbst hat. Der Körper, der von Handlungs(regulations)theorien zu einem bloßen Vollzugsorgan interner Repräsentationen abgewertet wird, erfährt im Rahmen praxeologischer Zugänge als Träger praktischen Wissens eine grundlegende Aufwertung. Dieses Wissen wird jedoch nicht nur in, sondern zugleich auch an kompetenten Körpern lokalisiert: Es aktualisiert und zeigt sich in kompetenten Körperbewegungen sowie praktikspezifischen „Körpertechniken“ (Mauss 1975: 200) und wird an diesen beobacht- und abschöpfbar (vgl. Hirschauer 2008b). Das in diesem doppelten Sinne ‚verkörperte‘ praktische Wissen wird in verschiedenen praxeologischen Zugängen als Ermöglichungsbedingung eines schnellen und intuitiven Vorgehens jenseits bewusster Planungen und Kalkulationen thematisiert, welches damit wiederum als Idealtypus eines versierten Agierens im Rahmen von Praktiken in den Blick gerät. So beschreibt etwa Bourdieu den praktischen Sinn als ein durch die Partizipation an Praktiken erworbenes, verkörpertes und implizites Wissen, welches der Fähigkeit zu Grunde liegt, eine Situation intuitiv zu erfassen und augenblicklich so zu handeln, wie es von dieser gefordert wird. In seinem Verständnis fungiert der praktische Sinn als „Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sind, ohne irgendwie das Ergebnis einer Einhaltung von Regeln zu sein“ (Bourdieu 1987a: 98f.).

Der praktische Sinn ermöglicht in Bourdieus Verständnis eine „präreflexive, unterbewusste Beherrschung der sozialen Welt, die von den Akteuren durch ihr dauerhaftes Eintauchen in diese erworben wird“ (Wacquant 2006: 41) und erlaubt schließlich die Hervorbringung von Praktiken, „die zwar nicht überlegt,

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aber durchaus doch systematisch und zwar nicht zweckgerichtet sind, aber rückblickend durchaus zweckmäßig erscheinen“ (Bourdieu 1987a: 122). Es ist offensichtlich, dass die Prämissen der Körperlichkeit von Praktiken sowie zur Körperlichkeit sowie des diese Praktiken organisierenden Wissens große Nähen zu vielen der in Kapitel 1.2 unter dem Schlagwort ‚anderes Wissen‘ zusammengefassten Erklärungsansätzen aufweisen. In einem wesentlichen Punkt jedoch gehen die praxeologischen Konzeptionen über diese hinaus: Das den Vollzug von Praktiken organisierende Wissen wird nicht zuvorderst als „Eigenschaft von Personen“ (Reckwitz 2003: 292) begriffen, sondern interessiert in erster Linie als de-zentrierter Gehalt und „in der Zuordnung zu einer Praktik“ (ebd.).57 Dabei wird davon ausgegangen, dass die Teilnehmer einer Praktik erst im Zuge ihres Mittuns an dem eine Praktik organisierenden Wissen partizipieren, indem sich dieses – wie es in Anlehnung an Bourdieu etwa bei Schmidt (2012: 215ff.; vgl. hierzu genauer Kapitel 2.2.3) heißt – in Akten impliziter Schemaübertragungen und Wissenstransfers in ihre Körper einschreibt und hierdurch ihre Bewegungsrepertoires und -techniken sowie ihre Wahrnehmungsfähigkeiten und Aufmerksamkeiten in die Form der Praktik gebracht werden. Im Mittun werden die Körper der Mitspieler einer Praktik auf die Erfordernisse eben dieser Praktik eingestellt und mit diesen in Übereinstimmung gebracht. Sie werden auf diese Weise als praktikspezifische, verstehbare und verständige „Umgangskörper“58 (Gebauer 2009: 95; vgl. auch Alkemeyer 2009) konstituiert, die nur diejenigen ihrer vielfältigen Möglichkeiten anwenden, die von der jeweiligen Praktik verlangt werden.

57 Statt zu fragen, „welches Wissen eine Gruppe von Personen […] besitzt, lautet die Frage [der Praxistheorien; KB], welches Wissen in einer bestimmten sozialen Praktik zum Einsatz kommt“ (Reckwitz 2003: 292). 58 Da Körper nicht nur in ihrem sichtbaren Verhalten, sondern auch in ihren Fähigkeiten zum Wahrnehmen, Einschätzen oder Spüren in der Teilnahme an Praktiken auf praktikspezifische Weise formatiert werden, wird im Rahmen praxeologischer Arbeiten mitunter vorgeschlagen, das Konzept des Umgangskörpers durch das des Umgangsleibes zu erweitern (vgl. Alkemeyer 2011). Auch in Anlehnung an phänomenologische Zugänge könnte man die aufgelisteten Fähigkeiten als leibliche Fähigkeiten bezeichnen (vgl. z.B. Gugutzer 2012; vgl. auch Kapitel 1.2.4). In den folgenden Ausführungen wird auf Körper-Leib-Unterscheidungen verzichtet und sind diese leiblichen Fähigkeiten mitgemeint, wenn von Körpern oder Umgangskörpern die Rede ist.

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2.1.5 Die Normativität und Intentionalität von Praktiken Die meisten praxeologischen Ansätze verweisen zur Beantwortung der Frage danach, wie Praktiken und die sie konstituierenden Aktivitäten zusammengehalten und organisiert werden, in erster Linie ausführlich auf die Bedeutung eines praktischen Wissens und Verstehens, eines verkörperten know hows darüber, wie diese auszuführen sind. Insbesondere Schatzki arbeitet heraus, dass Praktiken überdies eine sogenannte teleoaffektive Struktur eingelagert ist, welche die einzelnen Aktivitäten ihrer Teilnehmer koordiniert, verbindet und gleichsam in ihrem Rahmen hält. Unter einer teleoaffektiven Struktur versteht er dabei „a range of normativized and hierarchically ordered ends, projects, and tasks59, to varying degrees allied with normativized emotions and even moods“ (Schatzki 2002: 80). Eine teleoaffektive Struktur hält also die Ziele einer Praktik bereit und definiert, was ihre Teilnehmer tun sollen und müssen bzw. was akzeptabel ist, um die entsprechenden Ziele zu erreichen und Anforderungen zu erfüllen. Sie spezifiziert in diesem Sinne eine implizite Normativität und Intentionalität einer Praktik, steckt für die Teilnehmer einen Horizont möglicher bzw. legitimer Aktivitäten und Aktivitätenkombinationen ab und koordiniert diese wiederum mit bestimmten Stimmungen und Affekten. Ebenso wie das eine Praktik organisierende Wissen wird auch deren teleoaffektive Struktur nicht zuerst als Eigenschaft individueller Teilnehmer verstanden und untersucht, sondern als integrales Strukturmoment in der Praktik selbst verortet; sie wird in der Teilnahme an einer Praktik von den Mitspielern übernommen und in unterschiedlicher Weise angeeignet:60 „For the sake of clarity, I should explain that a teleoaffective structure is not a set of properties of actors. It is, instead, the property of a practice: a set of ends, projects, and affectivities that, as a collection, is (1) expressed in the open-ended set of doings and sayings that compose the practice and (2) unevenly incorporated into different participants’ minds and actions.” (ebd.)

59 Unter tasks versteht Schatzki (2002: 73) Aktivitäten höherer Ordnung, Aggregate aus doings und sayings. Projects sind Aktivitäten wiederum höherer Ordnung, nämlich Aggregate aus den tasks. 60 Normen haben in Schatzkis Verständnis demnach keine abstrakt-strukturelle Existenz, wie etwa Durkheims soziale Tatsachen oder Deleuze/Guattaris abstract machines, sondern existieren nur im Vollzug von Praktiken (vgl. Schatzki 2002: 89ff.).

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Entgegen der strukturalistischen Untertöne des Begriffs geht Schatzki keineswegs davon aus, dass die teleoaffektive Struktur in Sinne einer sozialen Tatsache (Durkheim) das Handeln der Teilnehmer von Praktiken in Gestalt festgeschriebener Normen oder expliziter Regularien determiniert und über diese erfasst werden kann. Vielmehr betont er, dass die teleoaffektive Struktur zumindest in Grenzen variabel und flexibel ist und ausschließlich anhand der Aktivitäten, die eine Praktik konstituieren, erschlossen werden kann. Allerdings bleibt Schatzki eine Spezifikation des Wie ihrer Erfassung weitgehend schuldig. Als präziser erweist sich in dieser Hinsicht Joseph Rouse (2007). Dieser schlägt vor, die implizite Normativität und teleoaffektive Gerichtetheit einer Praktik über eine systematische und kontinuierliche Beobachtung der wechselseitigen Bezugnahmen ihrer Mitspieler aufeinander zu erschließen. In seinem Verständnis geht es darum zu analysieren, welche Aktivitäten und in diesen sich zu erkennen gebende Einstellungen, Haltungen und Affektivitäten etwa durch imitierende oder fortsetzende Anschlusshandlungen als angemessen, richtig und zielführend bestätigt und welche Aktivitäten wiederum korrigiert oder sanktioniert und damit im kollektiven Tun als unangemessen sowie den Zielen der Praktik zuwiderlaufend erkennbar gemacht werden. 2.1.6 Die Öffentlichkeit und prinzipielle Beobachtbarkeit von Praktiken Eng verknüpft mit den in den vorangehenden Abschnitten erläuterten Annahmen über Praktiken ist das Postulat ihrer Öffentlichkeit und prinzipiellen Beobachtbarkeit61, aus dem unmittelbare methodische Konsequenzen für die empirische Erforschung von Praktiken erwachsen (vgl. Schmidt/Volbers 2011). Wie bereits dargelegt wurde, gehen praxeologische Ansätze übereinstimmend davon aus, dass das eine Praktik und die sie konstituierenden Aktivitäten organisierende Wissen in den Vollzügen kompetenter Körper zu verorten ist und an diesen Erkennbarkeit erlangt. Die kompetenten (Umgangs-)Körper treten damit als Anzeigetafeln oder „displays“ (Goffman 1979) in den Blick (auch vgl. Hirschauer 2008b sowie Schindler 2011b), die in ihrem Tätigsein, ihrem Umgang miteinander oder mit anwesenden Materialitäten, die ihre Mitspielfähigkeit verbürgenden Wissensbestände darstellen, kommunizieren und öffentlich zu erkennen geben.

61 Die Verwendung des einschränkenden Attributs erklärt sich dadurch, dass die Beobachtbarkeit von Praktiken nicht per se gegeben ist, sondern methodisch hergestellt werden muss. Vgl. zur Unterscheidung von Beobachtbarkeit und Beobachtbarmachung genauer Kapitel drei.

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Ferner wird angenommen, dass die Bedeutungen einzelner Aktionen im Rahmen einer Praktik nicht auf die in ihrem Inneren verborgenen Sinnstiftungen, Wünsche oder Absichten der die ausführenden Teilnehmer zurückzuführen und diesen allein vorbehalten sind. Vielmehr wird die Ansicht vertreten, dass Bedeutungen im konkreten, verkörperten Vollzug einer Praktik erst hervorgebracht werden und so auch nur von diesem her zu begreifen sind (vgl. Schatzki 2002: 134f.). Eine Aktion erhält ihre spezifische Bedeutung im praxeologischen Verständnis weder allein durch innere Akte der Sinnzuschreibung durch den Ausführenden noch aufgrund hermeneutischer Verstehens- oder Deutungsleistungen anderer Teilnehmer, sondern in ihrer Verkettung mit anderen Aktionen. Was eine Aktion also für eine Praktik bedeutet und wie sie verstanden wird, entscheidet und zeigt sich in den Reaktionen und beobachtbaren Anschlüssen anderer Teilnehmer, mit denen diese sie auf der Grundlage ihrer praktikspezifischen Wissensbestände und Verstehensfähigkeiten praktisch interpretieren.62 Die Bedeutungen von Aktivitäten sind, wie Schatzki (ebd.: 135) mit Bezugnahme auf Charles Taylor schreibt, „out there in public space, accessible in principle to anyone“. Als kollektive körperliche Vollzüge machen sich Praktiken selbst erkenn- und verstehbar, oder, wie es in der Ethnomethodologie heißt: „accountable“ (Garfinkel 1967: 37; vgl. auch Schindler 2011b: 336; Schmidt 2012: 46). Sie zeigen an und geben öffentlich zu erkennen, worum es gerade geht, was in ihrem Rahmen geht und wie etwas geht. In ihren Vollzügen treten ihre Wissensfundamente, normativen Erwartungen, Organisationsprinzipien und Bedeutungen offen zutage treten und sind qua Beobachtung zugänglich.63

62 In diesem Zusammenhang gilt es, Beobachtungen erster und zweiter Ordnungen voneinander zu unterscheiden und den praxeologischen Verstehensbegriff zu spezifizieren. Verstehen spielt sich der praxeologischen Auffassung nach nicht verborgen im Kopf eines Individuums ab, sondern steckt in kompetenten Anschlusshandlungen. Die Aufgabe des Praxeologen besteht in Beobachtungen zweiter Ordnungen, welche die praktischen Deutungen und Verstehensleistungen der Akteure – deren Beobachtungen erster Ordnung – zum Gegenstand haben (vgl. auch Kapitel drei). 63 Fragwürdig erscheint jedoch, ob die unterstellte Verstehbarkeit tatsächlich für jeden Beobachter gleichermaßen Geltung besitzt. Wenn etwa Schmidt, ohne dies jedoch kritisch zu erläutern, schreibt, dass die „für die adäquate Ausführung der Praktik relevanten Schemata des Fußballspielenkönnens […] [p]rofessionellen Beobachtern (etwa Trainern der Wissenschaftlern), kundigen Zuschauern und nicht zuletzt den Spielerinnen […] über die Beachtung zugänglich“ (Schmidt 2012: 219; Herv. KB), ist damit angedeutet, dass nicht nur das Mitspielen-Können in Praktiken, sondern auch ihre Beobachtung nicht voraussetzungslos ist (vgl. genauer auch Kapitel drei).

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2.1.7 Das Verhältnis von Praktiken und Handlungen Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass sich Reckwitz, Schatzki und Schmidt mit ihren Ausführungen über Praktiken unter anderem von Handlungstheorien abgrenzen. Um Missverständissen vorzubeugen, ist es spätestens an dieser Stelle wichtig darauf hinzuweisen, dass ihr ‚Gegner‘ dabei jedoch eine ganz bestimmte Version der Handlungstheorie ist. Argumentiert wird konkret gegen solche Lesarten der Handlungstheorie, die Handlungen individualistisch und mentalistisch konzipieren und vom Vollzugscharakter sozialer Aktivitäten abstrahieren, indem sie sich – wie etwa die in Kapitel 1.1 dieser Arbeit erläuterten Zugänge – für Handlungen primär als interne Repräsentationen interessieren, die ‚im Kopf‘ der Handelnden lokalisiert sind. Andere Handlungstheorien wie beispielweise diejenige des Pragmatismus (vgl. Dewey 1931; Joas 1992; Mead 2000; vgl. auch Hetzel 2008) oder auch solche Versionen einer Handlungstheorie, die vorwiegend in den USA im Umkreis der ethnomethodologischen Konversationsanalyse zu verorten sind (vgl. z.B. Goodwin 2011), erweisen sich demgegenüber als durchaus anschlussfähig an die genannten praxeologischen Arbeiten. Von den praxeologischen Zugängen wird nun der Handlungsbegriff auch keineswegs verworfen. Die Aktivitäten, die Praktiken konstituieren, werden vielmehr ausdrücklich sogar als Handlungen bezeichnet und Handlungen dementsprechend als fundamentale Bau- oder Bestandteile von Praktiken begriffen (vgl. Reckwitz 2003; Schatzki 1997; 2002).64 Kritisiert wird an bestimmten

64 Verwandte Ideen einer analytischen Staffelung verschiedener Aktivitäteneinheiten finden sich unter Verwendung anderer Terminologien auch in der Sowjetischen Tätigkeitstheorie nach Leontʼev und Vygotsky sowie in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse. Im Rahmen ersterer bilden Tätigkeiten die basalen Einheiten der Analyse, denen – wie z.B. dem Autofahren – bestimmte Motive zu Grunde liegen. Es sind zielgerichtete Handlungen, im Falle des Autofahrens etwa das Treten der Kupplung oder das Lenken des Wagens, welche als basale Komponenten von Tätigkeiten die zweite Analyseebene konstituieren. Auf der dritten und letzten Analyseebene finden sich schließlich die sogenannten Operationen, mit welchen in Rechnung gestellt wird, dass jede Handlung unter bestimmten situativen Bedingungen (etwa unter Nutzung bestimmter Materialitäten, z.B. eines besonderen Wagens) bzw. in einem konkreten Kontext vollzogen wird (vgl. Leontʼev 2012: 95ff.; Mey o.J.). Ebenso wie von Reckwitz und Schatzki wird in der Konversationsanalyse das Verhältnis von Praktiken und Handlungen thematisiert – hier jedoch unter gewissermaßen umgekehrten Vorzeichen. Eine entscheidende konversationsanalytische Forschungsfrage besteht

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Handlungstheorien jedoch, wie und wo sie den Sinn einer Handlung verorten und dass sie diesen vom eigentlichen, körperlich-materiellen Vollzug einer Handlung entkoppeln. Auf dem Prüfstand steht aus praxeologischer Perspektive die Überzeugung, dass es der einzelne operierende Akteur ist, der vor seinem Tätigwerden in einem ideellen und subjektiven (Bewusstseins-)Akt entscheidet, welche Bedeutung seiner Handlung zukommt. Diesem Handlungsverständnis wird zunächst entgegengehalten, dass Handeln im Rahmen von sozial vorstrukturierten und teleoaffektiv organisierten Verlaufsformen, also Praktiken, stattfindet, in die sich Handelnde in ihrem Tun verwickeln, an denen sie sich orientieren und aus denen ihre Handlungen einen Großteil ihrer intentionalen Gerichtetheit beziehen. Praktiken besitzen in diesem Sinne einen „stage-setting character“ (Rawls 1955: 25 zit. nach Jaeggi 2014: 99) für Handlungen und bereiten eine Art Bühne, die „bestimmte Dinge überhaupt möglich“ (Jaeggi 2014: 99) und sinnhaft macht. Zweitens wird aus praxeologischer Perspektive keineswegs in Abrede gestellt, dass Handelnde ihrem Tun Sinn geben, Absichten haben und Pläne schmieden können. Allerdings wird hinterfragt, welchen Wert Vorgänge, die innerlich und subjektiv, d.h. anderen verschlossen und unverständig bleiben, für die Erklärung des Sozialen besitzen. So wird in den praxoelogischen Ansätzen die Auffassung vertreten, dass Handlungen ihren spezifischen Sinn aus ihrer Einbettung in einen – beobachtbaren – Handlungsfluss und Aktivitäten- oder „Verflechtungszusammenhang“ (Elias 2004: 146) gewinnen, daraus also, an welche vorgängige Handlung sie anschließen und vor allem darüber, wie an sie angeschlossen wird:65 Absichten, Intentionen, Sinnzuschreibungen oder Hand-

so darin zu erfassen, wie spezifische – in erster Linie sprachliche, aber auch körperliche und gestische (vgl. Streeck 2009; Streeck/Goodwin/LeBaron 2011) – Äußerungen (Praktiken) als sozial und kulturell spezifische und konventionalisierte Handlungen (etwa: Bitten, Entschuldigungen oder Aufforderungen) erkennbar gemacht und erkannt werden (vgl. Levinson 2013: 104). Dabei wird davon ausgegangen, dass Handlungen durch verschiedene Praktiken bewältigt werden und bestimmte Praktiken wiederum unterschiedliche Handlungen realisieren können (vgl. Schegloff 1997). Welche Bedeutung einer Praktik jeweils zukommt, entscheidet sich auch in der Perspektive der Konversationsanalyse nicht ‚im Kopf‘ eines einzelnen Interaktionsteilnehmers, sondern anhand „its sequential positioning […], its attachment to and targetting of prior talk etc.“ (Schegloff 1997: 539), das heißt also daran, an welche Äußerungen sie anschließen und mit welchen Äußerungen wiederum an sie angeschlossen wird. 65 Eben hier liegt auch die entscheidende Parallele zur pragmatistischen Handlungstheorie, von er betont wird, dass es nicht „hypothetische Gründe“ sind, in denen sich ent-

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lungspläne, die dem Handelnden allein vorbehalten und in seinem subjektiven Inneren verborgen bleiben, sind in dieser Perspektive für die Erklärung sozialer Phänomene nicht maßgeblich.

2.2 D IE PRAXEOLOGISCHEN Z UGÄNGE IN DER D ISKUSSION In ihren prominenten Arbeiten über Praktiken entwickeln Reckwitz, Schatzki und Schmidt elaborierte Vorschläge zur Konzeptionalisierung und empirischen Erfassung von Aktivität und Sozialität, mit denen sie gegenüber bestimmten – individualistischen und mentalistischen – Handlungstheorien, aber auch strukturalistischen Zugängen Frontstellung beziehen. Sie betonen insbesondere den Vollzugscharakter von Aktivität und Sozialität, attribuieren Praktiken eine gegenüber Einzelhandlungen und ideellen Akten der Planung, Reflexion und Sinnzuschreibung analytisch vorrangige Bedeutung und ordnen Akteure Praktiken nicht als immer schon handlungsfähige, wissende und sich selbst transparente Subjekte vor, sondern interessieren sich für diese als in Praktiken erst mitspielfähig werdende Teilnehmer unter anderen. Bei aller Zustimmung zu dieser Perspektive sollen in den folgenden Abschnitten drei aufs Engste miteinander zusammenhängende Annahmen oder Blickeinstellungen der genannten praxeologischen Zugänge kritisch diskutiert werden. Bei der an- und ausgeführten Kritik handelt es sich nicht allein um das Resultat einer innertheoretischen Auseinandersetzung; vielmehr fließen in die kritischen Argumentationen implizit bereits Erkenntnisse ein, die im Zuge der Erhebung und Auswertung des empirischen Datenmaterials gewonnen wurden.66 Folgende Verkürzungen werden auf den nächsten Seiten identifiziert und erläutert. Erstens: Die Tendenz der praxeologischen Konzeptionen, gewissermaßen ‚unter umgekehrten Vorzeichen‘ solche Dualismen zu perpetuieren, deren Festund Fortschreibung sie etwa ihren handlungstheoretischen ‚Gegnern‘ vorwerfen. Zweitens: Die Tendenz, Praktiken vorrangig als reibungslos gelingende, selbstläufige Routinen zu modellieren, ihnen dabei eine Art Subjektstatus zuzuschreiben und die Vollzugsleistungen, Bewältigungsanstrengungen und das Engagement ihrer Teilnehmer aus dem Blick zu verlieren, mit denen diese Praktiken lo-

scheidet, welche Bedeutung einer Handlung zukommt, sondern deren Wirkungen und praktische Konsequenzen (vgl. Hetzel 2008: 38). 66 Vgl. zum Verhältnis von Theorie und Empirie im Forschungsprozess genauer Kapitel drei.

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kal vollziehen und dabei ausformen. Sowie drittens: Die Tendenz dazu, die Frage nach dem konkreten Wie der Entwicklung von Mitspielfähigkeit bzw. der Formierung kompetenter Mitspieler entweder zu vernachlässigen, oder diese Entwicklung als einen gleichsam ‚blinden‘ Akt der Inkorporierung von Schemata und Wissensbeständen zu begreifen, der sich an den Bewusstseinen der Teilnehmer vorbei Geltung verschafft. 2.2.1 Die Fortschreibung etablierter Dualismen „It is true that idealist writers have sometimes overlooked the role of practice altogether […] But to react against excesses of this kind by giving attention exclusively to the role of practice is to indulge in another form of excess. It amounts to an ungrounded prejudice in favor of know-how at the expense of know-that, in favor of skill and competence at the expense of information and representation. […], it amounts to an exclusive concentration on procedural memory and a corresponding neglect of descriptive memory. Both of these forms of memory need to be taken into account; both are socially structured and both are implicated in social action.” (Barnes 2001: 21)

In vielen praxeologischen Zugängen werden Erklärungsansätze, die sich primär für die ideelle Organisation und Repräsentation von Handlungen interessieren, als reduktionistisch kritisiert. Diesen wird vorgeworfen, mit der konzeptionellen Privilegierung der rational-reflexiven, sprachlichen und expliziten Dimensionen von menschlicher Aktivität und Sozialität in der Tradition des Cartesianischen Dualismus verhaftet zu bleiben und eine „scholastische Sicht“ (Bourdieu 2001: 203) auf die Welt zu entwerfen (vgl. Reckwitz 2003). Zu Beginn des oben stehenden Zitats äußert sich auch Barry Barnes ähnlich kritisch zu diesen idealistischen Zugängen und beschreibt die in ihnen zum Tragen kommende Ausblendung von Praxis pointiert als einen Exzess. Im Fortgang des Zitats weist er jedoch mit Nachdruck darauf hin, dass sich viele praxeologische Arbeiten selbst einer Form von Exzess und Reduktionismus hingeben, wenn sie auf die Vereinseitigungen der idealistischen Konzeptionen mit einer gleichermaßen vereinseitigenden Exklusivberücksichtigung des Impliziten, Körperlichen und Vorreflexiven antworten. In der Tat ist Barnesʼ Kritik dahingehend zuzustimmen, dass eine Vielzahl praxeologischer Arbeiten die Bedeutung von Sprache, Reflexion sowie expliziten Wissens- und Sinngehalten weitgehend unbeachtet lässt und damit die Auffassung verbreitet, dass diesen Dimensionen im und für den Vollzug von Praktiken eine allenfalls marginale Relevanz zukommt. Barnes macht mit seiner Kritik darauf aufmerksam, dass die betreffenden praxeologischen Konzepte entgegen der eigenen Ansprüche damit gerade nicht zu einer Entkräftung etablierter

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Gegensätze von implizit und explizit sowie von verkörpertem und sprachlichdiskursivem Wissen bzw. know that und know how beitragen, sondern diese vielmehr bestätigen.67 Seine Kritik ist als ein Plädoyer für ein gewissermaßen ‚versöhnlicheres‘ und graduelleres Verständnis von Praktiken zu lesen und macht darauf aufmerksam, dass es gerade auch im Hinblick auf empirische Forschungen produktiver sein könnte, von einer a priori Unterstellung unbegründeter Dichotomien abzusehen und sich stattdessen dafür zu interessieren, wie vermeintlich kategorial verschiedene Wissensbestände und Vorgehensweisen in praktischen Vollzügen zusammenspielen und einander ergänzen. 2.2.2 Praktiken als gelingende Routinen In seinem Überblicksaufsatz über die Grundelemente sozialer Praktiken betont Andreas Reckwitz (2003), dass sich Praktiken durch zwei Strukturmerkmale gekennzeichnet sehen: durch eine Routiniertheit auf der einen und eine Unberechenbarkeit interpretativer Unbestimmtheiten auf der anderen Seite (vgl. ebd.: 294). Praktiken vollziehen sich somit in seinen Augen in einem Spannungsfeld einer „relativen ‚Geschlossenheit‘ der Wiederholung und einer relativen ‚Offenheit‘ für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs“ (ebd.).68 Insbesondere aufgrund der Zukunftsoffenheit und Kontextgebundenheit von Praktiken (vgl. dazu Kapitel 2.1.3) bestehe die „Logik der Praxis nicht aus absoluter Wiederholung von Routinen“, sondern ergäben sich auch Ungewissheiten und Unbestimmtheiten, die „kontextspezifische Umdeutungen von Praktiken“ erfordern und dazu führen können, „dass die Praktik misslingt […], dass sie modifiziert oder gewechselt werden muss etc., so dass die Routine ihren Charakter einer unendlichen Wiederholung verliert“ (ebd.).

67 Auf viele praxeologische Ansätze trifft also eine ähnliche Kritik zu wie jene, die in Kapitel 1.3 gegen die verschiedenen Konzeptionen ‚anderen Wissens‘ angebracht wurde. 68 Die von Reckwitz identifizierten Strukturmerkmale von Praktiken werden in den diversen Erklärungsansätzen, die er dem Feld der Praxistheorien zurechnet, unterschiedlich akzentuiert. So steht etwa in den Arbeiten Pierre Bourdieus, die sich hauptsächlich für die Reproduktion und Kontinuität des Sozialen interessieren, der Routine- und Repetitivitätsaspekt von Praxis im Vordergrund. Studien aus dem Bereich der Ethnomethodologie legen ihren Fokus demgegenüber stärker auf die Unbestimmtheitsdimension von Praxis und interessieren sich dafür, wie Akteure verschiedene alltägliche Situationen immer wieder aufs Neue lokal und mitunter auch innovativ meistern (vgl. ebd.: 297).

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Betrachtet man nun die Gesamtanlage der reckwitzschen Synthese genauer, fällt auf, dass er trotz seines Bekenntnisses zu den zwei Strukturmerkmalen – ebenso wie Schmidt und Schatzki auch – als Praktiken in erster Linie gerade nicht miss-, sondern gelingende Verkettungen von Handlungen vor Augen hat, die sich auf der Basis impliziter Wissensbestände und praktischer Verstehensfähigkeiten im Modus der Routine realisieren. Immer wieder fällt er so auf Definitionen zurück, die Praktiken als „routinisierte[] Bündel von Aktivitäten“ (ebd.: 289), als „Nexus von wissensabhängigen Verhaltensroutinen“ (ebd.: 291) oder als „routinisierte Bewegungen und Aktivitäten des Körpers“ (ebd.: 290; alle Herv. KB) ausweisen. Auch die oben zitierten Textpassagen, in denen er die interpretative Unbestimmtheit von Praktiken ausdrücklich thematisiert, bestärken den Eindruck, dass in Reckwitzʼ Verständnis vom ‚Normalfall‘ von Praxis in einem routinierten Gelingen besteht, an dem er den Umgang mit Unbestimmtheit, die Irritation des Gewohnten und das Misslingen als Ausnahmen und Sonderfälle abträgt.69 Weitgehend offen bleibt bei ihm schließlich auch, wie die Teilnehmer

69 Diesem an Reckwitz gerichteten Vorwurf könnte entgegnet werden, dass es durchaus Konzepte von Routine und Gewohnheit gibt, die eine Variabilität und Flexibilität praktischer Vollzüge angesichts von Unsicherheiten und Irritationen mitzudenken erlauben (vgl. hierzu etwa Dewey 1931 und James 1950). Wenn Reckwitz (2003: 294) jedoch eine practical skillfulness (im ethnomethodologischen Sinn) und Routinen als zwei unterschiedliche Modi eines praktischen Vorgehens voneinander abgrenzt, scheint es, als verstehe er unter Routinen ausschließlich repetitive und immer gleiche, nicht aber situativ adaptive Vollzüge. Man gewinnt in diesem Zusammenhang überdies den Eindruck, als hege Reckwitz – freilich unausgesprochen– größere Sympathien für die bourdieusche als die ethnomethodologische Interpretationslinie. Über weite Strecken seines Werks thematisiert Bourdieu das routinierte Gelingen von Praxis als den Normalfall des Sozialen. Aufgrund des „Meidungsverhaltens“ (Bourdieu 1987a: 114) des Habitus spüre dieser bevorzugt solche Felder, Kontexte und Umgebungen auf, deren objektivierte Geschichte der in ihm abgelegten Geschichte vorangepasst ist und in denen es zu einer harmonischen Begegnung dieser zwei „Zustände des Sozialen“ (Bourdieu 2001: 193) kommt. Im Zuge dieses „fast wundersamen Zusammentreffen[s] von Habitus und Feld“ (Bourdieu 1987: 122) agiert sich der praktische Sinn aus und stellt ähnlich eines Instinkts das präreflexive und reibungslose Gelingen praktischer Vollzüge und Orientierungen in der Welt sicher. Erst in seinem Spätwerk räumt Bourdieu ein, dass der Habitus kein „unfehlbarer Instinkt“ (ebd., S. 204) ist, sondern er auch das „Mißlingen“ sowie „kritische Momente des Mißverhältnisses und des Mißklangs“ (ebd.: 208) kennt, in denen die „Beziehung unmittelbarer Angemessenheit […] suspendiert“ (ebd.) ist. Auch in Schatzkis Arbeiten, die sich an

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von Praktiken Situationen, in denen ihre Routinen außer Kraft gesetzt und die „unmittelbare[] Angemessenheit“ ihrer praktischen Verstehensfähigkeiten, Körpertechniken und impliziten Wissensbestände „suspendiert“ (Bourdieu 2001: 208) sind, ganz konkret bewältigen. Die Vorliebe neuerer praxeologischer Arbeiten für die Routine und das Gelingen zeigt sich nicht nur in theoretisch-definitorischen Aussagen, sondern mit großer Deutlichkeit auch in den von ihnen angeführten empirischen Beispielen. Exemplarisch sei dies an der Beschreibung einer empirischen Beobachtung am U-Bahnhof illustriert, die den Auftakt von Robert Schmidts Soziologie der Praktiken bildet: „Aus einer überfüllten U-Bahn strömt eine Menschenmenge zum Ausgang. In entgegengesetzter Richtung drängt ein zweiter Menschenstrom in die zur Weiterfahrt bereitstehende Bahn. Er trifft auf bereits am Bahnsteig Wartende. Es entfaltet sich ein alltägliches öffentliches Geschehen, das sich stets auf gleichförmige Weise vollzieht. Über die Bildschirme der Video-Überwachung kann man beobachten, wie vor den Wagentüren links und rechts Trauben von Einstiegswilligen wachsen, die den Aussteigenden den Vortritt lassen. Zwischen denen, die zum Ausgang streben, und jenen, die in die andere Richtung drängen, entsteht eine unsichtbare Trennungslinie. Sie verläuft ungefähr in der Mitte des Bahnsteigs. Mit dem An- und Abschwellen der beiden Ströme verschiebt sie sich mal zur einen, mal zur anderen Bahnsteigseite hin [...].“ (Schmidt 2012: 9)

Schmidt entwirft die kollektive Bewegungsorganisation am Bahnsteig als ein unproblematisches, alltägliches Geschehen und zeichnet die Praktik des Ein-undAussteigens als eine harmonische „Choreografie[] des Sozialen“ (Alkemeyer et al. 2009), in der die Aktivitäten zweier Menschenströme reibungslos ineinandergreifen.70 Die Praktik erscheint als routinierter und selbstläufiger Vollzug, der auf immer gleiche Weise gewissermaßen über die Köpfe und Körper der einzelnen Teilnehmer hinweg prozessiert. Diese wiederum scheinen in der Praktik vollständig aufzugehen, von ihr – wie es in verschiedenen neueren praxeologi-

verschiedenen Stellen mit Bourdieus Theorie auseinandersetzen (vgl. z.B. Schatzki 2002: 71 und 78f.), eine Bezugnahme auf ethnomethodologische Zugänge jedoch sogar vollständig vermissen lassen, liegt der Schwerpunkt auf den routinierten und habitualisierten Dimensionen von Praktiken sowie ihrem Gelingen (vgl. hierzu auch Knoblauch 2012). 70 Auch Schatzkis empirisches Beispiel der Herstellung medizinischer Kräuter rückt diese Praktik als gelingende Verkettung und weitgehend störungsfreies Ineinandergreifen verschiedener Aktivitäten ins Bild (vgl. Schatzki 2002: 25ff.).

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schen Arbeiten heißt – erfolgreich „angeeignet“ und mit Erfolg für ihre Ziele und Zwecke „rekrutiert“ worden zu sein (vgl. ebd.: 218; vgl. auch Shove/ Pantzar/Watson 2012: 63). Schmidt entfaltet seine Beschreibung des Geschehens am Bahnsteig aus der Sicht einer Überwachungskamera und damit aus einer Art Feldherren-Perspektive. Seine Beschreibung tendiert dazu, die gelingende Praktik von oben und von hinten, d.h. ex post von ihrem Ausgang her, zu reifizieren, ihr einen Subjekt-Status zuzuschreiben und hinter der scheinbaren Routiniertheit und Alltäglichkeit des körperlichen Gesamtgeschehens die lokalen Bewältigungsanstrengungen, die immer auch subjektiv eingefärbten Perspektiven und Zugänge der einzelnen Teilnehmer sowie den Umstand vollständig aus dem Blick zu verlieren, dass diese ihr Tun stets nach vorn in die Zukunft und damit ins Ungewisse hinein entwerfen. Seine Beschreibung und die sich anschließenden Interpretationen blenden aus, wie die Teilnehmer der Praktik des Ein-undAussteigens mit deren Anforderungen umgehen, ihr Tun mikrologisch mit dem der anderen U-Bahn-Fahrenden koordinieren und dabei stets auch Unsicherheiten und Unwägbarkeiten bewältigen, und verkennen, dass sich Vollzüge, die sich aus der Makroperspektive eines Kollektivs als stabile und problemlose Routinen darbieten mögen, aus der Mikroperspektive der Beteiligten durchaus auch nichtroutinierte Bewältigungsstrategien und -anstrengungen erfordern: „The successful execution of routines at the collective level will involve the […] overriding and modification of routines at the individual level. Practice at the collective level is not a simple summation of practice at the individual level (habits). Shared practice is, as the ethnomethodologists say, a practical accomplishment.“ (Barnes 2001: 23)

Barnes plädiert in diesem Zitat dafür, Praktiken nicht einfach als selbstläufige Routinen zu betrachten und vorauszusetzen, die ihre Mitspieler gewissermaßen ‚einspannen‘, sondern als fortwährende, gemeinsame und interaktive Hervorbringung zu begreifen, die von ihren Teilnehmern immer wieder aufs Neue lokal geleistet wird (vgl. auch Bergmann 2012b; Coulon 1995: 15ff.; Garfinkel 1967: VII). Ein solches Verständnis von Praktiken, das durch Einsichten der Ethnomethodologie und soziologischen Interaktionstheorie informiert ist, fordert dazu auf, auch im Falle scheinbar alltäglicher und selbstverständlicher praktischer Vollzüge näher an die Teilnehmer heranzurücken und ihnen dabei über die Schultern zu schauen, wie sie sich in einer Praktik orientieren, auch unvorhersehbare Anforderungen bewältigen (to accomplish) und sich und ihre Aktivitäten unter der Ägide der Organisationsstruktur bzw. teleoaffektiven Gerichtetheit der Praktik in konkreten Interaktionen etwa über Gesten, Blicke, „leibliche Kundga-

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ben“ (Goffman 1982: 31) oder auch sprachliche Mitteilungen71 füreinander verständlich oder accountable machen.72 Es lässt sich stärker auch dafür interessieren, wie Mitspieler – auch abseits eingespielter Pfade – im Fortgang praktischer Vollzüge situativ sich ergebende Handlungsgelegenheiten, -aufforderungen und -potenziale73 realisieren und eine Praktik nicht nur gemeinsam routiniert am Laufen halten, sondern ihr in ihren lokalen Interaktionen eine bestimmte Richtung und eine immer auch etwas andere – und trotzdem als spezifische Praktik wiedererkennbare – Form oder Gestalt geben. 2.2.3 Die Formierung von Mitspielern: Inkorporierung oder Subjektivierung? Es heißt von Praktiken, dass sie verschiedene Positionen bereithalten, in die, wie Reckwitz (2006: 40) es formuliert, Individuen als Teilnehmer „einrücken“ (vgl. auch Schatzki 2002: 18f.). Im Zuge dieses Einrückens, so ein weiterer praxeologischer Konsens, werden die Teilnehmer durch praktisches Mittun auf die positionsspezifischen wie -übergreifenden Anforderungen der entsprechenden Praktik eingestellt und partizipieren an dem Wissen, welches die Praktik zusammenhält und die sie konstituierenden Handlungen organisiert. Sie werden auf diese Weise als kompetente und zurechenbare Mitspieler eben dieser Praktik hervorgebracht. Die konkreten Verfahren und Prozeduren der Hervorbringung kompetenter Mitgliedschaft bleiben in vielen praxeologischen Arbeiten jedoch recht

71 Im Rahmen vieler ethnomethodologischer Arbeiten gilt der Rolle von Sprache bzw. sprachlichen Äußerungen in Praktiken ein nicht unerhebliches Interesse (vgl. z.B. Bergmann 2012a). In praxeologischer Perspektive wird der Bedeutung sprachlicher Äußerungen für die praktische Erzeugung von accountability in sozialen Praktiken demgegenüber weniger systematisch Rechnung getragen, weil das vorrangige Interesse den stummen, schweigsamen und körperlichen Dimensionen des Sozialen gilt. 72 Das in der Soziologie gängige Verständnis von Interaktionen geht insbesondere auf die Arbeiten Goffmans zurück. Goffman versteht unter Interaktion den „wechselseitige[n] Einfluß von Individuen untereinander auf ihre Handlungen während ihrer unmittelbaren physischen Anwesenheit“ (Goffman 2011: 18). Im Vordergrund seines Interesses stehen dabei nicht „das Individuum und seine Psychologie […], sondern eher die syntaktischen Beziehungen zwischen den Handlungen verschiedener gleichzeitig anwesender Personen“ (Goffman 1986: 8). Zum Versuch, interaktions- und praxistheoretische Ansätze miteinander zu verknüpfen und für die empirische Analyse des Sport(spiel)s fruchtbar zu machen vgl. auch Müller (2014). 73 Vgl. zum Begriff des Situationspotenzials Jullien (1999).

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unausgeleuchtet. Lediglich versprengt finden sich z.B. bei Schatzki (2002: 81) einige – noch dazu verhältnismäßig unspezifische und empirisch wenig unterfütterte – Hinweise auf Verfahren des Lernens sowie der Bestätigung und Korrektur von Neulingen durch erfahrene Teilnehmer einer Praktik. Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht Schmidts Schrift, in der sich recht elaborierte Vorschläge für eine Konzeptionalisierung des Prozesses der Entwicklung von Mitspielfähigkeit in Praktiken finden. Wie bereits im letzten Kapitel angesprochen, geht Schmidt davon aus, dass sich Praktiken ihre Teilnehmer aneignen, sie rekrutieren und – dies legt die Semantik der verwendeten Begrifflichkeiten nahe – psychisch, körperlich und affektiv ihren Anforderungskatalogen und Zielen unterwerfen (vgl. kritisch zum Vokabular der Rekrutierung auch Jonas 2009). Schmidt beschreibt den Prozess der Entwicklung von Mitspielfähigkeit in Anlehnung an die Arbeiten Bourdieus als einen Sozialisationsprozess, der sich über eine „stumme Weitergabe durch die Teilnahme an Praktiken“ (Schmidt 2012: 215) realisiert. Dabei geht er davon aus, dass im Vollzug von Praktiken etwa über Akte unbewusster Nachahmung und körperlich-praktischer Abstimmung und Angleichung zwischen den verschiedenen – und verschieden erfahrenen – Teilnehmern praktikspezifische Wissensbestände, Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata in einer „stille[n] Pädagogik“ (Bourdieu 1987a: 128) direkt von Körper zu Körper übertragen und weitergegeben werden. Die Entwicklung von Mitspielfähigkeit vollzieht sich in seinem Verständnis primär in den Modi des impliziten Lernens bzw. Wissenstransfers und der Inkorporierung, welche die Ebene des Diskursiven nicht oder allenfalls in Gestalt „unscheinbarer Ermahnungen“ oder „heimliche[n] Überredung[en]“ (ebd.) erreichen und „keineswegs darauf angewiesen [sind], institutionalisiert, in explizites öffentliches Instruieren, Zeigen oder Imitieren übersetzt zu werden“ (Schmidt 2012: 215).74 Schmidts Modell konzeptualisiert die Genese von Mitspielfähigkeit als präreflexive Formierung und Zurichtung von Körpern, über die zugleich und gewissermaßen ‚automatisch‘ auch ‚Inneres‘ – Einstellungen, Haltungen, Intentionen, normative und affektive Orientierungen etc. – in die Form einer Praktik gebracht wird. Es bringt die Teilnehmer einer Praktik vorrangig als passive körperliche

74 Die in Kapitel 1.4 angeführten praxeologischen Arbeiten bestätigen Schmidts Thesen insofern sie an verschiedenen empirischen Beispielen aus dem Bereich des Sports zeigen, dass und wie sich die Entwicklung von Mitspielfähigkeit in erheblichem Maße über implizite Wissenstransfers ereignet. Zugleich relativieren sie diese jedoch mithin auch, als sie herausstellen, dass bei der Entwicklung von Mitspielfähigkeit insbesondere auch in hochspezialisierten Praxisbereichen wie denen des Sports didaktisierten Vermittlungsverfahren eine wichtige Bedeutung zukommt.

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Empfänger und Einschreibeflächen von Wissens- und Schemaübertragungen in den Blick, die sich an ihrem Bewusstsein vorbei Geltung verschaffen. Das Modell richtet den Blick weder darauf, wie die Teilnehmer einer Praktik bewusst, aktiv und absichtsvoll an ihrer eigenen Formierung als kompetente Mitspieler mitwirken, noch sensibilisiert es für eine systematische Berücksichtigung von Urteils- und Verstehensfähigkeiten, aufgrund derer sie reflexiv und möglicherweise auch kritisch zu einer Praktik und ihrer eigenen Position in dieser Stellung beziehen können (vgl. Boltanski 2010: 41).75 Um eben jenen Aspekten, die in praxeologischen Konzepten der Sozialisation, stillen Pädagogik, stummen Weitergabe oder Inkorporierung aus dem Fokus zu geraten drohen, Rechnung zu tragen, soll die Entwicklung von Mitspielfähigkeit in Praktiken als ein Prozess der Subjektivierung re-konzeptualisiert werden. Als besonders anschlussfähig und instruktiv für die Entwicklung einer solchen Optik erweisen sich die späten Arbeiten Foucaults, seine Studien über die Gouvernementalität und die Technologien des Selbst. Quer durch sein Werk gilt Foucaults Aufmerksamkeit keiner Ontologie, sondern einer Genealogie des Subjekts: Zentral ist die Auffassung, dass dieses nicht als a priori Instanz der Autonomie und des Handelns gegeben ist, sondern sich in Kräfteverhältnissen der Macht sowie als Wirkung gesellschaftlicher Machtverhältnisse konstituiert und stets mit einer „historisch kontingenten Praxis verbunden“ (Bublitz 2008: 295) ist. Sein Hauptaugenmerk gilt deswegen den verschiedenen Praktiken und Verfahren, mit denen sich Individuen zu verschiedenen Zeiten innerhalb spezifischer normativer Wissens- und Machtordnungen jeweils gültigen kulturellen Kriterienkatalogen – etwa der Autonomie oder der Selbstverwirklichung – unterwerfen und in dieser Unterwerfung als zurechenbare, vor sich selbst und anderen anerkannte Subjekte hervorgebracht werden (vgl. Reckwitz 2008b: 14).76

75 Schatzki stellt diese Reflexions- und Verstehensfähigkeiten von Teilnehmern in Praktiken in Rechnung und umschreibt sie mit dem Begriff der Identität. In seinem Verständnis kommt jedem menschlichen und nicht-menschlichen Partizipanden einer Praktik aufgrund seiner Position in dieser eine bestimmte Bedeutung zu. Die Möglichkeit, über eine Identität zu verfügen, ist dabei jedoch nur menschlichen Teilnehmern vorbehalten; sie ist an die Fähigkeit gebunden, die eigene Position und Bedeutung in einer Praktik zu verstehen (vgl. Schatzki 2002: 47f.). Schatzki geht dieser Unterscheidung jedoch nicht weiter nach und versäumt es zudem, sie in seinen empirischen Beispielen fruchtbar zu machen. 76 Erkennbar wird hiermit eine Doppeldeutigkeit des Subjekt-Begriffs: „Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität

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Die Akzente des foucaultschen Subjekt- und Subjektivierungsverständnisses verschieben sich im Verlauf seiner Arbeiten. In seinen frühen Schriften, z.B. Überwachen und Strafen (1994b), tritt das Subjekt vorrangig als Effekt von Disziplinierungen, und Subjektivierung als körperliche Zurichtung und Unterwerfung von Menschen unter die Macht innerhalb von „Zwangspraktiken“ (Foucault 1985a: 9) verschiedener Disziplinarinstitutionen wie dem Gefängnis in den Blick. Sein frühes Interesse ist darauf gerichtet, wie menschliche Körper in institutionellen Ordnungen durch räumliche Abschließung, Parzellierung und Verteilung sowie Kontrolle und Konditionierung „gelehrig“, d.h. ausnutzbar und durchschaubar, gemacht werden (vgl. Foucault 1994b). Foucault zeigt, dass die Unterwerfung und Disziplinierung von Körpern auf dem Prinzip einer umfassenden Sichtbarkeit – einem „Panoptismus“ (ebd.: 251) – beruhen, welches den Individuen das Gefühl vermittelt, permanent unter Beobachtung zu stehen und diese dazu veranlasst, nach und nach die von den Disziplinarinstitutionen ausgeübte Überwachungsfunktion auf sich selbst anzuwenden. Sie internalisieren den Außenblick, machen sich zu Subjekten ihrer eigenen Unterwerfung und erlangen so Handlungsfähigkeit innerhalb der Praktiken und Ordnungen der Disziplinarinstitutionen. Foucaults spätere Arbeiten basieren hingegen auf der Überzeugung, die Bedeutung der Technologien der Macht, „die das Verhalten von Individuen prägen und sie bestimmten Zwecken oder einer Herrschaft unterwerfen“ (Foucault 1993: 26), in seinem Frühwerk „allzu stark betont“ (ebd.: 27) zu haben. Unter dem Stichwort der Gouvernementalität interessiert Foucault sich fortan dafür, wie Menschen von anderen geführt werden und sich zugleich aber immer auch selbst führen (vgl. Foucault 2000), und zeigt, wie sie im Spannungsfeld von Macht- bzw. Fremdtechniken auf der einen und Selbsttechniken auf der anderen Seite Selbstbezüge herstellen, die die Schemata der Unterwerfung und Disziplinierung überschreiten (vgl. Menke 2003). Unter Selbsttechniken versteht Foucault dabei Praktiken und Übungen, die ein Individuum „gewußt und gewollt“ (Foucault 1986: 18) „auf sich selbst anwendet, durch die [es] sich selbst zur Aufgabe wird, durch die [es] sich verändert, sich rein macht, sich umformt oder umgestaltet“ (Foucault 1985b: 33). Es handelt sich bei ihnen um Schemata, die vom Individuum „nicht selbst erfunden“, sondern ihm von seiner Kultur, sei-

verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht.“ (Foucault 1994a: 246f.) Foucault versteht das Subjekt als ein „gedoppeltes“ (Bublitz 2008: 294), das unterworfen und frei zugleich ist und sich durch eine scheinbar paradoxe Gleichzeitigkeit von Autonomie und Heteronomie gekennzeichnet sieht.

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ner Gesellschaft oder sozialen Gruppe „vorgeschlagen, nahegelegt und aufgezwungen werden“ (ebd.: 19) und auf die es zurückgreift, um sich selbst so zu transformieren und zu führen, dass sein Leben bestimmten – z.B. ethischen oder ästhetischen – Kriterien entspricht. In Selbsttechniken kommt eine besondere Haltung „sich selbst, der Welt und allem gegenüber“ (ebd.: 32) zum Tragen, denn: „Sich um sich selbst zu kümmern impliziert die Umkehrung seines Blicks und daß man ihn vom außen, von der Welt, von den anderen auf sich selbst zurücklenkt.“ (ebd.) In den als Selbsttechniken bezeichneten Praktiken und Übungen treten Individuen in ein Verhältnis zu sich selbst, stellen ihre Handlungen, Haltungen, Affekte, Weltverhältnisse auf den Prüfstand, beurteilen, kritisieren, korrigieren sich und entziffern und erschaffen sich schließlich aktiv und reflexiv selbst als Subjekte. Foucault konzipiert die Selbsttechniken als eine Art Sondersphäre des Sozialen – als Beispiele nennt er „Techniken der Meditation, der Erinnerung des Vergangenen, der Gewissensprüfung, der Verifikation“ (ebd.: 33). Dabei blendet er jedoch aus, dass Fähigkeiten zur Selbstführung, -formierung und -reflexion auch in Praktiken und Übungen ganz anderer Lebensbereiche Geltung erlangen können, in denen es nicht vorrangig und ausschließlich um das Verhältnis eines Individuums zu sich selbst geht (vgl. Menke 2003; Alkemeyer 2013).77 Mit dem späten Foucault – und über diesen hinaus – wird davon ausgegangen, dass sich die Hineinbildung in Praktiken aller Art in einem Spannungsfeld von Fremd- und Selbstführungen realisiert. Eine solche subjektivierungstheoretische Perspektive richtet die Aufmerksamkeit im Vergleich zu praxeologischen Zugängen stärker auf die Eigentätigkeit sowie die reflexive Involviertheit und Beteiligung der Mitspieler am Prozess ihrer eigenen Qualifizierung. Sie macht die Entwicklung von Mitspielfähigkeit als ein Geschehen versteh- und beschreibbar, in dem nicht nur Körper zugerichtet, unterworfen oder diszipliniert und zugleich ‚Inneres‘– Wahrnehmungen, Haltungen, Affekte – in Übereinstimmung mit den normativen Anforderungskatalogen, den Wissens- und

77 So betont Menke (2003: 288): „Subjektivität heißt Handlungsmacht, und Handlungsmacht ist eine doppelte, die zur Aus- und zur Selbstführung. In dieser doppelten Macht besteht Subjektivität. Wirksam ist sie in jeder Tätigkeit, gewonnen wird sie durch Übungen. Indem wir die Fähigkeit erwerben, eine bestimmte Fähigkeit auszuführen, gewinnen wir auch eine neue Dimension der Selbstführung. Übungen sind Medien der Herstellung und Erweiterung eines Selbstbezugs, Medien der Subjektivierung.“

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Machtordnungen78 einer Praktik gebracht werden, sondern bringt diese als einen Vorgang in den Blick, in dem immer auch Reflexions-, Urteils- und (kritische) Handlungsfähigkeiten aufgerufen und ausgebildet werden, und an dem die Mitspieler selbst aktiv und formativ beteiligt sind. Werden, wie etwa in Schmidts UBahn-Beispiel oder mit der Verwendung der Rekrutierungsmetapher, Praktiken selbst zu Subjekten hypostasiert, bleibt unverständlich, wer sie produziert, zum Laufen bringt und am Laufen hält, Anschlüsse und Übergänge herstellt. An eben dieser Leerstelle erweist sich der Ort des Subjekts im Sinne eines empirischen Faktums, das sich in seiner Beteiligung an Praktiken selbst schafft und von anderen geschaffen wird und die genannten Fähigkeiten entwickelt. 2.3 Zusammenführung: Forschungsfragen Die Analyse des empirischen Gegenstandes Sportakrobatik erfolgt im Horizont zentraler praxeologischer Grundannahmen sowie des Postulats einer Vorrangstellung von Praktiken gegenüber einzelnen Akteuren und deren Handlungen. Die von den praxeologischen Ansätzen radikal vollzogene „De-Zentrierung des Subjekts“ (Reckwitz 2003: 294) wird dabei insofern mitgemacht, als davon ausgegangen wird, dass Akteure und deren Aktivitäten bzw. Handlungen immer erst im Rahmen von Praktiken Zurechenbarkeit, Intelligibilität und Bedeutung erlangen. Im Fokus der empirischen Analyse stehen die beobachtbaren, wiedererkennbaren und typisierten Aktivitätenbündel, die Praktiken, der Sportakrobatik sowie deren Anforderungen und Wissens- bzw. Organisationsprinzipien. Jedoch soll in der empirischen Analyse auch auf die in den vorangehenden Abschnitten identifizierten Verkürzungen der neueren praxeologischen Zugänge reagiert werden: So sollen Mitspieler in den vermeintlich selbstläufigen und routiniert prozessierenden praktischen Vollzügen mit einer größeren Aufmerksamkeit bedacht werden – und zwar nicht nur als „kompetente Körper“ (Reckwitz 2003: 290), sondern als körperlich-mental-affektive sowie (selbst-)reflexive und -kritische Entitäten – und ein genauer Blick auf die praktischen Interaktionen

78 In den neueren einschlägigen praxeologischen Arbeiten von Reckwitz, Schmidt und Schatzki werden Fragen nach Machtverhältnissen kaum adressiert. Zumal jedoch davon auszugehen ist, dass Rechte, Pflichten, Standpunkte und Deutungshoheiten über die verschiedenen Positionen einer Praktik ungleich verteilt sind und es aufgrund dieser Ungleichverteilung durchaus zu Konflikten zwischen den verschiedenen Teilnehmern kommen kann, könnten Fragen nach Machtverhältnissen in Praktiken praxeologische Analysen möglicherweise in fruchtbarer Weise erweitern.

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geworfen werden, die sich im Rahmen einer Praktik abspielen und mit denen ihre Teilnehmer aufeinander Bezug nehmen. Damit soll ein Mittelweg zwischen einer Praxeologie der Lesart Schatzkis, Reckwitzʼ oder auch Schmidts und ethnomethodologischen sowie interaktionstheoretischen Ansätzen eingeschlagen werden, um sowohl der Strukturiertheit der sportakrobatischen Trainingspraxis als auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass und wie in Praktiken positionierte Akteure Moment für Moment gemeinsam ihre soziale Wirklichkeit vollziehen und sich dabei zugleich selbst als kompetente Mitspieler hervorbringen. Adressiert werden soll unter diesem Beobachtungsschwerpunkt eine Reihe verschiedener Wie-Fragen: 79 (1) Wie gehen die Teilnehmer einer sportakrobatischen Praktik mit deren Anforderungen um? Wie bewältigen sie situative Irritationen, Unsicherheiten und Kontingenz? Wie werden nicht nur Routinen reproduziert, sondern erfolgt auch die Hervorbringung von Neuem? Wie formen die Teilnehmer Praktiken in ihren lokalen Interaktionen und über diese hinweg, also transsituativ, aus? (2) Wie stellen sich die Teilnehmer wechselseitig und selbst auf die Anforderungen einer Praktik ein, machen diese füreinander verständlich und das ihre Aktivitäten organisierende Wissen verfügbar? Wie erfolgt die eigentätige und wechselseitige Hineinbildung von Teilnehmern in eine Praktik und wie lernen sich Teilnehmer in einer Praktik zu orientieren? Wie also erfolgt die Formierung kompetenter Mitspieler? In allen dieser Fragen kommt ein Interesse an den Graden und Formen des Engagements (Goffman) der Mitspieler zum Tragen, welches sie in eine Praktik, in die sich unter der Ägide ihrer Organisationsstruktur abspielenden praktischen Interaktionen sowie die in ihrem Rahmen sich ereignenden Akte der Subjektivierung von Mitspielfähigkeit investieren. Der Goffmans interaktionstheoretischen Arbeiten entliehene Begriff des Engagements erscheint als hochgradig anschlussfähig sowohl an praxeologische als auch an subjektivierungstheoretische Überlegungen und als besonders instruktiv für die empirische Analyse, weil ihm die Doppelbedeutung von Verpflichtung und Zuneigung inhärent ist. Mit diesem

79 Während handlungs(regulations)theoretische Ansätze Warum- und Wozu-Fragen stellen, um individuelle Sinnzuschreibungen, Absichten oder Pläne zu erfassen, sind WieFragen charakteristisch für praxeologische Zugänge. Diese interessiert, wie etwas getan und praktiziert wird (vgl. Hirschauer 2004: 73; Mol 2002: 15f.).

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Begriff wird fassbar, dass sich die Teilnehmer einer Praktik auf deren Anforderungskataloge verpflichten, ohne diese Verpflichtung als einen passiven Akt der Rekrutierung und des körperlichen Eingespannt- oder Unterworfen-Werdens denken zu müssen. Der Begriff lässt sich dafür interessieren, inwiefern und auf welche Weisen Teilnehmer in ihrer Verpflichtung gegenüber einer Praktik immer auch kognitiv und affektiv ‚bei der Sache‘ sind, sich mit dieser identifizieren, Gefühle und Anstrengungen für diese aufwenden, sich selbstbewusst in dieser positionieren und gewissermaßen ‚aus dem Spiel heraus‘ aktiv in ihren Verlauf einzugreifen (vgl. Goffman 2009: 52f.; vgl. auch Alkemeyer/Michaeler 2013). (3) Die Vielzahl der unter (1) und (2) skizzierten Wie-Fragen impliziert in jedem Fall auch die Frage danach, was es für Wissensbestände und Fähigkeiten sind, die bei den jeweils in Frage gestellten Akten aufgerufen und angebahnt werden. Auf der Unterlage des von Barnes eingeforderten ‚versöhnlicheren‘ und graduelleren Verständnisses von Praktiken und praktischen Wissens (vgl. Kapitel 2.2.1) soll dabei nicht ausschließlich auf implizite und körperliche Bestände und Fähigkeiten fokussiert werden. Vielmehr soll empirisch ausgeleuchtet werden, inwiefern verschiedene und vermeintlich inkommensurable – implizite und explizite, verkörperte und sprachförmige, erspürte und rationale, routinierte und reflexive – Gehalte oder Mitspielfähigkeiten im Vollzug sportakrobatischer Praktiken von Relevanz und im Spiel sind.

3. Methodik

Aus den im vorangehenden Kapitel dargelegten praxeologischen Grundannahmen erwachsen für die Bearbeitung der skizzierten Wie- und Was-Fragen am empirischen Gegenstand des sportakrobatischen Trainings wichtige forschungsmethodische Konsequenzen. Als ungeeignet erweisen sich erstens experimentelle Untersuchungsverfahren, auf die im Rahmen zahlreicher sportwissenschaftlicher Untersuchungen zurückgegriffen wird. Als unpassend erscheinen diese Verfahren vor dem Hintergrund der praxeologischen Einsicht, dass Veränderungen des Kontextes von Praktiken – etwa räumliche-materielle Umarrangierungen oder Verlagerungen aus ‚natürlichen‘ Umgebungen in ein Labor – die zu analysierenden Praktiken selbst grundlegend verändern und dementsprechend Erkenntnisse über das Wie des Machens von Sport und den Erwerb sportlicher Fähigkeiten, die in Laborsituationen gewonnen wurden, nicht ohne weiteres Aussagen über die üblichen Kontexte von Spiel, Training und Wettkampf erlauben.80 Als unzuträglich erweisen sich zweitens auch Interviewmethoden, wenn sie auf den „hermeneutischen Nachvollzug“ von hinter dem manifesten Verhalten sich vermeintlich verbergenden individuellen Sinnzuschreibungen, Absichten oder Ideen zielen (vgl. Bergmann 2012a: 125). Der praxeologische „modus operandi des empirischen Forschens“ (Schmidt 2012, S. 15; kursiv i.O.) sieht sich demgegenüber durch eine Bevorzugung von ethnografischen Studien81 entliehenen Verfah-

80 Vgl. hierzu Schatzkis (2002: 65) Erläuterungen zum Begriff der Site, in denen er betont, dass durch Veränderungen des Kontextes immer auch das von ihm Kontextualisierte mit verändern. 81 Etabliert hat sich die Ethnografie als Methode zunächst in der (Kultur-)Anthropologie und der Ethnologie. Bei den ersten ethnografischen Schriften handelt es sich um Studien über fremde Völker und Stämme sowie deren Sitten, Rituale und Bräuche (vgl. Geertz 1987; Malinowski 1979). Später hat auch die Soziologie ethnografische Methoden entwickelt, um Gruppierungen innerhalb der eigenen Gesellschaft, z.B. Sub-

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ren der teilnehmenden Beobachtung und der Beschreibung gekennzeichnet: Der Forscher sucht Teilnehmer in ihren ‚natürlichen‘ Umgebungen bzw. Feldern82 auf, um sie dabei zu beobachten, wie sie etwas gemeinsam praktizieren, aufeinander Bezug nehmen und sich in ihrem Tun bestätigen, irritieren oder korrigieren, und die beobachteten praktischen Vollzüge und wechselseitigen Bezugnahmen dann detailliert und „dicht“ (Geertz 1987) im Hinblick auf ihre Eigenlogik sowie die in ihnen erkennbar werdenden Fähigkeiten und Wissensbestände zu beschreiben.83 Ein solches praxeografisches Vorgehen (vgl. Mol 2002; Schmidt 2012) macht es sich zur Aufgabe, die Struktur- und Organisationsprinzipien von Aktivitäten aufzuschlüsseln und zu explizieren, die in der Pragmatik der praktischen Vollzüge oft verborgen bleiben und möglicherweise nicht einmal von den Akteuren selbst wahrgenommen werden.

3.1 G RUNDZÜGE

ETHNO - UND PRAXEOGRAFISCHER F ORSCHUNG

3.1.1 Ethno- und Praxeografie als Forschungshaltungen Praxeografien unterscheiden sich von Ethnografien vor allem in ihrem theoretischen Fundament und ihrem Untersuchungsgegenstand. Während in ethnografischen Arbeiten die Beschreibung und Analyse der quasi-essentiellen und überdauernden Eigenschaften oder Strukturen von Gruppen, Institutionen oder Organisationen im Vordergrund stehen, richtet sich das Interesse praxeografischer Studien nicht auf das dauerhafte ‚Wesen‘ dieser sozialen Phänomene, sondern darauf, wie diese immer wieder aufs Neue praktisch hervorgebracht und „enacted“ (Weick 1985) werden (vgl. Mol 2002: 83). Diesem Interesse liegt die theo-

kulturen, Szenen und soziale Milieus, oder auch Institutionen und Organisationen zu erforschen. 82 Ich beziehe mich auf den ethnografischen Feldbegriff, der von Malinowski (1979) eingeführt wurde. Gemeint ist damit der Ort des Geschehens. 83 In der Ethnografie gilt Beobachtungs- und Beschreibungsverfahren zwar der methodische Primat. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch auf andere Forschungsmethoden wie z.B. Interviews zurückgegriffen wird. Interviews dienen hier jedoch nicht der Erfassung eines stillen inneren Verstehens, Wollens und Meinens auf Seiten des Befragten, sondern werden vielmehr als ergänzende Methode zur Beobacht- und Beschreibbarmachung des prinzipiell öffentlichen sozialen Geschehens genutzt (vgl. auch Scheffer 2002).

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retische Überzeugung zugrunde, dass es hinter den praktischen Vollzügen nichts ‚Wesenhaftes‘ zu entdecken gibt. In forschungsmethodischer Hinsicht ähneln sich praxeografische und ethnografische Zugänge stark und rekurrieren auf einige konsensuell geteilte Grundfeste: Geforscht wird zumeist über einen längeren Zeitraum von mehreren Monaten primär mithilfe teilnehmend-beobachtender und beschreibender Verfahren unter der Bedingung einer raum-zeitlichen Kopräsenz von Beobachter und Beobachteten, Forscher und Beforschten (vgl. Gobo 2008: 5). Die Begriffe Ethnografie und Praxeografie bezeichnen dabei jedoch keine standardisierte oder kanonisierte Methodologie:84 Wie genau, d.h. mit welchen konkreten Methoden, mithilfe welcher Aufzeichnungsgeräte (Papier und Stift, Videokamera) und aus welcher Perspektive (verdeckte oder offene, aktiv oder passiv teilnehmende Beobachtung), beobachtet und beschrieben wird, kann – so ein Konsens – nicht definitiv vor Beginn des eigentlichen empirischen Forschungsprozesses festgeschrieben, sondern muss der „Sozio-Logik“ (Amann/ Hirschauer 1997: 20) des Untersuchungsfeldes und -gegenstandes angepasst werden. Praxeografien und „Ethnographien sind nicht regulative, sondern mimetische Formen empirischer Sozialforschung“ (ebd.; kursiv i.O.), die unter der Prämisse erfolgen, dass sich Methoden in keinem Fall vor den empirischen Gegenstand schieben dürfen. Einem in verschiedenen Strömungen der Sozialforschung nach wie vor verbreiteten ‚Methodenfetischismus‘ wird grundsätzlich ablehnend begegnet. Primär für Analysen ist in diesem Sinne nicht die Anwendung einer Methode auf einen empirischen Gegenstand, sondern deren kontextsensitive und situationsangemessene Verwendung für bestimmte empirische Zwecke (vgl. Bergmann 2005: 643). Methodischen Konzepten kommt im Rahmen ethnografischer und praxeografischer Studien eine dienende und „heuristische, forschungspragmatische Funktion“ (Lüders 2012: 387; kursiv i.O.) zu, an welcher sich wiederum ihre Adäquatheit bemisst: Sie sind keineswegs unantastbar, sondern haben sich in der Forschungspraxis und im Horizont konkreter Fragen immer wieder von Neuem zu bewähren und müssen, sollten sie sich als ungeeignet erweisen, empirisch neue Erkenntnisse zu generieren, aufgegeben und durch Alternativen ersetzt werden. Während seiner Feldforschungen ist der Forscher jedoch nicht nur permanent gefordert, sich über die (Gegenstands-)Adäquatheit seiner Methoden Rechenschaft ablegen. Auch steht er vor der Herausforderung, beständig eine „Differenz

84 Dies gilt nicht nur für die Datenerhebung, sondern auch die Auswertung und Analyse der Beobachtungen, welche sich nicht an einem vorgegebenen Schema orientieren, sondern in Anlehnung an ein grounded theorizing (vgl. Hammersley/Atkinson 1995: 205) erfolgen.

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von Fremdheit und Vertrautheit“ auszutarieren (Amann/Hirschauer 1997: 11). Um ethnografisch fremde Kulturen, Institutionen oder gesellschaftliche SubGruppierungen oder praxeografisch unbekannte Praktiken sowie deren Eigenlogiken, Organisations- und Vollzugsprinzipien beobachten, beschreiben und begreifen zu können und einem Feld nicht distanziert und unverständig gegenüberzustehen, sieht sich der Forscher einerseits mit der Aufgabe konfrontiert, ein Insiderwissen erwerben und sich in das von ihm beobachtete Sprachspiel (Wittgenstein) einfinden zu müssen (vgl. auch Scheffer 2002: 362) sowie sich in dieser Hinsicht im Sinne eines going native den Teilnehmern mithin mimetisch anzuähneln. Angesprochen sind hierbei insbesondere auch die Subjektivität des Forschers und – wie Amann/Hirschauer (1997: 25) es auf den Begriff bringen – seine, durch die Forschungsbedingung der Kopräsenz aktualisierbar werdenden, „seismographische[n] Qualitäten“, welche es ihm ermöglichen, Besonderheiten und Relevanzen des Feldes noch vor ihrer reflexiven Erfassung gewissermaßen ‚aufzuspüren‘ oder ein empathisches und affektives Verständnis für die Akteure und deren Tun zu entwickeln. Auf der anderen Seite hat der Forscher jedoch auch dafür Sorge zu tragen, die Teilnehmerperspektiven nicht unkritisch zu übernehmen, im Feld vollständig heimisch zu werden und mit der Adaption eines Wahrnehmungs- und Handlungsmodus des Selbstverständlichen und Gewohnheitsmäßigen Gefahr zu laufen, für seine Besonderheiten gewissermaßen zu ‚erblinden‘ und diese nicht (mehr) explizieren zu können. So verlangen es ethno- und praxeografische Verfahren dem Forscher ab, in den unterschiedlichen Phasen und Stadien des Forschungsprozesses sowohl dem Feld bzw. Gegenstand als auch sich selbst als entscheidendem „personale[n] Aufzeichnungsapparat[]“(ebd.) gegenüber permanent wachsam zu sein und kontinuierlich zu überprüfen, ob die Empathie und Vertrautheit mit dem Feld im Fortgang der teilnehmenden Beobachtung so groß geworden sind, dass kein objektivierender, wissenschaftlicher Blick mehr möglich ist und sich die Perspektive des Forschers nicht mehr von denen der Teilnehmer unterscheidet. Der Forscher ist deswegen immer wieder auch gefordert, auf seine ‚heimische‘ Position als Wissenschaftler zurückzukehren (coming home) und sich die soziale Welt, in die er eingetaucht ist, mit verschiedenen empirischen oder begrifflich-theoretischen Orientierungs- und Objektivierungstechniken wieder unvertraut zu machen. Eine „reflexive Distanzierung von gelebter Praxis“ (Amann/Hirschauer 1997: 27) und Wieder-Befremdung des Blicks können so beispielsweise durch längere Phasen des Rückzugs aus dem Feld forciert werden. Diese können dafür genutzt werden, die eigenen die Beobachtungen und Beschreibungen mithilfe theoretischer Konzepte zu interpretieren und herauszufordern, indem sie versuchsweise unter analytische Begriffe und Kategorien sub-

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sumiert werden. Auch können die verwendeten Methoden und erhobenen Daten in data sessions mit anderen Wissenschaftlern oder in Gesprächen mit Teilnehmern im Hinblick auf ihre Tragfähigkeit, Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit diskutiert werden. Diese Strategien ermöglichen Perspektivenwechsel und erlauben es, den (möglicherweise unbeweglich geworfenen) Blick im und auf das Feld neu auszurichten. 3.1.2 Das Verhältnis von Empirie, Theorie und Methodik: Die Konstruktion des Forschungsgegenstandes In besonderer Weise charakteristisch für ethno- und praxeografische Vorgehensweisen sind in methodischer Hinsicht erstens ein bereits mit der Identifikation der wichtigen Aufgabe des Austarierens der Leitdifferenz von Fremdheit und Vertrautheit angesprochenes, ausgeprägtes Wechselspiel von Theorie und Empirie im Forschungsprozess sowie zweitens eine prinzipielle Gleichordnung und -wertung des empirischen Gegenstandes in Relation zu Theorie und Methodik. Ethnografie und Praxeografie85 folgen der Einsicht, dass einem Forschungsgegenstand oder Feld nur mithilfe wissenschaftlich legitimierter Methoden und Theorien wissenschaftlich relevante Erkenntnisse abzuringen sind. Im Unterschied zu der nach wie vor prominenten Auffassung einer Anwendungsbeziehung von Theorie und Methode auf einen Gegenstand bestehen ethno- und praxeografische Zugänge gerade nicht darin, eine bestimmte, vollständig ausformulierte Theorie mithilfe einer definierten und formalisierten Methode auf ein Objekt oder ein Feld zu übertragen, um sie an diesem zu illustrieren, zu be- oder auch zu widerlegen. Vielmehr wird sowohl Theorien als auch Methoden nur mehr der Status von Sehhilfen oder Kompassen attribuiert (vgl. Scheffer 2002: 370), welche es dem Forscher ermöglichen, Fragen an den Gegenstand zu stellen, seinen Blick zu lenken, zu orientieren, zu fokussieren und es ihm zu vermeiden helfen, dass sich eine Willkürlichkeit der Blickausrichtung Bahn bricht. Zumal jedoch eine gewissermaßen ‚fertige‘, hermetisch fixierte und nicht mehr kritisierbare Theorie und Methodologie den Forscherblick zu lähmen drohen oder ihn sogar für bislang Noch-nicht-Entdecktes, Neuartiges und Unerwartetes erblinden lassen können, gilt es Immunisierungen von Theorie und Methodologie gegenüber der Empirie zu vermeiden, jene als „Denkwerkzeuge“ (Amann/

85 Ein Großteil der folgenden Ausführungen – etwa zum Methodenverständnis und zum Verhältnis von Theorie und Empirie – besitzt nicht nur Gültigkeit für ethno- und praxeografische Forschungen, sondern auch für andere Methoden und Vorgehensweisen der qualitativen Sozialforschung (vgl. Kalthoff/Hirschauer/Lindemann 2008).

