Mit Sprache spielen: Die Ordnung und das Offene nach Wittgenstein 9783050075037, 9783050032795

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Mit Sprache spielen: Die Ordnung und das Offene nach Wittgenstein
 9783050075037, 9783050032795

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Mit Sprache spielen Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein Herausgegeben von Hans Julius Schneider und Matthias Kroß

Einstein Bücher

Mit Sprache spielen Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein

Herausgegeben von Hans Julius Schneider und Matthias Kroß

Akademie Verlag

Abbildungen auf der Titelseite: Ludwig Wittgenstein, Aufnahme aus seinem Fotoalbum, aus dem Besitz von Ben Richards. Foto von Moritz Nähr. © Courtesy of the Wittgenstein Archive, Cambridge

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Mit Sprache spielen : die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein / hrsg. von Hans Julius Schneider und Matthias Kroß. Berlin : Akad. Verl., 1999 ISBN 3-05-003279-0

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1999 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Einbandgestaltung: Petra Florath Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Hans Julius Schneider/Matthias Kroß: Vorwort Hans Julius Schneider:

Wittgenstein und die Grammatik

7 11

Jacques Bouveresse: Was heißt „auf die gleiche Weise fortsetzen"?

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Albrecht Wellmer: Verstehen und Interpretieren

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Clemens Sedmak: Mißglückte Sprachspiele

77

Peter M. S. Hacker: Als das Pfeifen verstummen mußte

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Eugene T. Gendlin: Was geschieht, wenn Wittgenstein fragt: „Wasgeschieht, wenn

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Thomas Rentsch : Praktische Gewißheit fenseits von Dogmatismus und Relativismus

137

Hans-Rudi Fischer: Rationalität als offene Ordnung. Zur Logik und Evolution neuer Sprachspiele

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Matthias Kroß: Philosophieren in Beispielen. Wittgensteins Umdenken des Allgemeinen

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Literaturverzeichnis

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Über die Autoren

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Personenregister

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Vorwort

Wittgensteins Begriff des Sprachspiels legt zwei Arten der Weiterführung nahe: Der eine Strang geht vom Spiel über zur Spielregel, die verstanden wird als konstitutive Regel: Wie das Schachspiel verdankt auch die Sprache den Regeln ihre Existenz; sie hat ihre Existenz in den durch Regeln erfaßbaren Ordnungen. Aus dieser Perspektive erscheint das nicht regelhaft Konstituierte an der Sprache, wo es denn als vorhanden anerkannt wird, als chaotisch. Das Modell des Verständlichmachens ist entsprechend das Explizitmachen impliziter Regeln. Sprache ist nur dort, wo Regeln sind, und seien sie unbewußt; am Rand der Sprache ist Irrationalität, Willkür, Kontingenz. Der andere Strang geht vom Spiel über zum spielerischen Fortsetzen, zum Erfinden der Regeln beim Weiterspielen, zum „Witz" von Regelverletzungen, die keinen Meta-Regeln folgen, sondern sich frei im „Offenen" bewegen. Das nicht regelhaft Konstituierte ist in dieser Perspektive nicht notwendig chaotisch; es kann neu und überraschend und doch zutiefst sinnvoll sein, etwa in Produkten der Kunst oder in der dynamischen Entwicklung von Lebensformen, über die je gewonnenen Ordnungen hinaus. Die Möglichkeiten der zweiten, auf das „Offene" gerichteten Weiterführung kritisch zu explorieren, war das Interesse der hier dokumentierten internationalen Tagung, die das Institut für Philosophie der Universität Potsdam (Hans Julius Schneider) und das Einstein Forum Potsdam (Matthias Kroß) gemeinsam veranstaltet haben. Der einführende Beitrag von Hans Julius Schneider (Wittgenstein und die Grammatik) setzt Wittgensteins besonderen, auf das „Offene" zielenden Grammatikbegriff in Beziehung zur Schulgrammatik, um Wittgensteins Geringschätzung dieses traditionellen Feldes sprachbezogener Untersuchungen zugleich begreiflich zu machen und zu korrigieren. Den theoretischen Implikationen der Problematik des Regelfolgens sind die Beiträge von Bouveresse, Wellmer und Sedmak gewidmet. Jacques Bouveresse

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Vorwort

(Was heißt „auf die gleiche Weise fortsetzen"?) greift vor allem Bemerkungen Wittgensteins über die Philosophie der Mathematik auf, um zu zeigen, daß die Regel im Verhältnis zur Praxis ihrer Anwendung nicht die Art von Unabhängigkeit und Abstand besitzt, die erst die Formulierung eines authentischen skeptischen Problems (wie es Kripke bei Wittgenstein sehen wollte) erlauben würde. Diese Überlegungen bereiten dank eingehender Interpretationen der Wittgensteinschen Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik den Boden für den Beitrag von Albrecht Wellmer (Verstehen und Interpretieren). Wellmer untersucht das Verhältnis zwischen Regelfolgen (Sprachverstehen in der performativen Perspektive eines Sprechers) und Äußerungsverstehen (Sprachverstehen in der interpretativen Perspektive eines Hörers). Auf der Grundlage eines Nachweises der Zusammengehörigkeit dieser beiden Aspekte der Sprachkompetenz versucht Wellmer - mit und gegen Wittgenstein, mit und gegen Davidson - zu zeigen, daß und inwiefern der sprachliche Sinn sein Sein in einem zugleich sprachbildenden - Prozeß der Interpretation hat, der zugleich derjenige eines Streits um die Wahrheit ist. Ein skeptisches Argument „höherer Stufe" wird entkräftet. Clemens Sedmak (Mißglückte Sprachspiele) unternimmt den Versuch, die in der Sprechakttheorie gängige Rede von „Erfolg" und „Mißlingen" auf Sprachspiele anzuwenden. Sein besonderes Interesse gilt dabei den Fällen des Scheiterns und den „Mißverständnissen". Er fragt danach, ob sich mißglückte Sprachspiele in irgendeiner Weise systematisieren lassen und ob es immer sprachliche Regeln sind, die über Gelingen oder Mißlingen einer Äußerung entscheiden. Und wenn es auch einen nicht-regelgeleiteten Gebrauch der Sprache gibt, wie könnte hier ein „Mißglücken" aussehen? Einen weiteren Schwerpunkt des Bandes stellt die Sagen/Zeigen-Differenz bei Wittgenstein dar. Eugene T. Gendlin setzt sich in seinem Beitrag Was geschieht, wenn Wittgenstein fragt: „ Was geschieht, wenn ..."? mit diesem auseinander: Laut Gendlin gab uns Wittgenstein keine Möglichkeit zu sagen, was er tut. Wittgenstein zeigt - aber mit Worten. Wir können nun aber, so argumentiert Gendlin, Wörter auf Wittgensteins zeigende Art benutzen, um zu sagen, was er tut. Die Wörter können dann das bedeuten, was in ihrem Gebrauch „geschieht". Gendlin stellt einige neue Anwendungsfalle der Philosophie Wittgensteins vor und richtet auf diese Weise den Blick auf neue philosophische Möglichkeiten. Auch Peter M. S. Hacker (Als das Pfeifen verstummen mußte) beschäftigt sich mit der Sagen/Zeigen-Beziehung. Ausgehend von der Äußerung von Wittgensteins Freund Ramsey: „Wenn wir das, was wir nicht aussprechen können, nicht aussprechen können, dann können wir es auch nicht pfeifen", verfolgt Hacker im einzelnen die Abkehr Wittgensteins von den wesentlichen Positionen seiner Frühphilosophie, als er die Unhaltbarkeit der Ineffabilitätsdoktrin des Tractatus

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Vorwort

und damit die Berechtigung von Ramseys Bemerkung erfaßt hatte. Jedes der ineffabilia wurde darum neu bedacht und neu gewertet. In dem dritten abschließenden Schwerpunktthema des Buches schließlich werden praxisbezogene Aspekte des Wittgensteinschen Denkens erörtert. Thomas Rentsch analysiert in seinem Beitrag Praktische Gewißheit -jenseits von Dogmatismus und Relativismus Wittgensteins Studien in Uber Gewißheit als eine Vertiefung der Sinnkritik der Philosophischen Untersuchungen. Indem Wittgenstein nach den Voraussetzungen und der Beschaffenheit von Sprachspielen über die Gewißheit fragt, zeigt er negativ-kritisch, daß wir uns vielfach falsche Vorstellungen von diesen Voraussetzungen gemacht haben. Aber Wittgensteins negativkritischen Ergebnisse haben keine skeptischen Konsequenzen. Sie lassen sich vor allem in Richtung auf die Offenheit menschlichen Sprachhandelns verstehen. Sie eröffnen ein Vernunftverständnis jenseits von Dogmatismus und Relativismus, das insbesondere auch für Fragen der praktische Philosophie folgenreich ist. Ein Plädoyer für eine radikal offene Interpretation des Sprachspielsdenkens im Umgang mit der Geisteskrankheit hält Hans Rudi Fischer in seinem Beitrag Rationalität als offene Ordnung. Zur Logik und Evolution neuer Sprachspiele. Wie Fischer zeigt, geht Wittgenstein nicht davon aus, daß sowohl beim faktischen Sprachgebrauch als auch bei dem, was wir „Denken" nennen, allein die formale Logik am Werk ist. Im Anschluß an Wittgenstein wird es laut Fischer möglich, das „Irrationale", das „verrückte Denken" aus dem Bereich des Unverständlichen, Unlogischen in den Rahmen des prinzipiell Geordneten zurückzuholen und hermeneutisch wieder zugänglich zu machen. Matthias Kroß (Philosophieren in Beispielen) greift den bei Wittgenstein methodisch verstandenen Gebrauch von Beispielen auf, um für ein „Philosophieren in Fällen" einzutreten. Damit, folgert Kroß, wird der philosophischen Reflexion das Moment der Kreativität zurückgegeben. Gegen den „Konservativismus" der Regel vermag das paradigmatisch wirkende, „schlagende" Gegenbeispiel, das Wittgenstein selbst zur Darstellung seines neuartigen Denkens der Spätphilosophie häufig verwendet, neue gesellschaftliche Handlungsmuster und Lebensformen zu begründen. Potsdam, im Juli 1998

Hans Julius Schneider Matthias Kroß

Hans Julius Schneider (Potsdam)

Wittgenstein und die Grammatik

Fragestellung Ich möchte diesen einführenden Beitrag damit beginnen, die Blickrichtung der Initiatoren der hier dokumentierten Veranstaltung zu charakterisieren, indem ich unsere erste Formulierung des Themas kommentiere; sie lautete: Zur Sprache kommen. Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein. Es sollte also in den Blick kommen, wie etwas zu Sprache kommt. Damit wird die Sprachtätigkeit zum Gegenstand gemacht und die Fähigkeit, sie auszuüben, nicht ihr Resultat oder ihr Produkt, wie es z.B. dort üblich ist, wo man sich die Sprache als eine vorliegende Menge von Sätzen vorstellt, die man durch die Angabe einer Struktur zu definieren versucht. Daß eine kalkülförmige Charakterisierung des Produkts nicht schon eo ipso eine Kennzeichnung der Erzeugungskompetenz ist, zählt zu den Ausgangsvermutungen der folgenden Argumentation. Der Ausdruck „kommen" deutet darüber hinaus an, daß der Sprecher oder die Sprecherin bei dieser „Tätigkeit" manchmal eher passiv als aktiv ist; die passenden Worte kommen eben oder sie kommen nicht, auch wenn sie einem „auf der Zunge liegen" (vgl. Gendlin 1993; Schneider 1997b [mit einem Kommentar von Gendlin]; Schneider 1997c). Wenn wir im Untertitel von den Ordnungen (im Plural) sprechen, denken wir erstens an grammatische Regeln im traditionellen Sinn, wie sie z.B. in den Paradigmen für die Deklination sichtbar werden: rosa, rosae, rosae, rosam, rosa; so und nicht anders lauten die Formen im Singular des lateinischen Wortes für „Rose"; es gibt daneben aber andere Deklinationen für andere Wörter. Zugleich denken wir an die Vielfalt dessen, was Wittgenstein „Sprachspiele" genannt hat und was oft mit der Vorstellung von „Spielregeln" verbunden und damit in die Nähe von Deklinationsformen gerückt wird. O b man aber für den Gesamtbereich sprachlicher Kompetenz davon sprechen kann, er werde durch Regeln konstituiert (oder könne durch solche doch vollständig dargestellt werden), ist gerade eine der hier zu erörternden Fragen: Wie verhält sich die Ordnung einer Regelformulierung

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(denn nur als formulierte Regeln sind Regeln zum Gegenstand der Erörterung zu machen) zur Offenheit der zugehörigen Spiele? Daß eine solche vollständige Darstellung der Sprachfähigkeit als einer Fähigkeit, nach Regeln zu handeln, vielleicht nicht möglich sei, wird durch den Ausdruck „das Offene" angedeutet. Hinter ihm steht die Frage, ob es nicht zur Sprachkompetenz selbst gehört, sich im Ungeregelten bewegen zu können, sowohl sprechend als auch verstehend. Hier ist z . B . an Übertragungen zu denken, an ungewohnte Abweichungen vom Üblichen sowie an die Fähigkeit zum kreativen, kommunikativ erfolgreichen Regelverstoß und an die Erfindung neuer Regeln im Verlauf der Sprachspiel-Tätigkeit. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich sogar, daß die Sprache durchsetzt ist mit dieser Offenheit, auch in ihrem alltäglichen Gebrauch. Mit diesem Gedanken sind wir abermals beim Erfinder des Sprachspiel-Paradigmas, so daß nur noch zu ergänzen bleibt, daß die Wendung „nach Wittgenstein" sowohl in der Bedeutung „gemäß seinen Überlegungen" zu lesen ist, als auch in der Bedeutung: „Und was halten wir selbst als Nachgeborene heute für richtig, in welchen Punkten ist Wittgenstein zu korrigieren?" Der Frage, wie sich die so skizzierten Bereiche der „Ordnungen" und des „Offenen" zueinander verhalten, möchte ich mich nun durch eine Erörterung von Wittgensteins Verhältnis zum Begriff der Grammatik nähern. Dabei ist zunächst hervorzuheben, daß er dieses Wort in einem abweichenden, durchaus unüblichen Sinn verwendet. Aus diesem Umstand ergeben sich zwei Teilfragen: (a) wie verwendet Wittgenstein selbst das Wort „Grammatik"? und (b) wie sieht seine Auffassung von derjenigen Sache aus, die unabhängig von seinen Überlegungen üblicherweise mit dem Ausdruck „Grammatik" bezeichnet wurde bzw. wird? In erster Annährung läßt sich auf die Frage (a) antworten, daß die Kenntnis der Grammatik in Wittgensteins abweichendem Sinn bedeutet, daß derjenige, dem sie zugeschrieben wird, sich in der Sprache dergestalt zurechtfindet, daß er Sinnvolles von Sinnlosem unterscheiden kann, und zwar in einem philosophisch relevanten Sinn, dem gemäß man z . B . fragen kann, ob das Leib/Seele-Problem ein Scheinproblem, eine sinnlose Fragestellung ist. Die Fähigkeit, um die es hier geht, übersteigt folglich die Kompetenz zu sprachlich fehlerfreiem Sprechen im Sinne des Fremdsprachenunterrichts bei weitem. „Grammatische" Erörterungen in dieser sinnkritischen Bedeutung des Wortes gehören in den Bereich der Philosophie. Als eine Teilantwort auf die Frage (b) ist zunächst festzustellen, daß es in den Texten Wittgensteins immer wieder Passagen gibt, in denen er eine auffallende Geringschätzung der traditionellen Schulgrammatik zum Ausdruck bringt. Er spricht von ihr als der „Oberflächengrammatik", die man „mit dem Ohr erfassen" (PU, 664) könne. Was dieser Rekurs auf das Hören für ihn bedeutet, beleuchtet seine These, das schulgrammatisch als zentral anzusehende Zusammenpassen von

Wittgenstein und die Grammatik

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Satz-Subjekt und Satz-Prädikat sei von gleichem Rang wie das Zusammenpassen der Buchstaben, wenn wir sie in der üblich gewordenen Ordnung „A, B, C ..." aufsagen (vgl. PU, 137). Er erklärt also unseren Eindruck für völlig falsch, daß die Einheit des Satzes wesentlich mit der besonderen Art des Zusammenpassens von Subjekt und Prädikat zu tun haben müsse (und entsprechend auch des Zusammenpassens der anderen Satzteile), zu dessen Gunsten sich immerhin ins Feld führen läßt, daß ein Satz keine bloße Liste von Wörtern ist, während das Alphabet durchaus als eine Liste von Buchstaben bezeichnet werden kann, deren Reihenfolge sich ohne Verlust vertauschen läßt. Wittgenstein scheint hier die These zu vertreten, beim Zusammenpassen von Subjekt und Prädikat handle es sich um eine lautbezogene Gewohnheitssache, der auf der Ebene der Bildung komplexer Bedeutungseinheiten nichts entspreche (vgl. Schneider 1992a). Im folgenden soll die Gegenthese begründet werden, daß die Beherrschung der grammatischen Strukturen im traditionellen Sinn einen wichtigen Teil der Sprachkompetenz bildet; ohne diese Teilfähigkeit können sich die „höheren", die freieren Teile der Sprachfähigkeit, die für die Literatur wie für die Philosophie gleichermaßen ausschlaggebend sind, nicht entwickeln. Was hier gemeint ist, läßt sich an einem einfachen Beispiel illustrieren: Brecht erzählt, Herr Keuner sei einmal gefragt worden, was er tue, wenn er einen Menschen liebe. Die Antwort habe gelautet: „Ich mache einen Entwurf von ihm und sorge, daß er ihm ähnlich wird." Wer nun die grammatische Mehrdeutigkeit in den Bezügen von „er" und „ihm" nicht erkennt (welche Seite soll an die andere angepaßt werden?), verpaßt (selbst bei zufällig korrektem Verständnis der Bezüge) den „Witz" der Geschichte, der genau in dieser Mehrdeutigkeit liegt und der sie von einem bloßen Gedanken oder einer psychologischen These unterscheidet. Wenn hier die Bedeutung der Schulgrammatik gegen Wittgensteins immer wieder zum Ausdruck kommende Geringschätzung verteidigt wird, soll damit aber nicht der umgekehrte Fehler gemacht werden, die schulgrammatischen (oder die ihnen angeblich zugrundeliegenden, erst von der Sprachwissenschaft aufgedeckten „tieferen") Ordnungen zu überschätzen und die Sprachkompetenz mit einem Verfahrenkönnen nach ausformulierbaren logisch-begrifflichen Regeln gleichzusetzen. Der Sprechakttheoretiker John R. Searle irrt sich (so die hier vertretene These), wenn er meint, Wittgenstein dadurch verbessern zu können, daß er aus vermeintlich namhaft zu machenden notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Gelingen von Sprechhandlungen in dem Sinne „konstitutive" Regeln zieht, daß die Sprachkompetenz mit einer so charakterisierbaren Regelkompetenz ohne Rest zusammenfällt (Searle 19831). Die Fähigkeit, 1 Zu Searles Positionierung Wittgenstein gegenüber vgl. das Gespräch mit Searle in Magee 1988.

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sich nicht nur im Regelbereich der Paradigmen, sondern darüber hinaus auch im Bereich des „Offenen" zu bewegen, ist ein wichtiger Teil der Sprachfähigkeit selbst. Schon ihre elementaren Teilfähigkeiten (wie die Anwendung eines bekannten Wortes auf einen neuen Fall) lassen sich ohne diese Kompetenz nicht verständlich machen, und sie ist auch auf den höheren Stufen ständig gefordert. Es bleibt also eine Spannung zwischen den „Ordnungen" und dem „Offenen", und es kommt wesentlich darauf an, der Versuchung zu widerstehen, sie durch eine Einseitigkeit der einen oder der anderen Art aufzulösen: Weder ist die schulgrammatisch signalisierte Art der Zusammengehörigkeit der Teile eines Satzes nur eine Sache der Hörgewohnheiten und damit semantisch irrelevant, noch läßt sich die semantische Seite der Sprachfahigkeit vollständig durch schulgrammatische, logisch-begriffliche oder sprechhandlungstheoretische Regeln erfassen, wobei die logisch-sprechhandlungstheoretischen Regeln sich in den Augen der Vertreter eines solchen Projekts von den schulgrammatischen Paradigmen durch ihre größere Differenziertheit, ihre Explizitheit und ihre Eindeutigkeit unterscheiden sollen. Aber auch diese Vision einer „Verbesserung" der traditionellen zu einer „logischen" Grammatik geht am Kern der Sprachfahigkeit vorbei. Dies also sind die Thesen, die in den folgenden Abschnitten plausibel gemacht werden sollen.

Wittgensteins abweichender Gebrauch des Wortes „Grammatik" Ich möchte im Sinne der Teilfrage (a) zunächst die Besonderheiten von Wittgensteins Verwendung des Ausdrucks „Grammatik" charakterisieren. 2 Dabei wird sich zeigen, daß die Suche nach „tieferliegenden" Regeln, die im Unterschied zur „Oberflächengrammatik" die ganze Sprachfähigkeit darstellen könnten, sich zwar am Ende als verfehlt erweist, daß sie aber durchaus nicht von vornherein abwegig ist. Mir scheint, daß man ihre Motive verstehen muß, um ihre Vergeblichkeit zu begreifen. Als Ausgangspunkt wähle ich eine alltägliche Erfahrung, die wir immer wieder mit sprachlichen Äußerungen machen, nämlich die Erfahrung, daß die grammatische Richtigkeit einer Äußerung mit ihrer sinnbezogenen Unrichtigkeit einhergehen kann. Wir können nämlich leicht erkennen, daß die Eigenschaft eines Satzes, nach den Regeln der jeweils benutzten Sprache (schul-)grammatisch korrekt aufgebaut zu sein, allein noch nicht garantiert, daß dieser Satz wahr oder falsch sein kann. Sätze wie: „Das Gute ist nicht so rund wie das Schöne" oder: 2 Ich benutze in diesem Abschnitt z.T. Formulierungen, die ich erstmalig in Schneider 1996 verwendet habe.

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„Das Nichts selber nichtet" sind z.B. nach dem Verständnis Rudolf Carnaps erkenntnistheoretisch unzulässig, obwohl sie nicht gegen die Regeln der deutschen Grammatik verstoßen und obwohl der zweite Satz z.B. in einem poetischen Kontext, in dem es darum geht, das Lebensgefühl des Autors auszudrücken, nach Carnaps Meinung einen legitimen Ort haben kann (Carnap 1932, 1934). Dies bedeutet, daß wir als Sprecher einer natürlichen Sprache in der Lage sind, einen Unterschied zwischen der grammatischen Zulässigkeit eines Satzes einerseits und der erkenntnistheoretisch relevanten, „logisch-begrifflichen" Zulässigkeit desselben Satzes andererseits zu sehen. Und es können Fälle vorkommen, in denen ein und derselbe Satz grammatisch zulässig ist (weil er eine bestimmte grammatische Form verwirklicht), logisch gesehen aber unzulässig, unsinnig ist. Aus logischer Perspektive heißt er dann ein „Scheinsatz". Und es kann ferner vorkommen, daß zwei grammatisch gleich gebaute Sätze logisch gesehen ungleich aufgebaut sind. Die Erfüllung der grammatischen Formvorschriften reicht zur Garantie eines auf Wahrheit bezogenen Sinns offenbar nicht aus, und das Erkennen der grammatischen Zusammenhänge nicht für das Erkennen der logischen. Diese Erfahrung ist wohl unbestritten, und sie läßt schon erkennen, warum es unter Philosophen zu einer Verachtung der Grammatik kommen kann. Es gibt allerdings geteilte Meinungen darüber, wie diese Erfahrung einer Diskrepanz zwischen grammatischen und begrifflichen Eigenschaften von Sätzen zu deuten ist. Man hat versucht, sie unter Zuhilfenahme des Begriffs der Struktur zu beschreiben. Man kann dann etwa von zwei „Ebenen" sprechen, auf denen Sätzen jeweils eine Struktur zugeordnet werden kann. Z.B. würde man sagen, der Satz: „Im Wartezimmer sitzt der angebliche Lord" habe grammatisch dieselbe Struktur wie der Satz: „Im Wartezimmer sitzt der schottische Lord". Jeder sprachkompetente Hörer erkennt aber, daß sich das Wort „angeblich" auf die fragliche Person inhaltlich gesehen anders bezieht als das Wort „schottisch", denn man kann nicht sagen, die Person sei ein Lord mit der zusätzlichen Eigenschaft der Angeblichkeit, wohl aber, es handle sich um einen Lord mit der zusätzlichen Eigenschaft, ein Schotte zu sein. Diese Feststellung wird dann gern in die Aussage gekleidet, der Hörer unterscheide die grammatische Struktur (diejenige, die in beiden Sätzen die gleiche ist) von der inhaltlichen oder logisch-begrifflichen Struktur der Sätze, die in beiden Sätzen verschieden ist. Die inhaltliche Art der Zusammengehörigkeit der Wörter wird also als eine Struktur auf einer von der Grammatik verschiedenen („tieferen") Ebene gedacht. Der Hörer erkennt sie, obwohl sie an den grammatischen Formen offenbar nicht einfach abgelesen werden kann; er erkennt sie trotz der grammatischen Struktur, von der er sich nicht täuschen läßt. Es ist, als

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durchschaue er die grammatische Struktur als eine durchsichtige Verkleidung, durch die hindurch er auf die logische Struktur blicken kann. Durch die Struktur der grammatischen Formen hindurch erkennt er die Struktur der inhaltlichen Verhältnisse, die logisch-begriffliche Struktur. Das O h r erfaßt die grammatische Struktur, der Geist die logische. Hat man sich so den Begriff der logischen Struktur eines Satzes zurechtgelegt, dann bietet sich der folgende Gedankengang als Ausarbeitung dieses Bildes an: D a ß wir in der Lage sind, eine Differenz zwischen der grammatischen Struktur eines Satzes und seiner logischen Struktur zu bemerken, heißt doch, daß wir fähig sind, die logische Struktur eines von uns verstandenen Satzes zu erkennen. Wenn wir sie aber erkennen können, dann müssen wir sie auch jemandem, der sie nicht so rasch sieht, erklären, darstellen können. Und wenn dies einem kompetenten Sprecher für jeden einzelnen ihm verständlichen Satz seiner Sprache gelingt (wovon auszugehen ist), dann müßte es ihm auch für die Gesamtheit aller Sätze dieser Sprache gelingen. Folglich müßte man eine „logische Grammatik" schreiben können, eine „logische Satzlehre". Deren Satzbildungsregeln sollten es dem Leser erlauben, über die Gesamtheit der erkenntnistheoretisch zulässigen, nämlich der logischen Strukturen von Sätzen in dem Sinne einen Überblick zu gewinnen, wie die Grammatik einer natürlichen Sprache demjenigen, der sie lernt, einen Gesamteindruck der natürlichsprachlichen Satzstrukturen verschaffe. Eine solche logische Grammatik könnte als die Darstellung, die Ausformulierung unserer logisch-begrifflichen Kompetenz gelten, Sinn von Unsinn zu unterscheiden. Diese Kompetenz erscheint hier als ein Aspekt unserer Fähigkeit, an der öffentlichen Institution der Sprache teilzunehmen, der durch die traditionellen Grammatik-Lehrbücher nicht erfaßt wird. Indem man die Regeln, von denen man sich vorstellt, sie würden diese Teilfähigkeit konstituieren, „explizit" macht (wie man dann gerne sagt), wird diese Seite der Kompetenz aus dem Bereich des bloßen Könnens in den des Wissens überführt, so wie es die üblichen Grammatiklehrbücher bereits für die Teilfähigkeit der Beherrschung der Seite der sprachlichen Richtigkeit von Sätzen tun. Von entscheidender Bedeutung ist nun, von welcher Art die angeprochene Fähigkeit ist, eine Differenz zwischen den grammatischen und den logisch-begrifflichen Eigenschaften eines Satzes zu erkennen. Schon die Ausdrucksweise, bei den logisch-begrifflichen Eigenschaften gehe es um die Erfassung einer Struktur, bedarf der Uberprüfung; und dies gilt auch für die Beschreibung, es würden „implizite Regeln explizit gemacht". Erst aus dieser Überprüfung wird sich ergeben, welches Darstellungsmittel zur Charakterisierung der angesprochenen Fähigkeit, Sinn von Unsinn zu unterscheiden, angemessen ist. Zwei Wege lassen sich hier aufweisen.

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Die Art und Weise, wie ich die Differenzerfahrung bisher beschrieben habe, legt den Weg nahe, den Rudolf Carnap eingeschlagen hat und der heute z.B. im Hintergrund aktueller Forschungen steht, die das Ziel verfolgen, das intelligente Verhalten des Menschen auf Computern zu simulieren oder zu modellieren. Carnap meinte, das Ziel der „grammatischen" Überlegungen innerhalb der Philosophie müßte die Erstellung einer „logischen Grammatik" sein. Eine solche Grammatik dachte er sich (parallel zur traditionellen Schulgrammatik) als ein Regelsystem, nur sollte es wesentlich genauer sein als die üblichen Grammatiklehrbücher. Wäre es erst einmal formuliert, dann würde es im Bereich der Wissenschaftssprachen die Schulgrammatik ersetzen können. Daß die Ausformulierung eines solchen Regelsystems in früheren Zeiten zwar immer wieder einmal projektiert, aber vor den bahnbrechenden Arbeiten des Logikers Gottlob Frege (bei dem Carnap gehört hatte) auch in Teilbereichen noch nie durchgeführt worden war, könnte man in der Verborgenheit der logisch-begrifflichen Regeln begründet sehen, die von den Grammatiken verstellt werden und von. den Philosophen daher lange nicht korrekt erkannt wurden. Es scheint eine Folge dieser Tatsache zu sein, daß man die logischen Regeln nicht in der Schule (nachträglich zum primären Spracherwerb) auf ausdrückliche Weise, als formulierte Regeln lernt. Wer nicht Logik studiert, hat sie sein Lebtag nur „implizit", durch Mitmachen gelernt. Dies heißt nach dieser Vorstellung aber nicht, daß es nicht möglich wäre, das in Kindertagen „implizit" erworbene praktische Können in die Gestalt eines Wissens zu bringen, in die Gestalt ausdrücklich niedergeschriebener Regeln. Dies Wissen, sagt man, sei doch offensichtlich vorhanden, denn der Sprecher verhalte sich bei hinreichender Besonnenheit nach logischen Regeln. Und im Fall der Grammatik haben wir ja (sowohl in ontogenetischer als auch in phylogenetischer Betrachtungsweise) ebenfalls eine nachträgliche Formulierung von Regeln vor uns, die ein Gebiet betreffen, dessen erste Aneignung ohne formulierte Regeln erfolgt. Mit der Logik könnte es sich doch ebenso verhalten. Ihre Strukturen werden im Kontext dieses Gedankengangs als etwas Vorhandenes aufgefaßt; sie sind nach dieser Vorstellung zunächst „hinter" oder „unter" der grammatischen Struktur verborgen, sie können aber durch eine eigene Anstrengung in Gestalt eines expliziten Regelsystems ans Licht gebracht werden. 3 Soviel zur ersten Weise, sich den logisch-begrifflichen Bereich der Sprachkompetenz vorzustellen. Wenn ich mich nun dem besonderen Grammatikbegriff Wittgensteins zuwende, geht es mir darum zu zeigen, daß es nicht dieses Ziel ist, das er im Auge hatte, weil er die Voraussetzungen für diese Zielsetzung nicht teilte. Weder 3 Für eine Kritik an dieser Vorstellung vgl. Dreyfus 1992 u n d 1993 sowie Schneider 1992b; zur Reichweite der Arbeiten Freges vgl. Schneider 1992a.

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glaubte Wittgenstein, daß es eine begrifflich-logische Struktur „hinter" unserem Denken und Sprechen bereits vorliegend „gibt", noch meinte er, es sei sprachphilosophisch sinnvoll oder auch nur möglich, ein Medium mit einer begrifflich-logischen Struktur zu entwerfen, dessen grammatische Regeln dafür sorgen könnten, daß ein Benutzer dieses Mediums „automatisch" im Bereich des Sinnvollen bleibe, wie Carnap meinte. Dies heißt auch, daß Wittgenstein mit dem Ausdruck „Grammatik" etwas bezeichnet hat, das von dem, was sich Carnap einmal unter einer „logischen Syntax" vorstellte, sehr weit entfernt ist. Und mir scheint, daß es philosophisch aufschlußreich ist, sich den tiefgreifenden Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Satzlehren klar zu machen. Es ist vielleicht das wichtigste Merkmal von Wittgensteins Begriff der Grammatik, daß er keine Struktur bezeichnet. Wittgenstein deutet die oben angesprochene Erfahrung der Diskrepanz zwischen der grammatischen Zusammengehörigkeit der Teile eines Satzes und ihrer inhaltlichen Zusammengehörigkeit nicht auf die vorhin naheliegend scheinende Weise, nämlich nicht als Indiz dafür, daß wir neben oder „unter" der schulgrammatischen Struktur eines Satzes noch eine zweite, eine logische Struktur erkennen, die sich durch ein zweites (logisches) Regelwerk darstellen lassen würde. Das Erkennen der inhaltlichen Zusammengehörigkeit der Teile eines Satzes (also etwa das Erkennen der Beziehung zwischen „angeblich" und „Lord" im Gegensatz zu der zwischen „schottisch" und „Lord") ist im Fall einer Diskrepanz zwischen Grammatik und Logik nach Wittgensteins Deutung nicht das Erkennen einer zweiten Struktur. Es gibt (bei verschrifteten und durch Grammatikbücher erfaßten Sprachen 4 ) nur eine einzige Struktur, nämlich die, über die die Schulgrammatik spricht, und diese liegt offen zutage. Wie ist dann aber unsere Erfahrung einer Diskrepanz zu verstehen, die auch Wittgenstein nicht leugnet? Er deutet sie als eine Spannung zwischen verschiedenen Gebrauchsweisen von Ausdrücken und speziell auch zwischen verschiedenen Gebrauchsweisen von Ausdrucks/b/w« und damit von Arten von Ausdrucks Verbindungen. Daß wir ein und dieselbe Ausdrucksform (z.B. den Genitiv oder die Nominalisierung) auf verschiedene Weisen gebrauchen können, erscheint ihm nicht als Mangel, sondern als ein wichtiges Merkmal unserer Sprachfahigkeit und der Arbeitsweise der natürlichen Sprachen. Dies zu können ist ein Teil dessen, was man mit dem Satz: „Ich spreche Deutsch" meint. Wittgenstein ist nun der Meinung, in der Geschichte der Philosophie seien viele Fragen als Sachfragen behandelt worden, bei denen es sich, genau gesehen, um sprachbezogene Fragen handelt. Dazu gehören Fragen, die den Sinn einer Problemformulierung betreffen, z.B. den Sinn

4 Zur Rolle der Verschriftung für unser Sprachverständnis vgl. Stetter 1997.

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der These, es gebe eine kausale Beeinflussung von der Seele auf den Körper eines Menschen. Wie haben wir die Ausdrücke „die Seele" und „kausaler Einfluß" hier zu verstehen? Liegt hier eine unzulässige Fortführung einer Nominalisierung (vom Adjektiv „seelisch" zum Nomen „die Seele") vor, so daß die Frage nach einem Kausalverhältnis gar nicht gestellt werden kann? Um die Besonderheit solcher Fragestellungen charakterisieren zu können, braucht Wittgenstein ein Wort, mit dem er diesen Sprachbezug im Gegensatz zum Sachbezug zum Ausdruck bringt. Hier ist der Platz, an dem er das Wort „Grammatik" einsetzt und sagt, es gehe ihm um grammatische, nicht um erfahrungsbezogene, sich an den behandelten „Sachen" entscheidende Fragen. Diese Wortwahl ist im Lichte der intendierten Abgrenzung zwar verständlich, sie ist aber auch immer wieder irreführend, weil man das Wort „Grammatik" normalerweise mit einem Regelwerk verbindet. Was Wittgenstein beschreibt, läßt sich aber durch ein Regelwerk gerade nicht fassen. Die hier angesprochene Kompetenz geht in einer Regelkompetenz nicht auf. Sie enthält als eine wesentliche Teilfähigkeit die Kompetenz, sich im „Offenen" zurechtzufinden, insbesondere in den Übertragungen, die zu den vielen Weisen führen, wie die vergleichsweise wenigen Ausdrucksformen unserer natürlichen Sprachen gebraucht werden können. Dieses „Sich-zurechtfinden" heißt für die Aufgaben des Philosophen, daß er im Einzelfall legitime, im jeweiligen Kontext weiterführende sprachliche Fortsetzungen einer Gebrauchsweise von illegitimen, zu Scheinproblemen führenden Fortsetzungen unterscheiden kann. Es ist eine bekannte These Wittgensteins, daß sich viele traditionelle philosophische Probleme als Verwirrungen auf diesem Gebiet verstehen lassen. Die nötige philosophische Klärung ist dann eine auf dem Gebiet der „Grammatik" in seinem speziellen Sinn. Die Grammatik eines Ausdrucks zu kennen heißt also, den Platz oder den „Posten" in der Sprache zu kennen, an den der Ausdruck gehört. Dieser „Platz in der Sprache" ist durch die Angabe der Wortart und der Syntax im Sinne der Schulgrammatik nicht hinreichend charakterisiert. Vielmehr gehört die Kenntnis der vielfältigen Gebrauchsweisen zur Kenntnis des „Platzes in der Sprache" dazu. Und zur Kenntnis dieser Gebrauchsweisen gehört, wie erwähnt, insbesondere auch ein Sich-Zurechtfinden in den Projektionen, bei denen die Form eines Ausdrucks (z.B. die substantivische Form von „die Seele") uns über seine Verwendung täuschen oder im unklaren lassen kann (ist die Seele in dem Sinne ein Gegenstand, daß sie als eine Kausalursache in Frage kommt?).

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Schneider

Wittgensteins Meinung über die Schulgrammatik Wenn es eben hieß, der „Posten" in der Sprache, auf den ein Wort gehöre, sei durch die Angabe der Wortart und der Syntax im Sinne der Schulgrammatik nicht hinreichend bestimmt, klang darin die Unterstellung mit, eine solche Angabe sei gleichwohl notwendig. Wenn ich mich jetzt der oben formulierten Frage (b) nach Wittgensteins Meinung über die Schulgrammatik zuwende, möchte ich die These vertreten, daß er diese Notwendigkeit zwar nicht bis zum Schluß geleugnet, aber doch immer wieder unterschätzt und in seinen Schriften wenig entfaltet hat. Statt die Art des Zusammenwirkens zwischen den Ordnungen und dem Offenen, der Struktur und ihrer freien Übertragung genauer zu untersuchen und damit auch der traditionell so genannten Grammatik ihren systematisch bedeutenden Platz zuzuweisen, hat er in seiner Spätphilosophie immer wieder die Neigung gehabt, die schulgrammatische Seite der Sprache und überhaupt ihre strukturellen Aspekte gering zu achten. Man kann wohl sagen: Weil er so deutlich sah, wie wenig weit sie führt, ist er der Versuchung erlegen, sie zu gering zu achten. Es kommt hinzu, daß es ihm offenbar schwerfiel, sich von Komplexitätsmodellen zu lösen, die für ein Verständnis der Art der Komplexität der Sätze unserer Sprache gerade nicht weiterhelfen. Sein Ausblenden der tatsächlichen Funktion der Schulgrammatik und die zwar nachvollziehbare, aber gleichwohl irreführende Wahl des Ausdrucks „Grammatik" für die ihn interessierende Seite der Sprache haben erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß ein Autor wie John R. Searle auf die Idee kommen konnte, das, was Wittgenstein unter „Grammatik" verstand, in die Form eines Regelsystems für Sprechhandlungen zu bringen und dabei zu meinen, er würde dessen etwas chaotisch-impressionistische Ansätze endlich angemessen systematisieren (vgl. Searle 1983; Magee 1988). Auch die Aussage des Linguisten Avram Noam Chomsky, seine Idee der Tiefenstruktur habe mit Wittgensteins „Tiefengrammatik" etwas zu tun, ist ein Ausdruck dieses Mißverständnisses (vgl. Chomsky 1969).

Ungeeignete Komplexitätsmodelle im Hintergrund In den Vorarbeiten zu den Philosophischen Untersuchungen finden sich immer wieder Passagen, in denen Wittgenstein komplexe Sprachspiele erörtert, bei denen sich die Komplexität eines „Satzes" unmittelbar aus der Komplexität von Handlungen ergibt, die dem einschlägigen Sprachspiel auf der Seite der „Bedeutung" seiner Sätze zugeordnet sind. Der Aufeinanderfolge der Wörter im Satz entspricht z.B. eine Aufeinanderfolge einzeln ausführbarer Teilhandlungen. Diese

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Art von Komplexität läßt sich als „aggregathaft" beschreiben: Das jeweilige Ganze ist (sowohl auf der sprachlichen als auch auf der zugeordneten nichtsprachlichen Seite) eine geordnete Menge von Teilen. Der Satz erscheint als eine Menge von Wörtern, deren einziges Ordnungsprinzip die Reihenfolge ist, und der Reihenfolge der Wörter entspricht eine Reihenfolge des „Bezeichneten", z.B. die zeitliche Reihenfolge von Teilhandlungen. Die Äußerung eines Satzes scheint also der Vollzug einer geordneten Folge von auch selbständig vorkommenden Sprechhandlungen im illokutiven Sinne zu sein, d.h. von Sprechhandlungen in einem mehr als nur phonetischen Sinn. Natürlich ist jeder Satz phonetisch gesehen eine Aufeinanderfolge von Aussprechhandlungen. Dies macht ihn aber nicht zu einer Folge von Einwortsätzen, und es ist dieser Unterschied, der durch Wittgensteins frühe Komplexitätsmodelle verwischt wird. Was eine Folge von auch einzeln möglichen Sprechhandlungen zu einer Einheit verbindet, bleibt bei ihm im Dunkeln. Dies wird sehr anschaulich an einem Beispiel, das Wittgenstein im Brown Book erörtert: Eine Person A erzeugt Striche und Punkte als Zeichen für eine zweite Person B; die Zeichen geben B zu verstehen, welche Tanzschritte sie auszuführen hat, z.B. einen Schritt bei einem Strich und einen Sprung bei einem Punkt. Und Wittgenstein versucht, eine Analogie zur Sprache dadurch herzustellen, daß er einzelne Striche oder Punkte als „Wörter" ansieht und Kombinationen von Strichen und Punkten, die für komplexe Figuren des Tänzers B stehen, als „Sätze" (vgl. BIBr, 99). Worin liegt bei diesem Sprachspiel die Einheit eines „Satzes", und wie verhält sich diese Einheit zu derjenigen, die wir aus den Sätzen unserer Sprache kennen? Eine mögliche Antwort könnte lauten, es sei der größere oder kleinere Abstand zwischen den Punkten und Strichen, der den Beweggrund dafür abgebe, von „Sätzen" zu sprechen: Eine Gruppe von Zeichen, zwischen denen kleine Abstände herrschen, werde als Satz bezeichnet (und die Mitglieder dieser Gruppe als Wörter), während jeder größere Abstand als Abstand zwischen Sätzen aufgefaßt werde. Diese rein zeitliche Orientierung ist aber für ein Verständnis des auf unsere Sprache bezogenen Begriffs eines Satzes völlig unzureichend; es sind gewiß nicht nur die längeren Pausen, an denen wir erkennen, wann ein Satz zu Ende ist; was seine Teile verbindet, ist nicht nur ihre enge Nachbarschaft. Aber auch unserem Vorverständnis des Tanzens wird Wittgensteins Behandlung nicht gerecht. Er erörtert nicht, was das einheitsstiftende Prinzip hinter unserer Rede von der „Tanzfigur" sein könnte, er läßt z.B. die Tatsache außer Betracht, daß dieselben Bewegungselemente, je nach dem, was ihnen vorhergeht oder folgt, verschiedene Rollen spielen können, die wir mit Ausdrücken kennzeichnen können wie „Auftakt", „Überleitung", „abrupter Schluß" etc. Die internen Beziehungen zwischen den Zeichen läßt er außer acht und damit das, was in der na-

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türlichen Sprache die Grammatik im traditionellen Sinne zu einem wesentlichen Teil ausmacht. Das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat, so hatten wir schon oben bemerkt, ist gerade kein reines Zeitverhältnis. Ahnlich unbefriedigend in bezug auf die hier interessierende Frage ist Wittgensteins Versuch, die Sätze unserer Sprache in Analogie zu den Löcher-Mustern zu sehen, die man auf der Papierrolle eines mechanischen Klaviers erkennen kann (vgl. BIBr, 118). Dieses wird durch die Löcher so gesteuert, daß aus vielen Einzeltönen, die durch einzelne Löcher (die „Wörter") ausgelöst werden, eine Melodie (ein „Satz") entsteht. Man kann hier zwar zusammengehörige Löchergruppen erkennen, die voneinander einen geringeren Abstand haben als von den Löchern der nächsten Gruppe. Aber die Frage, was die Einheit der Melodie ausmacht, deren Beantwortung wie im Fall der Tanzfigur die internen Beziehungen zwischen den Elementen (hier: zwischen den Tönen) thematisieren müßte, bleibt unerörtert. Das Vorverständnis, das wir von der Art der resultierenden Ganzheit sowohl im Fall der Tanzfigur als auch im Fall der Melodie mitbringen, kann zwar die Erwartung stützen, hier könne eine Analogie zur Ganzheit des natürlichsprachlichen Satzes bestehen. Der Ganzheitscharakter der Tanzfigur und der Melodie wird in Wittgensteins Erörterungen aber nur suggestiv benutzt, er wird nicht aufgeklärt, und deshalb gewinnen wir aus diesen Analogien nichts für ein Verständnis der Einheit des Satzes. Ebenfalls im Braunen Buch erwägt Wittgenstein eine besondere Form des dann später vom Anfang der Philosophischen Untersuchungen her wohlbekannten Bauarbeiter-Sprachspiels. Seine Besonderheit besteht darin, daß Ketten von Äußerungen wie „Platte, Balken, Säule" vorgesehen sind, bei denen die Reihenfolge der Wörter die Reihenfolge anzeigt, in der das entsprechende Material zu bringen ist (vgl. BIBr, 83). Abermals ist deutlich, wie wenig dieses Komplexitätsmodell mit der Komplexität natürlichsprachlicher Sätze zu tun hat, wie sie die traditionellen Grammatiklehrbücher erfassen wollen.

Sprachliche Komplexität in den Philosophischen Untersuchungen Dieser in mehreren Varianten auftauchende Typus von Komplexität ist als ein Bezugspunkt für die Sprache auch in den Philosophischen Untersuchungen noch zu finden. Wittgenstein empfindet ihn offenbar noch immer als naheliegend, auch wenn er ihn nun kritisiert. Dies zeigt sich z.B. an der folgenden Überlegung, mit der er die Art der Verwandtschaft zwischen den beiden Sätzen: „Er kommt" und: „Ich erwarte, daß er kommt" problematisiert. Die Tatsache, daß die Sätze gewisse Teile gemeinsam haben (nämlich die Wortfolge: „Er kommt"), führt Wittgen-

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stein unmittelbar zu der (seinem fingierten Gesprächspartner unterstellten) Erwartung, auch die durch sie beschriebenen Vorgänge müßten etwas gemeinsam haben. Diese Erwartung entspricht den Verhältnissen in der oben geschilderten Tanzschritt-Sprache: Wenn in ihr zwei „Sätze" in Teil-Wortfolgen übereinstimmen, tun dies auch die Gegenstände (die Tanzfiguren) in Teil^Segmenten (Folgen von Tanzschritten). Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß Wittgenstein schreibt: „Wie schaut das aus, wenn er kommt? - Es geht die Tür auf, jemand tritt herein, etc. - Wie schaut das aus, wenn ich erwarte, daß er kommt? Ich gehe im Zimmer auf und ab, sehe zuweilen auf die Uhr, etc. - Aber der eine Vorgang hat ja mit dem andern nicht die geringste Ähnlichkeit! Wie kann man dann die selben Worte zu ihrer Beschreibung gebrauchen?" (PU, 444) Hier klingt noch die Erwartung an, die Teile eines komiexen Satzes sollten für Teil-Vorgänge eines komplexen Gesamtvorgangs stehen, so daß eine teilweise Übereinstimmung im Satz auf eine teilweise Übereinstimmung im beschriebenen Vorgang schließen läßt. Statt nun aber dieses Komplexitätsmodell durch einfache Gegenbeispiele als für die Komplexität sprachlicher Wendungen ganz offensichtlich ungeeignet zu erweisen (vgl. etwa: „drei Tage Regen" vs. „drei Tage kein Regen"), geht Wittgenstein einen Umweg, wenn er sich vorstellt: „Aber nun sage ich vielleicht beim auf und ab Gehen: ,Ich erwarte, daß er hereinkommt'. - Nun ist eine Ähnlichkeit vorhanden. ,Aber welcher Art ist sie?!'" Und seine Antwort lautet: „In der Sprache berühren sich Erwartung und Erfüllung." (PU, 4 4 4 f . ) Das bedeutet: Wo wir berechtigt sind, einer Person eine Erwartung zuzuschreiben, muß es stets die Möglichkeit geben, das Erwartete zu beschreiben. Es gibt keine Erwartung ohne ein Objekt der Erwartung. Da nun aber die Zuschreibung der Erwartung sich von der Beschreibung des Objekts der Erwartung als etwas schon Vorhandenem trotz dieser internen Beziehung unterscheiden muß, liegt es nahe, daß sie sprachlich gebildet wird durch eine Modifikation desjenigen sprachlichen Ausdrucks, mit dem das Objekt der Erwartung beschrieben wird. Dieser Modifikationsschritt (von der Beschreibung des erwarteten Vorgangs „er k o m m t " zur Beschreibung des „Vorgangs" der Erwartung: „Sie erwartet, daß er kommt") ist eine Veränderung, eine Erweiterung der Zugmöglichkeiten „in der Sprache". Und indem er auf diese sprachinterne Möglichkeit der Modifikation eines bereits gegebenen Ausdrucks durch einen hinzutretenden aufmerksam macht (wofür das simpelste Beispiel die Rolle des Wörtchens „nicht" ist), anerkennt Wittgenstein die Tatsache der internen Beziehungen zwischen Teilausdrücken komplexer Sätze. Das Wort „intern" bedeutet hier, daß diese Beziehungen nicht Relationen nur nachzeichnen, die zwischen den bezeichneten Dingen oder Vorgängen bereits bestehen. Daß Wittgenstein sich auch noch vorstellt, der Wartende würde laut vor sich hin sprechen, und dann enthalte seine Äußerung als Teil genau die

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sprachliche Wendung, die auch zur Beschreibung des erwarteten Vorgangs dienen könne, macht den Umweg aus. Mit der ausdrücklichen Anerkennung solcher interner Beziehungen zwischen den Teilen eines Satzes hat Wittgenstein seine älteren Komplexitätsmodelle verlassen, bei denen sich, wie wir gesehen haben, die sprachliche Komplexität (das Aufeinanderfolgen der „Wörter" im „Satz") z.B. aus der zeitlichen Reihenfolge von nichtsprachlichen Teilhandlungen, zu denen sprachlich aufgefordert wurde, unmittelbar abbildend ergab. Die Komplexität des Satzes spiegelt nicht einfach die Komplexität des Vorgangs, für den er steht (vgl. Schneider 1983). Wenn wir aber im Sinne dieser neuen Einsicht nach den Möglichkeiten fragen, die es dafür gibt, daß die Teilausdrücke eines Satzes andere Teilausdrücke desselben Satzes modifizieren, dann umfaßt diese Frage die Teilfrage nach den möglichen grammatischen Beziehungen zwischen den Bestandteilen eines Satzes im traditionellen, schulgrammatischen Sinn. Die Erörterung dieser Beziehungen müßte also als sprachphilosophisch relevant anerkannt werden. Die Arten der „Berührungen in der Sprache", die hier am Verhältnis zwischen Erwartung und Erfüllung sichtbar wurden, sind nicht allein eine Sache von Gehör und Gewöhnung. Eine solche „Berührung" ist z.B. die von Subjekt und Prädikat. Folgt daraus, daß Wittgensteins Mißachtung der Schulgrammatik einfach als ein Fehler anzusehen ist, oder läßt sie sich als eine bloße Uberzeichnung einer These verstehen, der wir zustimmen können? Die Antwort ergibt sich, wenn wir uns an das erinnern, was oben zu den Besonderheiten seines abweichenden Grammatikbegriffs und zu seiner Deutung der Erfahrung einer Diskrepanz zwischen der begrifflichen und der schulgrammatischen Art der Zusammengehörigkeit der Teile eines Satzes gesagt wurde. Diese Aspekte können wir nun zu seiner eher zögerlichen Anerkennung des Grammatischen und seiner offenbar nicht ohne Mühen vollzogenen Lösung von falschen Komplexitätsmodellen in Beziehung setzen. Wittgenstein anerkennt sprachinterne Beziehungen zwischen den Teilen von Sätzen, die keine sprachexternen Beziehungen widerspiegeln. Er sieht z.B., daß man Sprachspiele, die mit Einwortsätzen gespielt werden, durch Hinzufügung weiterer Wörter so modifizieren kann, daß ein Spiel entsteht, das einerseits ganz neu ist, das andererseits aber auf der Kompetenz, das alte Spiel zu spielen, aufbaut. So werden die Wörter des Einwortsatz-Sprachspiels vom Anfang der Philosophischen Untersuchungen zu Teilen des neuen Spiels, ohne daß das neue, komplexe Sprachspiel als Teil das alte Spiel in einem illokutiven Sinne enthalten würde. Um ein simples Beispiel zu nennen: Wer „nicht a" behauptet, vollzieht nicht die Behauptung von „a" als Teilhandlung, obwohl die Äußerung von „a" ein nicht-zufälliger Teil der Äußerung von „nicht a" ist. Die Beziehung zwischen „nicht" und „a" ist eine Beziehung „in der Sprache". Wenn wir sagen, mit „nicht a"

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werde die Abwesenheit des Zustandes a ausgesagt, dann ist diese Abwesenheit keine Eigenschaft, kein „Teil" des Zustandes a. Wittgenstein sieht also die Notwendigkeit, von der Funktion von Wörtern in Sätzen zu sprechen, und dies läßt sich zumindest als erster Schritt zu dem Eingeständnis verstehen, daß das Gebiet, von dem die Schulgrammatik handelt, auch philosophisch wichtig zu nehm e n ist. Auf das oben erörterte Beispiel bezogen bedeutet dies: U m zu verstehen, was Erwartungen sind (um eine ontologische Frage zu beantworten), m u ß man die Art, wie sich Erwartung und Erfüllung in der Sprache „berühren", verstehen. Wittgenstein sagt in diesem Zusammenhang: „Man bedenkt nicht, daß man mit den Worten rechnet, operiert, sie mit der Zeit in dies oder jenes Bild überführt." (PU, 449) Die Möglichkeiten dieser „Operationen" sind wesentlich durch das mitbestimmt, was traditionell „Grammatik" heißt, sie gehen allerdings, wie wir gleich sehen werden, weit darüber hinaus in den Bereich dessen, was die Schulgrammatik als „offen" behandeln m u ß (vgl. Schneider 1997c). Wenn wir n u n , Wittgenstein entgegenkommend, nach einem zustimmungsfähigen Grund dafür suchen, dieses Gebiet trotzdem zu einer Sache des Gehörs zu erklären, zu einem O b e r f l ä c h e n p h ä n o m e n , das uns über die „tieferen" Sachverhalte täuschen kann, so bietet es sich an, ihn darin zu sehen, daß die Erfassung der grammatischen Zusammenhänge für die Behandlung philosophischer Fragen zwar (wie hier gegen Wittgenstein behauptet wurde) notwendig, aber (wie n u n deutlich zu machen ist) keineswegs hinreichend ist. Man würde dann sagen: Wenn wir mit einem Satz konfrontiert sind wie: „A hatte B gemeint, als er vorhin mit dem Finger jemanden zu sich heranwinkte", müssen wir zwar „mit dem O h r " erfassen, daß „A" das Subjekt und die Verbform „hatte gemeint" das Prädikat ist. Wenn wir aber glauben, daß dies bedeute, daß das Meinen eine Tätigkeit sei, die A zusätzlich zu seinem Heranwinken auch noch ausgeführt habe, d a n n täuschen wir uns. Auch wenn hier nicht auf die Gründe eingegangen werden kann, die Wittgenstein gegen die Vorstellung v o m Meinen als einer inneren Tätigkeit vorbringt, 5 wird doch schon aus den bisherigen Überlegungen heraus der folgende bekannte Passus zustimmungsfähig: „Man könnte im Gebrauch eines Worts eine .Oberflächengrammatik' von einer .Tiefengrammatik' unterscheiden. Das, was sich uns am Gebrauch eines Worts unmittelbar einprägt, ist seine Verwendungsweise im Satzbau, der Teil seines Gebrauches - könnte man sagen - den man mit dem O h r erfassen kann. - U n d n u n vergleiche die Tiefengrammatik, des Wortes .meinen' etwa, mit dem, was seine Oberflächengrammatik uns würde vermuten lassen. Kein Wunder, wenn man es schwer findet, sich auszukennen." (PU, 664)

5 Vgl. ausführlicher dazu Schneider 1997a; die dort erörterte Wittgenstein-Stelle ist PU, 661 ff.

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Die Schulgrammatik darf in dem Sinne als „oberflächlich" bezeichnet werden, daß die Verbform „hatte gemeint" im Fall des genannten Beispiels eine Tätigkeit eines Subjekts anzuzeigen scheint an einer Stelle, an der sich zwar eine handelnde Person findet, nicht aber eine zum Winken hinzukommende Tätigkeit. Daß Wittgenstein die schulgrammatischen Eigenschaften des Satzes als eine Sache des Gehörs darstellt, ist dann zwar insofern verständlich, als man sagen kann, wir würden auch bei einem Phantasiewort wie „karulieren" hören, daß es ein Verb ist, und dies Hören sei unabhängig vom Verständnis des (hier gar nicht vorhandenen) Sinnes möglich. 6 So scheint das auf die mögliche Verwendung im Satzbau bezogene Hören dem Verstehen des Sinnes (der möglichen Verwendung in der Praxis der Sprache) unvermittelt gegenüberzustehen. Die These, die Schulgrammatik sei eine Sache des Gehörs, ist aber trotzdem falsch, insbesondere dort, wo Wittgenstein den Sachverhalt mit der Gewöhnung an die willkürliche, inhaltlich nicht signifikante Reihenfolge der Buchstaben des Alphabets vergleicht. Denn mit der finiten Verbform „hatte gemeint" oder „hatte karuliert" beherrschen wir zugleich ein Paradigma für eine mögliche Art des Zusammenhangs zwischen Teilen von uns verständlichen Sätzen. Und dies bedeutet, daß wir über Beispiele sinnvoller inhaltlicher Ausfüllungen des Paradigmas verfügen, auch wenn wir dann in einem zweiten Schritt (d. h. nach der inhaltlichen Beherrschung des Paradigmas) „rein akustisch" in der Lage sind, „karuliert" als Verbform zu identifizieren. Das „Erfassen mit dem Ohr" ist also im Fall des Phantasiewortes parasitär gegenüber einem inhaltlichen Verständnis, das über das Memorieren eines gewohnten Klangs entschieden hinausgeht, weil dem Klang eine Art, bedeutungsvoll zu sein, zugeordnet ist. Das bedeutet für das genannte Beispiel, daß der Hörer den Ausdruck „hatte gemeint" zunächst als grammatisch gleichförmig mit Ausdrücken wie „hatte gehustet" erkennen muß und insofern als „eine Tätigkeit ausdrückend". Der mit dem Ohr zu erfassende Gleichklang mit paradigmatischen anderen Fällen führt ihn zum inhaltlich verstandenen Täter/Tätigkeit-Schema. Das Erkennen des Gleichklangs ist insofern mehr als ein akustisches Wiedererkennen; der Gleichklang gibt nicht mehr, aber auch nicht weniger als einen „Fingerzeig" zum inhaltlichen Verständnis von: „Ich hatte ihn gemeint." Das volle Erfassen dieses Inhalts verlangt nun aber nicht einfach die Kenntnis, welche Tätigkeit es ist, für die das Wort „meinen" steht. Was fehlt, ist nicht einfach ein vorzuweisendes Muster, die Vorführung eines Exempels, wie es der Fall wäre, wenn dem Hörer zu dem ihm bekannten Wort „husten" nun noch das Wort „niesen" beizubringen wäre. Die Verbform gibt vielmehr (ähnlich wie es

6 Das Beispiel stammt von Carnap 1934.

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Metaphern tun) nur einen Wink; der Hörer muß, wenn er das Wort sich aneignet, über die Verbform hinaussteigen, er muß sie projizieren in das zu erschließende Gebiet einer besonderen Klasse von sogenannten „inneren Tätigkeiten", die ihren „äußeren" Verwandten zugleich ähnlich und unähnlich sind. Das Verständnis dieser erschließenden Projektion, des syntaktisch-metaphorischen Charakters der Verbform, 7 ist hier das Erfassen desjenigen, das Wittgenstein „die Grammatik" des Ausdrucks „ich hatte ihn gemeint" nennt. Und es ist deutlich, daß dieser Verständnisschritt gerade im Uberschreiten dessen besteht, was traditionell unter „Grammatik" verstanden wird. Trotzdem wird die Schulgrammatik hier aber so wenig entbehrlich wie es der Teilausdruck „Virus" in der Metapher „Computervirus" ist; nur unter Benutzung der traditionellen Grammatik gelangt man dazu, sich in dem Bereich zurechtzufinden, den er selbst irreführenderweise „die Grammatik" nennt. Wittgenstein betont also zu Recht, daß die Erkenntnis der schulgrammatischen Form für die Aufklärung begrifflicher Probleme bei weitem nicht hinreicht. Die besondere Schärfe, die er dieser Einsicht dadurch gibt, daß er die Schulgrammatik eine Sache der „Oberfläche" und des „Gehörs" nennt, wird dadurch noch besser verständlich, daß er darüber hinaus der Auffassung ist, es sei nicht möglich, diese Lage durch die Erarbeitung einer „logischen Syntax" zu verbessern. Jede Satzlehre, auch eine logische, muß nach den Überlegungen Wittgensteins „oberflächlich" bleiben, wenn sie nicht auf eingeschränkte Sprachen begrenzt bleibt. Die Vielfalt des Gebrauchs ist durch eine ständige Vervielfältigung und Differenzierung der Formen nicht einzuholen. Nur auf hochspezialisierten Teilgebieten (man denke an die modernen Erweiterungen der Logik: deontische, epistemische, Fragelogik etc.) und unter Stillstellung jeder Form der Innovation oder auch nur der Anwendung auf unvorhergesehene Fälle könnte eine „logische Syntax" den Sinn von Aussagen „automatisch" garantieren. Solche begrenzten Felder sind aber wahrhaftig nicht die einzigen Gebiete, auf denen es philosophisch klärungsbedürftige Probleme gibt, die typischerweise auch gerade in der Tätigkeit der Begrenzung auftreten, bei den Schritten, die nötig sind, um ein überschaubares Feld allererst herzustellen. Wo sie auftauchen, muß daher „der Gebrauch" der Sprachformen, ihre Projektion in immer wieder andere Gebiete, ihre das Übliche ständig überschreitende neue Anwendung (die manchmal weiter führt, in anderen Fällen aber in die Irre), stets miterörtert werden, wie es oben bei der Charakterisierung von Wittgensteins abweichendem Begriff der Grammatik geschildert wurde. Jedes Verhaftetbleiben in den Formen ist in diesen Kontexten daher „oberflächlich". O b es sich um schulgrammatische

7 Ich habe vorgeschlagen, hier von „syntaktischen Metaphern" zu sprechen; vgl. Schneider 1990 und 1993a.

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F o r m e n handelt oder u m die einer „logischen S y n t a x " , i m m e r bleibt m a n bei ihnen im Bereich dessen, was m a n „ m i t d e m O h r erfassen" kann. W i l l m a n die b e g r i f f l i c h e n P r o b l e m e , mit denen es die P h i l o s o p h e n zu tun h a b e n , erörtern, d a n n m u ß m a n die F o r m e n zusammen mit den jeweils betrachteten Arten des G e brauchs erörtern, w o b e i die Art des G e b r a u c h s h ä u f i g nicht dem entspricht, was die F o r m erwarten läßt. Diese b e g r i f f l i c h e n K l ä r u n g e n nennt Wittgenstein „grammatisch".