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Hirschauer 1997: 37) zu instituieren und als Optionen und Vorschläge dafür zu begreifen, wie die Welt in ihrem Licht vorgestellt werden kann. Ein solches Methoden- und Theorieverständnis erlaubt es, eine Offenheit für empirische Eigenheiten und Irritationen zu bewahren und bildet insofern die Voraussetzung dafür, nicht nur bereits bekannte Phänomene und Zusammenhänge zu bestätigen oder negieren, sondern auch Neues entdecken zu können. In der Einstellung des Forscherblicks gilt es, die theoretisch-methodische Optik so beweglich zu halten, dass sie gegenstandssensible Justierungen erlaubt. Eng mit der Berücksichtigung der möglichen Eigensinnigkeit des Objekts (gegenüber theoretisch-methodischen Festschreibungen und Vorannahmen) hängt eine spezifische Anerkennung und Wertschätzung der Teilnehmerperspektiven zusammen. Statt pauschal eine grundsätzliche Überlegenheit des wissenschaftlichen Wissens gegenüber dem alltagsweltlichen Wissen der Teilnehmer zu postulieren, besteht ein ethno- und praxeografisches Forschungsideal in einer reflexiven Verzahnung, einem kontinuierlichen „Hin- und Herlavieren“ (Scheffer 2002: 370) zwischen Wissenschaftler- und Teilnehmerperspektiven (vgl. auch Kalthoff/ Hirschauer/Lindemann 2008).86 Eine solche Forschungshaltung fügt sich damit nicht jenen gleichsam ‚separatistischen‘ Wissenschaftsauffassungen, die Theorie(-bildung), Methodik und empirische Forschung als klar voneinander abgrenzbare Aufgabenbereiche und Wissenspraktiken verstehen, denn:

86 Vgl. hierzu auch Boltanskis (2010: 41ff.) kritische Auslegungen der bourdieuschen Perspektive. Laut Boltanski unterstellt Bourdieu den Akteuren eine Art Verblendung gegenüber den Motiven und Triebkräften ihres eigenen Tuns und gesteht einzig den Wissenschaftlern die Potenziale zu, deren Alltagpraxis reflexiv aufzuklären. Zwar plädieren Bourdieu/Chamboredon/Passeron (1991: 15ff.) für einen „epistemologischen Bruch“ mit Alltagsbegriffen und -vorstellungen, scheinen hiermit aber entgegen Boltanskis Vorwurf keine radikale Verwerfung der Akteursperspektiven und Verabsolutierung der Wissenschaftlerperspektive im Blick zu haben. Vielmehr kritisiert Bourdieu selbst die Nicht-Ernstnahme der Akteurslogik und eine Übertragung der wissenschaftlichen Perspektive auf sie – also die Projektion der Logik der Logik auf die Logik der Praxis (vgl. Bourdieu 1987a: 157) – als eine „scholastic fallacy“ (Bourdieu 2001: 207). Laut Bourdieu muss „[d]as Wissen der Akteure, ihr sens pratique, [gleichwohl] den Ausgangspunkt jeder soziologischen Erkenntnis“ bilden (Krais 1991: VIII). Verführen lassen darf sich der Soziologe aus Sicht Bourdieus jedoch nicht zu Spontansoziologien, mit denen die Alltagsperspektiven der Akteure unreflektiert reproduziert werden. Mit genau diesen eigenen Spontandeutungen hat der Soziologe mithilfe verschiedener Objektivierungstechniken methodisch kontrolliert zu brechen.

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„Die Ethnografie ist […] in dieser Arbeitsteilung nicht zu begreifen. Im ethnographischen Forschungsprozeß sind theoretische und empirische Arbeitsprozeße wechselseitig verschränkt, ohne daß sich generalisierend Phasen oder Modi des einen oder anderen festlegen lassen.“ (Amann/Hirschauer 1997: 36; vgl. auch Kalthoff 2008: 13).

Die Auffassung von Theorien als Denkwerkzeugen, welche – vermittelt über einen spezifischen und von ihnen nahegelegten methodischen Forschungsrahmen – Vorschläge unterbreiten, wie ein empirischer Gegenstand im Horizont ihrer Optionen gesehen werden kann, verfolgt nicht den Anspruch, diesen so abbilden zu vermögen, wie er mithin ‚wirklich‘ ist. Vielmehr impliziert sie die Überzeugung, dass der Gegenstand vor seiner stets selektiven und ausschnitthaften theoretisch-methodischen Betrachtung, Bearbeitung und Erforschung als solcher gar nicht existiert. Erst durch die Verwendung einer theoretisch-methodischen Analyseoptik vom Forscher wird der Forschungsgegenstand als ein solcher und spezifischer konstruiert (vgl. Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991: 37), konturiert und beobachtbar gemacht: „We cannot see social reality without theory, just as we cannot see the physical world with our eyes.“ (Burawoy 1998: XIII) Ethnobzw. praxeografische Beobachtungen implizieren damit immer auch weit mehr als ein passives Hinschauen oder Registrieren einer – wie auch immer gearteten – Wirklichkeit. Vielmehr sind sie als – zu erlernende und nur mithilfe verschiedener methodischer, theoretischer und empirischer Techniken und Verfahren der Beobachtbarmachung (vgl. hierzu Scheffer 2002) zu erzielende – wissenschaftliche Interpretationsleistungen, bzw. genauer: Interpretationsleistungen zweiter Ordnung zu verstehen, welche diejenigen Beobachtungen und Deutungen erster Ordnung zum Gegenstand haben, die die Akteure in ihrer Alltagspraxis selbst vornehmen.87 Der Forschungsgegenstand ist damit insofern ein in doppelter Hinsicht konstruierter, als der Forscher in seinen Beobachtungen und Beschreibungen stets die Sinnkonstruktionen88 der beobachteten Akteure (re-)interpretiert:

87 Es wird in der Arbeit absichtlich von Beobachtungen, Deutungen und Perspektiven der Teilnehmer im Plural gesprochen, weil nicht davon ausgegangen wird, dass Praktiken für alle ihre Teilnehmer einheitlich und identisch sind (vgl. kritisch zu dieser Vorstellung auch Warde 2005 sowie Alkemeyer/Buschmann 2015). Mit der Verwendung des Plurals wird kenntlich gemacht, dass in Praktiken durchaus unterschiedliche Perspektiven aufeinandertreffen können. 88 An dieser Stelle sei abermals betont, dass der Begriff des Sinns nicht in seiner hermeneutischen, sondern in seiner praxeologischen und pragmatistischen Bedeutung gebraucht wird (vgl. hierzu auch Kapitel 2.1.7).

86 | M ITSPIELFÄHIGKEIT „Kurz, ethnologische [bzw. ethnografische und praxeografische; KB] Schriften sind selbst Interpretationen und obendrein solche zweiter und dritter Ordnung. […] Sie sind Fiktionen, und zwar in dem Sinn, daß sie ‚etwas Gemachtes’ sind, ‚etwas Hergestelltes‘ – die ursprüngliche Bedeutung von fictio –, nicht in dem Sinn, daß sie falsch wären, nicht den Tatsachen entsprächen oder bloße Als-ob-Gedankenexperimente wären. […] Aber die eine Geschichte ist genauso fictio – ‚etwas Gemachtes‘ – wie die andere.“ (Geertz 1987: 23; Herv. i.O.)

An der Positionierung ethno- und praxeografischer Studien im Dazwischen von Wirklichkeit und Fiktion bzw. Findung und Erfindung (vgl. Hirschauer 2008a: 175) entzündete sich ab den späten 1970er Jahren heftige Kritik. In den Debatten um Writing Culture und die Krise der Repräsentation wurden insbesondere die frühen Ethnografien als autoritative literarische Erzählungen gebrandmarkt, in welchen die Subjektivität und Konstruiertheit ihrer Narrationen angeblich unter der Vorspiegelung einer – falschen – Neutralität und Objektivität verschleiert wurden. In Reaktion auf diesen Vorwurf (vgl. z.B. Kalthoff 2003) wird in der Folge der Debatte um Writing Culture der Anspruch an Ethnografen erhoben, die Bedingungen ihrer Gegenstandskonstruktionen, ihre Vorannahmen, subjektiven Standpunkte und Blickwinkel a) selbstkritisch zu reflektieren und b) potenziellen Rezipienten offenzulegen und zugänglich zu machen.89 Ethno- und praxeografische Beobachtungen sowie dichte Beschreibungen sind demnach weder als realitätsgetreue Abbildungen zu verstehen, noch dürfen sie bloße beliebige und willkürliche Fiktionen sein. Vielmehr sehen sie sich dem Anspruch ausgesetzt, den Interaktionen und Praktiken der beforschten Akteure zu folgen sowie die diesen eingeschriebenen Deutungen, Auslegungen und Sinnzuschreibungen unter dem Paradigma wissenschaftlicher Reflexivität auslegen. Die Qualität der Schriften bemisst sich dabei gerade nicht an den traditionellen Gütekriterien wissenschaftlicher Forschung wie Objektivität, Reliabilität, Validität oder Repräsentativität, sondern im Wesentlichen an der Plausibilität, Nachvollziehbarkeit und Intelligibilität ihrer (Re-)Konstruktionen sowie der Offenlegung ihrer Entstehungsbedingungen. In diesem Sinne verbietet eine solche Forschungshaltung demjenigen, der einem empirischen Gegenstand qua Beobachtung und Beschreibung neue, plausible und intelligible Einsichten abzuringen

89 Anerkannt wird mit dieser Forderung zugleich, dass dem Problem der Konstruktion nicht entronnen werden kann. Nicht nur die Ethnografie, sondern jede Forschung, so objektiv, reliabel und valide sie sich auf den ersten Blick auch darstellen mag, bildet Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern konstruiert diese auf eine besondere und stets zwangsläufig partikulare Weise.

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versucht, eine „naive just-do-it-innocence“ (v. Maanen 1995: 12 zit. nach ebd.: 16) und verlangt ihm vielmehr die Fähigkeit ab, die eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen im und subjektiven Perspektiven auf das Feld reflexiv zu durchdringen und diese zu explizieren, um sie so vor anderen beurteilbar und diskutierbar zu machen.

3.2 E IGENES V ORGEHEN Nach der Darlegung einiger zentraler Prämissen ethno- und praxeografischer Forschung soll in den folgenden Abschnitten das eigene methodische Vorgehen skizziert und die konkreten Bedingungen der Forschung offengelegt werden. Den Kristallisationspunkt bildet dabei die Absicht, in groben Federstrichen chronologisch nachzuzeichnen, warum und wie in der Verzahnung von Theoriearbeit, Methodenentscheidungen und der Gewinnung empirischer Erkenntnisse, von Datenerhebung und -auswertung, von einem Vertrautwerden mit dem Feld sowie einer reflexiven Distanzierung der empirische Gegenstand in einer spezifischen (und nicht in einer beliebig anderen) Weise beobachtbar gemacht und analysiert wurde. 3.2.1 Die Auswahl des Feldes Vor Beginn des eigentlichen empirischen Forschungsprozesses wurden einige theoretisch-methodische Vorentscheidungen getroffen, um diesen zu orientieren und zu rahmen. Schon im Vorfeld der Kontaktaufnahme mit und dem Eintauchen in das Feld stand so fest, dass das Untersuchungsfeld a) eines des Leistungssports sein sollte und dieses b) unter Zuhilfenahme einer praxeologischen Optik im Hinblick auf die Organisations- und Vollzugsprinzipien der in diesem zu identifizierenden Praktiken sowie auf die Subjektivierungsprozesse befragt werden sollte. Überdies erfolgte aufgrund der im vorangehenden Abschnitt dargelegten konzeptionellen Nähen von Praxeologie und Ethno- bzw. Praxeografie mit der Definition des theoretischen Untersuchungshorizonts c) auch die Entscheidung für die – zumindest ungefähre – methodische Rahmung des Vorhabens. Vor dem Eintritt in das Feld war spezifiziert, dass die erkenntnisleitenden Fragestellungen auf der Grundlage teilnehmender Beobachtungen bearbeitet werden sollten. Auf diesem theoretisch-methodisch nur mehr recht grob und großzügig abgesteckten ‚Spielfeld‘ bestand die nächste Herausforderung sodann darin, in Abwägung verschiedener Optionen einen empirischen Gegenstand auszuwählen, der es in Aussicht stellte, die forschungsleitendenden Fragestellungen

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so bearbeiten zu können, dass die Genese neuer Erkenntnisse erwartbar schien. Das erste forschungsstrategische Selektionskriterium bestand deswegen in der Überlegung, dass der Gegenstand bzw. das Feld noch nicht breit erforscht sein sollte. Der Bereich des Tanzes und Tanzens sowie die verschiedenen Kampfsportarten bzw. Kampfkünste – die zwar weniger unter sport-, jedoch umfangreich bereits unter sozial- und kulturwissenschaftlichen Vorzeichen und im Rahmen (auto-)ethnografischer Studien, streckenweise sogar unter ähnlichen Fragestellungen, erforscht sind –,90 wurden deswegen verworfen. Eine weitere Einschränkung erfuhr der Pool der potenzieller Forschungsfelder zweitens angesichts der Erwägung, dass sich die praxeologische Perspektive insbesondere auch dafür eignet, sich der Erfassung von aus sportwissenschaftlicher Perspektive weitgehend vernachlässigten kollektiven sportlichen Aktivitäten, also jenen des Team- und Mannschaftssports, zu nähern.91 Die Gesamtheit der in Frage kommenden Teamsportarten konnte drittens dadurch eingeschränkt werden, dass der gewählte Gegenstand es auch einer einzelnen Person erlauben sollte, diesen in seiner ‚natürlichen Umgebung‘ beobachten zu können. Aufgrund ihrer raumzeitlichen Komplexität schieden die ‚schnellen‘ Mannschaftssportarten wie Fuß-, Hand- oder Basketball damit in erster Linie aufgrund forschungspraktischer Überlegungen aus.

90 Vgl. für den Bereich des Kämpfens z.B. Girton (1986), Wacquant (2003) sowie zuletzt Schindler (2011a) und für das Tanzen neben Gugutzer (vgl. Kapitel 1.2.4) die Sammelbände von Gehm/Husemann/von Wilcke (2007) und Klein (2009). 91 Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass die Anlegung einer praxeologischen Optik für die empirische Erforschung von Individualsportarten unpassend ist und diese nicht als Praktiken betrachtet werden könnten. Auch auf die Bewegungsaktivität des Joggens beispielsweise treffen die in den Kapiteln 2.1.2 bis 2.1.6 spezifizierten Merkmale von Praktiken zu. Auch bei dieser handelt es sich um einen lokal situierten, körperlichen und beobachtbaren Vollzug, der auf spezifische normative Weise gerichtet ist. Auch für Jogger gilt, dass sie ihren Bewegungen eine spezifische soziale und überindividuelle Form geben – ansonsten wären ihre Bewegungen gar nicht als Jogging identifizierbar – und etwa mit dem Bodenbelag (vgl. dazu Allen Collinson 2008) oder mit einer bestimmten Laufausrüstung auch nicht-menschliche Partizipanden an der Praktik des Joggens beteiligt sind, die die Aktivitäten der Joggenden beeinflussen.

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3.2.2 Der Feldzugang und die frühen Phasen der Beobachtung Der Zugang zum anvisierten Untersuchungsfeld war – entgegen der Befürchtungsäußerungen der ethnografischen Fachliteratur (vgl. z.B. Hammersley/ Atkinson 1995: 54ff.), welche diesen als eine der größten Herausforderungen des Forschungsprozesses bestimmt – recht umstandslos zu erlangen. Im Anschluss an die Entscheidung zur Beforschung sportakrobatischen Trainings wurde Kontakt mit den Trainern, einem Ehepaar und den „gatekeepers“ (ebd.: 34) des Feldes, aufgenommen. Ihre Zustimmung zu meiner Bitte um Teilnahme an den beiden wöchentlichen Trainingseinheiten der Gruppe war nach einer kurzen Skizzierung der Grundzüge des Forschungsvorhabens, Erkenntnisinteresses und methodischen Vorgehens problemlos zu gewinnen. Begünstigt worden sein könnte ihre schnelle Bereitschaft, mich als teilnehmende Beobachterin am Training partizipieren zu lassen, möglicherweise durch ihre Bildungsbiografien. Beide Trainer haben ein sportwissenschaftliches Studium absolviert, so dass es ihnen keine Probleme zu bereiten schien, die Relevanz des Vorhabens sowie die Aufrichtigkeit und Legitimität des skizzierten Interesses nachvollziehen zu können. Überdies ist es die Gruppe gewohnt, sich vor Publikum auszustellen und nicht nur bei Auftritten und Wettbewerben, sondern auch während der Trainingszeiten selbst, von Dritten beobachtet zu werden; fast immer sind einige Zuschauende in den Hallen zugegen. Die Trainer versicherten mir deshalb, dass mein Eintritt ins Feld92 relativ störungsfrei ablaufen würde und nicht zu erwarten sei, dass meine beobachtende Teilnahme das Training beeinträchtigen würde. Mit der Festlegung des Untersuchungsfeldes war zwangsläufig auch das Wie der teilnehmenden Beobachtung zumindest in einer Hinsicht näher spezifiziert. Aufgrund fehlender sportakrobatischer Fähigkeiten und Fertigkeiten waren eine

92 Das Feld verstehe ich dabei als durch die sportakrobatischen (Trainings-)Praktiken (und ihre Teilnehmer) konstituiert und abgesteckt. Zumal diese ihre Site primär in zwei verschiedenen Sporthallen und deren materieller Anordnungen haben, wurde die Praxeografie räumlich auf diese beschränkt, ohne dass hiermit unterstellt werden soll, dass sich das Feld nicht auch über diese physischen Grenzen hinaus ‚ausdehnen‘ kann, wenn sich Praktiken an anderen Orten – etwa der Küche der Trainer, wo diese oft über sie weiter diskutieren oder sie umzugestalten planen – fortsetzen. Die Beschränkung der Beobachtungen auf Praktiken in den Hallen erfolgte aus pragmatischen Gründen, zumal den Trainern und Sportlerinnen nicht überall und jederzeit über die Schultern geschaut werden konnte. Das außerhalb der Halle Stattfindende wurde jedoch insofern in der Beschreibung und Analyse des Feldes berücksichtigt, als es in der Trainingspraxis in der Halle aufgegriffen und auf diesem Wege beobachtbar wurde.

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aktiv teilnehmende Beobachtung und die eigene Teilnahme an den Praktiken schlichtweg unmöglich, so dass die teilnehmende Beobachtung nur als passive realisiert werden konnte. Dieser dem Zusammentreffen von Feld und Forscherin entspringende „Methodenzwang“ (Amann/Hirschauer 1997: 19) implizierte jedoch zugleich einige Beobachtungs- und Dokumentationsvorteile. Die Einnahme einer solchen Beobachterperspektive erlaubte es, das Tun der Akteure zu verfolgen, ohne dabei selbst in das „pragmatische Motiv“ (ebd.: 24) der interessierenden praktischen Vollzüge verstrickt zu werden. Sie ist gegenüber der Position der Teilnehmer insofern eine privilegierte, als sie es erlaubt, unter von den Dringlichkeiten der Praxis entlasteten Bedingungen das Wissen und Tun der Teilnehmer zu explizieren, Auffälligkeiten und z.B. auch Atmosphären zu notieren, sich selbst gemäß des normativen Postulats der Selbstreflexivität als Beobachter beobachten und auch diese Metabeobachtungen sofort dokumentieren zu können.93 Zugleich jedoch birgt und barg die Passivität der teilnehmenden Beobachtung insofern auch einen entscheidenden Nachteil gegenüber einer aktiven Teilnahme, als mit dieser Position weit stärker die Gefahr verbunden ist, der Logik des Feldes und der Trainingspraxis gewissermaßen ‚äußerlich‘ zu bleiben und diese zu verfehlen. Die anfänglichen meiner sich insgesamt über beinahe zwei Jahre erstreckenden Beobachtungen waren – teilweise angesichts der ethno- und praxeografischen Forderung nach einem nicht zu sehr voreingestellten Blick wissentlich und willentlich, teilweise aufgrund einer Unvertrautheit mit dem Feld unwillentlich – weitgehend unfokussiert und breit, so dass auch die frühen Beschreibungen all jenes umfassten, was mir das Feld in irgendeiner Weise als intelligibel und salient94 zu erkennen gab. Im Großen und Ganzen trat mir das Feld in den frühen Forschungsphasen als ein recht diffuses Gewirr aus Personen, Aus- und Ansagen und Körperbewegungen entgegen,95 welches Niederschlag in mitunter recht zu-

93 Trotzdem steht natürlich auch der passiv teilnehmende Beobachter nicht außerhalb jeglicher Praxis, sondern ist gefordert, gleichzeitig verschiedene Aufgaben – das Feld und sich selbst beobachten und die Beobachtungen notieren – zu bewältigen. 94 Salient ist etwas, das sich als auffällig aus einem diffusen Hintergrund herausschält und sich abhebt. 95 Im Training drängen sich auf einer zwölf mal zwölf Meter großen quadratischen Fläche aus Bodenmatten zwanzig Sportlerinnen, die sich permanent unterhalten, verschiedenartigste Bewegungen vollziehen, sich in Gruppen zusammenfinden, wieder auseinandergehen und sich umarrangieren, so dass ich gerade in den frühen Beobachtungs- und Forschungsphasen von der personellen Komplexität sowie der schwierigen raum-zeitlichen Überschaubarkeit der Abläufe anfangs schlichtweg überfordert war.

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sammenhanglosen und einzelepisodenhaften Feldnotizen und Einträgen ins Forschungstagebuch fand: Nach dem Aufbau von sechs Bodenmatten ordnen sich die Sportlerinnen in einem Sitzkreis an. Die Trainerin und Diana, deren Rolle sich mir noch nicht ganz erschließt – ist sie ‚nur‘ Akrobatin oder Ko-Trainerin? – sitzen nebeneinander; zu ihren jeweiligen Nachbarinnen ist der Abstand deutlich größer. Es geht um einen in der nächsten Woche anstehenden Wettkampf. Nach ca. fünf Minuten löst die Trainerin mit der Aufforderung zum Aufwärmen den Kreis auf. Sie sagt an, dass das Aufwärmen wie üblich in sechs Reihen stattfinden soll. Entsprechend ordnen sich die Sportlerinnen vor den Matten an. Beim Aufwärmen übernimmt Diana das Kommando, sagt die Übungen an und macht sie, den anderen einen Schritt vorausgehend, stets einmal vor. Nach etwa zehn Bahnen gemeinsamen Aufwärmens fordert die Trainerin die Sportlerinnen zum selbstständigen Aufwärmen auf und mahnt an: „Aber richtig, und nicht nur rumsitzen!“ Beim Aufwärmen finden sich die Sportlerinnen in altershomogenen Gruppen zusammen: Am mir gegenüberliegenden Mattenende bilden sieben Mädchen im Alter von acht bis ca. 13 Jahren einen Sitzkreis. Eine weitere Gruppe der ältesten Sportlerinnen unterhält sich und führt nur wenige Aufwärmübungen aus. Während der Aufwärmphase laufen die Kinder einer der ältesten Sportlerinnen auf der Matte herum. Drei Mädchen üben gemeinsam ein akrobatisches Element, bei dem zwei gegeneinander einen Handstand machen, wobei sie sich ihre Beine auf Knöchelhöhe berühren und eine dritte Sportlerin sich auf den Füßen einer der unteren abstützend in einen Schweizer Handstand drückt. Die Unteren haben offenbar Probleme, das Gleichgewicht zu halten. Ihnen gelingt der gemeinsame Handstand nicht und sie müssen die Übung abbrechen. Eine der Sportlerinnen diagnostiziert das Problem: „Du hast dich eingecremt, deine Beine sind ganz rutschig.“ Der Trainer stößt erst jetzt, mehr als eine halbe Stunde verspätet, zur Gruppe. Er begrüßt zunächst die Zuschauenden, die an Vorderseite der Matte auf Kästen sitzen. Danach betritt er die Matte, schaut verschiedenen Kleingruppen beim Üben zu und beginnt Anweisungen zu geben. Eine Gruppe fordert er dazu auf, beim Üben nicht zu nah am Mattenrand zu stehen, eine andere dazu, sich beim Üben besser zu konzentrieren. Die Bodenmatte ist heute umrahmt von herumstehenden Flaschen, Brotdosen und einer Haarspraydose. Alles wirkt heute auf mich ungeordneter und lockerer als noch letzte Woche. Der Trainer macht Späßchen mit den Sportlerinnen, kneift sie z.B. in die Füße. Während der Ausführung eines akrobatischen Elements durch drei Sportle-

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rinnen rufen die beiden unteren der oberen permanent Anweisungen zu, z.B. „hoch“ und „zieh“. Eine Sportlerin stößt mit einer einstündigen Verspätung zur Gruppe. Sie begrüßt die Trainer und Diana mit einem Handschlag und fügt sich dann sofort in eine übende Gruppe ein. In einer anderen Gruppe kommentiert eine Beteiligte „Amelie hat die Arme vergessen“ und das Element wird abgebrochen. (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 30.4.2010) Die Zusammenhänge der Einzelaktivitäten und Instruktionen sowie die wechselseitigen Bezugnahmen der Teilnehmer sowie ihres Tuns und ihrer Sprechakte aufeinander blieben mir zu Beginn meines Feldaufenthalts über weite Strecken unverständlich, so dass sich die frühen Beobachtungen, Notizen und Protokolle durch zahlreiche Sprünge und Lücken gekennzeichnet sehen und eine Identifikation von Praktiken über Raum, Zeit sowie einzelne Aktivitäten und Interaktionen hinweg kaum gestatten. Das Schreiben und das Beschreiben-Lernen erwiesen sich als Momente eines umfassenden und durchaus langwierigen Prozesses der reflexiven Erschließung des Feldes und seiner Logik. Das Beobachten und Verfassen von Feldnotizen und Beobachtungsprotokollen fielen mir dabei in einer der beiden Sporthallen, in denen die zwei wöchentlichen Trainingseinheiten abwechselnd stattfinden, ungleich schwerer als in der anderen. Bei der mir Probleme bereitenden Halle handelt es sich um einen großzügigen und weiträumigen Altbau, der mit hohen Decken und großen Fenstern sowie einem Holzboden ausgestattet ist. Für ihr Training steht den Akrobatinnen lediglich der hintere Bereich der Halle zur Verfügung, während der vordere für das Training männlicher Gerätturner reserviert bleibt. Aufgrund der simultanen und räumlich nicht immer klar getrennten Nutzung der Halle von verschiedenen Gruppen fiel mir die konsequente Konzentration auf Geschehenssequenzen und komplexe wechselseitige Bezugnahmen zwischen den Teilnehmern äußerst schwer; immer wieder wurde meine Aufmerksamkeit von den sportakrobatischen Aktivitäten auf die der Turner umgelenkt, wenn diese beispielsweise Turngeräte durch mein Blickfeld trugen oder in meiner unmittelbaren Nähe verschiedene Übungen auszuführen begannen. Die aufgrund der architektonischen und raumbaulichen Gestaltung der Halle ohnehin schon schlechte Akustik wurde durch die Vielzahl der Stimmen und Hintergrundgeräusche zusätzlich beeinträchtigt, so dass eine Verfolgung der zwischen den Akrobatinnen und den Trainern stattfindenden verbalen Austauschprozesse schwer möglich war. Die Site meiner Forschungspraxis, der Kontext aus architektonischen, räumlichen und materiellen Gegebenheiten sowie menschlichen Mitspielern, wirkte (negativ) auf

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meine frühen Beobachtungs- und Schreibversuche zurück. Darüber hinaus beschlich mich in der großen Halle immer wieder auch ein Gefühl des Störens und des Nicht-am-rechten-Ort- bzw. Im-Weg-Seins. Vor dem Hintergrund meiner Unsicherheit darüber, jemandem – noch dazu als Eindringling ins Feld, als welcher ich mich anfänglich selbst wahrnahm – im Weg zu sein und einer gleichzeitigen Frustration darüber, nicht wie erhofft und erwartet beobachten und notieren zu können, war ich schließlich stärker mit Selbstreflexionen über meine Position als Beobachterin denn mit Beobachtungen des sportakrobatischen Trainingsgeschehens beschäftigt.96 Als deutlich ergiebiger erwiesen sich die Beobachtungen und Feldnotizen, die in den frühen Stadien des Feldaufenthalts in der zweiten Halle, welche sich in baulicher und atmosphärischer Hinsicht stark von der ersten unterscheidet, entstanden sind. Diese ist ein Neubau, eine prototypische Sport(spiel)halle, die zwar noch größer als der Altbau ist, sich jedoch durch zwei schwere Vorhänge, die sowohl als Lärm- als auch als Sichtschutz fungieren, in gleichgroße und klar voneinander abgegrenzte Hallendrittel teilen lässt. In einem dieser trainiert die Gruppe am zweiten der beiden wöchentlichen Termine. Die klare Separierung der drei Hallenteile und der verschiedenen zeitgleich in der Halle stattfindenden sportlichen Trainingsprozesse erleichterte die Beobachtungen erheblich. Aufgrund der deutlich geringeren Anzahl der anwesenden Personen, Turnmaterialien und -geräten sowie der geringeren Größe der für das Training zur Verfügung stehenden Fläche fiel es mir leichter, eine Position in der Halle zu finden, auf der weder ich die Teilnehmer zu stören schien, noch diese meine Beobachtungs-, Notiz- und Schreibversuche oft unterbrachen. In einer Position am Hallenrand in relativ großem Abstand zu den Bodenmatten, auf denen sich ein Großteil der Praktiken abspielt, fand ich eine für mich komfortable Position, auf der ich das Gefühl hatte, für die Teilnehmer weitgehend unsichtbar zu sein, das gesamte Geschehen jedoch sowohl visuell als auch akustisch recht gut mitverfolgen zu können.97

96 Um dieses selbstbefangene Gefühl des Fremdseins und Störens etwas einzuhegen bzw. es als ‚normales‘ zu erkennen, war die Lektüre anderer ethnografischer Arbeiten bzw. Überblickswerke (z.B. Hammersley/Atkinson 1995) ausgesprochen hilfreich. Hier werden dieses und vergleichbare Gefühle als typisch für den Beginn eines Feldaufenthalts beschrieben. 97 Aus den dargelegten Gründen nahm ich im späteren Verlauf des Forschungsprozesses meist nur noch einmal wöchentlich am Training der Gruppe teil und konzentrierte mich dabei auf jene Einheiten, die in der zweiten Halle stattfanden.

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Vermutlich als eine Art Rückkopplungseffekt und eine Antwort auf meine eigene Unsicherheit verblieben die Teilnehmer mir gegenüber anfänglich in einer Haltung kritischer Distanz. Ab und an warfen mir einige aus sicherer Entfernung prüfende Blicke zu, ließen aber ansonsten wenig Interesse an meinem Tun und meiner Anwesenheit erkennen. Erst nach einer gewissen Aufenthaltsdauer im Feld, einer wiederholten Durchsicht meiner Feldnotizen sowie der Versuche, diese in Beobachtungsprotokolle auszuformulieren, schälten sich aus dem anfänglichen Gewirr beschriebener Eindrücke allmählich wiederkehrende Verlaufs-, Aktivitäten- und Sprachmuster heraus. Die Transkription der Beobachtungen in einen zusammenhängenden Text erwies sich gleichwohl als alles andere als problemlos. Die größte Herausforderung bestand für mich darin, Sinnzusammenhänge zwischen singulären Ereignissen und Auffälligkeiten zu (re-) konstruieren. Zumal die Gruppe über ein Hochmaß an gemeinsamen Trainingserfahrungen verfügt, müssen die Teilnehmer nicht ausführlich darüber diskutieren, was sie tun. Vielmehr genügen ihnen über weite Strecken kurze Gesten oder sprachliche Andeutungen, um sich zu verstehen und sich einander verständlich zu machen. Diese ökonomische Organisation der Trainingspraxis und selbstverständliche wechselseitige Orchestrierung der Teilnehmer bedingte, dass ich aufgrund meiner eigenen Feldfremdheit98 viele (Inter-)Aktionszusammenhänge und wechselseitige Bezugnahmen der Sportlerinnen und Trainer aufeinander nicht zu begreifen und mitzuvollziehen, geschweige denn in angemessener Weise in sprachliche Beschreibungen zu überführen in der Lage war.99 Die

98 Vor Beginn meines Feldaufenthalts kannte ich weder die Gruppe noch war ich mit der Sportakrobatik vertraut. Zumal ich jedoch selbst im Kinder- und Jugendalter – wenngleich nur auf breitensportlichem Niveau – mehrere Jahre lang als Turnerin im Sportverein aktiv war und viele der sportakrobatischen Praktiken turnerische Bewegungselemente umfassen, konnte ich aufgrund dieser Vorerfahrungen zumindest einige der im Feld zu beobachtenden Instruktionen und Korrekturen sowie der den sportakrobatischen Praktiken inhärenten körperlichen und psychisch-affektiven Anforderungen verstehen und nachvollziehen. 99 Hirschauer (2001) charakterisiert das Soziale als stimmlos, sprachlos und unaussprechlich sowie als angesichts seiner Flüchtigkeit unbeschreiblich und als aufgrund seiner Alltäglichkeit selbstverständlich. Die entscheidende Herausforderung ethnografischen Schreiben besteht aus seiner Sicht deswegen darin, das fundamental Schweigsame zu verbalisieren und eine Sprache für etwas zu finden, „das vorher nicht Sprache war“ (ebd.: 429). Als so schweigsam, wie Hirschauer das Soziale beschreibt, erweist sich die Organisation der Trainingspraxis jedoch nicht. Die Teilnehmer sprechen sogar recht viel miteinander. Als größere Herausforderung erwies sich der Umstand,

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Bedeutung vieler der von mir beobachteten doings und sayings, die laut Schatzki (2002: 135) „accessible in principle to anyone“ ist, erschloss sich mir häufig schlichtweg nicht; aufgrund eines mangelnden Verständnisses und Vorwissens waren für mich als distanzierte Beobachterin die sportakrobatischen Praktiken bzw. die diese konstituierenden Handlungen über weite Strecken nicht intelligibel und accountable. Im Zuge der Durchsichts- und Schreibprozesse wurde mir klar, dass ich auf weitere Methoden der Beobachtbarmachung zurückgreifen musste, um Zugang zum Praxiswissen der Teilnehmer bzw. der Organisations- und Vollzugslogik der sportakrobatischen Praktiken sowie der sich in ihrem Rahmen ereignenden Akte der Subjektivierung von Mitspielfähigkeit zu erhalten. In der Folge gab ich meine Randposition und weitgehende Unsichtbarkeit im Feld zumindest streckenweise auf und suchte das Gespräch mit Teilnehmern, um zusätzliche Informationen über die von mir beobachteten Geschehnisse zu erhalten. Als hilfreich erwiesen sich dabei nicht nur die gerade aktiven Akrobatinnen und die Trainer selbst, sondern insbesondere auch die in der Halle anwesenden Zuschauenden (etwa häufig anwesende und in besonderem Maße in die Logik des Feldes und des Trainingsgeschehens eingeweiht erscheinende Mütter oder verletzte Sportlerinnen), zumal ich diese im unmittelbaren Anschluss an ein mir unverständlich bleibendes Ereignis um dessen Kommentierung und Aufklärung bitten konnte. Die im Zuge der Gespräche gewonnen Informationen stellten sich als überaus wichtig für die Identifikation von Zusammenhängen zwischen diskreten Instruktionen, Benennungen und Geschehnissen heraus, so dass ich durch die Kombination aus kontinuierlicher Beobachtung und Gesprächen ein immer besseres Verständnis davon entwickeln konnte, „What the hell is going on here?“ (Geertz 1987). Trotz dieses zunehmenden Vertrautwerdens mit dem Feld blieben meine Notizen und Protokolle jedoch in Hinblick auf meine zentralen Erkenntnisinteressen recht unergiebig. Nach einigen Wochen des Feldaufenthaltes schien es mir bei der abermaligen Durchsicht des bis dahin produzierten Datenmaterials nicht

dass die sprachlichen Äußerungen der Teilnehmer hochgradig voraussetzungsvoll sowie kontextbezogen, äußerst unvollständig, lückenhaft und spezialisiert sind. In der Sprachphilosophie werden solche sprachlichen Äußerungen als „empraktisch“ (Bühler 1999: 155), in der Ethnomethodologie als „indexikalisch“ (Garfinkel 1967: 4) bezeichnet. Empraktische oder indexikalische Äußerungen erhalten ihre Bedeutung erst vor dem Hintergrund ihres Verwendungskontextes bzw. im Rahmen der Praktik, innerhalb derer sie gebraucht werden; ihr Verstehen setzt ein Verstehen der Bedeutung ihres praktischen Verwendungszusammenhangs voraus.

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recht gelungen zu sein, sinnvolle, d.h. für die Bearbeitung meines Forschungsvorhabens geeignete und instruktive, Beobachtungs-, Beschreibungs- und Analyseeinheiten auszuwählen und diese gegen das Gesamtgeschehen in der Halle abzugrenzen. Ich traf aus diesem Grund die Entscheidung, meine gleichsam ‚totale‘ Beobachterposition am Rand, von der aus ich die gesamte Halle im Blick hatte, aufzugeben und näher an die Akteure heranzurücken. Diese räumliche Umpositionierung bedingte zwar, dass meiner Aufmerksamkeit – in quantitativer Hinsicht – viel der Trainingspraxis entging. Allerdings stellte sie auch die Bedingung dafür dar, den Akteuren dabei über die Schultern schauen zu können, wie sie in ihren praktischen Interaktionen mikrologisch mit den Anforderungen sportakrobatischer Praktiken umgingen und ermöglichte es, dass andere Aspekte, wie z.B. körperliche, gestische und auch sprachliche Details der Organisation praktischer Vollzüge in meinen Blick gerieten und überhaupt erst beobachtbar wurden.100 3.2.3 Der Rückzug aus dem Feld Nach wiederum einigen Wochen der Beobachtung aus anderer und näherer Position kumulierte meine in dieser Zeit entwickelte und anfangs äußerst produktive Vertrautheit mit dem Feld in einer Phase der Sättigung, die sich etwa in immer kürzer werdenden Notizen und Protokollen widerspiegelte. Im Prozess meines Einlebens in das Feld wurde mir dieses immer fragloser und immer weniger gegenständig. Nicht mehr (primär) aufgrund von Verständnisproblemen, sondern angesichts einer sich mehr und mehr Bahn brechenden Haltung der Selbstverständlichkeit bekam ich Schwierigkeiten, neue und bisher unentdeckte Aspekte des Feldes zu beobachten, zur Sprache zu bringen und diesem gegenüber eine distanzierende und objektivierende Haltung einzunehmen. Wieder möglich wurde mir dies erst im Anschluss an eine längere Phase des Rückzugs aus dem Feld, die ich dafür nutzte, das erhobene Material bzw. die bis zu diesem Zeitpunkt erstellten Beobachtungsprotokolle qua Begriffsbildung101 und Codierung einer vorläufigen Auswertung zu unterziehen. Die systematische Auswertung des schriftlichen Datenmaterials erfolgte in Anlehnung an das Codierparadigma der Grounded Theory (vgl. z.B. Strauss 1998; vgl. auch Hammersley/Atkinson 1995). Die Feldnotizen und Beobach-

100 Vgl. zur Bedeutung der Veränderung der Beobachterposition für die Herstellung von Beobachtbarkeit Scheffer (2002). 101 Vgl. für die Bedeutung von Begriffsbildung als Methode der Beobachtbarmachung wiederum Scheffer (ebd.).

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tungsprotokolle wurden nach wiederkehrenden Mustern, Regelmäßigkeiten und Auffälligkeiten durchgesehen und diese auf Begriffe zu bringen bzw. unter Codes zu subsumieren versucht. Die Findung der Codes erfolgte dabei nicht in Gestalt eines von Glaser instituierten „naiven Induktivismus“ (Strübing 2008: 280) und völlig theoriefrei, sondern in Anlehnung an die strausssche Variante der Grounded Theory in einer Haltung „theoretischer Sensibilität“ (Glaser/ Strauss 1998: 54), die es ermöglichte, den Eigensinnigkeiten des Feldes und dem „Erfindungsreichtum der Praxis“ (Hirschauer 2008a: 165) im Rahmen des theoretischen Erkenntnisinteresses Rechnung zu tragen.102 Zur Benennung und Systematisierung mancher Auffälligkeiten und beobachteter Phänomene schienen dabei eher solche – deduktiven – Codes geeignet, die in der primären Bezugsliteratur der Arbeit vorfindbar sind (etwa bestimmte praxeologische Konzepte), während andere Auffälligkeiten besser in bezugstheoriefernen – induktiv gewonnenen – Codes zu fassen sein schienen. Anhand zweier Beispiele soll in aller Kürze veranschaulicht werden, wie – immer ausgehend von einer empirischen Entdeckung und Auffälligkeit – verschiedene, bezugstheorienahe (Beispiel 1) und -fernere (Beispiel 2) Codes gefunden wurden, die für diese Arbeit Schlüsselkategorien bilden. Beispiel 1 – Umgangskörper: Viele Beobachtungsprotokolle sind durchdrungen von Verweisen auf eine durch eine auffällige Gespanntheit und markante Festigkeit charakterisierte Körperprägung und -formung der Akrobatinnen. Versuchsweise wurden diese unter dem Code Umgangskörper gebündelt, einem Konzept, das unter Bezugnahme auf die philosophischen Arbeiten Wittgensteins von Gebauer (2009: 95) entwickelt und inzwischen von einzelnen praxeologisch ausgerichteten Arbeiten (z.B. Alkemeyer 2011) für die theoretische Modellierung von Subjektivierungs- und Formierungsprozessen im Rahmen sozialer und sportlicher Praktiken fruchtbar gemacht wird. Passend erschien das Konzept als Code insbesondere deshalb, weil dieses nicht auf einen universalen, natürlichen Körper abhebt, sondern einen in spezifischer Weise geformten und auf die Anforderungen eines Sprachspiels (Wittgenstein) oder bestimmter Praktiken eingestellten Körper meint.

102 Vgl. zum Status von Theorien und theoretischem Vorwissen in der Grounded Theory und zum „Streit“ zwischen Glaser und Strauss um diesen auch Strübing (2008). Ich folge hier der straussschen Auslegung, die für eine explizite Einbeziehung theoretischen Vorwissens in die Codegenerierung und Datenauswertung plädiert.

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Beispiel 2 – Vertrauen: In zahlreichen Protokollen finden sich Beschreibungen eines affektiven, vertrauten und äußerst körperbetonten Umgangs der Sportlerinnen miteinander. Ebenso häufig sind Verweise auf eine offenkundige, beinahe ‚unnormale‘ Angstfreiheit der Sportlerinnen angesichts hoch riskanter und schwieriger akrobatischer Figuren, während deren Vollzügen insbesondere die jüngsten Akrobatinnen, die in diesen Positionen in waghalsiger Höhe einnehmen oder in dieser komplexe Rotationsbewegungen ausführen, ihr Schicksal und ihre Unversehrtheit wortwörtlich in die Hände ihrer Mitspielerinnen legen müssen. Zumal die Vielzahl ähnlicher Beschreibungen und Beobachtungen darauf hindeutete, dass die Einhegung von Angst sowie die Stiftung von Vertrauen eine konstitutive Bedeutung für die Trainingspraxis besitzen, wurde Vertrauen zu einem wichtigen, induktiv gewonnenen Code. Das Aufmerksamwerden auf die Angstresistenz und Vertrauensinvestitionen der Sportlerinnen resultierte dabei nicht aus einem nüchternen und objektivierenden Blicks auf das Trainingsgeschehen, sondern in erster Linie aus einem körperlich-spürenden Ergriffenwerden durch das Beobachtete, aus einem angstvollen Zusammenfahren und kurzzeitigen Augenschließen bei der Bezeugung von Situationen, welche in den von der augenscheinlichen Gefahr betroffenen Sportlerinnen selbst zumeist keinerlei Unsicherheit auszulösen schienen. Insofern steht der Code Vertrauen beispielhaft auch für die von Amann/Hirschauer (1997: 25) angesprochene Bedeutung der „seismographischen Qualitäten“ der Forscherin und verweist auf die Relevanz der Mitwirkung des sozialisierten Körpers im Forschungsprozess. Auf die Spur, der Bedeutung von Vertrauen für die sportakrobatische Praxis nachzugehen, kam ich auch aufgrund meiner turnerischen Vorerfahren und meiner eigenen Sportund Bewegungsbiografie. Im selben Zug wie mich mein – sportsozialisierter – Körper als eine Art Erkenntnismedium oder -register mit seinen unwillkürlichen Regungen auf die Risikoträchtigkeit der akrobatischen Vollzüge hinwies, aktualisierten sich auch meine Erinnerung und mein eigenes Wissen darüber, welches Maß an Selbst- und Angstüberwindung sowie Vertrauen es mich selbst stets kostete, etwa eine schwierige turnerische Rotationsbewegungen auszuführen und mich im Falle ihres Misslingens auf das Eingreifen anderer Sportler zu verlassen.103 Erst vor dem Hintergrund meiner körperlich-spürenden Reaktionen, mei-

103 Vgl. zur Relevanz eines spürenden Verstehens und Erkennens auch Gugutzer (2006b). Mit Schmitz verortet Gugutzer diese Fähigkeit im Leib und versteht diesen als genuines Subjekt des Erkennens, dessen Fähigkeiten etwa durch ein bewusstes Nachdenken oder rationales Verstehen sabotiert werden könnten (vgl. auch Kapitel 1.2.5). Im Gegensatz zu dieser Auffassung wird Erkennen im Forschungsprozess hier als ein multimodales Geschehen verstanden, in dem verschiedene Aufmerksamkeits- und Verste-

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ner eigenen Erfahrungen mit Bewegungen, die den beobachteten verwandt waren, und dem Feststellen der gleichsam ‚unnormal‘ nüchternen und unberührten Reaktionen der Sportlerinnen fielen mit letztere als besonders ins Auge und begannen es mir wert zu erscheinen, genauer beleuchtet, aufgeschlüsselt und hinterfragt zu werden. Bei der Durchsicht und Codierung der Protokolle wurde jedoch auch deutlich, dass die bis zu diesem Zeitpunkt angefertigten Beschreibungen ein recht unergiebiges und undifferenziertes Fundament für die Bearbeitung der theoretisch entwickelten Leitfragen und die Aufschlüsselung etwa des mikrologischen Wie der Konstitution von Umgangskörpern und der Produktion, Bestätigung und Wiederherstellung von Vertrauen bildeten. Aufgrund der Komplexität der Trainingsgeschehnisse entgingen zahlreiche ihrer Details nach wie vor meiner Aufmerksamkeit, so dass die Protokolle es zwar erlaubten, diese ihren groben Abläufen nach, nicht jedoch in ihren Details zu (re-)konstruieren. Um dichte Beschreibungen und „mikroskopische[] Feinanalyse[n]“ (Amann/Hirschauer 1997: 13) der sportakrobatischen Praktiken und Akte der Formierung kompetenter Mitspieler anfertigen zu können, mussten deswegen weitere Techniken der Beobachtbarmachung eingesetzt werden. Angesichts der Komplexität sozialer Wirklichkeit und der grundlegenden „Flüchtigkeit des Sozialen“ (Bergmann 1985), die implizieren, dass einer einzelnen Forscherin unter den Bedingungen der Kopräsenz wegen der begrenzten Dokumentationskapazitäten „personale[r] Aufzeichnungsapparate“ (Amann/Hirschauer 1997: 25; kursiv i.O.) ein Großteil dieser zwangsläufig entgehen muss, entschied ich, mit der Rückkehr eine Kamera ins Feld zu führen und das Training auf Video zu konservieren,104 um mir wichtig erscheinende Sequenzen und Geschehnisse mehrmalig oder auch fokussiert auf Feinheiten hin ansehen, beschreiben und interpretieren zu können.

hensregister etwa körperlicher – bzw. in Gugutzers Verständnis: leiblicher – und affektiver, aber auch rationaler und diskursiver Art zusammenlaufen. 104 Bergmann bezeichnet audiovisuelle Aufzeichnungen als einen „registrierenden Konservierungsmodus“, der „ein soziales Geschehen ohne Rücksicht auf Plausibilität und Verhaltenserwartungen in seiner rohen Erscheinung bewahrt“ (Bergmann 2005: 644). Eine solche Objektivitätsunterstellung verschleiert und abstrahiert von dem Umstand, dass es sich auch beim Filmen von Videos nicht um ein ‚reines Abbilden‘ oder Erhalten der „primären Sinnstruktur“ der Wirklichkeit (Bergmann 1985) handelt, sondern auch um einen Konstruktionsprozess, mit dem das Gezeigte unter bestimmten – subjektiven – Blickwinkeln perspektiviert, festgehalten und erkundet wird (vgl. Hirschauer 2001; Mohn 2010).

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3.2.4 Die Einführung der Videokamera Da die Teilnehmer Auftritte vor großem Publikum und vor Videokameras gewohnt sind, traf die Revision meines Vorhabens in methodischer Hinsicht kaum auf Widerstände und konnte die Kamera samt Richtmikrofon105 ohne auffällige Probleme ins Feld integriert werden. Anfänglich wurde das Artefakt von einigen der Teilnehmer mit recht großer Aufmerksamkeit bedacht, indem es von ihnen beispielsweise dazu genutzt wurde, sich und ihr Können vor ihm in Szene zu setzen oder von den Trainern als eine Art Kontrollinstanz instrumentalisiert wurde, das die Sportlerinnen zu Bestleistungen anspornen sollte. Die reflexiven Bezugnahmen auf die Kamera wurden jedoch schnell weniger und insbesondere das Filmen in totaler Einstellung aus einer zuschauertypischen Position am Hallenrand, welches es den Teilnehmern verunmöglichte zu entscheiden, wer oder was gerade im Fokus der Aufnahme stand, schien schnell den Status des Normalen und Unthematischen zu erreichen. Zumal der Kameraeinsatz abermals mein Gefühl aktualisierte, Grenzen gegenüber den Teilnehmern zu überschreiten, begnügte ich mich damit, das Trainingsgeschehen über einige Einheiten hinweg aus wieder deutlich vergrößerter Entfernung vom Hallenrand aus zu dokumentieren. Aus dieser ‚totalen‘ Aufzeichnungsperspektive sind Regelmäßigkeiten und die Strukturiertheit von Trainingsprozessen in meinen Blick geraten – und damit Praktiken als jene geregelten Vollzugsformen, als welche sie in praxeologischer Perspektive gern begriffen werden (vgl. Kapitel 2.2.2). Allerdings wurde mir schnell auch klar, dass auf der Grundlage dieser Aufzeichnungen wenig über die Mikrologik des Tuns der Teilnehmer herauszufinden ist. Erst allmählich konnte ich mich jedoch zu Nahaufnahmen, einer Aufgabe der sicherheitsstiftenden Distanz und einem abermaligen Heranrücken an die Teilnehmer überzeugen. Als Orientierungshilfen für die (Neu-)Einstellung und Umrichtung des Kamerafokus dienten einerseits die zuvor erarbeiteten Codes sowie andererseits die Erkenntnis, den Akteuren gewissermaßen ‚über die Schultern‘ schauen sowie ihr Tun in Großaufnahmen festhalten zu müssen, um Aufschluss über die Mikrologik ihres Tuns zu erhalten. Die Aufnahmen aus größerer Nahe und mit klar identifizierbarem Fokus provozierten wiederum auch bei den Teilnehmern Reaktionen. Während sich viele der Sportlerinnen und auch die Trainer – zumindest äußerlich – unbeeindruckt davon zeigten und viele so von der Trainingspraxis absorbiert

105 Sein Einsatz lag darin begründet, dass entgegen typischer ethno- oder praxeografischer Behauptungen, das Soziale sei still, stumm oder schweigsam, im Training auffällig viel geredet wurde und es schien, als käme Sprache eine wichtige Bedeutung in der Trainingspraxis zu.

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schienen, dass sie ihr Gefilmt-Werden nicht einmal bemerkten, gab es immer wieder Momente, in denen Teilnehmer erkennbar durch die Kamera verunsichert wurden, indem sie, etwa wenn sie die Einstellung auf sie selbst bemerkten, zu tuscheln begannen oder sich dieser sogar zu entziehen versuchten. Für andere wiederum schien ihre Aufnahme einer Auszeichnung ihres Könnens gleichzukommen; manche, so machte es den Eindruck, suchten geradezu die Aufmerksamkeit der Kamera, um sich vor dieser zu inszenieren.106 Neben der Kameraarbeit schrieb ich zudem Notizen ins Feldtagebuch, mit denen ich den Kontext meiner zwangsläufig sehr selektiven audiovisuellen Aufzeichnungen sowie Atmosphären, Stimmungen, subjektive Befindlichkeiten – also Eindrücke, die an die Bedingungen der Kopräsenz gekoppelt sind und von einem Video nicht einzufangen vermocht werden – und Inhalte informeller Gespräche festzuhalten versuchte, um die Videoaufnahmen durch diese zusätzlichen Informationen rahmen zu können. Während der Transkriptionen meines Videomaterials und der Auswertung meiner Feldnotizen, die ich parallel zur Datenerhebung vorgenommen habe, wurde ich darauf aufmerksam, dass für die Bearbeitung meiner forschungsleitenden Fragestellungen weniger solche Situationen und Sequenzen aufschlussreich waren, in denen das gemeinsame Agieren der Sportlerinnen im Rahmen einer sportakrobatischen Praktik scheinbar müheund reibungslos gelang. In solchen Fällen blieben die mich interessierenden Organisations- und Vollzugsprinzipien, Wissensgrundlagen, Mitspielanforderungen und Subjektivierungsweisen nämlich den wie selbstverständlich gelingenden Vollzügen implizit und zumindest mir als nicht selbst aktiv teilnehmender und nach wie vor noch nicht vollständig kundiger Beobachterin weitgehend verborgen. Als weitaus informativer erwiesen sich solche – für das Training geradezu prototypischen und exemplarischen – Situationen und Sequenzen, in denen die Teilnehmer offenkundige Anstrengungen unternehmen mussten, um eine Praktik zu vollziehen, etwa weil (noch) nicht alle mit den entsprechenden Mitspielanfor-

106 Zum Zweck der Produktion von sowohl in auditiver als auch in visueller Hinsicht hochqualitativer, unverstellter und für die Bearbeitung der forschungsleitenden Fragestellungen gut nutzbarer Videoaufnahmen, wurden solche Interferenzen, mit denen Kamera und Ethnografin über verschiedene reflexive Bezugnahmen zu aktiven Partizipanden der zu untersuchenden Praktiken gemacht wurden, in Kauf genommen. Die für die in den folgenden Kapiteln ausbuchstabierten Fallanalysen verwerteten Aufnahmen wurden jedoch auch nach dem Kriterium ausgewählt, dass in diesen die Interferenzeffekte auf ein Minimum reduziert waren und unterstellt werden konnte, dass die Teilnehmer in diesen in weitgehender Vergessenheit der Kamera und nicht für diese agierten.

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derungen vertraut waren, oder im Vollzug Probleme virulent wurden, die gemeinsam diagnostiziert und bearbeitet werden mussten.107 In solchen Fällen werden die Urteils- und Reflexionsfähigkeiten der Teilnehmer auf den Plan gerufen und kommen – auch für den Beobachter identifizierbare – Verfahren des Korrigierens, Instruierens, Zeigens oder Erklärens zum Einsatz, mit denen die Teilnehmer die sich ihnen stellenden praktischen Anforderungen thematisch bzw. explizit108 und damit schließlich auch für den Forscher beobachtbar machen. Sie bieten gegenüber dem reibungslosen Gelingen den großen methodischen Vorteil, dass an ihnen sowohl die Frage nach den Vollzugsprinzipien und Mitspielkriterien und Wissensfundamenten von Praktiken als auch nach Merkmalen von Mitspielfähigkeit sowie dem konkreten Wie ihrer Subjektivierung besonders gut bearbeitbar werden. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht entschied ich, meine Aufmerksamkeit, Beobachtungen und Aufnahmen auf einzelne Gruppen von Akrobatinnen und deren Versuche zu richten, im Horizont einer Praktik als Team zusammenspielfähig zu werden oder eine solche auch angesichts von Problemen oder Störungen109 gemeinsam zu bewältigen, um diese practical accomplishments – auch auf die Gefahr, anderes zu versäumen – möglichst nah, detailgenau und konsequent mitzuverfolgen. Für ausgewählte Trainingsepisoden und Fälle110 habe ich schließlich die entsprechenden Videosequenzen aus der Gesamtaufnahme ausund zusammengeschnitten, bevor ich die auf diese Weise entstandenen Videos im nächsten Schritt einem Medienwechsel unterzogen und sie in Beschreibungen und schriftliche Analysen überführt habe. Sowohl der Zusammenschnitt der Videos als auch die Fallbeschreibungen und -analysen selbst erfolgten unter Anlegung einer „transsequentiellen Analytik“ (Scheffer 2008; 2013; Schneider 2008b): Sie verketten einzelne Geschehenssequenzen (einzelne Trainingsereig-

107 Auch ethnomethodologische Krisenexperimente machen sich dieses analytische Potenzial (experimentell herbeigeführter) Störungen empirisch zu Nutze, um Aufschluss über alltägliche Interaktionsordnungen zu erhalten (vgl. z.B. Coulon 1995). 108 Explizit gemacht werden Anforderungen und Erwartungen dabei gewissermaßen ‚multimodal‘, d.h. im Rückgriff sowohl auf sprachliche Äußerungen als auch auf erklärende Gesten und Körperbewegungen. 109 Als ‚Störungen‘, ‚Krisen‘ oder ‚Probleme‘ werden praktische Geschehnisse nicht auf der Folie eines externen normativen (Gelingens-)Maßstabs beschrieben und analysiert, sondern immer nur dann, wenn die Teilnehmer selbst sie in der Situation oder in späteren Bezugnahmen und Auseinandersetzungen auf diese Weise beobachten, rahmen und thematisieren. 110 Vgl. für eine umfassende Darlegung der Kriterien für deren Auswahl Kapitel 4.3.2.1.

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nisse, Interaktionen und Handlungen) transsequenziell zu einem Prozessgeschehen, um auf diese Weise in den Blick zu bringen, in welchen aufeinander aufbauenden Abfolgen oder „Qualifizierungsstufen“ (Scheffer 2013: 95) etwa eine Novizin auf die Anforderungen einer Praktik eingestellt wird, sich um sie herum ein zusammenspielfähiges Team konstituiert oder die Teilnehmer den Vollzug einer Praktik auch trotz situativ auftretender Störungen, Probleme oder Unsicherheiten bewältigen, sich also sportakrobatische Praktiken und die Mitspielfähigkeiten ihrer Teilnehmer Schritt für Schritt ausformen.111 Transsequenzielle Analysen sind im Dazwischen von Prozess- und Sequenzanalysen situiert und versuchen, zwei Zeitlichkeiten des Sozialen, seiner lokalen Situativität und kontingenten Ereignishaftigkeit auf der einen sowie seinem auf ein bestimmtes Ziel oder Ergebnis hinauslaufenden und sich immer erst rückblickend entfaltenden Prozesscharakter auf der anderen Seite, gerecht zu werden. Die transsequenziell organisierten Fallanalysen zielen darauf – eben dies macht ihre methodische Passung zum theoretischen Zugang aus –, sowohl die „produktive Verkettung“ von Aktivitäten im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel oder einen spezifischen Ausgang (hier: die (normative) Form einer bestimmten sportakrobatischen Figur) als auch dem „Eigensinn der jeweils beobachteten Situation[en]“ (ebd.: 89) und dem Umstand Rechnung zu tragen, dass jeder Teilnehmer einer Praktik seine Aktivitäten stets in die Zukunft und damit ins Ungewisse entwirft (vgl. auch Kapitel 2.2.2). 3.2.5 Videogestützte Interviews als ergänzende Methode der Beobachtbarmachung Zumal Videoaufzeichnungen sowie deren Bearbeitung, Beschreibung und Analyse stets selektive und subjektive (Re-)Konstruktionen des sozialen Geschehens aus einer spezifischen und partikularen Beobachtungs- und Interpretationsperspektive sind, wurden ausgewählte Videosequenzen zu den Zwecken der Erhebung anderer Perspektiven sowie des Schließens von Beobachtungs- und Verständnislücken zurück ins Feld geführt und als Stimuli für qualitativ-narrative Interviews mit den jeweiligen Protagonisten zum Einsatz gebracht. Diese methodische Ergänzung der Beobachtungen mit und ohne Kamera durch die sprachliche Aufrufung des Insiderwissens der Teilnehmer zielte nun weder auf

111 Diese Verkettung ausgewählter Videosequenzen ist abermals eine Konstruktionsleistung der Forscherin. Auch für diese gilt, dass sie sich an den Beobachtungen erster Ordnung, den Relevanzsetzungen, Anschlüssen und wechselseitigen Bezugnahmen der Teilnehmer selbst zu orientieren hat und diesen folgen muss.

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die Erfragung und den hermeneutischen Nachvollzug von der Beobachtung vermeintlich unzugänglichen Motiven, Absichten und Sinnzuschreibungen einzelner Beteiligter, noch auf die kommunikative Validierung eigener Deutungen an den Auslegungen an denen der Teilnehmer im Sinne einer Bewertung.112 Statt die Aussagen der Teilnehmer durch die Vorgabe von Deutungsangeboten und die Forcierung von deren Betätigung oder Negierung sowie die Stellung introspektiver Warum- und Wozu-Fragen von vornherein einzuhegen und zu lenken, wurden sie zu offenen Kommentierungen des Wie ihres eigenen beobachtbaren Tuns angehalten und, dem Vorschlag Annemarie Mols (2002: 15) folgend, zu Beobachtern ihrer selbst bzw. ihres eigenen Tuns gemacht, um ihnen Raum für das Aufwerfen zuvor nicht bedachter Aspekte zu lassen und das empirische Phänomen aus anderen als dem subjektiven Blickwinkel der Forscherin beobachtbar zu machen.113 Viele praxeologische Ansätze beziehen gegenüber sprachlichen Beschreibungen praktischer Vollzüge – beispielsweise im Rahmen von Interviews – eine reservierte und skeptische, mitunter ablehnende Haltung. Aufgrund der Annahme einer konstitutiven Nicht-Identität der Logik der Theorie und der Logik der Praxis (vgl. Bourdieu 1987a: 157) bzw. einem Sprechen über Praxis und ihrem eigentlichen Vollzug, wird verbreitet zu befürchten gegeben, dass es sich bei ersterem allenfalls um spekulative post hoc-Rationalisierungen handelt, mit denen nachträglich sekundäre Sinnstrukturen konstruiert werden, welche von den primären der Praxis divergieren und zusätzlich durch die von Interviewsituationen provozierten Reaktivitätseffekte – ein Beispiel wäre etwa die Produktion von Aussagen angesichts bestimmter Vorstellungen der Befragten über die Erwartungen des Fragenden – verzerrt sind (vgl. Hammersley/Atkinson 1995: 124ff.). Zwar lässt sich dieses Problem der Nicht-Identität nicht vollständig auflösen. Jedoch spricht dies nicht pauschal gegen die Durchführung von Interviews im Rahmen eines praxeografischen Forschungsvorhabens. Nicht zuletzt betrifft die „Behandlung“ (Reckwitz 2008a: 196) dieses Problems nicht nur sprachliche Aussagen der Teilnehmer, sondern die Arbeit eines jeden Praxeografen, der auf eine Beschreibung und Analyse der Vollzugslogiken von Praktiken abhebt und

112 Vgl. zum ergänzenden Status von Interviews für die praxeo-, ethno- oder videografische Beobachtbarmachung auch Knoblauch (2006) sowie Scheffer (2002). 113 Der triangulierende Einsatz verschiedener Methoden zielt damit nicht auf die „kumulative Validierung von Forschungsergebnissen“ (Kelle/Erzberger 2012: 304), sondern auf eine Perspektivenergänzung bzw. darauf, „unterschiedliche Aspekte desselben Phänomens oder sogar unterschiedliche Phänomene [zu] erfass[en]“ (ebd.: 303; kursiv i.O.; vgl. auch Flick 2012).

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zur Bewältigung dieser Aufgabe eine Sprache für etwas finden muss, das selbst nicht bzw. in großen Teilen nicht selbst Sprache ist. Für die Integration der im Rahmen der Interviews gewonnenen Informationen und erhobenen Deutungen galt es, diesen nicht blind zu vertrauen, sondern sie an den eigenen Beobachtungen und Interpretationen abzutragen und jene insofern einem „Lackmustest“ (ebd.: 197) zu unterziehen. Die Aussagen wurden unter der Voraussetzung in die Analysen einbezogen, dass sie zum „materialen, beobachtbaren Anteil der Praktiken“ (ebd.) passten und die Konvergenz und Multiplizität der unterschiedlichen Perspektiven den empirischen Gegenstand auf plausible und intelligible Weise zu sehen zu geben versprachen. Die eigenen Beschreibungen und Analysen wurden jedoch nicht nur im Rahmen von Interviews mit den Teilnehmerperspektiven konfrontiert, sondern überdies im Rahmen verschiedener Workshops, Seminare und Diskussionen mit Fachkollegen114 zu Debatte gestellt und im Hinblick auf ihre Plausibilität und Verständlichkeit besprochen. Die Erhebung anderer wissenschaftlicher Perspektiven diente dabei als entscheidendes Instrument, um der immer wieder artikulierten Forderung nach einer Reflexivität im Forschungsprozesses nachzukommen und zu den eigenen Wahrnehmungen, Auslegungen, Relevanzsetzungen und Parteilichkeiten auf Distanz gehen und diese kritisch hinterfragen zu können. 3.2.6 Die Subjektivierung von Praxeografierfähigkeit In den vorangehenden Abschnitten finden sich an verschiedenen Stellen Verweise auf unterschiedliche Aspekte meiner eigenen Entwicklung als Forscherin im Verlauf des theoretisch-empirischen Forschungsprozesses. An dieser Stelle soll nun das zuvor Angedeutete noch einmal aufgegriffen und – analog zum Interesse der Arbeit für Prozesse der Subjektivierung sportakrobatischer Mitspielfähigkeit – unter dem Gesichtspunkt einer Subjektivierung von Ethno-und Praxeografierfähigkeit ergänzt und systematisiert werden. Der Einstieg in den Forschungsprozess geschah ‚am Schreibtisch‘ und in Gestalt eines Erwerbs von Kenntnissen über Theorie und Methodologie. So wurden auf der Grundlage verschiedener Erklärungsansätze zu den Dimensionen kompetenter Handlungs- bzw. Mitspielfähigkeit im Sport und der Lektüre methodolo-

114 Beispielhaft seien hier drei Intensivkolloquien des DFG-Graduiertenkollegs 1608 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“, ein im Rahmen der Tagung „Visions of the Body“ (4./5.11.2011) in Bern gehaltener Workshop sowie ein Workshop zum Thema „Vertrauen“ am IfS München (9./10.7.2012) genannt.

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gischer Fachliteratur Forschungsdesiderata identifiziert und entsprechende Forschungsfragen entwickelt, auf deren Fundament wiederum die Auswahl des Forschungsgegenstandes und -feldes erfolgte. Zwar stellte sich dieses Wissen über Theorie und Methodik als unabdingbar dafür heraus, am ausgewählten empirischen Gegenstand etwas wissenschaftlich Relevantes und Neuartiges beobachtbar und sichtbar machen zu können, allerdings zeigte sich sofort mit dem Eintritt ins Feld, dass dieses Wissen allein keineswegs eine hinreichende Grundlage für die Praxis des Praxeografierens bildete. Zu Beginn meines Aufenthalts im Feld sah ich mich vom Trainingsgeschehen und der Vielzahl seiner Eindrücke über weite Strecken überfordert. Anfangs beschränkte sich meine Beobachtungsfähigkeit auf ein verhältnismäßig unsystematisches ‚Hier-und-da-einmal-etwas-Aufschnappen‘, so dass ich den sich im Feld vollziehenden praktischen Trainingszusammenhängen über weite Strecken recht unverständig gegenüberstand. Als entsprechend unsystematisch erwiesen sich meine frühen Protokollierungsversuche und unzureichend meine Fähigkeiten zur Anfertigung dichter Beschreibungen der sportakrobatischen Trainingspraxis. Eine Übersetzung meiner Beobachtungen in Sprache und schriftliche Zusammenhänge fiel mir zudem schwer; zunächst war ich oft unsicher, welche Ausschnitte der diffusen Geschehnisse ich überhaupt festhalten sollte. Im Anschluss an eine gefundene Entscheidung mangelte es mir dann an Klarheit darüber, wie ich diese notieren sollte (etwa: Mit welchen Worten? In welcher Ausführlichkeit?). Mitverschuldet und provoziert wurden diese Beobachtungs- und Schreibprobleme durch die von mir im frühen Stadium favorisierte, abseitige bzw. randständige Beobachterposition und meinen Rückzug von den Teilnehmern, wobei sich diese räumliche und ‚zwischenmenschliche‘ Distanzwahrung wiederum unter anderem durch meine anfängliche Nicht-Identifikation mit der Position einer Ethno- bzw. Praxeografin bedingt sah. Erst in dem Maße, wie mir verschiedene Teilnehmer z.B. dadurch, dass sie mir interessierte Nachfragen zu meinem Projekt stellten oder mich als Expertin für die Analyse der Trainingspraxis adressierten115, überzeugend demonstrierten, dass sie meine Tätigkeit ernst nahmen, gewann ich an Selbstsicherheit und entwickelte allmählich die Fähigkeit, mich freier im Feld zu bewegen und dieses aus alternativen Blickwinkeln beobachtbar machen zu können. Die als Antwort auf die Reaktionen des Feldes beginnende Änderung meiner Selbstwahrnehmung bildete die Voraussetzungen für eine Änderung meines Welt- bzw. hier: Feldverhältnisses und die

115 So wollten die Trainer beispielsweise manchmal von mir wissen, warum bestimmte Interventionen und Instruktionen nicht die von ihnen antizipierten Effekte zeitigten und wie sie es hätten anders und besser machen können.

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Bedingung dafür, das Feld anders wahrnehmen sowie den mit der ethno-und praxeografischen Forschungspraxis verbundenen Anforderungen besser gerecht werden zu können. Trotz dieser anfänglichen Probleme waren die frühen Phasen des Feldaufenthalts überaus wichtig für die Entwicklung eines Verständnisses für das Feld. In ihnen tastete ich mich langsam an seine Akteure heran und gewann erste, wenngleich nicht unmittelbar für die Arbeit verwertbare, Eindrücke vom sowie Orientierungen im Feld. Im Zuge der Kontaktaufnahme mit den Teilnehmern – gemeint sind hiermit sowohl der räumliche Aspekt als auch das Führen von Gesprächen und Interviews – entwickelte ich allmählich ein immer differenzierteres Wissen über die Logiken des Feldes, die Gruppenbeziehungen und -dynamiken, über Sprechweisen und Gesten sowie über Zusammenhänge von Bewegungsvollzügen und Trainingsverläufen. In dem Maße, wie es mit gelang, das Feld und die Trainingsprozesse strukturierter wahrzunehmen, erwarb ich auch die Kompetenz, recht spezifisch festzustellen, welche konkreten Dimensionen und Aspekte ihrer Logik sich mir nicht erschlossen und die Teilnehmer hierzu präziser zu befragen. Nicht nur jedoch gelangen mir zunehmend zusammenhängende und kategorisierende Beobachtungen und Beschreibungen, vielmehr wurden diese auch immer vorausschauender und differenzierter. So lernte ich zum einen mit immer größerer Genauigkeit zu antizipieren, welche Geschehnisse die Trainer oder erfahrene Sportlerinnen zu Interventionen oder Korrekturen und Thematisierungen der Ausführungskriterien der sportakrobatischen Praktiken sowie der entsprechenden Mitspiel- und Subjektivierungsanforderungen veranlassen würden. Zum anderen entwickelte ich – obwohl ich selbst nie die Choreografie oder einzelne Elemente praktisch vollzogen habe – auch eine genuin körperlich-leibliche und sensitive Wahrnehmungs- und Beurteilungsfähigkeit. Mit steigender Erfahrung nahm ich das Tun der Akrobatinnen und Trainer nicht länger diffus und distanziert-sehend, sondern mitunter in einem Modus des körperlichen „virtuellen Mitbewegens“116 wahr (vgl. Ennenbach 1989; Alkemeyer 2011). Insbesondere solche Bewegungen und Bewegungssequenzen, die ich oft und in verschiedenen Ausführungskonstellationen gesehen habe, vollzog ich unwillkürlich virtuell o-

116 Diese Form des Mitvollziehens ist dabei nicht immer nur virtuell und auf ein inneres Mitgehen oder vorgestelltes mimetisches Sich-Anschmiegen beschränkt (vgl. Alkemeyer 2011: 59f.), sondern wird mitunter auch von Zuckungen und unwillkürlichen tatsächlichen Bewegungen bestimmter Körperpartien begleitet. In der Sportwissenschaft ist dieses Phänomen beim Beobachten von Elfmeter-Schüssen beim Fußball beobachtet worden und als ideomotorischer oder Carpenter-Effekt bekannt (vgl. z.B. Wegner/Fuller/Sparrow 2003).

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der auch tatsächlich körperlich mit und konnte so recht genau diagnostizieren, ob das Gesehene gelungen, rhythmisch und harmonisch war, oder nicht, und antizipieren, ob es den Teilnehmern Anlass zu Interventionen und Korrekturen geben würde.117 Mit der Zeit schien sich mein Forscherinnenkörper in „kinästhetischer Sympathie“ (Geertz 1987; vgl. auch Alkemeyer 2006) bzw. einer Beziehung der Interkorporalität immer mehr mit jenen Körpern zu verbinden, die ich beim Sich-Bewegen beobachtete. 118 Es dauerte Wochen, bis ich von den beobachteten Geschehnissen nicht länger überwältigt und überfordert wurde, sondern es mir gelang, dem Feld meine Fragen zu stellen und den von der Fachliteratur angeführten Anforderungen der ethno- und praxeografischen Forschungspraxis zu entsprechen, und ich in dieser Hinsicht Handlungsfähigkeit als Forscherin erlangen konnte. Die Subjektivierung von Praxeografierfähigkeit stellte sich für mich dabei weder als linearer Prozess, der einfach über die Lektüre von Fachliteratur und die Akkumulation theoretischen Wissens vollzogen werden konnte, noch als eine einfache Zunah-

117 Es ist nicht auszuschließen, dass auch die Entwicklung dieser Fähigkeit auf meine eigene Bewegungssozialisation und meine turnerischen Vorerfahrungen zurückgeht. Mein virtuelles Mitbewegen wurde dabei jedoch auch beim Beobachten hochkomplexer Bewegungsfolgen wie geworfener Strecksaltos mit Schrauben, die ich nie selbst ausgeführt habe, angesprochen. Zwar gelang mir im Hinblick auf solche selten die Feststellung konkreter Gründe eines Misslingens, jedoch erlebte ich die Ausführungen dann körperlich etwa als schwerfällig. Hierzu ein Auszug aus meinen Feldnotizen: Emma übt – wie immer mit Melanie, Lena und Nadine als Werferinnen-Team – einen geworfenen Strecksalto mit einer Schraube. Heute stimmt etwas nicht. Emma erreicht nicht dieselbe Höhe wie sonst; der Salto wirkt mühsam, anstrengend und schwerfällig auf mich. Auch die Sportlerinnen scheinen ratlos. Der Trainer unternimmt zahlreiche Interventionen – ohne Erfolg. Erst nach mehreren Übungsdurchgängen bemerke ich eine Veränderung. Der Salto wirkt nun müheloser und leichter. Was genau die Gruppe nun anders macht, weiß ich nicht. (Auszug aus den Feldnotizen vom 28.1.2011) 118 Hieran zeigt sich auch, dass eine kategoriale Unterscheidung von visueller Wahrnehmung oder Kommunikation auf der einen und körperlicher Wahrnehmung oder Kommunikation auf der anderen Seite empirisch nicht tragfähig ist. Weder sind (Zu-) Schauen oder Beobachten ausschließlich visuelle Formen der Kommunikation noch besitzen genuin körperliche Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Urteilsfähigkeiten ausschließlich für Situationen und Konstellation eines direkten Körperkontakts Relevanz (vgl. für diese Entgegensetzung Schindler 2011a). Vielmehr können sich – unter bestimmten (sozialen) Voraussetzungen – auch Beobachten und Zuschauen als interkorporale Beziehungen realisieren und körperliche Empfindungen ansprechen.

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me von Faktenwissen (z.B. über die Besonderheiten des Feldes) heraus. Vielmehr implizierte sie den Erwerb diverser Fähigkeiten und Fertigkeiten des Beobachtens, (multimodalen) Wahrnehmens, Sich-im-Feld-Bewegens, FragenStellens und Schreibens und umfasste zahlreiche Selbstüberwindungen, provozierte Verschiebungen des Selbst- sowie der Welt- bzw. Feldverhältnisse, erfasste Affekte und körperlich-leibliche Sensitivitäten, vollzog sich im praktischen Austausch von Forschender und Beforschten, im Wechselspiel von Adressierungen und Re-Adressierungen und erwies sich damit nicht zuletzt – ebenso wie die Erforschung des Feldes und seiner Praktiken selbst – als konstitutiv an die Bedingungen der Kopräsenz geknüpft.

3.3 AUSBLICK AUF DAS FOLGENDE K APITEL : D IE F ALLANALYSEN Das folgende Kapitel, in dem die Ergebnisse der empirischen Studie präsentiert werden, beginnt mit einer kurzen Charakterisierung der SportakrobatinnenGruppe und einer Beschreibung und Deutung der Anfangsphase einer typischen Trainingseinheit sowie den für diese Phase charakteristischen Praktiken des Aufwärmens und Vorbereitens. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt jedoch auf der Beschreibung und Analyse von fünf Trainingsepisoden, anhand derer den Prinzipien der Einübung und des Vollzugs verschiedener sportakrobatischer Praktiken sowie den sich in ihrem Rahmen ereignenden Akten der Subjektivierung von Mitspielfähigkeit auf die Spur gekommen werden soll. Die Auswahl der Fälle erfolgte in einem recht fortgeschrittenen Stadium des Forschungsprozesses anhand der zuvor erarbeiteten Codes, um auf diese Weise sicherzustellen, dass die Trainingsepisoden wesentliche Charakteristika des sportakrobatischen Trainings unter den Vorzeichen der in Kapitel 2.3 skizzierten Leitfragen zu exemplifizieren vermögen. Alle Fallbeschreibungen und -interpretationen erfolgen in Gestalt „mikroskopische[r] Feinanalyse[n]“ (Amann/Hirschauer 1997: 13), greifen auf die geschnittenen Videosequenzen zurück und sind mehrheitlich durch im Rahmen von informellen Gesprächen oder videogestützten Interviews erhobenen Informationen unterfüttert. Zumal sie sich auf einen hochspezialisierten Praxisbereich beziehen, werden sie durch ergänzende Abbildungen119 illus-

119 Bei den Abbildungen handelt es sich um Standbilder aus den entsprechenden Videomitschnitten. Selbstkritisch ist einzuräumen, dass Standbilder die Prozessualiät von Praktiken gleichsam ‚einfrieren‘ und stillstellen, indem sie immer nur ausgewählte Momente zu sehen geben. Allerdings lässt sich dieses Problem im Falle schriftlicher

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triert. Allgemeinheit, wissenschaftliche Relevanz und Aussagekraft beanspruchen die Fallstudien aufgrund einer Genauigkeit und Mikroskopik der Beschreibungen und Analysen sowie einer Verwebung der empirischen Beschreibungen mit akademischen Begrifflichkeiten und theoretischen Konzepten (vgl. Geertz 1987: 235). Diese Verwebung ermöglicht es zum einen, theoretische Begriffe und Konzepte mit Leben zu füllen und ihnen empirische Tiefenschärfe zu verleihen. Zum anderen markiert sie eine Objektivierungstechnik, die eine unreflektierte Übernahme oder unkritische Reproduktion der Teilnehmerperspektiven verhindert und es erlaubt, den empirischen Gegenstand durch die Anlegung einer bestimmten, wissenschaftlich legitimierten Analyseoptik auf plausible und neue Art und Weise zu sehen zu geben (vgl. auch Hirschauer 2008a). Die empirischen Analysen orientiert sich darüber hinaus an dem Leitmotiv der ethnomethodologischen Indifferenz (vgl. Coulon 1995: 41f.; Garfinkel 2002: 170f.): Im Vordergrund steht die Explikation des Wie der Einübung und des Vollzugs sportakrobatischer Praktiken sowie der Weisen der Subjektivierung von Mitspielfähigkeit, nicht die des Warum oder des Wozu, also der Motive und Zwecke. Ebenso sollen die Evaluation und Kritik der Logik der Praktiken und des Tuns ihrer Teilnehmer nicht entlang feld- oder praktikexterner normativer Maßstäbe erfolgen. Im Anschluss an Garfinkel/Sacks (1986: 166) besteht das Ziel hingegen darin, „seeking to describe members‘ accounts of formal structures wherever and by whomever they are done, while abstaining from all judgements of their adequacy, value, importance, necessity, practicality, success, or consequentiality”.

Statt die Akteure und ihr Tun aus einer vermeintlich überlegenen Beobachterperspektive, kritischen Außenposition oder von einem souveränen Standpunkt aus nach wiederum von außen an die Praktiken herangetragenen Maßstäben zu bewerten und aus dieser Vorschläge zur Verbesserung ihres Tuns zu formulieren, geht es darum, durch Mikroanalysen und dichte Beschreibungen von Fällen exemplarisch den sich im Vollzug von Praktiken aktualisierenden Ausführungslogiken, normativen Bewertungs-, Wissens- und Anforderungskriterien ‚von innen‘ auf die Spur zu kommen. Ein solches Vorgehen darf nicht als affirmatives und unkritisches missverstanden werden. Denn gerade die detailgenaue Explizie-

Arbeiten, denen man keine Videos beilegen kann, kaum umgehen. In dieser Arbeit wird ihm dadurch begegnet, dass die transsequenziellen Beschreibungen und Analysen der Episoden durch ganze Reihen von Bildern, die zumindest einen Eindruck von der Prozessualität der praktischen Vollzüge vermitteln sollen, veranschaulicht werden.

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rung und sprachliche Aufschlüsselung des im Vollzug gemeinhin nicht Bemerkten und Selbstverständlichen, die Offenlegung und Enthüllung jener Vorgehensweisen also, „die ansonsten in den Evidenzen des Alltags verborgen“ (Alkemeyer 2013: 42) bleiben, bergen durchaus kritische Potenziale, insofern sie es ermöglichen, Nicht-Hinterfragtes distanziert zu betrachten und neu zu sehen.

4. Eine Praxeografie sportakrobatischen Trainings

4.1 D IE S PORTAKROBATINNEN -G RUPPE ALS C OMMUNITY OF P RACTICE Die für die empirische Studie ausgewählte Gruppe von Sportakrobatinnen ist eine mehrfach mit unterschiedlichen Titeln und Preisen ausgezeichnete Showgruppe, die mit einer im Training erarbeiteten und alle ein bis zwei Jahre wechselnden Choreografie regelmäßig deutschlandweit und im angrenzenden Ausland Auftritte und Wettbewerbe vor großem Publikum bestreitet. Die Gruppe ist geschlechtshomogen und bestand zum Zeitpunkt der Untersuchung, mit Ausnahme des Trainers, Christoph120, ausschließlich aus Frauen und Mädchen. Die Altersstruktur der Gruppe ist hingegen äußerst heterogen. Zu Beginn der empirischen Forschungsphase im Jahr 2010 waren die jüngste der etwa zwanzig Teilnehmerinnen sechs, die älteste vierzig Jahre alt. Gemäß des Kriteriums ‚Alter‘ und dem hiermit korrelierenden Aspekt der ‚Erfahrenheit‘121 lassen sich die Teilnehmerinnen in drei Gruppen einteilen: die Kleinen und Unerfahrensten im Alter von sechs bis etwa elf Jahren, die Mittleren im Alter von zwölf bis 17 Jahren sowie die Ältesten und Erfahrensten im Alter ab Mitte 20.122 18- bis 25jährige sind in

120 Alle Namen wurden anonymisiert. 121 Die Sportlerinnen sind fast ausnahmslos im Kindes- oder frühen Jugendalter zur Gruppe gestoßen, so dass die Ältesten zugleich diejenigen sind, die über das umfangreichste Maß an praktischen Erfahrungen mit der Sportart verfügen. 122 Diese formale Einteilung in Altersgruppen folgt Differenzierungen, die von den Trainern sowie den Akrobatinnen in der Trainingspraxis selbst vorgenommen werden und beispielsweise in Adressierungen und Ansprachen, aber auch körperlichen Anordnungen, wie z.B. räumlich klar segregierten Cliquenbildungen während der Aufwärmphase, erkennbar werden.

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der Gruppe kaum vertreten, weil mit dem Erreichen des Schulabschlusses und dem Beginn einer Ausbildung oder eines Studiums viele Sportlerinnen aus der Gruppe austreten. An die verschiedenen drei Teilgruppierungen sind angesichts der Alters- und Erfahrungsdifferenzen disparate Erwartungen gestellt. Sie verfügen über unterschiedliche Rechte und Pflichten. In den verschiedenen Phasen des Trainings finden sich die Sportlerinnen zum Üben häufig in Kleingruppen zusammen, die sich aus Vertreterinnen unterschiedlicher Altersgruppen rekrutieren. Da sich die Trainer nie allen dieser Gruppen zur selben Zeit widmen können, müssen sich diese über weite Strecken selbstorganisieren und wird von den je ältesten Kleingruppenmitgliedern erwartet, temporär gewisse Trainerfunktionen zu übernehmen, die jüngeren Akrobatinnen beispielsweise durch Lob und andere Motivierungsstrategien zum kontinuierlichen Weiterüben zu animieren, diese im Hinblick auf die auszuführenden Bewegungen zu instruieren und ggf. zu korrigieren sowie sie im Falle einer Nichteinhaltung von Trainingsvorgaben zu ermahnen und zu disziplinieren. Von den Jüngeren wiederum wird erwartet, den von den älteren Kleingruppenmitgliedern an sie gerichteten Anweisungen, Instruktionen und Korrekturen Folge zu leisten: Isabel (13 Jahre) übt mit Luisa (sechs Jahre) einen eingesprungenen gegrätschten Stützhandstand vor einer Weichbodenmatte. Der Trainer steht daneben und beobachtet die beiden. Nach dem ersten Versuch fordert er Isabel dazu auf, der Kleinen eine Rückmeldung zum ersten Versuch zu geben. Isabel spricht sehr leise und wirkt unsicher. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Luisa scheint sich nicht für Isabels Worte zu interessieren und schaut auf der Matte umher. Der Trainer bittet Isabel, das Gesagte lauter zu wiederholen. Dann wendet er sich an Luisa und erklärt ihr, dass sie Isabel zuhören und sie anschauen solle. Er fragt: „Wer ist hier der Chef?“ und blickt Luisa abwartend an. Ich verstehe nicht, ob sie etwas antwortet und was sie sagt. Der Trainer betont nachdrücklich: „Genau. Das ist Isabel.“ […] Marie und Mia (beide 13 Jahre) bereiten sich mit Leonie (sieben Jahre) mit einer typischen Vorübung vor einer Weichbodenmatte auf ein schwieriges akrobatisches Element, einen geworfenen Salto, vor. Der Trainer steht daneben und beobachtet das Geschehen. Er fordert die Werfenden auf, Leonie zu korrigieren. Marie kommt der Aufforderung nach und erklärt Leonie, dass sie nicht mit den Armen rudern und fest bleiben solle und nicht zu früh abspringen dürfe. Nachdem mit Trainerhilfe zum ersten Mal der Salto ausgeführt wurde, beobachtet er genau, mit welchen Verbesserungsvorschlägen sich die

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beiden Älteren, Marie und Mia, an Leonie wenden. Als sie ihre Rückmeldung beendet haben, gibt er ihnen einen „pädagogischen Tipp“: Sie sollen Leonie immer zuerst loben und erst dann Verbesserungsvorschläge für den konkreten Bewegungsvollzug machen. (Auszüge aus dem Beobachtungsprotokoll vom 12.11.2010) Die Trainingsgruppe organisiert sich in Gestalt einer sogenannten Community of Practice123 (Lave/Wenger 1997), in der die für eine (zunehmend) kompetente Partizipation an den sportakrobatischen Praktiken erforderlichen Wissensgehalte und notwendigen Mitspielfähigkeiten nicht nur von den Trainern an die Sportlerinnen vermittelt, sondern auch zwischen diesen weitergegeben werden. Die ältesten und erfahrensten Sportlerinnen fungieren dabei aufgrund ihres Wissensund Erfahrungsvorsprungs gegenüber ihren jüngeren und unerfahreneren Mitspielerinnen „als verlängerter Arm des Trainers“ (Wacquant 2003: 117). Dass sich die Gruppe auf diese Weise als Community of Practice organisiert, ist, wie die obigen Auszüge aus Beobachtungsprotokollen dokumentieren und verdeutlichen sollen, weniger ‚nur‘ ein neutraler empirischer Fakt, als vielmehr ein grundlegender Aspekt der impliziten Normativität der sportakrobatischen Trainingspraxis, welchen der Trainer mit seinen Interventionen und Hinweisen expliziert und gegenüber jenen Teilnehmerinnen, deren Tun diesem (noch) nicht entspricht, verbindlich macht. Die Gruppe setzt sich beinahe vollständig aus Kunstturnerinnen zusammen. Fast alle Teilnehmerinnen haben den Weg zur Sportakrobatik über das Kunstturnen gefunden. Ein entscheidender Grund hierfür besteht darin, dass das Sportakrobatiktraining von demjenigen Ehepaar geleitet wird, das auch für das Kunstturntraining in demselben Verein verantwortlich ist. Die Trainer, Christoph und Melanie, wählen aus der Gesamtheit der Turnerinnen, insbesondere aus dem turnerischen Nachwuchs, die besten für das Sportakrobatikteam aus.124 Im Kunst-

123 Der Begriff Community of Practice wurde im Rahmen von Studien zum situierten Lernen geprägt und bezeichnet Gemeinschaften, die nicht dadurch lernen, dass eine autorisierte Lehrperson in einem explizit auf diese Weise gerahmten und eindeutig hierarchisch strukturierten Lehr-Lern-Kontext für die Wissensvermittlung sorgt, sondern dass alle Mitglieder einander ihr jeweiliges Wissen durch die Situierung in und Teilhabe an gemeinsamer Praxis wechselseitig zur Verfügung stellen (vgl. Lave/Wenger 1997: 89ff.). 124 Als zentrale Auswahlkriterien gelten nicht nur die turnerischen Fähigkeiten und Bewegungsfertigkeiten oder die Athletik der Mädchen. Ausschlaggebend für die Aus-

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turnen wird das Ehepaar von einer dritten Trainerin, Diana, unterstützt, die zwar in der offiziellen Hierarchie und gemessen an formalen Trainerlizenzen den anderen beiden untergeordnet ist, jedoch aufgrund ihrer Biografie – sie war Teilnehmerin und Medaillengewinnerin bei Olympischen Spielen – ein hohes Ansehen genießt und als gleichgestellt betrachtet wird. In der Sportakrobatik jedoch, in der sie, ebenso wie die Trainerin, selbst als Teilnehmerin aktiv ist, nimmt sie eine merkwürdige Zwischenposition ein: Hier sind ihre Zuständigkeiten stark beschnitten und auf die Vermittlung von als nur mehr zweitrangig angesehenen tänzerischen Kompetenzen beschränkt. Die am sportakrobatischen Training teilnehmenden Mädchen und Frauen stammen ebenso wie die Trainer mehrheitlich aus bildungsnahen bürgerlichen Milieus und besuchen fast ausnahmslos das Gymnasium oder besitzen das Abitur. Viele von ihnen sind noch zusätzlich zum Sportakrobatik- und Kunstturntraining sportlich aktiv. Einige betreiben Leichtathletik, andere reiten; manche wiederum spielen Theater oder ein Musikinstrument. Viele der Sportlerinnen ähnlichen Alters sind eng miteinander befreundet und verbringen auch ihre Freizeit abseits von Halle und Training miteinander. Ähnlichkeiten zeigen sich auch im körperlichen Erscheinungsbild, der Körperform sowie der Körpergestaltung und -modellierung, der Sportlerinnen.125 Vor Beginn des Trainings warten die Sportlerinnen häufig gemeinsam vor der Halle auf die Trainer und Einlass. Jede der hinzukommenden Sportlerinnen wird von den bereits Wartenden freundlich und mitunter sehr herzlich mit Umarmungen oder Wangenküsschen begrüßt. In der Versammlung der Akrobatinnen vor der Halle erlangt ihre stilistische und körperliche Ähnlichkeit eine besondere Augenfälligkeit. Die meisten sind gemäß der aktuellen Mode anzogen und tragen körperbetonte Kleidung wie enge Jeans oder kurze Röcke mit Stiefeln, dazu zumeist lange Haare. Viele sind dezent geschminkt, niemand jedoch trägt auffälliges Make-Up oder auffälligen Schmuck. Angesichts einer aufrechten und gespannten Körperhaltung aller Akrobatinnen macht die Gruppe einen selbstbewussten Eindruck. Sie tritt dem Beobachter als ein geschlossenes und trotz der großen Altersunterschiede stilistisch einheitliches Kollektiv entgegen, dessen Zusammenhalt im affektiven und körperbetonten Umgang der Sportlerinnen miteinander schon vor dem Beginn der eigentlichen Trainingspraxis eindrücklich Anschaulichkeit erlangt.

wahl ist nach Aussage der Trainer überdies die Passung zur Gruppe, die primär über die Merkmale der Zuverlässigkeit und geistigen Regsamkeit bestimmt wird. 125 Vgl. zum Zusammenhang von sozialer Zugehörigkeit, Geschmack und Körperschema bzw. -gebrauch auch Bourdieu (1987b: 277ff.).

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In vielerlei Hinsicht wirkt die Gruppe wie eine Großfamilie. Die überwiegende Mehrheit der Sportlerinnen kennt einander sowie die Trainer bereits seit vielen Jahren. In informellen Gesprächen und Interviews gibt sich zu erkennen, dass insbesondere die jüngeren Sportlerinnen ihre Trainer Christoph und Melanie als Elternersatz und wichtige Bezugspersonen ansehen, die in entscheidender Weise zu deren Erziehung beitragen. Und auch zwischen den Sportlerinnen besteht aufgrund der privaten Freundschaften sowie des umfangreichen Maßes an Zeit, das im Training oder bei auswärtigen Auftritten und Wettbewerben an Wochenende miteinander verbracht wird, ein sehr enges und vertrautes Verhältnis: Emma: „Man kennt sich einfach. [...] Es ist wie so eine zweite Familie. […] Also früher hatten wir zum Beispiel auch fünfmal die Woche Training und da hat man manchmal die Leute in der Turnhalle öfter gesehen als seine Geschwister. Und oder die Freunde aus der Schule. […] Also Melanie und Christoph haben uns ja auch mit erzogen und Diana dann ja später auch, als sie dazu gekommen ist und die geben uns ja auch schon so was mit. So eine Vorbildfunktion und man selber auch mit den Personen also so untereinander […] verbringt man so viel Zeit miteinander und einfach mittlerweile auch so gerne, dass man das gar nicht mehr so wirklich missen möchte, weil man so verbunden zu denen ist und so ein Vertrauen aufgebaut hat.“ Diana: „Auch bei Busfahrten und so.“ Emma: „Ja, dann knuddeln wir uns da hin und der eine liegt bei dem auf dem Schoß und der andere hat den Kopf hier angelehnt und überhaupt keine Berührungsängste oder so. Also, das ist echt richtig heimelig so.“ (Interview vom 18.3.2012)

Auch während des Trainings wird die Nähe der Sportlerinnen in einem vertrauten und affektiven Umgang miteinander erkennbar und dabei zugleich performativ beglaubigt. Vorwiegend zu Beginn des Trainings, während der Aufwärmund Dehnphase, finden sich die Akrobatinnen in altershomogenen Kleingruppen zusammen, um sich über private Themen – z.B. Schule, Kleidung, Familie, Freizeit – auszutauschen. Häufig sind vertraute, neckisch-spielerische Körperberührungen – etwa ein gegenseitiges Flechten der Haare, sanftes Ziehen an diesen oder wechselseitiges Kraulen der Rücken – zu beobachten. Wichtige Bestandteile der Gruppe sind überdies Familienangehörige: Oft sind während der Trainingszeiten die Mütter, seltener auch die Väter, der jungen Akrobatinnen oder die (Klein-)Kinder der älteren Akrobatinnen in der Halle anwesend. Alle kennen einander gut und duzen sich. Die Kleinkinder werden zumeist entweder von anwesenden Elternteilen, dem Trainer oder den Akrobatinnen selbst betreut und mit – stets turnerische oder akrobatische Bewegungen aufgreifenden – Spielen

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wie Schaukeln, Schwingen oder ‚Kopfübern‘ bei Laune gehalten und auf diese Weise allmählich in die Gruppe hinein- und als sportakrobatischer Nachwuchs herangezogen. Die enge Vertraut- bzw. Privatheit und große Affektivität, welche die Bindungen zwischen den Sportakrobatinnen und den Trainern charakterisiert, hat ihre Kehrseite in einem hohen Maß an gegenseitiger Kontrolle und Verpflichtung; sie wird von den Sportlerinnen keineswegs nur positiv beurteilt. So müssen beispielsweise jede Verspätung und jedes Fernbleiben vom Training insbesondere im unmittelbaren Vorfeld von Auftritten und Wettbewerben ausführlich begründet und legitimiert werden und werden – wenn dies nicht zufriedenstellend gelingt – von den Trainern als Enttäuschung und Unzuverlässigkeit gewertet und nicht selten in den folgenden Einheiten mit mehr oder weniger offensichtlichen Formen der Kritik bedacht. Diana: „Auf einmal tritt eine Panik auf. Für nichts. Für einen blöden Auftritt […].“ Emma: „‚Noch so und so viel Training. Und das müssen wir machen und das müssen wir machen. Und Sondertraining‘ […].“ Diana: Und dann wird verlangt von den Leuten, dass sie vielleicht noch am Sonntag hingehen. […] Ja, das greift schon sehr ins Privatleben ein, ne.“ Emma: „Die Kleinen müssen sich rechtfertigen [wenn sie nicht zum Training erscheinen; KB]. Also, ich war ja jetzt krank. Da kommt auch nicht einmal ein ‚Geht es dir jetzt besser?‘, sondern: ‚Aha, du bist wieder da.‘ Ich war Freitag auf keinen Fall fit. Mama meinte auch: ‚Willst du nicht zu Hause bleiben?‘ Ich so: ‚Mama, wenn ich heute nicht hingehe, gibt es Ärger.‘“ Diana: „Und dieses Bild ist immer da. Also die Kinder haben immer Angst. Das find ich auch nicht gut, dass, wenn die mal nicht kommen, dann heißt es gleich: ‚Es gibt Ärger.‘ Ich meine, oft ist es ja schon gar nicht mehr so, aber das ist bei den Kindern so drin und bei den Jugendlichen.“ (Interview vom 18.3. 2012)

Sogar Verletzungen und Schwangerschaften gelten nicht als legitime Gründe für das Fernbleiben vom Training; verletzte und schwangere Sportlerinnen sind ebenfalls – wenngleich nur als Zuschauerinnen – in der Halle anwesend und werden noch als solche in den Trainingsprozess eingebunden, indem sie entweder von den Trainern oder den Akrobatinnen explizit mit bestimmten Beobachtungs- und Bewertungsaufgaben betraut werden oder sich auch ohne Aufforderung in dieser Weise als Beurteilende und Korrigierende ins Spiel bringen. Für die Trainer scheint ihre Doppelfunktion als elternergänzende Erziehungsinstanzen sowie Freunde einerseits und Trainer andererseits häufig einer Art

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Gradwanderung gleichzukommen. Vornehmlich in Stresssituationen, die z.B. durch das Näherrücken eines wichtigen Auftritts oder Wettbewerbs ausgelöst werden, kann es vorkommen, dass gegenstandsbezogene Probleme wie das Misslingen eines akrobatischen Elements von persönlichen Befindlichkeiten überlagert werden oder Situationen, in denen eine zu freundschaftliche und ausgelassene, vermeintlich unkonzentrierte, Stimmung die Trainerautorität und -überlegenheit zu unterminieren droht, eskalieren. In diesen Fällen kann es sogar dazu kommen, dass der Trainer seiner Unzufriedenheit unmissverständlich stattgibt oder gar vorübergehend sauer die Halle verlässt und nicht weiter am Training partizipiert, wobei dieses stark emotional geladene Verhalten wiederum zu erkennen gibt, mit welch großer Leidenschaft der Trainer bei der Sache ist, wie sehr er sich für das sportakrobatische Trainingsgeschehen engagiert und zugleich von diesem engagiert ist.

4.2 D IE

CHOREOGRAFIE : TÄNZERISCHE UND AKROBATISCHE P RAKTIKEN

Die zu Musik in aufwändiger Kostümierung aufgeführten sowie stets unter einem spezifischen Leitthema stehenden Choreografien, mit denen die Gruppe regelmäßig an Auftritten und Wettbewerben teilnimmt, umfassen Elemente bzw. Praktiken turnerischer, tänzerischer und akrobatischer Art, die durch unterschiedliche Anforderungen und Ausführungslogiken charakterisiert sind.126 Während turnerische Elemente127, z.B. Schweizer Handstände128 oder Saltos, von

126 Diese Differenzierung in verschiedene Sorten von Choreografie-Elementen folgt den von den Teilnehmern selbst getroffenen Unterscheidungen und Bezeichnungen. In der Folge wird der Begriff sportakrobatische Elemente bzw. sportakrobatische Praktiken als Oberbegriff für akrobatische, tänzerische und turnerische Bewegungen und Aktivitäten gebraucht. Der Begriff des Elements orientiert sich an den Bezeichnungen des Feldes und meint das empirische Phänomen. Der Begriff der Praktik bezeichnet demgegenüber das aus einer spezifischen (praxis-)theoretischen Perspektive betrachtete Phänomen. Die Zusammenstellung der Choreografien aus turnerischen, tänzerischen und akrobatischen Elementen folgt nicht formalen Vorgaben wie Wettbewerbsregularien, sondern ist nach Aussage der Trainer Ergebnis von Wettbewerbserfahrungen, nach denen sich eine solche Komposition der Choreografie als besonders erfolgversprechend erwiesen hat. 127 Zumal die überwiegende Mehrzahl der Akrobatinnen der Gruppe auch im Kunstturnen aktiv ist oder war, wird das Trainieren der turnerischen Elemente im Sportakroba-

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individuellen Sportlerinnen allein ausgeführt werden, werden diese Bewegungen im Rahmen akrobatischer Praktiken im Zusammenspiel mit mindestens einer weiteren Akrobatin vollzogen. Die akrobatischen Praktiken bilden die ‚Herzstücke‘ der jeweiligen Auftrittschoreografien; auf ihre Einübung und Verbesserung wird ein Großteil der verfügbaren Trainingszeit verwendet. Die verschiedenen akrobatischen Praktiken unterscheiden sich im Hinblick auf ihre personelle Zusammensetzung und Anforderungsstrukturen voneinander mitunter recht stark: Während an manchen dieser Praktiken nur zwei bis drei Sportlerinnen beteiligt sind, involvieren andere mit bis zu 15 Teilnehmerinnen beinahe die gesamte Gruppe. Einige dieser Praktiken – etwa der geworfene Strecksalto (vgl. Kapitel 4.3.2.2) – sind sehr dynamisch und gefährlich, wohingegen sich andere – etwa Stützelemente (vgl. z.B. Kapitel 4.3.2.3) –als eher statisch und kräftezehrend erweisen. Über diese Unterschiede hinweg sind der Vielzahl der im Feld beobachtbaren akrobatischen Praktiken allerdings auch gewisse Merkmale gemein. Im Falle aller akrobatischen Praktiken agieren die Sportlerinnen konzertiert in einem gleichsam ‚arbeitsteilig‘ sich organisierenden Kollektivkörper129. Diese Praktiken können ausschließlich im Modus einer „verteilten Handlungsträgerschaft“130 (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002) vollzogen werden. In ihrem Rah-

tiktraining weitgehend vernachlässigt oder bleibt auf die Phase des Aufwärmens und Einturnens beschränkt; es kann hier auf Fähigkeiten zurückgegriffen werden, die in anderen Kontexten ausgebildet werden und wurden. In den folgenden Ausführungen wird die Analyse dieser Praktiken deswegen hinter die der tänzerischen und die akrobatischen Praktiken zurückgestellt. 128 Im Gegensatz zu einem ‚einfachen‘ Handstand erfolgt bei der Schweizer Variante die Einnahme der Handstandstellung nicht durch einen Impuls aus dem Schwungbein und aus dem aufrechten Stand, sondern gänzlich ohne Schwung aus einem gestemmten Grätschsitz. 129 Der Begriff des Kollektivkörpers ist für die vorliegende Arbeit und insbesondere die empirische Studie von großer Bedeutung. Er beschreibt ein fundamentales Organisationsprinzip der akrobatischen Praktiken, in denen die Bewegungen der einzelnen Teilnehmerinnen auf eine solche Weise zusammengeschaltet sind, dass alle aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind. Aus dieser Zusammenschaltung resultiert eine übersummative Vollzugslogik, aufgrund derer weder Ge- noch Misslingen der konzertierten Bewegungsvollzüge eindeutig auf das Tun einzelner Teilnehmerinnen oder individualisierte Körper zuzurechnen sind. 130 Rammert/Schulz-Schaeffer (2002) beziehen den Begriff der verteilten Handlungsträgerschaft auf ein Handeln, das sich über Menschen und Technik verteilt, ein Handeln in soziotechnischen Konstellationen. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff für

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men sind verschiedene Positionen vorgesehen, die den sie Einnehmenden unterschiedliche und durchaus heterogene Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensbestände abverlangen. Die eine akrobatische Praktik konstituierenden Aktivitäten und Mitspielerinnen sind in höchstem Maße voneinander abhängig, so dass sich selbst kleinste Unsicherheiten und Unkonzentriertheiten bis zum Abbruch der Praktik potenzieren können. Diese „Interdependenz“ (Elias 2004: 11) bewirkt, dass den akrobatischen Praktiken eine Eigendynamik inhärent ist, die von einzelnen ihrer Teilnehmerinnen nie vollständig zu beherrschen ist. Die Praktiken bleiben stets in einen Horizont von Unsicherheit und Kontingenz eingespannt (vgl. Volbers 2011: 201), der durch kontinuierliches Training und eine beständige Bearbeitung bzw. Optimierung sowohl individueller als auch konzertierter Aktionen und Vollzüge zwar eingehegt, nie jedoch gänzlich eliminiert werden kann. Aufgrund ihrer konzertierten, übersummativen sowie grundlegend unsicheren und mitunter auch riskanten Vollzugslogik müssen die Mitspielerinnen akrobatischer Praktiken die Bewegungsaktionen, die für die jeweiligen Positionen vorgesehen sind, zum einen sicher und souverän zu beherrschen. Zum anderen gilt es für sie, auf die Zuverlässigkeit ihrer jeweiligen Mitspielerinnen zu vertrauen131 und die Körper der anderen unabhängig von aufwändigen Verständigungsprozessen blitzschnell zu ‚lesen‘, um den Kollektivkörper gegebenenfalls qua Korrekturen und Ausgleichsbewegungen in der vorgesehenen Form zu halten und Abbrüche zu vermeiden. Anhand zweier Beispiele, einem Doppelhandstand und einem geworfenen Strecksalto, sollen zentrale Anforderungen akrobatischer Praktiken verdeutlicht werden: An einem Doppelhandstand (Abbildung 1; Mitte) sind drei Akrobatinnen beteiligt. Zwei dieser bilden das Fundament des Aufbaus, indem sie in leicht schräger Haltung in Handständen stehen und sich dabei an den Füßen berühren und gegenseitig Halt geben. Sobald die beiden Akrobatinnen eine stabile Doppelhandstandstellung erreicht haben, besteigt die dritte Sportlerin den Aufbau, um in der Höhe einen gegrätschten Handstand auszuführen. Die Füße einer der unten stehenden Akrobatinnen bieten ihr dabei Griff- und Haltegelegenheiten. Eine erste Herausforderung besteht darin, dass die zwei unteren Teilnehmerinnen gemeinsam einen stabilen Stand finden müssen, um der dritten den Aufstieg und die Aufrichtung in den gegrätschten Handstand zu ermöglichen. Das Finden eines festen gemeinsamen Standes und die Koordination der individuellen Kör-

ein Handeln verwendet, das sich auf die Schultern verschiedener menschlicher Akteure verteilt. 131 Vgl. zum Konzept des Vertrauens genauer Kapitel 4.3.2.2.

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per (insbesondere der Füße) müssen dabei weitgehend ohne visuelle Kontrolle erfolgen. Im Doppelhandstand stehend, ist es den Sportlerinnen kaum möglich, Blicke auf den eigenen bzw. den Körper der jeweils anderen zu werfen; einzig einzelne Körperpartien wie die Arme können ins Blickfeld geraten. Dies bedeutet, dass die unteren Sportlerinnen gefordert sind, sich auf der Basis einer körperlich-spürenden Abstimmung aneinander auszurichten. Sobald eine gemeinsame Doppelhandstandposition eingenommen ist und die Körper über die Koordination der Beine und Füße zueinander gefunden haben, ist es den Teilnehmerinnen möglich, Unsicherheiten wie einen schiefen Stand der jeweils anderen unter der Voraussetzung, dass diese früh genug bemerkt bzw. genauer: gespürt werden, mithilfe schneller und gezielter Gegenbewegungen zu kompensieren und korrigieren. Umgekehrt kann es aber – insbesondere mit dem Hinzukommen der Dritten – auch passieren, dass Unsicherheiten einer Beteiligten nicht (mehr) ausgeglichen werden und sich derart potenzieren, dass es zu einem Zusammenbruch des gesamten Kollektivkörpers und eines vorzeitigen Abbruchs der Figur kommt. Abbildung 1: akrobatische Elemente einer Choreografie

Die akrobatische Praktik des geworfenen Strecksaltos involviert fünf Akrobatinnen, von denen vier den Unterbau für eine fünfte bilden, welche von jenen für die Ausführung eines gestreckten Rückwärtssaltos in die Luft geworfen und nach diesem wieder aufgefangen wird. Die vier Werferinnen müssen, um einen sicheren Salto zu gewährleisten, zu einer blitzschnellen Koordination ihrer acht Arme in der Lage sein, von denen die fünfte abgeworfen und mit denen sie wieder aufgefangen wird. Um als Kollektiv agieren zu können, gilt es für sie, ein

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gleichsam ‚blindes‘ Verständnis füreinander zu entwickeln. Die vier Akrobatinnen müssen derart aufeinander eingespielt sein, dass sie sich während des Vollzugs primär auf die Geworfene konzentrieren können. Für sie gilt es zum einen, den Körper der zu werfenden Sportlerin am Stand auf ihren Händen im Hinblick auf deren Bereitschaft für den Vollzug des Saltos zu lesen. Zum anderen müssen sie während des etwa eine Sekunde dauernden Fluges den Landepunkt der fünften antizipieren und dabei ihre Körper bzw. Arme so koordinieren, dass sie sie sicher zu fangen in der Lage sind. Das konzertierte Agieren im Rahmen akrobatischer Praktiken erfordert von ihren Teilnehmerinnen eine mitlaufende körperliche Achtsamkeit füreinander sowie eine beständige situative Koordinierung individueller Aktionen zu einem (im Idealfall) gelingenden Gesamtgeschehen. Verglichen mit den akrobatischen Praktiken wird den tänzerischen – gemessen am Umfang der investierten Trainingszeit – eine geringere Bedeutung beigemessen. Im Gegensatz zu ersteren, an deren Feinschliff permanent gearbeitet wird, erreichen die tänzerischen Praktiken bereits nach verhältnismäßig kurzen Übungsprozessen ein akzeptables bzw. kollektiv akzeptiertes Ausführungsniveau. Bedingt ist dieser Unterschied durch die differenten Vollzugslogiken und Anforderunggsprofile, die die zwei ‚Sorten‘ von Praktiken auszeichnen:132 Bei der Ausführung tänzerischer Praktiken sind die Sportlerinnen neben- und hintereinander in einer Art Blockformation angeordnet und realisieren in dieser Auf-

132 Diese formale Unterscheidung zwischen den disparaten Anforderungsstrukturen der tänzerischen und akrobatischen Praktiken ist ein Ergebnis des empirischen Forschungsprozesses – keine im Vorfeld getroffene, deduktive Ableitung aus der Theorie. Ohne dass sich mir die hier angeführten Gründe und Details der Differenzierung gleich erschlossen, fiel mir in den Frühphasen der Trainingsbeobachtungen – wenngleich noch recht unspezifisch – auf, dass in die Erarbeitung und Einübung der akrobatischen Elemente im Vergleich zu den tänzerischen ein Vielfaches an Aufmerksamkeit und Trainingszeit investiert wird. Aber auch unter Aktualisierung der „seismographischen Qualitäten“ (Amann/Hirschauer 1997: 25) meines Forscherinnen-Körpers wurde ich auf Unterschiede aufmerksam: So wurde ich im Zuge meiner teilnehmenden Beobachtungen von den akrobatischen Praktiken stets auch stärker körperlich erfasst als von den tänzerischen. Während mich jene immer weitgehend ‚kalt‘ ließen, konnte ich mich beim Beobachten dieser oft selbst dabei beobachten, körperlich angespannt oder aufgeregt zu sein oder mir sogar die Hände vor das Gesicht zu schlagen, wenn eine Sportlerin etwa aus einem in großer Höhe ausgeführten Handstand zu Boden zu stürzen drohte, weil die untere Akrobatinnen-Architektur ins Wanken geriet. Erst dieses Aufmerksamwerden im Feld gab den Anlass, genauer auf Gründe und Differenzen zu reflektieren.

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stellung unter dem Anspruch einer größtmöglichen Synchronizität vorgegebene Sequenzen von Tanzschritten (Abbildung 2). Abbildung 2: tänzerisches Element einer Choreografie

Im Rahmen dieser Praktiken müssen die beteiligten Sportlerinnen identische Aktionen auszuführen und ihre Bewegungen – orientiert am Takt der Musik, welche die Choreografie begleitet – koordinieren und harmonisieren. Hier agieren die Akrobatinnen gemeinsam, dabei jedoch weitgehend voneinander unabhängig und nicht konzertiert.133 Zwar sind auch im Falle dieser Praktiken verschiedene Mitspieler-Positionen vorgesehen; diese sind jedoch mit weitgehend identischen Anforderungen verbunden und zwischen ihnen bestehen keine (körperlichen) Interdependenzen. Kommt es auf einer der Positionen zu Unsicherheiten oder Abweichungen von den (normativen) Anforderungen und stilistisch-ästhetischen Vorgaben der Praktik, bleiben die übrigen Positionen und das Gesamtgeschehen hiervon unberührt. Die spezifische Anordnung der tanzenden Körper im Raum verweist alle Beteiligten auf sich selbst bzw. den eigenen, individuellen Körper und verlangt es diesen ‚nur‘ ab, sich auf sich selbst bzw. darauf zu konzentrieren, unter dem Anspruch einer zumindest ungefähren Synchronizität, die gleichen körperlichen Vollzüge und tänzerischen Bewegungsaktionen auszuführen wie die Mitspielerinnen. Ge- und Misslingen können – im Gegensatz zu den akrobatischen Praktiken – stets klar auf einzelne Mitspielerinnen zugerechnet wer-

133 Vgl. zur Unterscheidung von gemeinsamem und konzertiertem Handeln auch Schindler (2011a).

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den. Auch erfordert die Teilnahme an den tänzerischen Praktiken von ihren einzelnen Mitspielerinnen weder eine beständige Aufmerksamkeit für das Tun und die Körper der anderen noch die Fähigkeit zu einer mitlaufenden, situativen und fehlersensitiven Koordination und wechselseitigen Feinjustierung individuellen Aktionen zu einem arbeitsteilig sich organisierenden Gesamtgeschehen. Im Vergleich zu den akrobatischen Praktiken erweisen sich die tänzerischen angesichts ihrer nicht-konzertierten Organisationsstruktur und Vollzugslogik als weit weniger störanfällig als die akrobatischen und erreichen deutlich schneller als diese eine zufriedenstellende und als nicht weiter optimierungsbedürftig thematisierte Ausführungsqualität.

4.3 M IKROANALYSEN AKROBATISCHEN

DER SPORT T RAININGSPRAXIS

Die Gruppe trainiert zweimal pro Woche für jeweils zwei Stunden. Üblicherweise folgen die Trainingseinheiten dabei einem Muster, in dem verschiedene Phasen identifizierbar sind: Auf den gemeinsamen Aufbau von sechs Bodenläufern zu einer großen Mattenfläche folgt die Formierung eines Sitzkreises, in dem die Trainerin zum Trainingsauftakt Ansprachen informierender, aber auch responsabilisierender und disziplinierender Art an die Sportlerinnen richtet. Auf diese Ansprachen folgt ein gemeinsam vollzogenes und zumeist vom Trainer koordiniertes Aufwärm-, Dehn- und Einturnprogramm. Der Großteil der verfügbaren Trainingszeit wird anschließend auf den Vollzug und das Üben akrobatischer Praktiken verwendet. Hierbei spaltet sich die Gesamtgruppe vorübergehend in verschieden große Kleingruppen auf, die sich über die Mattenfläche verteilen und auf dieser unterschiedliche ‚Trainingsinseln‘ und Lehr-LernKonstellationen bilden. In dieser ‚insularen‘ Anordnung geben sich heterogene Trainingsstände und Könnensniveaus der unterschiedlichen SportlerinnenGruppierungen zu erkennen: Während in manchen Konstellationen der konzertierte Vollzug bestimmter akrobatischer Praktiken bereits sicher, souverän und weitgehend störungsfrei zu gelingen scheint, konfrontiert die verteilte Ausführung andere Sportlerinnen-Gruppierungen mit größeren Problemen, die manchmal mit, manchmal ohne die Interventionen der Trainer angegangen und zu bewältigen versucht werden. Gegen Trainingsende werden schließlich manchmal – keineswegs jedoch regelmäßig – unter Involvierung aller Teilnehmerinnen tänzerische Praktiken vollzogen und geübt, bevor ein gemeinsamer Abbau der Bodenläufer die Trainingseinheit beschließt.

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In den folgenden Abschnitten wird zunächst ein Detailblick auf die Geschehnisse der typischen Anfangsphase einer sportakrobatischen Trainingseinheit geworfen und die Ansprachen im Sitzkreis sowie das Aufwärmen, Dehnen und Einturnen in den Fokus der Analyse gerückt (Kapitel 4.3.1).134 Es wird gezeigt, dass und inwiefern die in der Frühphase beobachtbaren Trainingspraktiken auf die im Anschluss an diese auszuführenden und einzuübenden akrobatischen Praktiken bezogen sind und einerseits der körperlichen und bewegungspraktischen, andererseits aber auch der mentalen, affektiven und sozialen Einstellung der Teilnehmerinnen auf deren Anforderungen dienen. Die Kapitel 4.3.2.2 bis 4.3.2.4 sind in Fallanalysen organisiert und thematisieren das Üben und den Vollzug verschiedener akrobatischer Praktiken auf verschiedenen Könnensniveaus. In der ersten Fallanalyse gilt die Aufmerksamkeit der vom Trainer unterstützten Einsetzung einer Novizin in eine gefährliche und im Zusammenspiel mit vier weiteren Sportlerinnen zu realisierenden Salto-Praktik. Der Analysefokus liegt dabei erstens auf den Fragen, wie – d.h. in welchen Schritten – ihr Eintritt in die Praktik organisiert und sie als kompetente Mitspielerin hervorgebracht bzw. die Gruppe als zusammenspielfähiger Kollektivkörper formiert werden. Zweitens geht es darum zu entschlüsseln, mit welchen Anforderungen und Erwartungen die Novizin im Zuge ihrer Einsetzung konfrontiert wird und welche Fähigkeiten und Wissensbestände ihre allmähliche Mitspielfähigkeit verbürgen. Im Mittelpunkt des zweiten Falls steht eine in eine akrobatische Praktik engagierte Gruppe aus drei Akrobatinnen, der die im ersten Fall noch schrittweise angebahnte Zusammenspielfähigkeit von den Trainern bereits unterstellt wird. Entgegen dieser Erwartungen kommt es hier jedoch zu Störungen, Irritationen und Unsicherheiten während der konzertierten Vollzüge, die den Trainer dazu veranlassen, sich intervenierend und korrigierend einzuschalten. Der Schwerpunkt der zweiten Fallanalyse liegt auf der Frage danach, auf welche Weise und unter Verfügbarmachung welcher Wissensbestände und Fähigkeiten das Problem zu diagnostizieren sowie zu lösen und die Gruppe als auf praktikadäquate Weise zusammenspielfähige zu konstituieren versucht wird. Am dritten Fall wird herausgearbeitet, dass akrobatische Praktiken selbst noch nach langen Übungs- und Trainingsprozessen hochgradig störanfällige Vollzüge bleiben. Im Rahmen dieser Fallanalyse wird ein genauer Blick auf den konzertierten Vollzug einer weiteren akrobatischen Praktik gerichtet und gezeigt, wie zwei Teilnehmerinnen

134 Die Bezugsgrundlage für dieses Kapitel bilden zahlreiche Beobachtungsprotokolle und Videoaufzeichnungen, die im Laufe des zweijährigen Feldaufenthalts angefertigt wurden.

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selbstorganisiert mit den auftauchenden Unsicherheiten umgehen. Die Analyse forciert die Klärung der Frage danach, wie die Sportlerinnen die Anforderungen der Praktik und ihr Tun ohne die Hilfe der Trainer reflektieren und bearbeiten und die bemerkten Unsicherheiten einzuhegen versuchen. 4.3.1 Der disziplinierende Auftakt Im folgenden Abschnitt stehen zunächst die Geschehnisse in einer typischen Anfangsphase des Trainings im Mittelpunkt des Interesses. Dabei wird davon ausgegangen und gezeigt, dass die in dieser Phase beobachtbaren Übungen und Praktiken nicht nur trainings- und bewegungspraktische, sondern auch soziale Zwecke – etwa die der Vergemeinschaftung – verfolgen und darauf zielen, die Akrobatinnen in körperlicher, affektiver und mentaler Hinsicht auf die Anforderungen der akrobatischen Praktiken einzustellen. Insbesondere dann nämlich, wenn es – wie in den meisten Trainingseinheiten – im späteren Verlauf hauptsächlich um die Einübung und Optimierung der akrobatischen Praktiken einer Auftrittschoreografie geht, vollzieht sich die Frühphase nach einem charakteristischen, wiedererkennbaren und regelmäßigen Muster.135 Nachdem sich die Sportlerinnen in der Kabine umgezogen haben, betreten sie nacheinander die Halle und beginnen sofort mit dem Aufbau von sechs Bodenläufern, die nebeneinander ausgerollt werden, um eine quadratische Mattenfläche zu bilden. Einzig die ältesten Sportakrobatinnen nehmen sich ab und an vom gemeinsamen Aufbau aus und nutzen diese Zeit für kurze Gespräche über private Angelegenheiten. Sind alle Sportlerinnen umgezogen in der Halle anwesend und die Matten ausgelegt, ruft die Trainerin in deren Mitte einen Sitzkreis zusammen, aus dem der Trainer zumeist ausgeschlossen bleibt (Abbildung 3). Die im Sitzkreis stattfindenden Gespräche dienen der Informierung der Sportlerinnen über Aufgaben und Inhalte der bevorstehenden Trainingseinheit oder ihrer Inkenntnissetzung über die Rahmenbedingungen eines bevorstehenden Auftritts bzw. Wettbewerbs. Insbesondere im Vorfeld wichtiger Auftritte und Wettbewerbe, die mit einer verhältnismäßig neuen und noch nicht lange eingespielten Choreografie zu bestreiten sind, sind die initialen Ansprachen der Trainerin häu-

135 Werden in einer Trainingseinheit hingegen ausschließlich oder hauptsächlich tänzerische Elemente geübt, oder sollen die Sportlerinnen – insbesondere in den Frühphasen der Choreografieentwicklung – Ideen für neue Elemente finden, zusammentragen und erproben, wird mitunter gänzlich auf Übungen und Maßnahmen zur Vorbereitung und Einstellung verzichtet oder nehmen diese eine andere als die in der Folge geschilderte, verkürzte und weniger direktive Gestalt an.

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fig von moralisierenden Tönen untersetzt und von responsabilisierendem Impetus. Zunächst kontrolliert sie, ob die Gruppe vollzählig ist oder Sportlerinnen dem Training unentschuldigt ferngeblieben sind, bevor sie die Anwesenden dazu befragt, wer warum in letzter Zeit gefehlt hat und bei wem in nächster Zeit aus welchen Gründen mit Ausfällen zu rechnen ist. Abbildung 3: Sitzkreis zum Auftakt einer Trainingseinheit

Insbesondere solche Sportlerinnen, im Falle derer sich Fehltermine häufen, werden von ihr mit mehr oder weniger subtilen Hinweisen dazu ermahnt und aufgefordert, sich selbst und allen anderen über die Angemessenheit und Überzeugungskraft der von ihnen für ihr Fernblieben angeführten Gründe Rechenschaft abzulegen: Die Trainingseinheit beginnt in einem Sitzkreis. Die Trainerin führt das Wort. Aus meiner Position am Mattenrand kann ich nur Bruchstücke des Gesagten verstehen. Es fehlen heute einige der Sportlerinnen. Unter anderem fragt die Trainerin die anwesenden Sportlerinnen nach dem Verbleib dieser und den Gründen für deren Nicht-Erscheinen. Verena wird von der Trainerin laut dafür kritisiert, dass sie den letzten Trainingstermin abgesagt hat, weil sie für die Schule lernen musste. Sie solle sich ihre Zeit besser einzuteilen lernen und auch die Wochenenden zum Lernen zu nutzen, um sich die Trainingszeit freizuhalten. Wegen ihres Ausfalls, so beklagt die Trainerin, könne ihre Gruppe – gemeint sind drei andere Akrobatinnen – den geworfenen Strecksalto nicht üben und für einen bevorstehenden Auftritt weiter verbessern. (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 2.9.2011)

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Um ihrer Forderung nach einer kontinuierlichen Anwesenheit der Teilnehmerinnen in allen Trainingseinheiten Nachdruck zu verleihen, benennt die Trainerin, wie im oben stehenden Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll erkennbar wird, negative Konsequenzen individueller Ausfälle für andere Akrobatinnen und regt schließlich nicht selten die gesamte Gruppe dazu an, zu diesen vermeintlichen Unzuverlässigkeiten Stellung zu beziehen. Auffällig ist, dass die Ansprachen der Trainerin im Sitzkreis von einem immer wiederkehrenden Grundmotiv durchzogen sind, mit dem die Einzelnen in ihrer Verantwortung gegenüber dem Gruppenkollektiv angesprochen und in die Pflicht genommen werden. Priorität gegenüber den Bedürfnissen Einzelner habe demzufolge immer das Kollektiv, hinter dessen Funktionieren jene – wann immer möglich – zurück zu stellen seien. Angesichts des öffentlichen Charakters der Missbilligungen und Infragestellungen der Legitimität der Gründe des Trainingsausfalls durch die Trainerin werden bestimmte Sportlerinnen in den Fokus geteilter Aufmerksamkeit gerückt und die übrigen Sportlerinnen zu einer ähnlichen Verurteilung des unzuverlässigen Verhaltens aufgefordert. Den Sportlerinnen werden von der Trainerin auf diese Weise bestimmte Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Verhaltensmuster nahegelegt. Zudem wird durch die Kritik an ausfallenden Einzelnen öffentlich eine Art ‚Kollektivgeist‘ oder Gemeinschaftssinn beschworen, durch die der Verbindlichkeitscharakter des Trainings für alle gesteigert wird.136 Es ist die räumliche Anordnung des Sitzkreises, welche die Voraussetzung für die Wirksamkeit der von der Trainerin geäußerten Appelle und ihre moralisierenden Ansprachen sowie die Praktiken der kollektiven Responsabilisierung, Disziplinierung und Einschwörung bildet. Die kreisförmige Anordnung der Teilnehmerinnen schafft einen geschlossenen Raum geteilter Aufmerksamkeiten und direkter persönlicher Beziehungen ohne Rückzugsmöglichkeiten, in dem alle Teilnehmerinnen ungeschützt voreinander sichtbar gemacht und die angesprochenen Sportlerinnen den beurteilenden Blicken aller ausgesetzt werden. Diese umfassende Ausgesetztheit und Sichtbarkeit aller Teilnehmerinnen voreinander

136 Von den Sportlerinnen wird dieser Pflichtcharakter des Trainings ambivalent eingeschätzt. Auf der einen Seite erleben sie ihn insofern als belastend, als er die Erwartung impliziert, die private Terminplanung der sportlichen nachzuordnen und sogar im Falle von Krankheit ausführliche Entschuldigungen und Erklärungen liefern zu müssen. Andererseits jedoch nehmen sie Trainingsausfälle ihrer Mitspielerinnen als negativ wahr und bestehen selbst auf einer Konstanz der personellen Zusammensetzung von Übungsgruppen insbesondere für die Erarbeitung und Verbesserung der akrobatischen Elemente. Der Ausfall einer Mitspielerin sei oft gravierend und mitunter schwer zu kompensieren.

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verunmöglicht es den von der Trainerin Adressierten, sich nicht zu deren Ansprachen und Urteilen zu verhalten und zu diesen Stellung zu beziehen. Die Anordnung des Sitzkreises hat überwiegend nicht länger als zehn Minuten Bestand. Ihr folgt eine Phase des Aufwärmens, welche manchmal von basslastiger Pop-Musik aus den Charts begleitet wird. Zu ihrem Beginn formieren sich die Sportlerinnen in sechs etwa gleich großen und wiederum altershomogenen Kleingruppen vor den Bodenläufern. Das gemeinsame Aufwärmen in Reihen erfolgt nach einem immer wiederkehrenden Schema: Es beginnt stets mit einfachen Hüpf- und Laufbewegungen wie Seitgalopp oder Hinken auf einem Bein und steigert sich bis zu komplexen turnerischen Bewegungskombinationen wie einer Radwende mit anschließendem Flic Flac. Die Stimmung ist in dieser Frühphase des Trainings meistens recht heiter – es sei denn, ihr war eine der zuvor beschriebenen Ansprachen vorausgegangen. Der Lärmpegel ist hoch, die Sportlerinnen reden und lachen viel miteinander; misslungene Bewegungsausführungen werden ironisch kommentiert und als Anlass für gemeinsame Scherze genommen. Die jeweils auszuführenden Übungen werden entweder qua Zuruf minimaler Schlagworte von dem meist am Mattenrand stehenden Trainer oder von der eine der sechs Reihen anführenden Trainerin vorgegeben, indem diese den übrigen Sportlerinnen ein kleines Stück vorausgeht und jene Bewegung, die über die nächsten Bahnen hinweg ausgeführt werden soll, einmal vormacht. In geringen Abständen hintereinander fort bewegen sich die Akrobatinnen in den sechs Reihen über die Matten (Abbildungen 4 und 5). Abbildung 4: reihenförmiges Aufwärmen: Handstände

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Abbildung 5: vom Trainer koordinierte Aufwärmübung

Insbesondere zu Beginn erfolgt das reihenförmige Aufwärmen in Gestalt einer weitgehend stummen Orchestrierung, die ohne viele Worte und Instruktionen auskommt. Ein Schlagwort oder ein kurzer Blick auf die Trainer genügen allen, um zu wissen, was zu tun ist. Trotz der ausgesprochenen Ökonomie an expliziten Vorgaben werden die verschiedenen Übungen von beinahe allen Sportlerinnen in bis in feinste Bewegungs- und Haltungsdetails nahezu identischer Weise ausgeführt – lediglich die Jüngsten weichen ab und an einmal von dem kollektiven Ausführungsmuster ab. Radschläge beispielsweise beginnen stets mit einem erkennbaren Aufrichten und Anspannen des Körpers: Die Arme werden über den Kopf gestreckt, das Kinn gehoben; dann wird das Schwungbein mit gestreckten Füßen und Zehen weit nach oben geführt. Erst nach diesem Auftakt erfolgt der eigentliche Radschlag. Dieser ist keineswegs mit der Landung auf den Füßen beendet. Vielmehr wird nun mit gestrecktem hinteren und leicht gebeugtem vorderen Bein, gehobenen Armen und gespannten, leicht gespreizten Fingern abermals eine Art Präsentationsposition bezogen, die kurz gehalten wird, bevor zum nächsten Radschlag angesetzt wird. In der dichten Anordnung der Akrobatinnen auf den Matten wirkt das Auswärmen in Reihen wie eine Choreografie. Aufgrund der Nähe der Körper und deren identischen, fast synchronen Tuns wird die gemeinsame Bewegungsgeschichte der Sportlerinnen augenfällig. Ihre „aufrecht[en] und biegsam[en]“ (vgl. Alkemeyer 2007: 6), gespannten und zugleich überaus beweglichen Körper geben ihre gemeinsamen turnerischen und sportakrobatischen Erfahrungen anschaulich zu erkennen. In den zahlreichen Wiederholungen werden die ohnehin schon beinahe schlafwandlerisch sicher beherrschten Bewegungsvollzüge noch tiefer in die Körper und die Bewegungsrepertoires der Akrobatinnen eingeschrieben und ihnen dabei zugleich wieder in Erinnerung gerufen und für das weitere Trainingsgeschehen verfügbar gemacht.