Zusammenfassung: Die Ordnungen, das Offene und das Ohr W i r haben zu zeigen versucht, daß Wittgenstein die vertraute E r f a h r u n g einer D i s k r e p a n z zwischen der schulgrammatischen Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t der Teile eines geäußerten Satzes u n d d e m inhaltlich-begrifflichen Z u s a m m e n s p i e l dieser Teile im Lichte des m ö g l i c h e n Gebrauchs der Ä u ß e r u n g nicht durch die Unterscheidung zweier Strukturen zu deuten sucht. D a s richtige Erfassen der inhaltlich-begrifflichen Seite ist d e m n a c h nicht das Erfassen einer implizit v o r h a n d e n e n , v o n P h i l o s o p h e n oder Linguisten explizit zu m a c h e n d e n zweiten Struktur, die zur schulgrammatischen Struktur h i n z u k ä m e . D i e zugehörige Fähigkeit ist daher nicht v o n derselben Art wie die Fähigkeit, mit einem Regelsystem, einer „ T i e f e n g r a m m a t i k " oder einem Logikkalkül u m z u g e h e n . E i n e ganz anders geartete Fähigkeit m u ß zur R e g e l k o m p e t e n z h i n z u k o m m e n , w e n n die Sprachfahigkeit richtig erfaßt werden soll. B e z e i c h n e n wir den Bereich der R e g e l k o m p e t e n zen als den Bereich der O r d n u n g e n , so k ö n n e n wir sagen, die zweite, nicht als R e g e l k o m p e t e n z zu fassende Fähigkeit beziehe sich a u f den Bereich des „ O f f e n e n " , auf H a n d l u n g s w e i s e n , die v o n den Regeln nicht abgedeckt sind und auch v o n neuen, zur E r g ä n z u n g vorgeschlagenen Regeln nur im E i n z e l f a l l , nicht aber e r s c h ö p f e n d u n d „ein f ü r a l l e m a l " abgedeckt werden k ö n n e n . D i e philosophische Reflexion auf die bezüglich ihres Sinnes fraglichen sprachlichen Bewegungsmöglichkeiten in diesem Bereich des O f f e n e n hat Wittgenstein paradoxerweise eine Überlegung zur „ G r a m m a t i k " der erörterten Ausdrücke genannt. Diese Wortwahl drückt zwar aus, daß es sich u m eine nicht-empirische, auf die Möglichkeiten des sinnvollen Sprechens bezogene Erörterung handelt, sie lädt aber zu dem Mißverständnis ein, sie könne zu Ergebnissen führen, die in Gestalt einer „logischen G r a m m a t i k " oder einer „Logik der Sprechhandlungen" dargestellt und festgeschrieben werden können. Dies ist aber nicht der Fall, weil der Bereich des O f f e n e n gerade die nicht antizipierbaren Möglichkeiten betrifft, durch Regeln festgelegte Strukturen auf immer wieder neue Weise spielerisch und zugleich erkenntnisfördernd zu gebrauchen, ohne daß dieser Prozeß zu einem Abschluß k o m m t .

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Wer eine Struktur projizierend gebraucht und damit neue Handlungsmöglichkeiten erschließt, muß sie aber als Struktur kennen. So gesehen ist Wittgensteins Geringschätzung der Schulgrammatik zumindest irreführend; eine „grammatische Untersuchung" in seinem Sinne kann ohne ein korrektes Auffassen der „schulgrammatischen" Zusammenhänge der fraglichen Ausdrucksweisen nicht durchgeführt werden. Trotzdem ist seine Aussage, es sei das Ohr, mit dem wir in den philosophisch brisanten Fällen die „Oberflächengrammatik" erfassen würden, insofern nicht ganz abwegig, als sie drastisch zum Ausdruck bringt, wie wenig wir erfaßt haben, wenn wir z.B. den Ausdruck „meinen" als ein Verb erkennen. Man kann sagen: den nötigen Hintergrund, die Kenntnis der zugehörigen Paradigmata und ihrer sinnvollen Anwendung vorausgesetzt, fängt die eigentliche Arbeit des Sinnverstehens erst an. Wollen wir nicht bei der Alltagsauskunft stehen bleiben, das Meinen sei eine „innere Tätigkeit", dann hilft uns für eine weitere Aufklärung die Schulgrammatik (die am Klang des Wortes erkennbare Zugehörigkeit zur Klasse der Verben) nicht weiter. Die sprachliche Handlungsmöglichkeit, die es zu verstehen gilt, ist ein Zug im „Offenen"; es ist der Schritt, die Verbform so einzusetzen, daß sie streng genommen keine Tätigkeit mehr bezeichnet. Die Kenntnis der tätigkeitsbezeichnenden Rolle der Verben geht in diesen „Schritt ins Offene" zwar ein, sie ist nicht irrelevant. Und doch wird zugleich Neues erschlossen. Die Schulgrammatik ist nur das Fahrzeug, mit dessen Hilfe man das Neue erobert. Die Fähigkeit, das Fahrzeug zu benutzen, ist selber aber keine Regelkompetenz. Die Bewegungsfähigkeit im Offenen ist die Fähigkeit, die auch zur Produktion und zum Verständnis von Metaphern nötig ist. Sie ist eher spielerisch als rechnend. Hier ist der Ort, an dem einem im guten Fall die passenden Formulierungen „einfallen" - wie die Stare in den Kirschbaum. Hier „kommt" etwas zur Sprache, das von keinem Regelsystem präformiert ist (obwohl Regeln es begrenzen). Hier versteht man, zuhörend, den „Witz" einer Formulierung, oder man sieht ihn eben nicht, bis es einem dann doch vielleicht wie Schuppen von den Augen fällt. Die Fähigkeiten in diesem Bereich sind verschieden gut ausgebildet; es gibt die Möglichkeit des Übens, und es wäre ganz verfehlt, diesen Bereich nicht zur Sprachkompetenz zu rechnen. Die syntaktische Richtigkeit von Sätzen einer Sprache läßt sich vielleicht produktorientiert durch eine strukturelle Charakterisierung ihrer möglichen oberflächengrammatischen Formen angeben. Zur Beantwortung der Frage aber, welche Produkte in welchen Situationen sinnvoll sind, muß die höherstufige Kompetenz, von Strukturen Gebrauch zu machen, in die Betrachtung einbezogen werden. Sie ist gerade keine Regelkompetenz, auch wenn Wittgenstein ihr Gebiet irreführenderweise als „Grammatik" bezeichnet hat.

Jacques Bouveresse (Paris)

Was heißt „auf die gleiche Weise fortsetzen"? Man sagt freilich „das liegt alles schon in unserm Begriff" von der Regel, z.B. - aber das heißt nun: zu diesen Begriffsbestimmungen neigen wir. Denn was haben wir denn im Kopf, was alle diese Bestimmungen schon enthält?! (BGM, 409)

„Das gleiche" tun Wenn wir zu erklären versuchen, worin die Anwendung desselben Begriffs auf verschiedene Gegenstände oder derselben Regel auf verschiedene besondere Fälle besteht, sind wir mit dem Problem der Beschreibung eines Verfahrens konfrontiert, das darin besteht, in jedem Fall und in einer unbestimmten Zahl von Fällen „das gleiche" zu tun. Es drängt sich uns dabei sofort die Versuchung auf zu sagen, daß der Begriff oder die Regel auf einen neuen Fall dann und nur dann korrekt angewendet wurden, wenn man tatsächlich das gleiche getan hat wie von Anfang an. Der bekannte Einwand Wittgensteins lautet, daß die beiden Konzepte „das gleiche tun" und „eine Regel auf einen noch nie aufgetretenen Fall korrekt anwenden" sich wechselseitig derart implizieren, daß wir uns des ersten Konzepts nicht bedienen können, um für das zweite eine nichttriviale Erklärung zu geben: „Das Wort .Übereinstimmung' und das Wort,Regel' sind miteinander verwandt, sie sind Vettern. Das Phänomen des Ubereinstimmens und des Handelns nach einer Regel hängen zusammen." (BGM, 344) Wenn wir ein Rechenverfahren anwenden, „beurteilen (wir) Gleichheit und Übereinstimmung nach den Resultaten unseres Rechnens, darum können wir nicht das Rechnen mit Hilfe der Übereinstimmung erklären." (BGM, 228) Zu sagen, daß das Ergebnis der Rechnung dieses oder jenes ist, und zu sagen, das Resultat stimme mit der Regel und ihrer Anwendung bis zu diesem Punkt überein, läuft tatsächlich auf genau das gleiche hinaus. Für einen neuen Fall das gleiche wie zuvor tun bedeutet tatsächlich einfach tun, was die Regel für den betreffenden Fall vorschreibt: „,Tu dasselbe!' Aber dabei muß ich ja auf die Regel zeigen. Die muß er also schon anzuwenden gelernt haben. Denn was bedeutet der Ausdruck sonst für ihn?"(Z,305) Wittgenstein ist der Aufassung, daß es keinerlei grundlegenden Unterschied gibt zwischen dem Problem der neuen Anwendung eines Wortes wie „rot" auf

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eine Farbe und dem Problem einer neuen Anwendung der Regel „2 hinzufügen" auf eine Zahl. Er sagt, daß die Frage: „Wie weiß ich, daß ich im Verfolg der Reihe + 2 schreiben muß ,2004, 2 0 0 6 ' und nicht , 2 0 0 4 , 2 0 0 8 ' ? " der Frage gleicht: „Wie weiß ich, daß diese Farbe ,rot' ist?" ( B G M , 36). Und es gibt in seinen Augen auch keine Möglichkeit, einen Unterschied zu machen zwischen dem Fall, in dem „das gleiche tun" oder „in gleicher Weise fortsetzen" einfach die Wiederholung derselben Zahl bedeutet, wie bei der Fortsetzung der konstanten Folge 2, 2, 2 ..., und dem Fall, in dem „das gleiche tun" oder „in gleicherweise fortsetzen" die Wiederholung desselben Verfahrens in bezug auf jedesmal verschiedene Zahlen bedeutet, wie im Fall der Fortsetzung der Folge 1, 4, 9, 16, 25 ... Wenn zur Festlegung dessen, was im zweiten Fall bei jedem Schritt getan werden muß, so etwas wie eine Interpretation, eine Intuition oder eine Entscheidung notwendig ist, so gilt dies - entgegen dem, was man zunächst anzunehmen versucht ist - für den ersten Fall nicht weniger: „Einer Transformationsregel folgen ist nicht problematischer als der Regel folgen: .schreibe immer wieder das Gleiche!' Denn die Transformation ist eine Art Gleichheit." ( B G M , 331) Man kann in der Tat den Eindruck haben, für die Identität über zumindest ein „unfehlbares Paradigma" zu verfügen, das in der Identität einer Sache mit sich selbst besteht. Aber dieses Paradigma nützt uns überhaupt nichts, wie Wittgenstein bemerkt, wenn wir in bezug auf zwei Dinge entscheiden müssen, ob sie als identisch betrachtet werden können oder nicht: „Also sind zwei Dinge gleich, wenn sie so sind, wie ein Ding? Und wie soll ich nun das, was mir das eine Ding zeigt, auf den Fall der zwei anwenden?" (PU, 215) Es ist also vollkommen illusorisch anzunehmen, man verfüge über ein unfehlbares Paradigma für das, was man als „das gleiche tun" bezeichnet, wenn das Resultat der Regelanwendung immer identisch ist, wie im Fall der konstanten Folge 2 , 2 , 2 ..., obwohl dies vielleicht nicht zutrifft, wo es jedesmal variiert, wie im Fall der Folge 1, 4, 9, 16, 25 ... Denn man muß selbst im ersten Fall entscheiden, ob man mit zwei verschiedenen Dingen, die man getan hat, das gleiche getan hat oder nicht. „Denn wie weiß ich", fragt Wittgenstein, „daß ich nach der 500sten ,2' ,2' schreiben soll? daß nämlich an dieser Stelle ,2' ,die gleiche Ziffer' ist?" ( B G M , 36) Man kann den Eindruck haben, daß das, was ich schreiben soll, ein für allemal und ausdrücklich für alle Stellen festgelegt worden sei, da ich einfach jedesmal „die gleiche Zahl" schreiben soll. Anders gesagt: Es gibt anscheinend in einem solchen Fall keine Kluft, wie sie zwischen der allgemeinen Intention als Resultat des Verständnisses einer Regel und der Anwendung dieser Regel auf diesen oder jenen besonderen Fall, der noch nicht aufgetreten ist, möglich ist. Aber Wittgenstein hält den Unterschied für illusorisch. Selbst angenommen nämlich, man könnte tatsächlich sagen, daß eine besondere Intention für alle möglichen Fälle gebildet wurde, kann sich dasselbe Problem der Interpretation - falls es ein Problem die-

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ser Art gibt - sowohl f ü r diese b e s o n d e r e I n t e n t i o n wie f ü r die allgemeine Intent i o n e r n e u t stellen. U m korrekt f o r t f a h r e n zu k ö n n e n , b r a u c h e ich n i c h t z u v o r in G e d a n k e n alle Schritte d u r c h l a u f e n zu h a b e n , aber a u c h dies wäre n i c h t ausreichend, selbst w e n n es möglich wäre. W i t t g e n s t e i n will u n t e r a n d e r e m sagen, d a ß die richtige A n t w o r t auf diese Art P r o b l e m (für e i n e n n e u e n Fall „das gleiche" t u n , was m a n s c h o n f ü r die f r ü h e r e n Fälle getan hat) im Fall der A n w e n d u n g strenger u n d expliziter m a t h e m a t i s c h e r Regeln auf eine Weise festgelegt wird, die sich n i c h t g r u n d l e g e n d v o n d e m Fall u n t e r s c h e i d e t , in d e m sehr viel weniger strenge u n d im allgemeinen ü b e r h a u p t n i c h t explizite Regeln a n g e w e n d e t w e r d e n , wie sie d e n W o r t g e b r a u c h der Alltagssprache b e s t i m m e n . Die Regeln des ersten Typs v e r m i t t e l n d e n E i n d r u c k , selbst ein f ü r allemal alle m ö g l i c h e n Fälle zu erfassen u n d alle m ö g l i c h e n A n w e n d u n g s p r o b l e m e zu erledigen, w ä h r e n d die Regeln des zweiten Typs scheinbar n u r teilweise festlegen, was als korrekte A n w e n d u n g b e t r a c h t e t w e r d e n k a n n . W i t t g e n s t e i n ist aber der Ansicht, d a ß wir in b e i d e n Fällen n i c h t v o n einer „gut e n " A n t w o r t s p r e c h e n k ö n n e n , o h n e uns auf ein b e s t i m m t e s e n t s p r e c h e n d e s Verhalten der R e g e l a n w e n d u n g in n e u e n S i t u a t i o n e n zu b e z i e h e n . Die Korrektheit der R e g e l a n w e n d u n g ist im Fall der m a t h e m a t i s c h e n Regeln n i c h t m e h r als im Fall der Regeln anderer Art „an sich" festgelegt, d. h . u n a b h ä n g i g v o n e i n e m gewissen Z u t u n unsererseits. In d e n Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik sagt Wittgenstein, d a ß der Begriff einer m a t h e m a t i s c h e n Regel u n d der B e f o l g u n g einer m a t h e m a t i schen Regel n i c h t selbst ein m a t h e m a t i s c h e r Begriff ist. Er ist, wie der Begriff der Regel u n d der B e f o l g u n g einer Regel ü b e r h a u p t , u n l ö s b a r m i t e i n e m b e s t i m m ten m e n s c h l i c h e n Verhalten v e r k n ü p f t : „Der Begriff der Regel zur Bildung eines u n e n d l i c h e n D e z i m a l b r u c h s ist - n a t ü r l i c h - kein spezifisch m a t h e m a t i s c h e r . Es ist ein Begriff im Z u s a m m e n h a n g m i t einer fest b e s t i m m t e n Tätigkeit im m e n s c h lichen Leben. D e r Begriff dieser Regel ist n i c h t m a t h e m a t i s c h e r als der: der Regel zu folgen. O d e r a u c h : dieser letztere ist n i c h t weniger scharf definiert als der Begriff so einer Regel selbst. - Ja, der A u s d r u c k der Regel u n d sein S i n n ist n u r ein Teil des Sprachspiels: der Regel folgen." ( B G M , 409) Es wäre d e m n a c h ein g r u n d l e g e n d e r Irrtum zu glauben, der Begriff der Regel k ö n n t e vollständig bes t i m m t sein, w ä h r e n d das, was m a n als „einer Regel folgen" b e z e i c h n e t , n u r teilweise o d e r ü b e r h a u p t n i c h t b e s t i m m t sei. Die Regel k a n n e b e n n i c h t b e s t i m m t e r sein als das Verhalten, m i t d e m sie b e f o l g t wird; aber sie ist auch n i c h t weniger b e s t i m m t als dieses. H i e r i n liegt in gewisser Weise der Kern der E r w i d e r u n g auf d e n Skeptiker, der sich fragt, wie die v o n ihrer A n w e n d u n g g e t r e n n t e u n d v o n ihr u n a b h ä n g i g betrachtete Regel diese A n w e n d u n g wirklich b e s t i m m e n k a n n . M i t der Feststellung, d a ß der Begriff der B e f o l g u n g einer m a t h e m a t i s c h e n Regel n i c h t selbst ein m a t h e m a t i s c h e r Begriff ist, k a n n m a n der Versuchung der

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Vorstellung entgehen, es gebe Regeln, die, wie die mathematischen, über die Möglichkeit ihrer Selbstanwendung in dem Sinn verfügen, daß sie bereits alles unabhängig von uns und unserem Verhalten geregelt hätten. Das K o n z e p t der Regelanwendung bleibt in diesem wie in jedem anderen Fall wesentlich das einer Praxis. Es besteht eine natürliche Verbindung zwischen der platonischen K o n zeption, die Regeln als an sich und unabhängig von unseren möglichen Anwendungen inhaltlich bestimmt zu betrachten, und der mechanistischen Konzeption, daß sich die Regeln in unserem T u n sozusagen v o n selbst übertragen. Dieser K o n z e p t i o n zufolge ist die Praxis der korrekten Regelanwendung dann, wenn die Regel wirklich den Inhalt hat, den wir ihr glauben zuschreiben zu könn e n , das m e h r oder minder mechanische Resultat der von der Regel selbst gem ä ß diesem Inhalt ausgeführten Akte und kaum n o c h die spezifische Handlung des Subjekts, das die Regel anwendet. Dagegen wendet Wittgenstein ein, daß der Inhalt der Regel nicht diese Art Unabhängigkeit von der Praxis ihrer Anwendung besitzt und daß folglich die Regeln nicht diejenige explikative Kraft h a b e n , die wir ihnen zuzuschreiben geneigt sind, wenn wir sie im genannten Sinn als unabhängige Autoritäten betrachten. W i e David Pears sagt: „Wenn diese Regeln sich nicht zeigen k ö n n e n außer in dem Verhalten, das in ihrer Befolgung besteht, dann trägt dieses Verhalten zur Festlegung ihres Inhalts bei, und der traditionelle Gedanke, daß eine geschriebene Regel eine unabhängige Autorität darstellt, m u ß durch etwas Besseres ersetzt werden." (Pears 1995, 414) W i e wir gesehen h a b e n , wendet Wittgenstein aus genau diesem Grund seine besondere Aufmerksamkeit dem Fall der mathematischen Regeln zu, weil sie a u f den ersten Blick die Ausnahme zu bilden scheinen, die, wenn man so sagen kann, dieser Regel entgeht. Selbst wenn die Regeln des Sprachgebrauchs „mathematische" wären und selbst wenn die Idee, eine Sprache sprechen bestehe in einem Kalkül nach strengen Regeln, eine wirkliche Plausibilität beanspruchen k ö n n t e , entsteht doch schon aufgrund der einfachen Feststellung, daß der Ausdruck der Regel und sein Sinn selbst im Fall der mathematischen Regeln tatsächlich nichts als ein Teil eines Sprachspiels sind, ein kaum zu beruhigendes Gefühl der Unsicherheit, wenn nicht gar fast der Panik, sobald wir uns in ganzer Radikalität der Frage stellen, worauf genau die Regelhaftigkeit und die bemerkenswerte Ü b e r e i n s t i m m u n g beruhen, die wir im Verhalten der Sprachbenutzer b e o b a c h t e n , und worauf eigentlich die Uberzeugung beruht, daß sie in Zukunft fortbestehen werden, falls nicht ein völlig unvorhersehbares Ereignis eintritt. Eine der zentralen Ideen der Sprachphilosophie Wittgensteins lautet, daß „die Anwendung eines Wortes nicht überall von Regeln begrenzt" (PU, 6 8 ; vgl. auch 84) ist, oder auch, daß man einen Begriff so benutzen kann, daß „der U m f a n g des Begriffs nicht durch eine Grenze abgeschlossen ist." (PU, 6 8 ) In der Tat ge-

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schieht dies mit der Mehrzahl unserer Begriffe: „Es ist dort unnatürlich, eine Begriffsgrenze zu ziehen, wo für sie nicht eine besondere Rechtfertigung besteht, wo Ähnlichkeiten uns über die willkürlich gezogene Linie immer hinüberzögen." (BPP, II, 628) Das bedeutet, um mit Travis zu sprechen, daß „in gewisser Weise die gegenwärtige Semantik eines Elementes seine .zukünftige Anwendung' - und damit zumindest bestimmte seiner evaluativen semantischen Eigenschaften - offen läßt." (Travis 1989, 15) Aber gibt es andererseits nicht auch den Fall des Spiels, „das überall von Regeln begrenzt ist? dessen Regeln keinen Zweifel eindringen lassen; ihm alle Löcher verstopfen." (PU, 84) N u n führt das skeptische Paradox, das Interpreten wie Kripke Wittgensteins Texten e n t n e h m e n zu können glaubten, offenbar zu dem Resultat, daß selbst im Fall von Zeichen, deren Anwendung durch Regeln überall gut begrenzt scheint (wie das z.B. für das arithmetische Zeichen „+" der Fall ist) und die keine Schlupflöcher für ein Zögern oder einen Zweifel offen zu lassen scheinen, daß also selbst in einem solchen Fall in Wahrheit nichts wirklich bestimmt sein könnte und daß die anscheinend vollkommen strenge und explizite Semantik, die dem Zeichen zugeschrieben wurde, dennoch die zukünftige Anwendung in einem noch viel radikaleren und dramatischeren Sinne offen läßt als in dem Sinn, in dem man sagen kann, daß die Regeln der Verwendung eines Wortes der gewöhnlichen Sprache doch nicht alles festgelegt haben, selbst wenn sie bestimmte Dinge entschieden haben. Nach der verbreiteten Vorstellung, die man sich von der Art und Weise macht, in der ein Wort der gewöhnlichen Sprache bedeutet, scheint die Bedeutung, die dem Wort ursprünglich zugeschrieben wurde, eine angemessene Anwendung für alle möglichen und denkbaren Umstände vorzugeben, in denen die Verwendung des Wortes irgendwann zu erwarten ist. D. h. die betreffenden Umstände müssen trotz ihrer wesentlichen Unvorhersehbarkeit und trotz ihrer unendlichen Verschiedenheit auf die eine oder andere Weise zu Beginn vorhergesehen und in genau dem M o m e n t implizit berücksichtigt worden sein, in dem das Wort die Bedeutung erhalten hat, die es besitzt. Entsprechend wird angenommen, daß das Erfassen der Bedeutung auf eine Weise, die gar nicht anders als mysteriös erscheinen kann, eine Art vorweggenommene und blitzartige Berücksichtigung aller Umstände, in denen sich die Frage der Verwendung eines Tages stellen könnte, und einen Hinweis auf die angemessene Antwort in jedem dieser Umstände einschließt. Diese Konzeption ist so unplausibel, daß keine Notwendigkeit besteht, die Idee ernst zu n e h m e n , daß, selbst wenn sich unter gegebenen Umständen eine bestimmte Verwendung als einzige der bisherigen Bedeutung und dem bisherigen Gebrauch eines Wortes angemessene sofort aufdrängt, die A n n a h m e Sinn hat, diese Verwendung sei in irgendeinem Sinn schon bestimmt worden, bevor sich die Frage der Verwendung stellte, d. h. bevor die tatsächlichen Umstände faktisch eingetreten sind. Wahrscheinlich kann man in einem

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solchen Fall sagen, daß die Verwendung, obgleich sie in der Tat aus der ursprünglichen Bedeutung resultiert, dennoch zu Beginn in ihr nicht enthalten war, jedenfalls nicht in der Weise, in der ein Gegenstand in einer Schublade enthalten ist und darauf wartet, herausgenommen zu werden. Es gibt also einen Sinn, in dem die zukünftigen Verwendungen als in der Bedeutung enthalten betrachtet werden können, und ebenso einen Sinn, in dem das anscheinend nicht so ist. Und es ist ebenso schwierig, sich die außerordentliche Tatsache der virtuellen Gegenwart der potentiell unendlichen Verwendungsvielfalt in der Bedeutung selbst vorzustellen, die einfach auf die entsprechenden Umstände wartet, um sich zu aktualisieren, wie zu verstehen, daß jene Verwendungen von der Bedeutung bestimmt werden können, ohne doch in ihr enthalten zu sein. Vom Sinn eines Wortes wird angenommen, daß er dessen zukünftige Anwendungen bestimmt (und zwar im Idealfall vollständig). Aber weshalb sollte die Bedeutung eines Wortes bis zu einem gewissen Grad nicht ebenso von seinen zukünftigen Verwendungen abhängen? Betrachten wir zum Beispiel das folgende Problem, das Travis erörtert: „Stellen wir uns den (fiktiven) Fall vor, das Wort ,chair' werde (durch die Royal Academy) in die englische Sprache eingeführt. Wir wissen nicht, welches seine zukünftige Geschichte sein wird und könnten daher in diesem Moment auch nicht sagen, ob das Wort gegenwärtig etwas Wahres in bezug auf meinen Sessel (armchair) aussagt. Aus dieser Tatsache könnte man eine Schlußfolgerung ziehen. Wir denken, daß die Bedeutung von ,chair' in bestimmter Weise durch die vergangene Verwendung des Wortes bestimmt ist. Weshalb aber sollten wir für diesen besonderen Sinn der Zeit voreingenommen sein? Weshalb sollte die Semantik von ,chair' nicht auch abhängen können von den zukünftigen Verwendungsweisen des Wortes? Die zukünftigen Verwendungen könnten uns beispielsweise zur Revision unserer Konzeption dessen veranlassen, was das Wort ,chair' in Wirklichkeit von Anfang an bedeutet hat." (Travis 1989, 16) Wir sprechen gegenwärtig darüber, was ein Wort in einem gegebenen Moment bedeutet hat, und über die Art und Weise, wie sich seine Bedeutung im einen oder anderen Moment verändert hat. Aber das Eigentümliche von Aussagen des Typs „x bedeutet y" liegt auch in ihrer zeitlosen Verwendbarkeit und ihrer im allgemeinen wirklich zeitlosen Verwendung, als ob das, was in der Semantik eines Wortes möglicherweise erst mit der Zeit erscheint, einer Bedeutung des Wortes entsprechen könnte, die es in Wahrheit immer schon besessen hat. Gewisse die Bedeutung eines Ausdrucks betreffende Tatsachen (das, was der Ausdruck seit dem Moment seiner Einführung bedeuten sollte) könnten somit wesentlich von der Geschichte seines Gebrauchs abhängen. Eine solche Tatsache, die von einem bislang noch nicht aufgetretenen Gebrauch abhängt, kann jetzt noch nicht als Tatsache gelten, auch wenn sie in dem Moment, in dem sie als Tatsache in der Sprache verwendet wird, als eine Tatsache zählen wird, welche d i e ^ -

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genwärtige Semantik des Wortes und das daraus Folgende betrifft. Wer dies aber im jetzigen Moment als Tatsache bezeichnen würde, würde etwas Falsches sagen. Es gibt also gute Gründe dafür, den Gebrauch selbst „als einen Faktor" zu betrachten, „von dem die Semantik eines Elements abhängt." (Travis 1989, 17) Und diese Idee, daß wir der Verwendung einen gewissen Einfluß auf die Bedeutung zugestehen sollten, und daß wir sie, wenn möglich, zugleich mit der Idee einer Bestimmung (die man a priori mit guten Gründen als einseitig betrachten kann) der Verwendung durch die Bedeutung vereinen, steht am Ursprung einer entscheidenden Frage, die zweifellos zu den schwierigsten und wichtigsten gehört, die Wittgenstein der zeitgenössischen Sprachphilosophie hinterlassen hat. Man könnte sagen, daß der Autor der Philosophischen Untersuchungen in seinen Reflexionen über die Frage der Regeln tatsächlich zwei zentrale Probleme aufwirft, zwischen denen eine gewisse Symmetrie besteht. Das erste lautet, daß es keinen Grund zu der Erwartung gibt, daß die Intuitionen der Richtigkeit in der Verwendung in allen Fällen durch zuvor existierende Regeln gerechtfertigt werden könnten. Thomas Nagel bemerkt: „Es ist wichtig einzusehen, daß es, wenn die Leute nicht bewußt gewissen Regeln folgen, die in einem bestimmten Verhaltensraum ausgesprochen werden können, keine Garantie für die Entdeckung von Regeln gibt, von denen man sagen kann, daß sie ihnen unbewußt folgen Regeln der Art, daß man das Verhalten der Leute so betrachten kann, als ob sie diesen Regeln unbewußt folgten, und mit denen ihre Urteile über korrekte oder inkorrekte Verwendung übereinstimmen." (Nagel 1982, 237) Das zweite Problem lautet, daß es, wenn das skeptische Paradox über die Regeln ernstgenommen zu werden verdient, ebenfalls keine Garantie dafür gibt, daß selbst die ausdrücklich ausgesprochenen und bewußt befolgten Regeln einen Begriff der entsprechenden Korrektheit und Intuitionen der Korrektheit festlegen, die für die die betreffenden Regeln anwendenden Subjekte übereinstimmen. McDowell beschreibt die Vorstellung eines regelbestimmten Verhaltens, die Wittgenstein uns aufzugeben überzeugen will, mit folgenden Worten: „Was im Rahmen der betreffenden Praxis als ,das gleiche tun' gilt, ist durch seine Regeln festgelegt. Die Regeln legen die Schienen, auf denen sich im Rahmen der Praxis die korrekten Handlungen abspielen. Diese Schienen sind unabhängig von den Antworten und Reaktionen da, zu denen man eine Neigung erwirbt, wenn man in die Praxis selbst eintritt; oder, um diese Idee weniger metaphorisch auszudrücken: Es ist im Prinzip möglich, unabhängig von den Antworten eines an der Praxis beteiligten Individuums zu unterscheiden, ob eine Folge korrekter Bewegungen im Rahmen der Praxis tatsächlich einen Fall darstellt, in dem man das gleiche fortgesetzt hat. Die Beherrschung der Praxis zu erlernen, wird analog zu einer Handlung vorgestellt, die im Betrieb eines geistigen Räderwerks auf diesen objektiv existierenden Schienen besteht." (McDowell 1981, 145 f.)

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Wittgenstein bestreitet nicht, daß dieser oder ähnlichen Vorstellungen möglicherweise eine gewisse psychologische (oder neurophysiologische) Realität entsprechen könnte, unterstreicht aber, daß uns Sachverhalte dieser Art selbst dann nicht zu interessieren brauchen: „,Hat er nur das Richtige gesehen, diejenige der unendlich vielen Beziehungen, die ich ihm nahezubringen trachte, - hat er sie nur einmal erfaßt, so wird er jetzt ohne weiteres die Reihe richtig fortsetzen. Ich gebe zu, er kann diese Beziehung, die ich meine, nur erraten (intuitiv erraten) ist es aber gelungen, dann ist das Spiel gewonnen.' - Aber dieses .Richtige' von mir Gemeinte, gibt es gar nicht. Der Vergleich ist falsch. Es gibt hier nicht quasi ein Rädchen, das er erfassen soll, die richtige Maschine, die ihn, einmal gewählt, automatisch weiterbringt. Es könnte ja sein, daß sich in unserm Gehirn so etwas abspielt, aber das interessiert uns nicht." (Z, 304) Es besteht mit Sicherheit ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Fall eines Zeichens wie „ + " , dessen Verwendung, so scheint es, vollständig mit Hilfe von Regeln bestimmbar und auf diese Weise lehrbar ist, und dem Fall des Wortes einer natürlichen Sprache, für das so etwas nicht denkbar ist. Wie Wittgenstein sagt, lernen wir den Gebrauch von Worten in (mehr oder minder) bestimmten Umständen; aber diese Umstände sind uns nicht von Anfang an während des Erlernens vorgegeben, und wir sind im allgemeinen auch nicht in der Lage, sie selbst zu beschreiben. Es ist nicht einmal sicher, ob es so etwas wie eine allgemeine Beschreibung (ganz abgesehen von der Möglichkeit einer allgemeinen „wissenschaftlichen" Erklärung) der Verwendung eines Wortes überhaupt geben kann: „Die Beschreibung des Wortgebrauchs. Das Wort wird ausgesprochen - in welcher Umgebung? Wir müssen also etwas Charakteristisches in diesen einzelnen Vorfallen finden, eine Art Regelmäßigkeit. - Nun lernen wir aber den Wortgebrauch nicht mit Hilfe von Regeln. Wie könnte ich Einem denn eine Regel dafür geben, in welchen Fällen er zu sagen hat, er habe Schmerzen! - Dagegen aber gibt es eine U N G E F Ä H R E Gesetzmäßigkeit in dem Gebrauch, den ein Mensch tatsächlich von dem Worte macht. Ich will also sagen: es ist von vornherein nicht ausgemacht, daß es so etwas gibt wie ,eine allgemeine Beschreibung der Verwendung eines Worts'. Und wenn es also doch etwas derartiges gibt, - so ist nicht ausgemacht, wie bestimmt eine solche Beschreibung sein muß." (LSPP, I, 968 f.) Die Annahme ist trotzdem ganz natürlich, daß die Kenntnis der allgemeinen Regel im Fall einer Praxis wie der Sprache, die nicht in ausdrücklicher Weise vollständig kodifizierbar ist, durch so etwas wie das Begreifen eines Universellen ersetzt werden kann, das einem ähnlichen Mechanismus Platz schaffen soll, der die Verwendung auf den unabhängig von ihm existierenden Schienen aufrechterhält. Der „allgemeine Begriff", der bei der Wortverwendung angenommen wird, wird als ein hypothetischer Mechanismus vorgestellt, „den wir uns als et-

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was Statisches und zugleich das Geschehen Steuerndes vorzustellen neigen. Hier haben wir die Vorstellung eines Mechanismus, aus dessen Existenz folgt, daß wir ein allgemeines Wort in dieser oder jener Weise verwenden werden. Es schwebt uns der falsche Gedanke vor, die Verwendung eines Wortes sei so etwas wie das Abwickeln eines Fadens von der Spule - als wäre alles schon da und brauche nur abgehaspelt zu werden." (VI, 251) Das von Wittgenstein kritisierte Bild enthält zwei Komponenten: zum einen die Schienen, die unabhängig von demjenigen, der etwas tut, verlegt sind und die über eine potentiell unendliche Distanz das festlegen, was in jedem besonderen Fall heißt, das gleiche zu tun wie in allen vorhergehenden Fällen. In der platonischen Vorstellung, die man sich meist von der Natur und der Bedeutung der Regel macht, existieren diese Schienen selbst dann, wenn niemand der Regel folgt. Zum anderen gibt es den geistigen Mechanismus, der Ergebnis eines erfolgreichen Lernprozesses ist und der das Subjekt, nachdem er es erst einmal auf die Bahn gebracht hat, dort zu halten vermag, wenn alles normal abläuft. Mit einer gewissen Fehler- oder Abweichungstoleranz (für „Entgleisungen") soll der Mechanismus den Handlungen des Subjekts eine gleichbleibende Richtung aufzwingen. Das Verständnis einer Anweisung wie „2 hinzufügen" hängt von der Existenz eines psychologischen Mechanismus ab, der, sicher mit gewissen Möglichkeiten der Dysfunktion, das Verhalten des Verwenders beinahe in derselben Weise bestimmt wie ein Naturgesetz das regelmäßige Verhalten eines unbelebten Objekts. Und zu sagen, jemand habe die Anweisung verstanden, heißt die Hypothese aufzustellen, daß sein Verhalten von einem angemessenen psychologischen Mechanismus bestimmt ist und bestimmt bleiben wird. In der Philosophischen Grammatik bemerkt Wittgenstein zu dieser sehr natürlichen und sehr verlockenden Art, sich die Dinge vorzustellen: „Ich kann die Möglichkeiten der Anwendung eines Wortes im Kopf haben in dem Sinn, in welchem der Schachspieler alle Regeln des Schachspiels im Kopf hat; aber zugleich auch das ABC und das Einmaleins. Das Wissen ist das hypothetische Reservoir, woraus das gesehene Wasser fließt." (PG, 49) Zu sagen, daß Ideen wie die des unterliegenden psychologischen Mechanismus oder des hypothetischen Speichers, aus dem sich die Handlung speist, etwas irreduzibel Metaphorisches eignet, bedeutet, daß diese Ausdrucksweise, die sich uns unwiderstehlich aufdrängt, problematisch wird, sobald wir versuchen, sie als buchstäbliche Beschreibung dessen zu interpretieren, was sich abspielt, d. h. sobald wir versuchen zu verstehen, wie eine statische Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes, den wir postulieren, zugleich eine vorweggenommene Beschreibung der zukünftigen Verwendung sein kann. Ein empirischer Mechanismus (zum Beispiel ein psychologischer) kann Handlungen kausal erklären, deren Ausführung er bestimmt. Er kann aber selbst nicht

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einstehen für den auf der Grundlage des Regelverständnisses getroffenen Unterschied zwischen einer Handlung, die mit der Regel übereinstimmt, und einer solchen, die das nicht tut: „Der Begriff der Pflanze z.B. soll mich instand setzen, etwas als Pflanze zu erkennen, auf einen Befehl hin eine Pflanze zu bringen, ,Pflanze' zu definieren usw., und diese Phänomene werden als etwas aufgefaßt, was mit dem Begriff übereinstimmt oder nicht. Verstünden wir unter .allgemeiner Begriff' die Ursache der Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung, gäbe es keine Schwierigkeit, und dann wäre der Begriff etwas Existierendes, so etwas wie eine Säure, auf die es eine bestimmte Reaktion gibt. Wir wollen jedoch keine bloß kausale Beziehung zwischen dem Begriff und dem Phänomen, das mit ihm übereinstimmt oder nicht. Die Übereinstimmung, auf die es uns ankommt, ist gar nichts Erfahrungsmäßiges. O b etwas mit unserem allgemeinen Begriff übereinstimmt, ist nicht - wie im Falle eines Mechanismus, über den wir keine sicheren Vorhersagen machen können - eine Frage der Erfahrung. Wenn wir den Begriff als Naturphänomen auffassen, das uns etwa instand zu setzen vermag, ein allgemeines Wort anzuwenden oder seine Definition anzugeben, ist unsere Untersuchung eine psychologische. Dann finden wir uns nicht im Reich des ,Muß', sondern im Reich der Hypothesen, wo es um Wirkungen und Ursachen geht. Es ist jedoch verfehlt, die Untersuchung des allgemeinen Begriffs als Ermittlung der Ursachen und Wirkungen eines Naturphänomens aufzufassen." (VI, 253) Die Verknüpfung zwischen der Regel und einer korrekten Anwendung der Regel (und ebenso zwischen dem Verstehen der Regel und dem Erkennen einer besonderen Anwendung der Regel als korrekt) ist eine interne, apriori bestehende Verknüpfung, unabhängig von der Art von Reaktionen, die dem Mechanismus eigen sind, und von den Antworten, die er hervorbringt. Ein Mechanismus der Art, an die wir hier denken, kann sicherlich für den kausalen Aspekt einstehen, aber nicht für den eigentlich normativen Aspekt der betreffenden Fähigkeit. Wie Wittgenstein sagt, widerspricht eine einfach kausale Beziehung zwischen einer allgemeinen Idee und einem ihr entsprechenden Gegenstand oder zwischen einer Regel, der wir folgen, und einer Handlung, die mit ihr übereinstimmt, unserer Vorstellung davon, was es bedeutet, eine allgemeine Idee zu verwenden oder eine Regel anzuwenden. Und die einzige Beziehung, die aus dem Wirksamwerden eines wirklichen Mechanismus (sei dieser direkt bekannt oder im Gegenteil nur postuliert) resultieren kann, scheint eine Beziehung genau dieser Art zu sein. Die Bedeutung muß bereits in gewisser Weise, so glauben wir, die zukünftige Verwendung und die (gegenwärtige) Kenntnis der Bedeutung muß die Kenntnis aller zukünftigen Verwendungen einschließen. Wir sind daher geneigt, das Verstehen als einen aktuell gegebenen Zustand aufzufassen, von dem aus sich (wenn alles normal verläuft) im nächsten Moment die korrekte Verwendung ergibt.

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Aber zu sagen, daß die Regel diese bemerkenswerte Leistung (die Bestimmung der Gesamtheit ihrer korrekten Anwendungen) auf dem Umweg über das Verstehen vollbringt, das sich als wesentliches Zwischenglied zwischen die Regel und die weiteren Anwendungen schiebt, führt uns nirgendwohin, wenn die Art und Weise, in der die Verwendung aus dem Verstehen resultiert, schließlich als identisch betrachtet werden muß mit der Art und Weise, in der eine besondere Anwendung aus einer allgemeinen Formel resultieren kann. Eine korrekte Anwendung oder irgendeine Reihe korrekter Anwendungen ist höchstens Ausdruck oder Ergebnis eines Verstehens und nicht das Verstehen selbst. Wenn man aber sagt, das Verstehen reicht in dem Sinn definitiv über die Reihe der unter Umständen zu beobachtenden korrekten Anwendungen hinaus, in dem es die Quelle und die Erklärung aller möglichen korrekten Anwendungen enthält, dann will man damit einfach sagen (und was sonst sollte man auch sagen wollen?), daß das Verstehen sich auf die korrekten Anwendungen etwa wie eine allgemeine Formel auf besondere, potentiell unendlich viele Fälle bezieht, die sich aus ihr ergeben. Damit findet man sich wieder vor dasselbe Problem gestellt: „Das System innehaben (oder auch, verstehen) kann nicht darin bestehen, daß man die Reihe bis zu dieser, oder bis zu jener Zahl fortsetzt; das ist nur die Anwendung des Verstehens. Das Verstehen selbst ist ein Zustand, woraus die richtige Verwendung entspringt. Und an was denkt man da eigentlich? Denkt man nicht an das Ableiten einer Reihe aus ihrem algebraischen Ausdruck? Oder doch an etwas Analoges? - Aber da waren wir ja schon einmal. Wir können uns ja eben mehr als eine Anwendung eines algebraischen Ausdrucks denken; und jede Anwendungsart kann zwar wieder algebraisch niedergelegt werden, aber dies führt uns selbstverständlich nicht weiter. - Die Anwendung bleibt ein Kriterium des Verständnisses." (PU, 146) Die Schwierigkeit entsteht hier daraus, daß die Regel apriori und in unzeitlicher Weise bestimmt, was mit ihr in allen möglichen Fällen übereinstimmt, und zugleich den Eindruck vermittelt, die Verwendung in zeitlicher Erstreckung nur bestimmen zu können durch ihre für jeden neuen Fall in irgendeiner Art neue und spezifische Gesetzgebung. Wittgensteins Antwort besteht in diesem Punkt in der Bemerkung, daß das Wesen der Regel eben darin liegt, in gewissem Sinne ganz einfach den aus der Sicht der Geschichte der Anwendung bestehenden Unterschied zwischen den neuen und den alten Fällen aufzuheben oder ihm jedenfalls zugleich jede wirkliche Relevanz und jeden problematischen Charakter zu nehmen. Wie Gordon P. Baker und Peter M. S. Hacker, die Wittgenstein-Interpreten wie Kripke vorwerfen, in die „Falle der Neuheit" gegangen zu sein (d. h. des Problems, das die Anwendung der Regel auf noch nicht aufgetretene besondere Fälle darzustellen scheint), schreiben: „Das Wichtige an der Idee, daß ich eine Regel lerne, wenn ich addieren lerne, ist nicht, daß die Regel auf mysteriöse

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Weise eine einzige Antwort auf eine unendliche Zahl von neuen Fällen in der Zukunft festlegt (weniger noch, daß meine Intentionen dies tun). Eher könnten wir sagen, das Wichtige ist, daß es zur Natur der Operation gehört, die in einer Festlegung von Regeln besteht, daß die zukünftigen Fälle (in charakteristischer Weise) alte Fälle sind, so daß jede Regelanwendung darin besteht, aufs neue das gleiche zu tun." (Baker/Hacker 1984, 88)

Wie handeln Regeln? Wittgenstein spricht von „Metapher" auch in Hinblick auf unsere Neigung zu sagen, daß derjenige, der eine Regel anwendet, durch die Regel geleitet ist oder sich von ihr leiten läßt (genau dies suggeriert übrigens die Idee der Schienen, die mit dem Erlernen der Regel „gelegt" werden): „Aber werden wir nicht von der Regel geführt? Und wie kann sie uns führen, da ihr Ausdruck doch von uns so und anders gedeutet werden kann? d. h., da doch verschiedene Regelmäßigkeiten ihm entsprechen. Nun, wir sind geneigt zu sagen, ein Ausdruck der Regel führe uns, wir sind also geneigt diese Metapher zu gebrauchen." (BGM, 347) Das Problem ist: Wenn wir glauben, etwas „aufgrund der Regel" getan zu haben oder „weil" die Regel es uns vorgeschrieben hat, haben wir den Eindruck, in dem, was sich im Moment der Handlung abgespielt hat, eine besondere Erfahrung finden zu müssen (genau diejenige, wenn man so sagen kann, des an die Schienen gebundenen Fahrzeugs), die man die Erfahrung des „Weil" oder des „Einflusses" nennen könnte, und dennoch in unserer Erfahrung kein Element finden zu können, das wir so zu nennen bereit wären. In Wahrheit spielt sich folgendes ab: „Ich möchte sagen: ,Ich erlebe das Weil'. Aber nicht, weil ich mich an dieses Erlebnis erinnere; sondern, weil ich beim Nachdenken darüber, was ich in so einem Fall erlebe, dies durch das Medium des Begriffes ,weil' (oder .Einfluß', oder .Ursache', oder .Verbindung') anschaue." (PU, 177) Erst nachträglich kommt die „Idee jenes ätherischen, ungreifbaren Einflusses auf" (PU, 175), von der wir in Wahrheit keinerlei wirkliche Erfahrung besitzen. Sie soll der Tatsache Rechnung tragen, daß wir eben von der Regel geleitet wurden. Aber wie man sie auch betrachtet, die Regel ist keine Kraft, die mich an den Ort führt, zu dem sie mich gehen heißt: „Habe ich einmal eine Regel begriffen, so bin ich in dem, was ich weiter tue, gebunden. Aber das heißt natürlich nur, ich bin in meinem Urteilen gebunden darüber, was der Regel gemäß ist, und was nicht. Wenn ich nun eine Regel in der mir gegebenen Folge sehe - kann das einfach darin bestehen, daß ich, zum Beispiel, einen algebraischen Ausdruck vor mir sehe? Muß der nicht einer Sprache angehören?" (BGM, 328 f.)

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Führen wir eine Handlung nach einer Regel aus (oder, wie wir gern sagen: „unter dem Einfluß" der Regel), dann haben wir es anscheinend mit einer nichthypothetischen Form von Kausalität zu tun, die wir direkt erfahren können. Aber Wittgenstein betont, daß wir hier Ursache und Grund verwechseln: „Wenn ich der Regel folgend unter ,4' ,16' schreibe, so könnte es scheinen, als wäre hier eine Kausalität im Spiel, die nicht hypothetisch, sondern unmittelbar wahrgenommen (erlebt) wäre. (Verwechslung von ,Grund' und .Ursache'.)" (PG, 101) Eine Regel kann unsere Handlung auf eine Reihe verschiedener Arten beeinflussen, deren beträchtliche Vielfalt von der einheitlichen kausalen Beschreibung („Ich handle so aufgrund der Regel") verschleiert wird. Ich handle auch aufgrund der Regel oder unter dem Einfluß der Regel, wenn ich aus dem einen oder anderen Grund bewußt das Gegenteil dessen tue, was sie vorschreibt. Daher die Frage: „Welchen Nexus meine ich mit dem Satz: ,ich geh' hinaus, weil er es befiehlt'? Und wie verhält sich dieser Satz zu: ,ich geh' hinaus, obwohl er es mir befohlen hat'. (Oder: ,ich geh' hinaus, aber nicht, weil er es befohlen hat', ,ich geh' hinaus, weil er es mir befohlen hat, es nicht zu tun'.)" (Ebd.) Der Fall, in dem man einfach in Übereinstimmung mit einer Regel handelt, ist ein anderer als der, in dem man tatsächlich nach der Regel handelt (in einer Weise, die die Regel rechtfertigt); aber der Unterschied besteht nicht darin, daß im zweiten Fall, anders als im ersten, eine spezifische Kausalität der Regel angenommen wird, die die Handlung hervorbringt. Und es ist, wie Wittgenstein bemerkt, in solchen Fällen schwierig, von einer einförmigen kausalen Handlung der Regel zu sprechen, der wir uns tatsächlich beugen (wenn wir die Regel befolgen), die wir aber gegebenenfalls ebenso gut ignorieren, der wir zuwider handeln oder die wir sogar umkehren können. In den langen Ausführungen, die in den Philosophischen Untersuchungen dem Problem des „Lesens" gewidmet sind (PU, 156-178), bemerkt Wittgenstein, daß wir nie auf den Gedanken kämen, bei der Lektüre einen Einfluß der Buchstaben auf uns zu empfinden, würde uns nicht der Unterschied zwischen Buchstaben eines Ausdrucks, den wir verstehen, und einer beliebigen Folge von Zeichen auffallen. Es ist dieser Unterschied, den wir in Begriffen des Einflusses und der Abwesenheit von Einfluß interpretieren: „Wir bilden uns ein, wir nähmen durch ein Gefühl, quasi, einen verbindenden Mechanismus wahr zwischen dem Wortbild und dem Laut, den wir sprechen. Denn wenn ich vom Erlebnis des Einflusses, der Verursachung, des Geführtwerdens rede, so soll das ja heißen, daß ich sozusagen die Bewegung der Hebel fühle, die den Anblick der Buchstaben mit dem Sprechen verbinden." (PU, 170) Im Fall der Regeln sind wir genau dieser Art Versuchung ausgesetzt. Wir interpretieren den Unterschied zwischen einer Regel, die wir verstehen und die uns dazu bringen kann, gewisse Dinge zu tun, und einer Folge von Zeichen, die uns nichts sagt und keine Wirkung auf uns hat, in Begriffen des Einflusses und der Abwesenheit von Einfluß; und wir bilden uns

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ein, genau zu wissen, was es heißt, einer Regel zu folgen, wenn wir unmittelbar und direkt - vielleicht auch erst später, wenn unser Wissen über diese Dinge genügend fortgeschritten ist - objektiv von außen den Mechanismus beschreiben könnten, der die Verbindung herstellt zwischen unserer Wahrnehmung des Zeichens der Regel und unserer entsprechenden Handlung. Wittgenstein wendet sich gegen unsere Tendenz, die Handlung, zu der die Regel uns veranlassen soll, da wir ja, wie wir sagen, von ihr „geleitet" werden, als Zwang zu interpretieren, dem wir passiv unterworfen sind: „Was zwingt mich denn? - Der Ausdruck der Regel? - J a ; wenn ich einmal so erzogen bin. Aber kann ich sagen, er zwingt mich, ihm zu folgen? J a ; wenn man sich hier die Regel nicht als Linie denkt, der ich nachfahre, sondern als Zauberspruch, der uns im Bann hält." (BGM, 395). Wenn die Regel mich nötigt, so niemals in der Art einer rohen Kraft, deren Auswirkungen für mich erfahrbar wären, sondern einzig in dem Sinn, in dem sie die Norm darstellt, der gemäß ich meine Handlung regle. Die Regel bestimmt, was getan werden soll, und nicht, was getan wird. Wir sind es, die uns entscheiden, tatsächlich so zu handeln, wie zu handeln ist. Der Hauptnachteil des magischen Begriffs der Regel liegt darin, daß er einerseits den Unterschied unterdrückt zwischen dem, was richtig ist, und dem, was in jedem Fall richtig scheint (was mir die Formulierung der Regel „eingibt" oder zur rechten Zeit unwiderstehlich suggeriert), und daß er andererseits der wesentlichen Verknüpfung zwischen der Idee der Regel und der der Regelmäßigkeit oder Einförmigkeit jede Notwendigkeit nimmt. Wenn die Regel mich in der Art einer magischen Formel leitet, die mich in ihrem Bann hält, dann kann die Folge von Handlungen, die sie mir vorschreibt, sehr wohl jeder Regelmäßigkeit entbehren und zugleich aufhören, als Ergebnis der Befolgung einer Regel zu erscheinen. Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen der Tatsache, von einer Anweisung geführt oder geleitet zu werden, und der Tatsache, von ihr zu einer Handlung angeregt zu werden: „Was ist nun der Unterschied zwischen dem Vorgang nach einer Regel (etwa einem algebraischen Ausdruck) Zahl auf Zahl der Reihe nach abzuleiten und diesem Vorgang: Wenn wir jemandem ein gewisses Zeichen etwa zeigen, so fallt ihm eine Ziffer ein; schaut er auf die Ziffer und das Zeichen, so fällt ihm wieder eine Ziffer ein, und soferner. Und jedesmal wenn wir dieses Experiment vornehmen, fallt ihm die gleiche Reihe von Ziffern ein. Ist der Unterschied zwischen diesem Vorgang und dem Vorgehen nach der Regel der psychologische, daß im zweiten Fall ein Einfallen stattfindet? Könnte ich nicht sagen: Wenn er der Regel ,| - - |' folgte, fiele ihm immer wieder ,| - - |' ein? Nun, in unserm Fall haben wir doch Intuition, und man sagt ja, daß Intuition am Grunde des Handelns nach einer Regel ist. Nehmen wir also an, jenes, sozusagen, magische Zeichen bewirke die Reihe 123 123 123 etc.; ist das Zeichen dann nicht der Ausdruck einer Regel? Nein. Das Handeln nach einer Regel setzt

Was heißt „auf die gleiche Weise fortsetzen "?