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Zugleich wird in den Praktiken des Aufwärmens und Vorbereitens auch der Trainerblick in spezifischer Weise ausgerichtet und eingestellt. Mit zunehmender Dauer des Aufwärmprogramms und steigender Schwierigkeit und Komplexität der Aufwärmbewegungen und Bewegungskombinationen werden die Interventionen des Trainers häufiger. Aufgrund der reihenförmigen Übungsanordnung und der Nähe der Akrobatinnen-Körper im Raum scheint er Abweichungen der Bewegungen einzelner Teilnehmerinnen von den Bewegungsvollzügen des Akrobatinnenkollektivs augenblicklich zu registrieren. Zumeist sind es die jungen und mittelalten Sportlerinnen, die zu Adressatinnen seiner Interventionen werden: Nach dieser Bahn kündigt Christoph die nächste Übung an: Es sollen beim Gehen abwechselnd die Beine nach vorn oben gespreizt und dabei die Arme in der Position ‚Flugzeug‘ gehalten werden. Nach dieser kurzen Erklärung durch den Trainer beginnen die Sportlerinnen die Übung. Zunächst beobachtet der Trainer das Geschehen kommentarlos. Dann jedoch scheint ihn an der Ausführung einer der jüngsten Akrobatinnen etwas zu stören. Er begibt sich zu ihr und kommentiert ihre Vollzüge: „Du machst kein Flugzeug, das ist doch kein Flugzeug!“ Luisa, die angesprochene Akrobatin, schaut ihn verunsichert an. Er streckt seine Arme in eine waagerechte Haltung aus, wie er es bereits in seiner Erklärung der Übung getan hatte: „Guck mal, das ist ein Flugzeug! So sind die Arme waagerecht!“ Offenbar lässt Luisa ihre Arme zu weit in Richtung Boden hängen, denn der Trainer greift nun unter ihre Arme und führt sie mit einem kräftigen Impuls weiter nach oben. Dort hält sie einige Zeit fest, als wolle er sie in dieser Position fixieren: „Hier bist du ein Flugzeug.“ Nach kurzer Zeit lässt er die junge Akrobatin wieder los und beobachtet sie bei der Fortsetzung ihrer Bahn. Offenbar gelingt ihr die Bewegung nun besser. Erst am Ende der zweiten Bahn fragt der Trainer noch einmal kontrollierend nach: „Hast Du das nun verstanden? Du musst ein Flugzeug sein.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 9.9.2011) Die Korrektur der betreffenden Sportlerinnen verläuft derart, dass sich der Trainer deren Interpretation der verlangten Bewegung zunächst genau ansieht und das Beobachtete sprachlich und gestisch kommentiert. Mit seinen gestischen und sprachlichen Kommentaren macht er die betreffende Akrobatin auf Diskrepanzen zwischen ihren Vollzügen und der erwarteten Idealform aufmerksam und markiert zugleich ausgewählte Stellen und Momente der entsprechenden Bewegung als besonders wichtig und prägnant – im oben stehenden Auszug aus einem

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Beobachtungsprotokoll etwa eine waagerechte Armhaltung. Danach wird die Sportlerin aufgefordert, die Bewegungssequenz ein weiteres Mal auszuführen und ihr Körper dabei vom Trainer gewissermaßen ‚handgreiflich‘ in die erwartete Form gebracht. Mit dieser Maßnahme wird das Wissen um die Details der adäquaten Ausführungsweise, das der Trainer zuvor in den Medien von Sprache und Gesten zu vermitteln und explizieren versucht hat, für die Akrobatin auch körperlich spür- und damit aneigenbar gemacht. Bereitet eine Aufwärmübung oder Bewegungssequenz aus der Perspektive des Trainers mehreren Sportlerinnen Probleme, wird von diesem eine die entsprechenden Abläufe sicher beherrschende Sportlerin vor den anderen als Modell ausgestellt und aufgefordert, diese in exponierter Position in der Mattenmitte vorzumachen. Die Aus- und Aufführungen des eingesetzten Vorbildes kommentiert der Trainer in Schlagworten und mit verbalen Markern wie „Arme auf Flugzeug“. Er richtet so die Aufmerksamkeit aller Zusehenden auf wichtige Phasen der Bewegung und macht mit seinen kurzen Erläuterungen zugleich das in den gekonnten Bewegungsvollzügen des Vorbildes sich zu erkennen gebende praktische Wissen für diese besser beobachtbar. Im Zusammenspiel der Vorführungen des Vorbildes und der sprachlichen Markierungen durch den Trainer wird das für den Vollzug der Übung erforderliche Wissen öffentlich und für die kollektive Aneignung und Imitation disponibel gemacht. Die übrigen Sportlerinnen werden nach der Demonstration aufgefordert, die aufgeführte Bewegungssequenz mehrere Male selbst zu vollziehen und ihre Bereitschaft und Fähigkeit, sich in das kollektiv verbindlich gemachte Bewegungsmuster einzupassen, unter den wachsamen Augen des Trainers unter Beweis zu stellen. Charakteristisch für das reihenförmige Aufwärmen sind Praktiken des Wiederholens, des multimodalen – sprachlichen, gestischen und ‚handgreiflichen‘ – Korrigierens sowie des Ausstellens, Beobachtens und Imitierens von Vorbildern. In diesen Praktiken wird den Körpern der Sportlerinnen eines spezifische und gemeinschaftliche „soziale Motorik“137 (Gebauer 2006: 121; vgl. auch Alkemeyer 2006: 268) eingeschrieben. Sie forcieren neben der Präzisierung, Vereinheitlichung und Festigung solcher Bewegungsmuster und Körperhaltungen, die auch für den Vollzug zahlreicher akrobatischer Praktiken relevant sind, auch die ein-

137 Der Begriff der sozialen Motorik stellt in Rechnung, dass Bewegungsweisen als „Körpertechniken“ im Sinne Marcel Maussʼ (1975: 201) stets sozial und kulturell erlernt und überformt sind: „Jede Technik im eigentlichen Sinne hat ihre spezifische Form. Das Gleiche gilt jedoch für jedes Verhalten des Körpers. Jede Gesellschaft [hier eher: jede Gemeinschaft; KB] hat ihre eigenen Gewohnheiten.“

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heitliche Formierung der Aufmerksamkeiten, Wahrnehmungs- und Verstehensfähigkeiten der Sportlerinnen. Beendet wird das reihenförmige Aufwärmen zumeist nach etwa fünfzehn Minuten durch die Aufforderung des Trainers an die Sportlerinnen, sich zu „verteilen“. Unverzüglich antworten diese hierauf mit der Formierung eines großen Kreises entlang der Mattenränder, in dessen Mitte sich der Trainer – als einziger stehend – positioniert. Abermals wird, wie schon mit dem anfänglichen Sitzkreis, die panoptische Ordnung einer umfassenden Sicht-, Überprüf- und Beurteilbarkeit eingerichtet (vgl. Foucault 1994b: 251ff.), in der die Sportlerinnen zunächst verschiedene Dehn-, Kräftigungs- und Koordinationsübungen am Platz ausführen müssen (Abbildung 6). Abbildung 6: Kraftübungen im Kreis

Mit der räumlichen Umordnung vollzieht sich auch ein atmosphärischer Wechsel: der Lärmpegel sinkt, die Stimmung wird konzentrierter und ernsthafter. Diejenigen Teilnehmerinnen, die sich weiterhin miteinander unterhalten oder nicht unverzüglich mit der Ausführung der von den Trainern vorgegebenen Übungen einsetzen, werden von diesen öffentlich und mitunter recht harsch angegangen, das „Quatschen“ einzustellen und mit dem Üben zu beginnen. Angefangen wird zumeist mit Übungen wie Liegestützen oder sogenannten Klappmessern zur Kräftigung der Rumpfmuskulatur. Auffällig sind auch hier wieder nahezu identische Ausführungsweisen. Liegestützen werden so beispielsweise nicht auf den Zehen, sondern auf dem Spann der gestreckten Füße ausgeführt. Individuelle Abweichungen von diesem kollektiven Ausführungsmuster veranlassen nicht nur die Trainer, sondern auch die Sportlerinnen selbst zu Kommentaren und Korrekturhinweisen:

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Die Trainerin blickt im Kreis umher und ruft dann in die Runde: „Dreimal zehn Sit-Ups, dreimal zehn Liegestütz.“ Einige sind schneller als andere. Während manche noch mit den Sit-Ups beschäftigt sind, beginnen andere bereits mit Liegestützen. Isabel sieht dabei im Vergleich mit der neben ihr angeordneten Franziska, deren Körper durch und durch gespannt ist, angestrengt und verkrampft aus. Verena, die Isabel im Kreis gegenübersitzt und sich noch an den Sit-Ups aufhält, bemerkt dies auch, ruft ihr quer über die Matte lachend zu: „Isabel, deine Füße!“ und imitiert, sobald die Angesprochene ihren Blick auf sie gerichtet hat, deren krumme Bein- und Fußhaltung. Isabel lacht ebenfalls, richtet ihre Füße neu aus und hält sie fortan so gestreckt wie der Rest der Gruppe. (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 23.9.2011) Die Anordnung der Sportlerinnen im Raum und die Ordnung einer totalen Sichtbarkeit bewirken, dass die Sportlerinnen nicht nur – wie es bei Foucault (1994b: 257) heißt – „Objekt[e] einer Information“, sondern auch „Subjekt[e] in einer Kommunikation“ sind: Alle Sportlerinnen sind in dieser nicht nur Gesehene, sondern immer auch selbst Sehende; die räumliche Ordnung fordert sie geradezu dazu heraus, einander gegenseitig zu beobachten und am Maßstab kollektiv verbindlicher Ausführungsnormen zu beurteilen und zu korrigieren. Die Vielzahl der Sehenden erschwert einzelnen Teilnehmerinnen das unbemerkte Ausscheren aus der sozialen Motorik der Gemeinschaft und steigert deren Verpflichtungscharakter noch weiter. Ebenfalls in kreisförmiger Anordnung werden am Platz dann auch solche Bewegungen eingeübt, die später in nahezu identischer Form als Bestandteile der akrobatischen Praktiken ausgeführt werden müssen, z.B. Saltos, Spagate oder Schweizer Handstände. Häufig fordern die Trainer von den Sportlerinnen eine bestimmte Anzahl an Wiederholungen dieser Übungen. Wer die geforderte Anzahl an Wiederholungen nicht erreicht oder zwischen den einzelnen Versuchen aus der Sicht der Trainer zu lange Pausen macht, wird von diesen öffentlich für diese Unkonzentriertheit oder Undiszipliniertheit getadelt oder mit der Aufforderung, zehn weitere kräftezehrende Liegestützen zu absolvieren, sanktioniert. Die meisten Sportlerinnen widmen sich sichtlich angestrengt und mit großem Eifer den gestellten Aufgaben. Die durch die vorgegebene Anzahl an Wiederholungen entstehende Rhythmisierung, die schnellen Abfolgen der Ausführungen sowie die Nähe der Körper im Raum scheinen dabei, wie auch Wacquant (2003: 119) in seiner autoethnografischen Studie zur Boxerwerdung beschreibt, Energien der Sportlerinnen freizusetzen, die „die Assimilation der Bewegungen vereinfach[en]“. Der Umstand, dass die Sportlerinnen jederzeit von allen gesehen und

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von öffentlichen Sanktionen bedroht werden, scheint sie zu besonderer Anstrengung geradezu anzutreiben. Die gemeinsame, drillartige Motorik forciert aber nicht nur eine besondere Anstrengungsbereitschaft der Teilnehmerinnen, sondern auch die performative Erzeugung und öffentliche Beglaubigung von Gemeinschaft. Ganz im Sinne eines „muscular bonding“ (McNeill 1995 zit. nach Alkemeyer 2010: 337) oder einer „kollektiven Efferveszenz“ (Durkheim 1981 zit. nach Wacquant 2003: 119) werden qua „rhythmisch gegliederte[] Kollektivbewegungen“ (Alkemeyer 2010: 337) affektive und soziale Beziehungen etabliert, die die Beteiligten körperlich-sinnlich miteinander verbindet. Manchmal kommt es vor, dass ausgewählte Sportlerinnen nacheinander von den Trainern namentlich dazu aufgefordert werden, ihnen die vorgegebene Anzahl an Wiederholungen einer Übung unter Beweis zu stellen und vorzuführen. Die Trainer wiederum kommentieren die vorgeführten Vollzüge, indem sie hervorheben, welche Phasen und Momente der Bewegung der jeweiligen Teilnehmerin bereits gut und welche ihr demgegenüber weniger gut gelängen. Die deutlich vernehmbaren Ansprachen und Kommentierungen der Trainer bewirken, dass die Angesprochene und ihr Tun in den Fokus der geteilten Aufmerksamkeit der Sportlerinnen geraten und ihre Versuche den Charakter einer öffentlichen Vorführung als Vorbild oder Negativmodell erlangen. Indem außerdem verschiedene Teilnehmerinnen nacheinander ihr Können unter Beweis stellen müssen und einer Beurteilung durch die Trainer unterzogen werden, erhält die Übung den Charakter eines direkten Vergleichs oder Wettbewerbs, welcher das Engagement der Teilnehmerinnen weiter steigert und jede darauf verpflichtet, ihr Bestes zu geben, will sie nicht zur Zielscheibe von Kritik oder vor den anderen als Schlechteste bloßgestellt werden. Die Sportlerinnen lernen auf diese Weise, ihre Stärken und Schwächen in Relation zu ihren Mitstreiterinnen einzuschätzen und sich selbst sowie die anderen anhand eines von den Trainern in ihren Kommentaren und Hinweisen öffentlich und zugleich verbindlich gemachten Beurteilungsmaßstabs und Wissens um die Idealform einer Bewegung zu beobachten und bewerten. Beendet wird die Phase des Aufwärmens durch Partnerübungen (Abbildung 7), in denen beispielsweise zuvor in zahlreichen Wiederholungen am Boden geübte Bewegungen wie Schweizer Handstände auf die gerade in die Luft gestreckten Arme einer anderen Sportlerin verlegt werden. Diese Partnerübungen ähneln den akrobatischen Praktiken strukturell bereits stark, auch wenn sie noch weniger Teilnehmerinnen involvieren. Auch bei ihnen handelt es sich um konzertierte Vollzüge, in denen die Aktivitäten einer Akrobatin das der anderen unmittelbar beeinflussen. In und mit diesen Partnerübungen werden die Körper der verteilt agierenden Sportlerinnen gewissermaßen aufeinander ‚eingestimmt‘

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und den Teilnehmerinnen unter komplexitätsreduzierenden Bedingungen die Entwicklung eines Verständnisses und Gespürs für den Körper und die Bewegungsweisen der jeweils anderen ermöglicht. Qua Wiederholung wird das verteilte Zusammenspiel nicht nur gefestigt, sondern mit jeder gelingenden Wiederholung auch die Gewissheit der Sportlerinnen darüber aktualisiert, gesteigert und körperlich-spürbar beglaubigt, dass das potenziell riskante und störanfällige Zusammenspiel auch im Rahmen der akrobatischen Praktiken gelingen kann. Abbildung 7: Partnerübungen

Die typische Anfangsphase einer Trainingseinheit sieht sich durch ein Nacheinander von Ansprachen im Sitzkreis, einem reihenförmigen Aufwärmen und Dehn-, Kräftigungs-, Koordinations- sowie individuellen und paarweisen Einturnübungen charakterisiert. Kennzeichnend für diese Phase sind wiederkehrende Trainingspraktiken, die disziplinierende, drillartige und direktive Züge tragen. Beobachtbar sind beispielsweise Praktiken der Responsabilisierung und Einschwörung, Praktiken der Wiederholung bestimmter Bewegungssequenzen, Praktiken des Korrigierens, Praktiken der Ausstellung, Beobachtung und Imitation von Vorbildern, Praktiken der öffentlichen Sanktionierung sowie Praktiken des Vergleichs, die ihre Wirkmächtigkeit aufgrund der jeweils spezifischen räumlichen Anordnungen der Sportlerinnen in Relation zueinander sowie zu den Trainern entfalten. Diese Praktiken – insbesondere jene der Wiederholung bestimmter Bewegungssequenzen, des Korrigierens sowie der Ausstellung, Beobachtung und Imitation von Vorbildern – zielen zum einen auf die Vereinheitlichung, Festigung und (Wieder-)Verfügbarmachung wichtiger Bewegungsfähigkeiten, Körpertechniken und sozialer Motoriken, die Vermittlung und Verbindlichmachung eines geteilten Wissens und Verständnisses um prägnante Stellen, Knotenpunkte und Vollzugsdetails wichtiger Bewegungssequenzen sowie die gemeinsame Ausrichtung der Aufmerksamkeiten und Wahrnehmungen der

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Sportlerinnen auf eben diese. Die Akrobatinnen lernen in der Aufwärmphase nicht nur ausgewählte Bewegungssequenzen und Körpertechniken mit nahezu schlafwandlerischer Gewissheit und Sicherheit auszuführen, sondern auch sich selbst und ihre Mitspielerinnen an den vor allem von den Trainern in Korrekturen und Erklärungen öffentlich und verbindlich gemachten Maßstäben zu beobachten und zu beurteilen. Im Rahmen dieser Formierungs- und Subjektivierungspraktiken werden die Körper, die Bewegungsrepertoires und Aufmerksamkeiten sowie die Beurteilungs-, Verstehens- und Beobachtungsvermögen der Akrobatinnen miteinander in Übereinstimmung gebracht und die Formierung von Umgangskörpern forciert, die füreinander eben aufgrund ihrer fundamentalen Übereinstimmung eine unmittelbare Verständlichkeit und Berechenbarkeit besitzen.138 Zum anderen versetzen die Praktiken der Anfangsphase – insbesondere jene der Responsabilisierung, der öffentlichen Sanktionierung und des Vergleichs – die Sportlerinnen auch in mentaler und affektiver Hinsicht in einen Zustand der Anstrengungsbereitschaft, Ernsthaftigkeit und Konzentriertheit: Während anfänglich noch eine ausgelassene Stimmung akzeptiert ist, werden im späteren Verlauf alle Übungsunterbrechungen sowie Gelächter und Unterhaltungen von den Trainern als Indizien einer unangemessenen mental-affektiven Einstellung der Unkonzentriertheit, Abgelenktheit oder mangelnden Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft ausgelegt und mitunter mit Bestrafungsmaßnahmen sanktioniert. Die beschriebenen Formierungs- und Subjektivierungspraktiken der Anfangsphase des Trainings zielen auf die Anbahnung einer körperlich-mentalaffektiven „Erledigungsbereitschaft“ (Gebauer 2009: 72) der Teilnehmerinnen und stellen diese auf grundlegende normative Anforderungen der akrobatischen Praktiken ein, deren Einübung und Optimierung im Anschluss an die Aufwärmphase angegangen wird. Zumal es sich bei diesen um hochgradig störanfällige, unsichere, abbruchgefährdete und mitunter sogar gefährliche Vollzüge handelt, ist von ihren Teilnehmerinnen gefordert, die in ihrem Rahmen auszuführenden

138 „Mit dem Ausdruck Umgangskörper“ – so schreibt Gebauer (2009: 97; kursiv i.O.) – „spiele ich auf Wittgensteins Redeweise an, beim Lernen der Sprache werde der ‚Mechanismus‘ des Kindes auf das Sprachspiel ‚eingestellt‘.“ Außerdem führt er aus: „Ebenso wie die Umgangssprache entsteht dieser [der Umgangskörper; KB] in gemeinsamen Handlungen mit der Umgebung des Subjekts und ermöglicht eine grundlegende Übereinstimmung mit der Sprachgemeinschaft [hier: der AkrobatinnenGemeinschaft; KB]. Er bildet die Basis gegenseitiger Verständlichkeit; er ist geregelt, berechenbar und vernünftig im Sinne der Gesellschaft [hier: der Gemeinschaft; KB].“ (ebd.: 96f.)

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Handlungen bzw. Bewegungen sicher und praktikadäquat zu beherrschen, die Körper ihrer Mitspielerinnen mit großer Zuverlässigkeit und möglichst blitzschnell, d.h. unabhängig von zeitaufwändigen Verständigungsprozessen, ‚lesen‘ zu können und sich nicht zuletzt selbstgewiss, konzentriert und anstrengungsbereit auf die im Zusammenspiel mit anderen Akrobatinnen zu bewältigenden Aufgaben einzulassen. 4.3.2 Das Üben und der Vollzug akrobatischer Praktiken – Fälle eins bis drei 4.3.2.1 Begründung der Fallauswahl Den Inhalt der folgenden Abschnitte bilden mikroskopische Feinanalysen dreier Trainingsepisoden der Einübung und des Vollzugs verschiedener akrobatischer Praktiken. Mit diesen soll ein Detailblick sowohl auf das konkrete Wie des Umgangs der Teilnehmer (Trainer und Sportlerinnen) mit den Anforderungen dieser Praktiken als auch auf das Wie der Subjektivierung von Mitspielfähigkeit in ihrem Rahmen gelegt werden. Die Fallanalysen zielen damit auf die Offenlegung der Mikrologik der gleichzeitigen Ausformung akrobatischer Praktiken und deren Mitspielern. Das wichtigste Kriterium für die Auswahl gerade dieser Fälle für die Feinanalysen waren die auf der Grundlage der Feldnotizen, Beobachtungsprotokolle, informellen Gespräche, Videoaufzeichnungen und -transkripte entwickelten Codes. Mit ihrer Hilfe wurden aus dem gesamten Daten- bzw. Videokorpus Aufnahmen und Sequenzen herausgefiltert, an denen sich gerade solche Subjektivierungsweisen, Vollzugsleistungen und Bewältigungsanstrengungen besonders deutlich herausarbeiten und aufschlüsseln lassen, die nicht nur im jeweils besonderen Einzelfall, sondern im Vollzug und im Üben auch anderer akrobatischer Praktiken zum Tragen kommen. Die den Feinanalysen unterzogenen Trainingsepisoden wurden zudem so ausgewählt, dass sie den Vollzug und die Einübung akrobatischer Praktiken auf unterschiedlichen Könnensniveaus exemplifizieren: In Fall eins geht es um die Einsetzung einer Novizin in eine akrobatische Praktik, in Fall zwei hilft der Trainer einer verhältnismäßig unerfahrenen Gruppe bei der Bearbeitung eines Ausführungsproblems und in Fall drei übernehmen zwei Akrobatinnen allein und selbstorganisiert die Bearbeitung eines Problems. Anhand dieser Fallauswahl sollen die verschiedenen, im Feld identifizierbaren Trainings-, Vollzugsund Formierungsprinzipien in den Blick gebracht werden. Über alle Unterschiede hinweg ist den drei Fällen gemein, dass der konzertierte Vollzug der betreffenden akrobatischen Praktik von den Teilnehmern als nicht praktikadäquat oder

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erwartungsgemäß gelingend bzw. als auf irgendeine Art und Weise ‚gestört‘ thematisiert und auf diese Diagnose mit verschiedenen Interventionen bzw. mehr oder weniger offensichtlichen Korrektur- und Reparaturmaßnahmen reagiert wird. Ausgewählt wurden die drei Fälle des (Noch-)Nicht-Gelingens auch aus folgenden Gründen: Erstens exemplifizieren sie insofern gleichsam den ‚Normalfall‘ akrobatischer Praxis, als es – wie sich im Zuge der empirischen Beobachtungen abzeichnete – nur ausnahmsweise vorkommt, dass die Akrobatinnen oder die Trainer nichts an den Ausführungen zu kritisieren oder zu korrigieren haben.139 Zweitens hängt mit der Auswahl der drei Fälle des (Noch-)NichtGelingens ein nicht zu unterschätzender Beobachtungsvorteil zusammen: Wie bereits in Kapitel drei ausgeführt wurde, werden unter den Bedingungen einer ‚Störung‘ oder Irritation die Organisationsprinzipien, Wissensfundamente sowie die Mitspielforderungen einer vollzogenen oder eingeübten Praktik, die im Gelingen implizit und gerade für den feldfremden Beobachter schwer zugänglich bleiben, von den Teilnehmern explizit, öffentlich und damit auch beobachtbar gemacht. Alle drei Fallanalysen beziehen sich zudem auf akrobatische Praktiken, in die maximal sechs (menschliche) Mitspieler involviert sind. Zumal es umso schwieriger ist, die praktischen Bewältigungsbemühungen und Interaktionen, die sich unter der Ägide der Anforderungsstruktur einer akrobatischen Praktik abspielen, beobachtend und beschreibend habhaft zu werden, je mehr Teilnehmer in diese verwickelt sind, werden personell komplexere Praktiken in den Feinanalysen vernachlässigt. Diese überfordern nicht nur die Beobachtungs- und Verarbeitungskapazitäten einer einzelnen Praxeografin, sondern stellen auch die Teilnehmer selbst – wie der folgende Auszug aus einem Beobachtungsprotokoll veranschaulichen soll – vor große Herausforderungen bei der Identifikation, Explizierung und Bearbeitung auftauchender Ausführungsprobleme:

139 Zugespitzt und zum Normalfall des Trainings wird die Krise, Unsicherheit und Gelingensunwahrscheinlichkeit vor allem auch durch den Umstand, dass die Sportlerinnen, sobald sie ein gewisses Ausführungsniveau erreicht haben, mit gesteigerten Anforderungen und Erwartungen konfrontiert werden, um die akrobatischen Praktiken qua Umarbeitungen (vgl. genauer Fall vier; Kapitel 4.3.4.2) für ein potenzielles Publikum und Wertungsgericht spektakulärer zu machen. Diese Steigerungslogik, die dieses erhöhte Maß an Gelingensunwahrscheinlichkeit mit sich bringt, ist nicht nur ein konstitutives Moment des sportakrobatischen Trainings, sondern jedweder (leistungs-) sportlicher Trainingspraxis.

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Die Trainerin ruft laut: „So, den Franziska-Salto turnen wir jetzt ein!“. Schnell formieren sich zwei parallele Reihen aus je fünf Sportlerinnen, die einander ihre Gesichter zuwenden und in deren Mitte sich die dem akrobatischen Element seinen Namen gebende Franziska stellt. Diese wird von den zwei einander gegenüberstehenden und mittig in den Reihen angeordneten Sportlerinnen unter den Achseln und an den Armen gefasst. Auf diese Weise fixiert, springt sie hoch und streckt ihre Füße nach hinten in die Luft, wo diese schnell von zwei weiteren Sportlerinnen ergriffen werden. An Händen und Füßen gehalten, wird Franziska, deren Bauch nun zum Boden zeigt, zunächst nach hinten, dann nach vorn und oben geschwungen. Die zwei Akrobatinnen lassen dann ihre Arme los, so dass sie für einen minimalen Moment nur an den Füßen gehalten senkrecht über dem Boden steht. Dann fällt sie mit dem Rücken auf die ausgestreckten Arme der hinteren vier Sportlerinnen, die sie sofort wieder in die Luft katapultieren, von wo aus sie mit dem Bauch voran in die Arme der vorderen vier Akrobatinnen fällt. Diese Vorübung wird zügig dreimal wiederholt, bevor die Trainerin zum Salto aufruft. Franziska wird erneut geschwungen. Als sie nun aus ihrer Rückenlage senkrecht über dem Boden steht, setzt sie auf ein „Hepp!“ der Trainerin zu einem dreiviertel Vorwärtssalto an, nach dessen Ausführung sie rücklings auf den Armen der vorderen vier landet. Der erste Versuch scheint gut gelungen. Beim zweiten Versuch jedoch verweigert Franziska den Salto mit einem kurzen, spitzen Schrei. Die Trainerin bittet daraufhin einige Schwingerinnen und Werferinnen darum, die Plätze zu tauschen. Aber auch beim nächsten Versuch gelingt es Franziska nicht, den Salto wie vorgesehen und sonst üblich auszuführen. Sie wird nur knapp aufgefangen und schlägt mit den Beinen auf die Matte. Während ich erschrocken zusammenzucke, ruft der Trainer sauer: „Das kann doch nicht angehen. Das hat doch keinen Wert.“ Statt allerdings konkrete Verbesserungsvorschläge anzubringen, werden noch einmal die Positionen der Schwingerinnen und Werferinnen gewechselt. Aber auch die folgenden drei Versuche wollen nicht recht gelingen. Die Trainerin wirkt ratlos und weiß sich nur noch mit der Anweisung zu helfen: „So, jetzt muss aber nochmal mit Salto, sonst geht das nicht.“ […] Im Anschluss an die Trainingseinheit frage ich die Trainerin, was heute das Problem beim Franziska-Salto war. Sie erklärt mir, dass zwei der normalerweise Beteiligten fehlten und ersetzt werden mussten. Den Salto beschreibt sie mir als ein „besonders fieses Teil“, in dem es unmöglich sei, Fehler zu bemerken, weil zu viele Sportlerinnen an ihm beteiligt sind. Alle Beteiligten, so

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die Trainerin weiter, seien dabei derartig voneinander abhängig, dass es für Einzelne schwierig sei, das Element zu steuern oder Fehler zu verorten. In kleineren Elementen sei dies einfacher, weil es weniger Variablen gäbe, die sich auf die Bewegung auswirkten. (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 4.6.2010) Die komplexe und übersummative Anforderungsstruktur und Vollzugslogik der Salto-Praktik führen dazu, dass sowohl dem Trainer aus einer Außen- als auch der Trainerin sowie den Sportlerinnen aus einer Innenperspektive die Diagnose und Benennung von Diskrepanzen zwischen den aktuellen Versuchen und der praktikadäquaten Ausführung unmöglich sind. Alle stehen der offenbaren Eigendynamik der komplexen konzertierten Praktik sprachlos gegenüber; die ihr zugrundeliegenden Organisations- und Vollzugsprinzipien scheinen den einzelnen Beteiligten unklar und verbleiben im Aggregatzustand des Impliziten. Zumal mit diesem Ausbleiben von Benennungen oder anderen Weisen der Öffentlichund Kenntlichmachung konkreter Abweichungen und erforderlicher Neujustierungen sowie der Explikation des Ausführungswissens der Teilnehmer eine entscheidende Ressource für die Beobachtbarmachung der Anforderungen der betreffenden Praktik suspendiert ist, liefert die Sprachlosigkeit der Teilnehmer ein weiteres Argument gegen die Berücksichtigung personell und strukturell hochkomplexer akrobatischer Elemente in den Fallanalysen.140 Ausgewählt wurden die Trainingsepisoden für die mikroskopischen Feinanalysen zudem in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit solcher Videoaufzeichnungen, die es erlaubten, a) möglichst detailliert bzw. mikroskopisch und b) möglichst lückenlos zu beschreiben und zu analysieren, wie der Umgang mit den Anforderungen einer akrobatischen Praktik sowie die Bewältigung von Unsicherheiten erfolgen und in welchen Schritten sich die Subjektivierung von Mitspielfähigkeit sowie die Bearbeitung von Ausführungsproblemen vollziehen. Insbesondere die frühen Videoaufnahmen erwiesen sich für die Durchführung von

140 Überaus interessant ist an dem empirischen Beispiel jedoch, dass – zumal eine Versprachlichung der Ausführungsprobleme angesichts der Komplexität der Praktik unmöglich ist – Lösungen praktisch erprobt, erarbeitet und ausgehandelt werden. Es handelt sich bei diesem Ausprobieren und Aushandeln im Tun um einen Modus der Reflexion, der mit Bourdieu (2001: 208) als praktisches Reflektieren oder mit Schön (2009: 49) als reflection-in-action umschrieben werden könnte (vgl. Kapitel 1.2.4). Im Rahmen der dritten Fallanalyse (Kapitel 4.3.2.4) wird genauer auf unterschiedliche Modi und Praktiken des Reflektierens eingegangen.

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mikrologischen und transsequenziellen Analysen als recht ungeeignet: Gekennzeichnet sehen sich die frühen Aufzeichnungen nämlich zum einen durch totale Einstellungen sowie zum anderen durch eine schnelle Abfolge unzusammenhängender Einzelgeschehnisse als Produkt zahlreicher Wechsel des Aufnahmefokus. Sie legen in anschaulicher Weise Zeugnis davon ab, dass mir gerade in den Anfangsphasen des Feldaufenthalts und der Kameranutzung sämtliche Geschehnisse in der Halle gleichermaßen interessant und relevant erschienen und ich aus Angst, etwas Wichtiges zu verpassen, entweder die gesamte Halle bzw. Mattenfläche gefilmt oder permanent in dieser umhergeschwenkt habe. Erst im Pool des im späteren Verlauf des empirischen Forschungsprozesses entstandenen Videomaterials sind für eine mikrologische und lückenlose, transsequenzielle Analyse praktischer Zusammenhänge und Geschehens- bzw. Aktivitätenverkettungen besser geeignete Aufzeichnungen zu finden.141 Im Gegensatz zum frühen bietet der spätere Videokorpus eine Vielzahl von Aufzeichnungen, die es erlauben, Gruppen von Akrobatinnen in Großaufnahmen, die einen genauen Blick auch etwa auf deren Mimik, Gestik und unauffällige Körperbewegungen ermöglichen, und unter Nutzung des Audiokanals, der den Mit- bzw. Nachvollzug von sprachlichen Äußerungen gewährleistet,142 bei ihren sich über verschiedene Situationen erstreckenden Versuchen, eine akrobatische Praktik trotz Unsicherheiten gemeinsam zu bewältigen oder sich wechselseitig auf deren Anforderungen einzustellen und als kompetente Teilnehmerinnen hervorzubringen, über die Schultern zu schauen.

141 Im Wandel des Videokorpus widerspiegelt sich dabei der von mir selbst im Zuge meiner Forschungstätigkeit durchlaufene Subjektivierungsprozess (vgl. dazu auch Kapitel 3.2.6): Erst allmählich lernte ich beispielsweise dem anfangs dominanten Impuls zu widerstehen, mich durch die Vielzahl ‚irgendwie auch interessanter‘ Nebenschauplätze von einer konsequenten Verfolgung einer räumlich und personell begrenzten Geschehensepisode ablenken zu lassen und traute mich, meine anfangs bevorzugte Position am Hallenrand aufzugeben und räumlich näher an die Akteure und die mich interessierenden Praktiken heranzurücken. 142 Die diesem Selektionskriterium zugrundeliegende Unterstellung, dass Mimik, Gestik, Bewegung und Sprache eine wichtige Bedeutung für die Organisation und den Vollzug der akrobatischen Praktiken zukommt, gründet zum einen auf gewonnen theoretischen Einsichten sowie zum anderen auf umfangreichen Beobachtungen des Feldes und der Gruppe.

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Die folgenden Fallstudien sind nach den beobachteten und miteinander zusammenhängenden Geschehenssequenzen143 in verschiedene Abschnitte unterteilt. Jeder Abschnitt beginnt mit einer – für eine bessere Unterscheidbarkeit kursiv gedruckten – beschreibenden Darstellung der Beobachtungen, der sich dann unter einer Zwischenüberschrift eine stärker theoretisierende Interpretation anschließt.144 4.3.2.2 Fall eins – Die Organisation eines Eintritts Die erste Trainingsepisode steht stellvertretend für vom Trainer koordinierte Prozesse der systematischen Anbahnung von Mitspielfähigkeit im Rahmen einer akrobatischen Praktik von gewissermaßen ‚ganz unten‘. Im Fokus der Fallbeschreibung und -analyse steht eine junge Akrobatin, die erstmalig in die akrobatische Praktik des geworfenen Strecksaltos eintritt. Sie muss lernen, im Zusammenspiel mit vier älteren Mitspielerinnen, die sie werfen und auffangen, und allesamt bereits über praktische Erfahrungen mit der betreffenden Praktik verfügen, eine gestreckte Rückwärtssalto-Bewegung auszuführen. Der Analyseschwerpunkt liegt bei diesem ersten Fall auf den Fragen danach, wie und in welchen Schritten bzw. „Qualifizierungsstufen“ (Scheffer 2013: 95) die „deklariert didaktische“ (Schindler 2011b: 336) Einweisung der neuen Mitspielerin erfolgt, sich die Subjektivierung von Mitspielfähigkeit im Falle der – aus der Perspektive der akrobatischen Praktik – unerfahrenen Akrobatin vollzieht und welche Fähigkeiten es sind, die dieses allmähliche Mitspielen-Können in der Praktik und im Team verbürgen. Für die Praktik des geworfenen Strecksaltos sind folgende Bewegungsvollzüge charakteristisch: Zwei voreinander stehende Sportlerinnen fassen sich an den Händen und bilden auf diese Weise eine Standfläche für eine dritte Sportlerin. Von dieser Fläche aus wird die Dritte – mit der Hilfe zwei weiterer Akrobatinnen, die hinter den anderen beiden Werferinnen stehen und ihre Hände unterstützend unter deren Hände legen – in die Luft geworfen, um einen gestreckten

143 Eine Sequenz wird durch Geschehnisse konstituiert, die sich durch einen spezifischen thematischen Fokus und eine spezifische Konstellation an (menschlichen und nichtmenschlichen) Partizipanden auszeichnen. Bei einer Episode handelt es sich um einen Zusammenhang oder eine Verkettung aufeinander aufbauender Sequenzen. 144 Keineswegs soll mit dieser Differenzierung von Beschreibung und Analyse unterstellt werden, dass es ‚reine‘, d.h. theoriefreie, Beschreibungen gibt. Schon die Beschreibungen erfolgen aus einer bestimmten, theoretisch informierten und damit zwangläufig immer auch partikularen Perspektive.

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dreiviertel Rückwärtssalto auszuführen. Der Salto endet mit einer Bauchlandung auf den miteinander verschränkten Unterarmen der vier werfenden Sportlerinnen (Abbildungen 8 bis 10). Abbildungen 8–10: geworfener Strecksalto

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Emma, Lisa, Diana und Maike führen mit Hanna eine Übung aus, von der ich aufgrund von Beobachtungen früherer Trainingseinheiten und anderer Gruppen weiß, dass sie der Vorbereitung auf das akrobatische Element eines geworfenen Strecksaltos dient. Hanna, die als jüngste Akrobatin der Gruppe den Salto auszuführen haben wird, ist in der heutigen Trainingseinheit erstmalig an dem Element beteiligt. Geübt wird wohl deswegen vor einer dicken Weichbodenmatte, neben der ein hoher Kasten aufgebaut ist. Hanna steht in der vorbereitenden Übung zunächst aufrecht auf Lisas und Emmas Händen. Lisa instruiert Hanna: „Arme Riese, fest!“. Hanna streckt ihre Arme senkrecht in die Luft und wird im aufrechten Stand von Emma und Lisa vorsichtig etwas vor und zurück sowie auf und ab bewegt (Abbildung 11). Lisa fordert Hanna dabei mehrmals auf, „fest“ zu sein und erinnert sie so an den Aufbau und den Erhalt von Körperspannung. Abbildung 11: vereinfachte Vorübung

Nach einigen Auf-und-Ab- sowie Vor-und-Zurück-Bewegungen wird die Übung beendet und mit einer neuen begonnen. Auch bei dieser steht Hanna zunächst aufrecht auf Emmas und Lisas Händen und wird von Lisa erinnert: „Und Spannung!“ Die hinter Hanna stehende Maike gibt dieser doch einen kleinen aufmunternden Klaps auf den Hintern und positioniert sich dann zusammen mit Diana auf der Weichbodenmatte vor den drei anderen Sportlerinnen. Auf Lisas Kommando gehen diese und Emma zunächst gemeinsam in die Knie und senken Hanna im aufrechten Stand ab. Hanna führt zeitgleich die Arme vor ihrem Körper nach unten. Dann richten sich Emma und Lisa wieder auf, heben ihre Arme und werfen Hanna in gestreckter und aufrechter Haltung schwungvoll nach vorn oben in die Luft (Abbildung 12). Im Flug streckt Hanna die Arme waagerecht aus, so dass sie an beiden Armen von Maike und Diana aufgefangen werden kann. Die Übung wird noch einmal wiederholt. Während Hannas Fluges bewegen Maike und Diana sich ihr mit ausgestreckten Armen entgegen, Lisa und

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Emma gehen ihr nach dem Abwurf hinterher. Während und selbst noch nach ihrer Landung auf der Weichbodenmatte wird Hanna von allen vier Akrobatinnen festgehalten (Abbildung 13). Die gleiche Übung wird ein weiteres Mal wiederholt, bevor alle fünf Akrobatinnen abwartend ihren Blick auf den Trainer richten, der mit einer anderen Gruppe ebenfalls den geworfenen Strecksalto übt. Abbildungen 12 und 13: weitere Vorübung

Das Vorspiel: Praktiken der Einstellung

Beim geworfenen Strecksalto handelt es sich nach Einschätzungen sowohl der Trainer als auch der Sportlerinnen um eine der schwierigsten und gefährlichsten akrobatischen Praktiken. Insbesondere an die Geworfene sind hohe Anforderungen gestellt. Die als Geworfene in die Praktik involvierte Akrobatin muss nicht nur einen Rückwärtssalto beherrschen, sondern sich von ihren Mitspielerinnen in eine Kopfüber-Bewegung werfen und sich im Anschluss an diese auffangen lassen. Sie ist gefordert, die Kontrolle über ihren eigenen Körper – zumindest partiell und temporär – an ihre Mitspielerinnen zu delegieren. Hanna muss sich für

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die Ausführung des geworfenen Saltos gleichsam aktiv passiv machen und sich ihren Mitspielerinnen damit gewissermaßen ‚ausliefern‘. Zugleich können die übrigen vier Teilnehmerinnen die ihnen abverlangten Aufgaben – das kontrollierte Abwerfen und sichere Auffangen der Jungen – nur unter der Voraussetzung zuverlässig erfüllen, dass sich diese ihnen tatsächlich in der vorgesehenen Weise überlässt und sich bzw. ihre Bewegungen nicht etwa durch einen selbst initiierten Absprung oder die Aufgabe ihrer Körperspannung unkalkulierbar macht. Der Vollzug der komplexen und gefährlichen konzertierten Praktik entzieht sich sowohl der Kontrolle der Geworfenen als auch der Kontrolle der Werfenden allein, wobei die relative Unbeherrschbarkeit der praktischen Vollzüge durch einzelne Beteiligte wiederum eine fundamentale Unsicherheit und Ungewissheit des Gelingens bedingt: Keine der Teilnehmerinnen kann je sicher wissen, ob sich ihre Mitspielerinnen in der erwarteten und erforderlichen Weise verhalten werden. Diese Gelingensunsicherheit wiederum verlangt es – wie eine der Beteiligten die entscheidende Anforderung der Salto-Praktik in einem Interview auf den Punkt bringt – allen Teilnehmerinnen ab, aufeinander zu vertrauen: Emma: „Also, was wichtig oder auch schwer zu erlernen ist, ist das Vertrauen, dass Hanna merkt, ok, auch wennʼs grottig ist, dass wir sie trotzdem fangen, dass sie sich auf uns verlassen kann. Und wir müssen uns aber wiederum auch auf Hanna verlassen können. Dass sie da nicht den Komplettausfall hat. Weil sozusagen wir dann auch drauf reagieren müssen. Also das Vertrauen und die turnerischen Sachen, die da wichtig sind, dass man sich auf so viele Sachen gleichzeitig konzentrieren muss.“ (Interview vom 18.3.2012)

Hiermit tritt ein wechselseitiges Vertrauen als grundlegendes Organisationsprinzip und eine fundamentale Vollzugs- sowie Mitspielvoraussetzung der akrobatischen Praktik in den Blick. Vertrauen erweist sich unter den Bedingungen „unvollständigen Wissens“ (Endreß 2002: 29), der „Komplexität, Ungewissheit und Unsicherheit“ (ebd.: 43) sowie der Gefahr als eine unabdingbare Ressource für die Bereitschaft aller Sportlerinnen – die der Neuen und Unerfahrenen im Besonderen –, sich überhaupt auf den Vollzug und die Einübung der akrobatischen Praktik einzulassen. In den in der ersten Sequenz des Falls beobachtbaren Vorübungen erfolgt die Einstellung der neuen Teilnehmerin und ihrer Mitspielerinnen auf dieses umrisshaft skizzierte Anforderungsprofil der schwierigen und gefährlichen Salto-Praktik. Die Vorübungen reduzieren deren Ausführungskomplexität und Gelingensunwahrscheinlichkeit auf ein Minimum und ermöglichen eine angstfreie Heranführung der unerfahrenen Akrobatin an grundlegende Ausführungsprinzipien unter vereinfachten und durch die Einbeziehung des nichtmenschlichen Partizipanden Weichbodenmatte zusätzlich entriskierten Bedin-

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gungen. Durch die Wiederholung bestimmter Bewegungssequenzen des Aufund-ab-bewegt-Werdens sowie des Gestreckt-in-die-Luft-geworfen-und-wiederaufgefangen-Werdens, welche durch die ebenfalls repetitiv geäußerten sprachlichen Erinnerungen und Ermahnungen zur Einnahme einer aufrechten und gespannten Körperhaltung flankiert werden, wird der Körper der neuen Mitspielerin in jene feste „Erledigungsbereitschaft“ (Gebauer 2009: 72) versetzt, die eine konstitutive Voraussetzung für die spätere kontrollierte Realisation des Rückwärtssaltos bildet. Überdies dienen die Vorübungen insbesondere den Akrobatinnen Hanna, Emma und Lisa der Findung eines gemeinsamen Bewegungsrhythmusʼ als konzertiert agierender Kollektivkörper. In der Wiederholung der Übungen schwingen und stimmen sich ihre individuellen Körper aufeinander ein, entwickeln die Sportlerinnen im Sinne einer wechselseitigen solidarischen Einleibung (vgl. Kapitel 1.2.4) ein Gespür füreinander und loten im Zusammenspiel den richtigen Zeitpunkt für einen sicheren Abwurf der Novizin aus.145 Für die beiden Werferinnen gilt es dabei, den Körper ihrer unerfahrenen Mitspielerin unter den Vorzeichen der Anforderungsstruktur der Praktik anhand der qua Kontakt zwischen den eigenen Hand- und Hannas Fußflächen körperlich vermittelten Informationen im Hinblick auf dessen Erledigungsbereitschaft lesen zu lernen und die Initiierung der kollektiven Bewegung an eben diesen zu orientieren. Für Hanna wiederum gilt es, sich dem von den Werferinnen vorgegebenen Rhythmus körperlich anzupassen und sich von diesen in gespannter Haltung mitbewegen zu lassen. Dieses Attunement des von den zwei Werferinnen und der Geworfenen konstituierten Kollektivkörpers ermöglicht die Stabilisierung seines Zusammenspiels vor und während des Abwurfs und stiftet aufgrund seines repetitiven Charakters zugleich Sicherheit und Vertrauen der Geworfenen und Werfenden ineinander und das konzertierte Tun: Mit jedem gelingenden Versuch bestätigen sich die Teilnehmerinnen wechselseitig körperlich ihre Zuverlässigkeit und beglaubigen die Werferinnen ihrer neuen Mitspielerin spürbar ihre Vertrauenswürdigkeit. Die Vorübungen der ersten Qualifizierungsstufe konstituieren Praktiken der Einstellung. Diese zielen erstens darauf, den Körper der Novizin in eine feste, gespannte und gestreckte Haltung zu versetzen. Zweitens dienen sie der wechselseitigen Einstimmung der drei Protagonistinnen aufeinander sowie der Koordi-

145 Die übrigen beiden Werferinnen bleiben aus diesem kollektivkörperlichen Einschwingen ausgeschlossen, weil ihnen in der Phase des Abwurfs im Gegensatz zu den vorderen beiden Werferinnen keine initiative, sondern eine lediglich unterstützende Funktion zukommt.

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nation ihres konzertierten Zusammenspiels als Kollektivkörper. Und drittens forcieren sie die performative Erzeugung und Bestätigung von Vertrauen(swürdigkeit). Im Rahmen dieser Einstellungspraktiken wird insbesondere die noch unerfahrene Teilnehmerin auf eine solche Weise formatiert und bearbeitbar gemacht, dass sie im nächsten Schritt unter schwierigeren Bedingungen weiter in die anvisierte akrobatische Praktik hineingebildet werden kann. Kurze Zeit später nähert sich der Trainer der Gruppe, tritt hinter den Kasten, der vor der Weichbodenmatte steht und legt sich mit dem Oberkörper auf diesem ab. Alle fünf Akrobatinnen richten den Blick auf ihn und positionieren sich im Halbkreis um ihn herum (Abbildung 14). Er richtet sein Wort an Hanna und ermahnt sie, von nun an wirklich konzentriert bei der Sache und nicht albern zu sein. Abbildung 14: Hinzukommen des Trainers

Dann erklärt er ihr die auszuführende Bewegung: „Wenn du springst,“ – er richtet seinen Oberkörper auf und macht ihr das Gemeinte durch Armbewegungen verständlich – „dann stehn,“ – er führt seine Arme gestreckt senkrecht in die Luft – „hepp,“ – er senkt seine Arme in einer schnellen Bewegung vor dem Körper ab, um sie sogleich schwungvoll wieder gestreckt nach oben zu bringen – „hepp“ – er bringt die gestreckten Arme nun in eine waagerechte Haltung. Er betont, dass ein fester Stand dabei „absolut wichtig“ sei. Im Anschluss an seine an Hanna gerichtete Erklärung springt er mit einem großen Satz auf den Kasten. Emma und Lisa bringen sich in Position und fassen sich an den Händen. Allerdings lösen sie ihren Griff wieder, als Hanna einräumt, Angst zu haben und nicht zu wissen, wie sie ihre Arme halten und führen solle. Diana führt ihre Arme in die Luft und setzt zu einer Erklärung an, die sie jedoch sofort unterbricht, als der auf dem Kasten kniende Trainer eine abwinkende Handbewegung in ihre Rich-

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tung macht und selbst das Wort ergreift: „Du machst so“ – er streckt Arme nach oben – „und wenn du sie oben hast, nimmst du sie“ – er bringt die Arme in eine waagerechte Haltung – „auf Flugzeug“. Diana fasst Hanna an den Rücken und flüstert ihr zu, dass sie dies in den Vorübungen „aus dem Bauch heraus“ richtig gemacht habe. Hanna jedoch zögert immer noch. Diana fasst sie an der Schulter und schiebt sie leicht in Position. Der Trainer fährt sie an: „Hanna, Hanna! Stopp! Mit so 'nem halben Mist fange ich erst gar nicht an.“ (Abbildung 15) Abbildung 15: Ermahnung zu Ernsthaftigkeit

Nach der Ermahnung durch den Trainer springt Hanna auf Emmas und Lisas Hände. Diana und Maike stellen sich hinter Lisa und Emma und legen ihre Hände unter die anderen Handpaare. Der Trainer wendet sich an Hanna: „Fest, Spannung, hepp.“ Hanna richtet sich auf. Der Trainer berührt sie zunächst mit seinen Händen an einem Arm (Abbildung 16). Dann berührt er sie leicht an Bauch und Rücken (Abbildung 17). Abbildung 16: Berührung am Arm zur Vorbereitung

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Abbildung 17: Berührung an Bauch und Rücken

Auf Lisas Kommando wird die gemeinsame Bewegung begonnen. Während des Vollzugs des Saltos wird Hanna vom Trainer im Rücken abgestützt und festgehalten, so dass dieser gezwungen ist, die Bewegung zumindest in Ansätzen mitzuvollziehen (Abbildung 18). Hanna verzieht, als sie im Anschluss an den Salto bäuchlings auf den Händen der vier Sportlerinnen zum Liegen gekommen ist, das Gesicht, richtet ihren Blick sofort auf den Trainer und will von ihm wissen, wie ihr der Salto gelungen sei. Der Trainer jedoch verweigert die Einschätzung und sagt, dass dies egal sei, weil sie mit dem Üben ja gerade erst anfingen. Dann fordert er Emma, Lisa und Hanna auf, eine der Vorübungen zu wiederholen. Abbildung 18: Körperlicher Eingriff des Trainers

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Fremdführung

Mit seinem Dazukommen rückt der Trainer in das Zentrum des Übungsgeschehens und übernimmt die Führung über die Hineinbildung der neuen Mitspielerin in die akrobatische Praktik. Diese Führungsübernahme durch den Trainer ereignet sich fraglos und unter selbstverständlicher Anerkennung und Bestätigung von Seiten der Sportlerinnen. Sie erfolgt gemäß der Organisationsstruktur der Praktik des sportakrobatischen Training sowie in Einklang mit institutionell und formal auf Dauer gestellten Hierarchien und ungleich verteilten Deutungshoheiten, welche durch das Verhalten der Sportlerinnen zugleich praktisch beglaubigt und verfestigt werden. Die kollektiv geteilte Erwartung der Übernahme von Kontrolle durch den Trainer wird zu Beginn der Sequenz etwa an den wechselseitigen Positionierungen aller Beteiligten in Relation zueinander erkennbar: Mit betont lässigem und dabei überlegenem Gestus nimmt der Trainer den Kasten in Beschlag, zieht auf diese Weise eine erkennbare Trennlinie zwischen sich und den ihn erwartungsvoll anblickenden Akrobatinnen ein und ergreift das Wort. Im weiteren Verlauf zeigt sie sich daran, dass er über weite Strecken der einzige ist, der sich mit Instruktionen an die Novizin wendet und eine der Akrobatinnen, als diese sich anschickt, jener eine bestimmte Bewegungssequenz zu erklären, unterbricht und selbst Zuständigkeit für die Erläuterung beansprucht. Insbesondere die letzte Aktion, die Unterbrechung der Sportlerin durch den Trainer, macht auf die Bedeutung von Machtverhältnissen in Praktiken aufmerksam: Der Umstand, dass Praktiken für ihre Teilnehmer verschiedene (Mitspiel-) Positionen bereithalten (vgl. Reckwitz 2006: 40; Schatzki 2002: 18f.),146 von denen angenommen werden kann, dass sie mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten verbunden sind, bringt es mit sich, dass manche Mitspieler etwa schon aufgrund institutionalisierter Statushierarchien über weitaus größere Möglichkeiten verfügen, auf den Fortgang und die Ausformung einer Praktik oder die Gestaltung eines Subjektivierungs- und Einsetzungsprozesses Einfluss zu nehmen. Der Trainer wendet sich in dieser zweiten Sequenz des Falles fast exklusiv der unerfahrenen Mitspielerin zu, für welche mit seinem Hinzutreten offenkundig eine Art Rahmenwechsel147 stattfindet. Seine Präsenz sowie die Einbezie-

146 Diese Formulierung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die verschiedenen Mitspielpositionen von Praktiken immer auch erst praktisch hervorgebracht werden. Qua wechselseitige Positionierungen und Adressierungen der Mitspieler von Praktiken formen sich Positionen aus und verfestigen sich (vgl. auch Fall zwei; Kapitel 4.3.2.3). 147 Goffman versteht unter Rahmen Interpretationsschemata zur Definition einer Situation und Klärung der Frage: „Was geht hier eigentlich vor?“ (Goffman 1980: 35). Er

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hung des großen Kastens scheinen ihr aufgrund ihres Vorwissens um die typische Gestaltung von Trainingsprozessen zur Einsetzung von Novizinnen in die betreffende Praktik zu signalisieren, dass es nun ernst wird und sie den Salto auszuführen hat. Trainer und Kasten zeigen ihr die Ernsthaftigkeit der neuen Situation an. Hatte Hanna in der ersten Sequenz noch gelöst und souverän gewirkt, ist sie nun zögerlich und so unsicher, dass sie sich selbst an Bewegungsabläufe, die sie im Rahmen der Vorübung noch – wie ihr eine ihrer Mitspielerinnen aufmunternd bestätigt – „aus dem Bauch heraus“ richtig ausgeführt hatte, nicht erinnert und deren Details in Erfahrung zu bringen versucht. Der Trainer versteht die Fragen der Novizin offenkundig als ein Misslingen der von ihm und vom Kasten ausgehenden Adressierung und deutet sie als einen Mangel an Engagement: Er kritisiert Hanna als nicht angemessen konzentriert und ermahnt sie zu Ernsthaftigkeit. Seine ermahnenden Ansprachen machen dabei einen wichtigen Aspekt der impliziten Normativität bzw. teleoaffektiven Organisiertheit der anvisierten akrobatischen Praktik explizit und zielen darauf, die Affekte oder mental-affektiven Orientierungen der unerfahrenen Teilnehmerin in entsprechender Weise auszurichten. Abgesehen von seinen ermahnenden Ansprachen bemüht sich der Trainer im Vorfeld des konzertierten Vollzugs der Salto-Praktik darum, der neu in diese eintretenden Akrobatin wesentliche jener Anforderungen und Ausführungsprinzipien, die die Praktik für die von ihr einzunehmende Position impliziert, mittels sprachlicher Benennungen148 und körperlicher Demonstrationen verständlich zu machen. Er hebt damit für die neue Teilnehmerin ausgewählte Phasen und Momente der von ihr erwarteten Bewegungsvollzüge als salient hervor, richtet ihre Aufmerksamkeit auf diese und strukturiert sie auf praktikspezifische Weise. Mit seinen – multimodalen – Instruktionen macht er das die von ihr auszuführenden

betont, dass Situationen und Geschehnisse nicht an sich sinnvoll seien, sondern ihren spezifischen Sinn erst im Rahmen kollektiver Erwartungs- und Ordnungsmuster bzw. spezifischer Wissens- und Deutungsvorräte erhielten. 148 Er greift zumeist auf schlagwortartige sowie metaphorische oder lautmalerische Äußerungen wie „hepp“, „fest“ oder „Arme auf Flugzeug“ zurück. Sprachliche Instruktionen werden im Rahmen praxeologischer Arbeiten zumeist als verbale Form der Kommunikation qualifiziert und analytisch – sowie mitunter auch empirisch – von körperlicher oder somatischer Kommunikation abgegrenzt (vgl. z.B. Schindler 2011a). Sprachliche Instruktionen wie „Flugzeug“, „fest“ oder auch „hepp“ scheinen jedoch weniger ein sprachlich-diskursives Verstehen anzusprechen, als ihre spezifische Bedeutung gerade dadurch zu erhalten, dass sie sich an den Körper richten und einen spezifischen körperlichen Zustand induzieren (sollen).

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Bewegungen organisierende Wissen explizit und dieses in der Explizierung zugleich für die Aneignung verfügbar. Unmittelbar vor dem ersten konzertierten Vollzug des geworfenen Strecksaltos berührt der Trainer die Novizin an verschiedenen Körperstellen, markiert damit bestimmte Punkte ihres sich in Formierung befindlichen Umgangskörpers, richtet mit diesen handgreiflichen Instruktionen ihre spürbare Aufmerksamkeit unter den Vorzeichen der angestrebten Salto-Praktik aus und überprüft dabei zugleich ihre körperliche Erledigungsbereitschaft. Später greift er aktiv auch in Bewegungsabläufe ein und übernimmt damit eine wichtige Aufgabe für den ersten Vollzugsversuch der Praktik: Der Funktion von Stützrädern vergleichbar, dient der Trainer insbesondere Hanna als eine stabilisierende Instanz, welche sie selbst nach und nach zu inkorporieren hat. Das Eingreifen des Trainers ermöglicht es den Akrobatinnen überhaupt erst, gemeinsame Erfahrungen zu sammeln. Es vermittelt allen Beteiligten Sicherheit für die konzertierte Ausführung. Gleichzeitig erhält der Trainer aufgrund seines körperlichen Eingriffs nicht nur visuell, sondern auch körperlich-spürbar Rückmeldungen über die Qualität der aktuellen Realisierung und dessen Abweichung von der vorgesehenen (Ideal-) Form, auf deren Grundlage er über den weiteren Fortgang des Übungsprozesses entscheidet und einen Rückgang auf die erste Qualifizierungsstufe beschließt. An der zweiten Sequenz des Falls tritt die Bedeutung der Fremdführung für Subjektivierungsprozesse bzw. Akte der Formierung Hannas zu einer (zunehmend) kompetenten Mitspielerin der Praktik deutlich hervor. Der Trainer übernimmt hier im wahrsten Sinne des Wortes tragende Funktionen. Er ist derjenige, der die neue Teilnehmerin in die Praktik einweist, ihr mittels ermahnender Ansprachen, gestischer und sprachlicher Erklärungen, körperlicher Demonstrationen, Berührungen und handgreiflicher Instruktionen ein Wissen um wichtige Anforderungen der akrobatischen Praktik vermittelt und sie auf diese einstellt. Nun agieren wieder nur Lisa, Emma und Hanna. Die Vorübung, in der Hanna von Lisa und Emma im aufrechten Stand auf und ab bewegt wird, wird mehrmals wiederholt. Hanna wird dabei vom Trainer an der Hand gehalten und mit den Worten „fest“ und „hepp“ angesprochen. Schließlich diagnostiziert er: „Das Problem ist nicht, dass sie das nicht kann, oder ihr das nicht könnt. Das Problem ist das Zusammenspiel, das Timing.“ Ohne dies näher zu erklären, fordert er alle Sportlerinnen dazu auf, noch einmal den geworfenen Strecksalto auszuführen. Mit dem ersten Versuch scheint der Trainer sehr zufrieden: „Jawoll. Sehr gut.“ Diana und Maike sind beim Versuch, Hanna zu fangen, miteinander kollidiert. Alle lachen, nur Hanna schaut etwas verunsichert. Aufmunternd tätschelt Maike

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ihre Wange. Der Trainer betont ernst, wie wichtig es sei, dass Hanna nach dem Salto unter allen Umständen gefangen wird. Dann fordert er die Sportlerinnen einem weiteren Salto-Versuch auf. Erneut wird der Salto erst begonnen, nachdem der Trainer Hanna mit seinen Händen an Armen, Bauch und Hintern berührt und eine Hand zur Unterstützung an ihrem Rücken platziert hat. Im Anschluss an den Versuch verharrt der Trainer zunächst eine kurze Zeit stumm auf dem Kasten und scheint nachzudenken. Währenddessen erklärt Hanna lachend, dass sie zu früh nach hinten gesprungen sei und den Salto zu früh eingeleitet habe. Gleichzeitig führt sie ruckartige Armbewegungen nach oben-hinten aus. Der Trainer regt dann an, die Vorübung zu wiederholen und erklärt Hanna, worauf sie bei dieser besonders achten solle: „Noch einmal nur bei denen draufstellen und die Bewegung mitmachen. Hepp, in die Spannung rein. Hepp, in die Spannung rein.“ Er macht ihr die von ihr erwartete Bewegung vor: Aus einer Hockhaltung richtet er sich schwungvoll auf, indem er sich auf die Zehenspitzen stellt, die Knie streckt und die Arme gestreckt nach oben führt. Dann senkt er sich wieder, um sich gleich erneut zu strecken. Hanna schaut ihm zu, imitiert das Demonstrierte und nickt schließlich eifrig. Die Vorübung wird wiederholt. Danach richten sich die Blicke aller Sportlerinnen auf den Trainer. Dieser befragt Emma und Lisa zu ihren Vollzügen während der gerade ausgeführten Vorübung, die die Phase vor dem Abwurf zum Salto simuliert: „Macht ihr so?“ – er umfasst mit der linken seine rechte Hand und bewegt beide zuerst nach oben, dann nach unten, dann wieder nach oben (Abbildung 19). Lisa und Emma bejahen. Abbildung 19: fragende Demonstration des Trainers

Dann wendet sich der Trainer an Hanna: „Ist klar? Machen die zuerst nach oben oder nach unten?“ Hanna beschreibt das Tun von Lisa und Emma und untermalt ihre Ausführungen ebenfalls mit Bewegungen (Abbildung 20). Danach beschreibt und demonstriert sie, in welcher Reihenfolgen sie selbst welche Be-

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wegungen ausführt: „Also, oben stehen. Dann, wenn die nach unten gehen, schon bereit sein.“ Sie geht in die Knie. „Und dann!“ Sie streckt die Knie und führt die Arme schwungvoll nach oben, um den Absprung zum Salto zu simulieren. Der Trainer unterbricht und korrigiert sie: Sie senke ihre Arme, wenn sie von Lisa und Emma nach oben bewegt wird, müsse sie aber eigentlich heben. Hanna imitiert kurz die korrigierenden Demonstrationen des Trainers und signalisiert nickend ihr Verstehen. Emma wendet sich ihr zu, sagt, dass ihre Versuche super gewesen seien und tätschelt ihre Schulter. Abbildung 20: Lauras erklärt die Vollzüge

Der Trainer fordert dann alle fünf Akrobatinnen auf, ohne Unterbrechungen sowie mit großer Ernsthaftigkeit und seiner Hilfe mehrere Strecksaltos auszuführen. Nach dem ersten Versuch signalisiert er Zufriedenheit. Alle vier Werferinnen klatschen sich mit Hanna ab. Schnell wird ein weiterer Versuch unternommen, den Hanna mit einer schiefen Landung beendet. Der Trainer fordert sie auf, sich vorzustellen, einen Ball zu halten, den sie nach oben werfen wolle. Er geht mit einem imaginären Ball in den Händen mehrfach in die Knie, um dann zu simulieren, wie er einmal den Ball über den Kopf nach hinten und einmal gerade nach oben wirft. Hanna imitiert die Wurfbewegung nach oben mehrmals und sucht zwischen ihren Versuchen beim Trainer nach Rückmeldung zu ihren Imitationsversuchen. Dann steigt sie abermals auf Lisas und Emmas Hände. Nach dem Salto-Versuch, bei dem Hanna im Vergleich zu den vorigen Durchgängen deutlich an Höhe gewonnen hat, ruft der Trainer laut und euphorisch „Yes!“, während zunächst Hanna und dann auch die Werferinnen laut zu prusten und zu lachen beginnen. Der Trainer ruft überschwänglich: „Voll überrascht! Hammer!“ Auch Emma lobt die Geworfene: „Super, Hanni!“ und fasst ihr zweimal kurz nacheinander in die Haare. Nach einem weiteren Versuch

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springt der Trainer vom Kasten und entfernt sich von der Gruppe, die – nachdem sich alle mit Hanna abgeklatscht haben – ebenfalls auseinander geht. Selbstführung

Die dritte Sequenz der Trainingsepisode sieht sich durch eine Verschränkung von wiederholten Vollzügen des geworfenen Strecksaltos und wiederholten Ausführungen einer der Vorübungen der ersten Sequenz gekennzeichnet. Die Organisation des Eintritts der neuen Mitspielerin folgt keiner linearen und vorab definierten Logik. Vielmehr wird dem Fortgang des Übungsprozesses aufgrund vom Trainer situativ identifizierter Probleme und Erfordernisse ein temporärer Rückgang auf eine frühere Qualifizierungsstufe zwischengeschaltet. Dieser Rückgang auf eine Vorübung zielt – dies ist einer der vom Trainer geäußerten Problemdiagnosen zu entnehmen – auf die Harmonisierung und Stabilisierung des Zusammenspiels zwischen Geworfener und zwei der Werferinnen sowie auf die Anbahnung von grundlegenden konzertierten Ausführungsfähigkeiten unter vereinfachten Bedingungen. Die vorübergehende Rücknahme an Komplexität erleichtert dem Trainer aber auch die Identifikation von Abweichungen der konzertierten Ausführungsversuche der Akrobatinnen von der praktikadäquaten (Ideal-) Form: Auch in die praktischen Vollzüge der Vorübung schaltet er sich handgreiflich und körperlich ein, indem der die Novizin an der Hand hält und auf diese Weise vermittelt über den Körperkontakt differenzierte Rückmeldungen über die Qualität des konzertierten Tuns in den für die angestrebte akrobatische Praktik offenbar entscheidenden Phasen des Bewegungsablaufs erhält. Mit steigender Anzahl an Wiederholungen der Vorübung und der komplexen Salto-Praktik verbessern sich – gemessen an der immer größer werdenden Zufriedenheit aller Teilnehmer – nicht nur die Bewegungsfähigkeiten der Novizin und deren Zusammenspiel mit den vier anderen Akrobatinnen, sondern lernt diese allmählich auch, sich selbst und ihre Bewegungsvollzüge aus der Perspektive der Praktik zu beurteilen und zu kritisieren. Besonders deutlich wird diese Ausbildung von Urteilsfähigkeiten im Anschluss an einen Salto-Versuch, nach dem die Novizin ihre zu hektischen Bewegungen und die vorzeitige Einleitung der Rückwärtssalto-Bewegung selbst bemängelt, noch bevor der Trainer in irgendeiner Form interferiert hat. In überzeichnenden körperlichen Nachvollzügen sowie kurzen sprachlichen Äußerungen zeigt und reflektiert sie auf Diskrepanzen zwischen ihrem aktuellen Versuch und der Idealform der Praktik. Sie stellt in dieser öffentlichen und multimodalen Rückwendung nicht nur einen Zuwachs an Wissen um die Anforderungen und Ausführungskriterien der akrobatischen Praktik unter Beweis, sondern zeigt mit ihr sowohl dem Trainer als auch ihren Mitspiele-

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rinnen die Übernahme von Verantwortung für die inadäquate Ausführung an und setzt sich damit vor ihnen als engagiertes, responsibles und zu responsabilisierendes Subjekt der Praktik ein. Die Zunahme ihres Engagements im Rahmen der akrobatischen Praktik wird zudem auch daran erkennbar, dass sie immer weniger unsicher und zögerlich wirkt. Geradezu eifrig imitiert sie die Demonstrationen des Trainers, sucht bei diesem eindringlich nach Vergewisserung, ob sie ihn richtig imitiert, versucht sich das von ihm verfügbar gemachte praktische Wissen anzueignen und arbeitet beharrlich daran, die ihr unbekannten Bewegungsmuster erwartungsgemäß zu verkörpern. Auch wird sie im Fortgang des Übungsprozesses vom Trainer zunehmend als (eigen)verantwortliches Subjekt der akrobatischen Praktik in die Pflicht genommen und engagiert, indem er sie beispielsweise dazu „anruft“ (Althusser 1977)149, über die Aktionen, die sie im Rahmen der Vorübung vollzieht, Rechenschaft abzulegen, damit das praktische Ausführungswissen, das sie bis zu diesem Zeitpunkt erworben hat, zu explizieren und sich hierin als Mitspielerin vor allen anderen Beteiligten kritisierbar zu machen. Es ist nicht zuletzt auch diese vom Trainer geäußerte und von der neuen Mitspielerin beantwortete Aufforderung zur Reflexion ihres eigenen Tuns, die darauf aufmerksam macht, dass sich die Hineinbildung in eine Praktik keineswegs ausschließlich über die präreflexive Einschreibung impliziten Ausführungswissens in (Umgangs-)Körper realisiert, sondern die Hineinbildung in Praktiken durchaus auch die Entwicklung von Fähigkeiten zur Explizierung und Reflexion praktischen Wissens sowie Nachfrage- und Urteilsfähigkeiten involviert. Während in der Analyse der zweiten Sequenz des Falls der Fokus auf der Fremdführungsseite von Subjektivierungsprozessen liegt, rückt in der Analyse der dritten Sequenz stärker die Selbstführungsseite in den Vordergrund.150 Zwar über-

149 Im Verständnis Althussers, das er seiner Arbeit über Ideologie und ideologische Staatsapparate (1977) entwickelt, realisiert sich die Konstitution von Subjekten durch zwei Momente: die Anrufung eines Individuums durch einen autorisierten Sprecher (ideologischer Staatsapparate) – hier: den Trainer – und die Anerkennung oder Beantwortung des Anrufs durch das angerufene Individuum. 150 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung von Fremd- und Selbstführung analytischer Art ist. Empirisch kommen in Subjektivierungsprozessen immer beide Seiten zusammen. Verdeutlicht werden soll mit der analytischen Trennung, dass in den frühen Phasen des Übungsprozesses Strategien und Praktiken der Fremdführung dominieren, während in späteren Stadien solche der Selbstführung deutlicher hervortreten. Ebenso wie in der dritten Sequenz durchaus Fremdführungsmechanismen virulent werden, könnte man auch in der zweiten Sequenz des Falls be-

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nimmt auch noch in letzterer der Trainer wichtige Funktionen für die Hineinbildung der Novizin in die akrobatische Praktik, indem er sie etwa vor jedem SaltoVersuch handgreiflich an den Aufbau von Körperspannung erinnert, ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte ihrer Körperpartien richtet, ihren Körper im Hinblick auf eine praktikadäquate Haltung überprüft und in Form bringt, ihr Aufgaben stellt, sie korrigiert und kritisiert.151 Jedoch zeigt sich in der dritten Sequenz deutlich, wie die neue Teilnehmerin im Fortgang des Übungsprozesses mehr und mehr Eigeninitiative übernimmt, eine (begrenzte) Handlungsmacht oder „Teilsouveränität des Handelns“ (Harrasser 2013: 127) erlangt, motiviert bei der Sache ist und eifrig – und dabei durchaus auch selbstkritisch – in entscheidenden Maßen zu ihrer eigenen Formierung als kompetente Mitspielerin beiträgt. Die performative Erzeugung von Vertrauen

Bereits in den vorangehenden Abschnitten wurde betont, dass ein entscheidendes Organisationsprinzip der akrobatischen Praktik des geworfenen Strecksaltos und damit eine wichtige Mitspielfähigkeit in einem wechselseitigen Vertrauen der Teilnehmerinnen ineinander bestehen. Dabei wurde die wiederholte Ausführung vereinfachter und entriskierter Vorübungen als wichtige Praktik der Anbahnung dieses notwendigen Vertrauens identifiziert. Im kommenden Abschnitt soll nun beleuchtet werden, auf welche Weisen und in welchen Praktiken das erforderliche Vertrauen im späteren Verlauf des Übungsprozesses weiter gefestigt und bestätigt wird. Im Fokus der Analysen der zweiten und dritten Sequenz der Trainingsepisode stehen insbesondere die praktischen Interaktionen, die sich unter der Ägide

reits Tendenzen der Selbstführung finden. Aus Gründen der Klarheit und Nachvollziehbarkeit der Darstellung wird hierauf jedoch verzichtet. 151 Es fällt auf, dass der Trainer die Novizin zu keinem Zeitpunkt des Übungsprozesses ausschließlich mit sprachlich vermittelten Detailerklärungen instruiert und korrigiert, sondern ihr stattdessen stets in mehr oder weniger knappen sprachlichen Hinweisen, Körperbewegungen und Gesten zeigt, was sie falsch macht und wie sie es stattdessen richtig zu machen hat. Einerseits scheint er der neuen Mitspielerin damit das Verstehen der von ihr zu erfüllenden Anforderungen qua Veranschaulichung zu erleichtern. Andererseits deutet sein Vorgehen auch darauf hin, dass er selbst das Wissen um die Organisationsprinzipien und Ausführungsdetails der akrobatischen Praktik nicht vollständig sprachlich-diskursiv verfügbar hält, sondern es sich um eine (zumindest partiell) verkörperte Ressource handelt, die in Körperbewegungen aufgerufen und aktualisiert werden muss.

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der Organisationsstruktur der anvisierten akrobatischen Praktik zwischen dem Trainer und der unerfahrensten Teilnehmerin abspielen. Von Belang für deren Formierung zu einer kompetenten Mitspielerin sind jedoch nicht nur diese offensichtlichen und didaktisierten Einweisungsakte, sondern auch jene Interaktionen, die sich zwischen der Novizin und deren Mitspielerinnen gleichsam ‚mitlaufend‘ ereignen. Die vier erfahrenen Akrobatinnen richten sich von Beginn des Übungsprozesses an mit lobenden und ermutigenden Ansprachen, Gesten und Berührungen an die unerfahrene Teilnehmerin. Die Hinwendungen der Sportlerinnen unterscheiden sich in ihrer Art und Qualität dabei jedoch grundlegend von jenen, mit denen sich der Trainer der Novizin zuwendet. Während die Sprechakte, Gesten und Berührungen des Trainers hauptsächlich darauf zielen, der neuen Teilnehmerin die normativen Anforderungskataloge und Ausführungskriterien der komplexen akrobatischen Praktik verständlich zu machen und sie vor jedem Vollzug an diese zu erinnern, sind jene der Werferinnen als affektiv und empathisch zu charakterisieren. Es handelt sich bei den Berührungen und Adressierungen der Novizin durch den Trainer auf der einen und durch die Sportlerinnen auf der anderen Seite um solche unterschiedlicher – manipulativer einerseits und affektiver andererseits – Berührungs- und Adressierungsordnungen (Abbildungen 21–23). Abbildungen 21–23: liebevolle Berührungen Hannas durch die übrigen Akrobatinnen

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Der Umgang der Werferinnen mit der Novizin ist liebevoller, beinahe mütterlich besorgter Art: Sie lassen sich von ihr zum Lachen animieren, nennen sie beim Kosenamen, loben sie – mitunter überschwänglich – mit Gesten und Worten der Anerkennung für ihren Lernfortschritt und animieren sie auf diese Weise zum kontinuierlichen Weiterüben. Die Werferinnen geben der Novizin damit zu erkennen, dass sie auf ihre Mitspielfähigkeit und ihren Beitrag zu einem sicheren und gelingenden konzertierten Vollzug der Salto-Praktik zu vertrauen bereit sind. Zudem fangen die Werferinnen Hanna nach jeden Salto sicher auf und nehmen dafür auch Kollisionen und schmerzhafte Zusammenstöße billigend in Kauf. Diese werden zwar oft öffentlich thematisiert – dies jedoch niemals mit vorwurfsvollen oder kritischen Untertönen, sondern unter der Prämisse, allen Beteiligten zu signalisieren, dass nichts Ernsthaftes passiert sei und um zu versichern, dass das eigene körperliche Wohlergehen unter allen Umständen hinter die Unversehrtheit und Sicherheit der Geworfenen zurückgestellt werde.152

152 Dass genau hierhin einer der entscheidenden Aspekte der impliziten Normativität der angestrebten Praktik besteht, bringt der Trainer in Reaktion auf einen der Zusammen-

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In einer „stille[n] Pädagogik“ (Bourdieu 1987a:128) bestätigen die Werferinnen ihrer jungen Mitspielerin (aber auch einander sowie dem Trainer), dass die Novizin sich auf sie verlassen kann, sie bei ihnen in sicheren Händen ist und die Werferinnen in dieser Hinsicht vertrauenswürdig sind. Angesichts der der akrobatischen Praktik inhärenten Risikohaftigkeit, Unsicherheit und Gelingensunsicherheit konstituieren die teilweise unscheinbaren und unauffälligen Aktionen der Werferinnen Praktiken der Erzeugung von Vertrauen und Sicherheit. Sie geben zu erkennen, dass die Kontingenz der akrobatischen Praktik sowie die Möglichkeit ihres Misslingens von den Teilnehmern permanent in Rechnung gestellt werden. In der Soziologie ist – wie etwa bei Luhmann (1973) oder Schütz (vgl. Endreß 2002: 19) – die Annahme verbreitet, bei Vertrauen handele es sich um einen mentalen Zustand und ein kognitives Phänomen. Die häufigen Körperberührungen und das gemeinsame Lachen, die nicht nur in der dritten, sondern bereits auch in der ersten und zweiten Sequenz des Falls zu beobachten sind, deuten nun darauf hin, dass sich die Anbahnung eines solchen mentalen Zustandes in erster Linie in körperlichen Akten vollzieht. Vertrauen wird nicht in ausführlichen sprachlichen Beteuerungen beschworen, sondern körperlich spürbar gemacht und in körperlichen Berührungen performativ beglaubigt. Nach einer kurzen Unterbrechung stellt sich der Trainer in die Mitte der Mattenfläche und ruft: „So, wir machen es hier.“ Sofort kommen die Sportlerinnen dazu. Der Salto wird nun abseits von Kasten und Weichbodenmatte geübt (Abbildung 24). Hanna steigt ohne Umschweife auf Emmas und Maikes Hände und wird dabei vom Trainer am Rücken und am Bein berührt und während des Saltos am Hosenbund gehalten. Nachdem Hanna aufgefangen wurde, prusten alle los. Offenbar ist es beim Fangen erneut zum Zusammenstoß gekommen. Statt Hanna gleich abzusetzen, wird sie von den Werferinnen noch sehr lange festgehalten. Der Trainer sagt Hanna, dass sie das schon sehr gut mache. Dann wiederholt er die Bewegungssequenz, die er bereits mehrfach auch auf dem Kasten ausgeführt hatte, um ihr zu zeigen, was sie in der Phase vor dem Abwurf zum Salto zu tun hat. Hanna imitiert seine Demonstrationen zweimal, bevor ein neuer SaltoVersuch begonnen wird.

stöße zweier Werferinnen explizit zum Ausdruck, als er betont, dass die Geworfene nach jedem Salto „unter allen Umständen“ aufgefangen werden müsse.

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Abbildung 24: Üben ohne Kasten und Weichboden

Im Anschluss an diesen Versuch stellt Diana fest: „Wieder zu schnell.“ Sie und Emma führen hastige und ruckartige Armbewegungen aus, die offenbar eine zu schnelle Rotation Hannas und ein Überschlagen ihrer Beine simulieren sollen. Hanna wendet ein, dass sie auf Emmas und Lisas Händen nicht den richtigen Stand habe finden können. Maike macht ihr nun, so wie es zuvor der Trainer getan hat, den geraden, aufrechten Stand und eine gespannte Körperhaltung noch einmal vor. Der nächste Versuch erfolgt erstmalig vollständig ohne körperlichen Eingriff des Trainers. Er steht als Zuschauer in größerem Abstand neben der Gruppe auf der Matte. Auch mehrere Sportlerinnen schauen der Gruppe zu. Diesmal ist es Maike, die der Stelle des Trainers Hannas Rücken in Vorbereitung auf den Salto kurz berührt (Abbildung 25). Abbildung 25: Maike berührt Hannas Rücken

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Nach der Beendigung des nächsten Versuchs kommentiert der Trainer diesen mit einem laut ausgerufenen „Jawoll!“. Auch die zuschauenden Sportlerinnen zollen der Gruppe Applaus. Vorläufig ist der Übungsprozess damit beendet. Die Anerkennung von Mitspiel- und Selbstorganisationsfähigkeit

Nach einer kurzen Übungsunterbrechung markiert die räumlich-materielle Umarrangierung der Übungskonstellation das Erreichen einer nächsten Qualifizierungsstufe. Aufgrund des Ausschlusses der für Sicherheit sorgenden Artefakte Kasten und Weichboden und der hiermit einhergehenden Rücknahme an lenkenden und stabilisierenden Eingriffsmöglichkeiten für den Trainer sieht sich diese Qualifizierungsstufe durch eine weitere Steigerung der Ausführungskomplexität sowie eine weitere Annäherung an die angestrebte Idealform der akrobatischen Praktik gekennzeichnet. Mit dem immer weiteren Rückzug des Trainers wird ein Großteil der Verantwortung für das sichere Gelingen der Praktik, die zuvor maßgeblich auf seinen Schultern lag, an die fünf Akrobatinnen übertragen. Im Zuge der räumlich-materiellen Umordnung werden diese als zur Selbstorganisation befähigte Teilnehmerinnen adressiert, mobilisiert und engagiert und vom Trainer als verantwortungs- und zusammenspielfähige Subjekte der akrobatischen Praktik anerkannt. Beantwortet wird diese Adressierung, Verpflichtung und Verantwortungsübertragung von den Akrobatinnen mit einem abermaligen Vertrauensbeweis: Nach dem ersten Salto-Versuch abseits von Matte und Kasten wird die Novizin von den Werferinnen auffällig lang in den Armen gehalten. Diese beglaubigen damit nicht nur der Geworfenen, sondern auch einander sowie dem zuschauenden Trainer, dass sie die ihnen neu übertragenen Herausforderungen sicher zu bewältigen und der gesteigerten Verantwortung zu entsprechen bereit und fähig sind. Es fällt auf, dass die Werferinnen die Novizin im Zuge des Rückzugs des Trainers nicht länger nur mit affektiv-empathischen Gesten und Berührungen, sondern auch mit manipulativen Instruktionen und Korrekturen, für die auf den früheren Qualifizierungsstufen exklusiv der Trainer Zuständigkeit beansprucht hat, adressieren. Mit diesen richten sie deren Aufmerksamkeiten in praktikspezifischer Weise aus und machen der Novizin ein Wissen um die Abweichungen ihres Tuns von den Vorgaben der anvisierten akrobatischen Praktik verfügbar. Dabei greifen die Akrobatinnen auf eben jene Gesten, Worte und Berührungen zurück, von denen der Trainer bereits zuvor Gebrauch gemacht hat, um die neue Teilnehmerin etwa an bestimmten Partien ihres Körpers und zu spezifischen Phasen der Bewegung an den Aufbau und den Erhalt ihrer Körperspannung zu erinnern. Durch ein wiederholtes Beobachten der praktischen Interaktionen zwischen Trainer und der unerfahrenen Akrobatin haben sie ein Wissen darüber er-

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worben, auf welche Weise sie ihre junge Mitspielerin im Hinblick auf die Ausführung des Saltos zu überprüfen, vorzubereiten und zu korrigieren haben, und am Modell Trainer gelernt, diese aus der Perspektive der akrobatischen Praktik zu beobachten und zu beurteilen. Mit ihren an die Novizin gerichteten Hinweisen und Korrekturen zeigen die Werferinnen dem Trainer an, dass sie Zuständigkeit für die weitere Hineinbildung der neuen Teilnehmerin in die Praktik übernehmen, diese auch ohne seine Mitwirkung zu organisieren wissen und als Gruppe zur Selbstorganisation fähig sind. In der letzten Sequenz des Falls kommt es mit dem Ausschluss von Kasten und Weichbodenmatte sowie dem Rückzug des Trainers auf die Position eines beurteilenden, aber nicht länger körperlich in den Vollzug der akrobatischen Praktik eingreifenden Beobachters zu einer signifikanten Steigerung der Ausführungsschwierigkeiten und der Gelingensunwahrscheinlichkeit. Auf dieser Qualifizierungsstufe werden nicht nur die Novizin in die Pflicht genommen, ihre Mitspielfähigkeit unter Beweis zu stellen und die Gruppe aufgefordert, ihre Zusammenspiel- und Selbstorganisationsfähigkeit zu demonstrieren, sondern erfolgt mit der kollektiven Beglaubigung und Anerkennung dieser Fähigkeiten sowie der performativen Bestätigung des Erfolgs der bis dahin realisierten Qualifizierungsschritte auch die (vorläufige) Beendigung des Qualifizierungsprozesses. Fazit des Falls

Die Formierung der Novizin zu einer (zunehmend) kompetenten Mitspielerin der akrobatischen Praktik des geworfenen Strecksaltos und die Konstitution eines unter ihrer Ägide zusammenspielfähigen Kollektivkörpers realisieren sich in verschiedenen Schritten und im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstführungen. Die Vorübungen der ersten Qualifizierungsstufe schaffen die Voraussetzung dafür, dass sich die unerfahrene Akrobatin, aber auch deren Mitspielerinnen, überhaupt auf die Einübung und den Vollzug der anspruchsvollen und gefährlichen Salto-Praktik einlassen: In ihnen schwingen und stimmen sie sich aufeinander ein und entwickeln unter vereinfachten Bedingungen ein für die spätere Ausführung des Saltos erforderliches Gespür füreinander. Ermöglicht durch das Einrücken des Trainers sowie die Einbeziehung der nicht-menschlichen Partizipanden Kasten und Weichbodenmatte, werden auf der zweiten Qualifizierungsstufe die Anforderungen gesteigert und unter entriskierten Bedingungen mit der Einübung des geworfenen Saltos begonnen, wobei der Trainer als kontrollierender und beglaubigender, institutionell autorisierter Dritter einen Großteil an Verantwortung und Führung in diesem Prozess übernimmt. Auf der dritten Qualifizierungsstufe schließlich werden mit dem Rückzug des Trainers und dem Ausschluss der dinglichen Partizipanden die Anforderungen abermals erhöht. Zuvor

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eingeräumte Sicherheiten, Entlastungen und Vereinfachungen werden wieder zurückgenommen und alle Teilnehmerinnen – einschließlich der Novizin – als kompetente, zur Selbstführung und -organisation fähige Subjekte der schwierigen akrobatischen Praktik anerkannt. Auf allen Qualifizierungsstufen erweist sich die Wiederholung als fundamentales Übungsprinzip. Die für die verschiedenen Qualifizierungsstufen charakteristischen Übungen werden stets nicht nur einmal vollzogen, sondern mehrfach wiederholt. Das Gelingen einer Übung scheint kein singuläres – und damit möglicherweise zufälliges – Geschehen bleiben zu dürfen, sondern muss in der Wiederholung bestätigt werden, bevor es zu einer Steigerung der Schwierigkeiten und Anforderungen kommt. Diese bestätigenden Wiederholungen besitzen nicht nur eine konstitutive Relevanz für die Festigung der praktikadäquaten Bewegungsvollzüge und Körperhaltungen sowie des erforderlichen Wissens um die Anforderungen und Vollzugsprinzipien der anvisierten akrobatischen Praktik. Ihnen kommt auch eine grundlegende Bedeutung für die Erzeugung jenes Vertrauens zu, das aufgrund der Kontingenz, der individuellen Unbeherrschbarkeit und der Risikoträchtigkeit der akrobatischen Praktik eine unhintergehbare Voraussetzung dafür bildet, dass sich die Teilnehmerinnen überhaupt auf den immer komplexer und gefährlicher werdenden Übungsprozess einlassen. In den diversen Wiederholungen entwickeln die Sportlerinnen eine „Vertrautheit“ (Luhmann 1973: 17) mit der Praktik und miteinander. Die Vertrautheit wiederum konstituiert eine Art „Hintergrundsicherung“ (ebd.: 20) für das Vertrauen darin, dass der Vollzug in verteilter Handlungsträgerschaft auch zukünftig gelingen wird. Die zahlreichen Wiederholungen entziehen den Bewusstsein der Akrobatinnen und des Trainers das Risiko des Misslingens, absorbieren verbleibende Unsicherheiten und erlauben allen eine optimistische Einstellung zur Zukunft. Sie forcieren ein „relativ sicheres Erwarten“ (ebd.: 19) und hegen den von der übergreifenden Anforderungsstruktur der Praktik aufgespannten Erwartungshorizont153 der miteinander noch weitgehend unvertrauten Sportlerinnen durch die Ermöglichung gemeinsamer Erfahrungen ein.154

153 Vgl. zum Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont in Praktiken auch Buschmanns (2013) Überlegungen zur praxeologischen Konzeptualisierung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft. 154 Luhmann (1973) versteht Vertrauen in dieser Hinsicht als einen „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“. Insofern das im Übungsprozess der Sportlerinnen angebahnte Vertrauen es jedoch erst ermöglicht, kontinuierlich die praktischen Anund Herausforderungen zu erhöhen, macht der empirische Fall darauf aufmerksam,

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Die Wiederholungen der für die verschiedenen Qualifizierungsstufen charakteristischen Übungen werden dabei immer wieder durch vom Trainer geäußerte Instruktionen, Korrekturen und Erklärungen sowie mit zunehmender Dauer des Qualifizierungsprozesses auch durch von der Novizin selbst vorgebrachte Nachfragen und Selbstkorrekturen unterbrochen. Dies deutet darauf hin, dass die implizite Inkorporierung praktischen Wissens durch körperliche Übung oder wiederholende Einschleifung, als welche neuere praxeologische Arbeiten die Entwicklung kompetenter Teilnehmerschaft in Praktiken gern modellieren (vgl. Kapitel 2.2.3), allenfalls eine Seite dieses Prozesses ist. Auf der anderen Seite involviert die Hineinbildung der neuen Mitspielerin in die Praktik nämlich durchaus auch in Erklärungen, Demonstrationen und Korrekturen explizierte bzw. explizit verfügbar gemachte Wissensbestände sowie die Genese reflexiver Nachfrage-, Urteils- und Selbstkorrekturfähigkeiten. Obwohl deutlich verschiedene Qualifizierungsstufen identifizier- und voneinander unterscheidbar sind, folgt die Organisation des Eintritts der neuen Mitspielerin in die akrobatische Praktik keiner linearen Fortschrittslogik. Ab und an erfolgt der Rückgang auf eine früheres Qualifizierungsniveau, um die für das Gelingen der konzertierten Vollzüge auf einem späteren Qualifizierungsniveau grundlegenden Fähigkeiten und Wissensbestände unter komplexitätsreduzierenden Bedingungen zu aktualisieren und einer Überprüfung zu unterziehen. Selbst Gruppen, die einen systematischen und didaktisierten Qualifizierungsprozess bereits längst durchlaufen haben und von Trainern und Akrobatinnenkollektiv als zusammenspielfähig anerkannt sind, führen den geworfenen Strecksalto niemals aus, ohne vorab einige Male eine der dreistelligen Vorübungen der ersten Qualifizierungsstufe wiederholt zu haben. Manchmal sogar schaltet sich dabei der Trainer wieder als stabilisierende und beglaubigende Instanz ein, um die Erledigungsbereitschaft der Akrobatinnen für die Realisierung der konzertierten SaltoPraktik zu überprüfen und zu bestätigen oder aber vorläufig zu negieren. Die Vorübung konstituiert in dieser Hinsicht eine Praktik der kognitivaffektiv-körperlichen (Wieder-)Einstellung, in der sich die Akrobatinnen die für den konzertierten Vollzug der Salto-Praktik erforderlichen und in der Vergangenheit erworbenen Fähigkeiten und Wissensbestände unter Bedingungen, in denen auch ein Misslingen der konzertierten Vollzüge keine ernsthaft bedrohlichen Konsequenzen nach sich zieht, in Erinnerung rufen und (wieder)verfügbar machen. Nicht zuletzt ermöglicht es die Vorübung bzw. Einstellungspraktik den Teilnehmerinnen, einander von Neuem spürbar von ihrer Vertrauenswürdigkeit

dass Vertrauen auch neue Komplexitäten freisetzt und zur Bewältigung immer anspruchsvollerer Aufgaben befähigt (vgl. hierzu auch Hartmann 2011).

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zu überzeugen. Die Anbahnung von Vertrauen stellt insofern keinen einmaligen Qualifizierungsschritt dar. Vielmehr erweist sich Vertrauen als ein fragiles Gut, welches schnell wieder in Vergessenheit geraten kann und eben deshalb immer wieder performativer Bestätigungen bedarf. 155 4.3.2.3 Fall zwei – Die Diagnose und Bearbeitung eines Problems Im Fokus der Beschreibung und Analyse des ersten Falls stehen die Organisation des Eintritts einer unerfahrenen Teilnehmerin in eine akrobatische Praktik sowie die Schritte, in denen die Novizin allmählich Mitspielfähigkeit und sie und ihre Mitspielerinnen Zusammenspielfähigkeit als sich selbstorganisierendes Team erlangen. Im Zuge der zweijährigen Beobachtungen des sportakrobatischen Trainings wurde immer deutlicher erkennbar, dass das Durchlaufen eines systematischen, deklariert didaktischen und vom Trainer begleiteten Einübungs- und Einsetzungsprozesses zwar eine notwendige Voraussetzung für die praktische Bewältigung und den kompetenten Umgang mit den Anforderungen akrobatischer Praktiken ist, deren Gelingen jedoch keineswegs garantiert. Immer wieder kommt es im Training auch im Falle erfahrenerer und bereits als mit- und zusammenspielfähig geltender Akrobatinnen beim konzertierten Vollzug akrobatischer Praktiken zu Unsicherheiten oder Problemen, die entweder von den Teilnehmerinnen selbst zu bearbeiten versucht werden oder aber – wie in der folgenden Episode – den Trainer auf den Plan rufen und diesen zu verschiedenen Korrekturmaßnahmen veranlassen.

155 Dass Vertrauen nicht nur ein fundamentales Organisationsprinzip aller akrobatischen Praktiken, sondern seine Anbahnung ein schwieriger und langwieriger Akt ist, wird auch durch folgende Passage eines mit zwei Akrobatinnen geführten Interviews bestätigt. In dem Interview beschreiben sie die Anforderungen einer Praktik, in der eine Teilnehmerin (hier: Hanna) auf den lang in die Luft gestreckten Armen zweier Mitspielerinnen (hier: Amelie und Marta) in großer Höhe einen Schweizer Handstand ausführen muss: Marta: „Ich meine, die unten steht, wenn sie loslässt, liegt die Kleine auf dem Boden. Und das hat schon ziemlich viel mit Vertrauen zu tun […].“ Amelie: „Ja, natürlich kam das [das Vertrauen; KB] erst mal durch die Freundschaft, aber dann auch mit dem Ausprobieren, ne?“ Marta: „Ja, wir haben einige Übungen gemacht und haben dann gemerkt –“ Amelie: „Oh, sie kann das halten, ich fühl mich hier sicher. Und bei Hanna war das auch so: ‚Oh, wenn ich da vorne rüberfalle.‘ Und dann haben wir gesagt: ‚Wir halten dich, Hanna.‘ Und dann haben wir praktisch ihr das bewiesen, […] dass wir sie gehalten haben. Und so hat sich das dann langsam aufgebaut. Das hat lange gedauert, aber mittlerweile –“ (Interview vom 3.12.2010)

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Die zweite Fallanalyse bezieht sich auf Trainingsepisode, die in der letzten Trainingseinheit vor einem großen Auftritt beobachtet wurden. Die Protagonistinnen des Falls sind neben dem Trainer drei recht junge Akrobatinnen, die im Rahmen der Auftrittschoreografie eine akrobatische Praktik vollziehen müssen, die im Feld als Stützelement bezeichnet wird. Bei diesem stehen zwei Sportlerinnen hintereinander und wenden sich in leichter Hohlkreuzhaltung ihre Rücken zu. Sie strecken ihre Arme in die Luft und fassen sich an den Händen. Eine dritte Sportlerin steigt über den Hintern auf die Schultern einer der stehenden Sportlerinnen, umfasst die Handpaare und stützt sich auf diesen hoch in einen Grätschsitz (Abbildung 26). Dieser wird einige Sekunden gehalten, bevor die obere Akrobatin mit einer leichten Drehung zur Seite ihr Körpergewicht auf einen ihrer Arme verlagert. Der das Körpergewicht tragende Arm wird sodann im Ellenbogengelenk gebeugt, der Oberkörper auf dem oberen Teil des gebeugten Armes ablegt und nach vorn-unten geführt. Gleichzeitig werden die Beine in weiter Grätschhaltung nach hinten-oben gebracht. Der Körper der gestützten Sportlerin befindet sich in dieser Stellung in einer schrägen, abschüssigen und gespannten Haltung. Beine, Oberkörper und Hüfte sind gestreckt (Abbildung 27). Aufgelöst wird diese wiederum für ein paar Sekunden zu haltende Stützposition zunächst zurück in einen Grätschsitz. Aus diesem werden die Beine geschlossen und angehockt durch die eigenen Arme nach vorn in eine Bückposition gebracht, bevor sie zwischen den Rücken der zwei anderen Akrobatinnen in Richtung Boden geführt werden. Schließlich kommt die obere Sportlerin auf den sich berührenden Hintern der beiden stützenden Sportlerinnen zum Sitzen (Abbildung 28). Abbildungen 26–28: Stützelement

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In der ersten Sequenz des zweiten Falls wird als Generalprobe für den am nächsten Tag bevorstehenden Auftritt im Kollektiv die gesamte Auftrittschoreografie geübt und der Trainer dabei auf Unsicherheiten von drei Akrobatinnen beim Vollzug des Stützelements aufmerksam. Er kritisiert, dass die konzertierten Bewegungsvollzüge zu stark von der erwarteten (Ideal-)Form abweichen, wobei seine öffentlich geäußerte Kritik zunächst verhältnismäßig unspezifisch bleibt und auf einen allenfalls diffusen Eindruck zurückzugehen scheint. Ausgehend von dieser ersten Sequenz und Interferenz setzt sich die zweite Fallanalyse schwerpunktmäßig mit den Fragen danach auseinander, wie die Diagnose und Spezifikation der Ausführungsprobleme forciert und wie, d.h. unter Verfügbarmachung und Anbahnung welcher Wissensformen und Fähigkeiten, das Tun der Akrobatinnen in (größeren) Einklang mit dem Anforderungsprofil der akrobatischen Praktik zu bringen versucht werden. Da der Gruppe am nächsten Tag ein Auftritt im Rahmen einer großen Turngala in Berlin bevorsteht, wird in der heutigen Trainingseinheit mehrfach die gesamte Auftrittschoreografie zu Musik geprobt. Im ersten Probedurchgang ziehen Isabel, Jana und Luisa bei der Ausführung des Stützelements den Unmut des Trai-

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ners auf sich. Kurz nachdem Luisa deutlich früher als alle anderen der das Stützelement ausführenden Akrobatinnen und beinahe sturzartig von Isabels und Janas Armen abgegangen ist, ruft der Trainer der Dreiergruppe empört zu: „Hallo, was ist da los? Das darf nicht passieren!“ Als würde er erneut ein Problem antizipieren, nähert er sich beim nächsten Probedurchgang zum entsprechenden Zeitpunkt mit energischen Schritten und den ermahnenden Worten „So, jetzt kein Sturz da!“ der Gruppe, um diese aus guter Position zu beobachten. Insbesondere Luisas Übergang von der Grätsch- in die schräge Stützposition scheint der Gruppe Probleme zu bereiten: Luisas Beine sacken immer wieder ab, die Hüfte beugt sich. Janas und Isabels Arme zittern. Der Trainer schimpft laut mit Luisa, ermahnt sie, ihre Beine zu heben und kritisiert außerdem ihre zu schnelle Ausführung. Luisas Abgang von Isabels und Janas Armen geschieht abermals beinahe sturzartig. Der Trainer umfasst sein Gesicht mit den Händen und zeigt sich ratlos über das Gesehene. Im Anschluss an die Ausführung der Choreografie durch die gesamte Akrobatinnengruppe nimmt er die Dreiergruppe zur Seite und führt Luisa zum Podest156, das am anderen Mattenende steht. Der Trainer positioniert sich vor dem Podest und fordert Luisa auf, die zuvor nicht zu seiner Zufriedenheit gelungene Bewegung auf diesem zu wiederholen. Luisa nimmt die Grätschposition ein, wird jedoch vom Trainer, als sie zur Auflösung dieser Haltung ansetzt, durch wiederholte Stopp-Rufe in der Bewegung unterbrochen. Luisa stellt sich auf das Podest und blickt den Trainer an. Dieser fragt sie überprüfend: „Wie lange bist du in der Grätsche?“ Bevor sie antworten kann, fordert der Trainer sie auf, bis drei zu zählen, bevor sie die Grätschhaltung aufgibt. Dann zeigt er in Isabels und Janas Richtung: „Da hinten machst du Grätsche und hoch.“ Mit dem Oberkörper führt er ruckartige Bewegungen nach vorn-unten aus. Dann erklärt er ihr, dass sie sich beim Positionswechsel von der Grätsche in die Stütze mehr Zeit lassen solle. Er streckt eines seiner Beine nach vorne aus, zählt laut bis drei, führt es nach hinten und beugt den Oberkörper nach vorn, um Luisa zu signalisieren, dass erst nach drei Sekunden der Positionswechsel von der Grätsche in die Stütze zu erfolgen habe. Während sich der Trainer einige Schritte vom Podest entfernt, begibt sich Luisa erneut in den Grätschsitz, in dem sie nun einige Sekunden verharrt. Der Trainer

156 Dieses ist ein metallisches Artefakt, das auf drei Beinen steht, auf welcher eine dünne, kreisförmige Platte von etwa 80 cm Durchmesser angebracht ist. Auf diese wiederum sind in einem Abstand von ungefähr 15 cm zwei Stangen geschraubt, auf deren Enden sich je ein handflächengroßes Holzstück als Griff befindet. Das Podest dient insbesondere dem Üben von Bewegungsvollzügen, die in den akrobatischen Praktiken auf den gestreckten Armen und Händen anderer Sportlerinnen ausgeführt werden müssen.

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kommentiert: „Und dann drehst du langsam.“ Luisa verlagert ihr Körpergewicht auf einen Arm, senkt den Oberkörper und bringt damit die Beine nach oben. Gleichzeitig sagt der Trainer: „Beine nach oben und nicht wieder runterfallen lassen. Jawoll!“ (Abbildung 29). Nach ihrem Versuch stellt sich Luisa auf das Podest und blickt den Trainer an. Dieser erklärt ihr, dass sie die Beine nicht ausreichend spanne und es ihr deswegen schwer falle, in der Stützposition die Balance zu halten: „Die Beine kommen mit Spannung nach hinten. So, jetzt noch einmal.“ Der Trainer beobachtet Luisa bei ihrem nächsten Versuch zunächst still. Als sie wieder auf dem Podest zum Stehen gekommen ist, beginnt er das Beobachtete zu beschreiben und nachzuvollziehen. Er erklärt ihr, dass sie vor dem Übergang aus der Grätsch- in die Stützposition die Drehbewegung, mit der ihr Körpergewicht auf einen Arm verlagert wird, vergesse und moniert, dass sie ihren Oberkörper aus der Grätsche einfach nach unten fallen lasse. Er beklagt: „Du gehst sofort mit dem Oberkörper runter“ und führt ihr dann mit angedeuteten Arm- und Beinbewegungen die erwarteten Bewegungen vor (Abbildung 30). Abbildungen 29 und 30: Der Trainer beobachtet Luisa am Podest

174 | M ITSPIELFÄHIGKEIT Die Einrichtung eines Beobachtungsdispositivs

Während des ersten Probedurchlaufs der Auftrittschoreografie beobachtet der Trainer das Gesamtgeschehen aus einer zentralen Position und wird dabei auf Probleme der Gruppe um Jana, Isabel und Luisa beim Vollzug einer akrobatischen Praktik aufmerksam, welche er mit einer laut geäußerten Kritik öffentlich macht. Der ungeduldige Ton, in dem er den Vorwurf artikuliert, deutet darauf hin, dass er insbesondere auch angesichts des bevorstehenden Ernstfalls eines Auftritts ein Gelingen des konzertierten Vollzugs erwartet hat und diese Erwartung enttäuscht sieht.157 Zunächst scheint sich seine Empörung aus einem recht diffusen Eindruck zu speisen: Anstatt detaillierte und konstruktive Korrekturund Verbesserungsvorschläge zu äußern, klagt er die Sportlerinnen lediglich auf unspezifische Weise an, dass ihnen ein solcher Abbruch nicht passieren dürfe. Im zweiten Durchgang positioniert er sich dann so um, dass er die Akrobatinnen bei der Ausführung der betreffenden akrobatischen Praktik besser beobachten kann; er rückt räumlich näher an sie heran und bringt sich damit für mögliche Interventionen und Korrekturen in Stellung. Zwar benennt er jetzt bestimmte Phasen und Momente des Bewegungsvollzugs als problematisch, jedoch bleibt seine Diagnose nach wie vor wenig konkret. Die augenscheinlichen Schwierigkeiten des Trainers, die Ausführungsprobleme der Akrobatinnen zu diagnostizieren und genau festzustellen, erklären sich dabei vor dem Hintergrund der übersummativen Vollzugslogik der akrobatischen Praktiken. Angesichts der Interdependenz der diese Praktiken konstituierenden Bewegungen ist ihnen eine Eigendynamik inhärent, die eine Identifikation der Ursachen von Unsicherheiten sowie die Zurechnung von Problemen auf einzelne Elemente bzw. Mitspielerinnen des Kollektivkörpers schwierig macht. In all seiner Vagheit schreibt der Trainer einer der Teilnehmerinnen der Praktik die Verantwortung für die Unsicherheiten und das Misslingen der konzertierten Vollzüge zu und spricht dabei zugleich die beiden anderen von einer Verantwortlichkeit für diese frei.

157 Die Gelingenserwartung aller Teilnehmer, der Trainer sowie der Sportlerinnen, nimmt in dem Maße zu und wird verbindlicher, wie ein Auftritt oder Wettbewerb näher rückt. Unsicherheiten und inadäquate Ausführungen werden immer weniger geduldet und zunehmend scharf kritisiert bzw. sanktioniert. Dies deutet darauf hin, dass die die Praktik des sportakrobatischen Trainings organisierende implizite und teleoaffektive Normativität und die mit dieser zusammenhängenden Verhaltenserwartungen nicht ein für alle Mal definiert und fixiert, sondern temporalisiert und – innerhalb gewisser Grenzen – zeitlich variabel sind.

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Im nächsten Schritt initiiert der Trainer eine vorübergehende Dekomposition des dreistelligen Kollektivkörpers und bestätigt die zuvor sprachlich geäußerte Responsabilisierung der Gestützten sowie Entlastung der Stützenden dadurch, dass er die Ersetzung letzter durch das Artefakt Podest veranlasst. Die Aussetzung der menschlichen Mitspielerinnen und die gleichzeitige Einsetzung des nicht-menschlichen, „materielle[n] Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004: 73) markiert den Rückgang auf eine frühere Qualifizierungsstufe, die als bereits überschritten vorausgesetzt wurde: Üblicherweise sind es Novizinnen, die in Vorübungen am Podest auf die Anforderungen der betreffenden Praktik eingestellt werden. Mit der Ersetzung der menschlichen Mitspielerinnen durch den nicht-menschlichen Partizipanden wird ein „Beobachtungsdispositiv[]“ (Alkemeyer 2011: 58) eingerichtet, in dem der individuelle Körper der Akrobatin ausgestellt und für die Problemdiagnose, die Hinweise und Korrekturen des Trainers verfüg- und zugreifbar gemacht wird. Mit der Einbeziehung des Podests erfolgt die Reduktion einiger Anforderungen und Schwierigkeiten der akrobatischen Praktik und werden die zurückgenommenen Anforderungen zugleich vom Trainer als für das Misslingen der konzertierten Vollzüge unerheblich definiert. Das Artefakt entlastet die gestützte Akrobatin beispielsweise von mühevollen Aufstiegen auf die Schultern ihrer Mitspielerinnen sowie davon, ein mögliches Zittern oder Wanken von deren Armen ausgleichen zu müssen. In den Fokus gerückt wird demgegenüber der Ablauf aus Grätsch-, Dreh- und Stützbewegungen der von der Akrobatin mehrere Male wiederholt, vom Trainer detailgenau beobachtet und von ihm zugleich als maßgeblich für das Misslingen des konzertierten Vollzugs des Stützelements ausgeflaggt wird. Das mithilfe des Artefakts eingerichtete Beobachtungsdispositiv exponiert den Körper der Akrobatin auf eine solche Weise, dass er dem Trainer in seiner Funktion als display (vgl. Kapitel 2.1.4) das seine Bewegungen organisierende – und von jenem als inadäquat vermutete – praktische Verstehen und Wissen zu erkennen gibt. Allerdings ist es nicht nur der Akrobatinnen-Körper, der im Beobachtungsdispositiv vor dem Trainer zum Zeigen gebracht wird, vielmehr zeigt auch der Trainer der Akrobatin etwas: Die Einbeziehung des Artefakts erlaubt es ihm, unverzüglich auf die beobachteten Bewegungen der Akrobatin zu reagieren: Im Anschluss an jeden ihrer Versuche zeigt der Trainer auf Diskrepanzen zwischen dem von ihm beobachteten Tun der Akrobatin und der aus seiner Perspektive praktikadäquaten Weise der Ausführung. Der Trainer zeigt dabei sowohl mit sprachlichen Erklärungen als auch mit angedeuteten Körperbewegungen, indem er seine Beobachtungen ihres Tuns verbalisiert, ihr diese zugleich in oft überzeichnenden gestisch-körperlichen Imitationen vor Augen führt und ihr dann – mithin kontrastiv – erklärt und vormacht, wie sie stattdessen agieren soll. Er ex-

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pliziert und entfaltet in diesem multimodalen Wechselspiel des Zeigens das den Bewegungen der Akrobatin eingelagerte praktische Wissen und Verstehen und macht dieses in der Explizierung korrigierbar. Seine an die Akrobatin adressierten Korrekturen wiederum halten diese zur Selbstbeobachtung und -reflexion an, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Phasen und Momente der von ihr erwarteten Bewegungsvollzüge lenken. Außerdem machen sie ihr jene kollektiv verbindlichen Ausführungskriterien verständlich, an welche sich jede als Gestützte an der Praktik beteiligte Sportlerin zu halten hat und welchen sie aus der Sicht des Trainers nicht entspricht. In der ersten Sequenz des zweiten Falls wird der Trainer auf Schwierigkeiten von drei Akrobatinnen beim Vollzug einer akrobatischen Praktik aufmerksam. Er kritisiert ihre konzertierten Versuche öffentlich als misslungen, schreibt aufgrund eines unspezifischen Eindrucks schnell einer der Teilnehmerinnen die Verantwortung für das Misslingen zu und individualisiert dieses damit. Die Responsabilisierung der Gestützten als (noch-)nicht-mitspielfähig geht mit dem Rückgang auf eine eigentlich als überschritten unterstellte Qualifizierungsstufe einher, auf der der dreistellige menschliche Kollektivkörper vorübergehend dekomponiert und die zwei Mitspielerinnen durch einen nicht-menschlichen Partizipanden, das Podest, ersetzt werden. Mit der Einsetzung des Podests werden nicht nur einige Schwierigkeiten der akrobatischen Praktik reduziert und bestimmte Bewegungsphasen in besonderer Weise fokussiert, sondern überdies ein Beobachtungsdispositiv eingerichtet, das es dem Trainer ermöglicht, den Körper der Akrobatin detailgenau zu beobachten und ihr Tun in zunehmenden Einklang mit grundlegenden Aspekten des Anforderungsprofils der Praktik zu bringen. Zwar übernimmt der Trainer dabei die Führung über den Diagnose- und Korrekturprozess. Gleichwohl hält er die Akrobatin auch dazu an, sich selbst aus der Perspektive der Praktik zu beobachten und in Einklang mit der von ihm spezifizierten Ausführungskriterien zu führen. Immer wieder wird sie dazu aufgefordert, ihr angemesseneres Verstehen unter den Augen des Trainers unter Beweis zu stellen. Nun fordert der Trainer auch Isabel und Jana zum Podest. Auch sie müssten – so erklärt er ihnen – wissen, was genau Luisa „verbocke“, um sie korrigieren zu können. Sobald Isabel und Jana sich vor dem Podest positioniert haben, fordert der Trainer Luisa auf, in die Grätsche zu gehen und mit der Bewegung zu beginnen. Sobald Luisa den Grätschsitz eingenommen hat, fasst er sie an der Schulter und unterbricht sie damit in ihrer Bewegung. Er wendet sich Isabel und Jana zu, die Luisa und den Trainer aus einigem Abstand beobachten, und erklärt ihnen,

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dass sie Luisa daran erinnern sollen, zunächst drei Sekunden im Grätschsitz zu verweilen: „Als Erstes: ‚eins, zwei, drei‘, also die Ansage ‚zähl bis drei‘ oder ‚halten‘, ok? Sie geht sofort rein und dann plumpst sie nach vorne.“ (Abbildung 31) Abbildung 31: Hinzukommen der Mitspielerinnen

Luisa setzt die Bewegung fort. Sofort unterbricht der Trainer „Da ist gleich der nächste Fehler!“. Statt mit einer Drehung das Körpergewicht auf einen Arm zu verlagern, lehne sich Luisa aus der Grätschposition einfach nach vorn in die Stützposition. Der Trainer wendet sich abermals an Isabel und Jana: „Also, die nächste Ansage wäre ‚eins, zwei, drei‘ oder ‚halten‘… ‚dreeeehhhhhen‘, damit sie das nicht vergisst.“ Luisa begibt sich langsam in die schräge Stützposition und der Trainer fährt fort: „Dritte Ansage ist“ – er schlägt sich auf die Oberschenkel – „‚Beine, Beine, Beine, halten‘.“ Der Trainer berührt mit einer Hand Luisas Knie und ihren Rücken, bevor er sich bei ihr für die Demonstration bedankt und sich Jana und Isabel zuwendet: „‚Beine‘, ‚fest‘“; Jana nickt. Er fasst noch einmal die Schlagworte zusammen, die Jana und Isabel Luisa geben sollen: „,Halten‘, ‚drehen‘, ‚Beine‘. Das ist euer Job. Das kann sie nicht. Bei den ganzen Leuten. Das ist euer Job, ihr seid die Älteren.“ Mit einer kurzen Geste holt der Trainer Luisa vom Podest und initiiert das vorläufige Ende der Demonstrationen. Die Responsabilisierung der Mitspielerinnen

In der ersten Sequenz des Falls ist es die jüngste der drei Teilnehmerinnen der akrobatischen Praktik, die vom Trainer für das Misslingen der konzertierten Vollzüge verantwortlich gehalten wird. Das Hauptaugenmerk der Beschreibung und Analyse dieser Sequenz lag dementsprechend auf den praktischen Interakti-

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onen, die sich unter der Ägide der Organisationsstruktur dieser Praktik zwischen dem Trainer und der responsabilisierten Teilnehmerin abspielen und darauf zielen, diese mitspielfähig zu machen. In der zweiten Sequenz des Falls werden nun auch die beiden anderen Teilnehmerinnen vom Trainer als mitverantwortlich für die misslungenen Vollzüge der Praktik adressiert. Im Gegensatz zu ihrer Mitspielerin werden sie jedoch nicht für die Ausführung praktikinadäquater Bewegungen kritisiert, sondern für ihre mangelnde Fähigkeit, auf das Tun ihrer jungen Mitspielerin zu reflektieren und Diskrepanzen zwischen diesem und der praktikadäquaten Form der Ausführung zu bemerken. Die Art und Weise der Adressierung der Stützenden durch den Trainer macht dabei erkennbar, dass die an die Mitspielfähigkeit verschiedener Teilnehmer einer Praktik gerichteten Erwartungen erfahrungs- und positionsspezifisch differenziert sind: Aufgrund ihres höheren Alters und ihres – ihnen vom Trainer zugeschriebenen – umfangreicheren Maßes an praktischen Erfahrungen, d.h. höheren Umfangs an „kulturellem Kapital“ (Bourdieu 1983) im Feld, wird angesichts der fundamentalen Störanfälligkeit akrobatischer Praktiken von den Stützenden verlangt, auf während der konzertierten Vollzüge auftretende Unsicherheiten und Probleme reagieren zu können. Der Trainer mobilisiert und engagiert die Stützenden mit seiner an diese gerichteten Kritik und seinen Erklärungen als Subjekte der Diagnose und Korrektur und legt es ihnen nahe, ihre Mitspielerin aus der Perspektive der (normativen) Anforderungsstruktur der Praktik zu beobachten, zu instruieren und zu korrigieren. Auch für die Vermittlung bzw. Verfügbarmachung eines für diese Mitspielfähigkeit konstitutiven Wissens kommt dem Podest sowie dem durch seine Einsetzung instituierten Beobachtungsdispositiv eine entscheidende Funktion zu. Das Podest tritt als nicht-menschlicher Partizipand des Tuns an die Stelle der Stützenden, entlastet diese von den Dringlichkeiten der praktischen Vollzüge und erlaubt ihnen das vorübergehende Heraustreten aus dem „pragmatische[n] Motiv“ (Amann/Hirschauer 1997: 24) der konzertierten Praxis sowie die Einnahme einer Zuschauerposition. Durch die sprachliche Kommentierung der Demonstrationen der Gestützten am Podest und ein körperlich-anfassendes Eingreifen in deren Bewegungsvollzüge richtet der Trainer die Blicke und die Aufmerksamkeit der Zuschauenden auf den Körper der sich-bewegenden Akrobatin und praktikspezifischer Weise aus. Er zeigt sprachlich und ‚handgreiflich‘ auf jene Momente der vorgeführten Bewegungssequenz, in denen das Tun der exponierten Sportlerin von der (Ideal-)Form der akrobatischen Praktik abweicht, rückt diese Momente in den Fokus geteilter Aufmerksamkeit und macht sie für die beiden zusehenden Akrobatinnen als besonders wichtige, kritische und genau zu

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beobachtende Vollzugsphasen verstehbar.158 Im Zusammenspiel der Demonstrationen der gestützten Akrobatin am Podest und den sprachlichen sowie ‚handgreiflichen‘ Hinweisen des Trainers werden praktikspezifische Beobachtungscodes, Beurteilungsmaßstäbe und Gelingenskriterien öffentlich und explizit und damit den Stützenden für die Beobachtung, die Instruktion und Korrektur ihrer Mitspielerin zur Aneignung verfügbar gemacht. Die Verpflichtung und Einsetzung der Stützenden als Subjekte der Diagnose und Korrektur verweist dabei auf eine Leerstelle vieler neuerer praxeologischer Arbeiten, in denen vorrangig körperliche Fähigkeiten und ein implizites Ausführungswissen als Dimensionen der Mitspielfähigkeit im Rahmen von Praktiken in den Blick genommen werden (vgl. Kapitel 2.2.1). In der zweiten Sequenz des zweiten Falls wird erkennbar, dass gerade der – von den betreffenden praxeologischen Konzeptionen zumeist ebenso vernachlässigte (vgl. Kapitel 2.2.2) – Umgang mit Unsicherheiten und Störungen im Rahmen konzertierter Praktiken zumindest von manchen, nämlich als praktisch erfahrener angenommenen, Mitspielern auch ein deskriptives und zumindest in Schlagworten explizierbares Wissen um wesentliche der Anforderungen und Ausführungskriterien erfordert, welche diese für ihre verschiedenen Teilnehmer bereithalten. Der Trainer führt die Gruppe vom Podest fort und lobt Luisas Verbesserungen. Dann hält er die Akrobatinnen dazu an, das Stützelement abermals zu dritt auszuführen. Isabel äußert diesmal zaghaft die vom Trainer vorgegebenen Instruktionen: „Halten, drehen, Beine.“ Aber auch bei diesem Versuch geht Luisa sturzartig aus der Stütze ab. Alle drei Sportlerinnen richten ihre Blicke sofort hilfesuchend auf den Trainer, der sich an Luisa wendet und ihr erneut verbal und mit Hilfe von angedeuteten Körperbewegungen erklärt, dass sie sich zuerst in der Grätsche halten und dann drehen solle. Es sei der Ellenbogen unter den Oberkörper zu bringen und erst dann die Stützhaltung einzunehmen. Luisa solle ihren Oberkörper nicht einfach aus der Grätschhaltung nach vorn fallen lassen. Dann bedeutet der Trainer ihr, abermals zum Podest zu gehen. Auch Isabel und Jana bittet er wieder dazu: „Mal eben schauen, was sie tut, damit ihr darauf reagieren könnt.“ Luisa beginnt unter den Augen des Trainers und der beiden Akrobatinnen zögerlich mit der Ausführung der Bewegungssequenz. In der Stützposition angekommen, weist der Trainer sie mehrfach auf „lange Beine“, beim

158 Vgl. zur Teilung von Aufmerksamkeit durch Zeigen auch Goodwin (2003: 218): „A central locus for the act of pointing is a situation that contains at least two participants, one of whom is attempting to establish a particular space as a shared focus for the organization of cognition and action.“

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Auflösen der im Anschluss an die Stütze einzunehmenden Grätschhaltung auf „langsame Beine“ hin: „Langsam die Beine. Rausdrücken und hocken.“ Der Trainer schüttelt beim Zusehen den Kopf. Dann fordert er Luisa auf, das Podest zu verlassen. Als er sich gerade anschickt, selbst das Podest zu besteigen, wird er von Isabel, die ihn vorsichtig fragt, ob sie einspringen solle, unterbrochen. Der Trainer stimmt ihrem Vorschlag sofort zu und räumt ein: „Ich glaube, ich schaff das nicht.“ Isabel übernimmt die Position auf dem Podest (Abbildungen 32 und 33). Abbildungen 32 und 33: Isabel übernimmt das Podest

Der Trainer dreht Luisa an deren Schultern in eine Zuschauerposition und beugt sich zu ihr herunter. Isabel führt nun die Bewegung am Podest vor. Der Trainer flüstert Luisa während Isabels Demonstration permanent etwas ins Ohr und kommentiert die Endphase der Bewegungssequenz, den Übergang von der Grätsch- in die Bückposition, dann laut: „Hast du das gesehen? Sie holt die Beine von hinten, hockt durch und drückt sich dabei raus.“ Er untermalt seine Erklärungen mit Armbewegungen, die zuerst Isabels Beinführung, dann ihre Armbewegung imitieren (Abbildung 34). Luisa begibt sich auf das Podest und

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vollzieht die Bewegungssequenz noch einmal. Still beobachtet der Trainer sie dabei. Nachdem sie die Bewegung beendet hat, hebt er den Daumen und sagt lächelnd: „Da braucht man gar nicht mehr zu sagen. Da braucht man nur jemanden, der das gut zeigt.“ Luisa verlässt das Podest und der Trainer wendet sich an Isabel und Jana: „Das wär dann auch noch eine Ansage für euch. Sobald sie anfängt, das aufzulösen: ‚Drück die Arme lang‘.“ Er klatscht in die Hände und entfernt sich, gefolgt von den Akrobatinnen, vom Podest. Er stellt fest: „Jetzt wisst ihr, wo es drauf ankommt.“ Abbildung 34: Der Trainer erklärt Luisa das von Isabel Gezeigte

Der Trainer als Krisenmanager

Zu Beginn der dritten Sequenz des Falls wird erkennbar, dass die in der ersten und zweiten Sequenz angebrachten Instruktionen und Korrekturen sowie die angestellten Diagnosen nicht die erwarteten Effekte zeitigen und die fokussierte Bearbeitung des einzelnen Akrobatinnen-Körpers im Beobachtungsdispositiv nicht zu einer Reintegration des Kollektivkörpers auf höherem Niveau führt. Die Beobachtung der Vollzüge des wieder synthetisierten Kollektivkörpers veranlasst den Trainer erneut zu einer Kritik an der Gestützten. Auf diese folgt eine abermalige Dekomposition des Kollektivkörpers, um von Neuem auf einer früheren Qualifizierungsstufe anzusetzen und die Ausführungsschwierigkeiten der die Position der Gestützten einzunehmenden Akrobatin unter komplexitätsreduzierenden Bedingungen anzugehen. Im mithilfe des Podests wiederum instituierten Beobachtungsdispositiv identifiziert der Trainer diesmal eine spätere Phase der Bewegungssequenz, die zuvor noch nicht problematisiert wurde, als in maßgeblicher Weise von der Idealform der anvisierten akrobatischen Praktik abweichend. Er scheint nun keine anderen Korrektur- und Interventionsmaß-

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nahmen mehr zur Hand zu haben, als selbst das Podest zu übernehmen, obwohl er, wie er einräumt, die in Frage stehende Bewegungssequenz gar nicht beherrscht. Diese Aktion des Trainers mutet vor dem Hintergrund seiner eigens eingestandenen Unfähigkeit zur körperlichen Demonstration der Stützbewegung beinahe verzweifelt an und gibt eine Rat- und Hilflosigkeit dahingehend zu erkennen, wie nach der Vielzahl der von ihm bereits in Anschlag gebrachten Instruktionen noch zu intervenieren sei. Auf der anderen Seite jedoch zeigt sein ansatzweiser Demonstrationsversuch auch das Engagement des Trainers für die akrobatische Praktik und den Trainingsprozess sowie seinen Eifer und seine Leidenschaft dafür, seine Aufgabe zu erfüllen und es den Akrobatinnen zu ermöglichen, die Praktik wie vorgesehen auszuführen. Um die Unfähigkeit des Trainers zur Demonstration der in Frage stehenden Bewegungssequenz wohl wissend, kommt ihm eine der Stützenden zur Hilfe und setzt sich selbst am Podest als Modell für ihre Mitspielerin in Szene. Ihre Demonstration macht sich die Funktion des Körpers als display zunutze; mit ihr bringt sie ihr Wissen um die Ausführungsprinzipien der von der Gestützten erwarteten Bewegung, welches sie offenkundig nur im Modus des Impliziten und Körperlichen verfügbar hält und erst noch – wie in der Beschreibung und Analyse der zweiten Sequenz herausgearbeitet – zu explizieren lernen soll, zur körperlichen Darstellung. Der Trainer begleitet die Demonstrationen der Akrobatin mit sprachlichen Hinweisen und Kommentaren, mit denen er die Aufmerksamkeit der zusehenden jungen Akrobatin auf wichtige Momente der Bewegung sowie entscheidende Stellen des ausgestellten Umgangskörper richtet und das den gekonnten Bewegungen eingelagerte Wissen expliziert und damit in einen anderen Aggregatzustand übersetzt. Im Anschluss an die kommentierte Demonstration wird die junge Akrobatin dazu angehalten, das verfügbar gemachte Wissen in einer weiteren Ausführung der Bewegungssequenz am Podest zu verkörpern und ihr Verstehen performativ unter Beweis zu stellen. Der Trainer signalisiert Zufriedenheit mit dem Versuch und betont im Zuge seines Lobes der jungen Akrobatin die Wichtigkeit der Demonstration der älteren Akrobatin für die Einstellung der Jüngeren auf die Anforderungen der akrobatischen Praktik. Am Ende der Sequenz stellt er schließlich fest, dass die Akrobatinnen nun wüssten, worauf es ankomme, gesteht dabei jedoch nicht ein, dass dies auch für ihn selbst gilt. Dabei vermittelt die Vielzahl seiner unterschiedlichen Diagnosen und streckenweise recht hilflos wirkenden sowie schlussendlich erfolglosen Interventionen den Eindruck, als seien auch ihm die Details des Ausführungsprob-

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lems erst jetzt transparent geworden.159 Das Wissen um sowie die Diagnose von Diskrepanzen zwischen dem Tun der Gestützten und der praktikadäquaten Weise der Ausführung entfaltet sich erst im ‚Dazwischen‘ der körperlichen Demonstrationen der beiden Akrobatinnen am Podest und den Beobachtungen und sprachlichen Benennungen durch den Trainer. Mit seiner letzten Äußerung und seinem Überspielen der eigenen Unsicherheit beansprucht der Trainer Überlegenheit gegenüber den Akrobatinnen und inszeniert sich selbst als eine Art Subjekt des Krisenmanagements. Verständlich wird sein scheinbar paradoxes Verhalten, die Beanspruchung von Souveränität angesichts einer augenscheinlichen Unsicherheit, vor dem Hintergrund des Umstandes, dass der Trainer zwar im Vergleich mit den Sportlerinnen über größere Handlungsspielräume und ein umfangreicheres Maß an Bestimmungsgewalt verfügt, jedoch nicht als souveränes Subjekt außerhalb praktischer Zwänge und Verpflichtungen steht, sondern in spezifischer Weise in der Praktik Training positioniert und mit besonderen Erwartungen und Anforderungen konfrontiert ist. Sein Verhalten antwortet auf die in den ratsuchend auf ihn gerichteten Blicken der Sportlerinnen erkennbar werdende Erwartung, dass er als Trainer aufgrund seiner Ausbildung sowie seines ihm zugeschriebenen und institutionell legitimierten Erfahrungsvorsprungs im Falle einer von den Sportlerinnen nicht selbstorganisiert zu bewältigenden Krise als letzte Instanz der Problemlösung mit der Störung umzugehen weiß. Die Aktionen des Trainers und insbesondere auch seine letzte Äußerung behaupten genau diese von ihm erwartete Souveränität, überspielen seine augenscheinlichen Unsicherheiten und konstituieren in dieser Hinsicht Maßnahmen der performativen Beglaubigung seiner Position als Trainer. Die Bewegung, die Luisa bei ihrem letzten Versuch auf dem Podest noch so gut gelungen war, endet im Zusammenspiel mit den beiden anderen Akrobatinnen wieder beinahe mit einem Sturz. Der Aufbau aus den drei Akrobatinnen wackelt erkennbar. Der Trainer ruft noch „Arghhh, Arme lang!“, aber Luisa trifft Isabel und Jana bei ihrem Abgang mit ihren Füßen und Beinen an den Köpfen und endet im Sitz auf Isabels Schultern. Alle Akrobatinnen kichern zunächst laut und blicken dann den Trainer fragend an. Als wolle er Luisa an ihren letzten gelungenen Versuch am Podest erinnern, zeigt auf dieses und spannt erkennbar die

159 In einem videogestützten Interview räumt der Trainer seine Unsicherheit ein: „Also, ich muss ja ehrlicherweise auch mal zugeben: Diese Element hasse ich wie die Pest. […] Weil das unheimlich schwierig zu erklären ist. Also das ist echt aus meiner Sicht für mich persönlich das Element, das ich nicht mag. […] Ah, was erkläre ich denn da? Himmel! Das kann nicht gut gehen.“ (Interview vom 26.3.2012)

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Arme an. Dann fordert er die Sportlerinnen sofort zum nächsten Versuch auf. Auch beim diesem geschieht Luisas Abgang unkontrolliert. Wieder trifft sie die Köpfe ihrer Partnerinnen mit den Füßen. Der Trainer weist Luisa abermals auf das Strecken der Arme und das Anhocken der Beine hin. Die drei Sportlerinnen probieren das akrobatische Element ein weiteres Mal, doch wieder geht Luisa sturzartig ab. Der Trainer erinnert sie ein weiteres Mal: „Beine hoch!“ und klatscht dann in die Hände. Mit zugleich kapitulierender und aufmunternder Geste fasst er zuerst Isabel und Jana, dann auch Luisa an den Schultern. Dann wird das Training beendet. Die Schwierigkeiten des konzertierten Vollzugs

In der letzten Sequenz des Falls wird der Kollektivkörper abermals rekomponiert. Im Zusammenspiel mit den anderen beiden Teilnehmerinnen gelingt es der Gestützten kein einziges Mal, die Bewegungssequenz, die der Trainer zuvor am Podest als praktikadäquat anerkannt hat, zu dessen Zufriedenheit zu wiederholen. Der Umstand, dass im Vergleich zur ersten Sequenz keine erkennbare Verbesserung der konzertierten Vollzüge erkennbar wird, deutet auf eine Unwirksamkeit der zahlreichen vom Trainer in Anschlag gebrachten Interventionen, Korrekturen und Hinweise hin. Die Unfähigkeit der Gestützten, die am Podest beherrschte Bewegungssequenz auf den Armen ihrer Mitspielerinnen zu wiederholen, gibt zu erkennen, dass die vermeintlich identische Bewegung mit der Veränderung des Ausführungskontextes, welche der Austausch des nicht-menschlichen Partizipanden durch die Akrobatinnen mit sich bringt, zu einer anderen wird und die junge Akrobatin im Zusammenspiel mit den zwei anderen Sportlerinnen mit Anforderungen konfrontiert wird, die das Podest gewissermaßen ‚ausgeschaltet‘ und nivelliert hat. Der Trainer, der sich noch in den verschiedenen Sequenzen des Falls von genau dieser Kontextabhängigkeit der Bewegung abstrahiert, räumt sie rückblickend und selbstkritisch in einem videogestützten Interview ein: „Das Podest ist natürlich total starr. Da kann sie drehen und dagegen ackern und das Ding bleibt trotzdem immer so stehen, so fest. […] Und hier mit den beiden unten, da ist Bewegung drin. Also bei den Stützenden, da geht das hin und her und dann wird sie unsicher und kann das nicht mehr reproduzieren, weil der Untergrund komplett ein anderer ist. […] Da [am Podest; KB] kann sie sich ganz in Ruhe drehen, weil die Stützen immer gleich sind, der Abstand. Die Hände sind, also da ist bei denen [Jana und Isabel; KB] immer unterschiedlich. Die wackeln aber auch echt wie verrückt da. Die wackeln da einen zurecht und die [Luisa; KB] kriegt echt die Muffe da.“ (Interview vom 26.3.2012)

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Mit der Ersetzung der menschlichen Mitspielerinnen durch das Artefakt werden die Bewegungsvollzüge der Gestützten gleichsam individualisiert und stabilisiert: Aufgrund seiner Architektur kann das Podest auf immer gleiche, kontrollierte und vorhersehbare Weise ‚bedient‘ werden. Seine Substituierung durch die menschlichen Mitspielerinnen bringt für die Gestützte eine Reihe unkontrollierbarer neuer Variablen und Unwägbarkeiten ins Spiel, welche die Stützbewegung für sie in verschiedenen Hinsichten verändern und sie vor neue, am Podest unbearbeitete Herausforderungen und Transferprobleme stellen. Hatte das Podest zuvor noch ein solides und sicheres Fundament für den Vollzug der Bewegungssequenz geboten, hat die Gestützte als Teil eines menschlichen Kollektivkörpers nun der Herausforderung einer augenscheinlichen Instabilität des Aufbaus – die Arme der Mitspielerinnen zittern und bringen sie in großer Höhe gefährlich ins Wanken – zu begegnen. Sie ist nun gefordert, die Armbewegungen ihrer Mitspielerinnen auszugleichen und mit ihrer eigenen Angst vor einem Sturz aus großer Höhe umzugehen. Mit seinen Interventionen vernachlässigt der Trainer sowohl die Möglichkeit, dass für die Gestützte unter den veränderten Bedingungen die Motivation, die Bewegung praktikadäquat auszuführen, hinter den Wunsch, den konzertierten Vollzug sicher zu überstehen, zurückgetreten sein könnte als auch den Umstand, dass die (unsicheren) Aktionen ihrer Mitspielerinnen unwillkürlich auf ihre Bewegungen Einfluss nehmen. Der Trainer übersieht, dass es nicht nur der einzelnen Teilnehmerin der akrobatischen Praktik an Mitspielfähigkeit, sondern auch dem dreiteiligen Kollektivkörper an Zusammenspielfähigkeit mangelt, seine einzelnen (Mit-)Glieder aufeinander eingestellt und miteinander harmonisiert bzw. als kollektiver Umgangskörper formiert werden müssen. Indem er bereits in der ersten Sequenz der Trainingsepisode die augenscheinlichen Probleme und Unsicherheiten des Kollektivkörpers individualisiert und ausschließlich die Bewegungen der Gestützten als praktikinadäquat problematisiert, abstrahiert der Trainer von der irreduzibel übersummativen Eigenlogik akrobatischer Praktiken sowie wesentlichen Anforderungen und Schwierigkeiten konzertierter praktischer Vollzüge. Die Unwirksamkeit der Interventionen des Trainers gibt zu erkennen, dass die Prinzipien und Details der kollektiven Organisation von Körpern im Rahmen akrobatischer Praktiken sogar den erfahrensten Mitspielern (hier: dem Trainer) verborgen bleiben können. Seine erfolglosen Korrekturen und Instruktionen sind durch eine spezifische – individualistische –Wissensordnung gerahmt und präfiguiert, die er über seine Interventionen zu einem Partizipanden der Praktik macht, welcher den Vollzug jedoch – ganz entgegen der offenkundigen Absichten des Trainers – nicht verbessert, sondern die Probleme der Gruppe eher noch verstärkt.

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Die letzte Sequenz des Falls rückt neben individualistischen Trainingsanweisungen auch sportpsychologische Untersuchungen in ein fragwürdiges Licht. In Einklang mit Max Webers Postulat des methodologischen Individualismus unterstellen letztere zumindest implizit eine Rückführbarkeit und Erklärbarkeit kollektiver Aktionszusammenhänge – etwa Fußballspiele (vgl. Höner 2005) oder Handballspiele (vgl. Johnson/Raab 2003) – auf individuelle und in individualisierenden Laborkontexten oder experimentellen Anordnungen erhobene Handlungen. Der zweite empirische Fall sportakrobatischer Trainingspraxis gibt jedoch anschaulich zu erkennen, wie groß die Probleme des Transfers scheinbar identischer Bewegungen von einem Kontext in einen anderen tatsächlich sein können und wie wenig die Beobachtung und Untersuchung individueller Handlungen Aussagen über das Mitspielen-Können in kollektiven praktischen Zusammenhängen erlauben. Fazit des Falls

Den Ausgangspunkt der zweiten Fallanalyse bildet die Frage danach, wie mit Misslingen umgegangen und in welchen Schritten versucht wird, Probleme, die eine bereits als zusammenspielfähig angenommene Sportlerinnen-Gruppe beim Vollzug einer akrobatischen Praktik hat, zu diagnostizieren und zu bearbeiten. In diesem Abschnitt soll nun auf drei im Zusammenhang mit dieser Fragestellung gemachte Beobachtungen noch einmal zusammenfassend und systematisierend eingegangen werden. Dabei handelt es sich erstens um das Wechselspiel aus Deund Rekompositionen des Kollektivkörpers, bzw. aus Individualisierungen und Kollektivierungen oder Konzertierungen von Bewegungsvollzügen und zweitens um die Ungleichverteilung von Mitspielanforderungen und deren Regelung. Drittens soll abermals auf den Umstand zu sprechen gekommen werden, dass Probleme von Akrobatinnengruppen, denen der selbstorganisierte Umgang mit Unsicherheiten (noch) nicht zugetraut wird, den Trainer auf den Plan rufen können, der angesichts der spezifischen Vollzugslogik akrobatischer Praktiken mitunter selbst mit der Problembearbeitung überfordert ist und dann, um den Erwartungen, die an seine besondere Position gerichtet sind, dennoch zu entsprechen, eine Wissensordnung ins Spiel bringt, die den Prozess der Problemlösung eher behindert als unterstützt. Als charakteristisch für die im Rahmen der zweiten Fallanalyse mikroskopisch in den Blick genommenen Versuche der Problemdiagnose erweisen sich Praktiken der De- und Rekomposition des Kollektivkörpers sowie die Einrichtung eines Beobachtungsdispositivs, mit welcher auf eine Qualifizierungsstufe zurückgegangen wird, die die betreffenden Akrobatinnen eigentlich bereits überschritten haben sollten. In dem durch die Einsetzung des dinglichen Mitspielers

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Podest instituierten Beobachtungsdispositiv wird der Körper derjenigen Teilnehmerin, von der der Trainer aufgrund erster Beobachtungen der konzertierten Vollzüge zu dritt annimmt, das Misslingen maßgeblich zu verschulden, auf eine spezifische Weise exponiert. Diese Exponierung ermöglicht es dem Trainer, Abweichungen ihrer Bewegungsvollzüge von der Idealform der akrobatischen Praktik unter komplexitätsreduzierenden Bedingungen detailgenau zu beobachten und mithilfe handgreiflicher, körperlich-gestischer und sprachlicher Interventionen zu korrigieren. Im Beobachtungsdispositiv wird ein Wissen um die Anforderungen, welche die Praktik für die Position der Gestützten bereithält, verfügbar gemacht, das die junge Akrobatin in ihren wiederholten Versuchen am Podest unter den Augen des Trainers als beglaubigender und autorisierter Instanz zu verkörpern lernen muss. Im Beobachtungsdispositiv werden aber auch die übrigen beiden Mitspielerinnen in die Pflicht genommen und vom Trainer als ‚Hilfstrainer‘ bzw. Subjekte der Diagnose und Intervention adressiert. Der Trainer fordert die Akrobatinnen auf, ihre junge Mitspielerin aus der Perspektive der Anforderungsstruktur der akrobatischen Praktik zu beobachten und auf Abweichungen ihres Tuns von dieser mit verbalen Hinweisen zu reagieren. Die unterschiedlichen Weisen der Responsabilisierung der verschiedenen Teilnehmerinnen durch den Trainer geben dabei zu erkennen, dass und inwiefern Mitspielanforderungen im Rahmen einer akrobatischen Praktik positionsspezifisch differenziert sind. Während von der jüngsten und unerfahrensten Akrobatin lediglich verlangt wird, die Position der Gestützten mit den richtigen Bewegungen auf praktikadäquate Weise zu verkörpern, werden von ihren erfahreneren Mitspielerinnen nicht nur ein praktisches Ausführungswissen und die Realisierung praktikadäquater Bewegungen, sondern auch ein reflexives und explizierbares Instruktions- und Korrekturwissen verlangt, aufgrund dessen sie das Tun der Gestützten unter den (normativen) Vorzeichen der Praktik bewerten und lenken sollen.160 Der im Beobachtungsdisposi-

160 Diese Anforderungs- und Erwartungsdifferenzierung hängt mit der übergeordneten Organisationsstruktur der gesamten Trainingsgruppe als Community of Practice zusammen (vgl. Kapitel 4.1): Alle Sportlerinnen stoßen in jungem Alter zur Gruppe und beginnen in der Position der Gestützten (bzw. im Rahmen anderer akrobatischer Praktiken: Geworfenen), bevor sich ungefähr mit der Pubertät ein Positionswechsel vollzieht, in dessen Zuge die ehemals Gestützten (bzw. Geworfenen) die Position einer Stützenden (bzw. Werfenden) übernehmen müssen. Der Positionswechsel erfordert von den betreffenden Sportlerinnen die Übernahme neuer Verantwortlichkeiten und die Entwicklung der Fähigkeit, zu ihrem im Laufe der Zeit durch kontinuierliches

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tiv und unter komplexitätsreduzierenden Bedingungen auf die beschriebenen Weisen erzielte Wissenszuwachs muss schließlich im rekomponierten Kollektivkörper in konzertierten Vollzügen zu dritt unter Beweis gestellt werden. Gelingt dies aus der Perspektive des Trainers wiederum nicht auf angemessene Weise, erfolgt abermals der Rückgang auf die frühere Qualifizierungsstufe, um erneut an dieser anzusetzen. Der Trainer besetzt in diesen, den dreistelligen Kollektivkörper abwechselnd de- und rekomponierenden, Praktiken der Diagnose und Korrektur insofern eine Schaltstelle und Schlüsselposition, als er derjenige ist, der in entscheidendem Maße zwischen dem Tun der Sportlerinnen und den Anforderungen der akrobatischen Stützpraktik vermittelt. Er erweist sich als derjenige Mitspieler, der einen Großteil an Hinweisen, Korrekturen und Wissen einspeist, Veränderungen der Übungskonstellationen anweist und Entscheidungen darüber verbindlich macht, ob und inwiefern sich die Teilnehmerinnen in praktikadäquater Weise bewegen und agieren oder nicht. Dass er sich selbst trotz seiner augenscheinlichen und im videogestützten Interview auch explizit eingeräumten Unsicherheit über die Ursachen des Misslingens und ihre Bearbeitung als ‚Subjekt der Krise‘ einsetzt, erklärt sich insbesondere auch vor dem Hintergrund jener kollektiven Erwartungen, die die übergreifende Praktik Training und deren Teilnehmer an die Position des Trainers richten. Aufgrund institutionalisierter Status- sowie offiziell lizensierter Wissensunterschiede gilt es für ihn vor allem unter Bedingungen, in denen die Akrobatinnen allein mit der Bearbeitung einer Störung oder dem Umgang mit Unsicherheiten und Misslingen überfordert sind, diese formale Überlegenheit unter Beweis zu stellen, indem er Ausführungsprobleme benennt und entsprechende Lösungsvorschläge bereithält. Unsicherheiten sind demgegenüber für die von ihm im Beziehungsgefüge der Praktik Training eingenommene Position nicht vorgesehen. Indem die Sportlerinnen seinen Anweisungen und Korrekturvorschlägen ausnahms- und fraglos Folge leisten und sich nach beinahe jedem Versuch der Umsetzung seiner Vorgaben mit fragenden Blicken ratsuchend an ihn wenden, signalisieren sie ihm, dass sie sich auf ihn verlassen und an seine überlegene Interventions- und Krisenkompetenz glauben bzw. diese erwarten.161

Training erworbenen Vollzugswissen auf reflexive Distanz gehen und dieses in explizite Hinweise, Benennungen und Korrekturen übersetzen zu können. 161 Gerade bei den jüngeren und verhältnismäßig unerfahrenen Sportlerinnen scheint dieses Sich-Verlassen auf den Trainer und seine Deutungen konstitutiver Bestandteil ihres „kollektive[n] Glaube[ns] ans Spiel“ (Bourdieu 1987a: 122) zu sein. Die älteren und erfahreneren Sportlerinnen hingegen beziehen auf der „Hinterbühne“ (Goffman 2011: 100) – hinter dem Rücken des Trainers – manchmal kritisch Position zu dessen

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Dass der Trainer allerdings tatsächlich – bedingt wahrscheinlich auch durch den Druck, angesichts des kurzbevorstehenden Auftritts schnell sichtbare Verbesserungen ermöglichen zu müssen – weit weniger ‚Herr der Lage‘ ist, als er vordergründig vorgibt, verrät sich an der Vielzahl seiner redundanten, aktionistischen und schlussendlich wenig zielführenden Hinweise, Erklärungen und Korrekturen, die den Anschein erwecken, als sollten sie jene Unsicherheiten verschleiern, die ihm auf seiner Position versagt sind. Der Trainer konzentriert und versteift sich mit seinen Korrekturen auf die Bewegungsvollzüge einer Mitspielerin der akrobatischen Praktik, individualisiert das Misslingen damit vorschnell und übersieht die fundamentale Abhängigkeit der Bewegungsaktionen der einen von den Bewegungsaktionen der anderen Mitspielerinnen. Er ruft dabei eine implizite individualistische Handlungs- oder Trainingstheorie auf und macht diese mit seinen Interventionen zu einem (störenden) Partizipanden der akrobatischen Praktik. Bedingt durch das individualistische Deutungsmuster übersieht er solche praktischen Anforderungen und Schwierigkeiten – wie etwa den Umgang mit Angst –, die das Podest für die Gestützte ausschaltet und die für diese erst im Zusammenspiel mit ihren menschlichen Mitspielerinnen wieder eingeschaltet werden. Statt jedoch seine Unsicherheit einzuräumen oder auch die (möglicherweise divergierenden) Problemdeutungen der Sportlerinnen selbst zu erfragen, verfolgt der Trainer, nachdem er sich in der ersten Sequenz mit seiner resoluten und auf einem unspezifischen

Interventionen und verhandeln untereinander alternative Deutungen und Vorgehensweisen. Auf der „Vorderbühne“ (ebd.:104) jedoch erkennen zumeist auch sie die Deutungshoheit und Autorität des Trainerwissens an. Dies dient ihnen als eine Strategie zur Konfliktvermeidung, zumal der Trainer auf die Unterminierung seiner Autorität mitunter harsch reagiert. In einem Interview erläutert eine der Akrobatinnen: „Das hat was mit der Harmonie zu tun. Da muss sich jemand rausziehen. Und in dem Moment ziehe ich mich dann raus, damit es gut ist. Weil, wenn ich jetzt reingehe und sage: ‚Christoph, nee.‘, dann würde er mit einem Gesicht rausgehen. Und das kriegt die Gruppe mit und dann sind sie alle so (sie schluckt). Und das bringt der Gruppe in dem Fall nichts.“ Sie führt weiter aus: „Na, manchmal wird das auch durch außen dann auf andere geschoben. Also innen sagen die sogar: ‚Das war meine Schuld.‘ […] Bei Hanna ist das öfter so, dass dann Christoph sagt: ‚Hanna, das hast du wieder nicht –!‘ Und dann sagen wir selbst zu Hanna: ‚Du Hanna, lass mal, das war unsere Schuld. Wir haben dich einfach nicht richtig – Wir waren noch nicht ganz –. ‘ Dann sieht Christoph das von außen gar nicht und wir beruhigen sie und sagen –. Das soll man ja eigentlich nicht machen, aber naja – ‚Ist nicht ganz deine Schuld.‘“ (Interview vom 18.3.2012)

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Eindruck gründenden Kritik einmal eingebracht hat, beharrlich seinen ursprünglich eingeschlagenen Weg, ohne dass sich dieser als zielführend erweist. Die Handlungen des Trainers sind nur auf der einen Seite vor dem Hintergrund der funktionalen Organisationsstruktur der angestrebten akrobatischen Praktik zu erklären und als durch diese präfiguriert zu verstehen. Auf der zweiten Seite sind sie durch das mit ungleichen Rechten und Pflichten zusammenhängende Positionengefüge der Praktik Training beeinflusst und in dieser Hinsicht machtlogisch durchwirkt. Die Trainingsepisode macht darauf aufmerksam, dass die Mitspieler von Praktiken keineswegs zwangsläufig nur funktionale Zwecke verfolgen und sich auf die gemeinsame Bearbeitung von Problemen oder Aufgaben konzentrieren, sondern durchaus auch macht- und positionslogisch motiviert agieren, und dass sich diese zwei Antriebe oder Dimension auch ‚ins Gehege‘ kommen können. Die vordergründig ausschließlich auf den funktionalen Zweck der Problembearbeitung gerichteten Aktionen des Trainers lassen sich auch als positions- und machtlogisch durchwirkte „Techniken der Imagepflege“162 und -wahrung deuten, mit deren Hilfe er Souveranität im Umgang mit der Krise demonstriert und seine Autorität und Handlungsfähigkeit als auf spezifische Weise positionierter und sich positionierender Mitspieler der Praktik aufrechterhält.163 Die Sportlerinnen, so ließe sich zusammenfassen, erwarten vom Trainer die Kompetenz zum Umgang mit Krisen und zur Lösung von Problemen und setzen ihn damit unter Druck. Um diese Erwartungen trotz augenscheinlicher Unsicherheiten gerecht zu werden, bringt und hält er eine Wissensordnung im Spiel, die den funktionalen Problemlöseprozess eher behindert als unterstützt.

162 Goffman versteht unter einem Image „ein in Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild“ (Goffman 1986: 10), das eine Person hat oder besitzt. Um sein Image zu wahren, gelte es, die eigene Stellung in der Welt – bzw. praxistheoretisch gewendet: die eigene Position in einer sozialen Praktik – und die Erwartungen anderer Teilnehmer an der entsprechenden (Interaktions-)Situation zu berücksichtigen. Als „Techniken der Imagepflege“ bezeichnet Goffman weiter alle Handlungen, „die vorgenommen werden, um all das, was man tut, in Übereinstimmung mit seinem Image zu bringen. Techniken der Imagepflege dienen dazu, ‚Zwischenfällen‘ entgegenzuarbeiten – das sind Ereignisse, deren effektive, symbolische Implikationen das Image bedrohen.“ (ebd.: 18) 163 Vgl. zur potenziell konflikthaften Verschränkung von funktionalen Akten der Problemlösung und politischen Positionierungskämpfen in Praktiken des Arbeitens auch den theoretisch-empirischen Beitrag von Alkemeyer/Brümmer/Pille (2010).