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das E r k e n n e n einer Gleichmäßigkeit voraus u n d das Zeichen ,123 123 123 etc.' war der natürliche A u s d r u c k einer G l e i c h m ä ß i g k e i t . " ( B G M , 347f.) M a n k ö n n t e natürlich v o n d e m j e n i g e n , der sich in j e d e m Fall v o n einer Regel inspirieren, also die Art u n d Weise a n g e b e n läßt, wie er h a n d e l n m u ß , sagen, d a ß er i m m e r das gleiche tut - jedenfalls in d e m Sinn, in d e m er jedesmal das tut, was die Regel i h m eingibt. Das stellt aber in Wirklichkeit keine b e d e u t e n d e Eins c h r ä n k u n g dessen dar, was m a n in e i n e m solchen Fall „das gleiche t u n " n e n n e n k a n n . Keinerlei Sinn wäre d e m A u s d r u c k „das gleiche" gegeben u n d folglich wäre keine Regel e i n g e f ü h r t . W i t t g e n s t e i n b e m e r k t , d a ß derjenige, der auf diese Weise v o r g e h t , sagen k ö n n t e , er tue i m m e r das gleiche, auch w e n n er keiner Regel folgt, w ä h r e n d derjenige, der wirklich einer Regel folgt, seinerseits sagen k ö n n t e , er tue in gewissem Sinn i m m e r das gleiche u n d in e i n e m a n d e r e n S i n n i m m e r etwas anderes. D i e S c h l u ß f o l g e r u n g lautet: „So b e s t i m m t also, o b er das Gleiche tut, o d e r i m m e r ein Anderes, n i c h t , o b er einer Regel folgt." ( B G M , 416) M a n k a n n also den P r o z e ß einer Regelbefolgung n i c h t beschreiben, o h n e auf andere Weise zu beschreiben, was wir t u n , w e n n wir einer Regel folgen. I m o b i g e n Beispiel ist es in W a h r h e i t einfach die Tatsache, d a ß die Z a h l e n folge „123 123 123 etc." typischer A u s d r u c k einer Regelmäßigkeit ist u n d selbst wie eine Regel v e r w e n d e t w e r d e n k ö n n t e , die uns dazu verleitet zu sagen, d a ß das jedesmal präsentierte Z e i c h e n , das „magisch" diese Folge h e r v o r g e b r a c h t hat, selbst A u s d r u c k einer Regel sei. W i r h a b e n gesehen, weshalb es das n i c h t ist. Verzichten wir aber auf die Idee, d a ß die Regel in j e d e m b e s o n d e r e n Fall ihre A n w e n d u n g b e s t i m m t ü b e r das Zwischenglied v o n etwas, das uns in den Sinn k o m m t (eine I n t u i t i o n o d e r eine E i n g e b u n g als h ö h e r e Instanz, v o n der wir imm e r wieder ausgehen k ö n n e n ) , d a n n stehen wir, so scheint es, vor d e m folgend e n P r o b l e m . U m die Regel a n z u w e n d e n , m ü s s e n wir jedesmal d e n A u s d r u c k der Regel „interpretieren", verstehen, was die Regel f ü r den b e t r e f f e n d e n Fall sagt; u n d u m dies zu t u n , v e r f ü g e n wir ü b e r nichts als ü b e r den A u s d r u c k selbst u n d die S c h u l u n g , der wir uns in der Ü b u n g der R e g e l a n w e n d u n g u n t e r z o g e n h a b e n . Z u d e m k ö n n t e die Rede v o n einer „ E i n g e b u n g " einfach n u r eine indirekte Art der Feststellung sein, d a ß normalerweise kein Zwischenglied zwischen die Regel u n d die H a n d l u n g tritt. „,Die Linie gibt mir ein ...' H i e r ist der Ton auf d e m Ungreißaren des Eingehens. E b e n darauf, d a ß nichts zwischen der Regel u n d m e i n e r H a n d l u n g steht. M a n k ö n n t e sich aber d e n k e n , d a ß Einer m i t solchen G e f ü h l e n multipliziert, richtig multipliziert; i m m e r wieder sagt: ,Ich weiß n i c h t - jetzt gibt mir die Regel auf e i n m a l das ein!' u n d , d a ß wir a n t w o r t e n : .Freilich; du gehst ja ganz n a c h der Regel vor.'" (BGM, 421) D i e A n w e n d u n g der Regel k ö n n t e in gewissen Fällen v o n G e f ü h l e n oder Eind r ü c k e n dieser Art begleitet sein u n d ist es vielleicht tatsächlich. Aber wir b e n u t zen sie offensichtlich n i c h t als Kriterium, u m zu sagen, d a ß j e m a n d eine Regel

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korrekt angewendet hat, selbst wenn das erzielte Ergebnis mit dem übereinstimmt, was die Regel sagt: „Die Linie, könnte man sagen, gibt's mir ein, wie ich gehen soll. Aber das ist natürlich nur ein Bild. Und urteile ich, sie gebe mir, gleichsam verantwortungslos, dies, oder das ein, so würde ich nicht sagen, ich folgte ihr als Regel. ,Die Linie gibt mir ein, wie ich gehen soll': das paraphrasiert nur: - sie sei meine letzte Instanz dafür, wie ich gehen soll." (BGM, 414f.) Die letzte Instanz ist die Regel selbst, nicht eine Intuition, durch die ihre Stimme sich erst hören lassen kann (und muß). Wer den problematischen Ubergang von der allgemeinen Regel zur besonderen Anwendung als vermittelt über das Zwischenglied einer Intuition betrachtet, die uns in jedem Fall die von der Regel für den besonderen Fall vorgeschriebene genaue Handlung eingibt, denkt sich offenbar die Wirkung der Intuition nicht nach Art einer okkulten Kraft und einer magischen Suggestion. Er will vielmehr sagen, daß die Intuition eben dasjenige ist, was die Regel in jeder Phase der Anwendung interpretiert. Das Problem ist aber, daß es notwendig weiter verschiedene Interpretationsweisen und Anwendungen dieser Interpretation gibt. Wenn die Intuition beispielsweise mit einer Art innerer Stimme, obendrein mit der der Regel, vergleichbar ist, die ich vernehmen muß, um zu wissen, was ich tun soll, gibt es mehrere Arten zu verstehen, was sie mir sagt, und ich kann nicht sicherer sein, sie richtig zu verstehen, als ich sicher sein konnte, die Regel selbst richtig zu verstehen. Die Intuition kann daher keinesfalls die letzte Rechtfertigung darstellen, die wir suchen. Wie Rush Rhees schreibt: „Es ist nicht wahrer, daß es nicht mehr als eine mögliche Art gibt, .ihrer Intuition zu folgen' oder ,von der Intuition geleitet zu sein', als wahr ist, daß es nicht mehr als eine mögliche Art gibt, von einer mathematischen Regel geleitet zu sein. So daß, selbst wenn alle Personen, die Mathematik betreiben, vollkommen klare Intuitionen haben, immer noch verschiedene Arten möglich wären, Mathematik zu betreiben, und in jedem Fall könnte man zustimmen, daß der jeweilige Weg eingeschlagen wurde, weil man seiner Intuition folgen wollte. Wir könnten uns verschiedene Interpretationen vorstellen, die die Leute einer Intuition geben könnten, selbst wenn uns Interpretationen dieser Art tatsächlich sehr merkwürdig vorkommen könnten. Das hilft keineswegs zu sagen, daß wir eine Intuition von der Art und Weise haben, auf die unsere Intuition zu interpretieren ist. Wenn die Intuition irgendeine Art zu rechnen rechtfertigt und wenn das einzige, was die Tatsache, in einer bestimmten Art zu rechnen, rechtfertigt, die Intuition ist, folgt daraus nicht, daß es keine Rechtfertigung für die Tatsache einer anderen Art zu rechnen geben kann." (Rhees 1970, 122 f.) Der Rekurs auf die Intuition wirft daher mindestens zwei grundlegende Probleme auf, die uns an einer angemessenen Antwort auf die Frage hindern, die wir uns stellen: 1) Die Intuition soll uns unser Verhalten nicht auf eine Art eingeben, die wir geneigt sein könnten, als unzurechnungsfä-

Was heißt „auf die gleiche Weise fortsetzen "?

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hig zu bezeichnen, sie soll sich selbst dauernd an dem orientieren, was genau die Regel sagt. Dies führt uns zum Problem von deren richtigem Verständnis zurück. 2) Wenn die Intuition uns über das Zwischenglied irgendeiner Anweisung oder von etwas ähnlichem dieser Art mitteilt, was wir tun sollen, dürfen wir nicht vergessen, daß eine Anweisung immer erst verstanden werden muß und prinzipiell auf verschiedene Weisen verstanden werden kann. Wenn wir nun - mit den besten Gründen, wie es scheint - die Idee eines durch die Regel in irgendeiner Form ausgeübten Zwangs aufgeben, dann müssen wir offenbar zugeben, daß die Regel immer interpretiert werden muß und prinzipiell in jedem Fall anders interpretiert werden kann: „Wenn eine Regel dich nicht zwingt, so folgst du keiner Regel. Aber wie soll ich ihr denn folgen; wenn ich ihr doch folgen kann, wie ich will? Wie soll ich dem Wegweiser folgen, wenn alles was ich tue ein Folgen ist? Aber, daß alles (auch) als ein Folgen gedeutet werden kann, heißt doch nicht, daß alles ein Folgen ist." (BGM, 413 f.) Eine abweichende Anwendung der Regel kann offenbar als Befolgung der Regel interpretiert werden (eben nach einer unrichtigen Interpretation der Regel); aber das macht dennoch, wie Wittgenstein bemerkt, aus der betreffenden Handlung keine Handlung, die in der Befolgung der Regel besteht. Statt zu sagen, daß wir die Regel in irgendeiner Weise bei jeder Anwendung neu interpretieren müssen, um zu entscheiden, was wir im betreffenden besonderen Fall tun sollen, scheint es in Wirklichkeit richtiger zu sagen, daß wir die Regel ein für allemal in einer Weise interpretiert haben, die im Normalfall nichts mehr zu entscheiden übrig läßt: „Ich fühle, daß ich der Regel eine Interpretation gegeben habe, ehe ich ihr gefolgt bin; und daß diese Interpretation genug ist zu bestimmen, was ich im bestimmten Fall zu tun habe, um ihr zu folgen. Wenn ich die Regel so auffasse, wie ich sie aufgefaßt habe, so entspricht ihr nur diese Handlung. ,Hast du die Regel verstanden?' - Ja, ich hab sie verstanden. - ,Dann wende sie jetzt auf die Zahlen ... an!' - Wenn ich ihr folgen will, habe ich nun noch eine Wahl?" (BGM, 332f.) Betrachten wir die Regel durch das, was Wittgenstein das Medium der Kausalität oder des Einflusses nennt, so haben wir anscheinend nur Formen der Handlung zur Verfügung, die, wie die des mechanischen Zwangs, zu starr sind oder zu locker, wie diejenige, die eine in jedem einzelnen Fall der Regel selbst hinzugefügte mehr oder minder „freie" Interpretation voraussetzt. Eine Bestimmung, die in Begriffen der rohen Kausalität beschrieben werden könnte, entspricht nicht dem, was wir „durch eine Regel geleitet sein" nennen. Und eine Bestimmung, die nur über das Zwischenglied einer Interpretation möglich ist, scheint überhaupt nichts zu bestimmen. Wittgenstein beschreibt die Situation folgendermaßen: „Zwingt mich eine Linie dazu, ihr nachzufahren? - Nein; aber wenn ich mich dazu entschlossen habe, sie so als Vorlage zu gebrauchen, dann zwingt

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sie mich. - Nein; dann zwinge ich mich sie so zu gebrauchen. Ich halte mich gleichsam an ihr fest. - Aber wichtig ist hier doch, daß ich sozusagen ein für allemal den Entschluß mit der (allgemeinen) Deutung fassen und halten kann, und nicht bei jedem Schritt von frischem deute." (BGM, 414) Die Idee eines hypothetischen Mechanismus, der virtuell schon alle zukünftig auszuführenden Handlungen als einfache Folgen des Regelverständnisses und der Entscheidung zur Regelbefolgung enthält, soll im wesentlichen eine offensichtliche Lücke schließen und ein Gefühl von Sicherheit und zugleich eine H o f f n u n g erklären, die wir in der Tat trotz der Tatsache empfinden, daß sie sich offenbar auf nichts Greifbares stützen können. Die Lücke besteht zwischen der sehr kleinen Anzahl von Dingen, die wir wirklich (explizit) gelernt haben, und der enormen Anzahl von Dingen, die wir wissen oder die wir infolge des Lernprozesses zu tun in der Lage sein sollen. Das Problem, das sich hier stellt, wird von Cavell in der folgenden Passage auf bemerkenswerte Weise formuliert: „Seit der Periode des Braunen Buches (1934-35) liegt ein Schwerpunkt von Wittgensteins Denken auf dem Problem der Normalität und der Anomalität. Dies geht einher mit der Vertiefung des Gedankens, daß die Sprache erlernt ist, daß man sich zivilisieren muß. Und angesichts der geringen Anzahl lehrbarer Dinge ist die Lehre sozusagen mittellos oder ohnmächtig, verglichen mit der riesigen Menge dessen, was begriffen wird. Es ist, als ob Wittgenstein seine philosophischen Dispute als Beispiele für den Konflikt zwischen dem Fremd-Sein und der Unausweichlichkeit, einer bestimmten Kultur anzugehören, begriff. Oder als eine Dramatisierung, eine Zuspitzung der Asymmetrie zwischen Lehren und Begreifen. (In diesem Fall kann das Motiv, das zur Philosophie führt, als Wunsch verstanden werden, diese Asymmetrie zu korrigieren.) Der Geist kann nicht in jedem Punkte geführt werden; die Lehre (die Gründe, meine Kontrolle) stoßen an eine Grenze; in diesem M o m e n t übernimmt der andere. Und der Gegenstand meines Lehrens (meine Behauptungen, Fragen, Bemerkungen, Ermutigungen, Zurückweisungen) besteht eben darin, daß der andere die Folge antritt, daß er oder sie in der Lage ist, (allein) weiterzumachen. Aber er soll es richtig tun; d. h. der andere soll das tun, was ich tat, die Sache auffassen, wie ich sie aufgefaßt habe. Die Unterschiede zwischen der Normalität und der Anomalität sind philosophisch weniger lehrreich als ihre grundlegende Einheit, der Umstand nämlich, daß beide von derselben Tatsache der Zivilisation abhängen, daß diese die vollständige Einbeziehung und das vollständige Einverständnis ihrer Mitglieder erwartet. Und dennoch kann sie im Verlauf dieser Entwicklung so wenig über sich selbst sagen. Sie müssen allein weitermachen; in einen Fall in Richtung Einbeziehung, im anderen in Richtung Abtrennung." (Cavell 1979, 112 f.) Das Gefühl der Sicherheit, von dem oben die Rede war, entspricht unserer Sicherheit, wenn wir eine Regel verstanden haben, beliebig weit richtig fortfahren

Was beißt „auf die gleiche Weise fortsetzen

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zu können; und die Hoffnung, die wir haben, besteht darin, daß diejenigen, die die gleiche Lehre durchlaufen haben, in jedem einzelnen Fall und mit dem gleichen Eindruck vollkommener Evidenz, die alles Zögern und alles Zweifeln ausschließt, dieselbe Antwort geben werden wie wir. Wittgenstein legt nahe, daß die Idee des Mechanismus, in dem die Antworten schon auf eine Weise in der Form von möglichen Bewegungen der hypothetischen Maschinerie gegeben sind, ganz einfach einen metaphorischen und übertriebenen Ausdruck der Gewißheit darstellt, die wir in solchen Fällen empfinden, und genau genommen keine Erklärung oder Rechtfertigung dieser Gewißheit, nichts, was uns eine solche Gewißheit wirklich zu besitzen oder auszudrücken erlauben könnte. Im Unterschied zu den meisten Philosophen, die über diese Art Fragen nachdenken, scheint Wittgenstein die Idee überhaupt nicht zu schrecken, daß wir uns vielleicht ganz einfach mit der Existenz dieses Gefühls der Sicherheit zufriedengeben müssen, ohne uns zur Erklärung seiner Herkunft verpflichtet zu fühlen: „,Ich weiß doch bei jedem Schritt, was ich zu tun habe. Ich sehe es ganz klar vor mir. Es mag langweilig sein, aber es ist kein Zweifel, was ich zu tun habe.' Woher diese Sicherheit? Aber warum frage ich dies? Ist es nicht genug, daß diese Sicherheit existiert? Wozu soll ich eine Quelle für sie suchen? (Und Ursachen für sie kann ich ja angeben.)." (BGM, 350) Es ist eine wesentliche Tatsache, daß wir uns für fähig halten, wenn nicht bei allen, so doch für einen großen Teil der Regeln die Unterscheidungen richtig zu treffen, und daß wir tatsächlich ohne das mindeste Zögern eine einzelne Handlung, die mit der Regel übereinstimmt und sich aus ihr ergibt, von einer mehr oder minder grossen Anzahl von Handlungen unterscheiden, die mit theoretisch vorstellbaren Regelarten übereinstimmen und die möglicherweise ebenfalls als Instanzen der Anwendung der Regel in Betracht kommen. Man kann sich fragen, woher diese Gewißheit kommt. Wittgenstein jedenfalls hat keinen Zweifel an der Tatsache ihres Bestehens und zeigt keinerlei Neigung, sie als verdächtig oder ungerechtfertigt zu betrachten: „Also kann ich sagen, der Wegweiser läßt doch keinen Zweifel offen. Oder vielmehr: er läßt manchmal einen Zweifel offen, manchmal nicht. Und dies ist nun kein philosophischer Satz mehr, sondern ein Erfahrungssatz." (PU, 85) Da Wittgenstein in diesem Punkt oft einer Haltung bezichtigt wurde, die man als „skeptisch" bezeichnen könnte, ist es wichtig, zum Schluß daran zu erinnern, daß er im Gegenteil dachte, daß es Tatsachen gibt, die grundlegender und gewisser sind als alle Erklärungen, die wir uns für sie erträumen mögen. Aus dem Französischen von Reiner Ansen

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Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Paragraphen 201 und 219: „Dadurch zeigen wir nämlich, daß es eine Auffassung der Regel gibt, die nicht eine Deutung ist; sondern sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir ,der Regel folgen', und was wir ,ihr entgegenhandeln' nennen. Darum besteht eine Neigung, zu sagen: jedes Handeln nach der Regel sei ein Deuten. ,Deuten' aber sollte man nur nennen: einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen." - „Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind." In diesen Sätzen kulminiert eine langwierige Analyse Wittgensteins, die nach der Destruktion eines „Bild-" oder „Assoziationsmodells" der Bedeutung zunächst scheinbar zu einer radikal-skeptischen Schlußfolgerung führte, derzufolge das Regelfolgen mit einem unendlichen Deutungsprozeß verbunden wäre, der am Ende die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen „richtig" und „falsch" - und daher den Begriff des Regelfolgens selbst - aufheben würde. Diese Schlußfolgerung, so Wittgenstein, ist Ausdruck einer Konfusion: „Deuten" einer Regel „sollte man nur nennen: einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen." Deutungen in diesem Sinne sind zwar manchmal notwendig und hilfreich, aber das Verständnis einer Regel - d. h. die Fähigkeit, ihr zu folgen - kann sich nicht in der Fähigkeit erschöpfen, sie - in diesem Sinne - zu deuten; das Verständnis einer Regel kann sich am Ende nur in ihrer Anwendung zeigen, also in der praktischen Fähigkeit, ihr zu folgen; und diese praktische Fähigkeit ist in einem wesentlichen Sinne die Fähigkeit zu einem „blinden", d. h. deutungsfoi£« Regelfolgen. Wittgenstein weist auf das Moment der „Abrichtung" hin, die uns zu diesem Regelfolgen befähigt; und er macht deutlich, daß dies Regelfolgen wesentlich Teil einer Praxis ist, eines „Sprachspiels", einer Lebensform. Ohne diesen Hintergrund ei-

* Für eine besonders erhellende Diskussion einer f r ü h e r e n Fassung dieser Arbeit danke ich den Teilnehmerinnen meines philosophischen K o l l o q u i u m s an der Freien Universität Berlin im Sommersemester 1997.

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ner (komplexen) Praxis, eines „Sprachspiels", in dem sprachliche und nichtsprachliche Tätigkeiten miteinander „verwoben" sind, bliebe der Begriff des Regelfolgens, bliebe die Unterscheidung zwischen „richtig" und „falsch" und damit der Begriff der „Bedeutung" unverständlich. Im Anschluß an den oben teilweise zitierten Paragraph 201 heißt es in Paragraph 202: „Darum ist ,der Regel folgen' eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel .privatim' folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen." An diesem Satz scheiden sich die Geister (der Wittgenstein-Kommentatoren). Sagt Wittgenstein hier, daß zum Sprechen mehrere Sprecher notwendig sind, zwischen denen erst so etwas wie eine Öffentlichkeit des Regelfolgens möglich ist; oder nimmt er nur das Ergebnis des sogenannten Privatsprachen-Arguments (im engeren Sinne) der Paragraphen 258ff. voraus? Ich neige der Ansicht Kripkes und Davidsons zu, daß Wittgenstein die stärkere These vertritt (oder doch, der Sache und der Logik seiner Argumentation nach, vertreten müßte). Allerdings glaube ich zugleich, daß sich eine wirklich zureichende Begründung dieser These weder bei Wittgenstein noch bei Kripke oder Davidson findet: Eine solche Begründung müßte m. E. aus einem komplexen Netzwerk von Argumenten bestehen, wie es sich bei keinem der genannten Autoren findet. Gleichwohl denke ich, daß sich bei Kripke ein interessantes 7«7argument findet, an das ich zunächst anknüpfen möchte - nicht in erster Linie, um eine starke Version des Privatsprachen-Arguments zu verteidigen, sondern um meine spätere Unterscheidung zwischen „performativem" und „interpretativem" Sprachverstehen, bzw. zwischen dem Verstehensproblem vorzubereiten, wie es sich aus der Perspektive der ersten Person (des Sprechers) und demjenigen, wie es sich aus der zweiten Person (eines „Interpreten") stellt. Mit dieser Unterscheidung ziele ich auf einen Bereich des „Sprachverstehens" ab, in dem „Verstehen" und „Deuten" („Interpretieren") sich nicht mehr voneinander trennen lassen. Was die Fragen betrifft, die sich in diesem Bereich ergeben, so gibt es bei Wittgenstein zwar wichtige Hinweise; aber ich glaube, daß diese Hinweise erst produktiv gemacht werden können, wenn man sie in einen Fragekontext stellt, der sich bei Wittgenstein kaum entfaltet findet. 2. Ich werde das „Teilargument" Kripkes, von dem ich eben gesprochen habe, hier sehr frei rekonstruieren. Ich zitiere zwei Sätze Kripkes, in denen ich den Kern seines Arguments formuliert finde. Der erste Satz lautet: „Die Beziehung zwischen Meinen und Intendieren einerseits und künftigen Handlungen ist nicht deskriptiv, sondern normativ."' (Kripke 1987, 55) Der zweite Satz lautet: „Wie sich herausstellt, gestattet die skeptische Lösung nicht, von einer allein und isoliert aufgefaßten Einzelperson zu behaupten, sie meine etwas." (Ebd., 90)

Verstehen und

Interpretieren

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Kripke begründet diese Thesen bekanntlich durch eine Analyse von Sätzen der Art „X meint mit ,plus' die Addition". Eine „grammatische" Analyse solcher Sätze, so Kripke, zeigt, daß ihr Gebrauch die Bezugnahme auf eine Sprach^fmeinschaft (reference to a Community) voraussetzt (ebd., 103). Diese These ist von vielen Kommentatoren mißverstanden und dementsprechend kritisiert worden. In Wirklichkeit besagt die These aber nur, daß ein mit möglichen Gründen verbundener Gebrauch von „Meinenssätzen" der angegebenen Art eine Differenz zwischen mindestens zwei Sprechern voraussetzt. Kripkes Argument wird deutlicher, wenn wir seine Beispiele ein wenig variieren; Kripkes eigene Formulierung verschleiert nämlich, daß in den „Meinenssätzen" normalerweise ein von X gebrauchter Terminus erwähnt und ein korrespondierender („gleichbedeutender") Terminus vom Sprecher des Satzes in eigentümlicher Weise gebraucht wird. Etwa: „Mit ,und' meint X plus", oder „Mit ,es plästert' meint X es regnet in Strömen". Die auf der rechten Seite dieser Sätze stehenden Ausdrücke werden vom Sprecher des Satzes nicht (nur) erwähnt, sondern gebraucht (andernfalls hätten die Sätze für den Sprecher nicht den empirischen Gehalt, den sie haben); aber weil sie in einer eigentümlichen - nicht in gewöhnlicher Weise - gebraucht werden, habe ich sie kursiv geschrieben. (Mich interessiert an dieser Stelle nicht die Frage, ob man solche Sätze in einer erhellenden Weise auf Sätze einer anderen logischen Struktur zurückführen kann.) Meinenssätze dieser Art funktionieren ersichtlich ähnlich wie „Bedeutungssätze" der Art „.nonsense' (im Englischen) bedeutet Unsinn" („,plus' - im Sprachgebrauch von X - bedeutet die Addition"). Wenn wir „Meinenssätze" in dieser Weise formulieren, wird klar, was Kripke meint, wenn er sagt, die Beziehung von „Meinen" oder „Intendieren" zum künftigen Handeln sei normativ und nicht deskriptiv: Von X zu sagen, er meine plus mit „und", heißt zu sagen, daß X - innerhalb gewisser Grenzen - das Wort „und" in der richtigen Weise als Additionszeichen verwenden wird; und hierbei benutze ich meine Verwendung des Additionszeichens „plus" als Standard der Richtigkeit. Sollte ich also feststellen, daß X das Wort „und" anders verwendet (und ein bloßer Spezialfall wäre der, in dem X noch gar nicht addieren kann), so müßte ich meine „Begriffszuschreibung" zurückziehen. Zugleich wird deutlich, weshalb (mindestens) zwei Sprecher notwendig sind, damit „Meinenssätze" einen Witz (d. h. einen Gehalt und einen begründeten Gebrauch) haben können: einen Gehalt haben sie nur deshalb, weil der Verwender solcher Sätze einen Terminus seiner Sprache (der zugleich als Norm der Richtigkeit fungiert) einem von einem anderen Sprecher verwendeten (vom ersten nur „erwähnten") Ausdruck als „gleichbedeutend" zuordnet; der erste Sprecher muß seine eigene Sprache als Norm gebrauchen, um sagen zu können, was ein anderer Sprecher mit einem Ausdruck meint. Selbst wenn beide Sprecher einen Ausdruck in derselben Weise verwenden, hat ein entsprechender „Meinenssatz" - „Mit ,plus' meint X plus" -

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noch einen empirischen Gehalt (nämlich den, daß X das Wort „plus" ebenso verwendet wie ich); dagegen würden solche Sätze im Sprachgebrauch eines isolierten Sprechers, das heißt eines Sprechers, der nicht zugleich ein Interpret anderer Sprecher ist, ihren Witz verlieren: Weder hätten sie einen empirischen Gehalt, noch könnte jener fiktive Sprecher sie mit Gründen behaupten oder zurückziehen. Das heißt aber, die Community, um die es hier zunächst geht, ist die minimale Community zweier Sprecher, die wechselseitig voneinander fragen können: „Was meint X mit ,(£?" 3. Ich behaupte nicht, daß hiermit bereits eine starke Version des Privatsprachen-Arguments zwingend begründet ist; allenfalls ist plausibel gemacht, daß die Grammatik von Worten wie „meinen", „bedeuten" und „verstehen" eine Pluralität von Sprechern voraussetzt, daß also diese Worte in der Praxis eines isolierten Sprechers keinen Platz haben könnten (was allerdings, wie ich glaube, nicht wenig wäre). Ausgehend von Kripkes Rekonstruktion des PrivatsprachenArguments - wenn man sie so versteht, wie ich es hier vorgeschlagen habe kann man im übrigen auch Davidsons Idee der „Triangulation" einen guten Sinn geben - ich glaube sogar einen besseren als sie bei Davidson hat. Und natürlich ist es kein Zufall, daß die Bedeutung, die ich dem Unterschied zwischen „erwähnten" und „gebrauchten" Ausdrücken in den Meinenssätzen gegeben habe, ein genaues Gegenstück in Davidsons Deutung der Tarskischen W-Sätze hat. Aber all dies sei hier zunächst nur am Rande erwähnt. Ich möchte an dieser Stelle auf etwas anderes hinaus: ich möchte versuchen, die Bedeutung der „zweiten Person" (derjenigen eines Interpreten) für die Grammatik von „Meinen" und „Verstehen" genauer zu untersuchen. Bisher habe ich vom „Meinen" in dem Sinne gesprochen, daß Etwas-mit-einem-Wort-Meinen das Korrelat eines bestimmten Verständnisses dieses Wortes ist: Zu sagen, daß X mit „plus" die Addition meint, heißt zu sagen, daß X das Wort „plus" in bestimmter Weise (nämlich im Sinn der Addition) verwendet; oder auch, daß in X's Sprache das Wort „plus" die Addition bedeutet. Meine Überlegungen - so scheint es - haben sich gewissermaßen auf dem begrifflichen Plateau von Wittgensteins Überlegungen zum „Meinen", „Bedeuten" und „Verstehen" sprachlicher Ausdrücke bewegt, auf einem begrifflichen Plateau also, auf dem auch Wittgensteins Bemerkungen über den Zusammenhang von „Bedeutung" und „Gebrauch" anzusiedeln sind. N u n geht es aber schon in Kripkes Überlegungen, so wie ich sie rekonstruiert habe, um die Probleme des „Meinens" und „Verstehens" in einem sehr spezifischen Sinn; es geht ja um das Verstehen des von einem Sprecher mit seiner Äußerung Gemeinten durch einen Hörer. „Meinen" und „Verstehen" sind hier korrelativ, nämlich auf zwei verschiedene Personen verteilt: Das von einem Sprecher Gemeinte (das, was er sagen

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will, seine kommunikative Intention) wird von einem Hörer („Interpreten") verstanden (oder nicht verstanden). Es geht um das Verstehen des von einem Sprecher mit einer konkreten („situierten") Äußerung Gemeinten durch einen Hörer. Kripkes „Meinenssätze" verweisen somit in der Tat bereits auf Davidsons Fragestellung. Und nun könnte man sagen: Während Wittgenstein den Zusammenhang von „Meinen" und „Verstehen" vor allem mit Bezug auf die „performative" Perspektive eines Sprechers analysiert, thematisieren Kripke und Davidson ihn mit Bezug auf die „interpretative" Perspektive eines Hörers. 1 Wie hängen die beiden Fragestellungen miteinander zusammen? Zunächst könnte man antworten (und dies war, wenn ich es richtig sehe, im wesentlichen Wittgensteins Antwort): Das Sprachverständnis eines Sprechers (d.h. die Bedeutungen der Worte und Sätze, so wie er sie gelernt hat) schränkt die Möglichkeiten dessen ein, was ein Sprecher mit den von ihm verwendeten Sätzen in konkreten Situationen meinen kann; und sofern das Sprachverständnis von Sprecher und Hörer ein gemeinsames ist, schränkt es zugleich korrelativ die Möglichkeiten des Verstehens einer Äußerung durch einen Hörer ein. Es ist ja in der Tat häufig so, daß die Situation, in der sich zwei Sprecher befinden, zusammen mit der Bedeutung der verwendeten sprachlichen Ausdrücke bei der Interpretation sprachlicher Äußerungen praktisch keine Wahl mehr läßt: Die kommunikativen Intentionen sind hier so, wie Wittgenstein einmal sagt, in ihre Situation „eingebettet", daß das Verstehen der Äußerungen zu einem „automatischen" Verstehen wird. Wenn die Kassiererin im Supermarkt sagt: „Das macht zwanzig Mark und fünfzig", so verstehe ich: „Das macht zwanzig Mark und fünfzig" und zahle (für „das", nämlich das, was ich kaufen will) zwanzig Mark und fünfzig. Es wäre verführerisch, in Analogie zu Wittgensteins Rede von einem „blinden" Regelfolgen hier von einem „blinden" Verstehen zu reden. Aber die Analogie ist irreführend. Ich spreche daher lieber von einem „automatischen" Verstehen und möchte jetzt zeigen, inwiefern auch dies „automatische" Verstehen von Äußerungen eines Sprechers durch einen Hörer, im Unterschied zum „blinden" Regelfolgen, immer ein „Deuten", ein „Interpretieren" ist. 4. Der Grundgedanke ist einfach: Während in Wittgensteins Überlegungen der Gesichtspunkt einer gemeinsamen Praxis im Zentrum steht, rückt jetzt die Pluralität der Perspektiven in den Vordergrund, die das Korrelat einer gemeinsamen Sprache ist. Während bei Wittgenstein die Destruktion eines intentionalisti-

1 In der ursprünglichen Fassung dieses Aufsatzes habe ich die U n t e r s c h e i d u n g dieser beiden Perspektiven k o n f u n d i e r t mit der Unterscheidung zwischen Satz- u n d Äußerungsverstehen. Für die Klärung dieses Problems habe ich vor allem R u t h Sonderegger u n d Peter Grönert zu danken.

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sehen Bedeutungsbegriffs im Zentrum steht, rückt jetzt die Vielfalt von Intentionen in den Vordergrund, die durch eine gemeinsame Sprache ermöglicht wird, und hiermit zugleich die Vielfalt möglicher Mißverständnisse, durch die das Verstehen zu einem praktisch relevanten Problem erwachsener Sprecher wird. Und während Wittgenstein das Verstehen vor allem als ein Können in der ersten Person des Sprechers (nämlich als die Fähigkeit des Regelfolgens, der Teilnahme an einer gemeinsamen Praxis) thematisiert, wird jetzt dieses Können in der zweiten Person eines Hörers, und das heißt zugleich in den „okkasionellen" Aspekten des Äußerungsverstehens zum Thema. „Verstehen" wird hier also im Sinne einer richtigen Auffassung der kommunikativen Intentionen eines Sprechers durch einen Hörer zum Problem - von kommunikativen Intentionen, die immer auch anders sein könnten - , also in dem Sinne, in dem wir etwa sagen; „Ich verstehe (oder verstehe nicht), was du meinst" - selbst wenn die Bedeutung der geäußerten Worte und Sätze unstrittig ist. Ich möchte zunächst erläutern, wieso selbst in Fällen „automatischen" Äußerungsverstehens von „Deutungen" - d. h. von Interpretationen - die Rede sein kann. Allgemein gesprochen kommt dieser interpretative Charakter des gewöhnlichen Äußerungsverstehens darin zum Ausdruck, daß ein Hörer - ein „Interpret" - das, was ein anderer Sprecher äußert, in seinen eigenen Worten und aus seiner jeweils eigenen Perspektive muß wiedergeben können, also daß er muß sagen können, was er - oder wie er etwas - verstanden hat. Wenn hier von einem Wiedergeben-Können die Rede ist, so soll das zugleich heißen, daß beim „automatischen" Verstehen von einem (psychologischen) Akt des Deutens natürlich nicht die Rede sein kann; entscheidend ist vielmehr, daß die Fähigkeit des Hörers, sein Verständnis einer Äußerung in seinen eigenen Worten und aus seiner eigenen Perspektive notfalls explizit zu machen, kein Gegenstück hat im Falle des blinden Regelfolgens. Im Falle des Äußerungsverstehens geht es um die Aufassung dessen, was ein anderer sagen will; eine solche Auffassung bezeichnet immer einen Ort in einem Raum möglicher Deutungen (und Fehldeutungen). Im Falle des Regelverstehens geht es um die Fähigkeit (eines Sprechers), die Sprache richtig zu gebrauchen; und zu dieser Fähigkeit gehört ein Moment des „blinden", das heißt deutungs/o^w Regelfolgens. Genau in diesem Sinn möchte ich unterscheiden zwischen einem Verstehensproblem, wie es sich aus der (performativen) Perspektive der ersten Person eines Sprechers stellt, und einem Verstehensproblem, wie es sich aus der (interpretativen) Perspektive der zweiten Person eines Hörers stellt. Wenn man die These vom „interpretativen" Charakter (auch) des „automatischen" Äußerungsverstehens in dem von mir eben erläuterten nicht-psychologischen Sinne versteht, so liegen drei elementare Aspekte solchen interpretierenden Verstehens auf der Hand. Der erste ist der unauffälligste und trivialste; er

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betrifft das Verweisungssystem der deiktischen Ausdrücke und der Personalpronomina. „Ich komme heute abend nicht", sagt der eine; und der andere: „X sagte mir gestern, er werde am Abend nicht kommen." Der zweite Aspekt betrifft die „Sprecherreferenz" sowie die Fähigkeit von „Interpreten", de re- für de dictu-7Mschreibungen zu substituieren: 2 „Der Mann dort an der Bar, der gerade mit dem Barkeeper spricht, ist Günter Grass", sagt der eine; und ich, der ich weiß, daß der vermeintliche Barkeeper der Intendant des Theaters ist, und der ich den „Mann an der Bar" im Theater neben der Lady mit dem pinkfarbenen Kleid wiedererkenne, sage zu einem Dritten: „X hat behauptet, der Mann, der dort neben der Lady mit dem pinkfarbenen Kleid sitzt, sei Günter Grass." (Und selbst wenn ich mich ebenfalls getäuscht hätte: der vermeintliche Barkeeper war nicht der Intendant des Theaters, sondern ein Inspizient, und die Dame mit dem pinkfarbenen Kleid ist keine Lady, sondern ein Mann - so könnte auch mein Gesprächspartner im Parkett, der den zuletzt genannten Irrtum durchschaut, die ihm berichtete Behauptung normalerweise einem Vierten richtig weitergeben.) Möglich wäre aber auch, daß „der Mann an der Bar", von dem der erste Sprecher behauptete, er sei Günter Grass, wirklich mit dem Barkeeper sprach (den ich nicht sehen konnte) und es ein anderer Mann war, der mit dem Intendanten sprach. In diesem Fall hätte ich mißverstanden, von wem mein Bekannter sprach (wen er meinte). Robert Brandom, von dem ich diesen Typus von Beispielen habe, hat wie mir scheint: plausiblerweise - behauptet, daß so etwas wie ein intersubjektiver Gehalt von Behauptungen sich überhaupt nur im Medium des Ubergangs von de dictu- zu de re-Charakterisierungen dessen, was ein anderer sagt, konstituieren kann. Bei solchen Übergängen aber wird ein „Interpret" das, was ein anderer Sprecher sagt, entsprechend seinem eigenen Verständnis einer Situation und entsprechend seiner eigenen Perspektive und seinen eigenen Überzeugungen (die allesamt mehr oder weniger von denen des Sprechers verschieden sein können) in anderen Worten wiedergeben; deshalb kann hiervon „Interpretation" bereits in einem nicht-trivialen Sinn die Rede sein. - Der dritte Aspekt schließlich, unter dem von „Interpretation" in einem elementaren Sinn die Rede sein kann, betrifft die pragmatische Einbettung von Äußerungen in Situationen: ihren illokutionären und kommunikativen Witz (ist die Äußerung ein Vorschlag, eine Bitte oder eine Warnung, ist sie ernsthaft oder ironisch, wörtlich oder metaphorisch gemeint, ist sie Teil einer pragmatischen Interaktion mit dem Interpreten oder Teil eines Spiels usw.?). Selbst wenn auch unter diesem Aspekt das Verstehen von Äußerungen häufig ein „automatisches" Verstehen sein wird, so zeigt sich doch der interpretative Charakter dieses Verstehens in dem Augenblick, in

2 Diesen interpretativen Aspekt des gewöhnlichen (auch des „automatischen") Verstehens hat Robert B. B r a n d o m ausführlich analysiert (Brandom 1984, bes. 508-520).

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dem die Verständigung unterbrochen ist und Mißverständnisse manifest werden. Das berühmte Beispiel Davidsons ist das Beispiel des Schauspielers, der von der Bühne herab ins Publikum „Feuer!" schreit; auch wenn der Schauspieler es ernst meint, mag das Publikum es als Teil des Spiels verstehen (selbst dann noch, wenn der Schauspieler hinzufügt: „Dies ist kein Spiel - ich meine es ernst!"). Was das Verstehen und Nicht-Verstehen der Äußerungen eines zweiten Sprechers von dem Verstehen oder Nicht-Verstehen von Wortbedeutungen (im Sinne Wittgensteins) unterscheidet, ließe sich auch so charakterisieren: Wenn ich als jemand, der eine Sprache lernt, ein Wort (noch) nicht verstehe, kann ich es nicht ««/"Situationen richtig anwenden (z.B. das Wort „rot" nicht von roten Gegenständen prädizieren). Wenn ich dagegen die Äußerung eines anderen Sprechers nicht verstehe - obwohl ich vielleicht die in der Äußerung vorkommenden Worte und Sätze in bestimmter Weise zu gebrauchen gelernt habe - , verstehe ich die Art und Weise nicht, in der die Äußerung mit ihrer Situation zusammenhängt; etwa weil der Sprecher Worte oder Sätze anders verwendet, als ich es gewohnt bin, oder weil ich die Situation mißverstehe, aus der und in der jemand spricht, und weil ich daher die kommunikative Intention des Sprechers falsch auffasse. Das Verstehen fremder Äußerungen ist nur möglich auf dem Hintergrund eines (mehr oder weniger gemeinsamen) Situationsverstehens; dagegen ist das Wortverstehen - die Beherrschung einer Sprache - nur die notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung solchen Situationsverstehens. Natürlich handelt es sich bei dem, was hier analytisch getrennt wird, um zwei faktisch voneinander untrennbare Aspekte derselben Sprachkompetenz: Das Sprachverstehen („Bedeutungswissen") kompetenter Sprecher manifestiert sich unter anderem in ihrer Fähigkeit, die Äußerungen anderer Sprecher zu verstehen; und das Verstehen fremder Äußerungen setzt Sprachverstehen (das heißt das „Haben", die Beherrschung einer Sprache) voraus. Es handelt sich demnach gewissermaßen darum, dieselbe Sprachkompetenz unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten zu thematisieren. Wenn wir sie aber unter dem Gesichtspunkt des Äußerungsverstehens in der zweiten Person thematisieren, wird selbst das Wortverstehen zu einem interpretativen Verstehen. Das wird sofort deutlich, wenn wir den von Davidson ins Zentrum gerückten Fall betrachten, in dem zwei Sprecher nicht die gleichen Worte verwenden, um dasselbe zu sagen. Denn hier ist das Verstehen zugleich ein „Ubersetzen" in die eigene Sprache. An dieser Stelle wird deutlich, daß die Kripkeschen Meinenssätze in der Tat bereits dem Bereich des Äußerungsverstehens in der zweiten Person zuzurechnen sind. Ein Satz wie: „Mit ,plus' meint X die Addition" macht explizit, wie ein Interpret die Äußerung von X versteht, in der das Wort „plus" vorkommt. Da aber der Fall eines abweichenden Wortgebrauchs immer möglich ist, ist das Verstehen der Worte und Sätze des anderen

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selbst im Fall eines gemeinsamen Sprachgebrauchs immer ein Interpretieren; im trivialen Fall ließe es sich explizit machen durch Sätze wie: „Mit ,es regnet' meint X es regnet". Wie wir früher gesehen haben, sind solche Sätze nicht leer, sondern k ö n n e n sich im Prinzip als falsch herausstellen. Daher ist aber das „automatische" Äußerungsverstehen, von dem ich früher gesprochen habe, selbst dort, wo es nur um das Verstehen der Worte und Sätze geht, die ein zweiter Sprecher äußert, immer schon ein interpretatives Verstehen. Man könnte statt dessen sagen: Auch die Gemeinsamkeit der Sprache zeigt sich immer wieder erst im Prozeß der Kommunikation und Interpretation; und zwar zeigt sie sich, soweit es sie „gibt", nur für die an der Kommunikation Beteiligten, d. h. sie ist kein Faktum, das sich aus der Perspektive eines an der Kommunikation und Interpretation Unbeteiligten konstatieren ließe. Wenn aber das Verstehen von Äußerungen anderer Sprecher immer ein interpretatives Verstehen ist, so taucht die Möglichkeit eines skeptischen Arguments gleichsam auf der Rückseite der von Wittgenstein analysierten sprachlichen Praktiken wieder auf. An dieser Stelle reicht nämlich ein berühmtes Argument Wittgensteins nicht mehr aus. Im Paragraph 504 der Philosophischen Untersuchungen heißt es: „Wenn man aber sagt: ,Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen', so sage ich: ,Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen'." Wittgensteins Antwort auf den Skeptiker an dieser Stelle ist noch einmal ein witziges Resümee seiner Destruktion des skeptischen Arguments mit Bezug auf das Verstehen von Bedeutungen (und eigener Äußerungen) aus der Perspektive der ersten Person eines Sprechers. Die Antwort scheint aber nicht auszureichen, wenn es u m die Zurückweisung eines ganz anderen skeptischen Arguments geht, eines skeptischen Arguments, das nicht nur aus philosophischer Verwirrung resultiert, sondern das seinen Boden in den unendlichen Möglichkeiten des Nicht-Verstehens und Miß-Verstehens hat, wie sie der sprachlichen Kommunikation eigentümlich sind - selbst wo es sich um die Kommunikation in einer im Wittgensteinschen Sinne gemeinsamen Sprache handelt. Die skeptische Frage könnte hier etwa lauten: „Wie kann ich wissen, was der andere meint, wenn ich doch seine Zeichen - und auch alles, was er zur Erläuterung seiner Zeichen sagt - deuten m u ß - und jede Deutung im Prinzip auch falsch sein kann?" Diese Frage läßt sich nicht nach Wittgensteinscher Manier auf den Frager zurückwenden; denn hier gibt es eine Asymmetrie zwischen Sprecher und Interpret: der Sprecher, wenn er eine Sprache beherrscht, m u ß seine eigenen Äußerungen und Intentionen nicht deuten, u m zu „wissen, was er meint". Die Frage ist daher: wie kann jemand, der die Äußerung eines anderen nur deutend verstehen kann, „wissen, was er (d. h. dieser andere) meint"? Erst mit dieser Frage öffnen sich die verzweigten Problemfelder von Hermeneutik und Dekonstruktion, in denen die bisher erwähnten Antworten Wittgensteins deshalb nicht mehr aus-

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reichen, weil Wittgenstein die Fragen gar nicht stellt, auf die wir eine Antwort suchen. Ich glaube aber, daß man auch Wittgenstein erst richtig versteht, wenn man diese Leerstelle seiner Philosophie ausfüllt und hierin zugleich über Wittgenstein kritisch hinausgeht. 5. Es ist natürlich nicht meine Absicht, ein skeptisches Argument neuer Art hier zu verteidigen. Ich möchte aber deutlich machen, worin die skeptische Frage: „Wie kann ich wissen, was ich meine?" sich unterscheidet von der skeptischen Frage: „Wie kann ich wissen, was X meint?", und auf diese zweite Frage eine Antwort geben. Hierbei werde ich zwar wieder auf Wittgensteins Antworten zurückgreifen, aber ich glaube, daß diese Antworten jetzt zu Antworten auf eine neue Frage werden. Kripke hat seine Rekonstruktion von Wittgensteins Privatsprachenargument als die skeptische Auflösung eines skeptischen Paradoxes gedeutet. Als skeptisch kann man diese Auflösung eines skeptischen Paradoxes freilich nur bezeichnen, wenn man von einem empiristischen Objektivitätsideal ausgeht. Weil Kripke dies eigentümlicherweise tut, hat er Fehldeutungen seiner Argumentation geradezu provoziert. Was jedoch Kripke - oder was Kripkes Wittgenstein - in Wirklichkeit zeigt, ist, daß dies Objektivitätsideal in die Irre führt, wenn es um die Grammatik von Worten wie „meinen", „bedeuten" und „verstehen" geht; wenn es sich aber so verhält, dann macht es keinen Sinn mehr, die Auflösung des Paradoxes eine „skeptische" zu nennen. Ganz ähnlich wird es sich mit der Antwort auf die jetzt gestellte skeptische Frage verhalten; nicht Hume - wie bei Kripke - , sondern Bischof Berkeley mag hier eine Art von Vergleichspunkt bieten. Berkeleys esse estpercipi ließe sich nämlich als die verquere Vorwegnahme einer durchaus sinnvollen Aussage über die Seinsweise des sprachlichen Sinns lesen; dessen esse, so könnte man sagen, ist interpretan. Der sprachliche Sinn hat sein Sein in einem Prozeß der Interpretation. Was den Sinn sprachlicher Äußerungen (oder von Texten) aus der Perspektive der zweiten Person (eines Interpreten) betrifft, so ist die Frage nach einem „An sich" jenseits der Interpretation sinnlos; und aus der „performativen" Perspektive der ersten Person (des Sprechers) stellt sich die Frage erst gar nicht, weil er sprechend einen Sinn intendiert (seine Äußerung gleichsam „blind" versteht) und nicht zugleich auch interpretiert. Die Frage, was ein Sprecher meint, stellt sich wesentlich aus der Perspektive der zweiten Person; die Grammatik des Wortes „meinen" ist gewissermaßen aus der Perspektive der zweiten Person zu rekonstruieren. Zu zeigen ist freilich noch, daß dies keine skeptische Antwort auf eine skeptische Frage ist; genauer gesagt: daß mit dem, was ich gesagt habe, weder die Sprecherintentionen nun doch wieder zum Ort eines „an-sich-seienden" Sinns gemacht werden noch die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Interpretationen in Frage gestellt wird.

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Um dies zu zeigen, müssen wir am Ende nur den Ort - oder die „Grammatik" der eben genannten Unterscheidung neu bestimmen. 6. Zu diesem Zweck ist zunächst der konstitutive Wahrheitsbezug der Interpretation zu erläutern, also ein in meinen bisherigen Überlegungen kaum berührter Aspekt der Interpretation von Äußerungen und Texten, den sowohl Davidson als auch Gadamer zu Recht ins Zentrum ihrer Theorien gestellt haben. Die These vom „Wahrheitsbezug" der Interpretation besagt, daß wir bei der Interpretation von Äußerungen oder Texten notwendigerweise die Frage nach der Wahrheit des Interpretierten aufwerfen müssen, daß hierbei notwendigerweise die „Vorurteile" des Interpreten ins Spiel kommen und daß ein Verstehen von Äußerungen oder Texten nur möglich ist, wenn die Interpretation geleitet ist von normativ gehaltvollen „Vorgriffen" oder „Unterstellungen", die den möglichen Sinn von Äußerungen oder Texten betreffen. Hierbei ist „Wahrheit" in einem weiten Sinn zu verstehen, nämlich so, daß nicht nur empirische, sondern auch moralische, evaluative usw. Aussagen oder Uberzeugungen, also alle Aussagen und Uberzeugungen, über die ein Streit mit Gründen möglich ist, „wahr" oder „falsch" genannt werden mögen. Ich werde daher auch von einem vieldimensionalen Wahrheitsraum sprechen. Aus Gründen, von denen ich hoffe, daß sie noch klar werden, führe ich zunächst ein dem Davidsonschen principie of charity analoges Interpretationsprinzip ein, das sich als pragmatische Umdeutung von Davidsons principie of charity verstehen ließe. Und zwar handelt es sich um eine, wie ich glaube, hermeneutisch notwendige „Rationalitäts"- und „Kompetenz"-Unterstellung beim Verstehen fremder Äußerungen. Im Unterschied zu Davidsons principie of charity betrifft es nicht (nur) die Bedeutung der verwendeten Sätze, sondern den Sinn von Äußerungen-in-Situationen; dementsprechend rückt das Postulat der Wahrheit (im großen und ganzen) der Sprecherüberzeugungen gegenüber einem Postulat der „Situationsangemessenheit" oder „Verständlichkeit" von Äußerungen in den Hintergrund. Natürlich hat Davidson recht, wenn er das Postulat der Wahrheit (im großen und ganzen) der Sprecherüberzeugungen für den Fall der „radikalen Interpretation" in den Vordergrund rückt. Hierbei geht es nämlich für den Interpreten darum, eine fremde Sprache zu lernen; und das Wahrheitspostulat ist nichts anderes als das Postulat, daß die fremden Sprecher überhaupt eine Sprache sprechen, die ein Interpret verstehen kann, das heißt das Postulat, daß die fremden Sprecher den Regeln ihrer Sprache folgen. Dagegen halte ich es für irreführend, wenn Davidson das Szenario der radikalen Interpretation zum Paradigma der gewöhnlichen Kommunikation macht. Denn in der gewöhnlichen Kommunikation geht es gerade nicht mehr nur oder in erster Linie darum, die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke (so wie ein Sprecher sie verwendet) richtig zu erfas-

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sen, sondern vor allem darum, auf der Grundlage einer bereits (mehr oder weniger) gemeinsamen Sprache die kommunikativen Intentionen anderer Sprecher zu erfassen, und zwar gerade auch dort, wo die Bedeutung der verwendeten Worte und Sätze gar nicht in Frage steht. Gewiß, das Leben der sprachlichen Kommunikation zeigt sich nicht zuletzt darin, daß auch die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nichts ein für allemal „Gegebenes" ist, daß sie sich vielmehr als gemeinsame Bedeutung immer wieder erst im Prozeß der Kommunikation herausbildet (oder auch: in ihm zerfallt). Jedoch läßt sich dieses „Leben" des sprachlichen Bedeutens im Prozeß der Kommunikation und Interpretation nicht mehr nach dem Muster der radikalen Interpretation verstehen, und zwar erstens deshalb nicht, weil das, was sich im Prozeß der Bedeutungsänderung verändert, (notwendigerweise) immer auch die Sprache des Interpreten ist (die beim Szenario der radikalen Interpretation als „Norm" vorausgesetzt ist), und zweitens deshalb nicht, weil gerade die Gemeinsamkeit der Sprache einen vieldimensionalen Wahrheitsraum eröffnet, in dem auch die Möglichkeiten des Irrtums, der Täuschung und Selbsttäuschung, des „Falschseins" von Äußerungen und daher auch des Streits um die Wahrheit ins Unbegrenzte anwachsen. Wenn Äußerungen zu verstehen heißt, sie als Äußerungen-in-Situationen, das heißt als situierte Sprechakte oder Ketten von Sprechakten zu verstehen, dann bedeutet das Verstehen von Äußerungen zwar immer ihre Lokalisierung in einem vieldimensionalen Wahrheitsraum; aber der Vorrang der Wahrheit vor der Falschheit kann nur noch bedeuten, daß Äußerungen, um überhaupt verstanden werden zu können, als in irgendeinem Sinne „angemessen" verstanden werden müssen. Man könnte auch sagen: als kohärent mit einem Zug der Situation, mit der Geschichte oder den Absichten des Sprechers oder der Logik einer Interaktion zusammenhängend, so also, daß sie als Äußerungen eines kompetenten Sprechers und entsprechend dem Situationsverständnis des Interpreten „Sinn machen", das heißt eben: verstanden werden können. Dies bedeutet aber, daß ein Interpret dem Sprecher nicht notwendigerweise wahre, sondern daß er ihm begründete, d . h . mit Gründen für wahr gehaltene Uberzeugungen unterstellen muß. Nur aus der Perspektive des Sprechers sind die für wahr gehaltenen auch die wahren Uberzeugungen; aus der Perspektive des Interpreten dagegen sind die vom Sprecher für wahr gehaltenen Uberzeugungen nicht notwendig auch wahre Uberzeugungen, selbst wenn der Interpret sie (als aus der Perspektive des Sprechers) begründet verstehen kann. 3 Gerade durch

3 „[...] Assessing s o m e o n e as having successfully achieved the status or standing of a knower involves a d o p t i n g three different attitudes: attributing a c o m m i t m e n t , attributing an entitlem e n t , and undertaking a c o m m i t m e n t " , schreibt Robert B r a n d o m ( B r a n d o m 1995, 903 ff.). In dieser Terminologie gehört „undertaking a c o m m i t m e n t " , soweit es u m die v o n einem Inter-

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diese Differenz der Perspektiven konstituiert sich überhaupt erst ein vieldimensionaler intersubjektiver Wahrheitsraum.1' Hermeneutisch nowendig ist für den Interpreten nicht die Unterstellung von (aus der Perspektive des Interpreten) wahren, sondern von (aus der Perspektive des Sprechers) begründeten Uberzeugungen. Insoweit reduziert sich das principie of charity auf seine Bedeutung als Rationalitäts- oder Kohärenzprinzip (vgl. Davidson 1993, 76). Freilich geht hierdurch der von Davidson im principie of charity mitgedachte Aspekt eines Korrespondenzpñnzips, d. h. einer Wahrheitsunterstellung, nicht einfach verloren. Er läßt sich aber jetzt angemessener beschreiben. Und zwar glaube ich, daß es sich hier um (mindestens) zwei verschiedene Arten von Unterstellungen handelt. Zum einen handelt es sich um die Unterstellung einer Sprachkompetenz (in der eigenen oder einer fremden Sprache). Hierauf ist das Szenario der radikalen Interpretation zugeschnitten: In ihm ist der Interpret genötigt, die für wahr gehaltenen Überzeugungen der Sprecher als (im großen und ganzen tatsächlich) wahr zu interpretieren, weil sich ihm ohne eine solche Unterstellung die fremde Sprache gar nicht als Sprache, das heißt als ein kohärentes System von Bedeutungen erschließen würde. Natürlich spielt auch in der gewöhnlichen Kommunikation eine solche Unterstellung - und zwar als wechselseitige Unterstellung der Sprachkompetenz von Sprechern und Interpreten eine Rolle; es handelt sich hier, wie Davidson zu Recht betont, um eine Unterstellung, die unabhängig davon ist, ob zwei Sprecher/Interpreten (bereits) eine gemeinsame Sprache sprechen. Die Unterstellung besagt, daß zwei Sprecher/Interpreten eine Menge gemeinsamer wahrer Überzeugungen haben müssen, wenn Interpretation und Verständigung überhaupt möglich sein sollen. Genau in diesem Sinne hat Wittgenstein postuliert, daß „zur Verständigung durch die Sprache" auch eine „Übereinstimmung in den Urteilen" gehört (PU, 242). Es ist daher richtig, daß ohne die Basis eines Konsenses in Wahrheitsfragen - etwa in einem Bereich elementarer Prädikationen und korrespondierender Hintergrundüberzeugungen (vgl. Davidson 1982) auch Dissense nicht möglich wären, so daß also ein Interpret einem Sprecher in der Tat innerhalb gewisser Grenzen wahre Überzeugungen unterstellen muß. Jedoch verschieben sich diese Grenzen beträchtlich, wenn es nicht mehr um das Lernen einer fremden Sprache, sondern

preten zu identifizierenden Ü b e r z e u g u n g e n eines Sprechers geht, nicht in dem v o n Davidson a n g e n o m m e n e n Sinn zu den Bedingungen der Interpretation (im Fall der gewöhnlichen K o m m u n i k a t i o n ) . Im übrigen heißt „aus der Perspektive des Sprechers begründet" natürlich nicht dasselbe wie „aus der Perspektive des Interpreten - gut oder zureichend - begründet". Die Differenz k a n n ja gerade der Anlaß des Streits sein - wie schon bei Sokrates u n d seinen Gesprächspartnern. 4 So verstehe ich auch B r a n d o m s A r g u m e n t a t i o n in dem g e n a n n t e n Aufsatz sowie in B r a n d o m 1984.

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um die Kommunikation in einer gemeinsamen Sprache geht. Denn es ist, wie schon gesagt, gerade die Gemeinsamkeit der Sprache, die auch die Möglichkeiten des Irrtums, der Täuschung und des Dissenses - und daher des Streits um die Wahrheit - ins Ungemessene wachsen läßt. Unter diesen Umständen kann jedoch eine Wahrheitsunterstellung nicht mehr die zentrale Rolle spielen, die sie im Szenario der radikalen Interpretation zunächst einmal spielen muß\ sie rückt gewissermaßen in den Hintergrund eines Sich-Verlassens auf die Gemeinsamkeit der Sprache. Wieweit dieses Sich-Verlassen jeweils angemessen oder begründet ist, hierfür gibt es keine denkbaren allgemeinen Kriterien oder Regeln. Es ist denn auch kein Zufall, daß Davidson, je mehr er sich der „normalen" Kommunikation zugewandt hat, den genauen Sinn der Wahrheitsunterstellung - bei der es ja ursprünglich um eine Maximierung der dem Sprecher und dem Interpreten gemeinsamen Wahrheit ging - umso weniger klar hat angeben können. Soweit zum „Korrespondenzprinzip" (zur Wahrheitsunterstellung) als Unterstellung von Sprachkompetenz. Von einer im Prozeß der Interpretation notwendigen Wahrheitsunterstellung könnte man aber zum anderen auch im Sinne einer WahrheitsVermutung sprechen: Hier geht es darum, daß ein Interpret einem Sprecher (oder Autor) einen benefit of doubt zugesteht, der ihn nötigt, das, was ein Sprecher sagt (was ein Autor schreibt) so „stark" wie möglich (d. h. als so wahr, angemessen, relevant, richtig usw. wie möglich) zu interpretieren. Eine solche Wahrheitsvermutung ist notwendig, sofern es einem Interpreten darum geht, die mögliche Wahrheit eines .anderen - einer Äußerung oder eines Textes - nicht zu verfehlen; sie ist also in einem kognitiven Sinne rational. (Von denkbaren ethischen Bedeutungen einer Wahrheitsvermutung in bestimmten Kontexten sehe ich hier ab.) Es dürfte jedoch deutlich sein, daß das Gewicht, das eine Wahrheitsvermutung in dem jetzt beschriebenen Sinn jeweils haben kann, von Situationen und Kontexten und in solchen Situationen und Kontexten von den Erfahrungen abhängt, die ein Interpret mit bestimmten Sprechern bereits gemacht hat (für Texte gilt etwas Analoges). Und das heißt zugleich, daß die Wahrheitsvermutung, von der jetzt die Rede ist und die man auch in einem Prinzip hermeneutischer „Offenheit" begründet sehen könnte, einen anderen - und weniger fundamentalen - Status haben muß als das „Korrespondenzprinzip" der radikalen Interpretation bei Davidson. Die Frage, wieviel an Wahrheitsvermutung jeweils rational oder angemessen ist, kann immer auch zum Gegenstand eines Streits um die Wahrheit werden. In jedem Fall ist die Wahrheitsvermutung so zu verstehen, daß sie jederzeit vom Interpreten als „enttäuscht" zurückgezogen

5 Oliver Scholz spricht von einer („widerlegbaren") Wahrheitspräsumtion (vgl. Scholz 1997). Scholz hat in dieser Arbeit die verschiedenen möglichen Bedeutungen einesprinciple of charity ausführlich analysiert.