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4.3.2.4 Fall drei – Der selbstorganisierte Umgang mit Unsicherheit Die im vorigen Abschnitt analysierte zweite Trainingsepisode steht exemplarisch für solche Fälle des sportakrobatischen Trainings, in denen es beim Vollzug bzw. der Einübung einer akrobatischen Praktik durch eine bereits als zusammenspielfähig angenommene Akrobatinnen-Gruppe zu Problemen und Störungen kommt, deren eigenständige Bewältigung ihr (noch) nicht zugetraut wird, so dass sich der Trainer einschaltet und die Kontrolle über den Prozess der Problemdiagnose und -bearbeitung übernimmt. Im Training kommt es jedoch des Öfteren auch dazu, dass sehr erfahrene Gruppierungen beim Vollzug akrobatischer Praktiken mit Unsicherheiten und Irritationen konfrontiert werden, deren Bewältigung und Reparatur sie dann selbstorganisiert, d.h. unabhängig von der Interferenz des Trainers, vornehmen. Am dritten Fall wird zu einen herausgearbeitet, wie der selbstorganisierte Umgang mit einem Problem erfolgt und wie eine akrobatische Praktik über die lokalen und problemlöseorientierten Interaktionen ihrer Teilnehmerinnen hinweg ausgeformt wird. Zum anderen wird gezeigt, welche Wissensbestände und Mitspielfähigkeiten bei der selbstorganisierten Problemdiagnose und -bearbeitung im Spiel sind und wie sich die Akrobatinnen in ihrem Zuge wechselseitig als kompetente Mitspielerinnen der betreffenden Praktik hervorbringen. Den ‚Unterbau‘ der im Fokus der dritten Fallanalyse stehenden akrobatischen Figur des Doppelhandstands bilden zwei Akrobatinnen, die voreinander im nicht ganz aufrechten, sondern schrägen und in der Hüfte leicht gebeugten Handstand stehen und sich hierbei die Gesichter zuwenden. Stabilität erhalten die Handstände dadurch, dass sich die Sportlerinnen gegenseitig an den Füßen stützen und auf diese Weise Druck gegeneinander ausüben. Sobald die zwei Akrobatinnen diese Doppelhandstandposition eingenommen haben, steigt eine dritte Sportlerin über Nacken und Hintern einer der im Handstand stehenden Sportlerinnen auf deren Füße. Mit ihren Händen umfasst sie die Füße der anderen im Handstand stehenden Akrobatinnen und nutzt diese als Halte- und Griffgelegenheit für die Ausführung eines gegrätschten Handstands in der Höhe (Abbildungen 35–37).

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Abbildungen 35–37 (links vorn): Doppelhandstand

Diana, Maike und Verena stehen am vorderen Mattenrand und bereiten sich im Rahmen der Ausführung der Auftrittschoreografie durch die gesamte Gruppe angesichts eines kurzbevorstehenden Wettbewerbs als eine von sechs Dreiergruppen auf den Aufbau eines Doppelhandstands vor. Maike und Diana stehen in leichter Grätschstellung etwa einen Meter weit auseinander und wenden sich ihre Rücken zu. Verena wartet hinter Diana. Maike beugt ihren Oberkörper nach unten und setzt ihre Hände vor sich auf den Boden. Einen Bruchteil später führt

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Diana eine identische Bewegung aus. Maike löst nun den rechten Fuß vom Boden und führt den Unterschenkel mit gebeugtem Knie in die Luft. Kurz danach hebt Diana ihren linken Fuß und führt diesen an Maikes rechtes Schienbein. Dianas Fuß wandert soweit an Maikes Schienbein hinab, bis er eine Art Querstütze für deren rechten Fuß bildet, der gestreckt in die Luft ragt. Beide strecken nun zeitgleich das Knie. Maike hebt dann auch ihren linken Fuß von der Matte und führt ihn neben ihren rechten Fuß in die Luft. Kurz danach beginnt auch Dianas zweites Bein eine Aufwärtsbewegung. Wieder sucht ihr Fuß den von Maike, um für ihn eine Querstütze zu bilden. Diana trägt in dieser Doppelhandstandstellung einen Großteil von Maikes Körpergewicht. Verena umfasst in Vorbereitung auf ihren Aufstieg Dianas Unterschenkel. Die Fußpaare bewegen sich währenddessen aufeinander zu und dann wieder auseinander, wobei es scheint, als führe Diana diese Bewegung. Diana setzt nun zunächst noch ihren linken, dann den rechten Arm um einige Zentimeter nach hinten und scheint auf der Suche nach einer stabilen Position. Der Aufbau wackelt etwas. Verena hebt ihren rechten Fuß von der Matte und setzt ihn in Dianas Nacken. Mit dem anderen Fuß steigt sie auf Dianas Hintern, zieht das andere Bein nach und ergreift Maikes linken Fuß. Abermals bewegen sich Maikes und Dianas Füße auseinander und wieder zusammen; der Aufbau kippt nach links. Diana beklagt sich bei Maike: „Schon wieder. Du fällst schon wieder um.“ Verena greift nun mit ihrer rechten Hand an Maikes linken Fuß und hebt ihren linken Fuß von Dianas Hintern. Maikes und Dianas Beine bewegen sich nun – offenbar aufgrund eines von Diana gegebenen Impulses – nach rechts. Verena setzt ihren linken Fuß auf die Zehenspitzen von Maikes rechtem Fuß. Sie zögert kurz, bevor sie auch den anderen Fuß von Dianas Hintern hebt und das Bein in die Luft führt. Erneut driften die Fußpaare ein Stück auseinander und der Aufbau wackelt. Verena führt nun auch das linke Bein in die Luft und beginnt mit gespreizten Beinen die Aufrichtung in den Handstand. Die Einnahme der gegrätschten Handstandposition scheint Verena nicht leicht zu fallen; zwischenzeitlich sacken ihre Beine ab und knicken ihre Ellenbogen ein. Maikes und Dianas Beine sind dabei ständig in Bewegung. Sie bewegen sich von rechts nach links, auseinander und wieder zusammen. Zeitgleich mit den anderen Akrobatinnen, die in anderen Konstellationen jetzt ebenfalls Handstände ausführen, erreicht Verena die Handstandposition, muss diese aber früher als alle anderen wieder aufgeben. Begleitet durch den Ruf „auf!“ springt Verena auf den Boden. Auch Diana und Maike lösen die Handstände auf. Die Choreografie wird fortgesetzt.

194 | M ITSPIELFÄHIGKEIT Feinjustierungen in actu

Der Vollzug der akrobatischen Praktik in der ersten Sequenz des Falls gibt zu erkennen, dass alle Teilnehmerinnen bereits über ein umfangreiches Maß an Erfahrungen mit der Praktik und dem Zusammenspiel als Kollektivkörper verfügen. Die gemeinsame Einnahme der Handstandstellung durch die zwei Akrobatinnen Diana und Maike erfolgt ohne verbale und weitgehend sogar unabhängig von visuellen Abstimmungen im Modus einer körperlich-kinästhetischen Kommunikation. Tastend finden ihre Füße zueinander und wird beinahe synchron die Handstandstellung erreicht. Gerade die frühen Phasen des konzertierten Vollzugs gelingen scheinbar routiniert, störungsfrei und problemlos. Erst ein durch die Kamera bzw. die Videoaufzeichnungen ermöglichter Mikroblick über die Schultern der Teilnehmerinnen gibt zu erkennen, das diejenige Akrobatin, die im späteren Verlauf einen expliziten Vorwurf an die Adresse einer ihrer Mitspielerinnen richtet und sich darüber beklagt, dass diese umfalle, bereits in den frühen Phasen des konzertierten Vollzugs minimale Feinjustierungen des Aufbaus vornimmt. Während ihre ebenfalls im Handstand stehende Mitspielerin die einmal eingenommene Position nicht mehr verändert und sich allenfalls von ihr mitbewegen lässt, versucht die Akrobatin mittels kontinuierlicher Veränderungen der Bein- und Fußstellungen sowie eines wiederholten Versetzens ihrer Hände, den Kollektivkörper in der vorgesehenen Form zu halten und scheint Abweichungen des aktuellen Vollzugs von den (normativen) Ausführungskriterien der Praktik augenblicklich und „achtsam“164 zu registrieren. Die von der Akrobatin vorgenommenen Feinjustierungen und Korrekturversuche demonstrieren ihre Fähigkeiten zur praktischen Reflexion der lokalen Ausführung in Relation zur Idealform der akrobatischen Praktik sowie zur schnellen Anpassung ihrer durch Erfahrung erworbenen körperlichen Routinen an im Vollzug situativ erkennbar werdende Unsicherheiten und Abweichungen. Ihre mikrologischen Korrekturund Justierungsmaßnahmen folgen dabei keinen kognitiven Denk- oder Planungsprozessen – wie dies etwa von handlungs(regulations)theoretischen Modellen eines planmäßig-rationalen Handelns unterstellt wird (vgl. Kapitel 1.1) –

164 Der Begriff der Achtsamkeit wird von den Organisationswissenschaftlern Weick/ Sutcliffe (2003: 41ff.) zur Beschreibung des Agierens der Mitglieder sogenannter High Reliability Organizations eingeführt. Eine Haltung der Achtsamkeit für „schwache Signale“ führt in ihrem Verständnis zu einer kontinuierlichen Aktualisierung von Situationsdeutungen und damit zu einer erfolgreichen Bewältigung des Unerwarteten (vgl. auch Wilz 2009: 118).

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sondern stellen ein genuin praktisches und selbstregulatorisches Vermögen dar, das in die körperlichen Bewegungsvollzüge selbst eingelagert ist.165 Als Basis für ihre Fähigkeit zur situativen Selbstregulation und praktischen Reflexion benennt die Teilnehmerin in einem videogestützten Interview ein praktikspezifisches Körperempfinden bzw. Bewegungsgefühl, das sie in zahllosen Trainingssequenzen entwickelt hat: „Durch die lange Turnerei da habe ich ein relativ gutes Körperempfinden und deswegen glaube ich, denke ich dann auch anders. Weil ich kann meinen Körper einschätzen, kann von meinem Körper dann weggehen, es sei denn, es sind Elemente, die ich jetzt so gar noch nicht gemacht habe. Mit Fangen und Werfen, da hab ich es ja nicht so. Aber Handstände, […] das ist dann was anderes und dadurch spüre ich sie [Maike; KB], hab ich ja die Zeit, mich auf sie konzentrieren, weil ich weiß ja, was ich mache. Also ich kenn meinen Körper ja. Wie er funktioniert, ne.“ […] „Na, ich merke ja, in welche Richtung sie mich presst. Und ich weiß ja, dass ich gerade stehe normalerweise. Und dann –. Das ist so wie in der Kampfkunst, wenn du mit einem Schwert –, wenn die mit einem Schwert arbeiten und das als verlängerten Arm sehen. Oder die Fechter sehen das ja auch als verlängerten Arm. Die sagen ja nicht: ‚Ich hab da einen Degen in der Hand.‘ Sondern das ist die Verlängerung des Armes und den erspüren die. Und genauso ist sie [Maike; KB] meine Verlängerung und ich erspüre dadurch, wo sie mich hindrückt, dass das nicht normal ist und deswegen –. Also das überträgt sich auf mich und ich mach es dann wieder gerade und übertrag es auf sie wieder zurück. Also das ist wirklich so eine Symbiose, die man eingeht. Das ist nicht mehr wie zwei Körper. Wir haben die Punkte, wir haben ja ganz viele Punkte. Du merkst ja die Muskulatur. Du merkst den Druck. Du merkst das, das spürst du ja alles über viel Erfahrung. Und du spürst es, wenn wir sagen: ‚Boah, standen wir bombig.‘ Und dann weiß ich: Das ist also bombig und alles, was von dieser Bestform abweicht, ist nicht richtig und dann kann ich ja sehen, wo es hin abweicht. Und dann versuche ich es an dieses Gefühl wieder anzupassen, was ich mir damals gemerkt habe.“ (Interview vom 5.4.2011)

Das im Interview angesprochene Körperempfinden ermöglicht der Akrobatin ein sicheres und routiniertes Sich-Bewegen im Rahmen der akrobatischen Praktik,

165 Vgl. zur Bedeutung von Selbstregulationsmechanismen für sportliches Agieren auch Fahrig/Witte (2007) oder Montagne (2005). In diesen Untersuchungen wird gezeigt, dass es Mechanismen der Selbstregulation sind, die Sportlern die Bewältigung unvorhergesehener Situationen ermöglichen, indem sie einen adaptiven Umgang mit Unsicherheiten unabhängig von bewussten Kalkulationen erlauben.

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wobei jedoch ihre Routinierheit nicht in einem stereotypen und immer gleichen Abspulen von Bewegungsprogrammen besteht. Vielmehr ermöglicht sie es ihr, die von ihr sicher beherrschten Bewegungsvollzüge an jene ihrer Mitspielerin anzupassen und auf deren Probleme und Unsicherheiten zu reagieren. Ganz im Sinne des von Gugutzer am Beispiel sportlicher Interaktionen beschriebenen Phänomens der Einleibung (vgl. Gugutzer 2010; Kapitel 1.2.4) erläutert die Sportlerin, dass ihr Empfinden nicht auf ihren eigenen Körper begrenzt ist, sondern sich auf den ihrer Mitspielerin erstreckt. Es handelt sich um ein Empfinden für den sich im Vollzug konstituierenden Kollektivkörper, über das sie keineswegs naturwüchsig, sondern aufgrund eines umfangreiches Maßes an praktischen Erfahrungen verfügt, das praktikspezifisch ausgerichtet ist und das verteilte Agieren im Hinblick auf die (normative) Anforderungsstruktur der akrobatischen Praktik reguliert und reflektiert. Sowohl die Beobachtungen der ersten Sequenz des Falls als auch die im Rahmen des videogestützten Interviews getätigten Aussagen der Akrobatin deuten dabei auf die Unzulänglichkeit und Fragwürdigkeit etablierter Gegensätze von Routine und Reflexivität oder Routine und Adaptivität hin. Die erste Sequenz der Trainingsepisode legt nahe, dass auf ein umfangreiches Maß an Erfahrungen mit einer betreffenden oder strukturähnlichen Praktik zurückgehende Routinen ein adaptives und praktisch-reflexives Vorgehen nicht verhindern, sondern dieses mitunter erst ermöglichen.166 Im Anschluss an die Ausführung eines anderen akrobatischen Elements der Auftrittschoreografie sitzen Maike und Diana nahe beieinander auf der Matte. Eine kurze Übungspause nutzt Diana für die Initiierung eines Gesprächs über den zuvor vollzogenen Doppelhandstand. Sie bildet mit Zeige- und Mittelfingern der rechten und linken Hand ihre eigenen und Maikes Beine nach und fängt an zu erklären: „Du stehst schon so.“ Dabei führt sie die Finger zur Seite in eine schräge Position, um Maikes Umfallen zu simulieren (Abbildung 38).

166 Angelegt ist eine solche Auffassung von Routinen als situativ adaptiven Vorgehensweisen etwa bereits in William Jamesʼ Ausführungen über Habits. Er schreibt: „We all of us have a definite routine manner of performing certain daily offices connected with the toilet, with the opening and shutting of familiar cupboards, and the like. Our lower centres know the order of these movements, and show their knowledge by their ‘surprise’ if the objects are altered so as to oblige the movement to be made in a different way.” (James 1950: 115) Neben James betont auch John Dewey (1931) die situative ‚Beweglichkeit‘, Anpassungsfähigkeit und Variabilität von Gewohnheiten.

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Abbildung 38: Diana simuliert Maikes schiefen Stand

Maike entgegnet verständnislos und empört: „Aber ich war jetzt doch fest.“ Diana beteuert nachdrücklich: „Aber du stehst so.“ Sie hält Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand in die Luft und neigt diese nach rechts. Dann streckt sie ihre gesamte Hand aus und neigt auch diese nach rechts. Sie wiederholt: „Du stehst so“, fasst mit der linken die rechte Hand, zieht diese nach links und erklärt: „Du musst dich rüberbeugen!“ Maike macht eine Armbewegung, die Unverständnis signalisiert. Diana deutet zuerst mit dem Daumen, dann mit ausladenden Oberkörper- und Armbewegungen nach links und erklärt Maike wiederholt, dass diese sich „da hin rüberbeugen“ solle. „Du fällst da rüber.“ Diana zeigt nach rechts. „Ich hab deswegen gerufen ‚Druck‘, aber da hin mein ich jetzt. Ich muss dich schon rüberziehen.“ Sie unterstreicht ihre Erklärungen mit ausladenden Armbewegungen. Zuletzt streckt Diana ihren linken Arm aus, bewegt ihn mit einem Impuls aus der Schulter nach vorn und erklärt: „Mit dem linken Arm musst du absolut Druck machen.“ (Abbildungen 39 und 40) Abbildungen 39 und 40: Diana beschreibt das Problem

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Die Organisation von Selbstorganisationsfähigkeit und die Kommunikation eines Problems

Im Hinblick auf die erste Sequenz der dritten Trainingsepisode wurde gezeigt, wie eine der Teilnehmerinnen der akrobatischen Praktik Abweichungen des konzertierten Vollzugs von ihrer Idealform bemerkt, mit Feinjustierungen und mikrologischen Korrekturen auf diese zu reagieren versucht und schließlich eine ihrer Mitspielerinnen für die von ihr wahrgenommenen Unsicherheiten verantwortlich hält. In der folgenden zweiten Sequenz unternimmt dieselbe Teilnehmerin nun Anstrengungen, ihrer betreffenden Mitspielerin das bemerkte Problem verständlich zu machen. Sie erklärt, dass diese schief stehe und eine andere Haltung einnehmen müsse. Die Adressierte jedoch erhebt Einspruch gegen diese Verantwortungszuschreibung und zeigt sich angesichts der Problemdiagnose ihrer Mitspielerin verständnislos und beinahe entrüstet. Der sich zu Beginn der zweiten Sequenz des Falls zwischen den zwei Teilnehmerinnen der akrobatischen Praktik andeutende Konflikt erklärt sich vor dem Hintergrund von deren Multiperspektivität und -positionalität. Aufgrund der Tatsache, dass – so führt Boltanski (2010, S. 95) aus – „alle Menschen über einen Körper verfügen“ (ebd.; kursiv i.O.), sind sie „zwangsläufig situiert“ und auf einen Blick- oder Standpunkt festgelegt, von dem aus sich ihnen die Welt und praktische Geschehnisse auf eine bestimmte und stets partikulare Weise darbieten (vgl. ebd.; vgl. auch Alkemeyer 2013). Dass sich wiederum eine Praktik von jeder einzelnen Position und aus jeder einzelnen Perspektive anders darstellen kann, hält Konflikte bereit

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und kann zu reflexiven – oder wie es bei Boltanski (ebd.: S. 106) heißt „metapragmatischen“ – Auseinandersetzungen führen.167 Im vorliegenden Fall wird der sich andeutende Perspektivenkonflikt, der die Problembearbeitung kurzzeitig zu unterminieren droht, dadurch unterbunden, dass die eine Teilnehmerin ihre Deutung resolut gegen den Einwand ihrer Mitspielerin durchsetzt und Führung bzw. Kontrolle über den Fortgang des Problemlöseprozesses beansprucht. In Fällen, in denen die Akrobatinnen ohne Interferenz des Trainers selbstorganisiert mit Unsicherheiten umgehen müssen und in die Praktiken der Problembearbeitung nicht durch formale Hierarchien und institutionalisierte Machtverhältnisse vorstrukturiert sind, müssen Deutungshoheiten und Führerschaften zwischen den Teilnehmerinnen selbst situativ ausgehandelt und verteilt werden. Dabei setzt sich zumeist – wie im vorliegenden Fall – die Interpretation und Perspektive jener Teilnehmerin durch, der im Feld und im Hinblick auf die betreffende Praktik mehr kulturelles Kapital attribuiert wird.168 Von ihrer eigenen Einschätzung offenkundig überzeugt, übergeht Diana den Einspruch ihrer Mitspielerin mit lauten, wiederholenden und insistierenden Problembenennungen sowie ausladenden und überzeichnenden Gesten und Körperbewegungen, mit denen sie der anderen das während des konzertierten Vollzugs in der ersten Sequenz bemerkte Problem verständlich zu machen versucht.169

167 Boltanski unterscheidet in seinem Buch Soziologie und Sozialkritik (2010) zwei Handlungsregister voneinander: das praktische und das metapragmatische. Die Modalität praktischen Handelns sehe sich unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass Personen auf die gemeinsame Erfüllung von Aufgaben konzentriert seien und sich dabei alle Mühe gäben, drohende Ungewissheiten zu vermeiden (vgl. ebd.: 99ff.). Im Unterschied dazu zeichneten sich metapragmatische Momente durch ein gehobenes Reflexionsniveau aus. Hier würde der Modus des Praktischen unterbrochen und die Aufmerksamkeit aller Personen darauf gerichtet, „wie das, was abläuft, zu qualifizieren bzw. zu kennzeichnen sei“ (ebd.: 106; kursiv i.O.). 168 Obwohl Maike bereits deutlich länger als Diana in der Gruppe als Akrobatin aktiv ist, genießt letztere aufgrund ihrer turnerischen Erfahrungen und Auszeichnungen sowie ihrer Trainerinnentätigkeit im Bereich des Kunstturnens ein großes Ansehen in der Gruppe. Oft wird sie um Rückmeldungen, Hinweise oder Hilfestellungen gebeten. 169 In der Ethnomethodologie bzw. der ethnomethodologischen Konversationsanalyse gilt der Frage nach der Erzeugung von Verständlichkeit und accountability (vgl. Kapitel 2.2.2) eine besondere Aufmerksamkeit. Die im vorliegenden Fall Deutungshoheit beanspruchende Teilnehmerin forciert diese durch die Verschränkung verschiedener „semiotischer Ressourcen“ (Goodwin 2000: 1492; Streeck/Goodwin/LeBaron 2011: 1): Sie kombiniert Gesten und Körperbewegungen mit bruchstückhaften – „emprakti-

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Mit ihren verbalen sowie körperlichen und mitunter übertreibenden Rückwendungen scheint Diana sich selbst körperlich spürend der eigenen Ausgleichsund von Maike erwarteten Korrekturbemühungen sowie der Unmöglichkeit des misslungenen Versuchs zu vergewissern. Zugleich macht sie hiermit ihr Wissen um die Anforderungen der akrobatischen Praktik sowie die Abweichungen ihrer Mitspielerin von diesen öffentlich und dieses damit auch für diese zur Aneignung verfügbar. Die Nachdrücklichkeit und Leidenschaftlichkeit ihrer Hinweise und Korrektur geben zu erkennen, in welch großem Maße sie von und im Rahmen der akrobatischen Praktik engagiert und bei der Engagierung und Einstellung ihrer Mitspielerin auf deren Ausführungskriterien mental, affektiv und körperlich gleichermaßen bei der Sache ist (vgl. Goffman 2009: 52f.; Kapitel 2.3). An ihren in der zweiten Sequenz des Falls angebrachten Hinweisen, Erklärungen und Korrekturbemühungen zeigt sich zudem, dass sie das praktische Wissen, das in der ersten Sequenz in konzertierter Praxis primär als Körperempfinden und Bewegungsgefühl Geltung erlangt, keineswegs ausschließlich auf eine implizite, vorreflexive und nicht-verbalisierbare Weise verfügbar hält,170 sondern es sie durchaus auch zu recht detaillierten und sprachlichen Hinweisen (wie etwa: „Mit dem linken Arm musst du absolut Druck geben.“) befähigt. Auch im zweiten Durchgang der Auftrittschoreografie kommt es in der Gruppe von Diana, Maike und Verena bei der Ausführung des Doppelhandstands zu Problemen. Spätestens mit Verenas Aufstieg beginnt der Aufbau erkennbar zu wackeln. Verena gelingt der Handstand nun nicht einmal mehr ansatzweise. Als sie mit einem Fuß auf Dianas Hintern, mit den Spitzen des anderen auf einem von deren Füßen steht und Maike Füße greift, ruft sie „der Fuß geht weg“, bricht den Handstand ab und springt zu Boden. […] Kurz vor Trainingsende, als viele der Sportlerinnen die Matte schon verlassen haben, gestikuliert Diana am hinteren Mattenrand vor der vor ihr stehenden Maike erneut mit Zeige- und Mittelfinger (Abbildung 41). Dann stellt sie sich mit

schen“ (Bühler 1999: 155) – sprachlichen Äußerungen. Verstehbar für ihre Mitspielerin sind ihre Gesten, Körperbewegungen und sprachlichen Äußerungen dabei nicht für sich allein, sondern nur in ihrem Zusammenspiel (vgl. Streeck/Goodwin/LeBaron 2011: 2) sowie auf der Folie gemeinsam geteilter Erfahrungen mit der akrobatischen Praktik, auf die sich ihre multimodal kommunizierten Hinweise beziehen und durch welche sie präfiguriert sind. 170 Dies wird im Rahmen unterschiedlicher sportwissenschaftlicher Konzeptionen und Studien zum Bewegungs- und Körpergefühl angenommen (vgl. Kapitel 1.2.4).

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vorgekippter Hüfte auf und führt die Arme über dem Kopf zusammen. Zuerst schiebt sie die Hüfte, dann die Arme nach rechts und gestikuliert hierbei mit ihren Fingern, wie sie es schon zuvor getan hat, um Maike zu zeigen, dass diese während des Doppelhandstands umfalle (Abbildung 42). Abbildungen 41 und 42 (im Hintergrund): Diana erklärt die Bewegung

Dann versuchen sich die beiden Akrobatinnen erneut am Doppelhandstand. Zunächst bleiben sie aneinander gelehnt kurz im Handstand stehen. Dann schiebt Diana mit einem deutlichen Impuls aus Armen, Schultern, Hüfte und Beinen und den Worten „Hier müssen wir stehen“ die Beinpaare nach links. Maike fragt erstaunt: „Ja?“ Diana erwidert mit Nachdruck: „Das ist gerade, ja!“ und schiebt den Aufbau dann zurück in die offenbar falsche Anfangsposition: „Das ist total – Guck mal deine Arme!“ (Abbildung 43) Maike bewegt den Kopf, um Dianas Aufforderung nachzukommen. Diana führt die Beine aktiv in die gerade Position zurück und justiert hierbei leicht hin und her. „Pass auf, so sind wir gerade.“ Dann führt sie die Beine zurück in die schiefe Haltung, erläutert: „Du stehst so. So!“, nur um sogleich wieder die richtige Position aufzusuchen und zu erklären:

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„Das ist gerade.“ (Abbildung 44) Sie bleiben noch kurz im Handstand stehen, bevor sie ihn auflösen. Diana erklärt: „Also wenn du schief stehst, ist gerade. Ich kann dich da auch gerne hinziehen.“ Sie verlassen die Matte in Richtung der Kabine. Das Training ist beendet. Abbildungen 43 und 44 (im Hintergrund): abwechselndes Einnehmen der richtigen und der falschen Stellung

Die Konstitution von Umgangskörpern

Im Rahmen der erneuten Ausführung der Auftrittschoreografie durch das gesamte Akrobatinnen-Kollektiv kommt es in der Dreiergruppe abermals zu Problemen und Unsicherheiten beim Vollzug der akrobatischen Praktik. Die Korrekturen und Hinweise, die die führende Teilnehmerin ihrer Mitspielerin in der zweiten Sequenz entgegengebracht hat, zeitigen nicht die intendierten Effekte und das von ihr verfügbar gemachte Wissen kann im praktischen Zusammenspiel nicht in praktikadäquate Bewegungen und Körperhaltungen übersetzt werden. Noch einmal wendet sich Diana deswegen in der dritten Sequenz mit weiteren Korrek-

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turmaßnahmen an die von ihr als für das abermalige Misslingen verantwortlich Maike. Zunächst führt sie dieser die von ihr erwartete Körperstellung vor Augen, indem sie ihren eigenen Körper mittels demonstrativer Hüft- und Armbewegungen in die anzustrebende Form bringt, damit die Aufmerksamkeit ihrer Mitspielerin auf bestimmte Stellen ihres Körpers und Momente ihrer Bewegung lenkt und diese so als für die kompetente Teilnahme an der Praktik besonders relevante Merkmale ausflaggt und verstehbar macht. Danach initiiert sie die gemeinsame Einnahme der Doppelhandstand-Position sowie ein wiederholtes Hin-undHer-Lavieren zwischen sowie ein je längeres gemeinsames Verharren in den von ihr als inadäquat respektive adäquat identifizierten Positionen, um beide für ihre Mitspielerin kontrastiv körperlich erfahrbar zu machen und ihr ein Körpergefühl für beide zu vermitteln. Die führende Akrobatin beobachtet dabei den Körper der anderen und richtet den zweiteiligen Kollektivkörper unter den Vorzeichen der angestrebten akrobatischen Praktik mehrere Male neu aus. Zugleich markiert sie die aus ihrer Perspektive richtige und falsche Stellung verbal und kommentiert sie mit mehr oder weniger ausführlichen sprachlichen Äußerungen: Einmal fordert sie beispielsweise ihre Mitspielerin dazu auf, sich durch den Blick auf ihre Arme ihrer schiefen und damit inadäquaten körperlichen Ausrichtung bewusst zu werden. Die körperlich-spürbar vermittelten und sprachlich kommentierten Justierungs- und Korrekturmaßnahmen zielen darauf, der korrigierten Teilnehmerin das Problem ihres schiefen Standes für das konzertierte Zusammenspiel als Kollektivkörper überhaupt erst verständlich und diese im Rahmen der Praktik mitspielfähig zu machen. Als konstitutive Größe für die Anbahnung von Mit- und Zusammenspielfähigkeit erweist sich die Anpassung des Körpergefühls an die als praktikadäquat identifizierte Körperhaltung. So kumulieren die Hinweise der korrigierenden Akrobatin in dem scheinbar paradoxen Hinweis, ihre Mitspielerin solle das Gefühl haben, schief zu stehen, um tatsächlich die angemessene Position zu finden: „Wenn du [man könnte ergänzen: gefühlt; KB] schief bist, ist gerade.“ 171

171 Auffällig ist dabei, dass sich keine Hinweise dafür erkennen lassen, dass auch die korrigierte Teilnehmerin ein Gespür für den Kollektivkörper entwickeln soll. Ihre Mitspielfähigkeit scheint allein durch die Konzentration auf ihren eigenen geraden Stand verbürgt. In einem videogestützten Interview sagen die Akrobatinnen zu dieser Ungleichverteilung von Zuständigkeiten und Mitspielkompetenzen Folgendes: Diana: „Ich glaub, dass man in den Teilen immer so eine Führungsperson hat, irgendwo.“ Maike: „Ja, das muss auch.“ Diana: „Also es ist immer ein Teil, wo jemand das Sagen hat in dem Moment und das zurecht zuppelt, das Teil.“ Maike: „Wenn das nicht ist, dann klappt das auch nicht.“ Diana: „ Genau. Und ich glaube, wenn beide domi-

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Die Korrekturen und Interventionen der letzten Sequenz des Falls lassen sich als Praktiken der Konstitution eines individuellen Umgangskörpers sowie eines zusammenspielfähigen Kollektivkörpers deuten. In ihnen wird ein Gefühl für die richtige Körperhaltung entwickelt und damit das körperliche Empfinden im Hinblick auf die Erfordernisse der akrobatischen Praktik ausgerichtet. Begleitet wird die körperlich-spürbare Ausrichtung durch sprachlich vermittelte Hinweise und von der einen an die andere Teilnehmerin gerichtete Aufforderungen zur Selbstbeobachtung und -reflexion. Die Korrigierende lenkt durch ihre verbalen Äußerungen die Aufmerksamkeit ihrer Mitspielerin auf diejenigen Teile ihres Körpers (hier: die Arme), an denen im Sinne eines pars pro toto die Ausrichtung ihres gesamten Körpers für sie erkenn- und beurteilbar wird (vgl. Goodman 1990: 83). In diesen Praktiken werden ein körperliches Gespür und explizites Wissen zur Selbstbeobachtung, -prüfung und -reflexion verfügbar gemacht, auf deren Grundlage es der Korrigierten ermöglicht werden soll, sich im Rahmen der Praktik selbst zu führen und den Kollektivkörper zusammenspielfähig zu halten. Fazit des Falls

Am dritten Fall wird zum einen erkennbar, dass der Vollzug akrobatischer Praktiken auch noch nach langen, ausgiebigen Trainingsprozessen in einen Horizont aus Unsicherheit eingespannt bleibt. Zum anderen zeigt sich an ihm, wie die Akrobatinnen unabhängig von der Interferenz des Trainers selbstorganisiert mit Unsicherheiten, Störungen und Problemen umgehen, sich gegenseitig auf die Anforderungen einer Praktik einstellen und sich wechselseitig als kompetente Mitspielerinnen hervorbringen bzw. hervorzubringen versuchen. In der Beschreibung und Analyse der zweiten Sequenz wird herausgearbeitet, wie angesichts unterschiedlicher Problemdeutungen Führerschaft geregelt wird: Im Anschluss an einen sich andeutenden Perspektivenkonflikt setzen sich die Protagonistinnen des Falls wechselseitig als führend und folgend ein und weisen einander im Fortgang des Prozesses der Problembearbeitung wechselseitig komplementäre (Subjekt-)Positionen zu. Diejenige Teilnehmerin, der ein Vorsprung an kulturellem Kapital und Erfahrungen mit der betreffenden und strukturverwandten Praktiken zugeschrieben wird, beansprucht Deutungshoheit gegenüber ihrer Mitspielerin, während diese deren Führungsanspruch nach einem kurzen Einspruch als Legitimen anerkennt und ihren Korrekturen folgt. Insbesondere an den Aktionen

nant sind, dann passt das auch nicht. Also, es muss sich einer unterordnen und der andere muss den Ton angeben. Das glaube ich, ist jetzt wurscht, wer das ist, aber es muss einer sagen: ‚Wir machen es so.‘“ (Interview vom 5.4.2011)

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und Interventionen der führenden – und auch in der Krise handlungsfähigen – Akrobatin wird deutlich, dass die kompetente Teilhabe an einer akrobatischen Praktik insbesondere auch aufgrund von deren fundamentaler Unsicherheit und Störanfälligkeit zumindest von einigen ihrer Teilnehmerinnen eine Reihe reflexiver Fähigkeiten verlangt. Es zeigt sich hier mit besonderer Anschaulichkeit, dass es sich bei Praktiken keineswegs ausschließlich um selbstläufige und vorreflexive körperliche Vollzüge und Vollzugsformen handelt (vgl. Kapitel 2.2.1 und 2.2.2). Die Mitspielfähigkeit der führenden Protagonistin des dritten Falls umfasst ein komplexes Konglomerat unterschiedlicher Reflexionsfähigkeiten: In der ersten Sequenz handelt es sich um ein praktisches, körperlich-spürendes Reflektieren während des konzertierten Vollzugs der akrobatischen Praktik – ein „reflection-in-action“ (Schön 2009: 49) –, das an ihren körperlichen Ausgleichsbemühungen erkennbar wird. In der zweiten Sequenz reflektiert sie dann im Sinne einer „reflection-on-action“ (ebd.) auf das konzertierte Geschehen. Bei dieser Form der Reflexion handelt es sich nicht um eine analytisch-distanzierendes Nachdenken, das sich gleichsam ‚in ihrem Kopf‘ abspielt, sondern eine vollständig öffentliche, multimodale – sich in angedeuteten Körperbewegungen, Gesten und unvollständigen, „empraktischen“ (Bühler 1999: 155) sprachlichen Äußerungen realisierende – Rückwendung auf den aus ihrer Perspektive misslungenen Vollzug, mit welcher sie sich selbst das bemerkte Problem abermals vergegenwärtigt und es ihrer Mitspielerin mitsamt seiner Lösung verständlich zu machen sucht. In der dritten Sequenz schließlich handelt es sich um ein kombiniertes ‚reflection-in-and-on-action‘: Im gemeinsamen Tun mit ihrer Mitspielerin reflektiert die führende Akrobatin auf dessen Qualität und expliziert bemerkte Diskrepanzen zwischen dem aktuellen Versuch und dem idealtypischen Anforderungsprofil der akrobatischen Praktik. Hiermit versucht sie, das Körpergefühl der anderen Teilnehmerin sowie deren Aufmerksamkeiten, Wahrnehmungen und ihr Verstehen in praktikspezifischer Weise neu auszurichten, sie im Zuge dieser reflexiven Fremdführung zur Selbstführung anzuhalten und den Kollektivkörper als zusammenspielfähigen zu konstituieren. Eine wesentliche Bezugsgröße ihrer Reflexionen stellt erstens ihr sich aus einem umfangreichen Maß an praktischen Erfahrungen mit der betreffenden und ähnlichen akrobatischen Praktiken speisendes, mithin ‚holistisches‘ Gefühl für den eigenen Körper und die Gesamtgestalt des Kollektivkörpers dar. Ein weiteres wichtiges Fundament konstituiert zweitens ein spezifisches Detailwissen um die Ausführungskriterien und Anforderungen der Praktik, welches sie in verschiedenen Kommunikationsmodi zu explizieren versucht. Die Mitspiel- und Reflexionsfähigkeit der Teilnehmerin

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lässt sich damit in etablierten Gegensätzen von implizit und explizit, körperlich und sprachlich usw. nicht angemessen fassen; sie liegt zu diesen vielmehr quer. 4.3.3 Zweites Zwischenfazit Wie in Kapitel 2.2 ausgeführt, wohnt einigen der zurzeit prominenten und vielbeachteten praxeologischen Arbeiten die Tendenz inne, Praktiken aus einer Feldherrenperspektive als selbstläufige, routiniert gelingende und harmonische Vollzüge oder als typisierte Vollzugsformen zu analysieren, die durch ein implizites und verkörpertes Wissen organisiert werden. Die mit diesem Verständnis von Praktiken oft einhergehende Vernachlässigung der Teilnehmerperspektiven bedingt, dass die lokalen Bewältigungsanstrengungen, die diese in den Vollzug von Praktiken investieren, ebenso übersehen werden wie der Umstand, dass Praktiken nicht für alle ihrer Mitspieler identisch sind, sondern diese sich mit unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert sehen und über verschiedene Möglichkeiten verfügen, ihre Deutungen oder Perspektiven einzubringen. Auch wird die Frage nach dem konkreten Wie der Entwicklung von Mitspielfähigkeit in Praktiken in den betreffenden Ansätzen entweder nur randständig beachtet, oder aber mit Verweisen auf Akte der Sozialisation oder der vorreflexiven und „stummen“ (Schmidt 2012: 204) Inkorporierung von mitspielrelevanten Handlungs-, Wahrnehmungs- und Verstehensschemata bzw. Wissensbeständen beantwortet. Die Analyse sportakrobatischen Trainings aus einer interaktions- und subjektivierungstheoretisch erweiterten praxeologischen Perspektive ermöglicht die Komplementierung dieser Annahmen. Die in dieser Hinsicht relevantesten empirischen Ergebnisse sollen an dieser Stelle systematisierend zusammengefasst werden. Bei den im Feld beobachtbaren akrobatischen Praktiken handelt es sich um recht vielgestaltige und verschieden komplexe Phänomene, die über alle Unterschiede hinweg durch eine Reihe gemeinsamer Merkmale charakterisiert sind. So sind an allen dieser Praktiken stets verschiedene Mitspielerinnen beteiligt, über deren (Bewegungs-)Aktionen sich im Vollzug Handlungsträgerschaft verteilt. Angesichts dieser Verteilung von Handlungsträgerschaft sind alle Teilnehmerinnen der akrobatischen Praktiken in hohem Maße voneinander abhängig. Aus dieser wechselseitigen Abhängigkeit wiederum resultieren eine hohe Störanfälligkeit und Unsicherheit der konzertierten Vollzüge, welche durch ein kontinuierliches Training zwar eingehegt, niemals jedoch vollständig eliminiert werden können; ein reibungsloses Gelingen erweist sich selbst im Falle erfahrener Akrobatinnen und Akrobatinnen-Gruppierungen eher als Ausnahme denn als Regel. Der Vollzug und die Einübung akrobatischen Praktiken erweisen sich in

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allen drei Trainingsepisoden als prinzipiell ausgangsoffene und kontingente – aber dennoch durch geteilte Erwartungen und ein geteiltes Wissen um zu erfüllende Anforderungen gerahmte oder präfigurierte – Vorgänge, die in den lokalen Interaktionen ihrer Mitspielerinnen über verschiedene Situationen hinweg entfaltet werden. Unter Investition unterschiedlicher Grade des Engagements sind es die Teilnehmerinnen selbst, die – mal mit, mal ohne Hilfe des Trainers – den akrobatischen Praktiken in ihrem Zusammenspiel in spezifischer Weise ausformen und sich dabei zugleich selbst und gegenseitig als kompetente Mitspieler eben dieser Praktiken hervorbringen. Man gewinnt bei der Lektüre neuerer praxeologischer Arbeiten mitunter den Eindruck, als vollzöge sich die Entwicklung von Mitspielfähigkeit gewissermaßen nebenbei oder „mitgängig“ (Alkemeyer 2011: 57; kursiv i.O.) primär im Modus des Mitmachens (vgl. exemplarisch Schmidt 2012: 215ff.). Die Bedeutung eines solchen learning-by-doing soll hier nun keineswegs in Abrede gestellt werden. Viele der für die kompetente Teilnahme an den verschiedenen akrobatischen Praktiken konstitutiven Fähigkeiten und Wissensbestände werden im gemeinsamen Tun durch Zu-, Abschauen und Nachmachen von Sportlerin zu Sportlerin auf informellem Weg und mitunter auch ohne explizite Vermittlungsabsichten weitergegeben. Der empirische Gegenstand jedoch gibt zu erkennen, dass für die Formierung kompetenter Mitspieler in den hochspezialisierten Welten des Sports im Allgemeinen und den anspruchsvollen akrobatischen Praktiken im Besonderen darüber hinaus „deklariert didaktische Situationen“ (Schindler 2011b: 336) entscheidend und unabdingbar sind, in denen ausdrücklich etwas gelernt werden soll (vgl. Alkemeyer 2011: 57). Die deklariert didaktischen Situationen des sportakrobatischen Trainings zielen darauf, die für die akrobatischen Praktiken konstitutive Unsicherheit, Kontingenz und Störanfälligkeit zu minimieren und dabei zugleich die Gelingenswahrscheinlichkeit ihres Vollzugs zu erhöhen. Angestrebt werden diese Ziele sowohl über die Einstellung einzelner Teilnehmerinnen und ihrer individuellen Körper auf die Anforderungskataloge einer betreffenden Praktik als auch durch die Einstellung der Körper aller Teilnehmerinnen aufeinander. Den Kristallisationspunkt des Trainings bildet in diesem Sinne die Formierung mitspielfähiger individueller und zusammenspielfähiger kollektiver Umgangskörper. Als ein wichtiges Verfahren zur Formierung individueller und kollektiver Umgangskörper erweist sich in allen Trainingsphasen und allen drei Episoden die Wiederholung. Bereits in der Phase des Aufwärmens (vgl. Kapitel 4.3.1) werden die Akrobatinnen-Körper und deren Bewegungsrepertoires in der wiederholten Ausführung bestimmter Bewegungssequenzen und Körperhaltungen auf Festigkeit, Gespanntheit und Geradheit eingestellt und ihnen solche Bewe-

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gungsfähigkeiten eingeprägt, die ein gleichsam ‚generalisiertes Mitspielfundament‘ für die kompetente Teilhabe an den verschiedenen akrobatischen Praktiken bilden.172 Aber auch im weiteren Verlauf einer Trainingseinheit wird im Zuge der Einübung akrobatischer Praktiken die Wiederholung als ein zentrales Trainingsprinzip virulent. In den drei Fällen werden alle auf die jeweiligen akrobatischen Praktiken bezogenen Übungen stets nicht nur einmal, sondern mehrere Male ausgeführt, um die in diesen angebahnten Haltungen, Abläufe und Fähigkeiten den Teilnehmerinnen körperlich einzuprägen und sie qua Wiederholung und Routinierung dauerhaft und sicher verfügbar zu machen. Wiederholt wird dabei jedoch keineswegs immer nur dieselbe Übung. Vielmehr wird stets zwischen unterschiedlichen und verschieden komplexen Übungsformen vor- und zurückgegangen und der eine betreffende akrobatische Praktik gewissermaßen ‚tragende‘ Kollektivkörper – dies erweist sich als zweites fundamentales Trainingsprinzip – abwechselnd de- und rekomponiert. Mit dem Wechsel von Deund Rekompositionen und dem Vor- und Zurückgehen zwischen unterschiedlich komplexen Übungsformen werden abwechselnd mal nur eine einzelne, als (noch) nicht mitspielfähig identifizierte Teilnehmerin, dann aber immer wieder auch das kollektive Gesamtgefüge in den Blick genommen, beobachtet und bearbeitet. In dieser Trainingsmaßnahme kommt die Überzeugung zum Tragen, dass es für die Konstitution zusammenspielfähiger Kollektivkörper zwar zentral ist, einzelne seiner Elemente zeitweise gesondert zu fokussieren und im Hinblick auf grundlegende Anforderungen und Ausführungskriterien einer anvisierten Praktik in Form zu bringen, eine ‚individualistische‘ Vermittlung oder Ausformung praktikspezifischer Fähigkeiten und Wissensbestände jedoch ‚nur‘ eine notwendige, keineswegs aber eine hinreichende Bedingung darstellt. Die wiederholte Ausführung der verschiedenen Übungen und Trainingsverfahren zielt zum einen auf die Inkorporierung von Wissen sowie das (individuell- und kollektiv-)körperliche Einprägen praktikspezifischer Bewegungsmuster. Zum anderen zeigt sich an den drei Fällen jedoch, dass sich das sportakrobatische Training nur unzureichend als Einschreibung impliziten Wissens in Körper oder als körperliche und präreflexive Routinierung beschreiben lässt. In allen drei Episoden ist die gemeinsame Übungspraxis von reflexiven und explizierenden Momenten und Phasen durchzogen: Stets wird die körperliche Realisierung der verschiedenen Übungen im Vorfeld, im Nachhinein oder aber simultan kommentiert – häufig vom Trainer, oft aber auch von den Akrobatinnen selbst.

172 Die in der Phase des Aufwärmens angebahnten Fähigkeiten werden dann in der späteren Einübung und dem Vollzug bestimmter akrobatischer Praktiken praktikspezifisch überformt und weiter ausdifferenziert.

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In diesen Kommentierungen werden wichtige Organisationsprinzipien und Ausführungskriterien sowie Abweichungen der aktuellen Versuche von der Idealform der angestrebten akrobatischen Praktik auf multimodale Weise entfaltet, expliziert und reflektiert. Entfaltet, expliziert und reflektiert wird dabei in den Modi einer körperlich-gestischen Vorwegnahme ausgewählter Momente der auszuführenden Bewegung oder einer körperlich-gestischen Rückwendung auf solche, einer empraktischen, schlagwortartigen Benennung bestimmter Körperstellen und Bewegungsmerkmale oder einer ausführlicheren Erklärung von Bewegungsdetails. Ebenfalls beobachtbar sind ein körperlich-handgreiflichen InForm-Bringen und ein manipulierendes Berühren ausgewählter Körperteile, die damit als für den Vollzug einer betreffenden Praktik besonders wichtig markiert und hervorgehoben werden. Im Wechselspiel dieser Verkörperungen und Entfaltungen bzw. Implizierungen und Explizierungen praktischen Wissens173 werden die Teilnehmerinnen dazu angehalten, sich selbst (sowie mitunter auch ihre Mitspielerinnen) aus der Perspektive der (normativen) Anforderungsstruktur der betreffenden akrobatischen Praktik zu beobachten, zu beurteilen, zu kritisieren und zu korrigieren. Es sind eben diese Fähigkeiten zur (Selbst-)Beobachtung, Reflexion und Korrektur, die den Teilnehmerinnen der akrobatischen Praktiken eine Orientierung in ihrem Handeln ermöglichen und die Voraussetzung dafür bilden, dass sie aktiv und lenkend in die konzertierten und kontingenten praktischen Vollzüge eingreifen und nicht zuletzt auch mit situativ auftauchenden Unsicherheiten oder ‚Störungen‘ umgehen können. Selbst langjährige praktische Erfahrungen und ein in ihrem Zuge akkumuliertes umfangreiches Maß an praktikspezifischen Wissensbeständen und Mitspielfähigkeiten können es jedoch nicht verhindern, dass sich das Gelingen der akrobatischen Vollzüge der Kontrolle einzelner Sportlerinnen entzieht. Die konzertierte, übersummative Vollzugslogik der Praktiken führt es mit sich, dass für jede Teilnehmerin nicht-beherrschbare Leerstellen bleiben, welche das Misslingen oder Scheitern stets als Möglichkeit präsent und bewusst halten. Aufgrund dieses ‚unbeherrschbaren Rests‘ gilt es für alle Teilnehmerinnen der akrobatischen Praktiken – für jene, die eine getragene Position in großer Höhe einnehmen und deren körperliche Unversehrtheit in besonderem Maße auf dem Spiel steht, ganz außerordentlich –, auf die jeweils anderen zu vertrauen. Vor allem an der Novizin des ersten Falls und ihren Mitspielerinnen wird deutlich, dass es sich bei dem für die Teilhabe an den Praktiken notwendigen Vertrauen nicht um eine ‚naturwüchsige‘ Anlage, sondern um eine Ressource handelt, die gleichsam ‚im

173 Vgl. zu einem solchen Wechsel von Im- und Explizierungen im Kampfkunsttraining Schindler (2011a).

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Hintergrund‘ der deklariert didaktischen Situationen zur funktional-sachbezogenen Bearbeitung von Ausführungsproblemen Schritt für Schritt erzeugt, allmählich angebahnt und immer wieder aufs Neue beglaubigt und körperlichspürbar in Erinnerung gerufen werden muss. Die Genese und Bestätigung eines wechselseitigen Vertrauens erfolgen in Vertrauenspraktiken wie beispielsweise der Vorschaltung und wiederholten Ausführung entriskierter und komplexitätsreduzierender Übungen vor den konzertierten Vollzug einer riskanten akrobatischen Praktik, der kontinuierlichen und langsamen Steigerung von Ausführungsschwierigkeiten oder auch zärtlichen Berührungen, aufmunternden Sprechakten und bestätigenden Gesten. Vertrauen erweist sich als ein grundlegendes Organisationsprinzip konzertierter akrobatischer Praktiken und als fundamentale Dimension der akrobatischen Mitspielfähigkeit. Ohne ein wechselseitiges Vertrauen ihrer Teilnehmerinnen ineinander würden sich diese kaum auf deren Einübung und Vollzug der inhärent unsicheren Praktiken einlassen. An allen drei Trainingsepisoden wird überdies deutlich, dass die an den akrobatischen Praktiken Beteiligten keineswegs nur mit identischen, sondern mit durchaus unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen konfrontiert sind. Dies betrifft erstens den Aspekt der konkreten Bewegungsvollzüge: Stützende haben schlichtweg andere Bewegungen auszuführen als Gestützte, Werfende andere als Geworfene. Zweitens gilt es für manche Teilnehmerinnen akrobatischer Praktiken, sich auf ihre eigenes Tun sowie ihren eigenen Körper zu konzentrieren und einen Teil der Kontrolle über diese an andere zu delegieren,174 während von anderen insbesondere auch aufgrund der großen Störanfälligkeit und Unsicherheit der Praktiken sowie ihrer übersummativen Eigenlogik Aufmerksamkeit nicht nur für das eigene Tun, sondern auch für jenes ihrer Mitspielerinnen und den Kollektivkörper gefordert ist. Die Wahrscheinlichkeit des Gelingens der Praktiken sinkt dabei immer dann, wenn es allen Mitspielerinnen – wie in Fall zwei – an einer Aufmerksamkeit für das konzertierte Gesamtgeschehen mangelt, aber auch dann, wenn – wie an der folgenden Interviewpassage und dem Auszug aus einem Beobachtungsprotokoll deutlich wird – keine der Teilnehmerinnen dazu bereit ist, Kontrolle zu delegieren: In der Mattenmitte üben Paula und Lotta sowie Mia und Jasmin ein akrobatisches Stützelement, das sie als Krokodil bezeichnen. Bei Paula und Lotta sieht dieses recht leicht aus. Mia hingegen scheint Probleme zu haben, Jasmin auf

174 Im ersten Fall betrifft dies die Novizin, im zweiten Fall die gestützte Akrobatin und im dritten Fall die eine der gemeinsam im Handstand stehenden Sportlerinnen.

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einem gestreckten Arm durch die Luft zu bewegen. Nina bietet an, für Mia einzuspringen. Ungefähr zeitgleich zum Beginn des zweiten Versuchs durch Paula und Lotta setzen nun Nina und Jasmin zur Ausführung des Stützelements an. Nach der Beendigung werden Nina und Jasmin laut und beinahe überschwänglich von der Trainerin gelobt. Zu Paula und Lotta sowie zu Claudia und Hanna, die inzwischen ebenfalls mit der Einübung des ‚Krokodils‘ begonnen haben, hingegen sagt sie kein Wort. […] Da sich mir der Überschwang des Lobes der Trainerin nicht erschließt, befrage ich sie gegen Ende der Trainingseinheit zu den Gründen. Sie erklärt mir, dass sowohl sie selbst als auch andere der erfahrensten und kräftigsten Akrobatinnen sich mehrere Wochen lang vergeblich mit Jasmin an dem Element versucht hätten. Jasmin, so erklärt Melanie, lasse sich von älteren und erfahreneren Partnerinnen nicht führen, sondern mache auf deren Armen, was sie wolle und versuche, das Element zu kontrollieren. Für fast alle sei sie deswegen unbeherrschbar und keine geeignete Partnerin. (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 1.4.2011) Zwischen den Teilnehmerinnen der akrobatischen Praktiken muss in diesem Sinne ‚Führerschaft‘ geregelt werden. Verlangt und beansprucht wird sie in der Regel von den praktisch erfahrensten Sportlerinnen, die in der Architektur einer akrobatischen Praktik zentrale und tragende Positionen einnehmen, auf denen die Möglichkeiten der Einflussnahme auf den konzertierten Vollzug verhältnismäßig groß sind.175 Die Voraussetzungen dafür, als eine führende Mitspielerin aufzutreten, werden insbesondere an der dritten Trainingsepisode deutlich. Die Mitspielfähigkeit der führenden Teilnehmerin wird durch ein umfangreiches Maß an Erfahrungen mit der betreffenden und ähnlichen Praktiken verbürgt. Ihre Erfahrenheit und Routiniertheit führen nun dabei weder zu einem stereotypen, automatisierten Abspulen von Bewegungsprogrammen noch zu einer Ausschaltung von Aufmerksamkeit und Reflexion. Vielmehr ermöglicht ihr die schlafwandlerisch sichere Beherrschung der geforderten Bewegungsvollzüge ein intuitives und praktisch-reflexives Erfassen praktikimmanenter Korrekturnotwendig-

175 Vergleichbar ist diese Position wohl mit der des Spielmachers etwa im Fußball. Auch dieser besetzt in der Figuration des Spiels eine zentrale Position, verfügt über ein Überblickswissen, zeichnet sich durch die Fähigkeit zum schnellen Erkennen situativer Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten aus und bedarf Mitspielern, die sich ihm unterordnen und nicht auch das Spiel machen wollen.

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keiten und Justierungserfordernisse und erlaubt ihr ein erfahrungsabhängig sich entwickelndes Bewegungsgefühl die augenblickliche und „fehlersensitiv[e]“ (Wingert 2007)176 Beurteilung der Qualität des Tuns ihrer Mitspielerin sowie des Gesamtgeschehens im Kollektivkörper während des konzertierten Vollzugs der Praktik selbst. Ihr Wissen um die Anforderungen und Ausführungskriterien der akrobatischen Praktik erschöpft sich nicht in impliziten, körperlichen und gefühlten Beständen, sondern umfasst ebenso verbalisier- und explizierbare Gehalte, aufgrund derer sie die Ausführungsfehler ihrer Mitspieler und die Ursachen für die auftretenden Unsicherheiten detailgenau erfassen, identifizieren und kommunizieren kann.177 Eine solche Mitspielfähigkeit irritiert klassische Dualismen, die auch noch die aktuellen Diskurse um Handeln und Praxis oder um Wissen und ‚anderes Wissen‘ durchziehen und unterläuft etablierte Entgegensetzungen von implizitem und explizitem Wissen, von Körper und Sprache, von Ratio und Intuition sowie nicht zuletzt auch von Routine und Adaptivität bzw. Routine und Reflexivität. In Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren (z.B. der Position in der Architektur eines Aufbaus, dem tatsächlichen oder zugeschriebenen feld- und praktik-

176 In einem im Jahr 2007 in der Zeitung Die Zeit veröffentlichten Artikel kennzeichnet Lutz Wingert intelligentes Verhalten als fehlersensitiv. 177 In der Beschreibung der Ausführung einer akrobatischen Stützfigur äußert sich eine andere Akrobatin folgendermaßen zum Zusammenhang eines den eigenen Körper übergreifenden Bewegungsgefühls, der Fähigkeit zum intuitiven und adaptiven Reagieren auf Unsicherheiten und der Fähigkeit zur detailgenauen Erfassung von Ausführungsproblemen: „Ja, man merkt einfach, ob Franzi oben gespannt ist oder nicht. Da hat sich einfach im Laufe der Jahre schon so ein Gefühl eingespielt, dass man weiß: Ja, jetzt klappt das! Oder manchmal ist eben dieses Gefühl, dieses sichere Gefühl nicht da, dass man alles unter Kontrolle hat. Manchmal rutscht sie einem weg und dann ist eben dieses sichere Gefühl nicht da. Man merkt es auch so durch Ausführen. Einmal geht es schief und dann weiß ich: Oh ja, irgendwie, da müsste ich dann noch mal ein bisschen irgendwie stärker zufassen oder nochmal in die entgegengesetzte Richtung drehen oder hier den Fuß nicht so weit nach außen stellen. […] Man macht Fehler und daraus lernt man. Das ist auch so ein langer Prozess. Weil Franzi und ich machen das mittlerweile auch schon ziemlich lange und mittlerweile – es klappt. Heute haben wir es viermal gemacht und es hat viermal geklappt, weil ich sag dann: ‚Franzi, ok, wieder gegendrehen.‘ Dann weiß sie genau: Ich muss da jetzt gegendrehen, weil Amelie unten Probleme hat und es schwierig werden könnte, aber sie weiß dann auch, was zu tun ist und man hat sich aufeinander abgestimmt.“ (Interview vom 3.12.2010)

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spezifischen kulturellen Kapital und dem offiziellen Status) haben die verschiedenen Teilnehmer ungleiche Möglichkeiten, Rechte und Pflichten, zu den konzertierten akrobatischen Vollzugsgeschehen Stellung zu beziehen und lenkend in diese einzugreifen. Insbesondere die Fälle zwei und drei geben zu erkennen, dass und inwiefern in der Trainingspraxis Machtverhältnisse Geltung erlangen (können), die in funktional orientierte Interaktionen und Problemlöseprozesse interferieren und diese durchziehen. In der zweiten Trainingsepisode übernimmt der Trainer Kontrolle über den Prozess der Problembearbeitung, obwohl er selbst unsicher über die Ursachen der von ihm bemerkten Probleme der drei Akrobatinnen ist. Statt seine Unsicherheit einzuräumen, verbirgt er sie hinter einer Vielzahl an individualistischen Interventionen und beansprucht jene Souveränität, die von ihm aufgrund seines sozialen Ortes im institutionell-formalen Positionengefüge der Praktik Training erwartet wird. Um seine Unsicherheit gegenüber den Sportlerinnen zu überspielen, inszeniert er sich als ein auch in der Krise handlungsfähiges, kompetentes Subjekt. Aus einer funktionalen Perspektive verfolgt der Trainer mit seinen individualistischen Interventionen und Korrekturen allerdings einen falschen Weg: Sie zeitigen insofern keine zufriedenstellende Wirkung, als den Akrobatinnen der konzertierte Vollzug trotz dieser nicht gelingt. Im dritten Fall sind im Gegensatz zum zweiten zwar keine institutionellformalen Hierarchien in den funktionalen Problembearbeitungsprozess eingezogen. Gleichwohl setzt sich hier im Anschluss an einen sich andeutenden Perspektivenkonflikt die Teilnehmerin, der ein größeres Maß an kulturellem Kapital zugeschrieben wird und die im informellen Positionengefüge des Feldes eine höhere Stellung einnimmt, ihre Deutung mit lauten Worten, ausladenden und übertreibenden Gesten sowie zahlreichen selbstbestätigenden Wiederholungen gegen die ihrer Mitspielerin durch. Diese wiederum fügt sich nach einem kurzen und halbherzigen Widerstand und befolgt fortan die Korrekturhinweise und Verbesserungsvorschläge der Dominanten. Die Führungsübernahme und Deutungsdurchsetzung erweisen sich in diesem Fall insofern als durchaus funktional, als sie zur Herstellung eines geteilten Verständnisses über die Anforderungsstruktur der anvisierten akrobatischen Praktik und zur Lösung des Ausführungsproblems führen. Beide Fälle deuten darauf hin, dass der Vollzug und die Einübung akrobatischer Praktiken nicht in einem machtleeren Raum stattfinden. Welcher Weg verfolgt wird, um den Vollzug einer Praktik sicherzustellen, hängt keineswegs ausschließlich von sachproblembezogenen Fähigkeiten und Wissensbeständen ab, sondern auch davon, wer in den formellen und informellen Macht- bzw. relationalen Positionsgefügen des Feldes über das Recht, die Pflicht oder die Mög-

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lichkeit verfügt, seine – möglicherweise aus funktionaler Perspektive falschen – Deutungen gegenüber anderen Teilnehmern durchzusetzen. Der im Zuge der ersten drei Fallanalysen auf das sportakrobatische Trainingsgeschehen geworfene Detailblick, so ließe sich die Zwischenbilanz knapp zusammenfassen, bringt ans Licht, inwiefern es zu kurz greift, aus einer Feldherrenperspektive davon auszugehen, dass Praktiken reibungslos, routiniert und harmonisch über ihre Teilnehmer hinweg prozessieren und diese dabei mitgängig rekrutieren. Bei der Einübung und beim Vollzug der akrobatischen Figuren verpflichten sich Sportlerinnen und Trainer zwar selbst und gegenseitig körperlich, mental und affektiv auf eine anvisierte und kollektiv verbindliche (Ideal-)Form sowie deren Anforderungskataloge und Ausführungskriterien. Allerdings müssen sie jedoch in jedem einzelnen Ausführungsversuch die gemeinsame bzw. arbeitsteilige Bewältigung dieser Anforderungen immer wieder aufs Neue leisten. Dies geschieht nun normalerweise keineswegs reibungs- und problemlos, sondern stellt die Beteiligten vor die Herausforderung, mit mehr oder weniger offensichtlichen Unwägbarkeiten, Unsicherheiten, Irritationen oder auch Deutungskonflikten umzugehen und diese gemeinsam zu bewältigen. Bei dieser lokalen Ausformung von Praktiken sind eine Reihe unterschiedlicher Mitspielfähigkeiten – etwa zur Ausführung anspruchsvoller Bewegungen und Bewegungssequenzen, zur (Selbst-)Beobachtung, „Führung“ (Foucault 1994b: 255) und Korrektur, zum Umgang mit Unsicherheit, Kontingenz und Risiko, dazu, anderen zu vertrauen oder sich unter der Regelung von ‚Führerschaft‘ in einem Team selbst zu organisieren – ‚im Spiel‘ und werden (weiter) ausgeformt. Der Erwerb und die Entwicklung dieser Mitspielfähigkeiten vollziehen sich nicht in Gestalt passiver und beiläufiger körperlicher Rekrutierungen oder impliziter Schemaübertragungen. Vielmehr sind die Sportlerinnen selbst unter Investition unterschiedlicher Grade des Engagements (vgl. Goffman 2009: 52f.) gewollt, aktiv und reflexiv an ihrer eigenen Formierung zu kompetenten Mitspielerinnen der akrobatischen Praktiken beteiligt. 4.3.4 Die Entstehung und Aneignung neuer Praktiken – Fälle vier und fünf 4.3.4.1 Vorbemerkung Im Mittelpunkt des sportakrobatischen Trainings stehen über weite Strecken die Einübung und der Vollzug von akrobatischen Praktiken, die zumindest in ihrer Grobstruktur allen Teilnehmern bekannt sind. Obwohl die konzertierten Vollzü-

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ge in den ersten drei Fällen keineswegs problemlos gelingen, so verfügen hier doch alle Akrobatinnen über eine zumindest annähernde Vorstellung von deren zentralen Anforderungen und Ausführungskriterien sowie ein zumindest ungefähres Wissen über die jeweils anvisierten Vollzugsformen. Im Unterschied zu den Fällen eins bis drei liegt in der Beschreibung und Analyse der folgenden Trainingsepisoden der Fokus nun gerade nicht auf den Prinzipien der Übung und des Vollzugs bekannter Praktiken, sondern auf den Details der Umformung bzw. der Erfindung und Aneignung178 neuer Praktiken. Hierbei ist von besonderem Interesse, in welchen Schritten und unter Aufrufung und Ausformung welcher Wissensressourcen und Fähigkeiten etwas Neues hervorgebracht wird, dessen kollektiv verbindliche Form erst noch klar konturiert werden muss. Eine mikroskopische und transsequenzielle Analyse der Schritte und Prozesse der Umarbeitung, Aneignung und Neuentstehung von Praktiken verspricht dabei insofern einen Beitrag zu neueren praxeologischen Diskussionen und Konzeptionen zu leisten, als in vielen dieser die Transformation und Neuentstehung von Praktiken zwar konzeptionell als Möglichkeit angelegt ist, jedoch meistens nicht im Vordergrund des theoretisch-empirischen Interesses steht.179 Prozesse der Neufindung und kollektiven Neuaneignung von Praktiken konnten während des zweijährigen Forschungsaufenthaltes im Vergleich mit jenen der Einübung und Ausführung bekannter Praktiken seltener beobachtet werden. Für gewöhnlich vollziehen sich jene in zwei räumlich und zeitlich klar voneinander geschiedenen Schritten: Zunächst sammeln die Trainer außerhalb der eigentlichen Trainingszeiten und der Sporthalle Ideen für Neues, indem sie einen umfangreichen Korpus an Videos der Auftritte anderer Akrobatik- oder Tanzgruppen sichten und aus diesen jene Elemente auswählen, die ihnen als von der eigenen Gruppe umsetzbar und zur eigenen Auftrittschoreografie passend erscheinen. Im zweiten Schritt werden die Sportlerinnen von den Trainern mit den zusammengetragenen Ideen und Videos konfrontiert und dazu aufgefordert, die erdachten oder in einem Video zu sehenden Bewegungssequenzen praktisch umzusetzen. Im Gegensatz zum zweiten – beobachtbaren – Schritt der erprobenden oder übenden Realisierung durch die Sportlerinnen entzieht sich der erste Schritt der Ideengenese aufgrund seiner Auslagerung aus der eigentlichen Trainingspraxis der Beobachtung durch die Praxeografin.180

178 Vgl. zur Klärung des Aneignungsbegriffs Kapitel 4.3.4.3. 179 Eine Ausnahme bildet beispielsweise die Arbeit von Shove/Pantzar/Watson (2012) über die Dynamiken sozialer Praktiken. 180 Um Vorwürfen vorzubeugen, eine solche Konzentration auf das Beobachtbare sei „situationistisch verkürzt“ (Nassehi 2009: 118), soll an dieser Stelle betont werden, dass

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In Ausnahmefällen wird während des Trainings Raum für Improvisationsphasen gewährt, die eigens für die Entwicklung von Ideen für neue oder die Umgestaltung bekannter Praktiken genutzt werden. Die Beschreibungen und Analysen des vierten Falles beziehen sich auf Aufzeichnungen und Beobachtungen einer explizit als solche deklarierten Improvisations- und Erprobungsphase, in der die Trainer die Sportlerinnen mit der Aufgabe konfrontierten, Ideen für neue akrobatische Praktiken zu generieren und praktisch zu erproben (vgl. Kapitel 4.3.4.2). Im Rahmen dieser Fallanalyse wird (re-)konstruiert, wie, d.h. auf welche Weisen und in welchen Schritten, die Umarbeitung einer eingespielten akrobatischen Praktik zu einer neuartigen erfolgt. Im fünften Fall führen die Trainer die Akrobatinnen mithilfe eines Videos aus dem Internet an eine neue und allen Teilnehmerinnen unbekannte tänzerische Praktik heran, die diese imitieren sollen (vgl. Kapitel 4.3.4.3). Nachdem eine – aus der Perspektive der Trainer – akzeptable Annäherung an die Vorgabe erreicht ist, wird das Videovorbild zurückgenommen und die Sportlerinnen nicht länger zur Nachahmung zur Verfügung gestellt. In der Folge dieser Rücknahme erfährt die Praktik im Zuge ihrer Einübung und Ausführung über verschiedene Trainingseinheiten hinweg eine Umarbeitung und wird in etwas Eigenes transformiert. Von besonderem Interesse ist im Rahmen der fünften Fallanalyse auf der einen Seite, wie im Falle tänzerischer Praktiken die kollektive Formierung der Sportlerinnen zu kompetenten Mitspielerinnen vonstattengeht sowie auf der anderen Seite, wie, in welchen Schritten und unter Einfluss welcher verschiedenen menschlichen und nichtmenschlichen „Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004: 73) die Praktik sukzessive verändert und zu einer anderen ausgeformt wird.

die Geschehnisse außerhalb der eigentlichen Trainingszeiten zwar nicht beobachtet werden konnten, jedoch immer dann in den Analysen berücksichtigt wurden, wenn auf sie im Training in der Halle Bezug genommen wurde. So wird beispielsweise im Rahmen der fünften Fallanalyse herausgearbeitet, wie in nicht-beobachtbaren Situationen entwickelte Überlegungen in späteren Situationen im Training aufgerufen, relevant gemacht, weiterentwickelt und in diesem Sinne „wirksam“ (Jullien 1999) werden.

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4.3.4.2 Fall vier – Die Umarbeitung einer akrobatischen Praktik Methodische Vorbemerkung

In der Trainingseinheit, auf die sich die folgende Fallanalyse bezieht, wurden die Akrobatinnen von den Trainern dazu angehalten, kreativ zu werden und neue akrobatische Elemente für die sich im Anfangsstadium ihrer Entwicklung befindliche Auftrittschoreografie zu entwickeln. Solche Gestaltungsfreiräume werden den Sportlerinnen nur sporadisch ausdrücklich eingeräumt. Typischerweise steht im sportakrobatischen Training die Einübung und Ausführung bereits bekannter akrobatischer Praktiken im Vordergrund. Insbesondere wenn ein Auftritt oder Wettbewerb kurz bevorstehen, geben die Trainer genauestens vor, wann in welchen Konstellationen welche Figuren auszuführen und einzuüben sind und greifen auf verschiedene Sanktionierungs- und Disziplinierungsmaßnahmen (wie öffentliche Anprangerungen oder das Verordnen von Strafliegestützen) zurück, wenn der Lärmpegel ein gewisses Maß übersteigt oder die Akrobatinnen unkonzentriert scheinen und Übungsprozesse häufig unterbrochen werden, um so die erwartete Ordnung autoritativ (wieder-)herzustellen.181 Für die Beobachtung und Kameraeinstellung bietet dies eine wichtige Orientierungshilfe. In der im Rahmen der folgenden Fallanalyse beschriebenen und interpretierten Improvisations- und Experimentierphase jedoch trat das normative Gebot von Ordnung und Disziplin deutlich in den Hintergrund und fehlte es an der üblichen Struktur sowie kollektiv verbindlichen Trainingsvorgaben. Eine verhältnismäßige Ungeordnetheit schälte sich als dominantes Strukturmerkmal der Trainingspraxis heraus und bedingte, wie am folgenden Auszug aus meinen Feldnotizen veranschaulicht werden soll, eine temporäre Suspendierung meiner bis zu diesem Zeitpunkt erworbenen Aufzeichnungs-, Beobachtungs- und Praxeografierfähigkeiten.