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werden kann. Das gilt nicht im gleichen Sinn für die Rationalitäts- und Kompetenzunterstellungen, denn diese Unterstellungen bezeichnen Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens; wenn sie enttäuscht werden, wird die Möglichkeit des Verstehens als solche fraglich. Freilich gilt für hermeneutische Prinzipien generell, daß sie nicht den Status von „Regeln" haben, deren Befolgung richtige Interpretationen garantierte. Es gibt keine Methode der Interpretation, sondern allenfalls - in bestimmten Kontexten, insbesondere wissenschaftlicher Art - methodische Daumenregeln der Interpretation. Im übrigen ist die richtige Interpretation, um Davidson zu paraphrasieren, je nachdem eine Sache des Glücks, der Phantasie, der Urteilskraft, der Erfahrung, der Sachkompetenz und oft auch des guten Willens. 6 Eine Rationalitäts- und „Kompetenz"-Unterstellung im oben beschriebenen Sinn, die ich auch als Ausdruck eines Prinzips der Verständlichkeit bezeichnet habe, ist notwendig, wenn wir überhaupt aus Äußerungen (und Texten) „Sinn machen" wollen. Eine Wahrheitsvermutung ist darüberhinaus oft geboten, sofern wir uns von ihr versprechen, daß sie uns zum richtigen Verständnis einer Sache, einer Situation oder einer Intention leiten könnte. Verständlich sind Äußerungen, generell gesprochen, jedoch nicht, sofern sie (nach Meinung des Interpreten) wahr sind, sondern sofern sie nach dem Sprach- und Situationsverständnis des Interpreten in biographische, in Situations-, Argumentations oder Handlungszusammenhänge „passen" - als Ausdruck einer Überzeugung, als ironisches Kompliment, als ernsthaftes Versprechen, als Teil einer Theaterszene, als Antwort auf eine Frage, als Anspielung, Witz, Behauptung oder Argument. Und die Entscheidung über dieses „Passen" erfolgt immer auf der fragilen Basis einer Perspektive und eines Situationsverständnisses des Interpreten, die sich im Verlauf der Kommunikation immer auch ändern mögen, nicht zuletzt aufgrund einer zunächst unverstandenen oder mißverstandenen Äußerung. Zur gewöhnlichen Kommunikation zwischen erwachsenen Sprechern gehört immer auch - wie oben erwähnt eine Differenz der Perspektiven, die sich als Differenz der Situationsverständnisse, der okkasionellen und der Hintergrundüberzeugungen, aber auch als Differenz im Gebrauch der Sprache manifestieren kann. Im letzteren Fall wird das Interpretationsproblem vollends manifest, denn zu verstehen, was ein anderer sagt, bedeutet hier, daß ich es - implizit oder explizit - in meine Sprache „übersetze", es in meiner Sprache wiedergeben könnte, wobei es wichtig ist zu sehen, daß eine solche Übersetzung meine eigene Sprache immer auch verändern mag. Daß die Interpretation immer aus einer bestimmten Perspektive heraus geschieht,

6 M a n sollte jedoch den „guten Willen" nicht überstrapazieren. Erfahrung u n d Urteilskraft k ö n n e n auch einen „bösen" Willen, d. h. M i ß t r a u e n geraten erscheinen lassen. Insbesondere in politischen Kontexten kann ja M i ß t r a u e n eine T u g e n d sein.

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bedeutet - wie schon gesagt - zugleich, daß die interpretierte Äußerung - oder auch ein Text - vom Interpreten in einem intersubjektiven Wahrheitsraum lokalisiert wird, das heißt als wahr oder unwahr, angemessen oder unangemessen, relevant oder irrelevant, überzeugend oder fragwürdig, plausibel oder unplausibel, erhellend oder irreführend, oder auch als unentscheidbar for the time being verstanden wird. Zwar bleibt eine Ubereinstimmung zwischen Sprecher und Interpret, also eine Gemeinsamkeit der Sprache die Bedingung der Möglichkeit auch von Dissensen; aber wo die Dissense aufbrechen - ob hinsichtlich der Wahrheit von Behauptungen oder Präsuppositionen, hinsichtlich der Angemessenheit einer Bemerkung, einer Bitte, einer metaphorischen Charakterisierung oder hinsichtlich der Angemessenheit von Redeweisen oder Beschreibungen - , wie also eine Äußerung durch einen Interpreten in einem vieldimensionalen Wahrheitsraum lokalisiert wird, das kann sich erst im Prozeß der Interpretation entscheiden. „Verständlich" bedeutet daher nicht dasselbe wie „wahr"; gleichwohl geht der normative Vorgriff, der in Davidsons principie of charity liegt, nicht verloren. Er besagt jetzt, daß die kommunikative Intention des Sprechers vom Interpreten als mit der Situation der Äußerung auf verständliche Weise zusammenhängend konstruiert werden muß, wenn wir überhaupt verstehen wollen. Es ist die Differenz der Perspektiven, die im Prozeß der Interpretation immer wieder überbrückt werden muß, wenn Einverständnis und Dissens und daher auch ein Streit um die Wahrheit möglich sein sollen. Wenn Wittgenstein sagt, daß eine Intention in ihre Situation „eingebettet" ist und eben deshalb - so möchte man fortfahren - als diese Intention verstanden werden kann, so liegt hierin eine wichtige Teilantwort auf die Frage nach den Bedingungen des „Meinens" und „Verstehens" von Äußerungen; aber eben doch nur eine Teilantwort. Denn erstens geht diese Antwort nicht auf die Vielfalt möglicher Intentionen in konkreten Situationen ein, zweitens berücksichtigt sie nicht die Vielfalt möglicher Perspektiven, aus denen Situationen wahrgenommen und gedeutet werden. Was Wittgenstein zu Recht betont, ist, daß durch die Gemeinsamkeit der Sprache auch Situationen zu „gemeinsamen" - d. h. gemeinsam verstandenen werden; aber diese Gemeinsamkeit von Situationsverständnissen kann immer nur partiell und gebrochen sein, sie muß stets wieder neu ausgehandelt und herbeigeführt werden. Der Begriff der Situation muß gleichsam in sich selbst pluralisiert werden, um der Vielfalt der Perspektiven, aus denen Situationen den Betroffenen erscheinen, gerecht zu werden. Zwar können Situationsdeutungen unter Wahrheitsgesichtspunkten ausgehandelt werden - soviel ist im Begriff eines bestimmten Verständnisses von Situationen impliziert - , aber es gibt nicht die Situation einer Äußerung jenseits aller Interpretationen.

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7. Bisher habe ich argumentiert, daß das Verstehen von Äußerungen in der zweiten Person immer ein Interpretieren ist, nämlich die Deutung einer Äußerung aus der Perspektive und dem Horizont eines Interpreten, die immer auch von denen des Sprechers verschieden sind. Ich habe weiterhin behauptet, daß ein solches Verstehen nur auf dem Hintergrund einer Verständlichkeits- und Rationalitätsunterstellung möglich ist, die den Interpreten auf das hinleitet, was ein Sprecher in einer Situation möglicher- (verständlicher-)weise meinen kann. Ich habe schließlich auf die Vielfalt der Perspektiven und Horizonte hingewiesen, aus denen Sprechern und Interpreten auch gemeinsame Situationen erscheinen werden. Nimmt man all diese Elemente zusammen, so werden zwei Dinge deutlich: erstens, wieso wir Äußerungen in vielen Fällen ohne Zögern in bestimmter Weise verstehen (die Gemeinsamkeit der Sprache), und zweitens, wieso die Möglichkeiten des Falsch- und Mißverstehens gleichwohl unbegrenzt sind. Weil wir nun bei dem Versuch, mögliche oder offensichtliche Mißverständnisse aufzuklären, wiederum auf Interpretationen dessen, was ein anderer sagt, angewiesen sind, könnte an dieser Stelle das skeptische Argument ansetzen, von dem ich oben gesprochen habe; ein skeptisches Argument, das etwa besagen würde, daß wir niemals wissen können, ob wir eine Äußerung richtig verstanden haben und daher das Verstehen - wie Nietzsche es gelegentlich nahelegte - in Wirklichkeit ein Einlegen von Sinn und nicht die (richtige) Auffassung des von einem Sprecher (oder einem Autor) intendierten Sinns sei. Interessanterweise ist es hier nun doch wieder Wittgenstein, bei dem wir die grundlegenden Argumente auch gegen diese Version der Skepsis finden. Zur Illustration des bisher Gesagten wähle ich ein simples Beispiel: Angenommen, ein Freund sagt während einer anstrengenden Gebirgswanderung plötzlich: „Ich hätte gern ein Steak." Die Situation scheint eindeutig: mein Freund äußert den Wunsch, ein (gebratenes) Steak zu essen. Wären wir in einem Fleischerladen und äußerte mein Freund denselben Satz zum Verkäufer, so hätte ich seine Äußerung anders verstanden (nämlich als das Ordern eines ungebratenen Steaks), und wären wir in einem Restaurant und mein Freund äußerte denselben Satz zu einem Kellner, der unsere Bestellung aufnimmt, so hätte ich ihn wieder anders verstanden, nämlich als Bestellung eines (gebratenen) Steaks. (Es ist interessant, daß die Verpflichtungen, die sich aus der Äußerung desselben Satzes in diesen drei Situationen ergeben, ganz verschiedener Art sind.) Die Rechtfertigung meines Verständnisses ergibt sich in diesen Fällen aus meinem Situationsverständnis, von dem ich im übrigen annehmen darf, daß es ein gemeinsames ist. (Wie könnte mein Freund im Gebirge seine Äußerung als Bestellung eines Steaks gemeint haben? - Doch nur wenn er vor Erschöpfung halluzinierte.) So weit kommen wir also bereits mit Wittgensteins Diktum, daß eine Intention in ihre Situation eingebettet ist. Nun könnte ich aber im Prinzip meinen

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Freund im Gebirge mißverstanden haben: vielleicht hat er gar nicht einen Wunsch geäußert, sondern nur die Äußerung eines Dritten nachgemacht, mit dem wir gestern zusammen in einem Restaurant waren (und über den wir uns später mokiert hatten); oder er hat begonnen, eine bestimmte Passage aus einem Buch zu zitieren, das ihn gerade beschäftigt. Vielleicht weiß er im Augenblick nicht weiter und verfallt wieder in Schweigen; oder er hat begonnen, ein Spiel mit mir zu spielen, das wir „Kettengedicht" nennen (einer sagt eine Zeile, der andere muß eine Reimzeile finden und eine neue Zeile hinzufügen, woraufhin dann der erste wieder ... usw.), wobei natürlich hinter der Wahl der Anfangszeile durchaus der Wunsch nach einem Steak stehen könnte. Wenn man den Blick nur auf den Augenblick der Äußerung richtet, so müßte man sicherlich zugeben, daß eine ganze Reihe von Verständnissen - und das heißt eben auch: von Mißverständnissen - möglich ist, selbst wenn man noch Tonfall oder Gestik als Schlüssel des Verständnisses hinzuzieht. Ganz anders stellt sich die Sache dar, wenn man - wie Wittgenstein es in analogen Kontexten fordert - auch das „Davor" und „Danach", also die zeitliche „Umgebung" oder den „narrativen Kontext" der Äußerung mit einbezieht. Intentionen sind in Situationen nicht gleichsam punktuell eingebettet, sondern in Situationen als Teil von Geschichten, und Situationen sind zugleich der Ort, an dem Geschichten weitergehen oder neu beginnen. Daher muß aber auch das Verständnis von Äußerungen sich immer erst am Fortgang der Geschichte bewähren. So wie Intentionen in Situationen immer nur als Schnittpunkt eines „Davor" und „Danach", d. h. als Teil einer Geschichte „eingebettet" sind, so lassen sich die Gründe für ein bestimmtes Verständnis von Äußerungen niemals nur dem - aus allen Geschichten herausgeschnittenen - Augenblick der Äußerung entnehmen. Situationen werden immer schon als Teil von sich kreuzenden Geschichten verstanden, und jedes Verständnis enthält die Antizipation eines bestimmten Fortgangs der Geschichte, die sich als falsch erweisen kann. Im Falle meines Freundes im Gebirge könnte der nächste Satz alle Mißverständnisse auflösen; etwa indem er sagt: „Ich habe solchen Hunger" oder: „Erinnerst du dich?" oder: „Ich habe vergessen, wie es weitergeht" oder: „Nun sei kein Spielverderber." Intentionen sind nicht nur in Situationen, sondern in Geschichten eingebettet, auch in solche, die gerade erst beginnen. Wieso sollte in alldem eine Zurückweisung des skeptischen Arguments stekken? Ich habe bisher nur gezeigt, daß sich und wie sich in der situativen und zeitlichen „Umgebung" einer Äußerung Gründe für ein bestimmtes Verständnis dieser Äußerung finden lassen - vielleicht bekräftigt durch eine Äußerung des Sprechers: „Ja, so habe ich es gemeint." Das scheint wenig, wenn wir an die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten des Mißverstehens und des Nichtverstehens denken, die sich überall dort öffnen, wo wir den relativ gesicherten Raum

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pragmatisch elementarer Verständigungsweisen verlassen: im persönlichen Streit, in der philosophischen Diskussion, im moralischen und politischen Diskurs, und nicht zuletzt bei der Interpretation von Texten. Gleichwohl ist jenes wenige bereits genug, um der grundsätzlichen hermeneutischen Skepsis den Boden zu entziehen. Denn es zeigt, daß Interpretationen aus der Perspektive der Interpreten nicht beliebig sind, sondern in einem Raum möglicher Gründe stattfinden. Dann können aber Interpretationen, kann das Verstehen kein Sprung ins Dunkle, kein Akt kreativer Willkür sein. 8. Der Fehler des skeptischen Arguments m u ß offenbar in der Annahme liegen, es existiere ein „inneres Etwas" - das „Meinen" oder die Intention - , das unabhängig von allen Interpretationen und vorgängig gegenüber allen Interpretationen „an sich" vorhanden sei. Denn nur unter Voraussetzung einer solchen Annahme macht es überhaupt Sinn zu sagen, dieses „Etwas" sei „von außen" - d. h. hier: für Interpreten - prinzipiell unerkennbar. Weshalb sollten wir Annahmen dieser Art überhaupt noch ernst nehmen, nachdem Wittgenstein sie bereits vernichtend kritisiert hat? Nur deshalb, so glaube ich, weil sie sich immer wieder an unvermuteten Stellen gleichsam in neuer Verkleidung aufdrängen, so daß man sich neu überlegen muß, wie ihnen an dieser Stelle zu begegnen ist. Ich habe früher zu zeigen versucht, daß die Grammatik von Worten wie „meinen" und „verstehen", bezogen auf die Bedeutung von Worten oder Sätzen, nur in der Kommunikation zumindest zweier Sprecher einen Ort haben kann; ich habe dies als einen wichtigen Teil - oder doch eine wichtige Implikation - von Wittgensteins Destruktion des in den Philosophischen Untersuchungen diskutierten skeptischen Arguments gedeutet. Im Grunde müssen wir uns nur noch einmal klarmachen, wie sich das „Kripke-Argument" - wie ich es der Kürze halber und etwas unvorsichtig hier nennen möchte - im vorliegenden Fall reformulieren läßt. 9. Es wird sich zeigen, daß im Grunde bereits alles gesagt ist. Wenn Außerungsverstehen ein Interpretieren im Lichte eines Verständlichkeits- oder Rationalitätsprinzips ist, dann sind in allem Verstehen die Vorurteile, die Überzeugungen und das Situationsverständnis des Interpreten wirksam; so verstanden ist das Verstehen immer ein Sinn-Machen aus den Äußerungen eines Sprechers (und zwar, wie wir gesehen haben, ein Sinn-Machen nicht nur in der Sprache, sondern auch aus der Perspektive und dem Horizont des Interpreten). Wenn das aber richtig ist, dann können wir vom Verstehen - und daher auch vom Sinn von Äußerungen aus der Perspektive der zweiten Person gar nicht unabhängig von einem Prozeß der Interpretation sprechen, in dem ein Interpret sein Verständnis der Situationsangemessenheit, Verständlichkeit, Richtigkeit oder Wahrheit von Äußerungen ins Spiel bringt. Die Frage, was ein anderer Sprecher meint, läßt

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sich ohne impliziten Bezug auf die normativ - d. h. mit „Vorurteilen" - geladene Perspektive eines Interpreten überhaupt nicht stellen. Freilich könnte man immer noch sagen, daß doch der Sprecher selbst wisse, was er meine und daher sein selbsttransparentes Meinen der gesuchte Ort eines „Sinns-an-sich" seiner Äußerungen sei. Diese Vorstellung enthält jedoch eine optische Täuschung. Denn auch der Sprecher, nachdem er gesprochen hat, wird zum potentiellen Interpreten seiner selbst, und das bedeutet, daß auch der Sprecher, sobald er mit der Frage konfrontiert wird, was er gemeint habe, diese Frage nur aus der Perspektive einer zweiten Person - der eines Interpreten - beantworten kann. „Nur der Sprecher kann wissen, was er meint" - das kann nur heißen: Während ich spreche, ist mein „Meinen" kein möglicher Gegenstand des Zweifels für mich. Aber dieses „Meinen" ist kein seelisches Ereignis, von dem ich weiß und kein anderer etwas wissen kann. 7 Vielmehr kann sich die Frage, was ich meine, immer erst aus der Perspektive eines Interpreten stellen; und sogar ich selbst kann sie nur als Interpret meiner selbst beantworten (und mache hierbei einen neuen Zug im Sprachspiel). Dann ist aber die Vorstellung eines jenseits aller möglichen Interpretationen „an sich" (d. h. für einen göttlichen Verstand) „vorfindlichen" (gemeinten) Sinns von Äußerungen Ausdruck einer grammatischen Konfusion. In diesem Sinn kann man sagen, das esse des sprachlichen Sinns sei interpretan. Innerhalb des Interpretationsprozesses gibt es aber, wie wir gesehen haben, durchaus Gründe für das eine oder andere Verständnis von Äußerungen, und gibt es die Möglichkeit, daß zwei Sprecher/Interpreten sich über den Sinn einer Äußerung einigen; und es gibt immer wieder Gründe dafür, das Verständnis einer Äußerung zu revidieren oder ein scheinbares Einverständnis in Frage zu stellen. (Selbst ein explizites Einverständnis kann ja täuschend sein; es bleibt an die wechselseitige Interpretation zweier Sprecher gebunden, die sich in der einen oder anderen Weise als Fehlinterpretation herausstellen kann.) Ein skeptischer Zweifel jedoch, der über die faktische Erfahrung, daß wir uns immer wieder mißverstehen oder uns nicht verstehen, hinausginge, macht ganz einfach keinen Sinn, weil er einen Begriff des Verstehens voraussetzt, der im Widerspruch steht zu der Art und Weise, in der die Grammatik des Wortes „verstehen" in unsere Praxis des Interpretierens eingebettet ist. Auch die Vermutung des Nicht-Verstehens oder Mißverstehens bedarf der Gründe. In den Fällen des „automatischen" Verstehens fehlen uns solche Gründe; daß sie - unvorhersehbar - immer wieder auftauchen mögen, rechtfertigt eine allgemeine Skepsis ebensowenig wie der

7 Diese Wittgensteinsche Pointe hat unter einem anderen Gesichtspunkt kürzlich auch Hans Julius Schneider noch einmal deutlich herausgearbeitet (Schneider 1997a). Dieser Aufsatz ist mir erst nachträglich zu Gesicht gekommen. Ich danke dem Autor für den Hinweis auf diesen Text.

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Umstand, daß wir uns in unseren Wahrnehmungen immer wieder auch täuschen mögen. Die Annahme, daß wir uns immer täuschen, macht keinen Sinn, weil damit der Begriff der Täuschung seinen Witz verlieren würde. Natürlich weiß ich oft besser als meine Interpreten, was ich meine oder wie ich etwas gemeint habe. Aber dieses Besser-Wissen setzt seinerseits die Grammatik der Worte „meinen" und „verstehen", so wie ich sie erläutert habe, voraus. Es ist ein Besser-Wissen aus der Perspektive eines potentiellen Interpreten meiner selbst, der sich mit den tatsächlichen („äußeren") Interpreten über ein angemessenes Verständnis seiner Äußerungen streiten kann - wobei dieser Streit sich aus den früher erwähnten Gründen von einem Streit um die Wahrheit des Gesagten nicht wird separieren lassen. Ich habe bereits angedeutet, weshalb an dieser Stelle der Einwand nicht stichhaltig ist, daß doch das „Haben" einer Intention gleichbedeutend ist damit, daß der Sprecher in einer Weise um sie weiß, in der kein anderer um sie wissen kann. Es ist das Wort „wissen", das uns hier - wie schon Wittgenstein in analogen Kontexten anmerkt - in die Irre führt. Wenn sich die Frage nach der Intention überhaupt erst aus der Perspektive einer zweiten Person stellen läßt, dann kann auch der Sprecher nur sagen, was er „weiß" (sein Meinen), indem er zum Interpreten seiner selbst wird. Die „Selbsttransparenz" des Meinens ist performativer, nicht kognitiver Art. Als sein eigener Interpret ist aber ein Sprecher nur in einer relativ privilegierten Position. Er verfügt nämlich zumeist über zusätzliche Gründe dafür, weshalb er etwas so oder so gemeint oder nicht gemeint haben kann. Und diese „zusätzlichen Gründe" beziehen sich nun in der Tat in der Regel auf etwas, was der Sprecher über sich selbst (aber was der Interpret nicht vom Sprecher) weiß: etwa daß der Sprecher sich gerade geärgert hat, daß er die Absicht hatte, jemandem eine bestimmte Person zu zeigen, oder die, jemand anderen zu provozieren, daß ihm schon die ganze Zeit ein Problem durch den Kopf ging, daß er Englisch versteht, daß ihm Fragen des Protokolls unwichtig sind oder daß er Hunde nicht mag usw. Kurz: die „zusätzlichen Gründe" des Sprechers beziehen sich auf Züge der Situation und ihrer Geschichte, von denen der Sprecher ein „privilegiertes" - obgleich durchaus kommunizierbares - Wissen besitzt. Dieses Wissen bedeutet aber in vielen Fällen, daß für den Sprecher auch ein nachträglicher Zweifel an dem, was oder wen er gemeint hat, keinen Sinn macht. In solchen Fällen mag er mit Recht sagen: „Ich muß doch wissen, was ich meine." Irreführend wird ein solcher Ausdruck erst, wenn man ihm gleichsam eine metaphysische Wendung gibt und das sprachliche Meinen generell mit einem privilegierten Wissen um dieses Meinen gleichsetzt. Die Selbsttransparenz des Meinens - aus der performativen Perspektive der ersten Person - bedeutet daher nicht die Existenz einer privilegierten Position, die dem Streit der Interpretationen entzogen wäre oder von der her dieser Streit sich schlichten ließe, so daß also, wo auch immer die Frage nach den kommunikati-

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ven Intentionen eines Sprechers sich stellt, ein Interpretationsprozeß in Gang kommt, an dem auch der Sprecher nur als Interpret seiner selbst beteiligt sein kann. Bei einem Streit der Interpretationen aber, so meine These, geht es letztlich immer zugleich um eine Verhandlung von Sach- und Wahrheitsfragen. Ich hoffe, es ist klargeworden, daß die These, wonach jeder Sprecher potentiell ein Interpret seiner selbst ist, keinesfalls der These widerspricht, daß ein Sprecher, um zu sagen, was er meint, und zu meinen, was er sagt, im Gegensatz zu seinen Interpreten sich nicht selbst interpretieren muß. Sprechend interpretieren wir nicht zugleich, was wir sagen. Im Sprechen äußert sich unser Sprachverstehen, und selbst wo wir nach Worten suchen oder unsicher sind, was wir sagen sollen, ist es doch nicht unser Sprechen, das wir zu verstehen versuchen, sondern eine Sache, ein Problem, kurz: das, worüber wir sprechen. Erst wo wir im Prozeß der Kommunikation auf unser eigenes Sprechen - erklärend, erläuternd, entschuldigend, korrigierend - zurückzukommen genötigt sind, werden wir zu Interpreten unserer selbst. Und erst die Reaktion der anderen zeigt in vielen Fällen, daß unser „Meinen", unsere Intentionen unklar sind, also noch zu klären bleibt, was wir eigentlich sagen wollten. Soweit das Wort „wissen" einen klaren Sinn haben soll, ist es teils irreführend, teils falsch zu sagen, ein Sprecher wisse in jedem Falle, was er meint. In gewissem Sinne ist auch dieses „Wissen" auf die Interpretation durch andere - d. h. die Verständigung mit anderen - angewiesen. In der Tat erfahren wir oft erst durch die Kommunikation mit anderen, was mir meinten oder sagen wollten. Das gilt insbesondere dort, wo unsere Begriffe noch unklar, erst im Werden oder im Prozeß der Klärung begriffen sind. Desgleichen mögen wir aus der Entwicklung von Situationen oder Handlungszusammenhängen erfahren, daß das, was wir gesagt haben, nicht das ist, was wir sagen wollten. Man sagt dann vielleicht: „Ich habe mich mißverständlich (oder „ungeschickt") ausgedrückt." Aber in welchem Sinne kann ich dann sagen, daß ich doch wußte, was ich sagen wollte? Für gewöhnlich doch sicherlich nicht in dem Sinn, daß ein anderer Satz als der, den ich tatsächlich geäußert habe, vor meinem geistigen Auge stand. „Das ist nicht, was ich sagen wollte" - das kann heißen: „Ich wollte dich nicht verletzen" oder: „Das habe ich doch nicht als Kritik (oder als Versprechen, oder als Befehl) gemeint" oder: „Dieser Ausdruck war wirklich blöd; ich meinte eigentlich nur ..." usw. Das: „Ich meinte" oder: „Ich wollte sagen" ist auch in solchen Fällen nicht eigentlich ein „Bericht" über eine selbsttransparente Intention, deren sprachlicher Ausdruck gewissermaßen verunglückt wäre, sondern eher der Ausdruck eines nachträglichen Versuchs, meine Intention zu klären. „Das ist, was ich sagen wollte", heißt dann eigentlich: „Das ist, was ich hätte sagen (und meinen) sollen." D. h. aber, daß man die Rolle der „Meinenssätze" (im Sinne von: „Ich meinte ...", „Ich wollte sagen ...") mißversteht, wenn man ihre Äußerung als Berichte über den seelischen Vorgang eines sich selbst transparenten Meinens ver-

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steht. Man versteht die Grammatik dieser Sätze nur, wenn man berücksichtigt, daß in ihnen die interpretative Perspektive einer zweiten Person vom Sprecher selbst eingenommen wird, und wenn man daher ihren „normativen" Aspekt mitversteht, d. h. die Rolle, die sie im Prozeß der Klärung von Intentionen spielen, gleichsam im Jetzt der Kommunikation, in dem es darum geht, die richtigen Worte oder das richtige Verständnis einer Situation oder einer Sache zu finden. Das soll nicht heißen, daß die Frage, was jemand wirklich meinte, nicht auch einen deskriptiven Sinn haben könnte; sie hat ihn insbesondere dann, wenn es um die Zurechnung fragwürdiger Intentionen geht („Hat er diesen Unsinn wirklich gemeint?" oder: „Hat er es wirklich so [verletzend] gemeint?"). Aber auch hier ist der Sprecher nicht unbedingt die letzte Autorität, da auch hier die Umstände der Äußerung für die Zurechnung der Intention maßgeblich bleiben; als Interpret seiner selbst bleibt der Sprecher in jedem Fall einer unter anderen. Und auch hier ist der deskriptive Sinn der „Meinenssätze" von einem normativen Aspekt unabtrennbar: Es geht nämlich nicht um die Feststellung eines seelischen Ereignisses, sondern um die Zurechnung von Intentionen, ähnlich wie bei der juristischen Frage, ob jemand mit Vorsatz getötet hat. Und obwohl hier der Angeklagte, kognitiv gesehen, eine relativ privilegierte Position hat - er war ja die ganze Zeit „dabei" und es geht um seine Handlungen (und Absichten) ist auch hier die Frage nach dem Vorsatz nicht die nach einem ungreifbaren privaten Etwas hinter seinen Handlungen, sondern eine nach den Umständen, dem Verlauf und der richtigen Beschreibung seines Handelns. Kurzum: Äußerungen zu verstehen heißt zwar, die kommunikativen Intentionen eines Sprechers richtig aufzufassen; aber solche Intentionen sind nicht etwas jenseits dessen, was wir jeweils unter bestimmten Umständen sagen. Und gerade weil das so ist, weil nicht jeder Sprecher für sich selbst der letzte Richter seiner kommunikativen Intentionen ist, ist die hermeneutische Skepsis bodenlos: sie geht nämlich aus von der falschen Vorstellung eines aus der Innenperspektive selbst-transparenten, aus der Außenperspektive unzugänglichen (privaten) Meinens und setzt damit einen falschen (unmöglichen) Maßstab „wirklichen" Verstehens voraus. 10. Unser „Sprachspiel" ist nichts Festes oder ein- für allemal Gegebenes. Wenn man mit Wittgenstein sagen kann, daß wir überhaupt keine Begriffe haben können ohne ihre Verankerung in einer gemeinsamen Praxis, so muß man gleich hinzufügen, daß diese Gemeinsamkeit - insbesondere an den „Rändern" der Sprache - niemals gesichert und immer wieder erst herbeizuführen ist. Die Sprache „ist" nicht, sie bildet sich in einem Prozeß fortwährender Innovation und Interpretation. Daher könnte man Wittgensteins These auch umkehren: Klare Begriffe haben wir erst, wenn wir eine gemeinsame Sprache gefunden haben, und das ist nur in einem Prozeß der Kommunikation - der zugleich ein Prozeß wechselsei-

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tiger Interpretation ist - möglich. Hierbei ist wichtig zu sehen, daß dem Vorgang der sprachlichen Innovation ein Vorgang des Sprachlernens korrespondiert. Sprachliche Innovationen können mit neuen Praktiken einhergehen, mit neuen Weisen des Beschreibens, des Handelns, selbst des Argumentierens. Daher darf man auch die Sprache des Interpreten nicht als einen unveränderlichen Maßstab des Interpretierens ansehen; die Sprache des Interpreten verändert sich im Prozeß der Interpretation. Dieser Interpretationsprozeß aber, den ich als den „Ort" des sprachlichen Sinns bezeichnet habe, gewinnt seine Richtung, seine Kriterien und seine Gründe aus seiner Orientierung an der Idee einer intersubjektiven Wahrheit - das ist die fundamentale Einsicht Davidsons und Gadamers. Wenn man diesen Wahrheitsbezug der Interpretation richtig versteht (und ich glaube, daß weder Davidson noch Gadamer ihn ganz richtig verstehen), wird klar, daß ein Streit u m die Wahrheit in diesen Interpretationsprozeß konstitutiv eingelassen ist. Dies ist nicht dasselbe wie zu sagen, daß das Verstehen vom Aufwerfen der Wahrheitsfrage nicht unabhängig ist - eine These, in der Davidson und Gadamer übereinstimmen. Eigentümlicherweise stimmen beide auch noch in der These überein, daß, um es in Gadamers Worten zu sagen, „Verständnis [...] zunächst Einverständnis" ist (Gadamer 1990, 183; Herv. v. mir). Das Problem steckt hier jedoch in dem Wort „zunächst". Dieses „zunächst" bedeutet nicht, daß Verstehen in der Kommunikation erwachsener Sprecher primär ein Als-wahr-Verstehen ist (wie Davidson und Gadamer annehmen); es betrifft vielmehr einen Boden der Gemeinsamkeit, das heißt die Gemeinsamkeit einer Sprache, die, als Gemeinsamkeit nicht nur der „Definitionen", sondern auch der Urteile, die Bedingung der Möglichkeit von Verständigung ebensowohl wie von Dissensen und von sprachlicher Innovation darstellt. Das „zunächst" bezeichnet also ein vorgängiges Verständigtsein in der Sprache. Dies Verständigtsein in der Sprache kann niemals vollständig sein; die Intersubjektivität der Sprache ist in steter Bildung - wie auch in stetem Zerfall - begriffen. Die Gemeinsamkeit der Sprache ist daher ebensowohl der Ausgangspunkt wie das mögliche Resultat der kommunikativen Praxis; auch hierin stimme ich noch mit Gadamer und im Grunde wohl auch mit Davidson überein. Zwischen der jeweils vorgegebenen und der erst noch herbeizuführenden Gemeinsamkeit kann jedoch der Prozeß der Interpretation nur vermitteln, insofern er zugleich der eines Streits um die Wahrheit ist; denn wenn jede Gemeinsamkeit der Sprache am Ende auch eine Gemeinsamkeit der Urteile einschließt, so kann die Herbeiführung einer solchen Gemeinsamkeit und die Veränderung der Sprache, die mit ihr einhergeht, nicht unabhängig sein von einer Auseinandersetzung über Wahrheits- und Sachfragen. Es bedeutet daher eine entscheidende Verkürzung des Interpretationsproblems, wenn man die Herausbildung einer gemeinsamen Sprache mit Davidson nur versteht als Prozeß einer wechselseitigen Annäherung der Interpretationstheorien, die zwei Sprecher von-

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einander haben, einen Prozeß, in dem beide Sprecher ihre eigenen Überzeugungen als Standard für die möglichen wahren Uberzeugungen des jeweils anderen und daher des möglichen Sinns seiner Äußerungen benutzen. Demgegenüber hat Gadamer zu Recht betont, daß die Herausbildung einer gemeinsamen Sprache im Prozeß der Kommunikation nicht nur eine Veränderung der Sprache einschließt, sondern zugleich auch eine Veränderung von Überzeugungen und Einsichten. Jedoch bleibt bei Gadamer das kritische Moment im Verstehen eigentümlich ausgespart, das heißt der Umstand, daß Verstehen immer auch die Scheidung des Falschen vom Wahren bedeutet und daher vom Streit um die Wahrheit nicht zu trennen ist. Die hermeneutisch zu fordernde Offenheit für die Wahrheit des jeweils anderen kann aber weder bedeuten, daß der andere - bei Gadamer vor allem: der überlieferte Text - „zunächst" immer recht hat, noch gar - wie bei Davidson - daß meine Überzeugungen den letzten Maßstab dessen bilden können, was mögliche wahre Überzeugungen eines anderen sein könnten. Ich glaube, daß in diesem weder-noch die grundlegenden Schwächen von Davidsons und Gadamers Theorien in einer kurzen Formel benannt sind. Wenn ich weiter oben gesagt habe, daß bei einer pragmatischen Deutung des principle of charity der direkte Zusammenhang zwischen „Verständlichkeit" (derjenigen von Äußerungen) und „Wahrheit" (derjenigen der Sprecher-Überzeugungen) sich auflöst, dann wollte ich damit keineswegs den konstitutiven Wahrheitsbezug der Interpretation leugnen; ich wollte vielmehr darauf hinweisen, daß durch das Prinzip der „Verständlichkeit" die Wahrheitsfrage in einem zugleich eingeschränkteren und allgemeineren Sinn bei der Interpretation ins Spiel kommt als bei Davidson. Eingeschränkter deshalb, weil Verstehen nicht mehr an Einverständnis geknüpft ist - oder doch nur an jenes „vorgängige" Einverständnis, das durch die Gemeinsamkeit einer Sprache gegeben ist; allgemeiner deshalb, weil der Wahrheitsbezug der Interpretation jetzt einen umfassenden Sinn erhält. Sobald nämlich eine „Gemeinsamkeit der Urteile" durch eine Gemeinsamkeit der Sprache gesichert ist, wird die Möglichkeit von Dissensen ubiquitär: Wir können nicht im voraus wissen, ob sie empirische Überzeugungen, Wahrnehmungen, Situationsverständnisse, moralische Orientierungen oder die Angemessenheit von Redeweisen betreffen wird. „Charity is not enough", das bedeutet: Der Wahrheitsbezug des Verstehens eröffnet die Möglichkeit des „Ja" und des „Nein"; er eröffnet die Möglichkeit von Einverständnis und Dissens. Der Prozeß der Interpretation läßt sich vom Streit um die Wahrheit nicht trennen - nur deshalb können wir in ihm und durch ihn immer auch von anderen - und können andere von uns - lernen. 11. Wenn einer etwas Neues sagt, und sei es eine neue Metapher erfindet, will er verstanden werden. Aber wenn wir an die gewöhnliche Kommunikation denken, befindet sich der Interpret in solchen Fällen weder in der Position des Augusti-

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nischen Kindes, das schon eine Sprache hat, mit deren Hilfe es interpretieren kann, was die Erwachsenen sagen, noch in der des Wittgensteinschen Kindes, das die Sprache von Grund auf lernen muß. Oder besser: der Interpret befindet sich in beiden Positionen zugleich: er kann nur interpretieren, indem er seine Sprache zugleich verändert und hierin eine neue Sprache lernt. Aber in diesem Lernprozeß ist nicht notwendigerweise einer der Lehrer und einer der Schüler; vielmehr können beide Lehrer und Schüler zugleich sein. Ein solches Szenario, welches das eines Interpretationsprozesses ist, der zugleich ein Prozeß der Innovation, des Lernens und des Streits um die Wahrheit ist, muß man, wie ich glaube, hinzudenken, um aus Wittgensteins Bemerkungen über die „Offenheit" der Regeln sprachphilosophisches Kapital zu schlagen. „Wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen", sagt Wittgenstein an einer oft zitierten Stelle (PU, 67). Aber das Wort „wir" bedeutet in den beiden Fällen, in denen es hier vorkommt, ganz Verschiedenes: „Wir" - d. h. jeder von uns, der diese Praxis betreibt - drehen beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser; dagegen können „wir" nur gemeinsam den Begriff der Zahl ausdehnen. In diesem letzteren „wir" steckt das Problem. Wenn man sagen will, von welcher Art dieses „wir" ist, muß man den Prozeß der Kommunikation und Interpretation beschreiben, auf den ich hingewiesen habe. Dann wird aber zugleich dreierlei deutlich: Erstens muß es sich um ein vielfach abgestuftes „wir" handeln, deren jedes die Geschichte eines Kommunikations- und Interaktionsprozesses in sich trägt und deren jedes zu allen anderen „wir" hin prinzipiell offen ist - von dem „wir" intimer Beziehungen zu demjenigen sozialer Gruppen aller Art, bis zum „wir" dessen, was man eine „Sprachgemeinschaft" nennt, und letztlich dem „wir" all derer, die sprechen können. Zweitens wird sich ein solches „wir" nur durch die und in der Erfahrung gelingender Kommunikation jeweils beglaubigen können; es ist kein von außen konstatierbares „objektives" Faktum. Drittens bedeutet solches „wir" keine ungebrochene Gemeinsamkeit, vielmehr trägt jedes „wir" konstitutiv die Züge der Differenz, des Nicht-Verstehens und des Streits um die Wahrheit in sich: jedes „wir" ist in stetiger Bildung begriffen und stets vom Zerfall bedroht. Das Wittgensteinsche „wir" ist somit vielfach in sich abgestuft, es ist ein „performatives" wir und es trägt in sich die Züge eines „nicht-wir"; es ist niemals ganz präsent, es ist in jedem Augenblick ein Problem ebensosehr wie ein Ausgangspunkt. Die Grenzen Wittgensteins sehe ich darin, daß er über dies problematische „wir" zumeist so geredet hat, als wäre es einfach etwas Gegebenes, Hinzunehmendes. Dieses „wir" zum Problem zu machen, heißt daher, über Wittgenstein hinauszugehen. Eines meiner vielleicht versteckten, aber zentralen Argumente war, daß ein solches Hinausgehen über das, was ein Sprecher oder Autor sagt, oft umwillen des Verstehens dessen, was er sagt, notwendig sein mag.

Clemens Sedmak (Innsbruck)

„Jedes Zeichen kann zum Lügen verwendet werden" Anmerkungen zur Offenheit der Sprache

Einleitung Daß Handlungen oder Handlungsschemata mißglücken können, ist uns aus dem Alltag vertraut. Daß auch sprachliche Handlungen mißglücken können, hat Austin mit seinen Regeln für das Gelingen von Sprechakten und seiner Lehre von den infelicities (Austin 1972; 2., 3., 4. Vorlesung, 34ff.) illustriert. In diesem Zusammenhang möchte ich an das sogenannte Kontextprinzip erinnern. Es macht Wittgensteins Bemühungen verständlich, grammatikalisches Gelingen oder Mißglücken von sprachlichen und außersprachlichen Handlungen zu erforschen. Eine Möglichkeit, dieses Kontextprinzip auszudrücken, hat Joachim Schulte gefunden, der von Wittgensteins später Fassung des Kontextprinzips sagt: „Erstens betont sie, daß der Gebrauch der Sprache ein Tun ist: ein Handeln im Rahmen einer etablierten, durch Gepflogenheiten und Konventionen bestimmten Tätigkeit. Und zweitens wird damit behauptet, daß die verschiedenen Bestandteile oder Aspekte einer sinnvollen sprachlichen Äußerung nichts sind daß sie gar nicht existieren - ohne ein Gerüst aus sprachlichen und nichtsprachlichen Kontextbedingungen." (Schulte 1990, 147) Die Erforschung der Kontextbedingungen hat mit dem Offenen und der Ordnung unserer Sprache zu tun, da sich aufgrund der Offenheit unserer Situationen und Lebenswelt nie alle Kontextbedingungen explizit aufzählen lassen, zumal wir in den wenigsten Fällen über „harte Kriterien" für Gelingen oder Scheitern der sprachlichen Äußerungen verfügen. Im folgenden möchte ich ein besonderes Phänomen unseres Handelns in bezug auf Gelingen und Mißglücken kommentieren: das Lügen. Das Lügen ist insofern für das vorliegende Thema von besonderer Bedeutung, als die Offenheit der Sprache sich gerade dadurch zeigt, daß sprachliche Zeichen nicht auf eine Verwendung im Sinne wahrer oder wenigstens wahrhaftiger Aussagen festgelegt sind. Unter einer Lüge will ich eine Form der Behauptung verstehen. Es soll sich

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um eine Aussage handeln, die ein Sprecher mit einem Wahrheitsanspruch äußert und dabei der Überzeugung ist, daß eben diese Aussage falsch ist. Unter Lügen will ich jenes sprachliche Handeln verstehen, das Aussagen dieses Typs erzeugt. Bei einer Lüge klaffen also der Handlungsaspekt und der Uberzeugungsaspekt einer Behauptung auseinander. Dies deutet auch Wittgenstein an: „Man könnte meinen, eine Lüge im Hinblick auf das Gesehene bestehe darin, daß ich weiß, was ich sehe, und etwas anderes sage." (A, 52) Das Lügen interessiert mich dabei unter sprachphilosophischer Rücksicht, nicht unter moralphilosophischem oder psychologischem Gesichtspunkt. Umberto Eco hat seine Auffassung von Semiotik mit der Rede vom „Lügen" in Zusammenhang gebracht: „Die Semiotik befaßt sich mit allem, was man als Zeichen betrachten kann. Ein Zeichen ist alles, was sich als signifizierender Vertreter für etwas anderes auffassen läßt. Dieses andere muß nicht unbedingt existieren oder in dem Augenblick, in dem ein Zeichen für es steht, irgendwo vorhanden sein. Also ist die Semiotik im Grunde die Disziplin, die alles untersucht, was man zum Lügen verwenden kann." (Eco 1987, 26) Meines Erachtens legt gerade diese Offenheit unserer Zeichen nahe, das Wahr/falsch-Spiel einzuführen und Aussagen, wie das in der Logik tagein, tagaus geschieht, mit „wahr" oder „falsch" zu kennzeichnen. Wäre dem nicht so, könnte einer Redundanztheorie der Wahrheit doch tatsächlich vorbehaltlos zugestimmt werden. Wenn man nun der Auffassung ist, daß eine wesentliche Funktion der Kultur darin besteht, irgendwelche Vorgänge als Zeichen zu deuten, kann man dieses Programm einer Theorie der Lüge auch als Kulturtheorie verstehen. Und eine Kulturtheorie dürfte auch der sinnvollste Ort sein, sich über die Regel- und die Handlungsstruktur der Sprache, über das Offene und die Ordnung, über den Phantasie- und den Kalkülaspekt unseres sprachlichen Handelns Gedanken zu machen. Wittgenstein hat das einmal so ausgedrückt: „Man könnte sagen: Experiment-Rechnung sind Pole, zwischen welchen sich menschliche Handlungen bewegen." (BGM, 398) Lügen sind, glaube ich, sowohl soziale Experimente, als auch eine Form sprachlichen Handelns, die kalkuliert werden muß und nach ganz bestimmten Regeln abläuft. Gerade diese Doppelstruktur macht das Gelingen und Mißglücken von Lügen delikat.

Das Sprachspiel des Lügens „Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will wie jedes andere" (PU, 249) und das darum einen besonderen Umgang mit den Regeln, die unser sprachliches Handeln bestimmen, fordert. Man könnte hier drei Stufen von Regelfolgen unterscheiden: Die primitivste Stufe besteht in der Fertigkeit, vorgegebenen Re-

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geln „brav" zu folgen, wie dies etwa ein Schüler, der eine vorgegebene Reihe aufzuschreiben hat, tut (a); die zweite Stufe meint die Fertigkeit, Regeln nicht nur selbst folgen, sondern auch anderen diese Regel erklären zu können (ein vielleicht idealtypisch gedachter Lehrer) (b); die dritte Stufe ließe sich als die Fähigkeit charakterisieren, bestehende Regeln souverän zu beherrschen, neue Regeln zu entwickeln und auf diese Weise kreativ mit bestehenden Regeln umzugehen (c). Wir könnten diese drei Stufen die konsekutive, die souveräne und die kreative Art, Regeln zu folgen, nennen. Im Fall der Lüge muß der Typ kreativen Regelfolgens vorausgesetzt werden, da wir nur dann von Lügen sprechen würden, wenn der Person sprachliche Alternativen zur Verfügung stehen (vgl. Z, 396). Aus diesem Grund sagen wir auch nicht von Säuglingen, daß sie lügen. Das Lügen wurde als eine Form des Handelns eingeführt, und Handlungen lassen sich dadurch charakterisieren, daß sie unterlassen werden können bzw. daß sie sich durch sprachliche Äußerungen beeinflussen lassen, was beides darauf hinausläuft, daß es Handlungsalternativen geben muß. Unter diesem Gesichtspunkt kann Peter Winch auch einen Zusammenhang zwischen „Handeln" und „Verstehen" herstellen (Winch 1974, 85 f.). Lügen ist also ein Sprachspiel, das gelernt sein will und das die Kenntnis anderer Sprachspiele für dieses Lernen voraussetzt. Das Lügen als ein Sprachspiel zu verstehen, bedeutet auch, es als regelgeleitet zu begreifen. Lügen können glücken und mißglücken. Falkenberg unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen „Lügen", „Anlügen" und „Belügen" und analog zwischen dem „Glücken", dem „Gelingen" und dem „Erfolgreichsein" einer Lüge (Falkenberg 1982, 17-19; vgl. auch 92ff.). Eine Lüge glückt, wenn sie eine Lüge ist (nicht jede falsche Aussage ist ja eine Lüge); eine Lüge von X gelingt, wenn X den Y anlügt; und eine Lüge ist erfolgreich, wenn X den Y belogen hat. Die Kontextbedingungen für die jeweiligen Stufen des Glückens von Lügen sind dabei natürlich jeweils spezifische. Doch bleiben wir zunächst bei Intuitionen aus der Lebenswelt: Eine Faustregel für das Lügen könnte zum Beispiel lauten: „Lüge so, daß der andere dir glauben kann", und wenn man dies nicht beachtet, geht das Lügen schief. Es kommt eben auch ganz darauf an, mit wem man spricht. Der Mann beispielsweise, der Erich Kästners Emil auf der Zugfahrt nach Berlin von Hochhäusern erzählt, die in den Himmel wachsen, findet bei Emil Glauben, nicht jedoch bei den anderen Mitreisenden - die hätte er so plump nicht anlügen können. Ich hoffe, Sie geben mir diese Intuition, daß Lügen mißglücken können, vielleicht in Erinnerung an Ihre Kindheit, zu. Gerade weil Lügen gelingen und auch mißglücken können, dürfte Franz von Kutschera daher im Unrecht sein, wenn er sagt: „Lügen ist wohl weniger ein eigenes Sprachspiel, als ein Verstoß gegen die Regeln des Spiels .Mitteilen', das verlangt, daß man nur solche Behauptungssätze äußert, von deren Wahrheit man über-

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zeugt ist." (von Kutschera 1993, 137, Fußn. 11) Auch wenn das sprachliche Handeln des Lügens nur in Abhebung von bestehenden Regeln anderer Handlungsformen als regelhaft charakterisiert werden kann, folgt aus dieser Abhängigkeit nicht, daß das Lügen bloßer Regelverstoß und nicht doch von spezifischen Regeln geleitet ist. Auch Searles These, daß die Lüge eine beschädigte Behauptung sei (Searle 1974/75, § II), wollen wir daher zurückweisen. Wir wollen also das Lügen unter dem Aspekt des Sprachspiels betrachten. Eingangs wurde die Arbitrarität unserer Zeichen charakterisiert, die auch anders sein könnten, als sie sind. Dadurch werden Lügen möglich. Lügen beschreiben alternative Weltverläufe. Wittgenstein lehrt uns: „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen" (T, 1.1) und: „Wir machen uns Bilder der Tatsachen" (T, 2.1); und das Bild ist wiederum eine Tatsache (T, 2.141). Die Bilder, die wir uns von den Tatsachen machen, können ganz verschieden sein. Und diese Bilder behandeln wir als Tatsachen. Daraus ergibt sich eine „Offenheit" in Wittgensteins Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Welt derart, daß sich das Lügen ganz leicht als ein Versuch verstehen läßt, einen möglichen Sachverhalt als Tatsache bzw. ein bestimmtes Bild von einer Tatsache zu präsentieren. Und so handeln wir. Wir operieren ja nach dieser Ontologie nur mit Dingen, die in Sachverhalten vorkommen. Daß hier ein Buch liegt, ist ein Sachverhalt, der bestehen kann oder nicht. Ich kann aber nie einem Buch begegnen, das nicht in einem Sachverhalt vorkommt. Für die Lüge ist das ein ganz entscheidender Punkt: Sachverhalte derart zu konstruieren, daß ich in einer ganz bestimmten Weise mit Dingen umgehen kann. Das Lügen konstruiert Handlungsspielräume. Wenn man sich einer anderen Terminologie bedient, könnte man versucht sein, semantische Fragen im Zusammenhang mit dem Lügen in Verbindung mit der Rede von „möglichen Welten" zu bringen. (Unter dieser Rücksicht kann man beispielsweise literarische Kontexte verstehen, die ja durchaus nahe an das Sprachspiel des Lügens heranreichen können [vgl. Dolezel 1985]). Wenn man diesen Gedanken aufgreift, könnte man zwei Beobachtungen in bezug auf das Lügen anstellen: Lügen konstruieren mögliche Sachverhalte und geben sie als Tatsachen aus (a); Lügen müssen im Gegensatz zu literarischen Fiktionen in einem expliziten Zusammenhang mit der sogenannten „wirklichen Welt" stehen derart, daß die von der Lüge gezeichneten Handlungskontexte in die sogenannten „tatsächlichen Handlungskontexte" einmünden können (b). Gelingt dies nicht, wird die Lüge mißglücken, wie das im Veruntreuten Himmel von Franz Werfel so anschaulich dargestellt wurde. Das Lügen setzt also auf jeden Fall den Gedanken alternativer Weltverläufe, also den Gedanken voraus, daß die Welt anders sein könnte, als sie ist.

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Das Gelingen von Lügen Wann glücken Lügen? Zunächst eine Begriffsklärung: Unter dem Gelingen einer Lüge wollen wir den Umstand verstehen, daß der Lüge Glauben geschenkt wurde und die Handlung des Lügens in den bestehenden sozialen Handlungszusammenhang integriert wurde und der propositionale Gehalt der Lüge als Tatsache behandelt wird. Im Falle des Gelingens einer Lüge ist es also geglückt, einen möglichen Sachverhalt als Tatsache „salonfähig" zu machen. In diesem Zusammenhang ließen sich höchst subtile Beispiele nennen: Franz hat eine Christbaumkugel vom Christbaum gestoßen und beschließt zu sagen, die Katze sei's gewesen. Mittlerweile hat die Katze eine zweite Christbaumkugel vom Baum gestoßen und sich nach dem Lärm aus dem Staub gemacht. Als nun die Mutter fragt: „Wie sind die Christbaumkugeln kaputtgegangen?", wird Franz im Singular - antworten: „Die Katze hat sie hinuntergestoßen." In derlei Fällen müssen Entscheidungen getroffen werden, ob die Absicht, die Unwahrheit zu sagen, schon ausreicht, um eine Lüge zu erzeugen. Kann man von Lüge sprechen, wenn ich beispielsweise im Glauben, die Unwahrheit zu sagen, sozusagen versehentlich die Wahrheit sage? Thomas von Aquin hat dieses Problem im Anschluß an Augustinus in seine Summa Theologica aufgenommen und klar formuliert: „Mendacium simul potest esse cum veritate: qui enim verum loquitur quod falsum esse credit mentitur." (Summa Theologica, II-II, 110,1) Das Auseinanderfallen von Wissen und Sagen ist offensichtlich nicht genug. Das Phänomen des Lügens muß - wie es auch Falkenberg tut - mit Wahrhaftigkeits- und nicht mit Wahrheitsüberlegungen angegangen werden. Auch spezielle Lüge-Situationen (Theater, Folter; der Lügner fällt während der Lüge in Ohnmacht; vgl. Falkenberg 1982, 108) sollen uns hier kein Kopfzerbrechen bereiten; dazu bedarf es einer umfangreicheren Analyse. Im vorliegenden Fall will ich mich auf hausbakkene Beispiele beschränken, weil mich in erster Linie der Zusammenhang zwischen Lügen und Handeln interessiert. Wann gelingen Lügen? Eine Bedingung, nämlich eine bestimmte Form der Regelkompetenz, wurde bereits angegeben. Es muß die Regelkompetenz des Sprechers im Sinne des souveränen Regelfolgens bestehen, die es dem Sprecher möglich macht, neue Regeln für den sprachlichen Umgang mit möglichen Sachverhalten aufzustellen. Zweitens, auch das wurde bereits angedeutet, muß der Konnex zu den Tatsachen plausibel sein. Die Lüge muß einen praktisch möglichen Handlungszusammenhang konstruieren. Die Lüge des Fahrgasts: „Herr Schaffner, ich hab einen Fahrschein gekauft, und ihn in diese Tasche getan, aber da ist eine Maus drin und die hat den Fahrschein gefressen", wird schwerlich glücken können. Eine dritte Bedingung liegt in der Authentizität des Sprechers. Die Rolle des Sprechers, der das Sprachspiel prägt und auf eine einzigartige und unaustausch-

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bare Weise mit Zeichen umgeht, ist für das Gelingen von Lügen von größter Bedeutung. Man könnte nämlich sagen, daß ich zu meinem Sprachhandeln dahingehend einen privilegierten Zugang habe, daß ich weiß, ob ich lüge oder nicht. Und tatsächlich wird das Lügen als Lügen erst dann sozial relevant, wenn es entlarvt worden ist. Aufgrund dieser privilegierten Beurteilung meiner sprachlichen Handlungen muß der Gesichtspunkt der Authentizität einbezogen werden. Es handelt sich hierbei um die Frage, wieviel Kredit (Kredibilität) ich für meine Aussagen in Anspruch nehmen kann. Eine Lüge ist vergleichbar mit dem Aushändigen eines Schecks, der durch die Tatsachen nicht gedeckt ist. Und die Kontextbedingungen für das Gelingen von Lügen können durchaus in Parallele mit diesem Handlungskontext, ungedeckte Schecks auszuhändigen, analysiert werden. Die Rolle des Sprechers ist in beiden Fällen zu berücksichtigen. Das einfachste Beispiel, sich dies vor Augen zu führen, ist die Geschichte des Lügners, der zu oft gelogen hat. Es gibt die Geschichte in vielen Varianten. Mir fallt die Variante mit dem Hirtenbuben ein, der zweimal das Dorf mit dem Schrei „Ein Wolf, ein Wolf, schnell kommt, ein Wolf!" erschreckt, und zweimal Fehlalarm auslöst. Als beim dritten Mal tatsächlich ein Wolf in die Herde einbricht, wird dem Hilfeschrei des Hirtenbuben kein Glaube mehr geschenkt. Das allgemeine Sprachspiel der Mitteilung, könnte man sagen, sei durch den Sprecher verunmöglicht worden. An dieser Stelle könnten auch Überlegungen zur Soziologie des Sprachgebrauchs angestellt werden (etwa in Form der Frage, welche sozialen Rollen für das Gelingen von Lügen am besten geeignet sind). Doch gehen wir einen Schritt weiter. Eine vierte Bedingung möchte ich noch anführen, nämlich den Kontext. Wittgenstein spricht hier gerne von der „Umgebung" sprachlichen Handelns. Auch das Lügen braucht eine bestimmte Umgebung. Aus diesem Grund lehnt es Wittgenstein ab, vom Heucheln bei Hunden zu sprechen (PU, 250). Das Lügen, so habe ich vorgeschlagen, soll unter dem Gesichtspunkt „sinnvollen Verhaltens" betrachtet werden. Das bedeutet zugleich, die Handlungen des Lügens in einen bestimmten Kontext zu betten, der „Verstehen" und „Beeinflußbarkeit" voraussetzt. Sehen wir uns Wittgensteins Beispiel an: „Aber kann man nicht auch lügen, indem man sagt ,Es wird bald aufhören' und den Schmerz meint [...]?" (PU, 668) Primafacie würde man sagen, in diesem Fall könne die Lüge nicht glücken, weil zum Lügen die Umgebung fehlt. Andererseits kann ich mir durchaus Situationen konstruieren, bei denen diese Mitteilung als Lüge eine Rolle spielen könnte, etwa, wenn ich vorschnelle und inkompetente Hilfeleistungen abwehren möchte. Von diesen „Umständen" sprachlichen Handelns spricht Wittgenstein oft (PU, 35, 117, 164, 349, 441, 539, 607, 636). Wir könnten uns beispielsweise vorstellen, daß sprachliches Handeln, das massive Nachteile für den Sprecher zur Folge hat, schwerlich als Lüge verstanden werden würde. Dazu fehlt der Handlung die Umgebung. Im Falle eines juristisch Schuldlosen,

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der sich vor Gericht massiv selbst belastet, müssen wir besondere Umstände annehmen, um eine Umgebung zu finden, die sein sprachliches Handeln sinnvollerweise als Lüge bezeichnet läßt. Nehmen wir ein Beispiel: Ist die Lüge des Petrus, der seine Verbindung mit Jesus von Nazareth verleugnet (Joh. 18, 15-27), geglückt? Die Umstände sind klar darauf ausgelegt, daß wir von einer Lüge sprechen (Petrus würden große Nachteile erwachsen, wenn er die Wahrheit sagte). Petrus beherrscht die Sprache, in der gesprochen wird, und die Regeln, die das von ihm eingeforderte Mitteilungshandeln anleiten („die Erwartung zu erfüllen, das zu sagen, was der Fall ist"). Petrus präsentiert einen Sachverhalt, der durchaus sozial akzeptabel ist („Ich kenne ihn nicht"). Die Person des Petrus, so wird es dargestellt, ist nicht von vornherein verdächtig und mit social markers belegt, die seine Aussage unglaubwürdig erscheinen lassen. Die „Umgebung" für die Lüge scheint passend. Dennoch ist die Lüge des Petrus auf der Kippe zum Mißlingen - aus zwei Gründen: Erstens, weil seine Person in dreierlei Hinsicht in Mißkredit gebracht werden kann: a) er ist wie Jesus ein Galiläer (vgl. Lk. 22, 59); b) er betritt den Hof des hohenpriesterlichen Palastes gemeinsam mit einem Jünger Jesu; c) er stellt sich neben die Knechte und Diener des Hohenpriesters, bei denen er eigentlich nichts zu suchen hat. Zweitens werden mögliche Sachverhalte ins Spiel gebracht („Habe ich dich nicht im Garten bei ihm gesehen?"), die dem Sachverhalt, den Petrus präsentiert, widersprechen. Die dreimalige Wiederholung der Anfrage verdeutlicht, daß die Lüge des Petrus um ein Haar gescheitert wäre. In einer anderen Darstellung (Mk. 14, 71) versucht sich Petrus dadurch zu retten, daß er Ausdruckshandlungen wie das Fluchen und das Schwören vollzieht, um seiner Sachverhaltsdarstellung Nachdruck zu verleihen. Dahinter steckt das Prinzip, daß eine Mitteilung an Glaubwürdigkeit gewinnt, wenn ich mich freiwillig zu weiteren Handlungen verpflichte oder wenn ich weitere Handlungen setze, die die Mitteilung bestärken (nach diesem Muster, sich zu weiteren Handlungen des Begründens und Erklärens zu verpflichten, funktioniert übrigens die Einleitung eines Satzes mit: „Ich weiß, daß ..." - ein Satztypus, der für das Lügen unter eben dieser Rücksicht eingegangener Obligationen interessant ist). Welche Handlungen freilich als Bestärkungen der Mitteilung angesehen werden, hängt vom sozialen Handlungszusammenhang ab. Der Schwur, dessen Petrus sich noch bedienen konnte, hat ja in manchen Breiten keinen Wert mehr. Halten wir fest: Es gibt kein offizielles Verfahren für das Lügen. Daher können wir auch keine „harten Kriterien" für das Gelingen von Lügen angeben. Wir können nur mit Hilfe der angegebenen Kontextbedingungen dazu einladen, den Kontext des Lügens zu berücksichtigen. So ist eben das Wechselspiel von der Ordnung und dem Offenen.

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Das Scheitern/Sanieren von Lügen D a ß Lügen scheitern können, das sagen uns Sprichwörter wie „Lügen haben kurze Beine" oder Engramme aus der Kindheit. Die Bedingungen des Scheiterns von Lügen k ö n n e n natürlich aus dem weiter oben Ausgeführten gleichsam spiegelverkehrt e n t n o m m e n werden (wenn Kontextbedingungen für das Gelingen nicht gegeben sind, dann kann die Lüge nicht „glücken"). Hier stellt sich die interessante Frage nach dem „Sanieren von Lügen". Ziehen wir diese Frage vor: Wie saniere ich eine mißlungene Lüge? Zunächst grundsätzlicher gefragt: Wie kann man mißglückte Handlungen sanieren? Das ist eine höchst komplexe Frage. Ein einmal getätigter Gruß (diesen M a n n auf der Straße habe ich für meinen Vermieter gehalten, aber er war es nicht) läßt sich nicht zurücknehmen wie ein Versprechen oder aufheben wie eine Falschwahl beim Telefon. Erving G o f f m a n spricht im Fall des Sanierens mißlungener oder rechtfertigungsbedürftiger Handlungen von „Ausgleichshandlungen" (Goffman 1994, 25 ff.), Franck von „aufhebenden Sprechakten" (Franck 1979). Eine aufgedeckte Lüge verlangt in unserer Kultur nach einer Ausgleichshandlung. Zur Definition: „Die Handlungssequenz, die durch eine anerkannte Bedrohung des Images in Bewegung gesetzt wird und mit der Wiederherstellung des rituellen Gleichgewichts endet, werde ich Ausgleichshandlung n e n n e n [...]. In unserer Gesellschaft kann man handgreifliche Beispiele in Äußerungen wie .Entschuldigung'- ,aber bitte' oder im Austausch von Geschenken und Besuchen finden." (Goffman 1994, 25 f.) Es ist charakteristisch für die Ausgleichshandlung, daß sie der Größe des Regelverstoßes - und ein Verstoß gegen soziale Verhaltensregeln m u ß jedenfalls vorliegen - angemessen sein m u ß . Wenn ich jemandem Geld stehle und, so ich erwischt werde, sage: „Oh, Entschuldigung, ich habe Ihr Geld gestohlen", so wird man das in unserer Kultur nicht als angemessene Ausgleichshandlung akzeptieren. Austin hat in diesem Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung unterschieden, beides Instrumente, um Ausgleichshandlungen zu setzen: „Bei der einen Verteidigung akzeptieren wir die Verantwortung, leugnen aber, daß die H a n d l u n g schlecht war; bei der anderen geben wir zu, daß die H a n d l u n g schlecht war, n e h m e n aber nicht die volle oder sogar überhaupt keine Verantwortung auf uns." (Austin 1986, 230) U m bei unserem Beispiel zu bleiben: Im ersten Fall könnte ich sagen: „Ich bin von Gott oder dem CIA beauftragt, das Geld zu stehlen", im zweiten Falle etwa: „Oh, Verzeihung, ich dachte, es sei meine Geldtasche, ich habe mich einfach geirrt." Im Falle des Lügens liegt ein Situationstyp vor, der Ausgleichshandlungen verlangt, wenn die Lüge als Lüge entlarvt wird. U n d dies geschieht dann, wenn eine mögliche Welt, die durch eine Lüge konstituiert wird, derart auf die sogenannte „tatsächliche Welt" prallt, daß ein Widerspruch entsteht. Etwa, wenn ich meiner

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Frau sage, daß ich ihren einsamen Vater in X besuchen werde und nun tatsächlich gemütlich in Y sitze. Wenn sie ihren Vater anruft, ist zweifelsohne Sanierungsbedarf gegeben. Was könnte man hier tun? Mir fallen dazu zwei Möglichkeiten ein (bei den folgenden Aussagen muß ich die durchaus problematische Redeweise von den „möglichen Welten" und der „tatsächlichen Welt" beibehalten): Erstens könnte ich versuchen, die konstruierte mögliche Welt weiterhin als tatsächliche auszugeben. Im Falle meines Berlinbesuchs (das Beispiel ist übrigens nicht wahr) würde ich etwa, wenn ich meine Frau von Berlin aus anrufe, auf ihre Vorwürfe hin sagen: „Oh, natürlich bin ich dort, aber leider ist dein Vater heute sehr verwirrt und hat den Realitätsbezug verloren." Damit würde ich den vorgeschlagenen Weltverlauf weiterverfolgen und ausbauen, um so ein Scheitern zu verhindern. Ich würde zusätzliche Sachverhalte als Tatsachen ausgeben, um den inkriminierten Sachverhalt als Tatsache aufrechtzuerhalten. Dies geschieht häufig mit den berüchtigten Ad hoc- Hypothesen, mit denen man ja auch wissenschaftliche Theorien, die kurz vor dem Zusammenbrechen stehen, noch zu retten versucht. Ich könnte Ad ¿oc-Hypothesen auch dadurch aufstellen, daß ich zusätzliche mögliche Weltverläufe konstruiere, etwa mit der Aussage: „Daß ich zu deinem Vater fahre, habe ich doch nur zum Scherz gesagt und gedacht, du hast es so verstanden. Du weißt doch, daß mir die Wissenschaft wichtiger als die Menschen ist!" In diesem Fall würde ich versuchen, die mögliche Welt zu entschuldigen. Zweitens könnte ich versuchen, die mögliche Welt in einer Weise darzustellen, die klarmacht, daß ich keine Handlungsalternativen habe, etwa: „Ich wollte dich nicht beunruhigen, aber ich M U S S T E nach Berlin fahren, weil sonst meine philosophische Karriere zu Ende wäre. Ich M U S S Professor Hacker und Professor Schneider treffen." Damit würde ich die mögliche Welt rechtfertigen wollen. In beiden Fällen geht es darum, den Konnex zur sogenannten „tatsächlichen Welt" herzustellen oder zu vermeiden. Halten wir vorerst fest: Lügen scheitern, wenn Widersprüche auftreten, die zur Handlungsunfähigkeit führen. Ich kann nicht in zwei Welten gleichzeitig operieren, auch wenn ein und derselben Handlung in verschiedenen Welten als bestimmtem Zeichen Bedeutung zukommen kann (das ist die Natur von Mißverständnissen). Widersprüche führen in die Handlungsunfähigkeit. Man könnte die Bemühungen der Logik bereits seit Aristoteles so verstehen, daß wir hier dem Hinweis folgen: „Handle so, daß du weiterhandeln kannst." Und das bedeutet die Vermeidung von Widersprüchen. Aus diesem Grund kommt der Anerkennung des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten (zwei einander widersprechende Propositionen können nicht gleichzeitig falsch sein) und des Prinzips des ausgeschlossenen Widerspruchs (zwei einander widersprechende Propositionen können nicht gleichzeitig wahr sein) eine besondere Bedeutung zu; im Zusammenhang mit letzterem Prinzip bemerkt Lukasiewicz: „Würden wir dieses

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Prinzip nicht anerkennen, und die gleichzeitige Bejahung und Verneinung für möglich halten, so könnten wir uns gegen falsche oder lügnerische Aussagen anderer nicht verteidigen. Ein fälschlich des Mordes Beschuldigter würde kein Mittel finden, um seine Unschuld vor Gericht zu beweisen. Er könnte nur höchstens den Beweis dafür erbringen, daß er KEINEN Mord begangen hat; diese negative Wahrheit kann aber die ihr widersprechende positive nicht aus der Welt schaffen, wenn der Satz des Widerspruchs nicht gilt." (Lukasiewicz 1910, § 20) Das „Offene" der Sprache, das das Lügen ermöglicht, setzt zugleich also „die Ordnung" logischer Prinzipien voraus. Dies soll noch weiter entfaltet werden. Der springende Punkt bei der Charakterisierung des Verhältnisses von Offenheit und Ordnung ist die Ermöglichung von Handeln. Lügen kann ich nur, wenn mir sprachliche Alternativen zur Verfügung stehen; Lügen kann ich also nur, wenn ich handlungsfähig bin. Diesen Gedanken gilt es bei den Lügenparadoxien (vgl. Falletta 1985, 71-79) zu beherzigen. Welche Art von Handlung ist das Lügen? „Lügen" ist kein illokutives Verb zur Bezeichnung eines eigenen Sprechakts. Die Lüge ist kein besonderer illokutionärer Akt, sondern eine Form der Behauptung, ein Behauptungsakt mit der Auflage, daß der Behauptende unwahrhaftig ist. Mit dem Sprechakt des Lügens kann ich keine Handlung setzen. Mit Aussagen wie: „Ich lüge dich hiermit an ..." wird der Witz des Lügens zerstört, und man kann weder vom Gelingen noch vom Mißlingen einer Lüge sprechen. Dies möchte ich im folgenden verdeutlichen. Eine Lüge kann nur als Lüge konstituiert werden, wenn bestimmte Kontextbedingungen, nämlich Handlungsmöglichkeiten gegeben sind. Aus einem Widerspruch heraus kann ich nicht handeln. Die Lüge setzt damit die „Idee des sinnvollen Verhaltens" voraus. Das ist geradezu eine grammatische Bemerkung. Sehen wir uns dazu einen besonderen Fall an, die berühmte Lügenparadoxie. Ich möchte dafür argumentieren, daß in diesem Fall überhaupt nicht von Lüge gesprochen werden kann - aus grammatikalischen Gründen. Das macht auch Wittgenstein deutlich, wenn er in seinen Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik daraufhinweist, daß der Satz: „Ich lüge. - Also lüge ich nicht. - Also lüge ich. - etc." unbrauchbar ist: „Es ist eine brotlose Kunst [...], ein Sprachspiel, das Ähnlichkeit mit dem Spiel des Daumenfangens hat." (BGM, 120) Es ist das „Gespenst des Widerspruchs" (vgl. BGM, 254), das uns gefangen hält. Und gefangen sind wir eben deshalb, weil wir aufgrund des Widerspruchs handlungsunfähig geworden sind und nicht mehr weiteroperieren können, der Satz kann keine Arbeit leisten. Der auch von Paulus zitierte Lügner (Tit. 1, 12) meint mit „wahr" und „falsch" nicht dasselbe wie wir, weil wir mit diesen Ausdrücken operieren. Und wenn wir von „operieren" sprechen, meinen wir gewöhnlich die Einbettung in einen Handlungszuammenhang, meinen wir, daß wir so handeln, daß

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wir weiterhandeln können. Den Satz: „Ich lüge jetzt" kann ich nicht in einen Handlungszusammenhang einbetten, dieser Satz verpflichtet mich zu nichts und ist nicht mit anderen Handlungen in Beziehung zu setzen. Die Antinomie führt in die Handlungsunfähigkeit und das unterwirft die verwendeten Zeichen der „Hermeneutik des grammatikalischen Verdachts". Wenn die Klasse aller Löwen „der Löwe aller Löwen" genannt wird ( B G M , 403), funktioniert die Tätigkeit des Zählens nicht mehr so, wie wir es gewohnt sind (vgl. B G M , 38). Und dieser Umstand, daß wir nicht so ohne weiteres weiterhandeln können, sollte unser grammatisches Mißtrauen wecken. Die Möglichkeit, weiterzuhandeln, und die Möglichkeit, Handlungsalternativen (mögliche Welten) zu konstruieren, machen die „Offenheit" des sprachlichen Handelns aus. Ich möchte an dieser Stelle in Erinnerung rufen, daß Wittgenstein im Tractatus diese Offenheit unserer Zeichen in eminenter Weise in der Konzeption seiner operativen Logik berücksichtigt hat. Wittgenstein hält daran fest, daß in der Logik aufgrund gewisser Operationen Sätze aus Sätzen gewonnen werden, daß eine bestimmte Praxis des Zeichenhandelns Zeichen nach gewissen Regeln transformiert. „Die Operation ist das, was mit einem Satz geschehen muß, um aus ihm den anderen zu machen." (T, 5.23) Und weiter: „Die Operation kann erst dort auftreten, wo ein Satz auf logisch bedeutungsvolle Weise aus einem anderen entsteht. Also dort, wo die logische Konstruktion des Satzes anfängt." (T, 5.233) Richter bemerkt dazu, daß es „das Charakteristische der Operation" sei, „daß ihr Resultat auf,derselben Ebene' ist wie ihre Basen" (Richter 1965, 27), im Gegensatz zu Russells Typentheorie. Da das Ergebnis einer Operation, also die gewonnenen Zeichen auf derselben Ebene liegen wie die Ausgangszeichen, ist die Wiederholung des Zeichenhandelns möglich, ist die Möglichkeit einer wiederholten Anwendung derselben Operation gegeben. Auch für die Wahrheitsoperation ist es von entscheidender Bedeutung, daß Basis und Resultat einer Operation keine Hierarchie aufbauen. Der Satz ist nach Wittgenstein als Resultat von Wahrheitsoperationen zu verstehen: „Jede Wahrheitsoperation erzeugt aus Wahrheitsfunktionen von Elementarsätzen wieder eine Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen, einen Satz. Das Resultat jeder Wahrheitsoperation mit den Resultaten von Wahrheitsoperationen mit Elementarsätzen ist wieder das Resultat Einer Wahrheitsoperation mit Elementarsätzen." (T, 5.3) Die Operation bringt uns nicht auf eine „höhere Stufe", auch wenn sie immer wieder wiederholt werden kann. Die Wahrheitsoperation wird von Wittgenstein als rekursive Operation eingeführt, die aus Sätzen weitere Sätze erzeugt. Und jeder erzeugte Satz kann wiederum als Basis für weitere Operationen verwendet werden usf. Dieses Verständnis von Operation ist es auch, das die Anwendung eines Zeichens auf sich selbst nur in einer bestimmten Weise zuläßt: „Eine Funktion kann nicht ihr eigenes Argument sein, wohl aber kann das Resultat einer Operation ihre eigene Basis wer-

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den." (T, 5.251) Der von Wittgenstein zweimal im Tractatus zitierte William Ockham (T, 3.328, 5.47321) hätte dies wohl so ausgedrückt, daß ein Ausdruck sich selbst nicht in personaler Supposition enthalten kann. Hans Kraml hat die Ähnlichkeit der Ansätze Ockhams und Wittgensteins in der Frage nach dem Vorkommen und Verwenden von Ausdrücken ausführlich behandelt und eine Interpretation des Tractatus vorgelegt, die entscheidende Passagen als Antwort auf die Antinomien Russells ausweist (Kraml 1996). Es geht in jedem Fall um die Möglichkeit, mit Zeichen handeln und weiterhandeln zu können; wirft man zwei Modi des Vorkommens (Supponierens) von Ausdrücken durcheinander, muß aufgrund der entstandenen Handlungsunfähigkeit (siehe auch den infiniten Regreß in Russells Typentheorie) der Verdacht auf die grammatische Kontamination der Zeichenhandlung aufkommen. Zusammenfassend formuliert: Die Möglichkeit zu lügen setzt die Möglichkeit zu handeln voraus. Wenn diese Möglichkeit nicht besteht, kann - grammatikalisch - nicht von „Lüge" gesprochen werden.

Gedankenexperiment: L-Sprache Versuchen wir nun, mit der Idee des Lügens gewissermaßen sprachhandelnd umzugehen. Nehmen wir Wittgensteins Einladung an, uns Gesellschaften vorzustellen, die nach anderen Mustern funktionieren als die unsrige. Das folgende Beispiel ist möglicherweise abstrus, aber gerade die Frage, warum es denn abstrus sei, kann wertvolle Hinweise für unser Thema liefern. Und zugegeben, das Beispiel wirft mehr Fragen auf, als es Hinweise auf Antworten gibt - dies macht jedoch vielleicht die Besonderheit eines Beitrags zum Thema „Offenheit" aus. Wir könnten uns den Stamm der Mentirophilen vorstellen, wir wollen sie „Menphis" nennen, die - so wie man das den Kretern nachsagt - nur und ausschließlich lügen. Die sprachlichen Zeichen, die die Menphis verwenden, werden im Sprachspiel der Lüge verwendet. Wir könnten diese Sprache, die ausschließlich zum Lügen verwendet wird, L-Sprache nennen. Vielleicht hängt die Konstruktion einer L-Sprache bei den Menphis mit traumatischen Erfahrungen in der Sozialgeschichte des Dorfes zusammen; vielleicht ist es ein Versuch, sich vor Eindringlingen und Touristen zu schützen. Jedenfalls gilt die Abmachung, daß jede Mitteilung nach den uns vertrauten Maßstäben den Wahrheitswert „falsch" erhalten würde. Stellen wir uns weiter vor, um das Ganze nicht zu kompliziert zu machen, daß wir diese Menphis in einem unscheinbaren Tiroler Bergdorf vorfinden. Diese Annahme hat den Vorteil, daß wir uns vorstellen können, die Sprache der Menphis leicht zu verstehen. Wir würden bald merken, daß das Sprachspiel der Mitteilung bei diesem Stamm auf eine ganz eigenartige Weise

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funktioniert. D i e A u s s a g e n : „Es regnet", „ E r hat seine K i n d e r geschlagen", „Ich werde den S c h u h bis m o r g e n repariert h a b e n " ziehen nicht dieselben H a n d lungsverpflichtungen nach sich oder setzen nicht dieselben U m s t ä n d e voraus, wie wir es g e w o h n t sind. M a n könnte sagen, daß damit die Strukturseite der Sprache bis a u f die E i n s c h r ä n k u n g , daß eben alles gelogen sein m u ß , konsequent abgebaut wird. Es ist klar, daß so etwas nur im R a h m e n einer K u l t u r geschehen k a n n - so wie eben die Lüge nur im R a h m e n einer K u l t u r entstehen u n d f u n k t i o n i e r e n k a n n , d e n n so etwas wie „ W a h r h e i t " (vgl. unten) k o m m t nur innerhalb einer K u l t u r zustande. Schließlich k ö n n e n wir uns daran erinnern, daß U m b e r t o E c o die Semiotik „eine Theorie der L ü g e " (siehe Einleitung) genannt hat und die Semiotik als Kulturtheorie versteht. W i e w ü r d e n wir uns n u n bei den M e n p h i s zurechtfinden? Vielleicht würden wir zuerst mißtrauisch werden und Verdacht s c h ö p f e n ; langsam würde sich dieser Verdacht erhärten, daß wir uns auf die verwendeten Z e i c h e n nicht verlassen k ö n n e n . Natürlich k ö n n t e diese Art des Lügens n o c h ins Extreme verzerrt werden, etwa daß der einzelne Buchstabe nicht stringent verwendet wird, aber aus E i n f a c h h e i t s g r ü n d e n (und bei einem G e d a n k e n e x p e r i m e n t auf d e m Papier ist das auch durchaus m ö g l i c h ) wollen wir dies nicht a n n e h m e n . Wir würden a u f jeden Fall m e r k e n , daß die Sprache nicht so funktioniert, wie wir es g e w o h n t sind. E i n e solche F o r m , die Sprache zu v e r w e n d e n , k a n n es nur geben, w e n n es primäre H a n d l u n g s z u s a m m e n h ä n g e gibt, auf die das L ü g e n , das ja ein abgeleitetes Sprachspiel ist, B e z u g n i m m t . Im vorliegenden Fall besteht die Unterscheidung zwischen „ w a h r " und „ f a l s c h " insofern, als die M e n p h i s nur falsche Aussagen m a c h e n u n d daher den Unterschied zwischen „ w a h r " u n d „ f a l s c h " voraussetzen. U n t e r dieser Rücksicht k a n n zwischen „ k o r r e k t e m " und „ i n k o r r e k t e m " Regelfolgen unterschieden werden. Andererseits j e d o c h ist der Sprachgebrauch bei den M e n p h i s d a h i n g e h e n d beliebig, daß es in bezug auf eine Tatsache beliebig viele falsche A u s s a g e n geben kann. Es m u ß aber eine G r u n d l a g e f ü r die Unterscheid u n g zwischen „ w a h r " u n d „ f a l s c h " geben. Wir k ö n n t e n beispielsweise annehm e n , daß dies durch Gesten u n d sogenannte nicht-sprachliche H a n d l u n g e n geschieht. G ä b e es diese primären H a n d l u n g s z u s a m m e n h ä n g e nicht, k ö n n t e n a u f die Aussagen der M e n p h i s keine Interaktionen a u f g e b a u t werden. Es m u ß also Z e i c h e n geben, die verläßlich sind. D e n n w e n n ich keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge m a c h e n k a n n , k a n n Verständigung, die ja auf der Idee der W i e d e r h o l u n g und damit der Verläßlichkeit beruht, nicht Z u s t a n d e k o m m e n . E i n System v o n Z e i c h e n , das ausschließlich z u m L ü g e n gebraucht wird, k a n n nicht auf unserer g e w o h n t e n Lebensweise beruhen, die auf die Idee „sinnvollen Verhaltens" a u f g e b a u t ist, in der Tatsachen und das Sprachspiel der Mitteilung eine entscheidende R o l l e spielen. D e n n w e n n wir uns über etwas verständigen w o l l e n , so müssen wir darauf vertrauen k ö n n e n , daß wahre v o n falschen Aussa-

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gen unterschieden werden können. Das ist auch ein Grundgedanke des Privatsprachenarguments: Korrektes muß von inkorrektem Regelfolgen unterschieden werden können, um nicht in der Beliebigkeit zu enden. Das ist vielleicht die „Grundangst" von Saul Kripke, auf die wir weiter unten zu sprechen kommen werden. Gehen wir noch einen Schritt weiter. Im Falle der Menphis stellen sich interessante Fragen, die auf die Abstrusität des Gedankenexperiments hinweisen: Es stellt sich beispielsweise die Frage, wie denn die L-Sprache erlernt werden kann. Könnte eine L-Sprache mittels verläßlicher außersprachlicher Zeichen erlernt werden? Oder müßten wir Zusatzannahmen machen, etwa die, daß die Kinder der Menphis die Sprache auf dieselbe Weise wie wir erlernen und dann in der Schule, gleichsam als Teil der Bildungssozialisation, die L-Sprache lernen, als eine erste Fremdsprache, die dann die offizielle und die einzig erlaubte Landessprache ist. Und wenn die Konvention der L-Sprache gilt, kann ja auch - logisch interessant - devianter Sprachgebrauch (wer die Wahrheit sagt, lügt ja genauso, weil er gegen die Konvention der Zeichenverwendung verstößt) integriert werden. Wie würden wir das verstehen wollen, wenn einer der Menphis in der L-Sprache zu uns sagt: „Ich lüge jetzt." Was passiert, wenn ein Stammesangehöriger sich irrt und sozusagen versehentlich die Wahrheit sagt? Lassen wir diese Frage offen. Weiters wollen wir die Frage offenlassen, wie es einem Forscher bei den Menphis ergehen mag. Ich möchte nun ein Geheimnis verraten. W. V. O. Quines berühmter Forscher war in Wirklichkeit bei Verwandten der Menphis. Wenn die Fremden „gavagai" ausrufen, und dabei auf einen Hasen zeigen, kann das Beliebiges heißen und muß nicht einmal mit dem Hasen in Verbindung stehen. Vielleicht heißt „gavagai" in Wirklichkeit: „Schau einmal, wieder so ein dummer Forscher, der nicht auf einen Hasen glotzt" oder: „Da geht eine kahle Sängerin" oder ähnliches. Quine macht in seinem Beitrag sehr viele Voraussetzungen bezüglich der Interaktionen zwischen Forscher und Stamm. Das scheint mir gerade anhand des Beispiels mit der L-Sprache illustrierbar zu sein. Quine spricht zwar von „radikaler Ubersetzung", will aber eigentlich „radikale Partizipation" an einer fremden Kultur anzielen, ohne dies mit den Mitteln, die er sich selbst zubilligt, erreichen zu können. Damit läßt er das Gespenst dessen zur Hintertür hinein, was Wittgenstein den Bezug auf „die gemeinsame menschliche Handlungsweise" (PU, 206) nennt. Wittgenstein selbst hat darauf bestanden, daß wir gewisse Minimalvoraussetzungen machen müssen, die ein sprachliches Handeln aufweisen muß, um für uns verständlich zu sein. Trifft dies auf die beschriebene L-Sprache zu? „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen" (PU, II, 536), meint Wittgenstein und schließt dabei wohl den Fall ein, daß der Löwe die Wahrheit sagt. Die Lebensweise der Menphis, die doch auch essen

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und feiern, arbeiten und schlafen, ist uns hinreichend vertraut. Im vorliegenden Beispiel wird uns die Sache noch dazu dadurch leicht gemacht, daß wir die Worte der Sprache verstehen. Was schließt Wittgensteins Rede von der „gemeinsamen menschlichen Handlungsweise" ein? Bleibt uns die Gebärdensprache der Menphis fremd? Daß die Menphis eine „Kultur der Lüge" aufgebaut haben, steht außer Zweifel. Würden wir die L-Sprache verstehen, ohne uns auf die „Idee der Wahrheit" berufen zu können? Könnten wir die Gebärden der Menphis, die wir als notwendiges Fundament genannt haben, verstehen? Oder ist das Gedankenexperiment gescheitert? Eine mögliche Antwortrichtung liegt sicherlich darin, daß aufgrund der vertrauten Handlungsweise des Einkaufens, Mitteilens etc. die prinzipielle Falschheit der L-Aussagen von uns Außenstehenden erkannt werden könnte. Denn der einzige Unterschied zu den uns vertrauten Handlungszusammenhängen besteht im Modus der Mitteilung. Und die ist sekundär zu dem, womit wir handelnd umgehen. Wenn wir das, womit wir handelnd umgehen, in der Sprache falsch/ verzerrt repräsentieren, so ändert das nichts am gemeinsamen handelnden Umgang mit diesen Gegenständen. Ein Hammer wird zum Hämmern verwendet, auch wenn ich den Gegenstand deiktisch mit den Worten: „Das ist eine Schere zum Schneiden von Papier" in den Handlungszusammenhang einführe. So scheint es, daß wir eine L-Sprache aufgrund der gemeinsamen menschlichen Handlungsweise verstehen könnten, die unseren Bezugspunkt abgibt, auf den wir uns verlassen können und von dem aus das Lügen als abgeleitetes Sprachspiel begriffen werden kann. Ich möchte es mit diesen Überlegungen zur L-Sprache bewenden lassen. Als bescheidene Arbeitshypothese, die unserem abstrusen Gedankenexperiment entnommen werden kann, könnte man erstens den Gedanken anführen, daß das Sprachspiel der Lüge nur dann funktionieren kann, wenn es etwas Verläßliches gibt, auf das ich mich stützen kann (diese Angst vor der Beliebigkeit plagt auch Kripkes „Hyperskeptizismus") - nennen wir es „die gemeinsame menschliche Handlungsweise". Lügen ist ein abgeleitetes Sprachspiel. Die Idee der Lüge kann es ohne die Idee der Wahrheit nicht geben. Denn ein Zeichen, das zum Lügen brauchbar ist, muß auch zum Nicht-Lügen verwendet werden können. Das folgt aus der Arbitrarität der Zeichen, hinter die wir nicht zurückgehen können. Ein Zeichen, das prinzipiell nur zum Lügen verwendet werden kann, kann es nicht geben. Zweitens könnte man auf den Gedanken kommen, im Fall der radikalen Ubersetzung und Interpretation das dabei vorausgesetzte Interaktionsgeschehen kritisch zu hinterfragen. Wären die Quineschen und Davidsonschen Forscher mit einer L-Kultur konfrontiert, sähe die Sache anders aus. Und drittens die Vermutung, daß es eine universale L-Sprache nicht geben kann, weil sie sich immer auf etwas Verläßliches stützen können muß. Wir können uns sinnvollerweise

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nur begrenzte Kontexte von L-Sprache vorstellen. Ein abstrus bescheidenes Ergebnis für den fiktionalen Aufwand, nicht?

Gewißheit Wenn semiotisch gesehen zwischen Wahrheit und Lüge kein substantieller Unterschied besteht, so müßte sich doch vieles von dem, was bisher gesagt wurde, für eine Rede von „Wahrheit" verwenden lassen. Tasten wir uns vorsichtig vor: Lügen sind soziale Handlungen, die auf der Arbitrarität der Zeichen beruhen, die unser soziales Leben möglich machen. Wir haben betont, daß die Lüge einen privilegierten Zugang des Sprechers zu sich selbst dahingehend zeigt, daß nur ich zunächst weiß, ob ich lüge oder nicht. Das Lügen wird auch erst dann relevant, wenn es im sozialen Leben einen Unterschied macht. Es sind ausschließlich unsere Interaktionen, die den Status unserer Lügen bestimmen. Um unsere Interaktionen zu schützen und um die Sprache als eine Einrichtung zur Verhaltensabstimmung noch verläßlicher zu machen, hat man in unserer Kultur das Spiel von „wahr" und „falsch" eingeführt. Auch dieses Spiel nimmt seine Sicherheit ausschließlich aus den Interaktionen. Wir haben uns im Alltag darauf geeinigt, welche Verfahren als hinreichende Begründung für die Wahrheit von Aussagen gewertet werden. Die Anwendung solcher sozial anerkannter Verfahren liefert so etwas wie „Gewißheit". Nehmen wir ein Beispiel: Im ersten Band der von Jürgen Mittelstraß herausgegebenen Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie findet sich ein Beitrag von Friedrich Kambartel unter dem Stichwort „Gehtmanscher Doppelschluß" (Kambartel 1980). Kambartel rekonstruiert diese Propostionenform nach J. J. Feinhals, der in seiner Javanischen Grammatik auf Grund eigener Kenntnis diese Schlußform erwähnt hat (Feinhals 1729, 376). Nach der Formulierung dieses Schlusses: „Geht man davon aus, daß wenn A, dann B, dann: geht man davon aus, daß geht man davon aus, daß wenn nicht A, dann: B oder A, dann B oder C läßt Kambartel seinen erhellenden Artikel in der vernichtenden Kritik gipfeln: „Am G.n. D. läßt sich die Verdunkelung eines pragmatischen Fundaments der Logik, welche die jetztzeitig dominierende (klassische) Semantik des Subjunktors zur Folge hat, exemplarisch demonstrieren." Als Literaturhinweis gibt Kambartel die Festschrift Jetztzeit und Verdunkelung. FS für Jürgen Mittelstraß zum vierzigsten Geburtstag an. Soweit das Beispiel, das Sie gerne nachschlagen können. Worauf ich hinaus will, ist der einfache Punkt, daß dieser Artikel solange in wissenschaftlichen Werken zitabel bleibt, solange die Wissenschaftsgemeinschaft diesen Artikel als wissenschaftlichen Artikel anerkennt. Solange dies der Fall ist, kann auch gar nichts schief gehen. Erst wenn man historische Untersuchungen z u j . J. Feinhals anstellt, würde der skizzierte

Jedes Zeichen kann zum Lügen verwendet werden "

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Widerspruch zwischen einer möglichen und der tatsächlichen Welt auftauchen. Und zwar wiederum nur deshalb, weil es soziale Handlungszusammenhänge gibt, in denen wir historische Forschungen anstellen können. Die einzige Sicherheit, die Arbitrarität der Zeichen nicht der Beliebigkeit preiszugeben, sind unsere Interaktionen. Die einzige Möglichkeit zu verhindern, daß das „Offene" zum „Bodenlosen" wird (etwa nach dem Wort: „Was für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein"), besteht im Rekurs auf soziales Handeln. Wir könnten uns ja auch ganze Lexika nach dem Muster des zitierten Beispiels vorstellen, die wiederum konsultiert und zitiert und zu zitablen Büchern verarbeitet werden etc. Und, traurig, aber wahr, solange unser soziales Handeln funktioniert, ist das auch gar nicht relevant. Erst wenn wir handlungsunfähig werden, wird die Lüge als Lüge sozial relevant. Die Arbitrarität der Zeichen, die unser soziales Leben ermöglichen, hat konsequenterweise auch die Frage nach der Zuverlässigkeit unserer Erkenntnis aufgeworfen. Die Erfahrung, daß „die Welt" auch anders sein könnte als sie ist, daß andere Sachverhalte bestehen können, hat die Frage nach einem unanzweifelbaren Fundament aufgeworfen - denn die Willkürlichkeit unserer Zeichenverwendung bringt die Möglichkeit zu lügen mit sich. Descartes' deus malignus ist ein semiotisches Phänomen. Formen des Skeptizismus hängen mit dieser Sorge um die Zuverlässigkeit der Zeichen zusammen. Viel Wellen geschlagen hat in diesem Zusammenhang Saul Kripkes Kommentar zum Privatsprachenargument Ludwig Wittgensteins (Kripke 1987). Man könnte Kripke so verstehen, daß er gerade das Gegenteil einer L-Sprache zu konstruieren bestrebt ist. Kripkes Zweifel richtet sich gegen die Sicherheit, soziale Handlungen wiederholen zu können. Die Möglichkeit der Wiederholung von Handlungen liegt in den Regeln, die den Handlungen Struktur verleihen. Die Unmöglichkeit, die Wiederholung von Handlungen (z.B. das Identifizieren von Schmerz) gemäß einer Regel als korrekt auszuweisen, macht schließlich die Pointe des Privatsprachenarguments aus. Kripke versucht, die Polarität von Handlung und Struktur zugunsten der regelhaften Seite des Sprachgebrauchs abzubauen. Die handlungsanleitenden Regeln selbst sollen wieder in ein Strukturwerk eingebettet werden, das die Anwendung der Regeln anleitet. Damit wird natürlich ein infiniter Regreß provoziert. Kripke kapituliert in seinem Anspruch auf Gewißheit vor der Art und Weise, wie unser soziales Leben zustande kommt. Man könnte Kripkes Kapitulation so formulieren: Wir müssen uns eben mit der Art unserer Verständigung begnügen und haben das soziale Handeln als einen Kompromiß in Kauf zu nehmen, der einen Abklatsch von Gewißheit und einen Anschein von Sicherheit hervorbringt. An der fundamentalen Kraft der von Kripke erhobenen Zweifel hat sich damit nichts geändert. Der entscheidende Punkt bei dieser Form des Zweifels scheint mir darin zu liegen, daß sich Kripke nicht darüber im klaren ist, was wir unter „Gewißheit" ver-

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stehen und wie unsere sogenannten „Gewißheiten" zustande kommen. Er sucht nach etwas, das wir ihm nicht bieten können - und zwar nicht deswegen, weil wir eben faule Kompromisse eingehen müssen, sondern deswegen, weil so unsere Sprache funktioniert, weil wir so leben und so handeln. Eine andere Sicherheit als das soziale Handeln können wir nicht bieten. Kripke sucht nach einer Metaregel, die unser Regelfolgen und Regelanwenden regelhaft anleiten. Gerade das können wir nicht offerieren. Die einzige Sicherheit, die wir anbieten können, sind unsere Interaktionen. Wenn ich es richtig verstanden habe, folge ich hier einem Pfad, den Baker und Hacker mit ihrer Kritik an Kripke geebnet haben (Baker/Hacker 1984). Wir haben nun einmal nichts anderes als unsere Zeichen. Und es ist die Art, wie wir miteinander umgehen, die etwas zu einem Zeichen werden läßt (eine Hauptfunktion der Kultur, könnte man sagen, besteht darin, bestimmte Vorgänge zu Zeichen und bestimmte Zeichen zu Symbolen zu machen). Die Zeichen, die wir verwenden, sind prinzipiell öffentlich und damit dem sozialen Handeln unterworfen. Sonst kommen Zeichen (siehe das Privatsprachenargument) gar nicht zustande. Gemäß dem schönen Wort Wittgensteins: ,„Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen', so sage ich: ,Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.'" (PU, 504) Fazit: Die Wahrheit ist so sicher und die Lüge so fest wie unsere Interaktionen.

Peter M. S. Hacker (Oxford)

Als das Pfeifen verstummen mußte"*

Die Lehre vom Sagbaren und Zeigbaren im Tractatus Kurz nach der Vollendung des Tractatus schrieb Wittgenstein an Russell in einem Brief vom 19. 8. 1919, die „Hauptsache" des Buches, der alles andere, einschließlich seiner Auffassung der Logik, untergeordnet ist, sei „die Theorie über das, was durch Sätze - d. h. durch Sprache - gesagt (und was auf dasselbe hinausläuft, gedacht) und was nicht durch Sätze ausgedrückt, sondern nur gezeigt werden kann. Dies ist, glaube ich, das Hauptproblem der Philosophie." (B, 88) Dies wurde sowohl im Vorwort, wie auch am Ende des Buches betont. Laut Vorwort läßt sich der ganze Sinn des Werks in folgenden Worten zusammenfassen: „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen." Der letzte Satz des Werks (T, 7) wiederholt dies einfach. Bemerkenswert sind jedoch die drei vorangehenden Bemerkungen. Es finden sich dort drei Thesen. Erstens: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische." (T, 6.522) Hier wird das Leitmotiv der Abhandlung wiederholt, wonach es Dinge gibt, die auf Grund der Natur der Darstellung sprachlich nicht artikuliert werden können. Obwohl man von ihnen nicht sprechen kann, werden sie von den relevanten Merkmalen des Darstellungssystems gezeigt. Zweitens würde die richtige Methode in der Philosophie darin bestehen, zum einen nur das zu sagen, was sich auch sagen läßt, d. h. empirische Sätze, die nichts mit Philosophie zu tun haben, und zum anderen, falls jemand etwas Metaphysisches sagen möchte, ihm zu beweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen gar keine Bedeutung gegeben hat (T, 6.53). Natürlich entspricht dies nicht der Methode, die für das ganze Werk leitend gewesen war. Dieses besteht nämlich fast ausschließlich aus modalen Aussagen dahingehend, was in Wirklichkeit, in der Sprache, sowie

* Eine ausführlichere englische Fassung erscheint in einer Festschrift für David Pears, voraussichtlich 1999.

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im Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit entweder so und so sein muß, so sein kann oder nicht sein kann. Drittens erläutern daher die Sätze des Buches insofern etwas, als jemand, der ihren Autor versteht, sie als unsinnig erkennt. Der Leser muß sie als Stufen benutzen, um über sie hinauszugelangen. Er muß gewissermaßen „die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist." (T, 6.54) Es kann kaum überraschen, daß diese dramatische Schlußfolgerung den ersten Lesern des Tractatus rätselhaft erschienen ist. Russell wandte in seiner Einleitung zur englischen Ausgabe des Tractatus ein, daß „es Wittgenstein trotz allem fertigbringt, eine ganze Menge über das zu sagen, was nicht gesagt werden kann. Das läßt den skeptischen Leser vermuten, daß doch ein Schlupfloch durch eine Hierarchie von Sprachen oder ein anderer Ausweg vorhanden ist." (Russell 1960, 80) Berühmt ist Ramseys Einwand, wovon man nicht sprechen könne, darüber könne man nicht sprechen, man könne es aber auch nicht pfeifen (Ramsey 1980, 116). „Wenn der Hauptsatz der Philosophie darin besteht, daß die Philosophie Unsinn ist, dann müssen wir ernst nehmen, daß sie Unsinn ist, und können nicht wie Wittgenstein so tun, als ob es sich um wichtigen Unsinn handelt." (Ramsey 1931, 263) Ich möchte mich hier mit dem späteren Schicksal der Konzeption dessen, was „nur gezeigt werden kann", beschäftigen. D e n n in den Jahren nach seiner 1929 erfolgten Rückkehr zur Philosophie gelangte Wittgenstein zu der Einsicht, daß die Position, die er im Tractatus verteidigt hatte, unhaltbar ist. Was wurde aus den zahlreichen unaussprechbaren Wahrheiten, die die Abhandlung nach eigenem Eingeständnis mit Pseudosätzen zu artikulieren versucht hatte, als das Pfeifen verstummen mußte?

Was sich zeigt, aber nicht gesagt werden kann Der tiefere Grund für die Doktrin vom Unsagbaren muß vor dem Hintergrund dessen gesehen werden, was man mit einigem Recht als eine, wenn nicht die grundlegende mutmaßliche Einsicht des ganzen Werks bezeichnen kann, nämlich das Prinzip der „Bipolarität" des Satzes. 1 Gemäß einer der Hauptthesen des Werks ist 1 Natürlich ist dies nicht Wittgensteins Einschätzung, sondern meine eigene. Er charakterisiert als seinen Grundgedanken

die Vorstellung, daß die „logischen Konstanten" nichts vertreten -

daß es keine Vertreter der Logik der Tatsachen geben kann (T, 4.0312). Dies stellt eine Anspielung auf jene Lehre Russells dar, wonach logische Formen, z . B . Einzelnes, Relation, duale Komplexe, usw., die logischen Konstanten sind, die sich durch Abstraktion ergeben, und mit denen wir durch logische Erfahrung Bekanntschaft machen müssen (vgl. Russell 1984, 80). Dies ist nicht zu verwechseln mit T, 5.4, wo die Behauptung, es gebe keine logischen Konstanten, auf die logischen Satzoperatoren im engeren Sinne anspielt. Die Einsicht, derzufolge

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ein Satz nicht nur wesentlich bivalent, d. h. entweder wahr oder falsch, sondern auch bipolar, d. h. sowohl fähig, wahr zu sein, als auch fähig, falsch zu sein. Dieses Prinzip ist eingebaut in Wittgensteins Konzeption der allgemeinen Satzform, die lautet: „Es verhält sich so und so." Diese Variable, die allgemeine Satzform, enthält das Wesen des Satzes; sowie auch das Wesen jeglicher Beschreibung, und damit das Wesen der Welt (T, 5.471). Es gehört zum Wesen der Wirklichkeit, daß sie das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist (T, 2.06). Es gehört zum Wesen eines Satzes, einen Sachverhalt zu beschreiben; und es liegt in der Natur der Sachverhalte, daß sie bestehen können oder nicht. Der Satz stellt deshalb ein logisches Bild einer Möglichkeit dar - die vorliegen mag oder auch nicht. Daher muß jeder sinnvolle Satz wahr (wenn der Sachverhalt, den er beschreibt, besteht) und falsch (wenn der Sachverhalt, den er beschreibt, nicht besteht) sein können. Die Sätze der Logik sind natürlich nicht bipolar. Sie sind Tautologien. Sie sind kein Unsinn, aber sinnlos, d.h. sie haben sozusagen den Null-Sinn. Die These von der Bipolarität läßt als logisch notwendige Sätze nur die gehaltlosen Tautologien der Logik zu. Insbesondere schließt sie die Möglichkeit irgendwelcher Elementarsätze aus, die logisch wahr sind. Denn diese würden die Bedingung der Bipolarität nicht erfüllen. Es gibt in der natürlichen Sprache zahlreiche vermeintliche Elementarsätze, d.h. vermeintliche Sätze ohne wahrheitsfunktionale Satzoperatoren, die notwendige Wahrheiten zu behaupten scheinen, z.B., daß Rot eine Farbe ist, daß der Raum dreidimensional ist, oder die Zeit linear. Ja, der Tractatus selbst besteht großteils aus solchen Sätzen. Wenn dies illegitime Pseudosätze sind und nicht einfach Gegenbeispiele zur Bipolaritätsthese, so müssen Gründe für ihren Mangel an Legitimität gegeben werden. Wittgenstein bietet zwei Gründe an. Erstens ist jeder Satz, in dem ein formaler Begriff vorkommt, der keine logische Variable ist, nicht korrekt gebildet. Formale Begriffe sind kategorische Begriffe. Dazu gehören mit Blick auf unsere Beschreibungen der Welt solche Begriffe wie „Gegenstand", „Komplex", „Eigenschaft", „Sachverhalt", „Tatsache", aber auch spezifischere Begriffe wie „Raum", „Zeit", „Farbe" usw. (vgl. z.B. T, 2.0131). Was die Beschreibung von Symbolismen angeht, werden solche Ausdrücke wie „Satz", „Begriff", „Funktion", „Zahl" allesamt als Ausdrücke für formale Begriffe charakterisiert. So wie diese in den natürlichen Sprachen repräsentiert werden, sehen sie ganz wie Ausdrücke für Begriffe aus. In Wahrheit sind sie aber Namen für Variablen und würden in einer durchsichtigen Notation entsprechend dargestellt. Formen sind keine Arten von Gegenständen, und Bezeichnungen für Variablen sind keine richtigen Namen. So läßt sich a nicht nur wegen der mangelnden Bipolari-

logische F o r m e n keine Sorte v o n Entitäten darstellen, f ü r die N a m e n als Stellvertreter stehen, ist zweifellos grundlegend für die Philosophie der Logik des Tractatus, aber meines Erachtens gilt dies gleichermaßen für das Prinzip der Bipolarität.

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tät des Pseudosatzes „a ist ein Gegenstand" nicht als Gegenstand bezeichnen, sondern auch auf Grund der nicht wohlgeformten Ausdrucksweise, weil „Gegenstand" nämlich kein Name ist. Zweitens kann man Dingen (Gegenständen, Situationen, Fakten) keine internen (strukturellen) Eigenschaften zuschreiben. Interne Eigenschaften und Relationen sind Eigenschaften und Relationen, von denen es undenkbar ist, daß das Ding sie nicht besitzen sollte. Es ist undenkbar, daß Cambridgeblau nicht heller ist als Oxfordblau oder daß der Satz „p v ~ p" keine Tautologie darstellt oder daß „p8c(p 3 q)a nicht „ q" impliziert. Sofern die fragliche Eigenschaft oder Relation nicht durch eine Variable (wie eine Tautologie zu sein, oder leichter als zu sein) dargestellt wird, sieht es so aus, als ob Wittgenstein sich hier auf das Prinzip der Bipolarität stützt, um Zuschreibungen interner Eigenschaften und Relationen als wohlgeformte sinnvolle Sätze auszuschließen. 2 Wittgenstein stellt im Verlauf der Abhandlung eine ganze Reihe von Behauptungen auf, die strictu sensu nicht gesagt werden können, aber von denen unterstellt wird, daß sie sich selbst in den Merkmalen des Symbolismus zeigen. Natürlich können sie dies in durchsichtiger Form nur in einer korrekten Begriffsschrift. Wir können zwischen folgenden Wahrheiten, die angeblich nicht gesagt werden können, unterscheiden: 1. Die Harmonie zwischen Sprache und Wirklichkeit: Das Herzstück der Abbildtheorie der Darstellung besteht in der angeblichen Einsicht, daß es eine Harmonie (oder wie er es später mit Anspielung auf Leibniz ausgedrückt hat) eine „prästabilisierte Harmonie" (BT, 189) zwischen Sprache und Welt gibt. Die „Harmonie" besteht nicht in der Ubereinstimmung eines wahren Satzes mit der Wirklichkeit, denn es gibt auch Sätze, die falsch sind. Laut Tractatus besteht sie in der Übereinstimmung in der Form zwischen einem Satz und der Wirklichkeit, die dieser wahr oder falsch abbildet. Damit ein Satz eine mögliche Situation darstellen kann, muß er dieselbe logische Form wie das Abzubildende aufweisen, gleichgültig ob die Situation besteht oder nicht, und er muß dieselbe logische (mathematische) Mannigfaltigkeit aufweisen. Die Namen in einem vollständig analysierten Satz haben als ihre Bedeutungen die einfachen Gegenstände in der Wirklichkeit, für die sie stehen, und die Kombinationsmöglichkeiten dieser Namen in der logischen Syntax spiegeln die Kombinationsmöglichkeiten ihrer Bedeutungen wider, d. h. der Gegenstände in der Welt. Jedoch können weder die gemeinsame Form (T, 2.171) noch die Mannigfaltigkeit (T, 4.04-4.041) abgebildet werden.

2 Z u m i n d e s t in Fällen, in d e n e n die interne Relation oder Eigenschaft nicht einer Form zugeschrieben wird (indem m a n etwa einen Satz als tautologisch bezeichnet). Ein Beispiel wäre Hellblau, welches heller ist als D u n k e l b l a u .

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2. Semantik: Man kann nicht sagen, was die Bedeutung eines Namens ist. Ein Name hat sowohl Form wie auch Inhalt. Seine Form besteht dabei in seinen logisch-kombinatorischen Möglichkeiten, die durch die Variable dargestellt werden, deren Wert er ist. Sein Inhalt ist dabei seine Bedeutung, der Gegenstand, für den er steht. Man kann aber von einem Namen, z.B. dem einer einfachen Farbe R, nicht sagen, er sei der Name einer Farbe oder er habe die und die Farbe zur Bedeutung. 3 Denn man würde dann die formalen Begriffe des Namens und der Farbe verwenden. Gleichermaßen läßt sich die Identität der Bedeutung zweier Ausdrücke nicht behaupten (T, 6.2322). Denn Identitätsaussagen sind weder Elementarsätze noch auf solche reduzierbar (T, 4.243). Genauso wenig kann man sagen, was der Sinn eines Satzes ist, etwa daß der Satz „fa" diejenige Situation zum Sinn hat, die die Verknüpfung der Gegenstände a u n d / e n t h ä l t , weil dies ebenfalls den Gebrauch formaler Begriffe erforderlich macht. Vielmehr zeigt ein Satz seinen Sinn - „fa" zeigt, daß / u n d a zu seinem Sinn gehören. Ein Satz zeigt, wie sich die Dinge verhalten, wenn er wahr ist (genau das ist es, was er darstellt seinen Sinn [T, 2.221]), und er sagt, daß sie sich so verhalten (T, 4.022). 3. Interne Eigenschaften von Dingen, Situationen und Sätzen: Man kann Dingen keine internen oder relationalen Eigenschaften zuschreiben. Denn jeder derartige Versuch würde zu einer Form von Worten führen, die dem Erfordernis der Bipolarität eines sinnvollen Satzes nicht genügt. So kann man nicht sagen, ein Satz sei eine Tautologie, einmal, weil der Begriff des Satzes ein formaler Begriff ist, und zum anderen, weil eine Tautologie zu sein eine formale, strukturelle Eigenschaft von Sätzen ist, die Tautologien sind - sie wären nicht die Sätze, die sie sind, wenn sie keine Tautologien wären. Aber jeder solcher Satz zeigt, daß er eine Tautologie ist (T, 6.127). 4. Interne Relationen zwischen Sätzen: Man kann nicht sagen, ein Satz folge aus dem anderen oder ein Satz widerspreche dem anderen. Denn dies sind interne Relationen zwischen Sätzen. Aber daß die Sätze „p" und „ ~p" in der Kombination „~ (p &i~p)" zu einer Tautologie führen, zeigt, daß sie sich widersprechen. Schlußregeln, die Frege und Russell zur Rechtfertigung von Schlüssen für notwendig erachtet hatten, sind weder notwendig noch möglich (T, 5.132). Der Ver3 Ich nehme hier - wie Wittgenstein selbst in T, 2.0131, 2.0251 und 4.123 - keine Rücksicht darauf, daß Farben, zumindest „undifferenzierte Farben" keine Gegenstände sind. Vermutlich haben minimal determinable Farbtöne für ihn zu den Gegenständen des Tractatus gehört, u n d er gelangte erst später zu der Einsicht, daß die Determinaten einer Determinablen die Unabhängigkeitsbedingung für Gegenstände (und damit auch für Elementarsätze) nicht erfüllen. Aber wenn dies einmal erkannt ist, bricht die ganze Konzeption der Gegenstände zusammen - wie dies bei ihm 1929/30 der Fall war.

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such, interne Relationen zu rechtfertigen, ist sinnlos; man würde versuchen zu rechtfertigen, was aufgrund seines Wesens gar nicht anders sein kann. 5. Kategorische Merkmale der Dinge und Klassifizierung nach Typen: Man kann von einem Ding nicht sagen, es falle unter eine bestimmte Kategorie, etwa Rot sei eine Farbe. Denn die ontologische Kategorie eines Gegenstandes wird durch seine logische Form gegeben, die in seinen kombinatorischen Möglichkeiten mit anderen Gegenständen besteht. Aber die Form eines Gegenstandes kann keinen Namen haben, denn sie ist selbst kein Gegenstand, sondern das gemeinsame Charakteristikum einer ganzen Klasse von Gegenständen. Wie wir gesehen haben, wird dies in einer durchsichtigen Notationsweise durch diejenige Variable dargestellt, deren Werte Farbnamen sind. Deshalb kann man nicht sagen, Rot sei eine Farbe, aber daß es sich so verhält, wird von jedem Satz der Form „a ist rot" gezeigt. Dies zeigen im einzelnen die Kombinationsmöglichkeiten des Ausdrucks „rot", die die Form des Namens konstituieren. Also kann man von einem Gegenstand einer bestimmten Art nicht sagen, daß er zum einen statt zum anderen Typ gehört. 6. Die Grenzen des Denkens: Wie Wittgenstein im Vorwort betont hat, kann man die Grenzen des Denkens nicht innerhalb der Sprache ziehen. Denn zu sagen, dies oder jenes könne nicht gedacht werden, wäre Unsinn. Genauso wenig kann man den Ausschluß einer Wortform mit Bezug auf die Wirklichkeit rechtfertigen, wie es Russell in der Typentheorie getan hatte. Aber man kann die Grenzen des Denkens von innen ziehen, indem man der Sprache Grenzen zieht. Man kann die Natur des Symbolismus erläutern und dadurch angeben, welche Ausdrucksformen zulässig sind. Natürlich brandmarken diese Thesen die Sätze des Tractatus sofort als Unsinn, weil diese formale Begriffe verwenden und interne Relationen beschreiben - ein Paradox, das der Autor gern in Kauf genommen hat. 7. Die Grenzen der Wirklichkeit und die logische Struktur der Welt: Die empirische Wirklichkeit ist durch die Gesamtheit der Gegenstände begrenzt. Diese Grenze manifestiert sich in der Gesamtheit der Elementarsätze (T, 5.5561). Die Grenzen der Welt sind auch die Grenzen der Logik, d.h. die Grenzen aller möglichen Welten sind die Grenzen des logisch Möglichen. So markieren Tautologien und Kontradiktionen die obere und untere Grenze des Möglichen. Zwischen diesen zwei Grenzen erschöpfen die möglichen wahrheitsfunktionalen Kombinationen der konstituierenden Sätze den Raum der Möglichkeiten, der durch diese Sätze beschreibbar ist. Aber man kann natürlich nicht sagen, die Welt enthielte die und die Möglichkeiten, nicht jedoch die und die anderen Möglichkeiten. Denn dies würde offenbar voraussetzen, daß wir einige Möglichkeiten ausschließen (T, 5.61), wo gar keine Möglichkeit ausgeschlossen ist. Aber die Tatsache, daß die

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Sätze der Logik Tautologien sind, zeigt die formalen, logischen Eigenschaften der Sprache und der Welt. 8. Die Metaphysik der Naturwissenschaften: Die Gesetze der Kausalität, des kleinsten Aufwands, der Erhaltung, der Kontinuität in der Natur usw., die man als die metaphysischen Prinzipien der Naturwissenschaften angesehen hat, sind weder logische Wahrheiten noch empirische Sätze. Sie sind Formen von Gesetzen. Man kann nicht sagen, daß es Naturgesetze gibt, aber es zeigt sich in der Tatsache, daß es möglich ist, die Natur mit Hilfe von Sätzen dieser Form zu beschreiben (T, 6.32-6.36). 9. Die Metaphysik der Erfahrung: Was der Solipsist meint, ist ganz richtig, es kann nur nicht gesagt werden, sondern es manifestiert sich darin, daß die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt sind (T, 5.62). Dies kann gar nicht anders sein, also läßt es sich nicht sagen. Wenn dies sich so verhält, dann zeigt sich die sprachlich nicht artikulierbare Wahrheit des Solipsismus im Verhältnis von Satz und Wirklichkeit. - So bemerkte er später im Big Typescript-. „Das Ich wird durch den Satz ersetzt und die Beziehung zwischen dem Ich und der Realität wird durch die Beziehung zwischen dem Satz und der Realität ersetzt." (BT, 499) 10. Ethik und Ästhetik: Sätze können nichts Höheres ausdrücken. Deshalb kann es keine Sätze der Ethik oder Ästhetik geben (T, 6.42-6.421). Die Argumentation dafür ist spärlich. Alles in der Welt, alles, was der Fall ist oder geschieht, ist kontingent, zufällig. Aber ein absoluter Wert ist nicht kontingent. Was also das Nicht-Kontingente ausmacht, muß außerhalb der Welt liegen (T, 6.41). Obwohl es (angeblich) nicht möglich ist, die eben aufgeführten Wahrheiten auszusprechen, zu beschreiben oder in Worte zu fassen, zeigen sie sich selbst, und man kann sehen, daß sie dies tun. Was nicht gesagt werden kann, ist nicht in dem Sinne sprachlich unartikulierbar, daß es unkommunizierbar oder nicht wahrnehmbar ist - es kann schlicht nicht durch den Sinn eines bedeutungsvollen Satzes ausgedrückt werden.