181 Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch ein Ausbleiben der responsabilisierenden Ansprachen sowie des gemeinsamen Aufwärmens, Dehnens und Einturnens zu Trainingsbeginn, welche auf die Anbahnung einer konzentrierten und disziplinierten Haltung zielen (vgl. Kapitel 4.3.1). Es hat den Anschein, als sei die Entstehung von Neuem konstitutiv auf ‚Unordnung‘ angewiesen und könne sich Neues besser in einem solchen Arrangement entfalten. Da jedoch Phasen der Improvisation bzw. Praktiken des spielerisch-experimentellen Ausprobierens nicht regelmäßig beobachtet werden konnten, bleibt dies nur zu vermuten.

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Mir fallen sowohl das Filmen als auch das Beobachten in der heutigen Ausprobierphase ungewohnt schwer – beinahe so schwer wie zu Beginn meines Feldaufenthalts. Auf der Matte herrscht eine große, beinahe chaotisch anmutende Dynamik: Die Sportlerinnen laufen durcheinander, finden sich in Gruppen zusammen, die mal nur für eine sehr kurze, mal für längere Dauer Bestand haben. Auch aufgrund des hohen Lärmpegels kann ich mich nicht recht fokussieren. Gesteigert werden meine Konzentrationsprobleme und meine Orientierungslosigkeit durch die Anwesenheit der drei und fünf Jahre alten Töchter einer der Akrobatinnen, die mich beharrlich in Gespräche zu verwickeln versuchen oder die Kamera nutzen, um ihre turnerischen Fähigkeiten in Szene zu setzen. Normalerweise werden sie vom Trainer gemaßregelt, wenn sie über die Stränge schlagen. Offenbar wegen der unruhigen und ausgelassenen Stimmung und der schwierigen Überschaubarkeit des Geschehens werden sie heute nicht in die Schranken gewiesen. So toben sie lautstark auf der Matte und mit besonderem Genuss vor der Kamera umher. Das Geschehen in der Halle tritt mir heute seit Langem einmal wieder nicht als geordnetes und zusammenhängendes Geschehen entgegen, sondern als ein diffuses Gewirr an Geschehnissen, Bewegungen und Äußerungen, deren Logik und Zusammenhänge sich mir kaum erschließen. Während mir normalerweise mein Wissen um typische raum-zeitliche Verläufe und Traineranweisungen dabei hilft, meine Beobachtungen zu orientieren, sind dieses Verstehen und meine Antizipationsfähigkeiten angesichts der Unstrukturiertheit und schwierigen akustischen Verstehbarkeit in dieser Trainingsphase weitgehend nutzlos. Ich habe große Mühe, Beobachtungsschwerpunkte zu setzen und unterbreche die Beobachtung einer Gruppe mit und ohne Kamera sofort dann, wenn sich mir aufgrund beispielsweise eines lauten Gelächters der Eindruck aufdrängt, ich verpasse an anderer Stelle etwas Wichtiges. (Feldnotiz vom 14.10.2011) Die von mir in dieser Trainingseinheit produzierten Feldnotizen und Videoaufzeichnungen sind entsprechend unzusammenhängend. Letztere zeichnen sich durch zahlreiche Schwenks und Umrichtungen des Fokus aus. Auch der Audiokanal ist für die Auswertung der Aufzeichnungen nur überaus schlecht nutz- und brauchbar. Um den Prozess der experimentellen Umarbeitung einer eingespielten akrobatischen Praktik zu einer neuen trotz lückenhafter Feldnotizen und Videoaufnahmen möglichst zusammenhängend beobachtbar, beschreibbar und analysierbar machen zu können, greift die Fallanalyse zusätzlich auf Informationen zurück, die im Anschluss an die Trainingseinheit im Rahmen eines informellen

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Interviews mit dem Trainer gewonnen wurden, welcher sich in der Episode der Umgestaltung und Neufindung als ein wichtiger Mitspieler erwies. Mithilfe des in dem Gespräch erhobenen Insiderwissens wurden die Beobachtungslücken zu füllen versucht. Die Trainer geben den Sportlerinnen zu Beginn der heutigen Trainingseinheit die Aufgabe, neue akrobatische Elemente für die sich noch im Anfangsstadium der Entwicklung befindliche und unter dem Arbeitstitel ‚Dynamik‘ stehende Auftrittschoreografie zu erproben und erfinden. Dabei ist die Atmosphäre deutlich gelassener und unruhiger als sonst. Die Akrobatinnen reden und lachen viel; gleichzeitig halten sich die Trainer mit Trainingsvorgaben ungewohnt stark zurück. Die Trainerin, Melanie, ist selbst übend in eine Gruppe eingebunden, der Trainer läuft auf der Matte umher und gibt mal dieser, mal jener Gruppe Hinweise. Statt jedoch wie gefordert Neues zu probieren, üben die meisten Kleingruppen bereits beherrschte bzw. mir schon bekannte Elemente. Amelie und Marta führen gerade zum wiederholten Male mit der jüngsten, kleinsten und zugleich beweglichsten aller Akrobatinnen, Luisa, das sogenannte Brückenteil aus, als die Aufmerksamkeit des Trainers von den drei Sportlerinnen gefesselt zu werden scheint. Er bleibt in der Nähe der Gruppe stehen und beobachtet ihr Tun. Bei dem akrobatischen Element, das im Feld als Brückenteil bezeichnet wird, stehen Marta und Amelie in einem Abstand von etwa einem Meter voreinander und blicken sich an. In ihrer Mitte steht Luisa und wendet Amelie ihren Rücken sowie Marta ihr Gesicht zu. Dann ergreift Marta Luisas Hände, während Amelie ihre Füße fasst. Hierdurch gerät Luisa zwischen den beiden Sportlerinnen in eine hängende Position, in der ihr Hintern beinahe den Boden berührt. Aus dieser Haltung wird sie sofort schwungvoll in die Luft katapultiert und in einer starken Hohlkreuzhaltung, in der ihr Bauchnabel in Richtung Hallendecke zeigt, von ihren beiden Mitspielerinnen fixiert. Es ist diese Position, die dem akrobatischen Element seinen Namen verleiht: Sie ähnelt einem Brückenbogen (Abbildung 45).

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Abbildung 45 (links im Hintergrund): Brückenelement

Als meine Aufmerksamkeit und der Fokus der Kamera nach einigen Minuten der Ablenkung durch andere Geschehnisse auf der Matte wieder auf die Gruppe aus Luisa, Amelie und Marta fallen, hält sich der Trainer immer noch bei ihr auf. Inzwischen hockt er vor einem kleinen Kasten, auf dem ein Blatt Papier liegt, auf das er etwas schreibt oder zeichnet, das aus der Distanz nicht zu erkennen ist. Marta und Amelie beobachten ihn hierbei aus stehender Position (Abbildung 46). Bei ihm am Boden sitzen neben Luisa zwei weitere der jüngsten Akrobatinnen, Hanna und Leonie. Abbildung 46 (links im Hintergrund): Trainererklärungen

Der Trainer legt im Anschluss an seine Ausführungen das Papier auf den Boden und stellt sich auf den Kasten. Der Beginn der nun vollzogenen Bewegung ist noch mit dem zuvor geübten Brückenteil identisch. Statt Luisa jedoch in der Brückenposition zu fixieren, lässt Marta – wie ich es in dieser Form zum ersten Mal sehe – Luisas Füße mit dem Erreichen dieser Position schwungvoll los und Lui-

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sa wird mit der Unterstützung des Trainers, der sie mit seinen Händen an Arm und Rücken abstützt und -sichert, auf Amelies gestreckten Armen in eine gegrätschte Handstandposition gebracht (Abbildung 47). Abbildung 47 (links im Hintergrund): Modifikation des Brückenteils

Diese Position wird kurz gehalten, bevor sich Luisa mit der Unterstützung des Trainers aus dem Handstand in gestreckter Körperhaltung in Martas Arme fallen lässt. Kaum ist Luisa aufgefangen worden, wird die gleiche Bewegung noch einmal ausgeführt. Im Anschluss an diese zwei Versuche ergreift der Trainer abermals das Blatt und führt seine Erklärungen mit Papier und Stift fort, bevor er Luisa, Amelie und Marta erneut dazu auffordert, das modifizierte Brückenelement mit Übergang in den Handstand auszuführen. Wiederum hilft er der Gruppe, indem er Luisa an Rücken und Arm abstützt und sie in ihrer Bewegung führt und unterstützt. Unmittelbar im Anschluss an den Vollzug erklärt der Trainer der Gruppe etwas. Offenbar hat er eine weitere Veränderung vorgeschlagen, denn beim nächsten Versuch machen die Sportlerinnen noch etwas anders: Amelie und Marta fixieren Luisa zunächst in der Brückenposition, lassen sie jedoch dann in Richtung Boden fallen, um sie mit deutlich mehr Schwung als in den vorangegangenen Versuchen wieder nach oben in die Brückenposition und aus dieser sofort weiter in den Handstand zu befördern. Bedingt durch diese Schwungzunahme muss der Trainer erkennbar weniger Kraft aufwenden und Unterstützung leisten, um Luisa die Einnahme der Handstandposition zu ermöglichen.

222 | M ITSPIELFÄHIGKEIT Das Signifikant-Werden eines Situationspotenzials

Zu Beginn der ersten Sequenz des Falls adressieren die Trainer die Akrobatinnen mit der Aufgabe zur experimentellen Erarbeitung neuer akrobatischer Praktiken. Die meisten Sportlerinnen jedoch kommen dieser Aufforderung nicht bzw. nur zögerlich nach und ziehen sich auf die Einübung und Ausführung solcher Praktiken zurück, mit denen sie bereits vertraut sind. Das Verhalten der Akrobatinnen erklärt sich vor dem Hintergrund des Umstandes, dass die Aufforderung der Trainer zur Improvisation von der Vollzugslogik akrobatischer Praktiken – ihrer fundamentalen Störanfälligkeit, Unsicherheit und Risikohaftigkeit – abstrahiert und davon absieht, dass sich diese Unsicherheit im kreativen und ergebnisoffenen Experimentieren noch weiter steigern würden, so dass der probeweise Vollzug einer neu- bzw. umarrangierten Praktik zu einem Wagnis mit unvorhersehbarem Ausgang werden könnte. Angesichts des Mangels an Engagement der Akrobatinnen, Neues auszuprobieren, ist es der Trainer, der die Umgestaltung einer bekannten und eingespielten akrobatischen Praktik initiiert und als Subjekt der Improvisation auftritt. Während der Beobachtung einer Sportlerinnen-Gruppe beim Vollzug einer akrobatischen Praktik erkennt er ein „Situationspotential“ (Jullien 1999: 32)182 zu deren Umgestaltung, welches er im weiteren Verlauf mit der Äußerung entsprechender Modifikationsvorschläge gegenüber den Sportlerinnen benennt und signifikant macht. Im Anschluss an Alkemeyer (2011), der sich wiederum auf Ennenbach (1989) bezieht, ist davon auszugehen, dass der Trainer das Potenzial nicht aufgrund eines distanzierten, ausschließlich visuell vermittelten Hinschauens, sondern im Modus eines „virtuellen Mitbewegens“ (Alkemeyer 2011: 59) wahrnimmt. In der Beobachtung fädelt er sich in die beobachtete Bewegung ein

182 Der Begriff des Situationspotenzials bildet den Mittelpunkt der theoretischen Ausführungen des französischen Philosophen François Jullien Über die Wirksamkeit (1999), in denen er in Anlehnung an das chinesische philosophische Denken die europäische Tradition, Handeln aus unsichtbaren und individuellen Zwecken, Plänen oder Strategien zu erklären, kritisch hinterfragt und dekonstruiert. Seine Vorschläge zur Konzeptualisierung des Handelns setzen an der Eingebundenheit des Menschen in die Praxis an. Gehandelt werde nicht, indem ein Modell oder eine ideale Form entworfen und diese „auf die Dinge projiziert“ (ebd.: 32) würden, sondern indem in den Situationen und Konfigurationen, in die ein Mensch eingebunden ist, „günstige Faktoren“ (ebd.) aufgespürt würden. Wirksame Handlungen seien als „Modifikationen“ (ebd.: 34) von Situationspotenzialen und damit weniger als Resultate überdauernder Fähigkeiten des Handelnden, denn vielmehr als Resultate der Situation zu verstehen.

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und schmiegt sich mimetisch an diese an. Die Beobachtung realisiert eine interkorporale Beziehung – d.h. eine direkte Beziehung von Körper zu Körper(n) (vgl. Crossley 1995) – zwischen Beobachtendem und Beobachten, aufgrund derer der Trainer unmittelbar an seinem praktisch erfahrenen und sozialisierten Körper auf Neuerungs- und Umgestaltungsmöglichkeiten der Praktik aufmerksam wird.183 Die vom Trainer im Rahmen des informellen Interviews getroffenen Aussagen verweisen darauf, dass er ferner auch auf der Grundlage seines bewegungs- und trainingswissenschaftlichen Expertenwissens zur Initiierung einer Umgestaltung der akrobatischen Praktik veranlasst wird. Angesichts der außergewöhnlichen Beweglichkeit der jüngsten, gestützten Teilnehmerin habe er biomechanisch-funktionale Ähnlichkeiten zwischen den beobachteten Bewegungsabläufen und jenen der turnerischen Praktik der am Reck ausgeführten Riesenfelge bemerkt und sei ihm die Idee gekommen, dass ein Aufschwung aus der Brücken- in eine Handstandposition zu realisieren sein müsste. In skizzenhaft-zeichnerischen Darstellungen, die er gegenüber den Akrobatinnen sprachlich kommentiert, verleiht der Trainer seiner während des virtuellen Mitvollzugs gewissermaßen ‚intuitiv‘ auftauchenden Idee184 eine materielle Gestalt und macht sie öffentlich. Er expliziert auf diese Weise Anforderungsdetails und biomechanische Ausführungsprinzipien der anvisierten neuen Bewegungsvollzüge, vergegenwärtigt sich diese selbst, unterzieht seine Idee einer Machbarkeitsüberprüfung und macht nicht zuletzt ein Wissen um ihre Details und Impli-

183 Viele Studien, die sich mit den Themen von Interkorporalität oder körperlicher Kommunikation beschäftigen, diskutieren diese ausschließlich im Zusammenhang mit Situationen des direkten Körperkontakts (vgl. z.B. Schindler 2011a). Im Gegensatz zu diesen wird in der vorliegenden Arbeit davon ausgegangen, dass interkorporale Beziehungen auch in vermeintlich rein visuell vermittelten Beobachtungsverhältnissen Geltung erlangen. Alle Interventionen und Korrekturen des Trainers fußen beispielsweise darauf, dass er sich in den beobachteten Bewegungsvollzug einfädelt, diesen in virtueller Mitbewegung begleitet und so an seinem durch ein umfangreiches Maß an Bewegungserfahrungen sozialisierten Körper die Qualität des beobachteten Vollzugs oder auch den „Punkt, […] an dem [dieser] ‚hakt‘“ (Alkemeyer 2011: 60), direkt erspürt. Vgl. zur Bedeutung eines solchen spürenden Beobachtens und Beurteilens sowie virtuellen Mitbewegens im Forschungsprozess auch Kapitel 3.2.6. 184 Zumal das Bemerken des Umgestaltungspotenzials und das Angestoßen-Werden zu einer Idee erfahrungs- und wissensabhängig sind, handelt es sich um eine sozialisierte Intuition.

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kationen für die Sportlerinnen verfügbar.185 Im Anschluss an die Explizierung seiner Idee fordert der Trainer die Akrobatinnen auf, diese im Tun zu verkörpern. Er schaltet sich dabei als sichernde Instanz in den konzertierten Vollzug ein, führt und stützt die für den Aufschwung aus der Brücken- in die Handstandposition vorgesehene Mitspielerin und ermöglicht den Sportlerinnen so die praktische Erprobung und versuchsweise Umsetzung des Vorhabens. Überdies ist der Trainer durch seinen körperlichen Eingriff nun zum tatsächlichen Mitvollzug gezwungen. In diesem erhält er an seinem durch ein umfangreiches Maß an praktischen Erfahrungen mit verschiedenen turnerischen und akrobatischen Bewegungsabläufen sowie dem Leisten von Hilfestellung sozialisierten Körper spürbar Rückmeldung über die Grenzen und Schwierigkeiten der Umsetzung seines Vorhabens und entsprechende Anpassungsnotwendigkeiten. Da er offenbar viel Kraft aufwenden muss, um die Akrobatin beim Aufschwung in den Handstand zu unterstützen, schlägt er schließlich vor, eine weitere Bewegung in die akrobatische Praktik zu integrieren, um den Körper der Akrobatin stärker in Schwung zu versetzen und ihr die Einnahme der Handstandposition zu erleichtern. Im Prozess der Entwicklung von Ideen und der Genese von Vorschlägen für die Umgestaltung der eingespielten akrobatischen Praktik zu etwas Neuem gewinnen verschiedene Wissenstypen Relevanz: Zum einen fließt in diesen ein verkörpertes Erfahrungswissen des Trainers ein, welches sich im virtuellen und tatsächlichen Mitvollzug der Praktik aktualisiert und ihn gleichsam ‚spürbar‘ auf Umgestaltungspotenziale und -notwendigkeiten aufmerksam macht. Zum anderen erlangt in diesem Prozess auch ein explizites biomechanisch-funktionales und trainingswissenschaftliches Detailwissen des Trainers um die Vollzugsprinzipien und Strukturverwandtschaften von turnerischen und akrobatischen Bewegungsabläufen Bedeutsamkeit. Auffällig ist dabei, dass sich diese verschiedenen Wissensressourcen sich nicht gegenseitig stören, sondern sie vielmehr auf produktive Weise ineinandergreifen und ihnen gerade in ihrer Verschränkung eine konstitutive Bedeutung für die kreative Modifikation der eingespielten Praktik zukommt.

185 In einer anderen Trainingseinheit erzählte mir die Trainerin im Rahmen eines informellen Gesprächs, dass auch für die Findung und Konkretisierung von Ideen für neue Bestandteile der Choreografie außerhalb der eigentlichen Trainingspraxis grafische Darstellungen und Skizzierungen eine entscheidende Bedeutung übernehmen. Sämtliche Elemente würden als schematische Abbildungen in eine Art ChoreografieDrehbuch gezeichnet, weil erst im Zuge der detailgenauen Visualisierung einer Idee absehbar werde, ob bzw. für welche Teilnehmerinnen und Kleingruppen das anvisierte neue Element überhaupt zu realisieren sei.

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Inzwischen beobachten auch Melanie, Andrea, Nadine und Lotta, die sich zuvor an einem anderen akrobatischen Element versucht haben, die Gruppe um Luisa. Melanie beginnt Amelies Bewegungen zu imitieren; Nadine nickt ihr bestätigend zu. Nachdem Luisas Gruppe ihren Versuch beendet hat, ruft Melanie „Sieht gut aus!“ über die Matte und fordert die um sie versammelten Sportlerinnen mit der Frage „Können wir das auch machen?“ zur Nachahmung auf. Der erste Imitationsversuch, der nun wiederum von Trainer, Amelie, Marta und Luisa beobachtet wird, misslingt. Sogleich setzt die Gruppe zum nächsten Versuch an, der jedoch ebenso kläglich scheitert: Lotta, die in dieser Konstellation Luisas Position einnimmt, landet in einer schmerzhaft verbogen aussehenden Position mit gespreizten Beinen auf Melanies Schultern (Abbildung 48). Der Trainer, der sich immer noch bei Amelie, Marta und Luisa aufhält, beobachtet die Imitationsversuche. Dann begibt er sich zu der Gruppe um Lotta und erklärt, dass in der personellen Konstellation aufgrund der Größenverhältnisse zwischen Stützenden und Gestützter die Realisierung gar nicht gelingen könne. Auf diesen Einwand hin zitiert Melanie die deutlich kleinere Leonie zur Gruppe, während der Trainer den kleinen Kasten hinzuholt. Andrea und Melanie versuchen sich nun mit Leonie und der Unterstützung des Trainers am Vollzug des veränderten akrobatischen Elements. Während der Ausführung hält der Trainer permanent Körperkontakt zu Leonie und unterstützt diese an Rücken und Arm in der Bewegung. Leonie kann so auf Andreas Armen aus der Brückenposition in einen gegrätschten Handstand übergehen, aus dem sie von Melanie aufgefangen wird (Abbildung 49). Abbildung 48: Misslingen der Imitation

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Abbildung 49: Imitation mit Trainerhilfe

Euphorisch richtet sich der Trainer unmittelbar nach Leonies Landung in Melanies Armen mit einem weiteren Umgestaltungsvorschlag an Andrea und beginnt, ihr seine Idee vorzuführen: Körperlich simuliert er der Bewegungsvollzug bis zum Handstand aus Andreas Perspektive und markiert dann durch den sprachlichen Hinweis „und dann drehen“ jene Stelle der Bewegungssequenz, an der die vorgesehene Neuerung ansetzt. Mit der oberen Akrobatin im Handstand solle die Stützende eine halbe Schrittdrehung ausführen und jene dann mit gestreckten Armen nach vorn auf die Arme der vierten Mitspielerin fallen lassen (Abbildung 50). Danach wendet er sich an Leonie: Diese solle beim nächsten Versuch besonders darauf achten, ihre Beine nun nicht mehr zu grätschen, sondern schön lang und gerade zu strecken und zu schließen. Dann geht es an die Umsetzung (Abbildung 51). Abbildung 50: Der Trainer führt seine neue Idee vor

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Abbildung 51: Umsetzung der Idee

Die Umsetzung wird vom Trainer gelobt und von einigen anderen Sportlerinnen, die dem Versuch zugesehen haben, beklatscht. Der Trainer ergreift abermals das Blatt Papier, welches er bereits zuvor für die Darstellung von Erklärungen genutzt hatte. Er setzt sich auf den Kasten, bittet Leonie zu sich und beginnt, schemenhafte Darstellungen, insbesondere Linien, aufzumalen. Abwechselnd erläutert er seine Visualisierungen und macht Leonie in andeuteten Bewegungen Details der Aufschwungbewegung in den gestreckten Handstand vor. Hauptsächlich geht es darum, wie sie in welcher Phase der Bewegung ihre Kopfhaltung zu ändern habe, um den Aufschwung auch ohne seine Hilfe zu schaffen. Auch der nächste Umsetzungsversuch wird von ihm gelobt, bevor kurz danach die Trainingseinheit beendet wird. Auch noch im von mir initiierten informellen Interview zeigt sich der Trainer enthusiastisch über das Geschehene und betont wiederholt, dass die Entwicklung eines so guten neuen akrobatischen Elements im Training selbst eine große Seltenheit sei. Die Konkretisierung der Idee

Mit dem Imitationsversuch der zweiten Akrobatinnen-Gruppierung erfährt die Idee des Trainers zur Umgestaltung der akrobatischen Figur des Brückenteils Bestätigung und Anerkennung. Das Scheitern des Nachahmungsversuchs und die auf dieses folgende Intervention des Trainers geben zu erkennen, dass die zu Beginn der Trainingseinheit an die Akrobatinnen gerichtete Aufforderung zur eigenständigen Erfindung und Erprobung neuer akrobatischer Praktiken diese vor große Herausforderungen stellt. Der Umstand, dass ein gefährlicher Sturz der gestützten Mitspielerin nur knapp vermieden werden kann, deutet darauf hin, dass die experimentelle und nicht durch ein profundes biomechanisch-funktionales Wissen gesicherte Integration neuer Bewegungssequenzen in akrobatische

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Praktiken deren Gefährlichkeit und Unsicherheit zusätzlich steigert und den Ausgang des konzertierten Vollzugs für ihre Teilnehmerinnen noch schwerer kalkulierbar macht. Im Anschluss an den von ihm geforderten und biomechanisch begründeten Austausch der die Position der Gestützten einnehmenden Akrobatin durch eine andere beteiligt sich der Trainer als aktiver, körperlich eingreifender und sichernder Mitspieler an der Ausführung der modifizierten akrobatischen Praktik. Dabei scheint er die konzertierten Vollzüge der zweiten AkrobatinnenGruppierung als – unter funktionalen Gesichtspunkten – gelungen wahrzunehmen und wird auf weitere Potenziale zur Modifikation und Steigerung der Ausführungsschwierigkeiten aufmerksam. So regt er erstens in einer körperlichen Demonstrationen zur Einschaltung einer Körperdrehung durch die die im Handstand stehende Teilnehmerin Stützende an, um – wie er in informellen Interview erklärt – die Praktik in Einklang mit dem Thema der Auftrittschoreografie dynamischer zu gestalten. Zweitens wendet er sich mit der Aufforderung an die gestützte Mitspielerin, während ihres Handstands die Beine und Füße zu strecken und zu schließen. Mit dieser letzten Anregung macht der Trainer auf stilistische Ausführungskriterien aufmerksam. Sie beruht dabei – so spezifiziert der Trainer im Interview – auf der Überlegung, was noch zu ändern sei, damit „das Teil richtig geil“ aussehe. Mit seinem Änderungsvorschlag macht der Trainer einen Aspekt der impliziten Normativität akrobatischer Praktiken explizit, der in den vorangehenden Ausführungen und Fallanalysen bislang unthematisch geblieben ist. Die im Rahmen dieser Praktiken – und vor allem auf den exponierten und im Zentrum der Aufmerksamkeit eines potenziellen Publikums oder Wertungsgerichts stehenden Positionen der in großer Höhe Gestützten und Gehaltenen – zu vollziehenden Bewegungsaktionen müssen nicht nur bestimmte funktionale Gelingenskriterien erfüllen, sondern darüber hinaus einer Ästhetik der Gespanntheit, Gestrecktheit und Geradheit entsprechen. Dabei wird jedoch den ästhetischen gegenüber den funktionalen Kriterien eine nur mehr sekundäre Relevanz attribuiert. Immer (erst) dann, wenn die Teilnehmerinnen einer akrobatischen Praktik im Hinblick auf deren funktionale Anforderungskataloge als mit- bzw. zusammenspielfähig gelten, wird eine Annäherung an praktikspezifische stilistischästhetische Ausführungskriterien forciert. Im Falle der Einübung und Ausführung bekannter Praktiken können die Teilnehmerinnen so beispielsweise dabei beobachtet werden, wie sie sich gegenseitig immer wieder daran erinnern, die „Beine lang“, oder die „Füße spitz“ zu machen oder die Knie zu strecken und sich und ihre Bewegungen damit wechselseitig auf diese kollektiv verbindlichen Stilmerkmale verpflichten.

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Im Anschluss an den vom Trainer vorgebrachten Vorschlag zur weiteren Umarrangierung der Praktik unter stilistisch-ästhetischen Vorzeichen sowie eine Explizierung weiterer funktionaler Ausführungskriterien gegenüber der gestützten Teilnehmerin in sprachlichen und zeichnerischen Erklärungen erfolgen letzte Umsetzungs- und Verkörperungsversuche durch die Akrobatinnen. Die Form der nun realisierten Praktik hat nur noch wenig Ähnlichkeit mit der der originären. Schritt für Schritt hat im Verlauf der Trainingseinheit eine neue Praktik Gestalt angenommen, die von verschiedenen Teilnehmern des Feldes schließlich durch bestätigende Gesten des Ab- und Beklatschens performativ als als neues Element in die Auftrittschoreografie integrier- und im Rahmen auf Auftritten und Wettbewerben aufführbar anerkannt wird. Fazit des Falls

In der vierten Trainingsepisode erweist sich der Trainer als derjenige Teilnehmer, der die kreative Umarbeitung einer eingespielten akrobatischen Praktik mit seinen Ideen, Vorschlägen und Interventionen maßgeblich vorantreibt. Mit seinem prominenten Eingreifen forciert er – im Unterschied zu den meisten der Akrobatinnen – die Verfolgung des von ihm selbst proklamierten Trainingsziels. Das Auftreten und Eingreifen des Trainers als Subjekt der Neuschöpfung oder Improvisation sowie der gleichzeitige Rückzug der Akrobatinnen auf ihnen bereits vertraute Bewegungsvollzüge – ihr Mangel an Eigeninitiative – wiederum sind dabei nicht beliebig, sondern bedingt durch die übersummative und riskante Eigenlogik aller akrobatischen Praktiken. Trotz der prominenten Bedeutung, die dem Trainer im und für den Prozess der Umgestaltung der akrobatischen Praktik zukommt, lassen sich seine Eingriffe kaum angemessen auf der Grundlage traditionell handlungs(regulations)theoretischer Erklärungsmodelle konzeptualisieren und verstehen. Weder handelt es sich bei seinen gegenüber den Akrobatinnen in Anschlag gebrachten Vorschlägen zur Umgestaltung der Praktik um Ergebnisse vorpraktischer, privater und sich ‚in seinem Kopf‘ abspielender Denk- und Planungsakte, noch stellen seine Ideen gleichsam ‚aus dem Nichts‘ auftauchende Einfälle oder zufällige Geistesblitze eines autonomen und außerhalb praktischer „Verflechtungszusammenhänge“ (Elias 2004: 146) stehenden Urheber-Subjekts dar. Vielmehr wird der Trainer zu seinen verschiedenen, aufeinander aufbauenden Umarbeitungsideen in der virtuellen bzw. tatsächlichen Begleitung der konzertierten körperlichen Bewegungsvollzüge der zwei Sportlerinnen-Gruppierungen angestoßen. Der vierte Fall gibt die Genese von Ideen als ein Aufmerksamwerden auf Situationspotenziale und Umgestaltungsgelegenheiten bzw. – wie es in der ökolo-

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gischen Psychologie heißt – Affordanzen (vgl. Kapitel 1.2.5) in praxi zu erkennen. Die Ideen zur Umarbeitung der Praktik tauchen im ‚relationalen Dazwischen‘ von – auf besondere Weise wissendem und erfahrenem – Trainer und den in die Praktik involvierten und über spezifische Bewegungsfähigkeiten verfügenden Akrobatinnen auf. Die verschiedenen Vorschläge des Trainers und seine Anregungen zur Veränderung der Praktik wiederum lassen sich als responsive Antworten auf die im virtuellen und tatsächlichen Mitvollzug wahrgenommenen Potenziale deuten, die er mit jenen signifikant macht. Waldenfels führt das – an praxeologische Erklärungsvorschläge gut anschließbare – Konzept des responsiven Handelns ein, um den „elementaren Fremdbezug[] jeder Handlung“ (Gelhard 2011: 76) in Rechnung zu stellen und damit die handlungs(regulations-) theoretische Vorstellung zu überwinden, Handlungen würden durch autonome Willensakte oder Entschlüsse eines souveränen Handelnden in Gang gebracht und bedeutungsvoll. Im Gegensatz zu dieser Auffassung begreift er Handeln als antwortendes Eingehen auf fremde Angebote, Ansprüche oder Angebote und betont, dass wir zwar das erfänden, „was wir antworten, wir […] aber nicht [erfänden], worauf wir antworten“ (Waldenfels 1999: 258). Der waldenfelsschen Auffassung, dass das, was wir auf ein fremdes Angebot antworten, völlig frei und kreativ erfunden ist, ist dabei jedoch nur bedingt zuzustimmen: Die Vorschläge und Interventionen des Trainers zur Umgestaltung der Praktik erweisen sich nämlich – ebenso wie auch schon die Wahrnehmung der Modifikationspotenziale selbst – als auf doppelte Weise präfiguriert: erstens durch (das Wissen des Trainers um) biomechanisch-funktionale Organisationsprinzipien, ästhetische Stilkriterien sowie die Strukturähnlichkeiten diverser akrobatischer und turnerischer Praktiken und zweitens durch den „funktionalen Kontext“ (Good 2007: 277)186 und die Rahmung der Trainingseinheit als Improvisation. Es sind sein Wissen um die Anforderungsprofile diverser turnerischer und akrobatischer Bewegungsvollzüge sowie die implizite Normativität der Trainingspraxis, die seine Aufmerksamkeit und seine kreativen Eingriffe vorstrukturieren und den aus Waldenfelsʼ Perspektive unbegrenzt offenen Horizont des Möglichen, in den diese kreativ ausgreifen, in bestimmter Weise abstecken und einhegen.

186 Good (2007), der den Versuch unternimmt, das aus der ökologischen Psychologie stammende Affordanz-Konzept zu ‚sozialisieren‘, unterstreicht, dass Handlungsgelegenheiten stets in einen „funktionalen Kontext“ (ebd.: 277) eingebettet sind, von dem unabhängig sie nicht existieren. So werde das Angebot eines Stuhls, auf ihm zu stehen, nur im Rahmen eines bestimmten funktionalen Kontexts, etwa ein Buch, das in einem hohen Regal steht, erreichen zu wollen, wahrgenommen und handelnd realisiert.

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Die Ideen und Vorschläge zur Umarbeitung einer im Feld etablierten akrobatischen Praktik zu einer neuen differenzieren sich im Verlauf der Trainingseinheit immer weiter aus und werden zunehmend präziser – und zwar im Zuge eines Wechselspiels aus Verkörperungen und Explizierungen. Im Anschluss an jeden seiner Mitvollzüge entfaltet der Trainer seine Ideen und mit ihnen die Details und Implikationen der von ihm anvisierten Neuerungen in sprachlichen und zeichnerischen Erklärungen oder körperlichen Demonstrationen vor den Sportlerinnen. Dabei folgen seine Explikationen jedoch keinem vorab fertigen Vorstellungsbild. Vielmehr gewinnen seine Ideen erst in ihrer Veröffentlichung und Materialisierung an Kontur: Erst in seinen an die Sportlerinnen adressierten Erklärungen und Demonstrationen schärfen und präzisieren sich die Ideen des Trainers, werden diese einer Umsetzbarkeitsüberprüfung unterzogen und zugleich ein Wissen um die Ausführungsdetails und Vollzugsprinzipien der vom Trainer im Mitvollzug gewissermaßen ‚intuitiv‘ anvisierten neuen Bewegungssequenzen hervorgebracht. Dieses Wissen wiederum muss von den Akrobatinnen im konzertierten Vollzug kollektiv-verkörpert werden. In der Begleitung dieser Vollzüge wird der Trainer wiederum zu neuen Ideen dafür angeregt wird, wie die Praktik noch weiter modifiziert werden kann. Diese Ideen werden von ihm im nächsten Schritt expliziert, bis die originäre Praktik am Ende der Trainingseinheit zu einer kollektiv als aufführbar akzeptierten neuen Praktik umgeformt ist. Die Beschreibung und Analyse der vierten Trainingsepisode sollen insbesondere auch zwei Merkmale akrobatischer Praktiken verdeutlichen, die in den vorangehenden Kapiteln und Abschnitten unthematisch geblieben sind. Der erste dieser zwei Aspekte betrifft das Verhältnis von Funktionalität und Ästhetik bzw. Stilistik. So ist es nur eine Dimension der impliziten Normativität akrobatischer Praktiken, dass die in ihrem Rahmen ausgeführten Bewegungsaktionen in funktionaler Hinsicht gelingen müssen. Darüber hinaus haben sie einer spezifischen Ästhetik der Geradheit, Gespanntheit und Gestrecktheit zu entsprechen, auf welche hin die Akrobatinnenkörper insbesondere auch in der Anfangsphase des Trainings geradezu ‚gedrillt‘ werden. Die zweite wichtige und im Vergleich mit den ersten drei Fallanalysen neue Erkenntnis des vierten Falls besteht darin, dass das konkrete Wie der Transformation und Umarbeitung mit der für sie je charakteristischen Vollzugslogik zusammenhängt (vgl. hierzu auch Fall fünf). Aufgrund ihrer konzertierten und übersummativen Organisationsstruktur sind die akrobatischen Praktiken für die Beteiligten im Hinblick auf ihre Eigen- bzw. Vollzugslogik schwer durchschaubar; ferner handelt es sich bei ihnen um inhärent unsichere, störanfällige und mitunter gefährliche Vollzüge. Angesichts dieser Eigenlo-

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gik der akrobatischen Praktiken fordert ihre ergebnisoffene, improvisierende Umgestaltung die Einschaltung sichernder Instanzen als Mitspieler und verlangt nach Teilnehmern, die über ein umfangreiches Maß an Wissensressourcen und Erfahrungen verfügen, das es ihnen ermöglicht, situative Potenziale zur Modifikation zu erkennen und kreativ auszugestalten. 4.3.4.3 Fall fünf – Die transformierende Aneignung einer tänzerischen Praktik Im Fokus der ersten vier Fallanalysen stehen unter je unterschiedlichen Fragestellungen und Analyseschwerpunkten verschiedene akrobatische Praktiken, in deren Einübung – zumal sie erstens von den Teilnehmern als Herzstücke der Auftrittschoreografie betrachtet werden und die zweitens so störfällig und unsicher sind, dass an ihrem Feinschliff permanent gearbeitet werden muss – ein Großteil der Trainingszeit und -aufmerksamkeit investiert wird. Mit der fünften und letzten Fallanalyse erfolgt nun die Hinwendung zu einer anderen, im Feld als sekundär betrachteten und in den bisherigen Ausführungen weitgehend vernachlässigten Sorte von Praktiken: den tänzerischen. Die Fallanalyse nimmt Bezug auf vier aufeinander folgende Trainingseinheiten. Ihren Auftakt bildet die Ernstbegegnung der Akrobatinnen mit einer ihnen gänzlich unbekannten Praktik: Die Trainerin konfrontiert sie mit einem Video einer professionellen Tänzerinnengruppe, das sie im Zuge von gemeinsam mit Diana angestellten Internetrecherchen für die Übernahme durch die Akrobatinnengruppe ausgewählt hat. Im Rahmen der Analyse werden an die erste Einheit die Fragen gestellt, wie die nachahmende Einübung der unbekannten tänzerischen Choreografie organisiert wird und wie die kollektive Ausformung oder Subjektivierung tänzerischer Mitspielfähigkeit erfolgt. Zumal bereits am Ende der ersten Trainingseinheit in den Augen der Trainerin eine hinreichende Annäherung an das Vorbild erreicht ist, wird das Video in den folgenden Trainingsstunden nicht mehr zum Einsatz gebracht und als Orientierungshilfe zurückgenommen. Mit dieser Rücknahme verändert die Praktik allmählich ihre Form und erfährt eine Umgestaltung. Den Kristallisationspunkt der Interpretation der Geschehnisse der zweiten bis vierten Trainingseinheit bilden vor diesem Hintergrund die Fragen danach, in welchen Schritten die Umformung der tänzerischen Praktik erfolgt, welche Ereignisse dabei „ins Gewicht fallen“ (Scheffer 2008) und welche verschiedenen menschlichen und nicht-menschlichen „Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004: 73) im Prozess der Umarbeitung wirkmächtig werden.

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Erste Trainingseinheit

Am heutigen Samstag findet ein außerordentliches, zweistündiges Training statt, in dem der tänzerische Teil für die neue Auftrittschoreografie erarbeitet wird. Der Trainer ist dabei nicht anwesend. Nachdem die Sportlerinnen die Matten aufgebaut haben, finden sie sich umgehend in einem Sitzkreis zusammen, dessen Zentrum die Trainerin bildet, die einen mitgebrachten Laptop auf einen kleinen Kasten gestellt hat. Sie startet ein etwa einminütiges Video, das eine professionelle Tanzgruppe bei der Ausführung einer Choreografie zeigt. Zu sehen sind acht Frauen, die in drei Reihen versetzt hintereinander aufgestellt einen modernen Tanz ausführen. Ihre Bewegungen sind recht langsam und äußerst synchron. Die Trainerin spielt das Video dreimal in voller Länge ab (Abbildung 52). Danach startet sie das Video abermals, stoppt es aber bereits nach wenigen Sekunden, um die kurze Sequenz zu kommentieren: Sie benennt ausgewählte Details der Armhaltungen der Tänzerinnen und macht diese den übrigen Sportlerinnen vor. Auch viele Sportlerinnen versuchen sich dann an einer Imitation der Anfangssequenz und befragen sich dabei wechselseitig etwa dazu, wie die Finger gehalten werden oder wie genau die Arme miteinander zu verschränken sind (Abbildung 53). Die Trainerin setzt das Video für wenige Sekunden fort, vollzieht schon währenddessen den weiteren Ablauf in angedeuteten Körperbewegungen mit und flankiert das Getane abermals durch bruchstückhafte Äußerungen. Manchmal wird sie hierin von Diana, die neben der Trainerin die einzige ist, die das Video bereits kennt, verbessert. Auch die Akrobatinnen versuchen dann, das Videovorbild zu imitieren, befragen die Trainerin sowie einander gegenseitig zu Ausführungsdetails, korrigieren sich, oder verharren auffällig lang und nach Bestätigung suchend in bestimmten Positionen. Abbildungen 52 und 53: gemeinsames Schauen und Imitieren des Videos

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Nach etwa zehn Minuten ruft die Trainerin die Sportlerinnen dazu auf, sich zum gemeinsamen Üben vor dem an einer Hallenwand angebrachten Spiegel aufzustellen. Die Sportlerinnen formieren sich zu einem Block, in dem die Kleinsten vorn und die Größten hinten stehen. In dieser Aufstellung wird nun der erste Teil der Sequenz verlangsamt gemeinsam geübt (Abbildung 54). Koordiniert wird dies durch die sprachlichen Anweisungen der Trainerin: „Rechts unten, links oben, runtergehen und auf“. Abbildung 54: Aufstellung im Block vor dem Spiegel

Nach zwei weiteren Durchgängen zur Musik ruft die Trainerin die Gruppe am Laptop zusammen und startet das Video von Neuem, um zusammen mit Diana den weiteren Verlauf der Tanzsequenz zu kommentieren. Dann hält sie das Video an, zieht sich aus dem Pulk der schauenden Sportlerinnen zurück und positioniert sich vor ihnen wie auf einer Bühne. Verlangsamt und unter Kommentaren führt sie den neuen Teil der Tanzsequenz vor. Diana schaut sich unterdessen das Video ein weiteres Mal an und korrigiert die Demonstrationen der Trainerin, in-

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dem sie die vom Vorbild abweichenden Merkmale benennt und die richtige Haltung selbst vormacht. Danach treffen sich die beiden am Laptop, um die Ausführungsdetails und Schwierigkeiten der Sequenz zu diskutieren. Immer wieder kommt es zu Unstimmigkeiten, die sie dazu veranlassen, das Video zurück zu spulen und es wieder von vorn anzusehen. Die ‚andere‘ Vollzugslogik tänzerischer Praktiken

Wie sich in Kapitel 4.3.1 erläutert findet, beginnt das sportakrobatische Training üblicherweise mit disziplinierenden Ansprachen und einem gemeinsamen, zumeist vom Trainer koordinierten Aufwärmprogramm, die der körperlich-mentalaffektiven Einstellung der Teilnehmerinnen auf die Anforderungen der akrobatischen Praktiken dienen und auf die Anbahnung einer ernsthaften und konzentrierten Haltung sowie das Einschleifen und In-Erinnerung-Rufen bestimmter, für den Vollzug akrobatischer Praktiken relevanter Bewegungsmuster zielen. Auffällig an der ersten Sequenz der fünften Trainingsepisode ist vor diesem Hintergrund das Ausbleiben dieser oder vergleichbarer Einstellungspraktiken: Es wird gänzlich auf eine Vorbereitung durch ein gemeinsames Aufwärmen und Dehnen unter Traineraufsicht, eine Verpflichtung der Akrobatinnen auf eine Kollektivorientierung, Konzentriertheit und Ernsthaftigkeit und eine Anbahnung einer körperlichen Haltung der Gespanntheit, Geradheit und Exaktheit verzichtet. Unmittelbar im Anschluss an den gemeinsamen Aufbau der Matten erfolgen die Konfrontation der Sportlerinnen mit dem Videovorbild und die Heranführung an die zu erlernende tänzerische Choreografie. Zumal es sich bei dem Ausbleiben der typischen Anfangsphase nicht um ein einmaliges Ereignis handelt, sondern dieses immer dann zu beobachten ist, wenn es im Training ausschließlich oder hauptsächlich um die Ausführung und Einübung tänzerischer Choreografien geht, ist davon auszugehen, dass es mit der ‚anderen‘ Vollzugslogik dieser Sorte Praktiken zusammenhängt. Im Gegensatz zu den akrobatischen wird im Rahmen der im Feld anzutreffenden tänzerischen Praktiken nicht konzertiert, sondern gemeinsam agiert (vgl. zu dieser Unterscheidung Kapitel 4.2). Im Unterschied zu den akrobatischen Praktiken sind die verschiedenen Mitspielerinnen der im Feld auftretenden tänzerischen Praktiken mit weitgehend identischen Anforderungen konfrontiert; zwischen den verschiedenen Teilnehmerinnen und ihren Bewegungsaktionen bestehen keine Interdependenzen. Kommt es bei einer Teilnehmerin zu Unsicherheiten, bleiben die anderen sowie der praktische Gesamtzusammenhang von diesen weitestgehend unberührt. Da im Falle tänzerischer Praktiken das Tun einer Sportlerin das der anderen unbeeinflusst lässt und sich Unsicherheiten nicht potenzieren, erweisen sich diese als ungleich ‚fehlertoleranter‘ als die akrobati-

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schen Praktiken. Dementsprechend sind ihre verschiedenen Teilnehmerinnen ‚nur‘ gefordert, auf sich selbst und darauf zu achten, zum gleichen Zeitpunkt wie die anderen Sportlerinnen unter dem Anspruch eines zumindest ungefähren Maßes an Synchronizität die vorgesehenen Bewegungen zu realisieren. Der Verzicht auf eine Vorbereitungsphase und die typischen Einstellungspraktiken erklärt sich damit, dass die tänzerischen Vollzüge zum einen individuelle Unkonzentriertheiten und Bewegungsungenauigkeiten viel eher verzeihen als die akrobatischen und dass sie zum anderen Bewegungsweisen und Körpertechniken verlangen, deren Adaption durch das Einschleifen und Wieder-Aufrufen einer gespannten, aufrechten und festen Körperhaltung eher erschwert als gefördert wird. Sehen als Konstruktionsleistung

Die neue tänzerische Praktik soll über die Imitation eines Videovorbildes erlernt werden. Dabei zeigt sich schnell, dass das Sehen des Videos kein einfacher Akt des bloßen Hinschauens und Verstehens ist. Selbst zwischen Diana und der Trainerin, die als einzige bereits mit dem Video vertraut sind, kommt es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten und Missverständnissen.187 Ebenso wie die Praxeografin sehen sich auch die Akrobatinnen mit der Aufgabe konfrontiert, das die gekonnten Bewegung der Tänzerinnen im Video organisierende praktische Wissen und die für die kompetente Partizipation erforderlichen Fähigkeiten mittels verschiedener Verfahren beobachtbar und aneigenbar machen zu müssen; sie liegen nicht offen dar. Das Sehen des Videos der zu lernenden Tanzsequenz sowie ihrer Ausführungsdetails erweist sich als kein passiver Wahrnehmungsakt, sondern als eine aktive Konstruktionsleistung (vgl. Goodwin/Goodwin 1996; Schindler 2011a: 199ff.). Zum Zweck der Herstellung von Sicht- bzw. Beobachtbarkeit wird das Video zunächst in seiner ganzen Länge abgespielt, dann in verschiedene Teile zerlegt und sequenzialisiert. Beim wiederholten Abspielen und gemeinsamen Ansehen der kurzen Sequenzen werden bestimmte Phasen der Bewegungsvollzüge von Diana und der Trainerin mit Schlagworten benannt und auf diese Weise als wichtige Knotenpunkte aus dem Bewegungsfluss herausgehoben. Die verbale Markierung sorgt für eine gemeinsame Ausrichtung der Aufmerksamkeit aller Sportlerinnen und die Erzeugung eines geteilten Verständnisses der wichtigsten Anforderungen der zu imitierenden tänzerischen Praktik. Das wiederholte Anschauen der kurzen Videosequenzen wird von Mit-

187 Im Gegensatz zu den Trainern verfügt Diana über eine klassische Tanzausbildung, aufgrund derer sie in Trainingseinheiten, in denen die Vermittlung tänzerischer Bewegungen im Vordergrund steht, als gleichberechtigte Ko-Trainerin eingesetzt wird.

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und Nachvollzugsversuchen des Gesehenen durch die Akrobatinnen unterbrochen. Im praktischen Mittun und Nachvollziehen versuchen diese das Gesehene in eigene Körperbewegungen zu übersetzen; gleichzeitig scheinen die Verkörperungsversuche aber auch konstitutiv dafür, dass die Sportlerinnen auf verbleibende Unklarheiten und Übersehenes aufmerksam werden und das Video im nächsten Durchlauf detailgenauer sehen können. Qua Sequenzialisierung, wiederholtes Ansehen des Videos, verbale Markierung ausgewählter Knotenpunkte sowie körperliche Mit- und Nachvollzüge des Gesehenen werden die den gekonnten Tanzbewegungen der Expertinnen des Videos impliziten Ausführungsmaßstäbe, Vollzugskriterien und Organisationsprinzipien der Praktik schrittweise entfaltet, beobachtbar und damit für die mimetische Übernahme verfügbar gemacht. Auch die Sportlerinnen versuchen sich nun an der Umsetzung der neuen Sequenz der Tanzchoreografie. Dabei scheinen einige ganz auf sich selbst und ihr Spiegelbild konzentriert, während sich andere zum Üben in kleinen Gruppen zusammenfinden. Im Falle der vor dem Spiegel Übenden ist oft zu beobachten, dass sie in bestimmten Positionen innehalten, die Bewegung dann ‚zurückspulen‘ und die gleiche Position noch einmal einnehmen. Lina und Tomke, zwei der jüngsten Teilnehmerinnen, führen die tänzerische Bewegungssequenz unter Tomkes zaghaften Ansagen, die die zuvor von der Trainerin geäußerten Schlagworte wiederholen, gemeinsam aus. Schnell jedoch positioniert sich die etwas ältere Franziska zwischen ihnen und setzt sich als Modell in Szene (Abbildung 55). Abbildung 55: Franziska fungiert als Modell

Ganz langsam führt sie die Abläufe vor und erklärt sie mit Worten wie: „So, am Anfang da. Und dann wechselst du das Bein. Und dann machst du hier.“ Lina und Tomke imitieren Franziska. Diese ‚friert‘ ihre Bewegungen an bestimmten

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Stellen ein und wirft dann einen prüfenden Blick auf die beiden Kleinen. Manchmal beginnt Franziska die Bewegungssequenz dann noch einmal von vorn und wiederholt den entsprechenden Ablauf mehrfach, wobei sie die Ausführungen Linas und Tomkes immer wieder überprüft und kommentiert und deren Körper mit ihren Händen in die richtigen Positionen biegt. Üben in informellen Lehr-Lern-Konstellationen

Im Falle akrobatischer Praktiken erfolgt die Einsetzung von Novizinnen selten ohne den sichernden Eingriff des Trainers. Im fünften Fall vollzieht sich die Hineinbildung der Akrobatinnen in die für alle neue tänzerische Praktik hingegen in vielfältigen, informell organisierten Lehr-Lern-Konstellationen. Phasenweise übernehmen zwar die Trainerin oder Diana die Kontrolle über das Trainingsgeschehen, immer wieder werden die Sportlerinnen jedoch auch sich selbst überlassen. Manche Akrobatinnen greifen dann auf den Spiegel zurück und machen diesen zu einem Partizipanden ihres Formierungsprozesses. Der Spiegel fungiert im Hinblick auf die Subjektivierung tänzerischer Mitspielfähigkeit als eine Kontrollinstanz und setzt die Teilnehmerinnen in ein Verhältnis zu sich selbst. Er erlaubt ihnen eine Selbstkritik und -korrektur sowie den eigenständigen Abgleich der eigenen mit den (erinnerten) Körperbewegungen des Videovorbildes. Im visuell kontrollierten Innehalten in bestimmten Positionen sowie der Justierung (noch) nicht adäquat gelingender Vollzüge wird den richtigen Bewegungen und Haltungen nachgespürt, eine Passung zwischen einem die Bewegungen regulierenden Körpergefühl und sichtbaren Vollzügen angebahnt und damit nicht nur die Bewegungsrepertoires der Sportlerinnen, sondern auch ihre körperlichen Aufmerksamkeiten und Spürfähigkeiten in praktikspezifischer Weise formiert (vgl. hierzu auch den späteren Abschnitt Spiegel und Videoaufnahmen als Mittler von Selbstreflexivität). Andere Sportlerinnen finden sich für die Imitation des Vorbildes und die sequenzialisierte Einübung der Praktik in Paaren oder Kleingruppen zusammen, beobachten, befragen und korrigieren sich gegenseitig, geben das von ihnen über die praktischen Vollzüge erworbene Wissen als Community of Practice aneinander weiter und formieren sich auf diese Weise gegenseitig zu (zunehmend) kompetenten Teilnehmerinnen. So setzt sich beispielsweise die Akrobatin Franziska, die sich offensichtlich als bereits kompetenter einschätzt als ihre zwei jüngeren Mitstreiterinnen, vor diesen als Vorbild ein und übernimmt Verantwortung für bzw. Führung über deren Einstellung auf die Anforderungen der Praktik. Sie erweist sich dabei als engagierte Mitspielerin, indem sie sich vor den anderen beiden gleichsam zu einer ‚Agentin‘ der angestrebten tänzerischen Praktik macht

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und zugleich mit großem Eifer und großer Aufmerksamkeit versucht, für die Konstitution der Körper ihrer Mitspielerinnen als praktikspezifische Umgangskörper Sorge zu tragen: Sie positioniert sich vor ihnen, um ihnen die erwarteten Bewegungsvollzüge vorzuführen, benennt simultan – wie es zuvor die Trainerin und Diana getan haben – wichtige Knotenpunkte, verlangsamt ihre Bewegungen an aus ihrer Perspektive wichtigen und von den anderen beiden Akrobatinnen noch nicht auf angemessene Weise beherrschten Stellen und Übergängen oder stellt sie still, um die Körper ihrer Mitspielerinnen dann zu überprüfen sowie deren Körper handgreiflich in Form und die richtige Stellung zu bringen. Als Vorbild übernimmt sie damit ähnliche Funktionen wie der Spiegel: Sie vermittelt Bewegungsrepertoires, macht die richtigen Haltungen und Stellungen qua Berührungen oder handgreifliche Justierungen spürbar und lenkt die Aufmerksamkeit ihrer Mitspielerinnen somit auf wichtige Stellen der tänzerischen Bewegungsvollzüge. In verschiedenen Lehr-Lern-Konstellationen zeigen die Sportlerinnen einander und lernen, was die Anforderungen und Ausführungskriterien der tänzerischen Praktik sind und wie diese zu bewältigen sind, was praktikadäquate Bewegungen sind und welche gewissermaßen ‚aus dem Rahmen‘ der Praktik fallen. Sie entwickeln dabei nicht nur die Fähigkeit, die vorgesehenen Bewegungen mit immer größerer Präzision auszuführen, sondern sich selbst und andere aus der Perspektive der Idealform der neuen Praktik zu beobachten, zu überprüfen und zu korrigieren. Die Trainerin fordert nun abermals zur Aufstellung im Block vor dem Spiegel auf und positioniert sich selbst zentral vor diesem. Statt die Musik zu starten, zählt sie, während die übrigen Sportlerinnen sich an der Ausführung des Tanzes versuchen, laut Takte vor und erklärt, auf welchen Takt welche Bewegung zu vollziehen bzw. welche Haltung einzunehmen sei. Mit ihren Anweisungen gibt die Trainerin das Tempo der Ausführung vor. An manchen Stellen unterbricht sie die Ausführung, blickt sich überprüfend um und benennt Details der zum betreffenden Zeitpunkt von allen Sportlerinnen einzunehmenden Haltungen. Erst dann initiiert sie die Fortsetzung des Tanzes. Kaum ist ein Durchgang beendet, ordnet sie den nächsten an. Mehrmals nacheinander wird die Choreografie von allen Sportlerinnen gemeinsam ausgeführt. Dann versammeln sich abermals alle vor dem Laptop und die letzte und vermeintlich schwerste Sequenz wird angegangen. Nachdem die entsprechende Sequenz mehrfach angeschaut, kommentiert und von Einzelnen zu imitieren versucht wurde, ruft die Trainerin zu einem vollständigen Durchgang vor dem Spiegel auf. Bestimmte Stellen und Haltungswechsel der Tanzsequenz benennt sie nach wie vor während des gemeinsamen

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Vollzugs mit kurzen Schlagworten wie „hoch“ oder „jetzt“. Dann ruft sie: „So, jetzt mal in Zeitlupe!“ Diana, die an vorderster Position im Block steht, übernimmt nun die Führung. Unter den Blicken aller Sportlerinnen führt sie verlangsamt die Bewegungen vor und kommentiert diese zugleich sprachlich: „Linker Arm nach vorne. Links nach hinten. Wenn das Bein in der Mitte ist, schiebt ihr wieder nach vorn. Arm vor, tipp, rund. Arm vor, tipp, rund. Rechtes Bein nach hinten, Schuuub, linkes Bein nach hinten. Beine wechseln. Und jetzt kommt der Schuuub mit dem Arm.“ Es folgen weitere Durchgänge zur Musik. Die ‚Verschlagwortungen‘ der Bewegungen werden nun auch in den späteren Phasen der Sequenz mehr und mehr zurückgenommen und die Instruktionen auf einzelne Begriffe reduziert. Nach dem letzten Durchgang beklatscht die Trainerin die Sportlerinnen und erklärt, dass der Vollzug nun schon „richtig geil“ aussehe. Nach zwei weiteren gemeinsamen Durchgängen wird die Trainingseinheit beendet. Praktiken der Aneignung

Viele neuere praxeologische Arbeiten interessieren sich in erster Linie dafür, wie Praktiken ihre Teilnehmer für ihre Ziele und Zwecke „rekrutieren“ und sich diese „aneignen“ (vgl. exemplarisch Schmidt 2012 sowie Shove/Pantzar/Watson 2012; vgl. auch Kapitel 2.2.2). Die Rede von einer Aneignung der Teilnehmer durch Praktiken zeichnet das Bild von passiven Rekruten, die in eine betreffende Praktik eingepasst oder eingespannt werden und abstrahiert davon, welche Anstrengungen, Mühen und Formen des Engagements die Teilnehmer investieren, um mitspielfähig zu werden und sich ihrerseits auch aktiv die Praktik anzueignen. Vor dem Hintergrund dieses – insbesondere aus einer subjektivierungstheoretisch informierten Perspektive augenfällig werdenden – blinden Flecks praxeologischer Konzeptionen plädiert Alkemeyer (2013: 58f.) dafür, Aneignung als einen doppelten Prozess zu fassen: „In der einen Richtung eignet sich die Praktik ihre Teilnehmer an, indem sie deren Dispositionen unter der Ägide ihrer Zwecke selektiv verfügbar macht und organisiert. In der anderen Richtung eignen sich die Teilnehmer aber auch die Praktik an, indem sie in ihrem Engagement fortlaufend Know-how, Erkenntnis- und Beurteilungsfähigkeiten einbringen, erwerben und entwickeln, die sie zu kompetenten Mitspielern machen.“

Dieser wechselseitige Charakter von Aneignung erlangt in der fünften Trainingsepisode Anschaulichkeit: Auf der einen Seite ruft die tänzerische Praktik die Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Lernfähigkeiten der Sportlerinnen unter

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der Ägide ihrer Organisationsstruktur und ihres Anforderungsprofils selektiv auf und präfiguriert oder rahmt in diesem Sinne deren Handlungen. Als Mitspielerinnen agieren die Akrobatinnen vor sich selbst und voreinander als Agentinnen der Praktik und für diese. Gleichzeitig erfolgt die Aneignung aber nicht als passive Einpassung der Sportlerinnen in die vorgegebene Form. Vielmehr bringen sich die Akrobatinnen aktiv in den Aneignungsprozess ein, investieren Anstrengungen und Mühen, um im Rahmen der Praktik mitspielfähig zu werden. Im Verlauf ihrer Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Praktik lernen die Akrobatinnen nicht nur, diese über den Vollzug von „skillful bodily performances“ (Reckwitz 2003) immer angemessener zu verkörpern und das Vorbild immer exakter zu imitieren, sondern lernen auch immer genauer zwischen praktikadäquaten und -inadäquaten Ausführungsweisen zu unterscheiden und das eigene sowie mitunter auch das Tun der Mitspielerinnen (kritisch) zu beurteilen. In den Analysen der ersten beiden Sequenzen der Trainingsepisode wurden die Beobachtbarmachung der die tänzerische Praktik organisierenden Ausführungsprinzipien qua wiederholtes und sequenzialisiertes Anschauen des Videos, sprachliche Markierung wichtiger Knotenpunkte und probeweises Mit- und Nachvollziehen des Gesehenen sowie das Üben in verschiedenen Lehr-LernKonstellationen als wichtige Praktiken der Subjektivierung tänzerischer Mitspielfähigkeit herausgestellt. Immer wieder kommt es daneben aber auch zur Ausführung einzelner, nach und nach zu immer längeren Sequenzen synthetisierten, Tanzpassagen durch alle Teilnehmerinnen zusammen. Zum Zweck der Synchronisierung und kollektiven Vereinheitlichung der zuvor in den kleineren informellen Gruppen geübten tänzerischen Bewegungsvollzüge arrangieren sich die Akrobatinnen in Blockformation vor dem Spiegel und vollziehen – koordiniert durch die laute Benennung von Knotenpunkten, die Verlangsamung offenkundig besonders schwieriger Bewegungsstellen sowie die Ausstellung eines für alle verbindlichen Modells aus den eigenen Reihen – den Tanz gemeinsam. Der als nicht-menschlicher Partizipand in den Übungsprozess einbezogene Spiegel fungiert während der gemeinsamen Ausführung als Aufforderung für die Sportlerinnen, sich selbst bzw. das eigene Tun in Relation zu dem der anderen zu überprüfen. Die Anordnung der Akrobatinnen im Raum führt dazu, dass Abweichungen einzelner Sportlerinnen von der Idealform der Praktik über den Spiegel für alle – die Trainerin, die anderen Akrobatinnen, aber auch die Betreffende selbst – sofort augenfällig und individuelle Unsicherheiten unweigerlich sichtbar werden. Die während des gemeinsamen Vollzugs auffällig gewordenen Abweichungen von dem Vorbild bzw. der anvisierten Idealform werden dann abermals in verschiedenen kleineren Lehr-Lern-Konstellationen bearbeitet und dabei entweder der Spiegel oder solche Akrobatinnen, die ihre tänzerische Befähigung be-

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reits unter Beweis gestellt haben, als ‚Lehrende‘ in Anspruch genommen. Mitunter wird nochmals das Video konsultiert, um an diesem ein genaueres Verständnis der Ausführungskriterien zu gewinnen und Ausführungsunsicherheiten aufzuklären. Die wechselseitige Aneignung der Teilnehmerinnen durch die Praktik und der Praktik durch die Teilnehmerinnen realisiert sich, so lässt sich zusammenfassen, in der Verschränkung des wiederholten, sequenzialisierten Ansehens des Videos, der praktischen Herstellung von Beobachtbarkeit, des Übens einzelner Sequenzen in kleinen Lehr-Lern-Konstellationen sowie des gemeinsamen Vollzugs in einer Blockaufstellung vor dem Spiegel. Dabei erweist sich die Aneignung nicht als linearer Fortgang vom Ansehen und Beobachtbarmachen einer Sequenz über ihre Einübung in kleinen, informellen Konstellationen und ihrem Vollzug in Blockanordnung bis hin zur Auseinandersetzung mit der nächsten Sequenz. Vielmehr gibt sie sich als ein rekursiv bzw. schleifenförmig organisiertes Geschehen zu erkennen, in dem beispielsweise im Anschluss an die gemeinsame Ausführung einer Sequenz dieselbe von Neuem angesehen und (genauer) beobachtbar gemacht oder in kleinen Konstellationen abermals eingeübt werden muss, bevor bis zum Ende der ersten Trainingseinheit eine die Trainerin zufriedenstellende Annäherung an die Vorgabe erreicht wird. Zweite Trainingseinheit

Der Trainer, der am Samstagstraining nicht teilgenommen hatte, ist heute wieder anwesend. Nachdem bereits mehr als eine Stunde der verfügbaren Trainingszeit verstrichen ist, soll die einstudierte Tanzsequenz vor dem Spiegel ausgeführt werden. Im Anschluss an den ersten Durchgang fordert die Trainerin den Trainer auf, dem nächsten Versuch zuzusehen. Dieser hatte sich zuvor mit einigen der anwesenden Mütter der jüngeren Akrobatinnen unterhalten und den tänzerischen Vollzügen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Im Anschluss an den zweiten Versuch richten sich die Blicke der Sportlerinnen fragend auf den Trainer. Dieser zeigt sich nicht annähernd so begeistert wie die Trainerin am Ende der letzten Einheit und äußert Missfallen an der statischen Aufstellung der Sportlerinnen in einem großen Block: Die Aufstellung passe weder zur Musik noch zum Arbeitstitel der Auftrittschoreografie ‚Dynamik‘. Er schlägt vor, den einen in mehrere Blöcke aufzuteilen. In jedem Block sollen ähnlich große Sportlerinnen stehen. Einer der Blöcke solle mit der Choreografie beginnen und die anderen erst nach und nach einsetzen, während der erste die Bewegung an einer bestimmten Stelle stoppen solle. Dann ruft er die Sportlerinnen dazu auf, seine Idee umzusetzen. Diana zeigt sich begeistert und ergreift ohne Umschweife die

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Initiative. Sie ordnet die Blöcke – wie vom Trainer vorgeschlagen – auf der Matte an und nummeriert sie laut von eins bis drei durch. Zur Musik sagt sie die Einsätze der verschiedenen Blöcke an (Abbildung 56). In der neuen Anordnung wird die Sequenz mehrere Male geübt, bevor die Trainingseinheit ihr Ende findet. Abbildung 56: Bildung von drei Blöcken

Dritte Trainingseinheit

Heute sind die Kostüme und die Requisite für die Aufführung der neuen Choreografie eingetroffen. Die gelben Bodenmatten sind mit auffällig gemusterten Stoffbahnen überdeckt. Der Stoff glänzt leicht und ist aus synthetischem Material gefertigt. Die Sportlerinnen tragen Kostüme aus identischem Stoff, die den Körpern hauteng anliegen und diese beinahe vollständig verhüllen – nur die Augen sind frei.188 Die identische Musterung von Boden und Kostümen bewirkt, dass Übergange zwischen Akrobatinnen und Boden verschwimmen. Diesen Effekt bemerken auch die Sportlerinnen; sie provozieren ihn, indem sie sich immer wieder auf den Boden legen, um mit diesem zu ‚verschmelzen‘. Andere nutzen die Eigenschaften des Materials, um auf dem Bauch über den Boden zu rutschen und zu gleiten. Paula landet aus einem Handstand nicht auf den Füßen, sondern auf dem Bauch, bleibt jedoch nicht liegen, sondern beginnt, wie eine Echse oder Schlange über den Boden zu schlängeln. Die Trainerin, die Paula zuschaut, ruft laut lachend: „Guckt mal!“ und bewirkt damit, dass viele der Akrobatinnen ihre

188 Da die Gruppe in dieser auffälligen Kostümierung mehrfach auch in prominenten Formaten im Fernsehen aufgetreten ist, wird auf genauere Beschreibungen sowie eine Bebilderung an dieser Stelle verzichtet, um ihre Anonymität zu wahren.

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Blicke auf die Kriechende richten. Einige imitieren das Gesehene sogleich. Nach etwa zehn Minuten des spielerischen Erprobens der Materialeigenschaften kündigt die Trainerin die Einübung der Tanzsequenz an. Die Musik wird gestartet; die Sportlerinnen formieren sich zu den drei Blöcken. Als der Block der Mittelgroßen seinen Einsatz beendet hat, gleiten einige auf Dianas lachend geäußerte Anweisung: „Und jetzt verschwinden“ zu Boden, statt, wie noch in der letzten Trainingseinheit, in der finalen Stellung zu verharren. Manche von ihnen wiederholen den gleitenden Übergang aus dem Stand ins Liegen gleich mehrfach und scheinen ihn perfektionieren zu wollen. Die Bewegung zu Boden wird von ausladenden und eleganten Armgesten begleitet. Es folgen weitere Durchläufe. Der letzte wird vom Trainer auf Video festgehalten und von ihm als „sehr geil“ beurteilt; er markiert das Ende der Trainingseinheit. Vierte Trainingseinheit

Wieder sind für das heutige Training ein Großteil der Sportlerinnen kostümiert und die Matten mit dem gemusterten Stoff überdeckt. Durch Gespräche zwischen den Sportlerinnen bekomme ich mit, dass das Video, welches am Ende der letzten Trainingseinheit vom Trainer aufgenommen wurde, an alle Sportlerinnen verschickt wurde, um sich zu Hause die Tanzsequenz und vor allem auch ihr eigenes Tun anschauen zu können. Die Trainer haben außerdem Videostills mitgebracht und an einer Wand befestigt, auf denen asynchrone Phasen der Tanzsequenz zu sehen und die ausscherenden Sportlerinnen mit roten Umkreisungen markiert sind. Die Trainer kommentieren die Bilder und ermahnen die jeweiligen Sportlerinnen öffentlich dazu, an den betreffenden Stellen besonders darauf zu achten, das Gleiche zu tun wie die anderen und dies im Spiegel zu kontrollieren. Dann wird zur Einübung akrobatischer Elemente aufgerufen. Gegen Ende der Trainingseinheit kündigt die Trainerin das Üben der Tanzszene an. Zum ersten Mal tauchen heute die in der letzten Trainingseinheit erprobten Bewegungen des Reibungslos-über-den-Boden-Gleitens und Scheinbar-im-Boden-Versinkens als Bestandteile der Tanzsequenz auf. Die Aufstellung zum Block geschieht nicht gehend, sondern indem die Akrobatinnen bäuchlings über den glatten Boden zu ihren Plätzen gleiten; die Tanzszene wird beendet, indem sich alle Sportlerinnen flach auf den Boden legen, um zu ‚verschwinden‘. […] In den folgenden Trainingseinheiten wird der Tanzsequenz keine besondere Aufmerksamkeit mehr zuteil und stattdessen ein Großteil der verfügbaren Trainingszeit auf das Einüben und Optimieren der akrobatischen Elemente für die Auftrittschoreografie verwendet. Erst unmittelbar vor dem ersten, mit der neuen

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Choreografie zu bestreitenden Auftritt erfolgt nochmals eine kurze Phase einer intensiveren Auseinandersetzung mit ihr, in der jedoch weitere Umgestaltungen ausbleiben. Die Umgestaltung der tänzerischen Praktik

Während das Ziel der ersten Trainingseinheit noch darin bestand, eine möglichst exakte Annäherung an das Videovorbild zu schaffen, wird dieses von der zweiten Einheit an zurückgenommen und erfährt die Praktik eine allmähliche Transformation. Dem Vorschlag der Praxeologen Shove/Pantzar/Watson (2012) folgend, lassen sich die Umformung der tänzerischen Praktik sowie die zunehmende Entfernung ihrer Form von der originären und durch das Vorbild repräsentierten als Neukonfiguration und Veränderung der drei Elemente Material, Kompetenz und Bedeutung (vgl. ebd.: 22ff.) analysieren. In der zweiten Trainingseinheit macht der Trainer, der die erste Einheit versäumt hat, den Bedeutungsaspekt relevant, indem er die Akrobatinnen auf eine Nicht-Passung von den am Vorbild orientierten tänzerischen Bewegungsvollzügen zum Arbeitstitel der sportakrobatischen Auftrittschoreografie aufmerksam macht und eine Dynamisierung der Praktik durch die räumliche Umarrangierung der Teilnehmerinnen sowie die Verungleichzeitigung ihrer Bewegungseinsätze anregt.189 In der vierten Trainingseinheit schließlich tauchen auf die Veranlassung der Trainer, die – wie sie mir in einem informellen Gespräch am Rande der Stunde erklärten – im Vorfeld der Trainingseinheit die Entscheidung getroffen hätten, diese weitere Umgestaltung vorzunehmen, bestimmte doings als Bestandteile der Praktik auf, die in ihrer originären Form nicht vorgesehen waren. Interessanterweise handelt es sich bei diesen nicht um willkürliche Bewegungsaktionen, sondern um eben jene Bewegungen des Über-den-Boden-Rutschens und Zu-BodenGleitens, die die Akrobatinnen in der dritten Einheit spielerisch erprobt hatten und die darüber hinaus eine weitere Dynamisierung der Praktik sowie deren bessere Passung zum Thema der Choreografie ermöglichen (Bedeutungsaspekt). In der dritten Trainingseinheit kommen die Sportlerinnen erstmalig mit den neuen Auftrittskostümen und dem glatten Bodenbelag in Kontakt (Materialaspekt). Un-

189 Aus subjektivierungstheoretischer Perspektive lässt sich diese Intervention des Trainers auch als eine Maßnahme deuten, mit der er sich selbst als Trainer erst wieder ‚ins Spiel bringt‘. Mit seiner Kritik positioniert er sich vor den Teilnehmerinnen, die in der vorangehenden Trainingsstunde die Annäherung an das Vorbild auch ohne seine Hilfe erreicht haben, als unverzichtbarer Mitspieler im weiteren Verlauf des Qualifizierungs- und Fertigungsprozesses.