Als das Pfeifen verstummte Zwischen 1929 und 1932 machte Wittgensteins Philosophie eine Wandlung durch. Kategorische Begriffe standen nicht mehr länger „auf dem Index"; die Metaphysik des logischen Atomismus verschwindet spurlos; der Refrain „aber dies kann nicht gesagt werden" ist nicht mehr zu vernehmen; die „Harmonie

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zwischen Sprache und Realität" wird nun innerhalb der Sprache orchestriert, nicht zwischen Sprache und Wirklichkeit; interne Relationen werden durch grammatische Sätze spezifiziert, die lediglich grammatische Regeln festhalten. Und Grammatik, weit entfernt davon, die Struktur der Welt auf sprachlich unartikulierbare Weise widerzuspiegeln, ist „arbiträr" - sie ist der Wirklichkeit keine Ehrerbietung schuldig. Was waren die Gründe für diesen erstaunlichen Wandel? Die Einsicht, daß der wechselseitige Ausschluß von Farben mit dem logischen Apparat des Tractatus nicht zu bewältigen war, brachte den ersten Dominostein zum Fallen. Die Zuschreibung einer Determinaten einer Determinablen zu einem Gegenstand weist logische Implikationen auf, die man keiner versteckten, in den Satz eingebetteten wahrheitsfunktionalen Kombination zuordnen kann. „A ist rot" impliziert, daß A nicht grün, nicht gelb usw. ist. Damit muß, was als Elementarsatz gegolten hatte, nicht logisch unabhängig sein. Aber dann sind nicht alle logischen Relationen durch wahrheitsfunktionale Zusammensetzung determiniert. Damit sind auch die logischen Satzoperatoren nicht neutral im Bezug auf alle Gegenstandsbereiche, weil für Sätze, die Determinaten ein und derselben Determinablen enthalten, andere Wahrheitstafeln festgelegt werden müssen (im Fall von „A ist rot & A ist grün" m u ß die Zeile W W gelöscht werden, weil es für keinen Gegenstand möglich ist, gleichzeitig überall rot und grün zu sein). Aber die logische Theorie des Tractatus ruhte fest auf der Unabhängigkeitsthese für die Elementarsätze sowie auf der These, daß die logischen Satzoperatoren (und die Quantoren) neutral im Bezug auf den Gegenstandsbereich sind, und auf der Vorstellung, daß alle logischen Relationen durch die wahrheitsfunktionale Zusammensetzung festgelegt werden. Mit dem Zusammenbruch seiner früheren Konzeption des Elementarsatzes und der besagten Neutralität der logischen Operatoren kollabierte auch die Vorstellung von einer allgemeinen Satzform. Der Begriff des Satzes ist kein formaler Begriff, der durch formale Eigenschaften bestimmt wird, die seine charakteristischen Kennzeichen ausmachen. Vielmehr handelt es sich um einen Begriff, der durch Familienähnlichkeiten gekennzeichnet ist. Einige Begriffe sind wirklich bipolar, andere hingegen nicht. Es gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Arten von empirischen Sätzen, darunter expressive Wendungen (im Fall der ersten Person singular präsens) sowie Zuschreibungen von Erfahrung, Gedächtnis und Absichten, Beschreibungen von Gegenständen der Erfahrung, der Vergangenheit, unseres „Weltbildes", Hypothesen usw. und viele weitere Arten nicht-empirischer Sätze, darunter die Sätze der Logik und Mathematik, der Ethik, der Ästhetik sowie der Religion. Nicht nur die Konzeption vom Satz erfährt eine Degradierung, sondern auch all die anderen „formalen Begriffe" des Tractatus. Die Begriffe von Raum und

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Zeit, der Gegenstandsbegriff, der Färb-, Ton- und Geschmacksbegriff, die Begriffe von Form und Zahl usw. mögen in der Tat andere Rollen einnehmen als solche Begriffe wie „im Zentrum von Oxford", „um zwei Uhr nachmittags", „Baum", „Rot", „Fis", „24", aber sie sind keine „metalogischen Begriffe" oder „Uber-Begriffe", zwischen denen eine „Uber-Ordnung" herrscht, welche die logische Form der Welt widerspiegelt, die in einer idealen Notationsweise durch Variablen korrekt dargestellt wird. Vielmehr müssen sie, „wenn sie eine Verwendung haben, eine so niedrige haben [...], wie die Worte ,Tisch', ,Lampe', ,Tür'." (PU, 97) Und dasselbe gilt für solche Begriffe wie „dunkler als", „folgt aus" oder „Tautologie". Dieses unsanfte Erwachen führte Wittgenstein zu der Einsicht, was er als Gegenstände begriffen hatte, seien in Wahrheit Elemente der Darstellung (WWK, 43). Die immerwährenden Gegenstände des Tractatus waren postuliert worden, um die Bestimmtheit des Sinns sicherzustellen, und sie waren als Substanz der Welt gedacht worden. Aber die legitimen Erfordernisse, zu deren Erfüllung die Gegenstände postuliert wurden, werden durch die Verwendung von Mustern in ostensiven Definitionen befriedigt. Und die Muster gehören zu den Mitteln der Darstellung; sie sind Instrumente der Sprache. Die ostensive Definition beschreibt nicht das Muster, sie bringt es ins Spiel, indem sie die Bedeutung des Wortes erklärt, welches sie definiert. So schrieb er später: „Was es, scheinbar, geben muß, gehört zur Sprache." (PU, 50) Die einfachen Gegenstände sind schlicht Muster - „undeutlich durch ein Glas gesehen." Wenn dies so ist, muß die Beziehung zwischen Namen und Gegenständen revidiert werden. Weit gefehlt, einfache Namen zu sein, die mit Immerwährendem in der Wirklichkeit verknüpft werden durch geistige Akte, die mit dem und dem Namen diesen 71 Gegenstand meinen (vgl. TB, 31. 5. 15, erster Eintrag; 21. 6. 15, erster Eintrag; 22. 6. 1915, zweiter Eintrag), sind Namen wie „rot", „hart", „süß", „heiß", usw. (vgl. PU, 87) nicht „undefinierbar" - sie sind lediglich nicht analytisch, sondern ostensiv definiert. Die Bedeutungen dieser Namen sind keine Gegenstände in der Wirklichkeit, mit denen sie durch geistige Akte des Meinens verknüpft werden müssen (die Bedeutung eines Ausdrucks ist niemals ein Gegenstand der Wirklichkeit, und es gibt nichts derartiges wie einen Akt des Meinens). Die Bedeutungen sind durch Bezugnahme auf ein Muster gegeben. Daher schmiedet die ostensive Definition kein Band zwischen Sprache und Wirklichkeit. Wenn es kein Band zwischen Sprache und Wirklichkeit im erforderlichen Sinn gibt, dann muß auch der Gedanke revidiert werden, wonach die Darstellung und dasjenige, was sie darstellt, die logische Form gemeinsam haben, so wie die Form eines Namens die Form desjenigen Gegenstandes zeigt, der seine Bedeutung ausmacht, und die Satzform die Form der von ihm beschriebenen Situation zeigt. Die Regeln der Grammatik sind in einem wichtigen Sinne willkürlich - sie sind

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der Wirklichkeit keine Ehrerbietung schuldig. Was ihre Richtigkeit betrifft, so sind sie nicht der Wirklichkeit, dem objektiven, sprachunabhängigen Wesen der Dinge gegenüber verantwortlich. Ganz im Gegenteil, es ist die Grammatik, die erst festlegt, was wir „das Wesen" eines Dinges n e n n e n . U n d was als eine Notwendigkeit in der Welt erscheint, weit entfernt davon, in den Regeln der Grammatik widergespiegelt zu werden, ist lediglich der Schatten, den diese Regeln auf die Welt werfen. Die Einsicht, daß Grammatik in dieser Weise a u t o n o m ist, führt unweigerlich zur Zurückweisung des Grundgedankens, der die Konzeption des Tractatus über die Natur der Darstellung durchzieht. Dies bedeutete, daß alle Thesen, darüber, was er Russell gegenüber als den H a u p t p u n k t des Tractatus bezeichnet hatte, nämlich „die Theorie über das, was durch Sätze [...] gesagt und was nicht durch Sätze ausgedrückt, sondern nur gezeigt werden kann" (B, 88), aufgegeben oder radikal verändert werden m u ß t e n .

Das spätere Schicksal des Unsagbaren Vor diesem Hintergrund k ö n n e n wir n u n zur Liste jener unterschiedlichen Dinge zurückkehren, die dem Tractatus zufolge nicht gesagt werden können, sondern sich vielmehr selbst manifestieren. 1. Die Harmonie zwischen Sprache und Wirklichkeit: Die Vorstellung von einer sprachlich nicht artikulierbaren Harmonie zwischen Sprache und Wirklichkeit, die sich in der logischen Form eines Satzes zeigt, aber nicht beschrieben werden kann, war eine Illusion. Es handelt sich u m einen paradigmatischen Fall einer Verwechslung des Schattens der Grammatik mit der Form der Wirklichkeit. Die Annahme, die Welt bestünde aus Fakten, war ein Fehler - dies war eine Verdrehung des grammatischen Satzes, daß eine Beschreibung der Welt in einer Tatsachenaussage besteht und nicht aus einer Liste von Gegenständen. Tatsachen sind nicht in der Welt (oder irgendwo sonst), und Tatsachenaussagen beschreiben keine Tatsachen, sondern konstatieren sie. Man kann nicht auf eine Tatsache zeigen, sondern nur auf die Tatsache hinweisen, daß ... (PG, 200). Tatsachen bestehen nicht aus Gegenständen, die wie die Glieder einer Kette miteinander verknüpft sind. Die Tatsache, daß sich an der und der Stelle ein roter Kreis befindet, besteht nicht aus einer Verknüpfung eines Kreises (oder der Kreisförmigkeit) mit der Röte, weil Tatsachen aus gar nichts bestehen (ebd.). Die Rede von einer sprachunabhängigen logischen Form der Tatsachen (oder Sachverhalte) macht keinen Sinn. Deshalb geht der Gedanke, die Tatsachensätze der Sprache spiegelten die logischen Formen der Tatsachen wider, von falschen Voraussetzungen

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aus. Gleichermaßen Resultat einer Verwirrung war der Gedanke, ein Satz müsse dieselbe logische Mannigfaltigkeit besitzen wie der Sachverhalt, den er beschreibt. „Denn, was ich sagte, kommt eigentlich darauf hinaus: daß jede Projektion, nach welcher Methode immer, etwas mit dem Projizierten gemeinsam haben muß. Aber das sagt nur, daß ich hier den Begriff des .gemeinsamen habens' ausdehne und ihn dem allgemeinen Begriff des Projizierens äquivalent mache." (PG, 163) Gleiche logische Mannigfaltigkeit war also alles andere als eine Bedingung für Projizierbarkeit, vielmehr hatte er aus der Projizierbarkeit ein Kriterium für das Bestehen einer identischen logischen Mannigfaltigkeit gemacht und eine sorgfaltig durchdachte, metaphysische Mythologie zur Befriedigung der sich daraus ergebenden Anforderungen ersonnen. Dennoch wurde eine grundlegende Einsicht beibehalten und transformiert. Es war richtig gewesen, mit Nachdruck zu betonen, daß die Beziehung zwischen einem Satz und der Tatsache, die ihn wahr macht, eine interne Beziehung ist. Gleichermaßen sind die Relationen zwischen einer Erwartung und dem Ereignis, dessen Eintritt ihre Erfüllung ausmacht, zwischen einem Befehl und seiner Ausführung sowie zwischen einem Wunsch und seiner Erfüllung allesamt interne Relationen. Faßt man diese Relationen nicht als intern auf, so hat dies verheerende Folgen für jede Auffassung über die Natur der Intentionalität, der Uberzeugung, der Erwartung und des Wunsches - wie es in Russells Theorie des Wunsches der Fall ist oder in Freges Theorie der Uberzeugung. 4 Aber interne Relationen sind Relationen innerhalb der Grammatik, sie sind keine Relationen de re zwischen Sprache und Wirklichkeit oder zwischen Denken und Wirklichkeit. Es ist eine grammatische Regel, daß gilt: „der Satz, daß p" = „der Satz, den die Tatsache p wahr macht", genauso wie es eine grammatische Regel darstellt, daß die Erwartung, daß p, jene Erwartung ist, die durch den Eintritt des Ereignisses, daß p, erfüllt wird (PG, 161 f.). Erwartung und Erfüllung berühren sich in der Sprache (PU, 445) - und nicht durch einen Kontakt zwischen Sprache und Wirklichkeit. „Wie alles Metaphysische ist die Harmonie zwischen Gedanken und Wirklichkeit in der Grammatik der Sprache aufzufinden." (PG, 162) Es gibt nichts, was gezeigt werden

4 Russells Theorie des Wunsches ist in der dritten Vorlesung von Die Analyse des Geistes (Russell 1927) ausgearbeitet u n d wurde von Wittgenstein im dritten Kapitel der Philosophischen Bemerkungen kritisiert. Freges Auffassung über Überzeugungen findet sich in dem Aufsatz Über Sinn und Bedeutung (Frege 1980, 40-65). Nach Russell ist dasjenige, was einen W u n s c h erfüllt (sein Ziel) durch Erfahrung zu ermitteln und kann nicht von der Charakterisierung des Gehalts des Wunsches abgelesen werden. Freges Auffassung zufolge ist dasjenige, was geglaubt wird, der gewöhnliche Sinn des Satzes, der zu unterscheiden ist von dem, was der Fall ist, wenn die Überzeugung wahr ist. Aber wenn man die Überzeugung hat, daß p, u n d es der Fall ist, daß p, d a n n ist dies genau das, wovon m a n geglaubt hatte, es sei der Fall; was m a n geglaubt hatte, ist nicht etwas - ein Gedanke der in irgendeiner dunklen Beziehung zu dem steht, was der Fall ist.

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müßte, und nichts, was durch solche grammatischen Regeln nicht gesagt werden könnte. Ausgesprochen wird damit aber keine Beschreibung einer Relation zwischen Satz und Tatsache, sondern eine Konvention, nämlich daß der Ausdruck „der Satz, daß p" äquivalent ist mit dem Ausdruck „der Satz, der durch die Tatsache, daß p, wahr gemacht wird". „In der Sprache wird alles ausgetragen." (PG, 143) 2. Semantik: Es war ein schwerwiegender Fehler gewesen, die Bedeutungen von Namen als Gegenstände aufzufassen, für die stellvertretend die Namen stehen. Bedeutungen sind keine Gegenstände. Und Namen sind keine Stellvertreter dessen, was sie benennen, weil anders als Stellvertreter, die durch das ersetzt werden können, was sie vertreten, Namen in Sätzen nicht durch das ersetzt werden können, was sie benennen. 5 Vielmehr wird die Bedeutung eines Ausdrucks durch eine Erklärung seiner Bedeutung angegeben. Und eine Erklärung der Bedeutung ist eine Regel für den Gebrauch des Explanandums. Also kann man sehr wohl erklären, was ein Wort bedeutet. Aber solch eine Erklärung „stellt keine Verbindung zwischen Sprache und Wirklichkeit her". Natürlich kann man erklären, daß Rot eine Farbe ist, nämlich jene / Farbe. Der Begriff der Farbe wird falsch konstruiert, wenn man ihn als Variablennamen auffaßt, der die konstante Form all seiner Werte repräsentiert. Unterschiedliche Farbnamen müssen nicht dieselbe logische Form haben, weil sie nicht überall salva significatione austauschbar sind - es macht Sinn zu sagen, daß die Verkehrsampeln rot leuchten, nicht aber, daß sie schwarz leuchten, genauso wie es einerseits Sinn macht, von durchsichtigem rotem Glas zu sprechen, nicht hingegen von durchsichtigem weißen Glas. „Farbe" ist natürlich nicht der Name einer Determinaten, sondern einer Determinablen. Dennoch hat dieser Begriff einen völlig respektablen Gebrauch in der Sprache. Denn wie wir sagen können, das Fensterglas sei farbloses Glas oder die Kirchenfenster seien aus farbigem Glas, so können wir die Farbe einer Rose bewundern oder einem Kind sagen, es solle die schwarzweißen Zeichnungen in seinem Buch farbig ausmalen, wie wir auch jemanden nach seiner Lieblingsfarbe fragen oder ihn zur Betrachtung der Farbe des Sonnenuntergangs auffordern können. Man kann auch sagen, die Bedeutungen zweier Ausdrücke seien identisch; damit stellt man aber nicht die absurde Behauptung auf, daß zwei Gegenstände ein einziger seien. Vielmehr gibt man damit eine Regel für den Gebrauch der beiden Ausdrücke an, eine Regel, die die Transformation von „Fa" in „Fb" salva veritate

5 Obwohl eine ostensive Zeigegeste, der indexikalische Ausdruck „dies" und der Gegenstand, auf den gezeigt wird, den Ausdruck ersetzen können, der durch die korrelative ostensive Definition in einem Satz definiert wurde, etwa wenn wir sagen: „Die Gardinen haben diese /

Farbe."

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erlaubt, und „Fa & ~Fb" ausschließt. Wieder gibt es hier nichts, was nicht auch durch eine grammatische Regel ausgesprochen werden könnte, und es gibt nichts Unsagbares, was gezeigt werden müßte. Genauso kann man sagen, was der Sinn eines Satzes ist. Dies läuft nicht darauf hinaus, den Satz mit einem möglichen Sachverhalt zu verbinden, mit den Gegenständen, die ihn konstituieren, als den Bedeutungen der einfachen Namen des analysierten Satzes. Vielmehr läuft es darauf hinaus, den fraglichen Satz durch einen anderen Satz mit derselben Bedeutung zu paraphrasieren. Der Sinn eines Satzes stellt keine Möglichkeit dar, die mit ihm durch eine Projektionsmethode korreliert ist (die als das Denken des Sinns galt, d.h. mit „p" den Sachverhalt, d a ß p , zu meinen), und die Frage: „Was ist der Sinn dieses Satzes" fragt lediglich nach der Übersetzung eines Satzes in einen anderen Satz, der an seiner Stelle verwendet werden kann und den der Fragesteller versteht. 3. Die Beschreibung von Gegenständen: Gemäß dem Tractatus können (einfache) Gegenstände nicht beschrieben, sondern nur benannt werden. Sätze können nicht sagen, was Gegenstände sind, sondern nur beschreiben, wie sie sind; denn um zu sagen, was ein Gegenstand ist, müßte man ihn mittels seiner internen Eigenschaften beschreiben. Aber hier liegt eine Verwirrung vor. Erstens wird der Terminus „Gegenstand" hier zur Bezeichnung dessen verwendet, worauf sich ein Ausdruck, der nicht analytisch definiert ist, bezieht. Beispiele dafür sind rot, dunkel, und süß (vgl. PU, 87), die offenbar den Endpunkt der Analyse ausmachen, wo diese auf das Fundament der einfachen Ausdrücke stößt, die direkt mit der Wirklichkeit verbunden sind. Später gelangte Wittgenstein aber zu der Einsicht, daß der Terminus „Gegenstand" hier mißbräuchlich verwendet wurde; es gibt keine „Verbindung zwischen Sprache und Wirklichkeit" in diesem Sinne, und die Muster von rot, süß, usw., die wir bei der Angabe von ostensiven Definitionen solcher Ausdrücke verwenden, sind Instrumente der Sprache. Sie werden als Teil der Darstellungsmittel verwendet und werden nicht beschrieben oder dargestellt durch die ostensiven Definitionen, die erklären, was die Ausdrücke „rot" oder „süß" bedeuten, und die die Regeln für den Gebrauch dieser Worte konstituieren. Man kann von Rot oder Süße sagen, sie seien eine Farbe bzw. ein Geschmack, aber das stellt keine Beschreibung der Röte oder Süße mittels ihrer internen Eigenschaften dar. Vielmehr werden weitere Regeln für den Gebrauch dieser Ausdrücke gegeben, nämlich folgende: Wenn man von etwas sagen kann, es sei rot, so kann man von ihm auch sagen, es habe eine Farbe, und wenn man von etwas sagen kann, es sei süß, so kann man von ihm sagen, es habe einen Geschmack. Was als unzulässige Sätze ohne Bipolarität erschien, die Gegenstände mittels ihrer internen Eigenschaften und Relationen beschreiben, waren in Wahrheit grammatische Sätze. Zu sagen, Rot sei dunkler als Rosa, läuft

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auf folgende Aussage hinaus: Wenn ein Gegenstand rot ist und der andere rosa, dann kann man ganz einfach sagen, der erste sei dunkler als der zweite. Dies ist keine Beschreibung von Rot, sondern eine Regel für den Gebrauch des Wortes „rot", die zum Teil konstitutiv ist für dessen Bedeutung. Was als sprachlich nicht artikulierbare, notwendige Wahrheiten über Farben erschienen war, stellt nicht mehr dar als Konventionen für den Gebrauch von Farbwörtern und Farbrelationswörtern. Was wird dann aber aus der These, daß solche „Gegenstände" nicht beschrieben werden können? Wir neigen zu Äußerungen wie: „Das Aroma des Kaffees ist unbeschreibbar." U n d im Geiste William James' könnten wir hinzufügen: „,Es fehlen uns die Worte'." (PU, 610) Aber das beruht auf einer Verwirrung. D e n n wenn wir die Unbeschreibbarkeit des Aromas der mangelnden Adäquatheit unserer Sprache anlasten, dann steht es uns erstens frei, eine neue Sprache zu erfinden, indem wir eine verfeinerte Terminologie einführen; zweitens müssen wir eine gewisse Vorstellung von einer Beschreibung haben, die uns eine subtilere Sprache an die H a n d geben würde, d . h . wir müssen der Auffassung sein, das Aroma sei beschreibbar, nur eben nicht in unserer unangemessenen Sprache. Woher rührt dann aber die Vorstellung von dieser Beschreibung? U n d was befähigt sie, auszudrücken, was wir nicht sagen können? Wittgensteins Diskussion dieser Frage kann man als die Wiederaufnahme der Idee der Unsagbarkeit ansehen, wobei er zur entgegengesetzten Schlußfolgerung wie im Tractatus gelangt. Jene Vorstellung von Unsagbarkeit brachte folgendes durcheinander: Undefinierbarkeit mittels analytischer Definition mit absoluter Undefinierbarkeit, Undefinierbarkeit mit Unbeschreibbarkeit sowie das Ergreifende oder Eindrucksvolle (vgl. auch Punkt neun unten) mit dem Unsagbaren. Läßt sich das Aroma des Kaffees wirklich nicht beschreiben? Schließlich können wir vom Aroma des Kaffees im Laden sagen, es sei frisch, so reichhaltig wie delikat und verrate gute Röstung, während das Aroma des alten Kaffees in der Kaffeedose schwach und abgestanden ist. Oder wir können sagen, das Aroma von diesem Kaffee sei frischer, reichhaltiger, von besser geröstetem Kaffee als das Aroma von jenem Kaffee. Solch eine Beschreibung mag für eine untrügliche Identifikation ungeeignet sein, aber das heißt nicht, daß es sich um keine Beschreibung handelt. Sollte der Verteidiger der Unsagbarkeitsthese darauf bestehen, daß es sich nicht wirklich um eine Beschreibung eines Aromas handelt, daß sie nicht das Wesentliche beschreibt, welches sich nicht in Worte fassen läßt, dann wird offenkundig, daß seine Neigung, das Aroma für unbeschreiblich zu halten, nichts mit der Unzulänglichkeit unserer Sprache zu tun hat, sondern es vielmehr u m ein Paradigma für Beschreibungen geht, das solche Beschreibungen nicht erfüllen. Die angebliche Unbeschreibbarkeit des Aromas läuft auf die Behauptung hinaus, daß eine Form von Beschreibung in diesem Fall nicht anwendbar ist, so-

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wie auf die Zurückweisung derjenigen Form von Beschreibung, die auf diese Sorte von Fällen angewendet werden kann. Er weigert sich, das Beschreibbare am Aroma des Kaffees anzuerkennen und damit auch, als Beschreibung anzuerkennen, was mit gutem Recht als „eine Beschreibung des Aromas" gelten kann. Worin besteht das Paradigma einer Beschreibung, wie es die Unsagbarkeitsthese voraussetzt, welches einen dazu verleitet, die verfügbaren Beschreibungen des Aromas als inadäquat zurückzuweisen? Es ist die Beschreibung einer Substanz durch Angabe ihrer Eigenschaften. Wir beschreiben einen Tisch als rund, aus Mahagoni gefertigt, mit einem Durchmesser von einem Meter usw., so wie wir eine Tasse Kaffee als schwarz, heiß, bitter und aromatisch beschreiben. Eine Substanz zu beschreiben, heißt ihre Eigenschaften anzugeben. Aber wenn man gebeten wird, Eigenschaften statt Substanzen zu beschreiben, ist das Paradigma natürlich nicht mehr anwendbar. Die Frage lautet: Was bezeichnen wir als „Beschreibung einer Eigenschaft"? Wir können die Beschreibung der Tasse Kaffee als heiß, schwarz und süß mit der Beschreibung des Kaffeearomas als frisch, reichhaltig, und gut geröstet vergleichen, wie wir die Beschreibung einer Rose als wohlgestaltet, angenehm duftend, und rot mit der Beschreibung ihrer Farbe als dunkel und matt vergleichen können. Es handelt sich um eine völlig untadelige Analogie, aber eben nur um eine Analogie. Denn die Eigenschaften, dunkel, bzw. matt zu sein, verhalten sich zu Rot nicht genauso wie sich die Eigenschaft, rot zu sein, zu einer Rose verhält. Denn mattes Rot wie das entgegengesetzte glänzende Rot lassen sich beide einfach auch als zwei unterschiedliche, komplexe Eigenschaften verstehen, die farbigen Gegenständen zukommen können. Eine andere Analogie wäre die zwischen der Beschreibung einer Substanz durch Angabe ihrer Eigenschaften und der Beschreibung einer Eigenschaft durch Angabe der Substanzen, die die fragliche Eigenschaft aufweisen. Genau das ist es, was wir häufig tun, etwa wenn wir sagen, Rot sei die Farbe der Lippen unserer wahren Liebe. Aber nochmals, es handelt sich bloß um eine Analogie. Statt eine Substanz durch ihre Eigenschaften zu beschreiben, haben wir hier einfach das Paradigma umgedreht. Natürlich kann man niemandem eine Analogie aufzwingen, gegen die er sich stemmt. Aber seine Behauptung, ein Aroma, eine Farbe, oder ein Geräusch seien unbeschreibbar, bedeutet hier schlicht offenkundig, daß es in diesen Fällen keine Beschreibung von Eigenschaften nach der Art des favorisierten Paradigmas gibt, nämlich dem Paradigma der Beschreibung einer Substanz. Selbst wenn wir gewillt sind, solchen Skrupeln Beachtung zu schenken, so ist doch klar, daß die fragliche „Unbeschreibbarkeit" nichts mit den Grenzen der Sprache zu tun hat, sondern nur mit der Konvention, die wir zu akzeptieren bereit sind, was als „eine Beschreibung (einer Eigenschaft)" gelten kann. Natürlich könnte man sagen, daß die Worte beispielsweise nicht den höchst eigentümlichen Charakter vom Aroma des Kaffees oder der herrlich leuchten-

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den Farben eines Sonnenuntergangs übermitteln können. Es ist richtig, daß Worte kein Substitut für das sind, was sie beschreiben. Eine Beschreibung des Kaffeearomas ist kein Substitut für den Kaffee selbst. Aber dann sind Worte auch kein Substitut für eine Kaffeetasse - und letztere ist zweifellos beschreibbar. Es ist ebenfalls richtig, daß wir oft sagen, eine Beschreibung sei kein Substitut für die unmittelbare Bekanntschaft mit einer Sache. Gleichviel wie gut X beschrieben wird, nur wenn man es erfahren hat, kann man einschätzen, ob es wunderbar oder schrecklich ist. Aber auch das ist keine Eigentümlichkeit von einfachen, ostensiv definierten Eigenschaften. Worte können nicht die Schönheit des Deckenfreskos der Sixtinischen Kapelle oder die Schrecken von „Guernica" vermitteln - man muß sie mit eigenen Augen gesehen haben. Denn der Eindruck von solch einer Beschreibung ist ein anderer als der Eindruck des Beschriebenen. Aber die weitergehende Behauptung aufzustellen, nur derjenige, der solch eine Sache erfahren habe, habe wirkliches Wissen von ihrem ganz eigentümlichen Charakter und sei im Besitz einer Art von Information, die charakteristischerweise sprachlich nicht artikulierbar ist, beruht wiederum auf einer Verwirrung. Denn dieser Gebrauch von „ganz eigentümlichem Charakter" entspricht, wie wir gleich sehen werden, dem, was Wittgenstein „intransitiv" nennt. Es verhält sich nicht so, als ob jemand, der Kaffeearoma geschmeckt oder das Fresko der Sixtinischen Kappelle gesehen hat, im Besitz einer sprachlich nicht artikulierbaren Information wäre, die anderen fehlt. Sondern genau weil „der ganz eigentümliche Charakter" intransitiv gebraucht wird, gibt es hier nichts Unsagbares, was man der Beschränktheit der Sprache anlasten könnte. 4. Kategorische Eigenschaften von Gegenständen und interne Relationen: Weil das, was man grob gesprochen, als „kategorische (oder formale) Begriffe" bezeichnen kann, nicht mehr als Variablen gedeutet werden soll, ist eine Neubewertung der Vorstellung erforderlich, man könne nicht sagen, drei sei eine Zahl oder Rot eine Farbe. Man beachte, daß Wittgenstein nicht nur geltend gemacht hat, solche Begriffe hätten einen völlig respektablen Gebrauch, er gelangte auch zu der Einsicht, daß solche Begriffe, statt scharf durch die essentiellen Formen einer Klasse von Gegenständen umrissen zu sein, überhaupt nicht genau definiert sind und typische Familienähnlichkeitsbegriffe darstellen - wie die Begriffe Satz und Zahl. Der Begriff der Farbe ist nicht genau festgelegt: für manche Zwecke sind Schwarz, Weiß und Grau Farben, für andere nicht. Zudem sind die Regeln für den Gebrauch der verschiedenen Farbwörter (oder Zahlwörter) nicht homogen. Wie bereits festgestellt wurde, sind sie vor allem nicht einheitlichermaßen salva significatione austauschbar. Man kann sagen, drei sei eine Zahl oder Rot eine Farbe. Mit solchen Äußerungen überschreitet man nicht irgendwelche Regeln der Sprache. Natürlich sind

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solche Sätze nicht bipolar; aber dann handelt es sich eben nicht um empirische Sätze. Noch sind sie analytisch oder synthetisch apriori. Es handelt sich bei ihnen um den Ausdruck einer grammatischen Regel, nämlich, daß wenn ein Gegenstand rot ist, man von ihm sagen kann, er sei farbig, oder wenn drei Gegenstände auf dem Tisch liegen, dann eine bestimmte Anzahl von Gegenständen auf dem Tisch liegt. Damit werden keine metaphysischen Tiefen ausgelotet, sondern es wird bloß eine grammatische Konvention festgehalten. Selbstverständlich kann man sagen, der Satz: „ w e n n p , und w e n n p dann q, dann q", sei eine Tautologie. Aber es ist ein Fehler zu sagen, diese Sätze, die in dieser Weise mit „ 3 " verknüpft wurden, ergäben eine Tautologie oder die Tautologie folge aus der Bedeutung von „z>". Sie ergeben gar nichts (in dem Sinn, in dem Kohlenstoff und Sauerstoff Kohlendioxid ergibt), sie sind etwas; und daß sie eine Tautologie sind, folgt nicht aus der Bedeutung des Konditionals, sondern ist für seine Bedeutung konstitutiv (PG, 52). Die Tautologie sagt nichts, aber zu sagen, es sei eine Tautologie, heißt, eine Regel auszudrücken, nämlich, daß man aus „/>", und „wenn p, dann q", „q" schließen kann (VGM, 336ff.): denn jede Tautologie kann in der Form eines Modus ponens wiedergegeben werden, und jede solche Tautologie entspricht einer Schlußregel. In diesem Sinne ist, wie der Tractatus festhielt, jede Tautologie eine Beweisform. 5. Typenklassifikation - Rechtfertigung der Grammatik durch Bezugnahme auf die Wirklichkeit, und die Grenzen des Denkens: Im Tractatus wurde gegen Russell geltend gemacht, daß man die Regeln der logischen Syntax nicht durch Bezugnahme auf die Wirklichkeit rechtfertigen kann. Man kann nicht die Aussage, Leo sei ein Löwe, für sinnvoll erklären, hingegen die Aussage, die Klasse der Löwen sei ein Löwe, deshalb für Unsinn halten, weil keine Eigenschaft eines Gegenstandes die Eigenschaft einer Klasse ist. Folgt man dem Tractatus, so wird das, was die Typentheorie sagen wollte, vom Symbolismus in sprachlich nicht artikulierbarer Weise gezeigt. Während er den Gedanken, es gebe unsagbare metaphysische Notwendigkeiten in der Welt, die sich in der Form einer analysierten Sprache widerspiegeln, als eine Mythologie des Symbolismus aufgab, blieb er dem Gedanken treu, wonach es keinen Sinn macht, die Grammatik durch Bezugnahme auf die Wirklichkeit zu rechtfertigen. Weder brauchen noch können wir eine „Theorie der logischen Typen" nach Russells Modell haben. Man könnte aber sagen: „Die Grammatik ist eine .theory of logical types'" (PB, 54), d. h. dasjenige, was von einer Theorie der logischen Typen gefordert wurde, wird durch die Regeln der Grammatik geleistet, die bestimmte Ausdrucksformen aus der Sprache ausschließen (oder die wir zu deren Ausschluß festlegen könnten). Man kann jedoch von einer grammatischen Regel, die eine Ausdrucksform aus der Sprache ausschließt, nicht sagen, sie sei in einer sprachlich nicht artiku-

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lierbaren Weise durch bestimmte Eigenschaften der Gegenstände gerechtfertigt. Die Regel, die die Ausdrücke „durchsichtiges weißes (Glas)" oder „blitzende schwarze (Lichter)" ausschließt, läßt sich nicht mit Verweis darauf rechtfertigen, daß Weiß nicht durchsichtig ist oder Schwarz nicht leuchtet. Denn wenn man dies sagen könnte, dann wäre es eine sinnvolle, wenn auch falsche Behauptung, daß dieses weiße Glas durchsichtig ist oder daß die Verkehrsampeln schwarz leuchten. Eine Rechtfertigung der Grammatik durch Bezugnahme auf die Wirklichkeit würde auf die folgende Behauptung hinauslaufen: Weil die Wirklichkeit so und so beschaffen ist, müssen die Regeln der Grammatik so und so sein. Aber dann müßte man auch sagen können: Wenn die Wirklichkeit anders beschaffen gewesen wäre, hätten auch die Regeln der Grammatik anders sein müssen. Aber man kann keine vernünftige Angaben dazu machen, wie die Wirklichkeit beschaffen sein müßte, damit eine andere Grammatik gerechtfertigt wäre. Denn um solch eine andere Wirklichkeit zu beschreiben, müßte man genau diejenige Kombination von Ausdrücken verwenden, die unsere bestehende Grammatik ausschließt, d. h. man müßte Unsinn reden (VI, 68). Wenn aber etwas in der zu rechtfertigenden Grammatik als Unsinn gilt, kann es in der Grammatik der rechtfertigenden Sätze auch nicht als Sinn gelten (PB, 55). Könnte man nicht sagen, daß die Regel, die die Ausdrucksform „durchsichtiges Weiß" ausschließt, oder jene Regel, mit der Russell den Ausdruck „die Menge aller Mengen, die sich selbst als Element enthalten" untersagen wollte, jeweils durch Bezugnahme auf die Tatsache gerechtfertigt sind, daß nichts Weißes durchsichtig sein kann, sowie die Tatsache, daß keine Menge sich selbst als Element enthalten kann? Nein - denn es handelt sich hier nicht um Tatsachen, die sich anders verhalten könnten. Denn in solch einem Fall wären die Regeln nicht gerechtfertigt, da es dann Sinn machen würde, daß etwas Weißes durchsichtig wäre oder eine Menge sich selbst als Element enthalten würde, selbst wenn nichts Weißes tatsächlich durchsichtig ist, und (nach Russell) keine Menge sich selbst als Element enthält. Aber wenn das „nicht können" hier logische Unmöglichkeit ausdrückt, dann ist der Satz, daß nichts Weißes durchsichtig sein kann, nichts weniger als eine Rechtfertigung der Regel zum Ausschluß der Ausdrucksweise „durchsichtiges weiß" aus der Sprache, sondern vielmehr ein Ausdruck genau dieser Regel. Glas kann genauso wenig durchsichtig weiß sein wie man beim Damespiel rochieren kann. Die sprachlich nicht artikulierbare, aber essentielle Entsprechung der logischen Syntax jeder möglichen Sprache gegenüber der logischen Struktur der Welt war eben eine Illusion. Aber sie war der Vorläufer von Wittgensteins späterer Auffassung, wonach es keine Rechtfertigung der Grammatik durch Bezugnahme auf die Wirklichkeit gibt, daher auch seine spätere Betonung der Autonomie der Grammatik.

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Die Behauptung, man könne dem Denken nicht durch die Angabe dessen, was nicht gesagt werden kann, Grenzen ziehen, war natürlich völlig richtig. Aber es war ein Fehler anzunehmen, es gebe jenseits der Grenzen der Sprache noch etwas, was durch die Merkmale der logischen Syntax gezeigt würde, aber nicht in Worte gefaßt werden könnte. Diese Vorstellung befriedigt die „Sehnsucht" der Philosophen „nach dem Übernatürlichen//Transzendentalen//, denn da sie glauben, daß sie die ,Grenzen des menschlichen Verstandes' sehen, glauben sie natürlich, daß sie über diese hinaus sehen können." (BT, 424) Diese „Sehnsucht" zeigt sich in dem Bestreben traditioneller philosophischer Versuche, die wesentlichen Merkmale der Welt mittels notwendig wahrer Sätze zu beschreiben, in denen festgehalten wird, was so und so sein muß, was möglich ist und was nicht, oder was so und so ist und nicht anders sein kann. Die Wissenschaft, die vorgab, diese Wahrheiten zu beschreiben, war die Metaphysik. Nach dem Tractatus sind metaphysische Sätze unmöglich. Sie verstoßen nicht nur gegen die Bipolaritätsbedingung sinnvoller Sätze, sie beinhalten auch den illegitimen Gebrauch formaler Begriffe. Aber was sie zu sagen versuchen, zeigt sich durch die Merkmale des Symbolismus eines jeden Repräsentationssystems. Der Tractatus zog die Grenzen des Sinns, um Platz für die sprachlich nicht artikulierbare Metaphysik zu schaffen. Aber die Grenzen des Sinns schneiden uns nicht vom Unsagbaren ab, welches innerhalb dieser Grenzen aufgefaßt, aber nicht beschrieben werden kann. Sie schneiden uns von gar nichts ab. Es läßt sich sagen, daß nichts gleichzeitig überall rot und grün sein kann, daß etwas Farbiges ausgedehnt sein muß oder die Kardinalzahlen sich nicht alle aufzählen lassen. Solche Feststellungen können irreführend sein, wenn wir sie nach dem Modell der Feststellung physikalischer Notwendigkeiten begreifen, wie etwa: „Nichts kann schneller als 100 Meilen pro Stunde laufen" oder: „Wenn etwas durch und durch aus Ebenholz ist, dann muß es in Wasser sinken." Aber dieser irreführende Anschein läßt sich leicht ausräumen: „Statt ,man kann nicht', sage: ,es gibt in diesem Spiel nicht'. Statt ,man kann im Damespiel nicht rochieren' - ,es gibt im Damespiel kein Rochieren'; statt ,ich kann meine Empfindungen nicht vorzeigen' - ,es gibt in der Verwendung des Worts .Empfindung' kein Vorzeigen dessen, was man hat'; statt ,man kann nicht alle Kardinalzahlen aufzählen' - ,es gibt hier kein Aufzählen aller Glieder'." (Z, 134) 6. Die Grenzen der Wirklichkeit: Wenn die rechtmäßigen Merkmale der Gegenstände des Tractatus im Endeffekt Merkmale der Muster waren, die zu den Mitteln der Darstellung gehören, und wenn etwas nur dann ein Muster ist, wenn wir es als solches auswählen, dann sind die Vorstellungen inkohärent, wonach Gegenstände die immerwährende Substanz der Welt bilden und wonach die Grenzen der Wirklichkeit durch die Gesamtheit der Gegenstände bestimmt sind. Dasselbe gilt auch für den Gedanken, die Gesamtheit der Elementarsätze würde

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durch die Gesamtheit der Gegenstände gegeben. Gleichermaßen läßt sich auch die Vorstellung nicht aufrechterhalten, die Gesamtheit der Elementarsätze manifestiere die Grenzen des logisch M ö g l i c h e n . J a , die ganze K o n z e p t i o n von logischen Möglichkeiten de re in der Natur bricht zusammen. W i r haben ein Bild von der Wirklichkeit, als o b sie sich in den B a h n e n der logischen Möglichkeit bewege (Waismann 1976, 497), als o b das logisch M ö g l i c h e der Spielraum

des aktuell Gegebenen wäre, das durch seine Grenzen beschränkt

ist, nämlich dem, was logisch unmöglich ist. Was lediglich logisch möglich ist, ist nicht das, was aktuell der Fall ist. Es ist das, was der Fall wäre, wenn diese Möglichkeit verwirklicht würde. D e n n o c h scheint es eine eigene, schattenhafte Wirklichkeit zu besitzen ( V I , 2 2 8 f.). W i r kennen die Möglichkeit und k ö n n e n sagen, worin sie besteht. Es sieht so aus, als o b sie, anders als das logisch

Unmögli-

che, potentiell gegenwärtig wäre. D e n n etwas, was nicht der Fall ist, aber der Fall hätte sein k ö n n e n , ist logisch möglich. U n d damit scheint es mehr der Fall zu sein als wenn es nicht der Fall sein kann (TS 3 0 2 , 16). S o scheint es, als o b die Grammatik nur richtig sein kann, wenn sie die objektive Skala des wirklich M ö g lichen widerspiegelt. D e n n sie legt den Freiheitsspielraum in der Sprache fest, und ein Satz m u ß denselben Freiheitsspielraum haben wie das, was er bezeichnet - wir müssen in der Lage sein, mit der Sprache genauso viel zu tun wie in der Wirklichkeit geschehen kann (VI, 30). Die O r d n u n g der logischen Möglichkeiten in der Natur m u ß sicherlich festgelegt sein durch die jeweilige wesentliche Natur der Dinge, unabhängig von der Sprache, wie auch unabhängig von den menschlichen K o n v e n t i o n e n über den Gebrauch von Worten. U n d die Grammatik m u ß diese objektive O r d n u n g reflektieren, wenn die Sprache dazu in der Lage sein soll, alles zu sagen, was gesagt werden kann. Dieses attraktive Bild ist völlig irregeleitet. Statt die wesentliche Natur der Dinge zu reflektieren, legt die Grammatik deren wesentliche Natur fest. D u r c h die Niederlegung von Regeln für den Wortgebrauch, durch Festlegung dessen, was als dieses oder jenes D i n g gilt, und durch die Festlegung von Identitätskriterien sagt uns die Grammatik, welche Art von Gegenstand etwas ist (PU, 373). Das Bild einer logischen Möglichkeit als Schatten einer aktuellen Wirklichkeit, als etwas potentiell Gegenwärtigem, als etwas Realerem

als dem logisch U n m ö g -

lichen geht von falschen Voraussetzungen aus. Die Metapher v o m Schatten ist schief, denn wie kann etwas, das b l o ß logisch möglich ist, einen Schatten werfen? Schließlich existiert es nicht. Die Rede von seiner potentiellen Gegenwart stellt keine Erklärung seiner Möglichkeit dar, sondern lediglich eine Reformulierung (VI, 229). Die A n n a h m e , eine logische Möglichkeit sei m e h r der Fall als eine U n m ö g l i c h k e i t , ist absurd. D e n n einer b l o ß e n logischen Möglichkeit entspricht in der Wirklichkeit gar nichts, und weniger als nichts, als Entsprechung einer U n m ö g l i c h k e i t , kann es nicht geben (PU, 521). W o in der Welt ist das Phä-

Als das Pfeifen verstummen mußte

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nomen der logischen Möglichkeit zu finden? Nicht in der tatsächlichen Konstitution der Dinge - denn die kann nur physische, kausale Möglichkeiten offenbaren. Vielmehr ist die logische Möglichkeit in den Regeln unseres Symbolismus festgelegt (VI, 359). Nicht, daß die Grammatik festlegt, was Sinn macht und damit die Ordnung der Möglichkeiten in der Natur wiedergibt. Vielmehr bestimmt sie durch die Festlegung des Sinnvollen, was wir „möglich" und „unmöglich" zu nennen haben. In der Natur gibt es nichts, was einer logischen Möglichkeit mehr entspricht als einer logischen Unmöglichkeit. Was einer logischen Möglichkeit „entspricht", ist ein sinnvoller Satz. Zu sagen, dies und das sei logisch unmöglich, heißt nicht, etwas von Natur aus auszuschließen. Denn eine logische Unmöglichkeit stellt keine Möglichkeit dar, die unmöglich ist. Vielmehr wird eine Ausdrucksform ausgeschlossen, und sie wird nicht durch die Natur, sondern durch die Sprache ausgeschlossen. Solch eine Ausdrucksform hat keinen Sinn, weil wir ihr keinen Sinn gegeben haben. Natürlich könnten wir ihr einen Sinn geben - indem wir Kriterien niederlegen für diese bislang unsinnige Ausdrucksform. Aber dann müßten wir die Bedeutung der Ausdrücke ändern, die sie konstituieren, indem wir diese Kombination erlauben, die zuvor ausgeschlossen war. Und diese Veränderung wird sich durch die zahlreichen Gebrauchsweisen dieser Ausdrücke in anderen Sätzen fortpflanzen. 7. Die Metaphysik der Naturwissenschaften: Obwohl sich in Wittgensteins späteren Schriften verstreute Bemerkungen über Wissenschaft und wissenschaftliche Methode finden, gibt es keine direkte, geschweige denn detaillierte Diskussion der Natur wissenschaftlicher Erklärungen. Dennoch liegt auf der Hand, daß er dem Kern seiner Auffassung aus dem Tractatus treu blieb, wobei er allerdings auf das Gewand der Unsagbarkeitsthese verzichtete, die die Behauptung untersagte, es gebe Naturgesetze. Grundlegende Prinzipien wissenschaftlicher Theorien, welche von Philosophen manchmal als metaphysische Prinzipien der Naturwissenschaft dargestellt wurden (Kant, Collingwood), sind in Wirklichkeit Normen der Darstellung und handeln insofern in einem gewissen Sinn „vom Netz, nicht von dem, was das Netz beschreibt." (T, 6.35) Wenn Hertz anmerkt, daß es im Falle einer Abweichung von seinen Gesetzen der Mechanik zur Erklärung der Abweichung in der Nähe des Gegenstandes unsichtbare Massen geben muß, so wirkt dies, als ob er ein apriorisches Naturgesetz ins Feld führt. Tatsächlich führt er aber eine von ihm festgelegte Beschreibungsnorm ins Feld. Das Kausalitätsgesetz ist eine Erklärungsnorm, die sich als fruchtbar erweisen mag oder auch nicht. Aber es handelt sich nicht um eine Eigenschaft der in der klassischen Mechanik beschriebenen Gegenstände. Vielmehr handelt es sich um eine Eigenschaft des Beschreibungssystems, für das wir uns entschieden haben (VI, 164).

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Peter M. S. Hacker

8. Die Metaphysik der Erfahrung: Was der Solipsist behauptet, ist alles andere als richtig, sondern ein völliges Durcheinander. Aber es handelt sich auch nicht um bloßen Unfug. So wirr es ist, so deutet es doch auf wichtige Merkmale unserer Sprache hin. Das Pronomen der ersten Person Singular ist ein degenerierter referierender Ausdruck, der eine wichtige Rolle erfüllt, die in wesentlichen Hinsichten anders ist als diejenige anderer Personalpronomina. 6 Es weist Verwandtschaft auf zum Nullpunkt eines Koordinatensystems, während andere referierende Ausdrücke eher den Bezeichnungen der Punkte des Graphen verwandt sind. In unmittelbaren Erfahrungsäußerungen werden psychologische Prädikate ohne Kriterien verwendet, wohingegen sie in Zuschreibungen in der dritten Person durch Verhaltenskriterien für ihre Anwendung gerechtfertigt werden. Die Verwirrungen des Solipsisten beruhen vermutlich auf einem mißglücktem Verständnis dieser Charakteristika, was auch seine konfuse Unzufriedenheit mit unserer Notation oder unserem Darstellungssystem erklärt (vgl. BB, 95). Aber es gibt hier nichts, was nicht sprachlich artikulierbar wäre - sondern es gibt hier nur die Beschreibung grammatischer Regeln. 9. Ethik und Ästhetik: Nach der Lecture on Ethics von 1929 schrieb Wittgenstein, von gelegentlichen Randbemerkungen abgesehen, nichts weiteres mehr über Ethik. Er hielt jedoch Vorlesungen über Ästhetik. Es ist offenkundig, daß er die Doktrin von der Unsagbarkeit absoluter Werte aufgegeben hatte. Es gibt eine interessante Diagnose für einen der Impulse für solch eine Konzeption in den Vorlesungen über Ästhetik (VÄ, 67 f.) und im Braunen Buch (BB, 272-279). Wie zu erwarten war, ist die Diagnose deflationär. Ausdrücke wie „hat Bedeutung", „sagt etwas", „ist bedeutungsvoll" haben in der ästhetischen Beurteilung (und anderswo) alle ihren Gebrauch, in dem wir fortfahren mit „nämlich ...", und dabei erklären, welche Bedeutung das Objekt der ästhetischen Beurteilung denn hat oder was es besagt. Wir mögen sagen: „Diese Melodie vermittelt einen ganz eigentümlichen Eindruck: sie ist kraftvoll, sie treibt immer schneller vorwärts, die Streicher fallen zur Steigerung der Spannung ein, und das Schmettern der Trompeten bringt sie zu einem triumphalen Abschluß." Und bei einem Stück Programmusik mag uns auffallen, auf welch wunderbare Weise die Musik den Eindruck einer ruhigen See, eines Sonnenaufgangs, oder eines vorüberziehenden Sommerregens vermittelt. Solche Gebrauchsweisen nennt Wittgenstein „transitiv." Wir verwenden aber dieselben Ausdrucksformen auch intransitiv. Manchmal sind wir davon beeindruckt, wenn wir ein Musikstück in einer bestimmten Weise gespielt hören, und wir sagen dann: „So gespielt hat diese musikalische 6 Für eine Diskussion von Wittgensteins Auffassung z u m P r o n o m e n der ersten Person Singular vgl. die A b h a n d l u n g mit d e m Titel I and my seif in Hacker 1990.

Als das Pfeifen verstummen mußte

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Phrase Bedeutung" oder: „Dieses Musikstück sagt etwas." Dies mag nichts weiter als Ausdruck davon sein, wie beeindruckt wir sind, wie nah uns das Objekt unserer Aufmerksamkeit geht. Oder wir mögen sagen, eine musikalische Phrase sei, so und so gespielt, bedeutungslos, ganz anders gespielt hingegen bedeutungsvoll - diesmal allerdings ohne ein „nämlich". Hier kann man nicht fragen: „Was bedeutet sie denn?" oder: „Was sagt sie denn?", obwohl wir sagen könnten, daß sich die Musik „mir selbst sagt" (PU, 523), bzw. „uns sich selbst vermittelt" (BB, 273). In der philosophischen Rekonstruktion neigen wir dazu, diesen ziemlich speziellen Wortgebrauch falsch zu konstruieren, und denken, daß die Sprache in solchen Fällen ästhetischer Beurteilung nicht reichhaltig genug sei, u m den von der Musik vermittelten Eindruck auszudrücken, daß die Musik also etwas sagt, dies aber sprachlich nicht artikulierbar ist. Aber das beruht auf einer Verwirrung, indem die Verwendungsweise solcher Ausdrücke, wenn sie transitiv gebraucht werden, auf diese ganz anderen Kontexte projiziert wird, in denen sie intransitiv verwendet werden. Auf die Frage: „Was für ein Eindruck" könnte man antworten: „Nun, es geht einem einfach sehr nahe - höre doch nur." Hier dient „ein ganz eigentümlicher Eindruck" nicht als Vorwort zu einem „nämlich ...". Weder werden hier Grenzen der Sprache kundgetan noch Andeutungen gemacht, man habe etwas Unsagbares erfaßt, sondern es wird lediglich emphatisch zum Ausdruck gebracht, daß einen die Melodie wirklich beeindruckt hat. Daß es Dinge gibt, von denen man nicht sprechen kann, die sich aber in der Sprache zeigen, war eine Illusion. In den meisten Fällen entsprang sie einer unbeabsichtigten Projektion von Grundzügen der Grammatik der Ausdrücke unserer Sprache auf die Wirklichkeit. Insbesondere handelte es sich bei vielem von dem, was für sprachlich unartikulierbar gehalten wurde, lediglich um den Schatten, den die Regeln für den Gebrauch dieser Worte geworfen hatten. Wie Wittgenstein später bemerkte: „Man prädiziert von der Sache, was in der Darstellungsweise liegt." (PU, 104) Die Logik scheint „die O r d n u n g a priori der Welt" darzustellen, „d. i. die O r d n u n g der Möglichkeiten, die Welt und Denken gemeinsam haben m u ß . " Sie wurde als „vor aller Erfahrung", „vom reinsten Kristall" begriffen, aber sie „muß sich durch die ganze Erfahrung hindurchziehen"; „nicht als eine Abstraktion, sondern als etwas Konkretes, ja als das Konkreteste, gleichsam Härteste." (PU, 97) Das Bild, welches der Tractatus präsentierte, war von großer Schönheit - wie ein Bild zur Illustration eines Märchens. Mit dem Ende dieses Märchens mußte das Pfeifen verstummen. Aus dem Englischen von Alexander

Staudacher

Eugene T. Gendlin (Chicago)

Was geschieht, wenn Wittgenstein fragt: „Was geschieht, wenn ... ?"*

Wittgenstein bestand darauf, daß die Sprache nicht vollständig von Regeln beherrscht werden könne, da sich die Regeln selbst aus der Sprachtätigkeit ergeben und auch ihre Formulierung ein Teil dieser Tätigkeit ist. Ebenso lehnte er Berichte über Beobachtungen von sprachlichem Verhalten als Basis des Verstehens von Sprache ab. Es war lange Zeit eine offene Frage, von welchem Standpunkt her Wittgenstein selbst diese Aussagen macht. Bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, müssen wir uns mit einem grundlegenderen Problem beschäftigen: Es besteht im allgemeinen Einigkeit darüber, daß Wittgenstein die üblichen Annahmen des auf äußere Beobachtungen gestützten Objektivismus ablehnte, ebenso wie einen Intellektualismus, der sich auf Regeln, Konventionen oder Konstruktionen stützt. Dennoch enthalten die meisten Erörterungen über Wittgenstein einige dieser Annahmen, und zwar nicht, weil seine Zurückweisungen nicht verstanden würden, sondern weil keine andere Begrifflichkeit, kein anderer Diskurs verfügbar ist. So sagt David Pears: „Die meisten der neueren Darstellungen Wittgensteins beginnen mit der Annahme, daß es tatsächlich für jedes Wort eine bestimmte Regel geben sollte, die seinen Gebrauch festlegt." (Pears 1995, 413) Andere nehmen an, daß Behauptungen auf Beobachtungen beruhen müssen. Die Wiedergabe der Position Wittgensteins besteht dann darin, von solchen Annahmen so viele wie möglich zu retten. Oder, wenn eine solche „Rettung" unmöglich ist, hat es den Anschein, als ob es Wittgenstein um etwas gehe, das nicht ausgesprochen werden kann, um etwas „Unaussprechliches". Es erscheint unvermeidbar, mit Annahmen zu beginnen, die er zurückweist, um dann bei der Erläuterung ihrer Zurückweisung eine Redeweise zu benutzen, die eben diese Annahmen wiederum als gültig unterstellt. Wenn man damit beginnt, die von ihm zurück-

* D i e amerikanische Originalfassung erschien in: Philosophical Forum 28, H . 3 (Frühjahr 1997).

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Eugene T. Gendlin

gewiesenen Annahmen zu benennen, und im Anschluß daran die Gründe für ihre Zurückweisung aufführt, so scheint dies nur im Rahmen eines Diskurses möglich zu sein, der sie immer noch voraussetzt. Dies liegt aber nicht an einem Versehen unsererseits; Wittgenstein selbst hat die Erörterungen seines Werkes schwierig, wenn nicht gar unmöglich gemacht. Er sagte, er könne das, worum es ihm geht, nicht sagen, nur zeigen. Er war überzeugt, daß man über das, was er zeigte, nicht sprechen könne. Wir müssen seine Gründe hierfür untersuchen, jedoch erfordert dies genau jenen Diskurs, den sie ausschließen. Dies ist nicht nur für uns ein Problem, es war auch eines für Wittgenstein. Er wußte, daß er für gewöhnlich mißverstanden wurde, fand es jedoch unmöglich, über das Zeigen, das er praktizierte, zu sprechen. Um dies zu tun, müßte man Sprache so darstellen, als handle es sich um einen darstellbaren Gegenstand. Es wäre irreführend, eine in einem solchen Schritt künstlich erzeugte Darstellung der Sprache an ihre Stelle zu setzen, denn sie würde nicht der Weise gerecht werden, wie Wörter wirklich arbeiten - nämlich weder als Darstellungen noch auf solchen Darstellungen beruhend. Wittgenstein vollzieht sein Zeigen natürlich mit Hilfe der Sprache. Wie wird die Sprache bei diesem bloßen Zeigen verwendet? Diese Frage muß zwar gestellt werden, jedoch dachte Wittgenstein nicht, daß sie beantwortet werden könnte. Er dachte, daß es nicht möglich wäre, Sprache so zu wenden, daß sie über diesen zeigenden Gebrauch von Sprache sprechen könnte. Er dachte, daß der Versuch des Sagens den Verlust des Zeige-Modus bedeute. Im ersten Teil dieses Aufsatzes werde ich eine Art von Diskurs vorstellen, der nicht das voraussetzt, was Wittgenstein zurückweist. Mit Hilfe dieses Diskurses werde ich dann zu der Frage nach Wittgensteins Standpunkt zurückkehren. Vielleicht können wir dann zumindest beginnen zu sagen, von wo aus er spricht. Bis jetzt ist klar geworden, daß wir uns in einem Dilemma befinden: Wenn wir über Wittgensteins Zeigen sprechen, überschreiten wir die Grenzen, die er sich selbst gesetzt hat, wenn wir es jedoch nicht tun, können wir seinen Standpunkt nicht verstehen. Das Problem besteht darin, uns zwischen diesen beiden Fallen zu bewegen. Statt vorzugeben, dieses Problem zu lösen, werde ich das Problemfeld in sehr kleinen Schritten durchqueren und an jeder kritischen Wegscheidung überprüfen, in welchen Punkten wir Wittgenstein Unrecht getan haben. Ich werde zu keinem Zeitpunkt versuchen, über Wittgenstein in jener Weise hinauszugehen, die er ausschließen wollte, nämlich durch ein Ersetzen der wirklichen Arbeitsweise der Sprache durch Darstellungen. Ich denke, wir können einen anderen Weg finden. Wenn wir ihn beschreiten, tun wir etwas, das Wittgenstein selbst nicht tut, aber dieser Schritt könnte uns in die Lage versetzen zu sagen, was er tut.

Was geschieht, wenn Wittgenstein fragt: „Was geschieht, wenn ...?"

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Affirmatives Reden bei Wittgenstein Zunächst werde ich mich innerhalb dessen bewegen, was Wittgenstein selbst tut. Wir werden i h m nur „Unrecht tun", i n d e m wir bestimmte seiner Ausdrucksweisen auswählen [Herv. d. Ü.]; wir werden sie aber n u r so gebrauchen, wie er es tat. Im Anschluß daran werde ich hervorheben, wo wir über das hinausgehen, was er selbst mit diesen Ausdrucksweisen bereit war zu tun. Es wird oft gesagt, daß Wittgenstein Irrtümer beseitigte, aber nichts Positives aussagte. Das ist nicht ganz richtig. Er sagte, er k ö n n e nur zeigen, aber vergessen wir nicht: Er behauptete, er k ö n n e zeigen. Z u d e m stellen wir fest, daß er immer wieder Fragen stellt u n d sie mit Beispielen beantwortet, die durchaus positive B e h a u p t u n g e n enthalten. Lassen Sie mich auf einige typische Ausdrucksweisen aufmerksam machen, mit denen Wittgenstein fragt u n d selbst antwortet. W ä h rend er z.B. leugnet, daß ein Begriff oder ein gemeinsames Merkmal die verschiedenen Gebräuche eines Wortes regelt, behauptet er zugleich, daß sie nur eine Familienähnlichkeit verbindet. Dabei handelt es sich offensichtlich u m eine Metapher. Später werden wir fragen, wie diese Metapher sich v o n jenen unterscheidet, vor denen er immer wieder warnt. An sehr vielen Stellen der Philosophischen Untersuchungen fragt Wittgenstein: „Wasgeschieht, wenn jemand sagt ...?" u n d : „Frag dich s e l b s t . . . " u n d : „Sehen wir n o c h nach, worin [dies, E. G.] eigentlich besteht!" (z.B. PU, 578) Diese Fragen k o m m e n in vielen Varianten vor. Er f ü h r t dann viele mögliche Umstände an. Er behauptet ferner, daß das, was geschieht, „verwickelter" (PU, 182) sei als ein Bezug auf einen einzigen Gegenstand es wäre. Die lange Folge von Beispielen zeigt, daß das, was geschieht, verwickelter ist. Weiter unten k ö n n e n wir versuchen zu sagen, was sie zeigen, aber Wittgenstein dachte nicht, daß dies möglich sei. Bis hierher haben wir ihm n u r durch die Auswahl u n d Hervorhebung bestimmter seiner Wendungen, die alle positiv b e h a u p t e n d oder zumindest nicht negativ sind, „Unrecht getan": „nur zeigen", „Familienähnlichkeit", die Frage: „Was geschieht?" (zusammen mit den Beispielen) u n d „verwickelter".

Gebrauchen wir seine Wörter, um darüber zu sprechen, wie er sie gebraucht Lassen Sie uns n u n einen Schritt weiter gehen. Wir werden einige Wörter benötigen, mit denen wir über seinen Gebrauch der o b e n hervorgehobenen Wörter sprechen k ö n n e n . Anstatt einen anderen Diskurs e i n z u f ü h r e n , werde ich in diesem nächsten Schritt n u r Wittgensteins eigene b e h a u p t e n d b e n u t z t e n Worte ge-

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brauchen, und nur in seinem Verständnis. Aber lassen Sie uns gewahr sein, daß wir weiter gehen als er es tun würde, sobald wir die Worte verwenden, um darüber zu sprechen, wie sie gebraucht werden. Lassen Sie uns fragen, was geschieht, wenn Wittgenstein die Frage stellt: „Was geschieht, wenn ...?" Wir gehen über Wittgenstein hinaus, indem wir die Ausdrucksweise herumdrehen, um nach ihrem eigenen Gebrauch zu fragen, aber lassen Sie uns in der Art und Weise, wie wir antworten, nicht über ihn hinausgehen. Lassen Sie uns die Frage beantworten, wie er es tun würde, indem wir nur diese Wendungen gebrauchen. Was geschieht? Fragen Sie sich selbst und schauen Sie und sehen Sie, worin es [dieses Geschehen, A. d. U.] tatsächlich besteht. Um zu verfahren, wie er es fordert, lassen Sie mich zwei Abschnitte zitieren. Im ersten leugnet Wittgenstein (wie er es so oft tut), daß eine Bedeutung ein einfacher Gegenstand ist, der existiert und auf den man Bezug nehmen kann. Er greift hier den Fall auf, in dem die Existenz eines einzigen Bezugsgegenstands fast unvermeidbar erscheint. Wenn wir darum ringen, die richtigen Worte zu finden, um etwas auszudrücken, muß es dann nicht einen Bezugsgegenstand geben? Wir nehmen an, wir haben die Bedeutung vorliegen, da wir versuchen, den „richtigen" Ausdruck zu finden. Aber Wittgenstein fragt: „Was geschieht, wenn wir uns bemühen - etwa beim Schreiben eines Briefes - den richtigen Ausdruck für unsere Gedanken zu finden? - Diese Redeweise vergleicht den Vorgang dem einer Übersetzung, oder Beschreibung: Die Gedanken sind da (etwa schon vorher), und wir suchen nur noch nach ihrem Ausdruck. Dieses Bild trifft für verschiedene Fälle mehr oder weniger zu. - Aber was kann hier nicht alles geschehen! - Ich gebe mich einer Stimmung hin, und der Ausdruck kommt. Oder: es schwebt mir ein Bild vor, das ich zu beschreiben trachte. Oder: es fiel mir ein englischer Ausdruck ein, und ich will mich auf den entsprechenden deutschen besinnen. Oder ich mache eine Gebärde und frage mich: .Welches sind die Worte, die dieser Gebärde entsprechen?' Etc." (PU, 335) Betrachten Sie einen zweiten Abschnitt: Wittgenstein argumentiert dafür, daß es einen inneren Vorgang geben kann, aber nicht geben muß, wenn wir sagen, daß wir jemanden oder etwas „erwarten": ,„Ich erwarte ihn' hieße hier ,Ich wäre erstaunt, wenn er nicht käme' - und das wird man nicht die Beschreibung eines Seelenzustands nennen. [...] Wir sagen aber auch ,Ich erwarte ihn', wenn dies heißen soll: Ich harre auf ihn. Wir könnten uns eine Sprache denken, die in diesen Fällen konsequent verschiedene Verben benützt." (PU, 577) - „Als ich mich auf diesen Stuhl setzte, glaubte ich natürlich, er werde mich tragen. Ich dachte gar nicht, daß er zusammenbrechen könnte. Aber: ,Trotz allem, was er tat, hielt ich an dem Glauben fest, ...' Hier wird gedacht, und etwa immer wieder eine bestimmte Einstellung erkämpft." (PU, 575) - „Ich schaue auf die

Was geschieht, wenn Wittgenstein fragt: „ Was geschieht, wenn ...?"

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brennende Lunte, folge mit höchster Spannung dem Fortschreiten des Brandes und wie er sich dem Explosivstoff nähert. [...] Das ist gewiß ein Fall des Erwartens." (PU, 576) Wenn wir nur Wittgensteins Ausdrucksweisen verwenden und dies nur auf seine Art tun, so können wir immerhin ein wenig darüber sagen, wie diese Ausdrucksweisen gebraucht werden. Was „geschieht", wenn er dies fragt? Wir können sagen, daß er erzählt, was geschieht (oder was möglicherweise geschehen könnte), und dies zeigt, was das Wort „geschieht" hier bedeutet. So zeigt es auch, was „zeigen" bedeutet und was „verwickelter" bedeutet. Später werden wir vielleicht in der Lage sein, andere Wörter zu gebrauchen, um zu sagen, was diese Worte bedeuten, aber jetzt zeigen wir es nur (und wir zeigen nur, was „zeigen" bedeutet). Wenn Wittgenstein fragt, was geschieht, wenn wir diese Ausdrücke gebrauchen, ist er weit davon entfernt, das zu leugnen, was die meisten „subjektive" Vorgänge nennen. Er hält sie nicht für subjektiv, aber er beantwortet die sie betreffenden Fragen stets so, daß er auch von ihnen spricht. Er zeigt, daß das, was geschehen kann, verwickelter ist als ein einziger klassifizierbarer innerer Vorgang. 1 Wittgenstein interessiert sich sogar noch stärker für Fälle, in denen keine inneren Vorgänge vorliegen, obwohl es so aussieht, als würden wir uns auf solche beziehen, z.B. wenn wir sagen, daß wir „uns erinnern" oder „lesen" oder „etwas erwarten". Er führt dies eindringlich vor, indem er Fälle, in denen mentale Vorgänge vorkommen, mit solchen vergleicht, in denen dies nicht passiert. Witt-

1 Wittgenstein wird oft so gelesen, als leugnete er die doch offensichtliche Existenz unserer sogenannten „subjektiven" oder inneren Erfahrungen, z.B. Schmerzen oder Bilder oder Stimmungen oder Gefühle, als ob die Philosophie sich mit diesen nicht zu beschäftigen habe. Natürlich leugnete Wittgenstein nicht diese offensichtlichen Geschehnisse; er bezieht sich immer wieder auf sie, um zu zeigen, daß sie vielfältiger und verwickelter sind als die simplizistische „abgepackte Entität", welche die Grammatik unterstellt. „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. (Theologie als Grammatik.)" (PU, 373) - „Erwartung ist, grammatikalisch, ein Zustand." (PU, 572) - „Warum macht es denn den Eindruck, als wollten wir etwas leugnen?" (PU, 305) - „Warum soll ich denn leugnen, daß ein geistiger Vorgang da ist?!" (PU, 306) - „,Bist du nicht doch ein verkappter Behaviourist? Sagst du nicht doch, im Grunde, daß alles Fiktion ist, außer dem menschlichen Benehmen?' - Wenn ich von einer Fiktion rede, dann von einer grammatischen Fiktion." (PU, 307) Wittgenstein fordert uns auf, statt auf diese Fiktionen lieber darauf zu achten, was geschieht. Er bezieht sich direkt auf Stimmungen, Gefühle, Bilder und andere innere Vorgänge, um zu zeigen, daß sie viel eher „alle mögliche Dinge" sind als nur ein mentaler Prozeß.

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genstein sagt ganz deutlich, daß mentale Vorgänge in manchen Fällen in der Tat vorkommen, in anderen nicht. 2 2 W a n n geschieht etwas u n d wann nicht? Wittgenstein lehnt Kategorien ab u n d definiert keine Arten von Fällen, aber er stellt i m m e r wieder verschiedene Fälle einander gegenüber. Ich m ö c h t e vier Arten v o n Fällen aufzeigen. Dies geht über Wittgenstein hinaus, o b w o h l ich n u r Gegenüberstellungen verwenden werde, die er selbst auch m a c h t . Meine U n t e r s c h e i d u n g e n scheinen so lange deutlich zu sein, wie wir nicht auf andere U n t e r s c h e i d u n g e n schauen, die sie d u r c h s c h n e i d e n k ö n n e n . Es gibt mindestens drei verschiedene Fälle, in d e n e n Wittgenstein leugnet, d a ß ein Wort wie „erwarten" oder „erinnern" sich auf den einzigen inneren Vorgang oder Bezugsgegenstand bezieht, den seine G r a m m a t i k unterstellt: a) Wenn wir uns normalerweise auf einen Stuhl setzen, liegt ü b e r h a u p t kein Gedanke oder Ereignis vor, das wir „erwarten" n e n n e n k ö n n t e n . Die Aussage: „Wir erwarteten, d a ß der Stuhl uns halten würde" ist eine künstliche Aussage, die n u r Philosop h e n oder Psychologen m a c h e n würden. Es ist kein üblicher Gebrauch. E b e n s o ist es künstlich zu sagen, d a ß m a n sich jeden M o r g e n an den eigenen vertrauten Schreibtisch „erinnert". Solche Aussagen sind nicht üblich; b) Aber selbst der übliche Gebrauch solcher Ausdrücke bezieht sich für gewöhnlich ebenso auf keinen getrennten geistigen Vorgang oder ein solches Geschehnis. Z . B . b e d e u t e t : „Ich erwarte ihn" üblicherweise nur, d a ß ich überrascht sein werd e n , wenn er nicht k o m m t . O d e r ich habe vielleicht eine schlechte M e i n u n g v o n Herrn N. N., wenn ich mit i h m zu tun habe, o h n e jedoch explizit G e d a n k e n u n d G e f ü h l e über ihn gehabt zu haben. Die Ausdrucksweise „meine M e i n u n g " bezieht sich auf keine geistigen Zustände, aber auf Herrn N. N . (PU, 573); c) Aber in gewissen Fällen berichten wir über tatsächliche Gedanken oder Ereignisse, z.B. wenn wir sagen: „Ich k o n n t e mich nicht konzentrieren, weil ich ihn den ganzen Tag lang erwartete." In solchen Fällen verdeutlicht Wittgenstein, d a ß viel eher alle möglichen Dinge passieren können u n d „erwarten" g e n a n n t werden k ö n n e n , als n u r ein einziger Vorgang, der i m m e r derselbe ist. c-1) Diese offensichtlichen U n t e r s c h e i d u n g e n werden wegen eines weiteren Schrittes innerhalb von c) schwierig. Wittgenstein legt dar, d a ß der gewöhnliche Gebrauch eines Ausdrucks sich nicht auf solche geistigen Zustände beziehen m u ß , selbst wenn sie tatsächlich vorkommen. Selbst wenn ich z.B. tatsächlich G e d a n k e n u n d G e f ü h l e an Herrn N. N . „verschwendet" habe, k a n n sich das, was ich „meine M e i n u n g " n e n n e , auf ihn beziehen u n d nicht auf m e i n e inneren Erlebnisse. (PU, 573); c-2) Wenn m a n c h e Gefühle, Vorstellungen oder G e d a n k e n sich tatsächlich ereignen und wenn ich von diesen auch als solche berichte, d a n n bezieht sich der Ausdruck auf sie. In den meisten Situationen wird die Ausdrucksweise „Ich erwarte ihn" i m m e r n o c h b l o ß bedeuten, daß ich überrascht wäre, wenn er nicht käme. Es m u ß keine Rolle spielen, daß ich an die Person alle f ü n f M i n u t e n denke, wenn ich das nicht erwähne. N u r d a n n , w e n n ich von jener Tatsache auch berichte, liegt ein Fall von c-2) vor. Ich berichte dies z.B., wenn ich jemandem erzähle: „Ich kann mich heute nicht auf meine Arbeit konzentrieren, ich denke i m m e r daran, daß er k o m m e n wird." (PU, 585) Wittgenstein sagt, d a ß dies „eine Beschreibung meines Seelenzustandes" g e n a n n t wird. Ebenso ist es ein Fall von c-2), w e n n ich von meiner Erf a h r u n g berichte, als ich die Lunte eines Sprengstoffs a b b r e n n e n sah (PU, 576). Aber sogar wenn dieser geistige Vorgang tatsächlich v o r k a m , k ö n n t e es sein, d a ß sich meine Feststellung nicht darauf bezieht, z.B. wenn die Explosion nicht hochging u n d ich sage: „Wir bereiteten sie sehr umsichtig vor, so d a ß ich eine Explosion erwartete." Das Wort bedeutet d a n n nicht, d a ß ich die Lunte verfolgte, obwohl ich es tat. Es erzählt n u r von meiner Verwunderung über

Was geschieht, wenn Wittgenstein fragt: „Was geschieht, wenn

...?"

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K ö n n e n wir Wittgensteins A u f z ä h l u n g dessen, was geschehen könnte, als „Beispiele" bezeichnen? Wofür sind sie Beispiele? Was haben sie gemeinsam? Lassen Sie uns zunächst einmal nur sagen, daß ein Einzelelement aus jeder der durch die genannten Ausdrucksweisen gebildeten Klassen von Geschehnissen (z.B. „erwarten", „uns erinnern" etc.) eintreten kann, wenn wir den entsprechenden Ausdruck b e n u t z e n (z.B. „erwarten"), aber diese Verwendungen haben n u r eine Familienähnlichkeit gemeinsam. Auch diesmal haben wir immer nur mit seinen eigenen Worten geantwortet. Bevor wir weiter gehen, lassen Sie mich sagen, warum es klug zu sein scheint, n o c h eine Weile allein bei Wittgensteins eigenen Worten zu bleiben. N e h m e n wir einmal an, wir würden versuchen, mehr darüber zu sagen, was geschieht, z.B. wo es geschieht. Wir k ö n n t e n sagen, es geschieht in einer Situation. Wittgenstein redet tatsächlich m a n c h m a l von der Situation (z.B. PU, 337), aber dies wird leicht als etwas v o n außen Beobachtetes mißverstanden. Wir m ü ß t e n deutlich m a c h e n , daß „Situation" auf eine bestimmte Weise verstanden werden m u ß , auf Wittgensteins Weise. Wie k ö n n t e n wir erreichen, daß das Wort „Situation" auf Wittgensteins Weise verwendet wird, wenn wir sagen, daß das Geschehen „in Situationen" geschieht? Wir m ü ß t e n seine Beispiele zitieren (von denen einige v o n außen beobachtbar sind, andere nicht). Es würde uns also an dieser Stelle n o c h nicht helfen zu sagen, daß dies alles „in einer Situation" geschieht, da dieser Gebrauch von „Situation" immer n o c h die Beispiele erfordern würde. Wir m ü ß t e n „Situation" durch das definieren, was geschieht, wenn Wittgenstein die Frage beantwortet: „Was geschieht, wenn wir ...?" Da alle anderen Wörter, die wir hier e i n f ü h r e n k ö n n t e n , diese Rückkehr zu den Beispielen dafür, was geschieht, erfordern würden, k ö n n t e n wir genauso gut die ursprüngliche Ausdrucksweise auf sich selbst bezogen verwenden. Da andere Wörter v o n den Beispielen, was geschieht, abhängen würden, gewännen wir durch ihre E i n f ü h r u n g nichts. Lassen Sie uns noch eine Weile bei der Ausdrucksweise „was geschieht" bleiben u n d sie selbst dafür verwenden, u m zu sagen (wie Wittgenstein es nicht tut), wie diese Ausdrucksweise ihre Bedeutung erhält. Wir antworten: Die Beispiele zeigen, was die Ausdrucksweise „was geschieht" bedeutet.

die ausbleibende Explosion. Wittgenstein sagt, daß das, was die Wörter bedeuten, davon abhängt, „wie es zu diesen Worten g e k o m m e n ist." (PU, 586) Wittgenstein zeigt, daß das, was geschieht, nicht v o n einer einzigen Art ist, sondern zu „allen möglichen D i n g e n " gehören kann. D i e Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, ist nicht derselbe Vorgang wie das Beobachten einer abbrennenden Lunte, o b w o h l beides geistige Vorgänge sind, die sich tatsächlich ereignen, und o b w o h l über beide mit Hilfe dieser Verwendung des Wortes „erwarten" berichtet wurde.

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Was geschieht in den Beispielen und was geschieht hier mit ihnen? Lassen Sie uns einen halben Schritt weiter gehen, einfach indem wir feststellen, daß wir zwei Fragen zugleich beantwortet haben, als wir gerade sagten, daß die Beispiele zeigen, was geschehen kann. Wir zeigten auf die Geschehnisse, die in den Beispielen gezeigt werden, jedoch indem wir dies taten, benutzten wir die Ausdrucksweise „was geschieht, wenn" auch, um zu sagen, was hier geschieht, nämlich, daß die Ausdrucksweise „was geschieht, wenn" ihre Bedeutung aus den Beispielen erhält. Das Sichtbarwerden der Bedeutung ist, was geschieht, wenn Wittgenstein fragt: „Was geschieht, wenn wir sagen ...?" Unsere Ausdrucksweise arbeitet auf zwei verschiedene Weisen: Sie sagt, was geschieht, wenn wir sagen: „Ich erwarte ihn"; und dies ist der einzige Gebrauch, den Wittgenstein für sich beansprucht. Aber wir haben die Ausdrucksweise zugleich so gewendet, daß wir fragen können, wie sie selbst gebraucht wird und wie sie ihre Bedeutung durch Wittgensteins Gebrauch erhält. Tatsächlich können wir nur beides auf einmal tun. Beides geschieht bereits dann, wenn wir sagen, daß die Bedeutung des Wortes „geschieht" von Wittgensteins Beispielen abhängt. Damit ist schon sowohl gesagt, was geschieht, wenn wir etwas erwarten, als auch, was geschieht, wenn Wittgenstein sagt, was geschieht, wenn wir etwas erwarten. Aber können dabei nicht alle möglichen Dinge geschehen? U m so zu verfahren wie Wittgenstein es tut, lassen Sie uns wirklich hinschauen und sehen, was hier geschehen kann. Wir sollen nach etwas schauen. Man gibt uns Beispiele. Wir begreifen, daß das Wort „geschieht" mit Hilfe der gegebenen Beispiele zu verstehen ist. Vielleicht schätzen wir die Beispiele und stellen fest, daß uns ähnliche Beispiele einfallen. Vielleicht verwirren uns die Beispiele und wir begreifen nicht, wofür sie Beispiele sein sollen. Oder wir denken vielleicht, daß wir begriffen haben, was sie zeigen, nur um dann sehr enttäuscht zu werden, weil das nächste Beispiel nicht zu dem paßt, was wir vermutet hatten. Wir sind vielleicht frustriert und geben die Suche nach einem roten Faden in dieser verworrenen Aufzählung auf. Zu einem anderen Zeitpunkt kann vielleicht noch ganz anderes geschehen. Man könnte einwenden, daß das, was geschieht, wenn wir den Text lesen, nicht mit den Geschehnissen übereinstimmt, über die er spricht. Diese sind anders, aber nicht in ihrer Art und nicht auf verschiedenen Ebenen. Wörter über Wörter hängen genauso von der herrschenden Praxis ab wie alle anderen Wörter auch, ebenso die Wörter eines Textes, der von Wörtern handelt. Unsere Ausdrucksweisen, wie z . B . „verstanden mit Hilfe der Beispiele" und „paßt nicht zu dem, was wir vermuteten" sind in ihrer Art nicht von den Ausdrücken „erwar-

Was geschieht, wenn Wittgenstein fragt: „ Was geschieht, wenn ...?"

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ten" oder „versuchen, den richtigen Ausdruck für unsere Gedanken zu f i n d e n " verschieden. Sicherlich, wir fragen in einem doppelten Sinn „Was geschieht, wenn er fragt: ,Was geschieht'", aber die Ausdrucksweise hängt davon ab, was geschehen k a n n , wenn wir sie gebrauchen, u n d danach müssen wir hier auf dieselbe Weise schauen. O b w o h l wir nur seine W ö r t e r gebrauchen, fügt der Gebrauch, den wir von ihn e n m a c h e n , wenn wir sie hier erörtern, eine neue, v o n Wittgenstein nicht genutzte D i m e n s i o n hinzu. Aber es gibt keine scharfe Trennlinie zwischen dem, was er tat, u n d dem, was wir h i n z u f ü g e n . Wir durchschreiten vielmehr ein Gebiet. Wir suchten seine positiven Verwendungen heraus, d a n n verwendeten wir sie dafür, u m darüber zu sprechen, wie er sie verwendet. Gerade erst sahen wir, daß sein Gebrauch sowohl das einschließt, was in den Beispielen geschieht, als auch das, was hier geschieht, während sie der Ausdrucksweise „was geschieht" eine Bedeutung verleihen. Jetzt werden wir weiter gehen, jedoch o h n e ihn zurückzulassen. I n d e m wir seine Ausdrucksweisen so gebrauchen, wie er es nicht tat, sagen wir, was er tat.

Die Erhöhung der Redundanz: eine neue Weise des Sagens Da wir n u r über beides gleichzeitig sprechen k ö n n e n (das, was in den Beispielen geschieht, u n d den Vorgang des Beispielgebens selbst), lassen Sie uns dies als eine positive Weise des Sagens betrachten. Da die Ausdrucksweise „was geschieht" ihre Bedeutung (wie jede Ausdrucksweise) von d e m erlangt, was geschieht, wenn wir es sagen, finden wir, daß die Ausdrucksweise „was geschieht" sagt, wie sie ihre Bedeutung erlangt. Die Ausdrucksweise kann davon handeln, wie sie gebraucht wird. D a n n sagt sie, wie sie zu gebrauchen ist. Ebenso sagt in diesem Z u s a m m e n h a n g Wittgensteins Wort „zeigen" das Zeigen, durch das es zeigt, was es bedeutet. Es k a n n dazu gebraucht werden, über sein Zeigen etwas zu erzählen, o h n e daß m a n eine Darstellung an seine Stelle setzen m ü ß t e . O b w o h l wir uns nur im Kreise gedreht zu haben scheinen, beinhaltet diese andere Verwendung mehr als Wittgenstein sich selbst zu tun gestattete. O b w o h l dieser Wortgebrauch keine Informationen hinzufügt, k ö n n e n die Worte sagen, wie sie gebraucht werden u n d wie sie gemeint sind. Sie versetzen uns in die Lage, darüber zu sprechen, wie sie arbeiten. Lassen Sie uns diese andere Verwendung mit einer anderen seiner Ausdrucksweisen wiederholen, bevor wir weiter gehen: Wittgenstein m u ß sich darüber im klaren gewesen sein, daß er „Familienähnlichkeit" als Metapher gebrauchte. Da er immer wieder vor Metaphern warnt, aber vor dieser nicht zurückschreckte, k ö n n e n wir daraus folgern, daß sein üblicher Einwand

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hier nicht zutrifft. Wittgenstein sagt, eine Metapher sei mißverständlich, wenn sie etwas in einem Bild darstellt, dessen Teile dann nicht wirklich v o r h a n d e n sind, wenn wir nachschauen, was geschieht. Aber eine „Familienähnlichkeit" ist eben kein Bild. Wenn m a n Bilder in einem Familienalbum anschaut, kann man eine Ähnlichkeit zwischen ihnen feststellen, aber von der Ähnlichkeit selbst liegt kein Bild vor; u n d es könnte auch kein Bild von ihr vorliegen, da ein solches nur ein weiteres Bild wäre. Dies ist selbstverständlich. Das Fehlen eines Bildes verhindert, daß diese Metapher mißverständlich ist, aber ein bloßes Fehlen reicht hier nicht aus. Der Gebrauch von W ö r t e r n wird nicht allein durch das Fehlen einer Abbildung festgelegt. Lassen Sie uns das Wort „Familienähnlichkeit" gebrauchen, u m darüber zu sprechen, was „Familienähnlichkeit" tatsächlich bedeutet. Der Versuch, die Ausdrucksweise für ihren eigenen Gebrauch zu verwenden, k a n n etwas Uberraschendes aufdecken: „Familienähnlichkeit" ist selbst ein Fall von Familienähnlichkeit! Es gibt nur eine Familienähnlichkeit zwischen Wittgensteins Gebrauch dieser Ausdrucksweise u n d ihrem üblichen Gebrauch. W e n n wir fragen, was das Wort „Familienähnlichkeit" bedeutet, k a n n die Antwort mit Hilfe des Ausdrucks „Familienähnlichkeit" gegeben werden: Die Antwort wäre: „Sie haben die Antwort bereits genau hier vorliegen: Ein neuer Wortgebrauch aufgrund von Familienähnlichkeit k o m m t genauso zustande wie hier bei d e m neuen Gebrauch von .Familienähnlichkeit'". Was wir g e f u n d e n haben, mag trivial u n d r e d u n d a n t erscheinen. Es mag trivial erscheinen, weil Familienähnlichkeit auf alle Wortgebräuche zutrifft, u n d redundant, weil wir nichts Zusätzliches darüber herauszufinden scheinen, wie das Wort arbeitet, wenn wir es auf sich selbst anwenden. Wir scheinen nicht in der Lage zu sein zu sagen, wie es arbeitet. O d e r wir k ö n n e n das Wort „Familienähnlichkeit" sagen lassen, wie es arbeitet. Wir k ö n n e n antworten: „Schauen Sie, das Wort sagt das. U n d obendrein b e k o m m e n Sie, wonach Sie fragen. Es geschieht genau hier, d. h. Sie sind in der besten Lage, u m zu schauen u n d zu sehen, was geschieht." Ist dies nur redundant? U n d handelt es sich u m etwas, das wir nicht sagen k ö n n e n ? O d e r ist es eine Weise zu sagen, wie das Wort arbeitet, u n d darüber hinaus eine Weise, die auch sein Arbeiten in Gang setzt? Die doppelte Bürde der Ausdrucksweisen „was geschieht" u n d „Familienähnlichkeit" entsteht, weil wir diese Ausdrucksweisen b e n u t z e n , u m darüber zu sprechen, was geschieht, wenn wir sie gebrauchen. K ö n n e n wir uns gestatten, dies zu tun? Einerseits k ö n n t e m a n einwenden, ich tue etwas, wovor Wittgenstein warnte, nämlich über Sprache sprechen (darüber, wie er seine Wörter gebraucht). Ist dies aber andererseits nicht die Aufgabe, die wir uns zu Beginn stellten? Es war unser Ziel, einen Weg zu finden, den Wittgenstein uns zugestandenermaßen nicht an die H a n d gegeben hat, nämlich einen Weg, seinen S t a n d p u n k t innerhalb eines

Was geschieht, wenn Wittgenstein fragt: „ Was geschieht, wenn ...?"

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Diskurses zu erörtern, der weder Objektivismus noch Intellektualismus implizieren würde. Wenn dies überhaupt möglich ist, müßte es nicht ein Diskurs sein, den Wittgenstein nicht verwendete, und dennoch einer, innerhalb dessen sich sagen ließe, was er tat? Ich kann sogar eine noch bessere Rechtfertigung dafür geben, seine eigenen Wörter über ihren Gebrauch sprechen zu lassen: Wir können fragen, wieso Wittgenstein es so entschieden ablehnte, über Sprache zu sprechen. Dann können wir feststellen, ob wir denjenigen Fehler machen, vor dem er warnte. Er meinte, daß der Versuch, über Sprache zu sprechen, die Tatsache unbeachtet lasse, daß Wörter über Sprache selbst von genau der Praxis abhängig seien, die sie zu erklären vorgeben. Bei Darstellungen von Sprache werde übersehen, daß ihre Wiedergabe ganz offensichtlich in eben derselben Sprache erfolge. Und nicht nur das. Was die Wörter über die Sprache zu sagen vermeinen, sei falsch und irreführend. Wittgenstein bemühte sich zu zeigen, daß die Wörter von Bezugsgegenständen handeln, die es nicht gibt. Nun, es ist ziemlich klar, daß wir dies hier nicht tun. Wenn wir ein Wort oder eine Ausdrucksweise darüber sprechen lassen, wie sie gerade in diesem Moment gebraucht wird, so ist dies nicht das Darüber, welches Wittgenstein bekämpfte. Unsere Wörter handeln nicht von nicht vorhandenen Gegenständen, die durch die Grammatik geschaffen werden. Genau diese Täuschung vermeiden wir, indem wir das Wort davon handeln lassen, wie es gerade dann gebraucht wird, d. h. von dem, was gerade geschieht. Aber warnte Wittgenstein dennoch nicht generell davor, Wörter von etwas handeln zu lassen? Nein, er bekämpfte nicht die Grammatik, die es ermöglicht, daß Wörter von etwas handeln, sich auf etwas beziehen. Er wies nur darauf hin, daß diese grammatische Eigenschaft von Wörtern manchmal Bezugsgegenstände zu erschaffen scheint, die es nicht gibt. Z . B . könnte man von der Familienähnlichkeit sprechen, als wäre sie ein Gegenstand. Wir könnten dann denken, daß sie festlegte, wann ein Wort gebraucht werden kann. Jedoch genau das tun wir nicht, wenn wir das Wort „Familienähnlichkeit" sagen lassen, was genau bei seinem Gebrauch geschieht. Dann können wir schauen und sehen, daß die Familienähnlichkeit nicht als erstes da ist; das Wort kommt und wird gebraucht. Erst danach können wir eine Familienähnlichkeit feststellen. Dieser Gebrauch von Wörtern zur Beschreibung ihres Gebrauchs schützt uns vor der Art von „Darüber", welche Wittgenstein bekämpfte. Das, wovor Wittgenstein warnte, trifft nicht ein, da das Darüber im Verlauf des Arbeitens mit den Wörtern aufgenommen wird, statt von einem dargestellten Bezugsgegenstand zu handeln. Dieser Schutz besteht sogar dann, wenn die Grammatik einen nicht vorhandenen Bezugsgegenstand zu schaffen scheint, z.B. wenn wir über die Familienähnlichkeit als „sie" reden.

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Bei einem derartigen Gebrauch sagt ein Wort auch etwas über andere Wörter Ein anderer Einwand kann uns zu einem weiteren Schritt führen. Jemand könnte es als problematisch betrachten, wenn eine Ausdrucksweise auf sich selbst angewendet wird. Es mag vielleicht an die mittelalterlichen intentiones secundae und an die mystifizierenden Zenonschen, Russellschen und Richardschen Paradoxien erinnern. Deshalb wird es besser sein, immer zuerst zu betonen, daß alle Wörter das bedeuten, was in der Situation, in der wir sie verwenden, geschieht, und erst dann zu sagen, daß die Ausdrucksweise „was geschieht" keine Ausnahme ist. Genauso können wir zuerst betonen, daß nach Wittgenstein die verschiedenen Gebrauchsweisen jedes Wortes nur eine Familienähnlichkeit gemeinsam haben; dann können wir, ohne dunkel zu sein, daraufhinweisen, daß der Ausdruck „Familienähnlichkeit" diesbezüglich einfach keine Ausnahme darstellt. Wenn wir gebeten werden zu definieren, was der Ausdruck „verwickelt" bedeutet, müssen wir nicht unmittelbar antworten, daß „verwickelt" genau das bedeutet, inwiefern seine eigene Bedeutung verwickelter ist als eine Definition oder ein einziger Bezugsgegenstand. Lassen Sie uns statt dessen zuerst sagen, daß, was mit allen Wörtern geschehen kann, verwickelter ist als Definitionen oder die Angabe eines scheinbar denotierten Bezugsgegenstands. Dann können wir, ohne geheimnisvoll zu werden, hinzufügen, daß dies auch mit dem Ausdruck „verwickelt" so ist. Er hat keinen „verwickelten" Bezugsgegenstand. Vielmehr bedeutet er und sagt er die Verwickeltheit aus, die durch Wittgensteins Beispiele gezeigt wird. Wieso wendete Wittgenstein seinen Ansatz nicht auf sich selbst an? Er hätte dabei nicht das tun müssen, wogegen er kämpfte. Aber natürlich hätte er damit den Leuten nicht das gegeben, was sie von ihm wollten, nämlich eine Erklärung in anderen Worten. Ich denke, Wittgenstein ging sehr weit, ja tatsächlich weiter als wir auch nach Jahren des Forschens problemlos nachvollziehen können. So ist es nicht überraschend, daß er es beim „bloßen Zeigen" beließ, ohne zu fragen, wie Wörter denn wohl zeigen könnten, ohne auch etwas zu sagen. Wir sind nun dieser Frage nachgegangen und haben herausgefunden, daß der Ausdruck „nicht sagen" nach Wittgensteins Verwendung bedeutete: „keine Ersatzversion anbieten". Wir können nun das Wort „sagen" davor bewahren, nur in der Art zu sagen, die Wittgenstein bekämpfte. Wieso sollten wir darauf bestehen, daß das Wort „sagen" nur durch ein irreführendes Einsetzen fingierter Bezugsgegenstände sagen kann, was es soll? Dies ist nicht das, was das Wort „sagen" üblicherweise in der Alltagssprache sagt. Erlauben wir dem Wort „sagen" zu sagen, was geschieht, wenn wir etwas sagen. Was Wittgenstein richtigerweise vermied, ist nur eine Art des Sagens. Jetzt

Was geschieht, wenn Wittgenstein fragt: „Was geschieht, wenn ...?"

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können wir das Problem lösen, daß manches nur gezeigt werden kann. Wenn Wörter zeigen, sagen sie natürlich auch etwas. Wenn Wörter ihre Bedeutung durch die Art erhalten, wie sie arbeiten, so wird dies natürlich auch bei Wörtern so sein, die davon handeln, wie Wörter arbeiten. Wenn sie auf sich selbst angewendet werden, zeigen sie und sagen sie, wie sie arbeiten. In einem vor einiger Zeit erschienenen Buch zeigt Hans Julius Schneider im einzelnen, wie Wittgenstein immer wieder abstreitet, daß überall gleichbleibende Kategorien zugrunde liegen. Es ist irreführend, ein Muster von einer Situation auf eine andere zu übertragen und zu meinen, es müsse dabei inhaltlich gleich bleiben: Wittgenstein warne uns, „wir sollten nicht meinen, man könne aus einer Gleichheit der grammatischen Funktionen zweier Wörter in den Sätzen, in denen sie vorkommen, aus der gemeinsamen grammatischen Satzform, auf eine Ähnlichkeit der mit den Sätzen vorgeblich beschriebenen Sachverhalte oder auf eine Ähnlichkeit einer unmittelbar den Wörtern zuzusprechenden .Funktion im Sprachspiel' schließen." Und: „So, wie wir an den Klang unserer traditionellen Weise, das Alphabet herzusagen, gewöhnt sind, so sind wir auch an die Ausdrucksformen unserer Sprache gewöhnt, z.B. an die Subjekt-PrädikatForm. Sie sind uns als in unserer Lerngeschichte ursprünglich mit bestimmten inhaltlichen Beziehungen verknüpfte Komplexbildungsformen vertraut, und wir benutzen sie seither als Ausgangspunkte für zahllose immer neue Projektionen in den verschiedensten Bereichen sprachlichen Handelns [...]." (Schneider 1992a, 349 f.) Was haben Wittgensteins Beispiele gemeinsam? Wofür sind sie Beispiele? Wir finden keine Generalisierung, die sie umfaßt. Aber da sie Beispiele sind, scheint es, als müßten sie die Kategorie „Verwickeltheit" gemeinsam haben. Es wäre ein Fehler anzunehmen, daß Verwickeltheit eine Gattung oder Kategorie sein müsse. Tatsächlich wäre es genau der Fehler, den Wittgenstein korrigieren möchte, indem er genau dieses Wort benutzt. So sagt der Ausdruck „verwickelter" zumindest, daß wir nicht falsch liegen, wenn wir keine Gemeinsamkeit zwischen seinen Beispielen finden. Das Wort „verwickelter" sagt etwas Verwickelteres als eine gewöhnliche Klasse es ist. Wir können „Verwickeltheit" eine Art von Art sagen lassen, die sich nicht auf Kategorien reduzieren läßt.

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Alle Wörter, die vom Gebrauch von Wörtern handeln, können sagen, wie sie arbeiten Lassen Sie uns jetzt einen großen Schritt weiter gehen, wobei wir Wittgenstein immer noch auf seine eigene Weise erörtern. Statt uns auf Wittgensteins wenige positive Wörter und ihr Zeigen und das zugehörige „was geschieht?" zu beschränken, werden wir jetzt sehen, daß sehr viele Wörter - die ganze Sprache für diese Art des Sagens frei werden kann. Ist es nicht widersprüchlich, wenn ich von einer Art der Verwickeltheit spreche, die keine Art ist? Es ist ganz ähnlich wie eine Gruppierung aufgrund einer Ähnlichkeit, die kein Bild ist. Es ist tatsächlich die gleiche Gruppierung. Wittgensteins Beispiele haben natürlich gemeinsam, daß sie jeweils das umfassen, was geschehen könnte, wenn wir den fraglichen Ausdruck gebrauchen (z.B. „erwarten"). Wir können sagen, daß diese Beispiele Beispiele dafür sind, was „verwickelter" bedeutet, wenn wir zulassen, daß das Wort sagt, wie sie tatsächlich funktionieren, obwohl sie nicht einen gemeinsamen Begriff bedeuten oder eine Klasse bilden. Wir können auch mehr darüber sagen, wie sie funktionieren. In ihnen sehen wir die Art von Vielfalt, die wir finden, wenn wir schauen und sehen, was geschieht. Aber wir können diese Erklärung nur geben, indem wir das Wort „finden" diese Art des Findens sagen lassen, auf welche wir diese Art des Geschehens finden. Wir können dies sagen, da zu dem Wort „Art" (und zu jedem anderen Wort) diese Art von Gruppierung gehört, die nicht durch ein Muster, das immer dasselbe ist, begrifflich identifizierbar ist. Wenn wir darauf bestehen würden, daß das Sagen nur in den üblichen begrifflichen Kategorien möglich ist, sähe es so, aus als verneinten wir alles. Wir finden keine Bezugsgegenstände der Grammatik; wir finden eine Gruppe von Geschehnissen, die keine Art bilden. Dann scheint es, daß wir weder sagen können, was in den Beispielen geschieht, noch was hier mit ihnen geschieht. Wittgenstein wiederholt diese Vorgehensweise mit vielen Ausdrücken. Jedesmal finden wir tatsächlich diese Art der Zusammenstellung von Beispielen dessen, „was geschehen kann". Die Beispiele fungieren auf diese Weise als Beispiele-, sie bilden eine Gruppe von Geschehnissen dieser Art von Art. So sagen seine und unsere Wörter, wie sie gebraucht werden. Kann das Wort „sagen" dafür benutzt werden, diese Art von „Sagen" zu sagen? In der Tat kann es das; es ist die übliche Art des Sagens. Nun sagt das Wort „sagen" dieses Sagen, das in jeder Situation verschieden sein kann. Wir können dies sagen, da „Situation" hier sagt, was geschehen kann, einschließlich aller Arten von Gegenständen, von denen einige „subjektiv" genannt werden, da sie nicht von außen beobachtbar sind. Wittgenstein betrachtet sie als

Was geschiebt, wenn Wittgenstein fragt: „ Was geschieht, wenn ...?"

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Teil der Situation, genauso wie Wörter Teil einer Situation sind. „Wir bemühen uns, den richtigen Ausdruck für unsere Gedanken zu finden", z.B. „beim Schreiben eines Briefes". Nun können wir sagen, daß Wittgenstein von Situationen her spricht. Jedes weitere Wort, das wir auf diese Weise verwenden, wird von anderen Verwendungen entbunden, da es seine Bedeutung von dem erhält, was geschieht, wenn es hier verwendet wird. Das Wort „verwendet" sagt, was mit ihm geschah, als es gerade jetzt verwendet wurde. Nun, das Wort „jetzt" bedeutet eine Art von „als", die weder nur vorübergehend noch einfach zeitlos ist. Diese Art von „als" ist nicht auf einen einzelnen Moment bezogen, weil es jedesmal, wenn jemand diese Zeilen liest, seinen Gebrauch bedeutet. Andererseits bedeutet dieses „als" auch nicht die Ewigkeit, sondern nur die jeweiligen Augenblicke. Wenn wir schauen, um zu sehen, finden wir eine verwickeitere Vielfalt von Zeiten vor, so wie bei allem anderen auch. Welche Art von Zeit (und welche Art von Art) ist es, wenn wir sagen, daß dieses „jetzt" die Zeitpunkte aussagt, zu denen jemand diese Worte liest, was über Hunderte von Jahren geschehen könnte, aber immer nur in dem jeweiligen Augenblick? So sind die Eigenschaften von Zeit verwickelter als jegliches Zeitschema. Wittgenstein stellt fest, daß fast alles verwickelter ist als die wenigen Schemata, die wir üblicherweise damit verbinden. Kann diese Verwickeltheit werden? Aber die Verwickeltheit ist genau das, was gesagt wird. Wenn wir schauen, um zu sehen, was normalerweise geschieht, finden wir, daß dieses verwickeitere Sagen natürlich verständlich ist. Obwohl ein Ausdruck vielleicht noch nie zuvor auf diese Weise gebraucht worden ist, sagt er in jener Situation ganz genau das, was er sagt, und nicht etwas anderes. Normales Sagen zeigt diesen verwickeiteren Typ von Ordnung, der nicht mit einem Schema übereinstimmt, und auch nicht immer dieselbe Ordnung ist. Aber jetzt sagt das Wort „Ordnung" etwas darüber, was geschieht, wenn wir einen Ausdruck in einer Situation verwenden. Und dies, obwohl es keine begrifflich definierbare Ordnung ist und auch kein nicht-erkennbares Kantisches „Ding an sich", das wir nicht finden (können). Es ist eher das, was wir tatsächlich finden. Wir erkennen Wittgensteins vertraute Beispiele wieder und können unsere eigenen ersinnen. Es ist die verwickeitere Art von Ordnung, die wir in unseren Situationen mit anderen Menschen in der Welt, in der wir leben, vorfinden. Und „Welt ..." - wir könnten auf diese Weise immer weiter machen, indem wir ein Wort nach dem anderen benutzten und von den schematischen Annahmen befreiten. Sobald ein paar Wörter sagen, wie sie gebraucht werden, kann man auch von den weiteren Wörtern, die wir gebrauchen, um über sie zu sprechen, annehmen, daß sie etwas durch und über ihren Gebrauch sagen. Anstatt den Gebrauch von Wörtern zu verfälschen, indem wir etwas anderes darüber sagen, lassen wir die Wörter einen Aspekt des Gebrauchs sagen, der gerade dann geschieht. Auf diese Weise können

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alle Wörter, die vom Gebrauch von Wörtern handeln, etwas sagen, das ihr fortwährender Gebrauch exemplifiziert, nicht nur die wenigen Wörter Wittgensteins, mit denen wir anfingen. Stellen Sie sich eine Sprache vor, in der das, was Wörter über die Bedeutung von Wörtern sagen, immer etwas sein könnte, was durch ihren Gebrauch auch exemplifiziert wird. Was für Eigenschaften brauchte eine solche Sprache? Wörter über Wörter müßten zwei Verwendungsweisen beinhalten, so daß die eine die andere exemplifizieren könnte. Damit dies möglich wäre, bräuchten wir eine Sprache, in der das, was Wörter sagen, davon abhängt, wie sie verwendet werden, so daß, was Wörter über die Bedeutung von Wörtern sagen, zwei Verwendungsweisen beinhalten würde. Wir erkennen natürlich unsere eigene Sprache wieder. Der Wortschatz, mit dem wir über Wittgenstein und den Gebrauch von Wörtern reden können, umfaßt nun die ganze Sprache. Ich vertrete nicht die These, daß Wörter über Wörter immer sagen müssen, was sie darüber hinaus auch noch tun, nur, daß sie es können. Obwohl sie gewiß nicht alles über ihren eigenen Gebrauch sagen können, können sie etwas durch ihn sagen. Um sie dies tun zu lassen, übergehen wir im Augenblick ihre Fähigkeit, etwas anderes zu sagen, wovon sie nur handeln würden. Es ist nicht wahr, daß das, was Wittgenstein zeigte, nicht gesagt werden kann. Es scheint nur so zu sein, weil es nicht in einer theoretischen Sprache in Form einer Substitution gesagt werden kann. Natürlich kann es gesagt werden, aber nur in der Sprache, die er gebraucht, um es zu zeigen, in der gleichen Sprache, in der wir normalerweise sprechen. Wittgenstein befindet sich außerhalb der Reichweite des gegenwärtig so genannten „postmodernen Dilemmas", da er nichts von dem verwendete, was die Postmoderne untergrub. Was er zeigte, hängt weder von trennscharfen Unterscheidungen ab noch von der Annahme von etwas Vorhandenem und Gegebenen, das wir darstellen können. Wittgenstein weist über die Postmoderne hinaus, wenn wir auf seinem Weg weitergehen können. 3 Z.B. kann Wittgenstein verwickelt über das sprechen, was gemeinhin das „Selbst" oder das „Subjekt" genannt wird: „Wenn Einer in der Hand Schmerzen hat, [spricht man] nicht der Hand Trost zu, sondern dem Leidenden; man sieht ihm in die Augen." (PU, 286)

3 Die Einsichten der Postmoderne sind unentbehrlich, aber sie stehen köpf. Unser Sprechen bekam nie durch die Begriffe und Unterscheidungen seine Ordnung und die Fähigkeit, Sinn zu machen. Daher kann uns der unvermeidliche Zusammenbruch von Begriffen und Unterscheidungen nicht daran hindern zu sagen, was wir sagen wollen. Nur die angeblichen Universalien sind zusammengebrochen. Die erfahrungsbezogene und situative Ordnung des Sprechens wird nicht durch Widersprüche und Zusammenbrüche von Begriffen und Unterscheidungen offenbart und muß auch nicht durch sie offenbart werden.

Was geschieht, wenn Wittgenstein fragt: „Was geschieht, wenn

...?"

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In dieser Form kann Wittgenstein darüber sprechen, auf welche verwickelte Art und Weise das, was gewöhnlich „das Selbst" und „der Körper" genannt wird, sich zueinander verhalten, ohne theoretische Ausdrücke für eine Erklärung aufzustellen, wie es kommt, daß derjenige, den wir trösten, nicht in der Hand ist oder in welchem Sinne der Getröstete die Hand hat (besitzt, beobachtet, fühlt, in ihr oder mit ihr l e b t . . . ) , und daß wir die Person im Gesicht finden (erreichen, mit ihr kommunizieren). Keine bestehende Theorie nähert sich auch nur der Verwickeltheit dessen, was Wittgensteins einfache Feststellung sagt. Natürlich ist an dem, was er zeigte, nichts Unaussprechliches oder Unsagbares. Und natürlich sagte er, was er zeigte. Man kann auf viele andere Weisen noch mehr sagen (z.B. mit den Wörtern in meinen Klammern), jedoch nur durch das, was ich „nacktes Sprechen" (Gendlin 1992 und 1995) 4 nenne, ohne es mit einer theoretischen Darstellung zu umhüllen, die dann den Anspruch erhebt, das zu sein, was wir wirklich sagten. Eine solche „Ersatzerklärung" ist die einzige Art des Sagens, die durch das, was Wittgenstein zeigte, unmöglich gemacht wird. Jetzt können wir sagen, von welchem Standpunkt

her Wittgenstein spricht. Er

spricht von dem Standpunkt unserer Situiertheit in der Welt her, aber „Welt" ist kein Konstrukt der Physik oder der Soziologie, sondern der Ort, wo wir leben. Und „leben" ist kein biologisches Konstrukt, sondern das, was wir tun, wenn wir mit anderen in konkreten Situationen handeln, sprechen und denken.

Aus dem Amerikanischen von Heinke Deloch

4 Daraus muß nicht folgen, daß eine theoretische Ersetzung durch Logik und Wissenschaft unmöglich ist oder daß unsere logisch-mathematischen Wissenschaften nicht unser Leben verändern, sondern nur, daß ihre Errungenschaften nicht der Sprache zugrunde liegen oder diese erklären. Logik und Wissenschaften finden ihre möglichen Grenzen und Modifikationen vielmehr innerhalb der größeren Verwickeltheit dessen, was wir in der normalen Sprache sagen können.

Thomas Rentsch (Dresden)

Praktische Gewißheit jenseits von Dogmatismus und Relativismus Bemerkungen zu Negativität und Autonomie der Sprache bei Wittgenstein

I.

In den vielen Einzeluntersuchungen zu Wittgensteins Werk scheint mir zuweilen dessen radikaler Impuls verlorenzugehen. Diesen Impuls möchte ich zunächst in Erinnerung rufen. Er verdankt sich der Grundeinsicht, daß jede Art des Verständlichmachens einer Sprache selbst bereits eine Sprache voraussetzt und voraussetzen muß. Somit können wir, wie Wittgenstein in den Philosophischen Bemerkungen feststellt, mit der Sprache „nicht aus der Sprache heraus",1 weil uns die Struktur der Welt ebenso wie auch die Struktur unseres Bewußtseins nur über bereits intern geregelte (strukturierte) Verhältnisse unserer Sprache zugänglich ist. Das Nicht in diesem McÄf-Herauskönnen zeigt die Grenze menschlichen Vermögens an und indiziert die fundamentale Negativität, die weithin Thema der kritischen Analysen Wittgensteins - in Kontinuität zum Tractatus - ist. Der einzig gangbare Weg einer möglichen Vernunftkritik besteht gemäß dieser Grundeinsicht im Bewußtmachen der Grenzen auch jeder Sinnanalyse und Sinnkritik selbst - ob im Alltag, in den Wissenschaften oder in der Philosophie.

1 „Wenn ich einem M e n s c h e n die B e d e u t u n g eines Wortes ,A' erkläre, i n d e m ich sage ,dies ist A' u n d auf etwas hinzeige, so k a n n dieser Ausdruck in zweierlei Weise gemeint sein. Entweder ist er selber schon ein Satz u n d kann d a n n erst verstanden werden, w e n n die Bedeutung von A bereits b e k a n n t ist. D. h., ich kann es n u r d e m Schicksal überlassen, o b der Andere den Satz n u n so auffaßt, wie ich ihn meine, oder nicht. O d e r der Satz ist eine Definition. Ich hätte j e m a n d e m etwa gesagt ,A ist krank', er w ü ß t e aber nicht, wen ich mit A meine, u n d n u n zeigte ich auf einen M e n s c h e n u n d sagte .dies ist A'. N u n ist der Ausdruck eine D e f i n i t i o n , aber diese k a n n n u r verstanden werden, wenn die Art des Gegenstandes bereits durch den grammatisch verstandenen Satz ,A ist krank' b e k a n n t war. Das heißt aber, daß jede Art des Verständlichmachens einer Sprache schon eine Sprache voraussetzt. U n d die B e n ü t z u n g der Sprache in einem gewissen Sinne nicht zu lehren ist. D. h. nicht durch die Sprache zu lehren, wie m a n etwa Klavierspielen durch die Sprache lernen kann. - D. h. ja nichts anderes als: Ich k a n n mit der Sprache nicht aus der Sprache heraus." (PB, 54)

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Thomas Rentscb

Alle sowohl ontologischen wie bewußtseinsphilosophischen Versuche, über die „Welt an sich" o h n e Berücksichtigung der logisch-grammatischen Verfassung der dazu verwendeten sprachlichen Mittel zu sprechen, sind zum Scheitern verurteilt. Warum? Weil man dann unweigerlich genötigt wird, eine Konstruktion von der Art einer „Widerspiegelung" oder „Abbildung" der Realität in der Sprache auszuführen. Wir müssen uns dann auf einen Standpunkt außerhalb der - sei es objektiven sei es subjektiven - Realität und außerhalb unseres Sprachgebrauchs stellen, um von da aus irgend eine wie auch immer geartete strukturelle Entsprechung oder Isomorphie der Wirklichkeit und der Sprachstruktur zu erkennen und das ist ein unmöglicher, noch nicht einmal Archimedischer Standpunkt. D e n n wenn wir unseren Sprachgebrauch dann durch eine „Übereinstimmung" unserer Sätze mit der Wirklichkeit zu erläutern versuchen, dann k ö n n e n wir dies wiederum n u r in der Form von Sätzen tun, die die Regeln ihrer jeweiligen logischen Grammatik - die Regeln ihres jeweils korrekten Gebrauchs - bereits wieder voraussetzen. Selbst wenn wir nur auf etwas Wahrnehmbares in der Wirklichkeit zeigten, so gehörte doch dieser deiktische Akt wiederum zu einem sprachlichen Ausdruck: Er könnte also auch wieder nur im Zusammenhang einer komplexeren Sprachpraxis verstanden werden. Die Form dieser Zeige-Praxis - und mithin die Form der „Welt" ü b e r h a u p t sehen wir nicht unmittelbar, nicht „realistisch", nicht „ontologisch". Eine solche intellektuelle Anschauung der Form kann es nicht geben. Wir k ö n n e n diese Form, diese kategoriale Strukturiertheit weder von vermeintlich vorgängigen, sinnkonstitutiven „Seinsstrukturen" n o c h von vermeintlich vorgängigen, ursprünglichen „Bewußtseinsstrukturen" ablesen - kurz: wir k ö n n e n die sinnkonstitutiven Gebrauchsregeln der Sprache von nichts vermeintlich Vorgängigem oder Ursprünglichem ablesen. Die Sprache ist in diesem Sinne auton o m . Diese Grundeinsicht ist klar ausgesprochen schon im Tractatus: „Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er k a n n nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben m u ß , u m sie darstellen zu k ö n n e n die logische Form. / U m die logische Form darstellen zu k ö n n e n , m ü ß t e n wir uns mit dem Satze außerhalb der Logik aufstellen k ö n n e n , das heißt außerhalb der Welt. - Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. / Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. / Was sich in der Sprache ausdrückt, k ö n n e n wir nicht durch sie ausdrücken." (T, 4.12; 4.121) Im Sprachgebrauch zeigt sich die Bedeutung. Sie kann nicht als konstituiert gedacht werden durch Vergleich oder Abbildverhältnisse zwischen Innenwelt und Sprache, zwischen Außenwelt und Sprache, zwischen einer Innenwelt u n d einer Außenwelt. Beide gibt es nicht als ontologische Bereiche eigenen Rechts. Auch diese Gebrauchsthese steht schon im Tractatus (T 3.326ff.).

Praktische Gewißheit - jenseits von Dogmatismus und Relativismus

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Somit sind alle nachcartesianischen Theoriekonstruktionen der Sinn- bzw. Bedeutungskonstitution - ob Dualismus oder Monismus, Idealismus, Realismus, Empirismus, Materialismus, metaphysischer Parallelismus oder dogmatischer Behaviourismus von Grund auf verfehlt - unter Einschluß der klassischen Transzendentalphilosophie. Der Entfaltung und Vertiefung dieser Grundeinsicht dienen vornehmlich die weiteren Werke Wittgensteins. Aus ihr folgt die Destruktion unkritischer Ontotogien, vor allem die Destruktion des durch besondere Erkenntnismöglichkeiten zugänglichen „Innen" eines Bewußtseins, ferner die Destruktion einer Abbildtheorie der Bedeutung und irriger Vorstellungen von einer Referenz zwischen Worten und Gegenständen, schließlich auch die Argumentation gegen die Vorstellung von einer Privatsprache. Die Analysen von Wittgenstein entfalten im Zuge dieser Destruktionsbewegung - ich erinnere an die Tagebuchnotiz: „I destroy, I destroy, I destroy" (VB, 479) - eine Reihe weiterer negativ-kritischer Thesen bzw. Feststellungen oder Befunde, die sich vielleicht wie folgt zusammenfassen und bezeichnen lassen: 1. Der Befund der Unentscheidbarkeit der Differenz „empirisch'7„begrifflich", zwischen „Erfahrung" und „Regel" (ÜG, z.B. 98, 308-321); 2. der Befund der Unbestimmtheit der Referenz (Hacker 1997, 191); 3. der Befund der Wahrheitsindefinitheit von Wissen (ÜG, 108, 205); 4. der Befund der Internalität von Existenzsätzen (ÜG, z.B. 35, 143, 620); 5. der Befund der (theoretischen, szientifischen, „transzendenten") Unsicherbarkeit unseres Wissens (ÜG, z.B. 47); 6. der Befund der Unvordenklichkeit bzw. Grundlosigkeit, der Nichtletztbegründbarkeit von Gewißheit (ÜG, z.B. 115, 149-152, 166, 173, 192, 307); 7. der Befund der Unvorhersehbarkeit von Sprachhandlungen, der Führungslosigkeit des Handelns, des sogenannten Regelskeptizismus (ÜG, z.B. 559-561); 8. der Befund der unverzichtbaren Angewiesenheit auf empirische, köntingente und auf grammatische Basissätze (hingepropositions) als Fundament aller unserer sprachlichen Orientierungen. (ÜG, z.B. 93-101, 494-497). Aus diesen Befunden kann man nun, so scheint es auf den ersten Blick, eine extrem skeptische, extrem relativistische Sicht der menschlichen Orientierungspraxis, deren Kontingenz und Beliebigkeit, einen aktualistischen Dezisionismus und letztlich totalen Irrationalismus folgern. Denn, wenn diese Befunde zutreffen, welches Bild der menschlichen Sprach- und Handlungssituation ergibt sich aus ihnen? Es ergibt sich ein Situationsverständnis, in dem wir - so scheint es - nicht entscheiden können, was wir aus Erfahrung und was wir aus sozialen Konventionen wissen; in dem wir nicht genau angeben können, welche Gegenstände unsere Worte bezeichnen und auf was sie sich jeweils genau in der Welt beziehen; ein

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Situationsverständnis, in dem unsere Wahrheitsansprüche ungewiß sind und unsere Existenzannahmen und Behauptungen nur relativ zu bestimmten sozialen und kulturellen Sprachspielgemeinschaften Sinn und Geltung haben. Es ergibt sich ein Situationsverständnis, in welchem unsere Orientierungen und unser Wissen kontingent und relativ sind, ungesichert durch letzte theoretische AbStützungen, grundlos, weil jede Begründung noch einen unbegründeten, nicht mehr absicherbaren Glauben voraussetzt, den wir fraglos im Handeln akzeptieren und akzeptieren müssen: „Du m u ß t bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da - wie unser Leben." (ÜG, 559) - „Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube." (ÜG, 253) „Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen, da erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer." (ÜG, 611) Solche und ähnliche Zitate scheinen die skeptische, relativistische Lesart zu bestätigen. In der Analyse des Regelfolgens in den Philosophischen Untersuchungen hat diese skeptische Lesart in der Gegenwartsdiskussion noch einmal eine Pointierung erfahren. Von einer Regel ist ihre jeweilige Deutung und ihre jeweilige Anwendung nicht mitgeregelt: „Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei." (PU, 201) Wittgenstein erscheint in diesen Diskussionszusammenhängen wie ein H u m e der Sprachphilosophie. Daß wir nicht über eine notwendige Verknüpfung zwischen unseren bisherigen und den zukünftigen Erfahrungen verfügen, bedeutet, auf die Sprachpraxis übertragen, daß wir noch nicht einmal im Einzelfall ein uns absicherndes Kriterium für unsere jeweilige Deutung haben k ö n n e n . Hier erfolgt dann der für alle Geltungstheoretiker transzendentaler oder sonst rationalistischer Ausrichtung schwer - besser: unerträgliche Rekurs Wittgensteins auf das kursive So: „So machen wir es." D. h., es erfolgt dafür scheint n u n wiederum alles zu sprechen - ein Rekurs auf eine faktische Praxis, die sich einmal so eingespielt hat, aus welchen Bedürfnissen auch immer. So, wie wir uns in der Analyse Humes an bestimmte Abfolgen von Ereignissen gewöhnt haben, so ist es auch bei Wittgenstein die Macht der Gewohnheit, der Üblichkeiten und der Gepflogenheiten, die unsere Sprachhandlungszusammenhänge faktisch stabil hält. So verbindet sich der Skeptizismus der O r d n u n g e n , wo nicht mit dem irrationalen Dezisionismus der Narren und der Ketzer, so doch mit einem Konservativismus und Traditionalismus - die Pädagogik des „Abrichtens" nicht zu vergessen.