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ter Beobachtung durch die Trainer erproben sie auf der Grundlage ihrer durch ihre turnerischen und sportakrobatischen Erfahrungen erworbenen Bewegungsfähigkeiten (Kompetenzaspekt) die dem Material eigenen „Umgangsqualitäten“ (Gehlen)190 und Bewegungsaufforderungen. Bei der Entscheidung über die Integration der entsprechenden doings in die tänzerische Praktik, die die Trainer im Vorfeld der Trainingseinheit für sich beanspruchen, handelt es sich demnach nicht um einen geschichtslosen und diskreten Entschluss autonomer EntscheiderSubjekte (vgl. kritisch zu dieser Unterstellung auch Wilz 2009). Vielmehr greifen die Entscheidungen der Trainer jene Umgestaltungspotenziale auf, die sich ihnen im explorativen, praktischen und beobachtbaren Zusammenspiel von Sportlerinnen und Material zu erkennen gegeben haben, autorisieren diese auf der Basis ihrer formal-institutionellen Position in einem Setzungsakt und machen sie damit kollektiv verbindlich.191 Die Transformation der tänzerischen Praktik, so lässt sich resümierend festhalten, umfasst eine Bedeutungsverschiebung und Materialveränderung und realisiert sich unter der Aktualisierung der spezifischen Bewegungsfähigkeiten der Sportlerinnen. An ihr sind verschiedene menschliche und nicht-menschliche Partizipanden beteiligt: Erstens der bzw. die Trainer, die den Bedeutungsaspekt relevant und Entscheidungen über Veränderungen verbindlich machen, zweitens das Material, das aufgrund seiner besonderen Beschaffenheit drittens den über bestimmte Kompetenzen verfügenden Akrobatinnen gewisse Bewegungsweisen nahelegt und anbietet. Überdies gewinnt das Postulat der Gleichzeitigkeit der Formierung von Praktiken und ihrer Subjekte am Beispiel der allmählichen Umarbeitung der tänzerischen Choreografie eine besondere Anschaulichkeit: Mit der kontinuierlichen Einübung der tänzerischen Vollzüge nähern sich die Sportlerinnen zunächst immer weiter dem Vorbild und der durch dieses repräsentierten Idealform der Praktik an. Mit der Anpassung an die Idealform und der immer genaueren Verkörperung der Vorgaben gewinnen die Sportlerinnen zugleich aber auch mehr und mehr Souveränität im Umgang mit ihnen. Die Vorgaben werden in den späteren Trainingseinheiten nicht mehr akribisch einzuhalten versucht; vielmehr beginnen die Teilnehmer kreativ mit ihnen umzugehen, Spielräume auszuloten, Gestaltungspotenziale zu realisieren und die Praktik auf neue und veränderte Weise auszuformen.

190 Vgl. auch Gebauer (2009: 64) und Schmidt (2006a: 90; hier insbesondere Fußnote 16). 191 Vgl. zu einem solchen anti-individualistischen und praktischen Verständnis des Treffens von Entscheidungen Wilz (2009).

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Spiegel und Videoaufnahmen als Mittler von Selbstreflexivität

Wie sich bereits unter der Zwischenüberschrift Üben in informellen Lehr-LernKonstellationen angedeutet findet, übernimmt das Artefakt Spiegel eine wichtige Funktion für die Subjektivierung tänzerischer Mitspielfähigkeit. Es dient als Kontrollinstanz sowie als Medium und Mittler von Selbstreflexivität, indem es den Teilnehmerinnen die Beobachtung, Justierung und Korrektur des eigenen Tuns ermöglicht und nahelegt. Ähnliche Funktionen übernehmen auch die am Ende der dritten Trainingseinheit vom Trainer erstellten Videoaufzeichnungen, die zu Beginn der vierten Einheit in Gestalt von rotmarkierten Videostills zurück ins Feld geführt werden. Anhand der Bilder werden die entsprechenden Teilnehmerinnen vor allen anderen von den Trainern auf ihre Abweichungen hingewiesen und zur Selbstkorrektur aufgerufen. Die stillgestellten und markierten Bilder verleihen den öffentlich gemachten Kritiken dabei Nachdruck und erzeugen Evidenz. Ebenso wie der Spiegel dienen die Videostills dazu, den Sportlerinnen einen Außenblick auf sich selbst zu ermöglichen und ihnen damit ihre inadäquaten Bewegungsweisen vor Augen zu führen und bewusst zu machen. Wichtig sei dies, so führte die Trainerin auf Nachfrage in einem informellen Gespräch aus, um die Sportlerinnen erstens darauf aufmerksam und ihnen verständlich zu machen, dass und in welchen Hinsichten sie ihr Bewegungsgefühl, welches sie mit ihrer Aussage zugleich als maßgebliche Wissensressource und Regulationsinstanz für den Vollzug der Praktik ausflaggt, trüge und diese zweitens von der Notwendigkeit der Justierung der eigenen Bewegungsvollzüge zu überzeugen. Insofern sowohl der Spiegel als auch Videoaufnahmen im Zuge der Einübung, des Vollzugs oder auch der Neuerfindung akrobatischer Praktiken so gut wie nie zum Einsatz kommen, ist davon auszugehen, dass ihre Relevanz in der fünften Trainingsepisode durch die spezifische Eigen- und Vollzugslogik tänzerischen Praktiken bedingt ist. Im Vollzug der tänzerischen Praktik haben alle Teilnehmerin zum identischen Zeitpunkt die gleichen Bewegungen zu realisieren. Da zwischen den verschiedenen Teilnehmerinnen und ihren Bewegungsaktionen keine wechselseitigen Abhängigkeiten bestehen, ist jede Mitspielerin im Vollzug auf sich selbst verwiesen und hat dafür Sorge zu tragen, nicht ‚aus der Reihe zu tanzen‘. Die durch den Spiegel und die Videostills vermittelte Selbstbezüglichkeit und in tänzerischer Praxis erlaubte Indifferenz einer Mitspielerin gegenüber dem Tun der anderen hätten im Rahmen der konzertierten akrobatischen Praktiken geradezu katastrophale Effekte. Der Einsatz von Spiegel und Videostills legt den Sportlerinnen andere Selbst- und Weltverhältnisse nahe als jene, die im Rahmen der Einübung und des Vollzugs akrobatischer Praktiken erforderlich sind und Geltung erlangen. Als Teilnehmerinnen akrobatischer Prakti-

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ken sind die Sportlerinnen auch gefordert, von sich selbst bzw. ihrem individuellen Tun zurückzutreten und sich auf andere zu konzentrieren. Das Werfen und Fangen einer Mitspielerin vor bzw. im Anschluss an die Ausführung eines gestreckten Rückwärtssaltos (vgl. Kapitel 4.3.2.2) beispielsweise verlangen von den werfenden und fangenden Akrobatinnen eine Achtsamkeit für die Geworfene sowie ein Verständnis für deren Bewegungsaktionen.192 Der Vollzug der tänzerischen Praktiken bzw. der für diese charakteristischen Bewegungen und Körpertechniken geht demgegenüber primär mit einer Konzentration der einzelnen Teilnehmerinnen auf sich selbst und ihren eigenen tanzenden Körper einher. Die anderen Teilnehmerinnen müssen dabei allenfalls als eine Art Vergleichsmaßstab interessieren, an dem jede einzelne Sportlerin bemessen und überprüfen kann, ob sie sich selbst in Synchronizität zu den anderen bewegt. Fazit des Falls

Angesichts des Umstandes, dass im Rahmen der fünften Fallanalyse erstmalig eine andere Sorte Praktiken im Mittelpunkt steht als in den vorangehenden empirischen Beschreibungen und Analysen, soll an dieser Stelle zusammenfassend auf Ähnlichkeiten und Unterschiede des Wie der Entwicklung akrobatischer Mitspielfähigkeit auf der einen und des Wie der Entwicklung tänzerischer Mitspielfähigkeit auf der anderen Seite zu sprechen gekommen werden. Ebenso wie insbesondere anhand der Trainingsepisoden eins bis drei im Hinblick auf die Weisen der Entwicklung kompetenter Teilnehmerschaft in akrobatischen Praktiken gezeigt wurde, gilt für die tänzerischen Praktiken, dass es sich bei der Qualifizierung nicht um einen Akt der präreflexiven Zurichtung von Körpern oder der vorbewussten Inkorporierung impliziten Wissens handelt, sondern diese angemessener als Subjektivierungsprozess zu begreifen ist. Die Entwicklung tänzerischer Mitspielfähigkeit involviert ebenso wie die Entwicklung akrobatischer Mitspielfähigkeit das Engagement, die Hingabe sowie die aktiven Bemühungen der Teilnehmerinnen und realisiert sich in der Verschränkung von Explizierungen und Implizierungen bzw. Entfaltungen und Verkörperungen praktischen Wissens. So werden zum Auftakt der fünften Trainingsepisode die den kompetenten Bewegungen der Tänzerinnen des Videos eingelagerten, impliziten Gelingenskriterien und Ausführungsprinzipien in verschiedenen Praktiken der Beobachtbarmachung Schritt für Schritt entfaltet und anschließend im eigenen Tun zu verkörpern versucht. In diesem Wechselspiel von Explizierung und Verkörpe-

192 Vgl. zum Zusammenhang von Körpertechniken und Bezügen zur Welt auch Crossley (2007) sowie Mitchell (2013).

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rung erwerben die Akrobatinnen nicht nur spezifische Bewegungsfähigkeiten, sondern entwickeln darüber hinaus auch Fähigkeiten zu (Selbst-)Beobachtung, Beurteilung und Korrektur, die es ihnen erlauben, sich in der Praktik zu orientieren und zu führen sowie zum eigenen Tun, dem ihrer Mitspielerinnen und nicht zuletzt auch zu den Anforderungskatalogen bzw. dem Rahmen der Praktik selbst Stellung zu beziehen. Gemeinsam ist der Subjektivierung akrobatischer und tänzerischer Mitspielfähigkeiten zudem der Umstand, dass die entsprechenden Trainingsprozesse nicht als linearer Fortschritt, sondern in Schleifen organisiert werden und nicht einem vorab definierten Plan folgen, sondern auf situativ sich zu erkennen gebende Erfordernisse und Notwendigkeiten reagieren. Neben diesen Parallelen jedoch unterscheidet sich das Wie der Subjektivierung tänzerischer Mitspielfähigkeit von dem der Subjektivierung akrobatischer Mitspielfähigkeit in einigen Hinsichten. Ein erster prägnanter Unterschied besteht darin, dass der Trainer, der sich im Falle der Einübung akrobatischer Praktiken durch Novizinnen stets als stabilisierende und sichernde Instanz in die konzertierten Vollzugsversuche einklinkt, sich an der Bewältigung des kollektiven Neueintritts der Sportlerinnen in die tänzerische Praktik gar nicht beteiligt und dieser von den Sportlerinnen über weite Strecken allein organisiert wird. Die Sportlerinnen formieren sich hauptsächlich selbst und einander gegenseitig zu kompetenten Teilnehmerinnen der ihnen anfänglich unbekannten Praktik. Bedingt und ermöglicht ist dies dadurch, dass die im Feld auftauchenden tänzerischen Praktiken erstens weit weniger störanfällig, unsicher und risikoträchtig sind als die akrobatischen und sie zweitens ihre verschiedenen Teilnehmerinnen mit weitgehend identischen Anforderungen konfrontieren. Charakteristisch für die Formierung der Akrobatinnen zu kompetenten Mitspielerinnen der tänzerischen Praktik ist überdies der Einsatz von Spiegeln und Videoaufnahmen bzw. -stills. Sie fungieren im tänzerischen Subjektivierungsprozess als materielle Partizipanden, die den Sportlerinnen einen Außenblick auf ihr Tun erlauben und sie dazu auffordern, sich selbst in der Form der anvisierten Praktik zu halten bzw. in diese zu bringen. Für die Subjektivierung akrobatischer Mitspielfähigkeit erweist sich der Einsatz von Spiegeln und (stillgestellten) Videoaufnahmen demgegenüber als weitestgehend irrelevant und bedeutungslos. Der Grund hierfür liegt darin, dass es im Fall akrobatischer Praktiken nicht darauf ankommt, dass ihre Teilnehmerinnen unter allen Bedingungen auf möglichst stabile Weise die immer gleichen Bewegungen vollziehen und diese in einer exakten Form halten, sondern sie ihre Bewegungen auf der Basis einer spürenden Aufmerksamkeit für ihre Mitspielerinnen und das konzertierte Gesamtgeschehen situativ und fehlersensitiv (geringfügig) variieren können und müssen, um etwa Unsicherheiten zu kompensieren und Abbrüche zu vermeiden. Als

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weitaus wichtiger für das Mitspielen-Können in akrobatischen Praktiken als die qua Spiegel und Videostills forcierte Verpflichtung der Akrobatinnen auf die Ausführung exakt synchroner Bewegungen erweisen sich die Harmonisierung des Zusammenspiels der einzelnen Teilnehmerinnen als Kollektivkörper oder beispielsweise auch die Anbahnung eines wechselseitigen Vertrauens, für die die Vermittlung eines Außenblicks kaum hilfreich ist. Insgesamt weisen die tänzerischen Praktiken im Vergleich mit den akrobatischen weniger Unsicherheitsvariablen und eine weniger komplexe Anforderungsstruktur auf. Diese Charakteristika wiederum bedingen, dass sie deutlich schneller ein akzeptables Ausführungsniveau erreichen. Im vorliegenden Fall ist dieses bereits am Ende der ersten Trainingseinheit erreicht und bildet das sichere Fundament für Umgestaltungen, die sich hier unter dem Einfluss verschiedener – menschlicher und nichtmenschlicher – Partizipanden von der zweiten Einheit an als Verschiebungen der Elemente Material, Kompetenz und Bedeutung vollziehen.

Fazit

Der auf den letzten 120 Seiten entfaltete Hauptteil dieser Studie bestand darin, sportakrobatische Trainingsprozesse praxeografisch im Hinblick auf ihre Mikrologik, ihre Vollzugsprinzipien sowie die Weisen der Ausformung und Subjektivierung von Mitspielfähigkeit zu analysieren. Im folgenden Fazit soll nun zusammenfassend dargelegt werden, inwiefern die an diesem spezifischen Gegenstand gewonnenen Erkenntnisse in gegenstandsbezogener, methodologischer und grundlagentheoretischer Hinsicht zu einer Ergänzung und Präzisierung bereits existierender Forschungsarbeiten und Zugänge beizutragen versprechen. Dies erfolgt in drei aufeinander aufbauenden Abschnitten. Im ersten Abschnitt wird der Gewinn der Studie für das Verständnis von Praktiken sowie deren Erforschung ausgelotet. Im Vordergrund steht ihr Beitrag zur Praxeografie, zur Praxissoziologie sowie angrenzenden Disziplinen (z.B. Körper- und Wissenssoziologie). Im zweiten Abschnitt werden die für das Verständnis sportlichen Trainings relevanten Erkenntnisse mit dem Ziel zusammengeführt, den einschlägigen sportwissenschaftlichen Diskurs zu ergänzen und zu präzisieren. Im dritten Abschnitt schließlich wird ein grundlagentheoretischer Ausblick auf die allgemeinsoziologische Relevanz der Studie gegeben. Es wird ausgeleuchtet, inwiefern ihre Ergebnisse im Hinblick auf das Verständnis sozialer Ordnungen und ‚ihrer‘ Subjekte verallgemeinert werden können.

B EITRÄGE ZU P RAXEOGRAFIE , P RAXIS SOZIOLOGIE UND ANGRENZENDEN D ISZIPLINEN In den vorangehenden Kapiteln wurde verschiedentlich argumentiert, dass in einigen neueren praxeologischen Zugängen ein spezifischer Blick auf Praktiken dominiert: Praktiken werden darin, so die Diagnose, aus einer Kamera- oder Feldherrenperspektive – also gewissermaßen ‚von oben‘ und aus der Distanz – sowie von ihrem Ausgang her – also ‚von hinten‘ – beobachtet und analysiert.

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Von einem solchen Standpunkt aus geraten ihre Strukturiertheit, Regelmäßigkeit, Wiederholbarkeit und ihr routinierter Vollzug in den Blick; sie werden als strukturierte Entitäten und geregelte, typisierte Vollzugsformen beobachtbar. Aus dieser spezifischen Perspektive resultiert schließlich auch die Tendenz der betreffenden praxeologischen Deutungsangebote, Praktiken als ‚Quasi-Subjekte‘ zu reifizieren, die über die Macht verfügen, ihre Teilnehmer zu rekrutieren und deren Körpern das zum Mitspielen erforderliche praktische Wissen und die entsprechenden Fähigkeiten gleichsam einzuschreiben. Auf diese Weise formierte Körper erscheinen als maßgebliche und ‚funktionstüchtige‘ Träger von Praktiken, die diese mittels gekonnter und angemessener Bewegungen ‚am Laufen halten‘. Am Beispiel der empirischen Untersuchung sportakrobatischen Trainings wird in Ergänzung, zum Teil auch in Korrektur, zu dieser Auffassung von Praktiken gezeigt, dass die Geregeltheit, Routiniertheit sowie das implizite und reibungslose Gelingen von Praktiken allenfalls eine Seite der „Logik der Praxis“ (Bourdieu 1987a: 157) ist. Ihre andere Seite besteht in der situativen Ausgangsoffenheit, der Störanfälligkeit und Unsicherheit praktischer Vollzüge: Nie können die Teilnehmer mit Sicherheit wissen, ob diese auch wirklich gelingen; es ist ungewiss, ob und wie ihre Aktionen bzw. Handlungen beantwortet werden. Die Beobachterperspektive von oben-hinten kann eben diese Ungewissheit nicht erfassen. Ihr entgeht, dass das, was von einem distanzierten „Standpunkt der fertigen Phänomene“ (DFG-Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“ 2014: 10; vgl. auch Alkemeyer/Buschmann 2015) als selbstläufiger, gelingender, regelmäßiger und typisierter Vollzug erscheinen mag, für die Teilnehmer selbst ein immer wieder aufs Neue zu leistendes local accomplishment ist, in dessen Verlauf sie auch mit Reibungen, Irritationen, Konflikten und Kontingenz umgehen müssen. Sie lässt die Bewältigungsanstrengungen, die Formen des Engagements, die diversen Mitspielfähigkeiten der Teilnehmer ebenso aus dem Blick treten wie die Neigungen, Erwartungen und Vorerfahrungen, die diese in den Vollzug und die Ausformung von Praktiken investieren. Um auch dieser zweiten Seite der Logik der Praxis auf die Spur zu kommen, erwies sich in methodologischer Hinsicht die Ergänzung der praxeologisch favorisierten Beobachtungsperspektive durch eine andere Perspektive als unabdingbar. Für die vorliegende Arbeit wurde diese Perspektivenergänzung dadurch realisiert, dass im Anschluss an eine längere Phase der Beobachtung und videografischen Aufzeichnung des Trainingsgeschehens aus einer totalen Perspektive die Distanz zu den Teilnehmern deutlich verringert wurde: Ich bin mit der Kamera nah an die Teilnehmer herangerückt, habe ihnen ‚über die Schultern geschaut‘ und schließlich mittels transsequenzieller Analysen von Trainingsepisoden mikrologisch (re-)konstruiert, wie sie „Zug

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um Zug und Schritt für Schritt“ (Scheffer 2008: 368; kursiv i.O.) mit den jeweiligen praktischen Anforderungen umgehen und diese gemeinsam bewältigen. Die Berücksichtigung der Teilnehmerperspektiven auf und in Praktiken erwies sich als entscheidende Maßnahme, um dem strukturalistischen und funktionalistischen Bias zu begegnen, der in der Draufsicht angelegt ist. Um jedoch nicht ‚über das Ziel hinauszuschießen‘ und in einen naiven Subjektivismus zurückzufallen, blieb es zugleich wichtig, die Teilnehmer als in Praktiken positionierte und sich positionierende Mitspieler zu beobachten, deren Handlungen durch die übergreifende Organisationsstruktur einer betreffenden Praktik gerahmt oder präfiguriert werden. Als solche sind sie mit bestimmten, dauerhaft und kollektiv verbindlichen, sowie anderen, positionsspezifisch differenzierten, Anforderungen und Erwartungen konfrontiert. Um das Handeln der Mitspieler verstehen und erklären zu können, erwies es sich mithin als entscheidend, sowohl ein Verständnis für positionsspezifische Anforderungen in einer Praktik als auch für die diejenigen (sozialen) Voraussetzungen – z.B. praktische Vorerfahrungen und Ausbildungs- oder Subjektivierungswege – zu entwickeln, aufgrund derer sich jemand als Mitspieler in eine Praktik einbringen kann, und beide Perspektiven im Forschungsprozess aufeinander zu beziehen. 193 Zudem stellte es sich als überaus wertvoll heraus, unterschiedliche Erkenntnis- und Verständnismodi im Forschungsprozess zu berücksichtigen. So erwiesen sich Phasen und Methoden der Objektivierung, Distanzierung und Analyse als zentral für die Gewinnung von Einsichten darin, wie Teilnehmer Praktiken vollziehen und ausformen und welche An- und Herausforderungen sie dabei zu bewältigen haben. Diese Phasen und Methoden allein jedoch waren nicht ausreichend, um ein Verständnis für die (Mikro-)Logik des sportakrobatischen Trainingsgeschehens zu entwickeln. Als ebenso wichtig stellte es sich heraus, während der Beobachtungen im Feld auftretende eigenkörperliche Regungen und „seismographische[]“ (Amann/Hirschauer 1997: 25) Eindrücke ernst zu nehmen und diese methodisch kontrolliert in den vermeintlich rein intellektuellen Forschungs- und Erkenntnisprozess einzubringen (vgl. auch Gugutzer 2006c: 35ff.). So waren es beispielsweise meine eigenkörperlichen Regungen des AufgeregtSeins oder Erschrocken-Zusammenfahrens, die mich dazu veranlasst haben, über die Bedeutung einer praxeologisch bisher weitgehend vernachlässigten Mitspielfähigkeit nachzudenken – nämlich jene des Vertrauens. Um also der Mikrologik der Ausformung von Praktiken und der (Selbst-)Bildung ihrer Mitspieler auf die Spur zu kommen, habe ich meine Praxeografie nicht nur in einem permanenten

193 Vgl. zum Verhältnis von Verstehen und Erklären auch Bourdieu (1997).

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Wechselspiel von Annäherung und Distanzierung, sondern auch unter Berücksichtigung verschiedener Modi des Verstehens und Erkennens betrieben. Mit dem beschriebenen Perspektivenwechsel traten der kontingente Charakter von Praxis sowie die Perspektiven der Mitspieler auf und in Praktiken in den Vordergrund. Zugleich wurden mit der Umstellung des Beobachtungs- und Analysefokus auch Körper in ein anderes Licht gerückt. Seit den 1980er Jahren erfahren in der Soziologie mit Zusammenhang mit dem practice turn Körper eine verstärkte Aufmerksamkeit in ihrer Bedeutung für soziales Handeln und die Hervorbringung sozialer Ordnung (vgl. Gugutzer 2006c). In einer Reihe unterschiedlicher körpersoziologischer Ansätze wird seither der Zusammenhang von Körper und Gesellschaft problematisiert, indem jener als Produkt und Produzent von dieser begriffen und damit die Gesellschaftlichkeit des Körpers und die Körperlichkeit von Gesellschaft thematisiert werden. Unter dem Topos der Produktion von Gesellschaft taucht der Körper dabei vorrangig entweder als Vollzugsorgan von Routinen oder aber als agens auf, der zu einem adaptiven, kreativen und situativ angemessenen Handeln jenseits des Bewusstseins befähigt ist (vgl. ebd.: 17ff.).194 Die Voraussetzung sowohl für ein routinemäßiges als auch ein kreatives körperliches Handeln bildet im Verständnis der betreffenden Zugänge ein – als Habitus (Bourdieu), know how (Ryle) oder Fertigkeiten (Schütz) bezeichnetes195 – implizites Wissen, das über Akte der Inkorporierung, Habitualisierung oder stillen Pädagogik in Körper eingeschrieben wird. Dieses implizite Wissen des Körpers, so ein gängiges Argument, konfligiere mit expliziten Beständen eines Wissens vom Körper oder existiere zumindest unabhängig von diesem; 196 es sei „gerade auch in dem Maße von Bedeutung, wie es sich einer [] reflexiven Zuwendung entzieht“ (Keller/Meuser 2011: 10). Als Träger eines impliziten Wissens erscheint der Körper in diesen Zugängen als „blind spot[]“ (Nassehi 2009: 241; kursiv i.O.), als „blinde Voraussetzung des Handelnden“ (ebd.: 244; kursiv i.O.), die diesem die Wiederholung von Routinen oder ein situationsangepasstes und angemessenes Handeln jenseits des Bewusstseins ermögliche, über welches wiederum soziale Ordnung konstituiert, aufrechterhalten und reproduziert werde.

194 In einer dritten, für die vorliegende Arbeit jedoch weniger bedeutsamen Lesart einer Körpersoziologie erscheint der Körper als ein Medium sozialen Handelns, durch das sich ein Individuum in Szene setzt und darstellt (vgl. Gugutzer 2006c: 18). 195 Vgl. für eine Übersicht über die verschiedenen, zur Bezeichnung dieses Wissens genutzten Begriffe Hirschauer (2008b). 196 Vgl. zu dieser Differenzierung von Körperwissen in ein Wissen des Körpers sowie ein Wissen vom Körper Hirschauer (2008b) sowie Keller/Meuser (2011).

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In der vorliegenden praxeografischen Studie über sportakrobatischen Trainings tritt der Körper darüber hinaus noch in einer anderen – häufig sowohl in körpersoziologischen als auch praxeologischen Zugängen übersehenen bzw. nicht systematisch eingeholten197 – Bedeutung in den Blick: und zwar als Träger einer spezifischen Form der Reflexivität. Über ein nahes Heranrücken an die Teilnehmer und die Rekonstruktion ihrer Perspektiven wird erkennbar, dass die Bewältigung von Praktiken von ihnen eine ständige mitlaufende und körperlich verankerte Reflexionsbereitschaft und -fähigkeit verlangt, die den Umgang mit Störungen, Reibungen und Unsicherheiten verbürgen und sich beispielsweise in kleinsten Ausgleichsbewegungen, kurzen Blicken oder minimalen verbalen Äußerungen zu erkennen geben. Diese praktikspezifische körperliche Aufmerksamkeit und erspürte Achtsamkeit für „schwache Signale“ (Weick/Sutcliffe 2003: 25; vgl. auch Alkemeyer 2009: 188), Eingriffsnotwendigkeiten und -möglichkeiten erlauben es den Teilnehmern zum einen, die gemeinsamen Vollzüge (wieder) in eine vorgesehene (normative) Form zu bringen, bilden zum anderen aber auch die Voraussetzung dafür, dass sich jene kritisch von den eigenen Routinen distanzieren, diese modifizieren und Praktiken schließlich umgestalten und verändern. Die beschriebene körperliche Reflexivität und Achtsamkeit für Reibungen, Störungen sowie Situationspotenziale (vgl. Jullien 1999) gehen dabei einher mit anderen Formen des Reflektierens, die sich für gemeinsame Praxis und die Entwicklung von Mitspielfähigkeit ebenfalls als fundamental erweisen. So ist an den Trainingsepisoden drei und vier besonders gut zu beobachten, dass und wie die während des Vollzugs einer Praktik im Modus einer körperlich-praktischen Reflexivität bemerkten Probleme, Korrekturnotwendigkeiten oder auch Modifikationsgelegenheiten und Umgestaltungsangebote im Anschluss an den Vollzug expliziert und kommuniziert werden – beispielsweise in einer Kombination ausführlicher sprachlicher Schilderungen, kurzer empraktischer Äußerungen, körperlich-gestischer Darstellungen und schematischer Zeichnungen (vgl. Kapitel 4.3.2.4 und 4.3.4.2). Das implizite Wissen des Körpers wird in diesen multimodalen Bezugnahmen in ein Wissen vom Körper übersetzt, bevor dieses dann wiederum in einem nächsten Ausführungsversuch wiederzuverkörpern bzw. zu implizieren versucht wird. Im Hinblick auf eine „Wissenssoziologie des Körpers“ (Keller/Meuser 2011: 18) wird erkennbar, dass und inwiefern ein implizites Wissen des Körpers und ein explizites Wissen vom Körper in vielfältigen

197 Eine Ausnahme bildet Bourdieus Spätwerk, die Mediationen (2001), in denen er die reflexiven Fähigkeiten des Körpers zumindest andeutet.

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Weisen aufeinander bezogen sind und für die Bewältigung praktisch sich stellender Aufgaben permanent ineinander überführt werden müssen. Empirisch zeigt sich damit zudem, dass sich die ‚Intelligenz‘ von Körpern nicht in der Produktion von Routinen oder der Hervorbringung situationsadäquater Handlungsweisen erschöpft. Ein in Praktiken gebildeter „Umgangskörper“ (Gebauer 2009: 95) verfügt über eine ihm eigene Reflexivität, die wiederum mit anderen Weisen des Reflektierens zusammenspielt. Zusammengenommen bilden diese reflexiven Fähigkeiten die Grundlage dafür, Praktiken nicht nur wie vorgesehen auszuführen, sondern auch dafür, sich von eingespielten Routinen zu distanzieren und Praktiken umzuformen.198 Eine systematische Berücksichtigung dieser multimodalen reflexiven Fähigkeiten erscheint zum einen wichtig dafür, die Teilnehmer von Praktiken nicht auf bloße Rekruten zu reduzieren, die körperliche Routinen oder den normativen Anforderungen der Praktiken unmittelbar angemessene Handlungen hervorbringen und diese damit schlussendlich reproduzieren, sondern sie als verkörperte Subjekte anerkennen zu können, die über die Macht verfügen, transformierend in Praktiken einzugreifen und Veränderungen in Gang zu bringen. Zum anderen kann mit der Berücksichtigung und Anerkennung der körperlichen Dimensionen von Reflexivität der auch in der (Wissens-)Soziologie nach wie vor verbreiteten Annahme begegnet werden, bei dieser handele es sich um eine der körperlichen Praxis enthobene, rein mentale oder sprachlich-diskursive Operation. In Anlehnung an Volker Caysas Arbeit über Körperutopien (2003) soll hier für einen Begriff des „empraktischen Reflektierens“ (ebd.: 163) plädiert werden, mit dem Reflexion als multimodale – sprachlich-körperlich-gestische – Rückwendung auf Geschehenes oder Getanes verstanden und zugleich dem Umstand Rechnung getragen wird, dass sie keineswegs aus der Praxis enthoben, sondern praktikbezogen und -spezifisch ist. Praxis- und körpersoziologische Zugänge werden nicht müde zu betonen, dass für ein gekonntes soziales Handeln bzw. Mitspielen in Praktiken zuallererst in implizites und verkörpertes Wissen darüber benötigt wird, wie etwas zu tun ist. In dieser Perspektive wird ein Akteur in seinen wissensbasierten und praktikadäquaten körperlichen Aktivitäten als kompetenter Mitspieler einer Praktik erkennbar und realisiert sich sein Status eines handlungsfähigen Subjekts. Vermittels eines Detailblicks auf das sportakrobatische Trainingsgeschehen sowie einer näheren Berücksichtigung der Perspektiven der in den Praktiken positionierten Teilnehmer wird jedoch erkennbar, dass insbesondere in konzertiert organisier-

198 Reflexivität kann sich in diesem Sinne einerseits auf eigene Handlungen oder die anderer Mitspieler beziehen, andererseits auch auf den Rahmen einer Praktik selbst.

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ten und damit besonders störanfälligen Konstellationen ein umfangreiches Maß an Wissen darüber, wie etwas zu tun ist, allein keineswegs eine Gelingensgarantie ist. Selbst nach zahlreichen Wiederholungen bleiben für die einzelnen Teilnehmer nicht-beherrschbare Leerstellen, die den Ausgang eines Vollzugs unvorhersehbar machen. Unter diesen Umständen eines „unvollständigen Wissens“ (Endreß 2002: 29) erweisen sich die Fähigkeiten, aufeinander zu vertrauen und sich aufeinander zu verlassen, als unhintergehbare Mitspielressourcen. Die Leistung und Funktion von Vertrauen, so betont Luhmann (1973), liegt darin, Bewusstseinen die Möglichkeit des Scheiterns zu entziehen und so ein „relativ sicheres Erwarten“ (ebd.: 19) zu ermöglichen. Dieses für den Umgang mit Unsicherheit so wichtige Vertrauen, so zeigt sich empirisch, kann dabei nicht einfach als gewissermaßen ‚ursprüngliche‘ Anlage vorausgesetzt werden, sondern muss Schritt für Schritt praktisch aufgebaut und immer wieder aufs Neue körperlichspürbar gemacht und in Erinnerung gerufen werden. Die entscheidende Bedeutung von Vertrauen für die Einübung und den Vollzug inhärent unsicherer Praktiken wird insbesondere an der ersten Trainingsepisode deutlich (vgl. Kapitel 4.3.2.2). Für die Novizin, die in der Praktik des geworfenen Strecksaltos die Position der Geworfenen besetzt, bedeutet die Teilnahme, sich ihren vier Mitspielerinnen zumindest zeitweise zu übergeben und darauf zu vertrauen, dass diese sie sicher werfen und fangen. Ihr Status einer (zunehmend) kompetenten Mitspielerin der Praktik erschöpft sich nicht darin zu lernen, praktikadäquate Bewegungen zu realisieren oder ein umfangreiches praktisches Wissen um die Vollzugsdetails des geworfenen Strecksaltos zu erwerben. Er realisiert sich vielmehr gerade darin zu lernen, sich anderen zu überlassen und sich von ihnen führen zu lassen, das eigene Aktivitätsniveaus zumindest temporär zu reduzieren und Kontrolle an die anderen zu delegieren. An der ersten Trainingsepisode gibt sich zu erkennen, dass Mitspielfähigkeit und Subjekthaftigkeit in Praktiken nur auf der einen Seite Aktivität, Selbstführung und Kontrolle sowie Wissen bedeuten. Auf der anderen Seite implizieren sie auch Passivität, Fremdführung und Vertrauen. Mitspielfähigkeit und Subjekthaftigkeit können in diesem Sinne auf einem Kontinuum zwischen den genannten Polen changieren; im Hinblick auf den Vollzug und die Ausformung von Praktiken gilt es, beide Seiten in Rechnung zu stellen. In der beschriebenen Episode bringt ihre Einsetzung in die akrobatische Praktik des Strecksaltos für die zum Salto geworfene Novizin eine Reihe an Anforderungen mit sich, die sich allen Teilnehmerinnen, die die Position der Geworfenen einnehmen, in nahezu identischer Weise stellen. In der Teilnahme an Praktiken kommt es daneben aber auch immer wieder dazu, dass sich die Teilnehmer gleichsam jenseits dieser vorgesehenen und mehr oder weniger fix definierten Positionen in spezifischer Weise zueinander positioniere, einander dabei

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situativ komplementäre Mitspielerpositionen zuweisen und diese ausformen. Als Beispiel für die Veranschaulichung solch wechselseitiger Positionierungen von Teilnehmern in Praktiken sei an dieser Stelle noch einmal die dritte Fallanalyse in Erinnerung gerufen (vgl. Kapitel 4.3.2.4): In der ersten Sequenz dieser Episode kommt es bei der Ausführung und Einübung der akrobatischen Praktik des Doppelhandstands zu Problemen, die dazu führen, dass der Aufbau vorzeitig abgebrochen werden muss. Noch in der ersten Sequenz selbst und sodann in der zweiten diagnostiziert und kommuniziert eine der Teilnehmerinnen, Diana, das Problem aus ihrer Sicht an ihre Mitspielerin. Diese fragt zunächst unverständig nach, zeigt sich uneinsichtig und widerspricht. Diana jedoch setzt ihre Deutung mit Nachdruck gegenüber der anderen durch und beansprucht Kontrolle über die nächsten Ausführungen der Praktik sowie das Tun ihrer Mitspielerin. Die Akrobatinnen setzten sich auf diese Weise wechselseitig als führend und folgend ein und versuchen so, die Anforderungen der Praktik gemeinsam zu bewältigen. Ein analytischer Blick auf die Interaktionen, in denen sich Praktiken entfalten, bringt neben der Multipositionalität von Praktiken auch ihre Multiperspektivität ans Licht, die sich hier in dem sich andeutenden Konflikt zwischen den Sportlerinnen zu erkennen gibt. Hier zeigt sich, „dass ein von oben oder nachträglich als kollektive Praxis erscheinendes Geschehen vom Blickpunkt jedes einzelnen Teilnehmers anders wahrgenommen, beurteilt, beantwortet wird“ und wird erkennbar, dass das Spielgeschehen „von jedem Blickpunkt aus anders konstruiert werden und demzufolge für das Handeln jedes Teilnehmers etwas anderes bedeuten“ kann (DFG-Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“ 2014: 20). In Praktiken treffen mit unterschiedlichen Mitspielern auch unterschiedliche Erwartungen, Erfahrungen und Einschätzungen aufeinander, die sich nicht immer problemlos und sofort in Einklang bringen lassen, sondern Konflikte provozieren können. Diese Beobachtung relativiert das praxeologisch verbreitete harmonistische und funktionalistische Bild einer reibungslos prozessierenden, einheitlichen und „für alle identischen Praxis“ (ebd.; vgl. auch Alkemeyer/Buschmann 2015 sowie Warde 2005) und öffnet dies stärker auch für die Berücksichtigung von Fragen nach Machtverhältnissen in Praktiken. Die Chancen zur Durchsetzung der eigenen Deutung gegenüber den (möglicherweise konfligierenden) Perspektiven der Mitspieler und damit auch die Möglichkeiten, gestalterisch, aktiv oder verändernd in den Vollzug von Praktiken einzugreifen, erweisen sich mithin als ungleich verteilt. Am dritten Fall wird dies daran deutlich, dass Diana, der im Feld nicht nur ein ungleich höheres Maß an praktikspezifischem kulturellen Kapital zugerechnet wird, sondern die in der inoffiziellen Gruppenhierarchie direkt unter den Trainern und damit zugleich deutlich über ihrer Mitspielerin steht, ihre Deutungen recht problemlos gegen deren anfängliche Widerstände durchsetzen

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und so maßgeblich Kontrolle über die Ausformung der Praktik übernehmen kann. Erweist sich das Ausspielen von Kapital und Macht in dieser Trainingsepisode insofern als funktional, als durch Dianas resolutes Auftreten und Eingreifen der gemeinsame Vollzug schließlich praktikadäquater gelingt als noch zuvor, stellt sich das Ausspielen von Macht und einer institutionell legitimierten Autorität in Fall zwei als in funktionaler Hinsicht weit weniger zielführend heraus (vgl. Kapitel 4.3.2.3). Hier misslingt drei jungen Akrobatinnen der Vollzug einer akrobatischen Stützpraktik, woraufhin der Trainer einschreitet und seine Problemdiagnose und Lösungsvorschläge bis zum Trainingsende über die Köpfe der Sportlerinnen hinweg durchsetzt, ohne dabei deren – möglicherweise anders gelagerten – Problemdeutungen anzuhören oder auch nur einen Deutungsversuch von ihnen zuzulassen. Das Übersehen der Perspektiven der Sportlerinnen, die Ausblendung der Bedeutung, die dem praktischen Geschehen insbesondere auch aus der Sicht der jüngsten, verunsicherten Teilnehmerin zukommt, sowie die einseitige Fokussierung auf die aus der institutionell-formeller Perspektive vermeintlich überlegene Trainersicht unterminieren in diesem Fall die Problemlösung und führen dazu, dass es über den gesamten Trainingsprozess immer wieder zu Abbrüchen kommt. Sowohl der zweite als auch der dritte Fall machen damit deutlich, dass in Praktiken Machtverhältnisse Geltung erlangen, die die Eingriffschancen der einzelnen Beteiligten präfigurieren und sich in dieser Hinsicht auf ihre Ausformung auswirken können. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass mit Störungen, Reibungen oder Problemen beim Vollzug und bei der Einübung von Praktiken einhergehende Perspektivenkonflikte keineswegs immer so schnell eingeebnet oder durch eine Autoritätsperson unterbunden werden, wie in den angesprochenen zwei Trainingsepisoden. Vielmehr werden sie von den Teilnehmern – insbesondere dann, wenn sich diese als ungefähr gleichgestellt betrachten – mitunter auch ausführlich ausgetragen und unterschiedliche (Be-)Deutungen und Erfahrungen explizit aufeinander zu beziehen versucht, um herauszufinden, wie gemeinsam etwas anders oder besser gemacht werden kann. In solchen Fällen bildet das Aufeinandertreffen konfligierender Perspektiven in Praktiken sowie sich hieraus ergebende Uneindeutigkeiten oder Uneinigkeiten die Voraussetzung dafür, dass Abstand von eingespielten Vollzugsweisen genommen und Praktiken modifiziert, umgestaltet und verändert werden.

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B EITRÄGE

ZUM

V ERSTÄNDNIS

SPORTLICHEN

T RAININGS

Der Beitrag dieser Arbeit zum gegenwärtigen praxeologischen Diskurs liegt insbesondere darin, der Tendenz zu begegnen, Praktiken einseitig als strukturierte Entitäten und harmonisch prozessierende, typisierte und geregelte Vollzüge zu beschreiben und zu analysieren, die ihre Teilnehmer rekrutieren. Dieser Beitrag wird geleistet, indem die Kontingenz praktischer Vollzüge herausgearbeitet und auf die Leistungen, Anstrengungen sowie Voraussetzungen fokussiert wird, mit und aufgrund derer die Teilnehmer Praktiken gemeinsam bewältigen, vollziehen und aus- oder umformen. Darüber hinaus leistet die Studie einen Beitrag zum sportwissenschaftlichen Verständnis von Training: Sie erlaubt die Ergänzung und Korrektur eines trainingspraktischen und konzeptionellen Individualismus sowie der Vorstellung einer vollständigen Planbarkeit von Trainingsprozessen. Überdies fordert sie die nicht nur in der Sportwissenschaft, sondern auch in der Soziologie verbreitete Vorstellung heraus, sportliches Training realisiere sich als Habitualisierung oder gar als Automatisierung von Verhaltens- oder Bewegungsweisen, die – wie Pierre Bourdieu (1992: 193ff.) in seinem Programm für eine Soziologie des Sports schreibt – „weitestgehend jenseits des Bewußtseins vollzogen […] [und] durch stillschweigende, praktische Kommunikation, gewissermaßen von Leib zu Leib, erlernt werden“. In einer Perspektive der Automatisierung und Habitualisierung vollzieht sich sportliches Training als beiläufige Einschreibung von Wissen und Fähigkeiten in Körper und zielt darauf, Sportler zum Vollzug körperlicher Routinen zu befähigen, über die sie nicht (mehr) nachdenken müssen. Die praxeografische Beschreibung und Analyse sportakrobatischen Trainings gibt nun eine solche Automatisierung oder Habitualisierung von Bewegungen als nur einen – wenngleich durchaus relevanten – Aspekt von Training zu erkennen. Trainingsverfahren – z.B. jene des Drills und der (schnellen) Wiederholung, die in der Phase des Aufwärmens, Vorbereitens und Einstellens besonders dominant sind (vgl. Kapitel 4.3.1) – zielen auf ein solches körperliches Einschleifen und die Routinierung spezifischer Bewegungsmuster. Allerdings ist für ein kompetentes Mitspielen insbesondere in den arbeitsteiligen Vollzügen der akrobatischen Praktiken viel mehr gefordert als immer nur die gleiche Bewegungsroutine. Insofern jede Wiederholung einer Praktik für die Beteiligten stets die Möglichkeit der Verschiebung, der Abweichung oder gar des Misslingens bereithält und die Sportlerinnen bei jeder Wiederholung von Störungen und Problemen überrascht werden können, sind sie permanent gefordert, von ihren Routinen abzuweichen und sich von diesen zu distanzieren sowie erlernte Bewegungsmuster situativ zu modifizieren. Eben weil die Figuren der Sportakrobatik ebenso wie andere

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konzertierte sportliche Aktivitätenzusammenhänge, beispielsweise Fußball- oder Tennisspiele, Paartänze und Kampfsportarten mit Gegnerbezug, keine stabilen (Vollzugs-)Formen sind, die für die Beteiligten auf immer gleiche Weise funktionieren, sondern es sich bei ihnen um übersummative und ausgangsoffene Vollzüge handelt, sind von ihren Mitspielerinnen ein situativ flexibles Vorgehen, Achtsamkeiten, Fähigkeiten zur (Selbst-)Beobachtung, Reflexion und Korrektur sowie Vertrauen gefordert. Diese Mitspielfähigkeiten werden in Trainingsverfahren wie Vereinfachen und Erschweren, handgreiflich-manipulatives In-FormBringen und Berühren, Vor- und Nachmachen, probeweises Vorwegnehmen und Nachvollziehen erwarteter und vollzogener Bewegungsabläufe, multimodales Erklären und Nachfragen, affektives Berühren u.Ä. formiert bzw. besser: von den Teilnehmerinnen selbst aktiv und engagiert angeeignet und subjektiviert. Diese Mitspielfähigkeiten bilden eine grundlegende Voraussetzung dafür, die akrobatischen Figuren auch angesichts unerwartet auftretender Unsicherheiten oder Probleme, also gleichsam ‚jenseits der Routine‘, gemeinsam zu bewältigen und immer wieder auf je spezifische und dennoch identifizier- und wiedererkennbare Weise auszuformen. Vor dem Hintergrund dieser empirischen Erkenntnis ist sportliches Training als formative Praxis zu begreifen. In engem Zusammenhang mit der Relevanz der Bearbeitung situativ auftretender Probleme ist bedeutsam, dass Trainingsprozesse selten der Logik eines linearen Fortschritts vom Leichten zum Schweren folgen (können), sondern ‚schleifenförmig‘ organisiert sind. Zwar gibt es wiederkehrende Muster, Verläufe und charakteristische Abfolgen von Qualifizierungsschritten, mit denen etwa Novizinnen an ihnen unbekannte Praktiken herangeführt werden. Gleichwohl werden in unterschiedlichen dieser Qualifizierungsprozesse immer wieder auch situationsbezogene Trainings- und Korrekturmaßnahmen angewendet, mit denen auf auftretende Unsicherheiten bzw. Reparaturnotwendigkeiten reagiert sowie auf die aufgrund der unterschiedlichen Vorerfahrungen individuell verschiedenen Bedürfnisse der jeweils beteiligten Sportlerinnen eingegangen wird. Ebenso ist auffällig, dass im Verlauf verschiedener Qualifizierungsprozesse immer wieder auf eigentlich bereits überschrittene Qualifizierungsstufen zurückgegangen wird. Selbst bei überaus erfahreneren Sportlerinnen oder SportlerinnenGruppierungen kommt es im Falle auftretender Ausführungsprobleme zu einer temporären Reduktion von Anforderungen sowie einem Rückgang auf frühere Qualifizierungsstufen, um auf diese Weise Probleme unter komplexitätsreduzierenden Bedingungen zu identifizieren, zu diagnostizieren sowie zu bearbeiten und so ein sicheres Fundament für den Vollzug unter wieder gesteigerten Anforderungsbedingungen zu schaffen. Diese Beobachtung der schleifenförmigen Organisation sowie der Allgegenwart situativer Korrektur-, Interventions- und

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Trainingsmaßnahmen verweist auf die Grenzen der Planbarkeit von Trainingsprozessen: Statt einen vorab definierten oder definierbaren Plan ‚durchzuziehen‘, scheint es für den Erfolg von Trainingsprozessen unabdingbar, dass Sportlerinnen und insbesondere auch ihre Trainer, denen in letzter Instanz Verantwortung für das Gelingen des Trainings zugerechnet wird, eine Achtsamkeit und Sensibilität für situative Eingriffserfordernisse entwickeln und die spezifischen Bedürfnisse der beteiligten Sportlerinnen ad hoc bearbeiten können. Dem im sportakrobatischen Training oft zu beobachtenden Vor- und Zurückgehen zwischen verschiedenen Qualifizierungsstufen korrespondiert zumeist ein Wechsel aus De- und Rekomponierungen der entsprechenden Kollektivkörper. Fast immer werden in Fällen von Ausführungsproblemen der betreffende Kollektivkörper zerlegt und jenes (oder jene) seiner Elemente, auf dessen Seite entweder von den Trainern oder den involvierten Sportlerinnen selbst die ausschlaggebende Unsicherheit verortet wird, gesondert bearbeitet. Anschließend wird dieses (Mit-)Glied in den Kollektivkörper re-integriert und abermals der konzertierte Vollzug geübt, mit dem zugleich der Erfolg der vorangegangenen Intervention überprüft und weitere Bearbeitungsnotwendigkeiten identifiziert werden. Im Anschluss an eine Dekomposition des betreffenden Kollektivkörpers und die ‚Ausbettung‘ eines seiner Mitglieder erfolgt die Rekomposition und wird die isoliert geübte Bewegung im Zusammenspiel mit anderen trainiert. Wie im Rahmen der zweiten Fallanalyse herausgearbeitet wird, werden dabei häufig Grenzen der Transferierbarkeit eines in einem spezifischen Kontext beherrschten und gekonnten Bewegungsablaufs in einen anderen offensichtlich (vgl. Kapitel 4.3.2.3.). Im angesprochenen Fall gelingt einer Akrobatin eine Stützbewegung in einem individualisierenden Kontext an einem Podest gut, wohingegen sie die vermeintlich identische Bewegung in einer konzertierten Konstellation auf den Armen zweier Mitspielerinnen nicht reproduzieren kann. Mit der Veränderung des Ausführungskontexts wird die Stützbewegung für die Akrobatin zu einer fundamental anderen: die Ausführungsanforderungen und -schwierigkeiten verändern sich für sie grundlegend. Auf der Grundlage dieser Beobachtung lässt sich ein kritischer Blick auf solche bewegungswissenschaftlichen bzw. sportpsychologischen Erhebungen werfen, die auf der Grundlage empirischer Untersuchungen an einzelnen Sportlern in Laborsituationen Aussagen über ein Vorgehen in ‚üblichen‘ Kontexten von Training und Wettkampf sowie in Teams ableiten. Diese Studien betrachten den Kontext nur mehr als Randbedingung sportlichen Handelns, nicht aber als entscheidende Einflussgröße und abstrahieren von den beschriebenen Transferproblemen und Übertragungsgrenzen. Ebenso legen die empirischen Ergebnisse eine kritische Einschätzung der Reichweite und Wirksamkeit aufwändiger leistungs-

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diagnostischer und -optimierender Verfahren nahe, die sich in der Sportwissenschaft einer großen Popularität erfreuen. Es handelt sich bei ihnen um biomechanische, trainings- und bewegungswissenschaftliche Messverfahren zur Feststellung der Leistungsfähigkeit einzelner Sportler – bestimmt etwa über die Parameter Ausdauer, Kraft, Koordination, Schnelligkeit und Beweglichkeit –, aus denen trainingspraktische Interventionen zur Steigerung der Leistungen individueller Sportler oder ganzer Mannschaften abgeleitet werden (vgl. z.B. Roth 1999: 227ff.; Rostock 2003: 251ff.). Ebenso wie den sportpsychologischen Laboruntersuchungen unterliegen diesen Verfahren ein konzeptioneller und trainingspraktischer Individualismus sowie die Annahme, dass es sich beim Zusammenspiel und bei den Leistungen von Sportteams um nicht mehr als die Summierung der Leistungen kompetenter Einzelspieler handele. Die empirische Studie über sportakrobatisches Training zeigt jedoch, dass es sich bei den Vollzügen arbeitsteilig agierender Teams um mehr und anderes als eine bloße Summierung individueller Leistungen handelt. So mögen an einzelne Mitspieler adressierte Interventionen zwar wichtig sein, jedoch sind sie keine hinreichende Bedingung für die Optimierung des konzertierten Zusammenspiels sowie den Erfolg von und in Teams. Denn: Ein individuell hochleistungsfähiger Athlet kann sich in konzertierten praktischen Zusammenhängen als überaus schlechter Mitspieler erweisen; eine Vielzahl individueller Leistungsträger macht noch lange keine zusammenspielfähige Mannschaft. Sportpraktische Diagnoseverfahren und Untersuchungen, die die Verflechtung einzelner Spieler in praktische Gesamtzusammenhänge eines Spiels übersehen und ausschließlich individualistische Wissensordnungen über das Machen von Sport instituieren, abstrahieren von der Nicht-Reduzierbarkeit arbeitsteiliger Leistungen auf die Aktionen von Einzelspielern. Um dieser Nicht-Reduzierbarkeit Rechnung zu tragen, gilt es für diagnostische Verfahren und empirische Untersuchungen, einzelne Mitspieler immer auch aus der Perspektive des Kollektivs zu beobachten und ihre Einbettung in ein übersummatives, praktisches Verflechtungsgeschehen zu berücksichtigen, in dem die Handlungen aller Beteiligter in wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen zueinander stehen. Wie schwierig und herausfordernd indes die Diagnose und Bearbeitung von Ausführungsproblemen in solchen übersummativen praktischen Zusammenhängen des Sports und arbeitsteilig sich organisierenden Kollektivkörpern selbst für Experten wie Trainer sein kann, wird insbesondere an der zweiten Trainingsepisode deutlich (vgl. Kapitel 4.3.2.3). Dem Trainer bleiben die Vollzugslogik der akrobatischen Stützpraktik und die Gründe für die wiederholten Abbrüche hier verschlossen. Er individualisiert das Misslingen, indem er es ausschließlich auf die unangemessenen Bewegungen der gestützten Akrobatin zurückführt. Er ver-

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säumt es, deren Probleme aus der Perspektive des Kollektivgeschehens zu beobachten, d.h. als Ergebnis der Abhängigkeit der Sportlerin vom Tun ihrer Mitspielerinnen zu verstehen. Indem der Trainer individualistische Wissensordnungen ins Spiel bringt und im Spiel hält, trägt er grundlegend dazu bei, dass die ‚gestörte‘ Praktik von den drei beteiligten Akrobatinnen bis zum Trainingsende nicht wie vorgesehen realisiert werden kann. In Reaktion auf die undurchsichtige Vollzugslogik insbesondere solcher Figuren, die zahlreiche Teilnehmerinnen involvieren, versuchen die Sportlerinnen deren Reparatur häufig praktisch, z.B. durch eine Veränderung oder Umstellung der Beteiligten (vgl. hierzu auch Kapitel 4.3.2.1). Diese kollektiven Interventions- und Trainingspraktiken und das in ihnen zum Tragen kommende Wissen erweisen sich dabei oft als ‚klüger‘ als die Problemdeutungen und Bearbeitungsvorschläge, die einzelne Teilnehmerinnen oder der Trainer explizieren können. Will man – sei es nun als Sportwissenschaftler, Sportpraktiker oder (Praxis- oder Körper-)Soziologe – Wissen über Sport-, Trainings- und (erfolgreiche) Interventionspraktiken zusammentragen, legt insbesondere die letzte Beobachtung nahe, dieses nicht zuvorderst qua Befragungen bei einzelnen Sportlern oder Trainern zu suchen, sondern zuallererst den beobachtbaren Praktiken des Sport-Machens und Trainierens selbst abzuschöpfen.199

B EITRÄGE ZUM V ERSTÄNDNIS VON O RDNUNGEN UND ‚ IHREN ‘ S UBJEKTEN Nachdem in den vorangehenden zwei Abschnitten die Beiträge der Arbeit zu Praxissoziologie und Praxeografie sowie zum Diskurs über sportliches Training ausgelotet worden sind, gilt das Interesse in diesem letzten Abschnitt jenen Erkenntnisgewinnen, die auch im Hinblick auf eine allgemeine Soziologie Relevanz besitzen. Der konzeptionellen und empirischen Anlage der Arbeit unterliegt der Versuch, soziologische Praxistheorien nicht nur subjektivierungstheoretisch zu ergänzen, sondern auch für Handlungs- und Interaktionstheorien zu öffnen, denen sie häufig alternativ entgegengestellt werden. Über die handlungs- und interaktionstheoretische Erweiterung der praxeologischen Perspektive wird erkennbar, dass und wie Praktiken in den Handlungen und Interaktionen ihrer 199 Eben dies wird in und mit der vorliegenden Arbeit versucht. Wie bereits in vorherigen Kapiteln und Abschnitten erläutert, können die Teilnehmer den Forscher bei Abschöpfung und Beobachtbarmachung von in die Trainingspraktiken eingelagerten Wissensbeständen jedoch helfen, indem sie beispielsweise im Rahmen videogestützter Interviews als Ethno- bzw. Praxeografen ihres eigenen Tuns fungieren.

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Teilnehmer entfaltet werden und umgekehrt Handlungen ihre spezifische Intentionalität, Bedeutung und Sinnhaftigkeit allererst im Rahmen vorstrukturierter Vollzugsformen erhalten. Sie macht damit auf die wechselseitige Abhängigkeit von Praktiken und Handlungen aufmerksam. Zudem erlaubt es die Öffnung, neben der Regelmäßigkeit und Strukturiertheit auch die Kontingenz, transsituative Entfaltung und Prozessualität praktischer Vollzüge in den Blick zu nehmen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit damit auf die Wechselseitigkeit von Ordnungen und ihren Subjekten in the making. Am Beispiel der empirischen Untersuchung sportakrobatischen Trainings wird durch die beschriebene Perspektivenkombination erstens ein in der Soziologie gängiges Verständnis von Strukturen und Ordnungen irritier- und korrigierbar: Ordnungen erweisen sich weder als „träge und unbewegliche“ [inert and immobile] (Wacquant 2014: 2) Strukturen oder starre Entitäten noch als soziale Tatsachen (Durkheim), sondern als „geschmeidig[e] und lebendig[e]“ [limber and alive] (ebd.) sowie durchaus auch veränderbare Vollzüge. Als solche besitzen sie keine von den Akteuren unabhängige Existenz. Vielmehr werden Ordnungen von ‚ihren‘ Subjekten unter Investition und Aneignung diverser Bewältigungs-, Koordinations- und Reparaturleistungen sowie Mitspielfähigkeiten (trans-)situativ, interaktiv und lokal hervorgebracht, ausgeformt und accomplished. Akteure stehen in diesem Sinne nicht außerhalb von Strukturen oder Ordnungen; sie sind in diese eingebettet und in ihnen situiert, sie bilden und formen sich in ihnen. Dabei sind sie gleichsam ‚ganzheitlich‘ an der Hervorbringung von Ordnungen und ihrer selbst als Subjekte dieser Ordnungen beteiligt. Von der Empirie aus lässt sich damit zweitens auch die Vorstellung eines „dualistischen und entkörperten“ [dualistic and disincarnated] (Wacquant 2014: 2) Akteurs korrigieren, dessen Handlungsfähigkeit und Subjektstatus hinreichend über die Fähigkeit zur Reflexion sowie den Gebrauch von Vernunft und Sprache bestimmbar sind. Zugleich ergänzt die vorliegende Arbeit aber auch körpersoziologische Zugänge, die zwar den Beitrag des Körpers zum sozialen Handeln und der Konstitution sozialer Ordnung herausarbeiten, dabei jedoch das Wissen oder die Intelligenz des Körpers gegen sprachliche und reflexive Fähigkeiten oder explizite Wissensbestände ausspielen. Die Studie bestätigt zwar diese körpersoziologischen Arbeiten insofern, als sie zeigt, dass verkörpertes Wissen und genuin körperliche Ein- und Abstimmungsweisen für die Bewältigung sich stellender Aufgaben von fundamentaler Bedeutung sind. Angesichts der Tatsache, dass der Untersuchungsgegenstand im Feld des Sports und damit einem fundamental körperbezogenen Universum verortet ist, vermag diese Erkenntnis auch kaum zu überraschen. In Ergänzung aktueller körpersoziologischer Debatten macht die Studie jedoch – möglicherweise überraschender – ebenfalls darauf aufmerksam,

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wieviel Sprache und Reflexivität selbst in den vermeintlich anti-intellektualistischen und vorreflexiven oder -sprachlichen Universen des Sports zum Tragen kommen. Zusammen mit Arbeiten, die in umgekehrter Stoßrichtung die körperlichen Anteile oder Fundamente scheinbar körperloser und rein geistiger Tätigkeiten kenntlich machen,200 bietet die Studie über die Sportakrobatik Anlass zu der Annahme, dass sich Akteure in verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsbereichen stets körperlich, mental und reflexiv in ihre (Selbst-)Bildung und die Hervorbringung von Ordnungen engagieren: Die Konstitution von Ordnungen und ihren Subjekten erweist sich als ein multimodales Geschehen, in dem verschiedene Wissenstypen und Weisen des Sich-miteinander-Abstimmens oder Miteinander-Kommunizierens aufeinander bezogen und miteinander verflochten sind. An zwei Beispielen aus der Arbeit seien die Ganzheitlichkeit und die Multimodalität von Subjekt- und Ordnungsbildungen an dieser Stelle noch einmal veranschaulicht: In Fall drei initiiert eine von der Akrobatin Diana im Modus eines, sich auf den Körper ihrer Mitspielerin erstreckenden, Bewegungsgefühls bemerkte Unsicherheit einen Problemlöseprozess (vgl. Kapitel 4.3.2.4.). Um ihrer Mitspielerin das bemerkte Problem verständlich zu machen, wird das gefühlte, implizite Körperwissen aus dem Aggregatzustand des Impliziten geholt; es wird expliziert und kommuniziert. Dies erfolgt in der Verschränkung unvollständiger verbaler – empraktischer – Äußerungen, die selbst insofern fundamental körperbezogen sind, als sie nur in ihrem Bezug auf die Bewegungsvollzüge, die sie beschreiben, verständlich sind, und gestischen Darstellungen, die die Bewegungsvollzüge, auf die die empraktischen Äußerungen Bezug nehmen, körperlich nachmodellieren. Schließlich kommt es aber auch zu ausführlicheren sprachlichen Erklärungen, in denen ein biomechanisch-funktionales und explizites Detailwissen um die angestrebten Bewegungsvollzüge aufgerufen und kommuniziert wird, welches schließlich im gemeinsamen Vollzug der Praktik in Bewegungen rückzuübersetzen und zu verkörpern versucht wird. In der Verschränkung dieser Wissensformen und Kommunikationsmodi wird der gemeinsame Vollzug der Praktik sicherzustellen und eine kollektive (Körper-)Ordnung aus einzelnen Variablen hervorzubringen versucht. Der vierte Fall beginnt damit,

200 Schmidt (2006) beispielsweise beschreibt und analysiert die ‚geistige‘ Arbeit des Programmierens am Computer als körperlichen Vollzug. Pille (2013) zeigt in einer ethnografischen Studie über das Referendariat, dass die (Aus-)Bildung von Lehramtsanwärtern ganz maßgeblich auch die Formierung von Körpern umfasst und die schulische Ordnung als spezifische Körperordnung beschreiben und beobachtet werden kann.

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dass der Trainer im Modus virtueller und tatsächlicher Mitbewegung auf der Basis eines durch praktische Erfahrungen erworbenen Körperwissens ein situatives Potenzial zur Umgestaltung einer Praktik identifiziert (vgl. Kapitel 4.3.4.2). Dieses Potenzial spezifiziert er gegenüber den Akrobatinnen in schematischen zeichnerischen Darstellungen, Gesten, Berührungen und sprachlichen Erklärungen über biomechanisch-funktionale Ausführungsprinzipien. Auf diese Weise macht der Trainer ein Detailwissen explizit, das von den Sportlerinnen in gemeinsamer Praxis verkörpert wird. Die Verschränkung verschiedener, multimodaler, Weisen des Wissens und des Kommunizierens erweist sich hier als entscheidend für die Einstellung aller Teilnehmer auf die neuen Anforderungen und die Hervorbringung einer neuen und veränderten (Körper-)Ordnung.201 Zudem wird in der empirischen Untersuchung erkennbar, dass und inwiefern Ordnungs- und Subjektbildungen immer auch Affekte (und deren Formierung) involvieren und sich auf einem Kontinuum von Aktivität und Passivität bewegen. Die Teilnehmer des Trainings sind nicht nur körperlich, mental und reflexiv, sondern auch affektiv in die Hervorbringung von Ordnungen und ihrer selbst als deren Subjekte engagiert und realisieren dabei ein „Spektrum komplementärer Verhaltensweisen“ (DFG-Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“ 2014: 30; i.O. kursiv) wie Kontrolle und Vertrauen, Selbst- und Fremdführungen, Rationalität und Affektivität. Auf der Folie der eingangs beschriebenen Öffnung der praxeologischen Perspektive zeigt sich, dass gemeinsame Praxis vom Standpunkt der an ihr Beteiligten ausgangsoffen ist und sich der Kontrolle einzelner entzieht. Es wird deutlich, dass Einzelnen im Vollzug von Praxis von anderen Teilnehmern zugesetzt wird, ihnen etwas widerfährt, sie sich auf andere verlassen müssen und damit immer auch Unsicherheiten und Ängste oder andere affektive Regungen mit im Spiel sind oder sein können.202 Diese Erkenntnis bietet

201 Die Arbeit lässt in dieser Hinsicht noch einige Forschungslücken: Es könnte noch viel genauer und mikrologischer herausgearbeitet werden, wie Gesten, Sprache, Berührungen, Bewegungsgefühl und explizites Detailwissen von Augenblick zu Augenblick miteinander koordiniert werden und ineinandergreifen. Auch die Prinzipien des Attunements von Kollektivkörpern und das Wie der Entwicklung eines praktikspezifischen Gefühls für den eigenen Körper, den der Mitspielerinnen oder die Dynamik in einem Kollektivkörper könnte und müsste noch genauer ausgeleuchtet werden. Als furchtbar könnte sich in diesem Zusammenhang eine Ergänzung ethno- oder praxeografischer Beobachtungs- und Vorgehensweisen durch Bewegungsanalysen erweisen, mit denen die Koordination von Bewegungen etwa in der Sportpsychologie untersucht wird. 202 Vgl. hierzu insbesondere die erste und die zweite Trainingsepisode.

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drittens einen Ansatzpunkt zur weiteren Korrektur des soziologisch nach wie vor dominanten Bildes eines aktiven, wissenden, rationalen und handlungsfähigen Akteurs, auf dessen Rückseite nicht nur seine Körperlichkeit, sondern auch seine Affektivität und Passivität oft übersehen werden (vgl. auch Wacquant 2014). Indem sie am Beispiel sportakrobatischen Trainings Ordnungs- und Subjektbildungen mikrologisch und in the making statt – wie meist üblich – vom Standpunkt fertiger Phänomene ausleuchtet, wird mit der Arbeit in den genannten drei Hinsichten ein – zumindest kleiner – Beitrag zu einer anti-dualistischen Theorie des Sozialen geleistet. Eines der zentralen Themen der Arbeit ist die Ausgangsoffenheit, Störanfälligkeit sowie Kontingenz praktischer Vollzüge und Ordnungen sowie sich hieraus für die Subjekte ergebende An- und Herausforderungen. Es bildet den Anker und Aufhänger für viele weitere, die Arbeit tragende Argumente. Nun mag eingewendet werden, dass im für die empirische Analyse gewählten Beispiel die Störanfälligkeit und Unsicherheit praktischer Vollzüge gleichsam auf die Spitze getrieben sind und die Ergebnisse in dieser Hinsicht allenfalls teilweise auf andere Kontexte übertragbar sind. Selbstauferlegte Handlungsbeschränkungen (etwa ein Stand auf den Händen statt auf den Füßen), die unmittelbaren körperlichen Anhängigkeiten der Sportlerinnen voneinander sowie eine kontinuierliche Steigerung der Ausführungsschwierigkeiten machen ein reibungsloses Funktionieren der gemeinsamen akrobatischen Vollzüge in der Tat hochgradig unwahrscheinlich. Sportakrobatik stellt damit gleichsam einen Sonder- oder Höchstfall der Unsicherheit dar; die akrobatischen Vollzüge erweisen sich als weitaus ausgangsungewisser und unsicherer als alltägliche Praxis. Gleichwohl soll hier die These vertreten werden, dass Sportakrobatik Merkmale von Handeln, Subjekthaftigkeit und Ordnungsbildung deutlich macht, die auch für konzertierte Zusammenhänge abseits des Sports und alltägliche Praxis besitzen, hier jedoch weniger deutlich zutage treten. Dieser Anspruch auf eine Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse lässt sich vor dem Hintergrund, dass der Umgang mit Unsicherheiten oder Krisen gesellschaftlich und soziologisch immer wichtiger werdende Themen sind, zusätzlich untermauern.203 So besagt ein in der Theorie „Reflexiver Modernisierung“ (Beck/Bonß/Lau 2001) gängiger Topos, dass sich Unsicherheitszonen im Zuge einer Zweiten Moderne in sämtlichen Gesellschaftsbereichen immer weiter ausdehnen und eine Unmöglichkeit sicheren Wissens, einen Mangel an hinreichend

203 Der deutsche Soziologentag 2014 widmet sich bezeichnenderweise dem Thema Routinen der Krise – Krise der Routinen.

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gesicherten Entscheidungsgrundlagen sowie die Grenzen eines rationalen Handelns markieren (vgl. auch Böhle/Weihrich 2009). Im Rahmen dieser Theorie lassen sich Teamsport und Sportspiele als Modelle eines Handelns unter Unsicherheit fassen, an dem die Prinzipien und Fähigkeiten eines Agierens in den sich gesellschaftlich immer weiter ausbreitenden Unbestimmtheitszonen besonders gut beobachtbar und analysierbar werden (vgl. Alkemeyer 2009). Durch die systematische Inszenierung von Unsicherheit erweist sich sportliches Training als geeignetes „Versuchslabor“ (ebd.: 199) für die Untersuchung der Voraussetzungen einer Bewältigung von Kontingenz und Ungewissheit. Sport(-akrobatik) zeigt zum einen geradezu ostentativ auf die Bedeutung lange Zeit in der Soziologie und anderen Wissenschaften vergessener Wissensformen und Fähigkeiten, die ein ‚intelligentes‘ Agieren jenseits bewusster Kognitionen, sicherer Entscheidungsgrundlagen oder eingespielter Routinen er-möglichen. Zum anderen zeigt Sport(-akrobatik) aber auch auf die Grenzen von Wissen für den Umgang mit Unsicherheit überhaupt und damit auf die Bedeutung weiterer, soziologisch ebenfalls häufig übersehener, Handlungsressourcen wie Vertrauen. Vertrauen erweist sich in Kontexten und Konstellationen, in denen selbst ein großes Maß an Wissen zur Bewältigung von Aufgaben und Anforderungen nicht genügt, als unabdingbar. Trotz der Verbreitung solcher Kontexte und Konstellationen und einer zunehmenden Anerkennung der Unsicherheit und Krisenhaftigkeit sozialer Zusammenhänge wird das Thema Vertrauen in der soziologischen Forschung nur langsam (wieder) mit Aufmerksamkeit bedacht. Mit dieser Arbeit ist die Hoffnung verbunden, diese Entwicklung zu unterstützen und voranzutreiben.204 Allerdings gibt es im Hinblick auf die Bedeutung und die Entwicklung von Vertrauen in (reflexiv) modernen Gesellschaften und deren verschiedenen Handlungsbereichen nach wie vor einen großen Forschungsbedarf.205

204 Vgl. hierzu beispielweise den jüngst erschienen Sammelband über Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit (Böhle et al. 2014). 205 In der vorliegenden Arbeit werden die Praktiken der Erzeugung von Vertrauen und dessen Funktionen für ein arbeitsteiliges Agieren nur angedeutet. Es könnte und müsste in zukünftigen Forschungsarbeiten beispielsweise noch genauer ausgeleuchtet werden, wie Vertrauen Schritt für Schritt aufgebaut wird, welche Bedeutung Vertrauen in nicht-kopräsenten Formen der Kommunikation und Kooperation zukommt, wie genau es in diesen Konstellationen erzeugt, beglaubigt, bestätigt wird und welche Rolle Vertrauen nicht nur in kooperativen Zusammenhängen, sondern zum Beispiel auch in Praktiken der Konkurrenz spielt.

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