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II. Mir scheint diese Konsequenz völlig verfehlt zu sein, vornehmlich, weil sie die wirklich radikale Sinnkritik Wittgensteins gleichsam in den falschen Hals bekommt und damit allerdings ein sehr weitreichendes Mißverständnis etabliert. Denn weder folgt aus der radikalen Sinnkritik Wittgensteins und ihren negativen Befunden ein Skeptizismus und Relativismus der Ordnungen, noch folgt aus ihr ein praktischer oder gar politisch interpretierbarer Konservativismus bloß faktischer Konventionen. (Und das gilt selbst, wenn Wittgensteins persönliche Überzeugungen so gewesen sein sollten.) Aber bereits die skeptischen und relativistischen Lesarten verfehlen den von mir zu Anfang erwähnten radikalen Impuls. Diese Rezeptionen lassen Wittgensteins philosophische Texte wieder als Teile einer Theorie erscheinen, die aus solchen Lehrstücken wie der „Gebrauchstheorie der Bedeutung", dem „Privatsprachenargument", dem „Regelskeptizismus" bzw. aus solchen Grundbegriffen wie z.B. „Sprachspiel", „Familienähnlichkeit" und „Lebensform" in einem durchaus konventionellen Sinn besteht. Sie verkennen, daß Wittgensteins Sinnkritik als dialogische Tätigkeit sich über sich selbst aufklärenden Denkens je und je am Ort und am Einzelproblem entfaltet wird. Sie ist also ein Tun, das jeweils etwas zeigen, klarmachen will, und um diese eingreifende Form eines denkenden Handelns geht es Wittgenstein, nicht um quasi-objektivistische Theorien und die Konstruktion eines erkenntnistheoretischen oder auch sprachphilosophischen Systems - sei es Skeptizismus, Nominalismus, Pragmatismus oder sonstwie benannt. Die vielen unmißverständlichen Äußerungen Wittgensteins in dieser Richtung scheinen von manchem nicht wahrgenommen zu werden. Man wundert sich dann noch, daß er diese aphoristische Form der Einzelbemerkung wählt - und vermutet, er sei halt nicht weiter gekommen; man verkennt dabei, daß gerade diese Mikrologie eine radikale Unterminierung theoretisch-objektivistischer Wahrheits- und Geltungsansprüche nicht nur der traditionellen Philosophie darstellt; und diese Radikalität zeigt sich auch im Medium der Form. Bereits hier zeigt sich auf einer ganz grundsätzlichen Ebene das Offene angesichts der Ordnungen: in einem innovatorischen Philosophieren, verstanden als lebendige dialogische Tätigkeit, die neue Sichtweisen eröffnen kann, indem wir jetzt auf unsere sprachlichen Voraussetzungen und Unterscheidungen achten, indem wir schauen, wie wir z.B. über Farben oder über unser Innenleben reden, indem wir Situationen fingieren, in denen ganz andere Verhältnisse herrschen als die uns vertrauten. Dies alles: Achten, Schauen und Fingieren sind bewußte Aktivitäten - Philosophie als Tätigkeit - , dies ist nicht eine Theorie des Pragmatismus. Umso mehr sind die skeptisch-konservativen Deutungen verfehlt, als sie bei den negativ-kritischen Befunden Wittgensteins stehen bleiben und diese dann

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zu Theorien über die Sprache als ganze und ihre Funktionen, zu Theorien über unsere Erkenntnis meinen objektivieren zu können. Die skeptischen, relativistischen Lesarten der kritischen Reflexionen von Wittgenstein sind daher von Grund auf verfehlt. Denn die negativ-kritischen Aspekte seiner Analysen betreffen im wesentlichen irrige Bilder und Objektivitätsvorstellungen, die einem angemessenen Verständnis des Eigenrechts und der Eigengesetzlichkeit unseres Sprachhandelns gerade im Wege stehen. Damit stehen sie auch dem Verständnis menschlicher Handlungsspielräume, klassisch gesprochen: dem Verständnis menschlicher Freiheit im Wege. Insbesondere begründet der Abbau irriger Vorstellungen vom Verhältnis der Sprache zur Welt, zumal zu unserer Innenwelt, keinen Skeptizismus, sondern ist eine Befreiung. Betrachten wir einige der erwähnten negativ-kritischen Befunde Wittgensteins daraufhin, was sie im Hinblick auf die Ordnungen und das Offene tatsächlich besagen. 1. Es sind bestimmte Basissätze (hinge propositions), die die Grundlage unserer Weltbild-Gewißheiten zusammenfassen und artikulieren. Wir prüfen nicht alles - das können wir nie - , sondern weil wir vieles akzeptieren, entwickeln wir überhaupt ein Verständnis von Gründen. Dieses Verständnis wird getragen von einem System von Praktiken (Peter Winch), die sich in einem soziokulturellen Kontext entwickelt haben und von dort her auch beurteilbar sind. Aus diesem Befund folgt auf gar keine Weise, daß die Basissätze nicht revidierbar und veränderbar sind, auch nicht, daß wir uns soziokulturelle Lebenswelten als stahlharte Käfige der Hörigkeit vorstellen sollten. Wohl jedoch ist es ein Beitrag zur Aufklärung, wenn wir auf unsere Basissätze in Alltag, Wissenschaft und Philosophie explizit achten und sie dem Durchspielen alternativer Möglichkeiten und der verfremdenden Konfrontation mit den Voraussetzungen anderer Lebensund Praxisformen aussetzen, und dies war ja gerade eine von Wittgenstein geübte Methode. 2. Es gibt weder in einem Subjekt noch in einer punktuell fixiert gedachten Bedeutung einen Archimedischen Punkt der Sinnkonstitution. Es gibt keine transzendente Absicherung der Stabilität von Bedeutungen. Der Destruktion der zeitübergreifenden, besser: zeitlosen Erstreckung einer solchen Bedeutungssubstanz dienen viele kritische Analysen Wittgensteins, vor allem die des Regelfolgens. Wessen beraubt uns die Zerstörung einer solchen Substantialität der Bedeutung? Sie befreit uns von einer transzendenten Illusion, von einer Scheinsicherheit. Und sie befreit uns zu der Einsicht, daß jedes Regelfolgen, also menschliches Tun ein freies Fortsetzen bloßer, und das heißt vor allem: nich ¡'festlegender Anfänge ist. Jeder Anfang, den wir machen, muß in nicht noch einmal weiter sicherbarer Gewißheit auch bestimmter empirischer, kontingenter Tatsachen gemacht werden. Die bloßen, nicht-festlegenden Anfange lassen sich nicht noch

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einmal metaphysisch hintergehen. Auch können wir nicht unseren sinnhaften, regelgeleiteten Handlungen in die oder gar in alle Zukunft vorauseilen, um nachzusehen, ob wir alle Fortsetzungen (Fortsetzungshandlungen) auch entsprechend unserem jetzigen Regelverständnis ausführen. Wir sind jeweils nur endlicher Handlungsfolgen fähig - die Alternative zu dieser weder skeptischen noch relativistischen Einsicht kann nicht in einem theoretischen Dogmatismus des Regelverständnisses oder in einem transzendenten Szientismus im Hinblick auf zukünftige Handlungen bestehen. Was von außen, von nirgendwo aus {front the point of nowhere) als Grenze des Wissens, des Prognostizierens, und als Unmöglichkeit einer transzendenten - mentalistischen oder realistischen - Abstützung erscheint, das ist nur die Kehrseite unserer pragmatischen Spontaneität, also der Fähigkeit, eine Reihe von Ereignissen selbst anzufangen (Kant), unseres Könnens (Wittgenstein). Wittgensteins Kritik besagt daher letztlich, daß wir uns nicht in der Zukunft oder noch einmal hinter uns oder in uns aufstellen können, um so das Ganze unserer Handlungen, der sie leitenden Absichten oder Verständnisse noch einmal in einem metaphysischen bigpicture von Welt und Ich, Subjekt und Objekt, Sprache und Wirklichkeit zu über- und zu durchschauen. Wir verfügen nicht über ein bigpicture von außen, weil wir ständig noch am Prozeß des Unterscheidungshandelns tätig beteiligt sind, aktiv tätig beim Prozeß der sprachlichen Bestimmungen von Identität und Differenz, aber auch z.B. bei der Bestimmung des Verhältnisses von begrifflicher und empirischer Geltung. 2 Somit besagt gerade auch die Kritik Wittgensteins an der Innenwelt des Bewußtseins: Wir benötigen keine übermäßigen Tatsachen, z.B. ein transzendentales Subjekt für Bedeutungserläuterungen. Es gibt außerhalb unserer Sprachhandlungszusammenhänge keine Entitäten, Instanzen, die Gelingen, Stabilität oder Verläßlichkeit dieser Zusammenhänge garantieren oder erklären. Würde es sie geben - in Gestalt eines transzendentalen Subjekts x der Bedeutungskonstitution, in Gestalt einer festen Verbindung y von Wort und Gegenstand bzw. einer Supertatsache z der Verbindung von vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Wortgebrauchspraxis bzw. Bedeutung - , so müßten diese Erklärungsinstanzen: transzendentales Subjekt x, Verbindungsinstanz y oder Supertatsache z selbst wiederum verstanden werden - sie müßten in der uns bekannten Sprache interpretierbar sein.

2 Diese zeitliche Verendlichung aller uns möglichen Perspektiven zeigt die tiefe systematische Verwandtschaft der Analysen Wittgensteins mit denen v o n Heidegger in Sein und Zeit. Vgl. dazu Rentsch 1985. Diese Analysen lassen sich auf Kant u n d auf Nietzsches Perspektivismus zurückbeziehen, u n d sie berühren sich mit der Relativitätstheorie von Einstein. Vgl. Ü G , 305: „Hier ist wieder ein Schritt nötig ähnlich d e m der Relativitätstheorie."

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Diese Objektivismus- und Mentalismuskritik Wittgensteins ist Metaphysikkritik, die gleichzeitig zweierlei zeigt: erstens, daß der Skeptizismus und Relativismus als theoretische Optionen noch von falschen, quasi-metaphysischen Vorstellungen von dem ausgehen, was wir tatsächlich wissen können, und zweitens, daß metaphysische Bilder bereits viele unserer alltäglichen Vorstellungen auch bezüglich ganz „kleiner" Verstehenssituationen irreführend belasten. Überall, beim Verständnis jeder sinnhaften Handlung können wir wider Willen zu objektivistischen Metaphysikern werden. Demgegenüber gilt: weder lesen wir den Sinn unserer Worte und Sätze von irgendwelchen quasi-metaphysischen Instanzen noch einmal ab, noch bedeutet sprachliche Kompetenz völlige semantische Verfügungsgewalt und technisch-instrumentelle Kontrolle der jeweiligen Sprachmittel. Der durch Sprachspiele eröffnete Spielraum ist nicht völlig bekannt - gleichsam total erleuchtet oder transparent - , und er ist auch nicht mit einem Schlage insgesamt überschaubar. Alle diese Vorstellungen sind systematisch irreführende, verräumlichende Verbildlichungen der zeitlichen Bedeutungskonstitution, die insgeheim vom optischen Mythos eines selbstmächtigen, sich selbst völlig transparenten Subjekts der Erkenntnis zehren - einem Zerrbild unserer Situation und damit auch einem Zerrbild unserer Autonomie. (Das gilt auch für eine ideale Kommunikationsgemeinschaft.) Ein solches Subjekt aber gibt es nicht, und es wäre metaphysischer Szientismus und Dogmatismus, seine Existenz zu behaupten. Vielmehr erheben wir auch alle unsere Wahrheits- und Geltungsansprüche inmitten vieldeutiger (ambiger), opaker, materieller und endlich-diskursiver, für uns nicht gänzlich erkennbarer Verstehenssituationen.

III. Eine Pointe dieser Sinnkritik ist, daß gerade die Befreiung von den Illusionen der Transparenz, der semantischen Allmacht und des transzendenten Überblicks in allen ihren Verästelungen uns auch die Einsicht in den kreativen, offenen, lebendigen Prozeß der menschlichen Sprachpraxis unverstellt eröffnet: Interpretation, Entwurf, Innovation, neuer Anfang, qualitativ neue Wiederholung, Gegenentwurf gehören zu ihr als einem unabgeschlossenen und prinzipiell unabschließbaren Prozeß wie auch alle Irrtümer und Mißverständnisse. Sie gehören zu einem Prozeß, der als ganzer nichts abbildet, sondern der selbst unser Welt- und Selbstverständnis je neu bildet. Wir sind nicht metaphysische Szientisten unserer eigenen, welterschließenden und weltformierenden Praxis und Sprachpraxis. Im Blick auf die Ordnungen und das Offene möchte ich zum Schluß zwei weitreichende systematische Konsequenzen dieser Sinnkritik skizzieren und ihre

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Bedeutung gerade für die praktische Philosophie verdeutlichen. Beide Konsequenzen sind anti-skeptisch und anti-relativistisch zu verstehen. Sie betreffen das, was ich Autonomie der Sprache, semantische, begriffliche, sprachliche Spontaneität und praktische Gewißheit nennen will. Nach dem Gesagten sind unsere Sprachspiele in dem Sinne autonom, daß ihre jeweilige grammatische Verfassung nicht auf etwas außerhalb ihrer zurückführbar, unableitbar von anderen Grammatiken und nur als ganze verstehbar ist. Der Turm im Schach mitsamt seinen Zugmöglichkeiten zeigt am kleinen Beispiel diese Irreduzibilität, Unableitbarkeit und diesen Holismus. Im Rahmen dieser autonomen, eigengesetzlichen internen Konstitution des Spiels entfaltet sich der ganze Reichtum unerschöpflicher Möglichkeiten - der Spielraum allein bereits der Eröffnungen, der Anfänge - bei einer Schachpartie. „Autonomie" bedeutet gerade nicht Relativität oder gar Willkür und Beliebigkeit. Natürlich „gibt es" in einem schlichten Sinne z.B. die Farben. Wir gehen mit ihnen um. Die Praxis unserer Farbunterscheidungen konstituiert eine Grammatik, die in dem Sinn autonom ist, als sie nicht auf die subjektive Evidenz einer privaten Innenwelt rückführbar ist und auch nicht auf die Grammatik einer Sprache über neurophysikalische oder neurophysiologische Tatsachen. Die Farben sind autonome Lebensphänomene, erst sekundär und parasitär können wir z.B. von physikalisch meßbaren Schwingungen oder Wellen reden, die kausal Vorgänge auf der Netzhaut bewirken. Unsere autonomen sprachlichen Entwürfe brauchen nicht mit „der Wirklichkeit" übereinzustimmen - sie erzeugen und bestimmen mit, welche Sichten wir etablieren und praktizieren. Das gilt nun auch in eminentem Sinne für die Ethik. Wir können hier insbesondere von einem begrifflichen Netzwerk sprechen, das mit unseren Praktiken eng verwoben ist. Ich denke an Begriffe wie „Person", „Achtung", „Anerkennung", „Respekt", „Rücksicht", „Würde" und „Unantastbarkeit". Mit diesen Begriffen wird - geschichtlich über sehr lange Zeit, unter Einfluß von Sprachspielentwürfen der antiken Philosophie, des Christentums und des Humanismus, aber für jeden Teilnehmer am Sprachspiel der okzidentalen Ethik neu - etwas völlig Neues, Vorbildloses - etwas Revolutionäres - , Ordnungen Sprengendes in die Welt eingeführt: ein Sprachspiel tendenziell universaler Achtung und Anerkennung jedes Menschen als Menschen. Deswegen sind auch unsere Verwendungen des Wortes „Mensch" mit den ethischen Einsichten und den von ihnen untrennbaren Lebensformen bzw. Praxisformen eng verwoben, z.B. in Sätzen wie: „Sieh ihn doch nicht bloß als Verbrecher, sieh ihn doch auch einmal als Mensch!"; „Die Gefangenen werden unmenschlich behandelt." Oder in Wittgensteins Beispiel zu Anfang der Vermischten Bemerkungen: „So kann ich oft nicht den Menschen im Menschen erkennen." (VB, 451)

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Diese hier nicht weiter zu entfaltenden ethischen Sprachmöglichkeiten 3 artikulieren unsere praktischen Gewißheiten hinsichtlich einer ethischen Lebensform. Sie lassen sich in Basissätzen der Art: „Jeder Mensch hat Würde"; „Jedem Menschen gebührt Achtung seiner Würde" zusammenfassen. Die ethischen Basissätze sind in gewisser Hinsicht nicht weiter begründbar, denn wir arbeiten umgekehrt moralische Rechtfertigungen und juristische Begründungen allererst mit ihrer Hilfe aus. Hinter der durch die Grammatik der ethischen Basissätze und Prädikate artikulierten, autonomen Praxis ist „nichts" mehr im Sinne einer diese Praxis noch einmal - z.B. metaphysisch, psychologisch, soziologisch - fundierenden Ebene. Was Kant mit der Unbedingtheit des Anspruches des Sittengesetzes meinte, wird jetzt als richtiger Hinweis auf die autonome Grammatik des Ethischen und ihre Universalität begreiflich. Ebenso wird begreiflich: Nicht nur können wir Sinn produzieren, den es vorher bzw. sonst nie in der Welt gab, sondern wir sind auch an dessen Fortbildung und Interpretation ständig beteiligt und tätig. D e n n weder liegt ein für allemal fest, wie näherhin personale Achtung und W ü r d e verstehbar sind - auch in keinem philosophischen Text! - , noch wissen wir selbst jeweils schon abschließend und umfassend, was wir in den unübersehbar vielfältigen Lebenssituationen unter Personalität und W ü r d e jeweils verstehen und verstehen werden. Wir finden dies selbst erst, auf unsicheren und unsicherbaren Pfaden, verwoben mit unseren sonstigen Lebenserfahrungen, inmitten unserer Verwendungspraxis heraus. (Denken wir z.B. an „Freundschaft" und „Liebe"!) Wir sind, wie auch sonst, auf das Urteil der anderen angewiesen, u m eigene Urteilsfähigkeit zu entwickeln. Es gehört zu unserem ethischen Sprachspiel, daß die Gebräuche hier nicht festgelegt sind. Die gesamte Ethik- und Religionsgeschichte zeigt dies ja. In alten Lebensformen kamen W ü r d e und ähnliche Prädikate z.B. nur den Göttern und den Königen zu. Die Grammatik ist nicht determiniert; sie steht der Interpretation, der D e u t u n g offen. Aber die ethische Grammatik ist mitnichten beliebig, subjektiv, relativ. Sie ist so mit unseren Tätigkeiten und Selbstverständnissen verbunden, daß im Zweifelsfall über Gegenbeispiele zu menschlichem, h u m a n e m Verhalten kein Zweifel herrscht. Unsere Gebräuche von „menschlich", „Achtung", „Würde" sind so mit reziproken Erwartungshaltungen verbunden, daß sich ihre praktische Gewißheit auch im Vertrauen zeigt, mit dem wir ihnen gemäß handeln. Dementsprechend zeigt die ethische Grammatik der Mißachtung, der Verletzung und der Schuld in ihrer intersubjektiven Geltung, daß hier von Beliebigkeit und Relativismus keine Rede sein kann.

3 Vgl. dazu die Analysen in Rentsch 1990.

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Am Beispiel der ethischen, praktischen Gewißheit wird auch deutlich, wie verfehlt eine ganze Reihe metasprachlicher Zugriffsweisen auf sie waren und sind. Die Grammatik von Funktionen sozialer und individueller Stabilisierung und Selbsterhaltung erreicht nicht ihren spezifischen Sinn, auch nicht psychologische, z.B. emotive Verständnisse hinsichtlich eines subjektiven Gefühls der Achtung. Aber diese Grammatiken lassen sich auf die ethische Praxis zumindest auch beziehen, wenn auch nicht auf ihre praktische Gewißheit. Vollends irreführend wären z.B. idealistische metasprachliche Zurechtstellungen von der Art eines Fiktionalismus. Aber wenn wir Menschen als Personen achten, dann tun wir nicht bloß so, als ob sie eine letzte, untilgbare Würde hätten. Um die Autonomie der ethischen Sprachpraxis gegen alle metaphysischen und physischen Mißverständnisse abzugrenzen, meinte Kant geradezu eine reine, zweite, grundlegende, intelligible und noumenale Welt konzipieren zu müssen. In einem an Wittgenstein anschließenden Verständnis kann die nicht weiter begründbare, wohl aber vielfaltig erläuterbare Autonomie des Ethischen ohne diese quasi-metaphysische Konstruktion begriffen werden. So, wie wir es bei den Farben mit gelben Äpfeln, roten Rosen und schwarzem Kaffee zu tun haben und nicht mit Schwingungen und Netzhautreizen, aber auch nicht mit „dem Gelb", „dem Rot" und „dem Schwarz", so haben wir es im ethischen Kontext mit Menschen im personalen Sinne zu tun, und nicht mit bloßen Naturereignissen oder Leibmaschinen, denen dann nachträglich intelligible Deutungen angedichtet werden. Der Riesenzirkel des Kantschen Systems, der sich im intelligiblen Gebrauch der Kausalitätskategorie zeigt: ohne vorausgesetzte Freiheit keine Moralität, ohne Moralität aber auch keine Freiheit - dieser Zirkel löst sich auf. Die intelligible Welt ist inmitten unserer einen Welt, und nirgendwo sonst ohne Dogma, ohne Relativismus.

Hans Rudi Fischer (Heidelberg)

Rationalität als offene Ordnung. Zur Logik und Evolution neuer Sprachspiele Vernunft ist Sprache, logos, an diesem Markknochen nage ich und werde mich zu Tode nagen. Johann G. Hamann an Johann G. Herder Die „Vernunft" in der Sprache: O was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben. Friedrich Nietzsche

Einleitung „Rationalität" respektive „rational" gehören zu den Prädikaten, die wir Personen bzw. deren Einstellungen, Entscheidungen und Handlungen zuschreiben. Die Handlung einer Person beschreiben wir als „rational", wenn das Mittel, ein angestrebtes Ziel zu erreichen, den Erfolg der Handlung garantiert oder zumindest unter normalen Umständen wahrscheinlich macht. Die Zweck-Mittel-Relation läßt sich in einem „praktischen Syllogismus" (von Wright 1984; Fischer 1987) formalisieren. Eine Meinung, ein Glaube (propositionale Einstellung), daß p, gilt dann als rational, wenn er auf Prämissen beruht, die diese Meinung „begründen", die sie aus den Prämissen ableitbar macht. Überall - ob bei Handlungen, Entscheidungen, Meinungen etc. - , wo wir Personen Rationalität zuschreiben, ist das am Werk, was wir Denken nennen. Ich möchte den Kern der unterschiedlichen Verwendungsweisen unseres Rationalitätskonzeptes für mich hier auf den zentralen Aspekt der Form reduzieren: Es geht bei der Rationalität um die formale Beziehung zwischen Sätzen oder Einstellungen, Haltungen etc., die prinzipiell diskursiv zugänglich, also in Sprache artikulierbar sein müssen. Da die Abstraktion von bestimmten Inhalten und die Fokussierung auf die formale Beziehung zwischen Sätzen das originäre Gebiet der Logik ist, kann man sagen, daß im Kern westlicher Rationalität (logos), des sogenannten „rationalen" Denkens, eine formale, an der Logik orientierte Ordnung steckt. Diese Rationalität zu untersuchen, deren Bedingungen und grundlegenden Prinzipien zu bestimmen ist seit Alters her Aufgabe von Logik, Erkenntnistheorie (Handlungs- und Entscheidungstheorie) bzw. Philosophie.

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Hans Rudi Fischer

Als ich vor f ü n f z e h n Jahren an die Heidelberger Universitätsklinik kam, u m dort die Kommunikation von als geisteskrank definierten Patienten zu untersuchen, wurde mir schnell klar, daß die Rationalitätsstandards, die in einer Gesellschaft faktisch gelten, von der Psychiatrie mit der Unterscheidung krank/gesund gesetzt werden. Die in und von der Philosophie theoretisch bestimmte Form der Rationalität wird durch Rationalitätskriterien in der Psychiatrie pragmatisch umgesetzt. Schon Immanuel Kant hat in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Geisteskrankheiten als „Krankheiten des Kopfes" bezeichnet, bei denen es sich um ein „Gebrechen der Erkenntniskraft" handele, u m eine in U n o r d n u n g geratene Vernunft. Da bei diesen Krankheiten das „Erkenntnisvermögen" betroffen sei, reklamierte Kant für die „Kur der Narrheit" noch die Zuständigkeit des Philosophen. Implizit schrieb er damit der Philosophie eine therapeutische Funktion zu. Der Arzt und Philosoph J o h n Locke hatte, ähnlich wie Kant, zuvor den Wahnsinn schon recht modern als mental disorder bestimmt, bei dem die O r d n u n g des Denkens betroffen sei. Mit der O r d n u n g des Denkens war bereits damals der Kern dessen gemeint, den wir noch heute als Rationalität begreifen (vgl. dazu Fischer 1987). Dieses Verständnis von Rationalität orientiert sich dabei an der Logik und ihren „formalen Gesetzen des Denkens", sprich den Schlußgesetzen der Logik und deren Kategorien wahr/falsch. Hier gilt von Descartes über Locke bis Hegel derjenige als wahnsinnig oder irre, der falsche Prämissen für wahr hält oder aufgrund wahrer Prämissen falsch schlußfolgert (vgl. Fischer 1989). Beim Irren scheint die logische O r d n u n g , die wir Rationalität n e n n e n , absent zu sein; hier scheint sich Irrationalität in Form einer in U n o r d n u n g geratenen Logik zu zeigen. Die psychiatrische O r d n u n g teilt die Auffassung der philosophischen Logik, daß es sich bei den „Denkgesetzen" um fundamentale Prinzipien der Rationalität handelt und spricht entsprechend von „Denkstörungen". Karl Jaspers, der Psychiatrie an der Heidelberger Uniklinik lehrte, bevor er einen Lehrstuhl für Philosophie bekam, hat in seiner einflußreichen Allgemeinen Psychopathologie die Erklären/Verstehen-Dichotomie bei der Betrachtung der Geisteskrankheiten eingebracht. Demnach wurden die sogenannten Geisteskrankheiten gerade nicht den Geisteswissenschaften zugeschlagen, sondern als „Krankheiten des Kopfes", sprich als organische Krankheiten aufgefaßt und damit naturwissenschaftlichen Methoden überantwortet. Die Produktionen des Wahnsinns, die Sprache oder Kommunikation von Verrückten, wurden damit der sinnfreien Zone naturwissenschaftlicher Erklärungen zugeschlagen; sie wurden prinzipiell als nicht-verstehbar begriffen. N u n wollte Wittgenstein - wie wir heute wissen - selbst ursprünglich Psychiater werden. Z u m Glück für die Philosophie ist er es nicht geworden, aber das Thema Geisteskrankheit war zeit seines Lebens virulent, wie sich sowohl an sei-

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nen schriftlichen Aufzeichnungen zeigt als auch an der Tatsache, daß er Ende der vierziger Jahre Gespräche mit „Verrückten" hatte. Sein Verständnis der Philosophie als Therapie der Denkkrankheiten ist nicht zuletzt von selbsttherapeutischen Motiven getragen; es ist ein Versuch, den eigenen Problemen auf der Meta-Ebene zu begegnen. Wittgenstein hat in seiner Auseinandersetzung mit dem Psychologismus in der Logik und der Frage, ob es beim verrückten Denken nicht um eine andere, heterogene Ordnung, eine andere Logik geht, wie kein anderer Philosoph vor ihm Licht in das diskursive Dunkel der Psychopathologie geworfen. Aus der Perspektive des späten, „postmodernen" Wittgenstein und dessen anti-fundamentalistischer Idee von der Pluralität der Sprachspiele und deren Logiken wird eine Diskursivität möglich, die das Heterogene nicht mehr ausgrenzen muß, um sich zu konstitutieren. Das ist jener Fokus, in dem ich versuche, Wittgenstein weiterzudenken. Es geht mir um eine hermeneutische Logik, die „verrücktes Denken" und Handeln nicht als irrational auschließt, sondern als Form einer Diskursivität faßt, die prinzipiell verstehbar ist. Zunächst möchte ich in diesem Aufsatz zeigen, wie Wittgenstein in der Auseinandersetzung mit seiner Logikkonzeption im Tractatus die Idee von der Pluralität der Logiken in der Spätphilosophie entwickelt. Wittgensteins frühes Sprachverständnis, in dem Sprache noch ein geschlossenes System schien, das auf einem zeitlosen, invarianten Fundament namens Logik ruht, wandelt sich zu einem Sprachdenken, das Sprache als zeitliches, kulturell geprägtes und prinzipiell offenes Zeichensystem begreift. Damit wird das tertium non datur zwischen dem auf logischem Fundament gedachten Denkbaren und dem Undenkbaren überwunden, und der Übergang von einer logischen Ordnung zu einer anderen wird selbst denkbar. Im ersten Teil meines Aufsatzes werde ich anhand des logischen Fundamentalismus in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus zeigen, daß ein an die Logik gekettetes Rationalitätsverständnis über Ausschlußmechanismen eine geschlossene, eindeutige Ordnung konstruiert, die Intentionalität, Wandel, Ambiguität, Kontextualität etc. ausschließt. Im zweiten Teil werde ich von Wittgensteins Philosophie der Grammatik her zeigen, daß Rationalität auf Regeln beruht, die einem Wandel unterliegen können. Von daher wird der Zugang zu alternativen Rationalitäten bzw. Logiken denkbar und verständlich.

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Der Tractatus oder Rationalität als geschlossene Ordnung: Der logische Fundamentalismus Bei der traditionellen Bestimmung des Menschen als animal rationale spielt die Logik eine fundamentale Rolle. Sie liefert mit den Formen (den logischen „Gesetzen") die Ordnung, in der Menschen denken und so zu Schlüssen kommen, die rational genannt werden. Ein solches Verständnis der Logik als Super-Ordnung von Rationalität entwickelt Wittgenstein im Tractatus. Er will dabei innerhalb der Sprache eine Grenze ziehen, eine Grenze, die das prinzipiell Sinnvolle vom Unsinnigen trennt. Im Kern zielt sein Vorhaben auf die kognitive Tätigkeit des Menschen, das, was wir Denken und, wenn es einer bestimmten Ordnung gehorcht, rationales Denken nennen. Wittgenstein kann bei seinen Abgrenzungsintentionen auf die Sprache fokussieren, weil er sie als Ausdruck der Gedanken versteht. Denken und Sprechen sind für ihn im Tractatus logisch äquivalent, das Denken selbst wird ausdrücklich als symbolischer Prozeß verstanden, so daß die Grenzen des Symbolismus der Sprache ebenso für das Denken gelten. 1 Wenn man hier in der Metapher von der Sprache als dem „Haus des Seins" (Heidegger) bleibt, stellt sich die Frage, was als Fundament das Gebäude der Sprache trägt? Das Fundament, auf dem Wittgenstein seine Unterscheidung bzw. Grenzziehung zwischen dem Denkbaren, der Sprache und dem Undenkbaren bzw. Unsinnigen aufbaut, ist die Logik mit ihren Operatoren, Gesetzen und „Sätzen". Die Logik steht - wie die klassische - auch beim frühen Wittgenstein noch jenseits der Zeit, sie bildet einen absoluten Rahmen, ein statisches, zeitloses Gerüst des Denkbaren bzw. der Sprache. Nach Wittgensteins transzendentaler Deutung ist die Logik auch Onto-Logik, d. h. die logische Ordnung gilt nicht nur für Denken und Sprache, sondern auch für die Welt bzw. die sprachliche Aneignung von Welt. 2 Diese Verknüpfung zwischen Sprache und Welt wird über

1 „Entspricht nicht mein Studium der Zeichensprache dem S t u d i u m der Denkprozesse, welches die Philosophen f ü r die Philosophie der Logik i m m e r für so wesentlich hielten?" (T, 4.1121) In TB v o m 12. 9. 16 notiert Wittgenstein: „Jetzt wird klar, warum ich dachte, D e n k e n u n d Sprechen wäre dasselbe. Das D e n k e n nämlich ist eine Art Sprache. D e n n der Gedanke ist natürlich auch ein logisches Bild des Satzes u n d somit ebenfalls eine Art Satz." In einem Brief an B. Russell schreibt Wittgenstein, d a ß die H a u p t s a c h e seine „Theorie über das [ist], was durch Sätze - d. h. durch Sprache - gesagt (und, was auf dasselbe hinausläuft, gedacht) u n d was nicht durch Sätze ausgedrückt [...] werden k a n n . " (B, 88). In den Philosophischen Untersuchungen heißt es d a n n d r e i ß i g j a h r e später: „[...] die Sprache selbst ist das Vehikel des D e n k e n s . " (PU, 329) 2 Später kritisiert Wittgenstein diese Position, die im Tractatus auch die eigene war: „Die .mathematische Logik' hat das D e n k e n von M a t h e m a t i k e r n u n d Philosophen gänzlich verbildet,

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die Abbildfunktion zwischen sprachlichen Zeichen und Bezeichnetem gerechtfertigt: „Wären Zeichen und Bezeichnetes nicht ihrem vollen logischen Inhalte nach identisch, dann müßte es noch etwas Fundamentaleres geben als die Logik." (TB, 4. 9. 14) Die Sätze der Logik sind nicht durch irgendwelche fundamentaleren Prämissen oder Axiome zu rechtfertigen, sie gelten selbst als fundamental (T, 6.123). Die Philosophie der Logik des Tractatus läßt sich für meinen Gebrauch hier auf folgende, wesentliche Punkte zusammenfassen. Für die Logik bzw. die Sätze der Logik des Tractatus gilt, 1. daß sie ein statisches Phänomen sind, das zeitlos gültig ist. Dies impliziert 2. daß sie invariant sind, jenseits jeder Entwicklung stehen, ein Wandel a priori ausgeschlossen ist; 3 3. daß sie notwendig in einer Weise sind, die alle Kontingenz ausschließt („Es gibt nur eine logische Notwendigkeit." [T, 6.37, 6.3]); 4. daß sie vollständig im Sinne von abgeschlossen ist, d. h. weder können neue logischen Sätze (Gesetze) dazukommen, noch können alte wegfallen; 5. daß sie selbst tautologischen Charakter hat und damit nicht unter die Wahr/falsch-Dichotomie der empirischen Sätze fällt; 6. daß der Angelpunkt der Intersubjektivität der Umgangssprache ihre logische Struktur ist. Die Sprache als „Haus des Seins" fußt bzw. ruht demnach auf der Logik als ihrem fundamentum inconcussum. Ich nehme die architektonische Metapher vom Fundament ernst; sie impliziert eine logische Hierarchie. Denn damit ist der Ort für das Kontingente, für Veränderung, der Raum für das empirisch Beschreibbare, das Neue, die Sätze der Wissenschaft also, die Erfahrung bzw. Erkenntnisse beschreiben, auf einer anderen logischen Ebene verortet. Für die logisch untergeordneten deskriptiven Sätze, die der logischen Struktur der Meta-Ebene gehorchen, gelten all diese Einschränkungen nicht, hier sieht die Satztheorie des Tractatus nun Varianz, Wandel und Veränderung vor. Dies wird beispielsweise an dem auch für die Spätphilosophie wichtigen, von Frege adaptierten „Zusammenhangsprinzip" in Satz 3.3 deutlich, in dem Wittgenstein die Doktrin von der Priorität des Satzes vor seinen Teilen, den Wörtern, formuliert. Auf der Grundlage der Unterscheidung vom Sinn des Satzes und der Bedeutung von Wörtern

indem sie eine oberflächliche Deutung der Formen unserer Umgangssprache zur Analyse der Strukturen der Tatsachen erklärte. Sie hat hierin freilich nur auf der Aristotelischen Logik weiter gebaut." (BGM, 300) 3 Das ist die gleiche Position des frühen Heidegger: „Das Logische ist ein statisches Phänomen, das jenseits jeder Entwicklung u n d Veränderung steht, das also nicht wird, entsteht, sondern gilt." (Heidegger 1972, 120)

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begreift Wittgenstein in dieser frühen Form seines Kontextualismus einen Satz als Funktion der in ihm enthaltenen Ausdrücke. Der vom Satz isolierte Name (Wort) hat danach keine Bedeutung, weil ihm die logische Form fehlt, er ist „ungesättigt". Das Kontextprinzip innerhalb des Kalkül-Modells des Tractatus fungiert so als Kompositionsprinzip für die semantische Konstruktion neuer Sätze und löst darüber das Problem sprachlicher Kreativität. Auf dieser Ebene der Sprache ist also Variation, Veränderung und Wandel möglich. Wenn man hier eine typenlogische Unterscheidung anwendet, so läßt sich sagen, daß Wittgenstein die logischen Sätze auf einer höheren Stufe als alle anderen Sätze ansiedelt. Im Gegensatz zur räumlichen Metapher vom Fundament, wo die Logik unten steht, möchte ich die logischen Sätze in bezug auf die deskriptiven Sätze des Tractatus auf einer Meta-Ebene ansetzen. Die deskriptiven, sinnvollen Sätze gehören dann zur ersten Ordnung, die logischen Sätze zur zweiten Ordnung. Eine Mißachtung dieses logischen Typenunterschiedes führt zu philosophischer Verwirrung. Sätze der Logik beziehungsweise der Grammatik dürfen nicht als empirische Sätze mißverstanden werden, sonst „feiert" die Sprache (vgl. PU, 38). Die Logik wird hier als eine Art „kognitiver Landkarte" verstanden, die die Strukturen des Territoriums, der Welt im Denken spiegelt. Und hier kommt es darauf an, den logischen Typenunterschied zwischen Landkarte und Landschaft zu beachten, ein Fehler, wie ihn Wittgenstein später immer wieder nachweist, wenn grammatische Sätze empirisch verstanden werden und scheinbare metaphysische Wahrheiten ausdrücken. Als Zwischenbilanz meiner bisherigen Überlegungen möchte ich festhalten: Der frühe Wittgenstein verortet die logischen Strukturen, man könnte sie aus der Spätphilosophie auch das Beschreibungs- bzw. Koordinatensystem nennen, auf einer logisch „höheren", zweiten Ebene, als die Sätze innerhalb dieses Beschreibungssystems. Die zweite logische Ebene ist vom Wandel ausgeschlossen, Veränderung ist nur auf der ersten logischen Ebene möglich. Die Grenze, die Wittgenstein zwischen dem Denkbaren, dem Sinnvollen und dem jenseits der Grenze liegenden, dem Undenkbaren, dem Unsinnigen bzw. dem Irrationalen, zieht, ist im Tractatus noch rigide, beide Bereiche völlig disjunkt, es gilt das tertium non datur. Übergänge sind in diesem binären Kosmos ausgeschlossen. Wie wenig ein solches Verständnis der Logik dem tatsächlichen Sprachgebrauch und dem tatsächlichen Denken nahekommt, wird bereits an der Behandlung der intentionalen Sätzen deutlich, die für den Tractatus ein Problem darstellen, weil sie sich nicht recht unter die Dichotomie logischer versus deskriptive Sätze bringen läßt. Ich möchte kurz auf Wittgensteins Ausschluß der Intentionalität im Tractatus eingehen, weil sie in sein späteres Verständnis von sprachlicher Logik integriert werden kann.

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Die Elimination der intentionalen Sätze aus der Sprache des Tractatus Sätze der Form „A glaubt, A weiß, A denkt, daß p" usw., ausformuliert beispielsweise: „Ich glaube, daß es regnet", sind als psychologische Satzformen zu verstehen, als Aussagen über einen „inneren", d. h. psychologischen Zustand von A, nämlich seinen Glauben, sein Denken, sein Wissen etc. Als solche sind sie nicht wahrheitsfunktional im Sinne des Tractatus, denn der Glaube, daß p, ist unabhängig von der Wahrheit/Falschheit von p. Damit transzendiert er die Grenze des sinnvoll Sagbaren (T, 5.541 ff.). Intentionalität, Subjektivität und die damit einhergehende Kontingenz müssen im Tractatus aus dem Logos ausgeschlossen werden, denn sie sind nicht wahrheitsfähig. In wahrheitsfunktionalen Sätzen kann über die Beziehung eines Subjektes zu seinen „mentalen, inneren Zuständen", seinen propositionalen Attitüden nichts ausgesagt werden, was nicht eben abbildtheoretisch gerechtfertigt werden kann. Wittgenstein macht n u n in seiner sogenannten Extensionalitätsthese, mit der er die intentionalen Sätze als nichtwahrheitsfunktional ausschließt, von der angesprochenen logischen Typen-Unterscheidung Gebrauch. Er sagt, sie hätten die Form ,„p' sagt p" (T, 5.542), wobei „p" mit Anführungszeichen als Name für den Sachverhalt p fungiert. Das heißt, er rekurriert hier auf den logischen Unterschied zwischen einem N a m e n und dem damit bezeichneten Gegenstand, genau das ist der Unterschied zwischen Landkarte und Territorium, zwischen Klasse und Element der Klasse. Der psychische Akt des Denkens, Glaubens, Meinens oder Wissens ist subjektiv und geschieht in der Zeit; nur der logische Gehalt des Denkens gilt unabhängig von der Zeit, und nur für diesen logischen Gehalt des Satzes bzw. des Denkens ist Platz in der Logik des Tractatus. Damit soll die Universalität einer Erkenntnisweise begründet werden, die rational genannt wird. U m dieses Verständnis von Rationalität aufrecht zu erhalten, müssen intentionale Zustände wie etwa Glauben oder Meinen aus seinem System ausgeschlossen werden, da sie Subjektivität, Kontingenz, kurz Nicht-Berechenbarkeit ausdrücken. 4 Wittgenstein formuliert hier in grandioser Weise noch einmal den für die Moderne charakteristischen Anspruch einer sich totalitär verstehenden, fundamentalistischen Vernunft, die ihr Anderes, Heterogenes, ausgrenzen m u ß , u m sich begreifen zu können. Darin allerdings besteht die eigentliche Irrationalität der Moderne, daß

4 Sätze der Form „A glaubt p " sind auch nicht-psychologisch verstehbar, nämlich als Aussagen über den G l a u b e n v o n A. So verstanden sind sie wahrheitsfunktional u n d mit der Logikkonzeption des Tractatus kompatibel, d e n n wenn A nicht p glaubt, sondern q, d a n n ist der Satz „A glaubt p " falsch. Wittgenstein thematisiert in T, 5.541 ff. „gewisse Satzformen der Psychologie", d. h. Sätze über psychische Zustände v o n A (vgl. Fischer 1985 u n d 1989).

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sie Irrationalität - die sich nicht ausschließen läßt - aus dem Diskurs, den sie rational nennt, ausschließen möchte. Ich möchte mich nun einer weiteren Art von Sätzen zuwenden, die ebenfalls nicht unter die Dichotomie logische Sätze/deskriptive Sätze der Tractatus-Thcorie subsumierbar sind, die aber im Gegensatz zu den intentionalen Sätzen nicht ausgeschlossen werden. Es handelt sich um die sogenannten „Sätze des Netzes". Sie öffnen den geschlossenen, logischen Horizont der Traktat-Philosophie und weisen uns den Weg zum Verständnis der Logik der Umgangssprache, die Wittgenstein später deren Grammatik nennt.

Die Nahtstelle zur Spätphilosophie: Die Sätze des Netzes im Tractatus Neben den logischen Sätzen des Tractatus, die apriori „wahr" sind, unterscheidet Wittgenstein eine andere Gruppe von Sätzen, die ebenfalls nichts über die Welt sagen und dennoch keine Tautologien sind: die Sätze des Netzes. Wittgenstein spricht von solchen „Sätzen des Netzes" im Zusammenhang der „Gesetze" der Naturwissenschaften. Er erwähnt das „Kausalitätsgesetz" (das Gesetz vom „zureichenden Grunde"), das „Gesetz der Induktion" und andere (T, 6.31 ff.). Von diesen Sätzen sagt er, sie seien „Einsichten a priori über die mögliche Formgebung der Sätze der Wissenschaft." (T, 6.34) Wittgenstein macht die Funktion des Netzes an einem instruktiven Beispiel deutlich. Er geht von einer weißen Fläche mit unregelmäßig darauf verteilten schwarzen Flecken als zu beschreibender Wirklichkeit aus. N u n wird ein quadratisches Netz darauf projiziert und dann läßt sich von jedem Quadrat sagen, ob es schwarz oder weiß ist. So könnte die Fläche - in der Analogie die Wirklichkeit vollständig beschrieben werden. Wittgensteins Beispiel antizipiert im Grunde die digitale Logik des Rasterverfahrens, das ein Scanner benutzt, um Information einzulesen und digital abzubilden. Die Metapher vom Netz verdeutlicht, daß das, was gefischt werden kann, das, was also beschrieben werden kann, davon abhängt, wie das Netz, das Beschreibungssystem - wie Wittgenstein es auch nennt - aufgebaut bzw. strukturiert ist. Das Netz, das Wittgenstein hier als Beschreibungssystem einführt, fungiert als Methode oder Form der Darstellung, und von dieser sagt er, sie sei beliebig. „Den verschiedenen Netzen entsprechen verschiedene Systeme der Weltbeschreibung. Die Mechanik bestimmt eine Form der Weltbeschreibung" (T, 6.341; Herv. v. H. R. F.). Über den Zusammenhang zwischen der Struktur der Fläche (der „Wirklichkeit") und der Struktur des Netzes sagt Wittgenstein folgendes: „Obwohl die Flecke in unserem Bild geometrische Figuren sind, so kann doch selbstverständ-

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lieh die Geometrie gar nichts über ihre tatsächliche Form und Lage sagen. Das Netz aber ist rein geometrisch, alle seine Eigenschaften können a priori angegeben werden. Gesetze, wie der Satz vom Grunde, etc., handeln vom Netz, nicht von dem, was das Netz beschreibt." (T, 6.35) Die Sätze des Netzes werden also nicht mit der Erfahrung konfrontiert und sind insofern den logischen Sätzen verwandt; wie diese sind sie typenlogisch auf höherer Ebene anzusiedeln, denn sie können durch die Empirie weder bestätigt noch widerlegt werden. Dennoch nehmen die Sätze des Netzes eine Sonderstellung ein. Im Tractatus sind die Sätze der Logik für jede Form der Darstellung, für jedes Bechreibungssystem fundamental und als solche gerade nicht beliebig, sondern notwendig. Auf deren nicht-beliebigem Fundament sind für Wittgenstein dann beliebige Systeme der Weltbeschreibung, die er Netze nennt, denkbar. Sätze des Netzes sind zwar von der Erfahrung ebenso unabhängig wie die der Logik, dennoch aber keine Tautologien. Sie handeln - im Gegensatz zu den Sätzen der Logik, die „von nichts handeln" (T, 6.134) - von der jeweiligen Form der Abbildung. Die Sätze des Netzes nehmen eine Sonderstellung zwischen den logischen und den empirischen Sätzen ein; in ihnen konfundieren sich Logik und Empirie zu einem Konglomerat, das zum einen von der Logik abhängig ist, zum anderen aber einen Spielraum innerhalb der Logik hat, um Systeme der Beschreibung der Wirklichkeit zu bilden. Innerhalb dieses Spielraums sind die verschiedenen Netze Anweisungen (Regeln) zur Bildung sinnvoller Sätze (Hypothesen). Der wesentliche Unterschied zu den Sätzen der Logik besteht darin, daß sie, obgleich sie a priori „einsehbar" sind (wie die logischen Sätze), dennoch etwas über die Welt „sagen": „Auch das sagt etwas über die Welt, daß sie sich durch die eine Mechanik einfacher beschreiben läßt als durch die andere." (T, 6.342; Herv. v. H. R. F.) Hier zeigt sich bereits die Nicht-Legitimierbarkeit (Willkürlichkeit) der Sätze des Netzes, die uns später bei den Sätzen der Grammatik wiederbegegnet, und deren nur pragmatische Begründbarkeit gegenüber alternativen Netzen. Mit der Metapher des Netzes führt Wittgenstein gegenüber den Metaphern, die er für die Logik benutzt (wie etwa der des Gerüstes, des Fundamentes) die Idee der Flexibilität, der Anpassung an den Gegenstandsbereich ein. Wissenschaftliche Beschreibungssysteme sind im Tractatus flexible, also veränderbare, beliebige Netze, die auf der Grundlage des absolut gesetzten logischen Fundamentalraumes lokale Unterräume zur Konstruktion empirisch validierbarer (sinnvoller) Hypothesen bilden. Den logischen Fundamentalismus und die Fesselung des Denkbaren, des Rationalen an die Logik, gibt Wittgenstein Anfang der dreißiger Jahre auf. In seinen Cambridger Vorlesungen 1930-35 hat Wittgenstein seinen Standpunkt aus dem Tractatus soweit relativiert, daß die Grammatik als lokale Logik des Sprachspiels nur noch eine von vielen möglichen „Denkstilen" ist. Gerade an einem jener

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Sätze des Netzes, dem Satze der Kausalität, macht er die Relativierung deutlich: Kausalität sei für den Physiker ein Denkstil, vergleichbar mit dem Postulat eines Schöpfers in der Religion: „In einem gewissen Sinne scheint es eine Erklärung zu sein, doch in einem anderen Sinne erklärt es gar nichts. [...]. Gott, das ist der eine Stil, der Nebelfleck ist der andere. Der Stil verschafft uns Befriedigung, aber der eine Stil ist nicht rationaler als der andere." (VI, 123 f.) Ein Beschreibungsnetz wird hier als „Denkstil" bezeichnet und mit dem gleichgesetzt, was Wittgenstein dort auch Grammatik nennt. Eine Grammatik, ein Denkstil ist nun deshalb nicht rationaler als ein anderer, weil Wittgenstein die Logik als absoluten Beurteilungsmaßstab für die Rationalität einer Grammatik aufgibt. Dies wird daran offenbar, daß Wittgenstein in diesen Vorlesungen den Unterschied zwischen den notwendigen logischen Sätzen und den beliebigen Sätzen des Netzes, wie er noch für den Tractatus kennzeichnend war, aufhebt. Die Beliebigkeit, die im Tractatus nur für die Sätze des Netzes galt, postuliert Wittgenstein nun auch von den Sätzen bzw. Gesetzen der Logik: „Die Gesetze der Logik - z.B. die Sätze vom ausgeschlossenen Dritten und vom auszuschließenden Widerspruch - sind willkürlich." (Ebd., 238) Der logische Raum wird zum grammatischen Raum; die absolute Logik des Tractatus wird relativiert auf die Rolle, die die Netze im Tractatus hatten. Auch die logischen Sätze werden fortan unter das Paradigma Grammatik subsumiert und als „grammatische Regeln" verstanden, die keine struktur-ontologischen Implikationen mehr haben. Das absolute Apriori der logischen Sätze des Tractatus wird zum relationalen Apriori grammatischer Regeln der Sprachspiele. Diese konzeptionelle Änderung ermöglicht die Analyse der natürlichsprachlichen Logik in Form der Grammatik.

Rationalität als offene Ordnung: Vom logischen Fundamentalismus zum gemeinsamen Handeln Die Idee der absolut gültigen logischen Gesetze wird zugunsten lokal, d.h. im jeweiligen Sprachspiel gültiger Regeln aufgegeben. Darin liegt im Kern der Ubergang vom strukturell-statischen Denken eines logisch geschlossenen Fundamentalismus hin zum dynamischen, offenen Denken in Sprachspielen. Auch Mathematik und Geometrie, die Wittgenstein im Tractatus noch ganz ähnlich wie die Logik verstanden hatte, werden nun als Beschreibungsnetze verstanden, die ihre Relevanz aus ihrer Anwendung als Beschreibungssysteme erlangen. Die jeweiligen Systeme konstituieren dabei den jeweils möglichen Sinn von Zeichenverbindungen. Das Problem der notwendigen Wahrheiten - das es in der Logik gibt - löst Wittgenstein jetzt dadurch auf, daß er sie als Resultat bestimmter grammatischer Vorurteile sieht. Diese Vorurteile offenbaren sich insbesondere

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bei der Behandlung der Worte „muß", „kann nicht" und ähnlicher. Wir entziehen einen Satz der Falsifikation (und damit auch implizit der Verifikation) und machen ihn zur unerschütterlichen Gewißheit. Damit haben wir ihn aber insgeheim zu einer Norm der Darstellung verhärtet, der die Wirklichkeit entsprechen muß: „Einen Satz als unerschütterlich gewiß anzuerkennen - will ich sagen, heißt, ihn als grammatische Regel zu verwenden: dadurch entzieht man ihn der Ungewißheit." (BGM, 170) Bei der Diskussion der Apriorität als Norm der Darstellung werden die notwendig wahren Sätze immer wieder als „Sätze" der jeweiligen Logik des Spiels ausgewiesen. Dabei verwendet Wittgenstein Logik im Sinne von Sprachlogik synonym mit Grammatik (vgl. Z, 405, 590; BPP, I, 1050). Seine Argumentation gegen ein metaphysisches Mißverständnis solcher Sätze kulminiert in der Position, die Notwendigkeit dieser Sätze sei von der Sprachgemeinschaft selbst erzeugt und entspreche daher einer Normierung der Ausdrucksweise und keiner (metaphysischen) Wirklichkeit. Diese internen Verknüpfungen im Begriffsnetz nennt Wittgenstein in impliziter Anlehnung an Freges „zeitlose Wahrheiten" auch zeitlose Sätze. Der gravierende Unterschied zu Frege und der Tradition besteht aber darin, daß sie „zeitlos" gemacht wurden, indem wir sie zu einer Perspektive erhoben haben, unter der Wirklichkeit beschrieben bzw. konstituiert wird. Diese internen Verknüpfungen gehören zur Logik des jeweiligen Spiels, die den Raum möglichen sinnvollen sprachlichen Handelns umreißt. Solche zeitlosen Sätze entsprechen keinen ewigen Wahrheiten, sondern sie legen fest, was wir „Denken", „Rationalität", „Sinn" etc. nennen. Nun läßt sich der pragmatische Wert der für den Tractatus erläuterten Differenzierung in Sätze verschiedener logischer Ebenen auch für die Spätphilosophie explizieren. Die grammatischen Regeln bzw. Sätze der Sprachspiele konstituieren den sprachlogischen Rahmen, innerhalb dessen sinnvolle Sätze formulierbar sind. Diese grammatischen Regeln sind selbst nicht wahr oder falsch. „Wahr" oder „falsch" gelten, wenn überhaupt, nur für Sätze innerhalb des jeweiligen Spiels. Insofern sind die Sätze innerhalb eines Sprachspiel auf der logisch primären Ebene, die grammatischen Regeln sind auf der Meta-Ebene anzusiedeln. Das meint Wittgenstein, wenn er davon spricht, daß jede Grammatik Theorie logischer Typen sei. Mit der Fokussierung Wittgensteins auf die Grammatik als lokale Logik des jeweiligen Sprachspiels wird nun ein Wandel zweiter Ordnung, eine Evolution, eine Entwicklung der sprachlichen Logik selbst möglich. Die Logik als voraussetzungsloses Fundament wird ersetzt durch das gemeinsame Handeln. Wittgenstein orientiert sich nun nicht mehr an der Formel des Johannes-Evangeliums: „Im Anfang war das Wort", der Logos, sondern an Goethes: „Im Anfang war die Tat": „Die Übereinstimmung der Menschen, die eine Voraussetzung des Phänomens der Logik ist, ist nicht eine Ubereinstimmung der Meinungen, geschweige

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denn von Meinungen über die Fragen der Logik." (BGM, 353) In den Philosophischen Untersuchungen macht Wittgenstein dann explizit, worin er jene Übereinstimmung sieht, die fundamentaler ist als die Logik: „,So sagst du also, daß die Ubereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?' Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Ubereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform." (PU, 241) Da Sprache allemal mit Handlungen als Fundament und als sinnbedingendem Kontext verknüpft ist, ist die Ubereinstimmung in der Sprache nicht eine Übereinstimmung der Meinungen, also keine bloß sprachliche, sondern eine in den Maßstäben (Grammatik), und diese zeigen sich in der Lebensform, d. h. der Lebenspraxis.

Die Grammatik - weder Natur, noch Kunst, weder von sich aus da, noch gemacht Hier ist es nötig, zu der vielfach mißverstanden Behauptung Wittgensteins von der Willkürlichkeit bzw. Beliebigkeit der Grammatik etwas zu sagen. Zunächst wendet sich Wittgenstein mit dieser These gegen die Auffassung, apriorische Sätze, die er als grammatische deutet, seien aus der Natur der Dinge abgelesen und spiegelten das „Wesen der Welt". Das war die eigene Position im Tractatus. Dagegen betont die Spätphilosophie nun die Unabhängigkeit der Grammatik von der Wirklichkeit. Und sie ist deshalb unabhängig, weil kein Ereignis uns dazu bringt (außer etwa „wissenschaftlichen Revolutionen" bei Paradigmenwechseln, wie Kuhn sagt), diese als falsch zu bezeichnen. Die Grammatik (wie die Sprache) ist in diesem Sinne also nicht unter die Rubrik „Natur", „von sich aus da", zu fassen. Zugleich ist die Grammtik aber dennoch von der Wirklichkeit, von der Erfahrung abhängig, denn wenn die Wirklichkeit anders wäre als sie ist - und wie sie ist, ist zunächst nur durch die „Brille" der jeweiligen historisch gewachsenen Beschreibungssystems zu „sehen" - würden wir sie nicht verwenden. D. h. die Erfahrung ist zwar nicht das Fundament unserer Urteilsspiele, gleichwohl greift sie aber doch in das grammatische Netz ein. Grammatik ist daher auch nicht unter die Rubrik Kunst, also als gemacht, einzuordnen, denn sie ist nicht von einem Subjekt mit einer bestimmten Absicht erschaffen. Ich muß diesen Punkt hier etwas genauer genauer diskutieren, denn er ist besonders bedeutsam bei der Betrachtung „verrückter" Grammatiken. In Zettel erläutert Wittgenstein, daß willkürlich nicht im Sinne von „beliebig" mißverstanden werden darf. Am Beispiel des Sprachspiels mit Farben, der Grammatik der Farben, erläutert er sein Verständnis von der „Willkürlichkeit" der Grammatik: „Wir haben ein System der Farben wie ein System der Zahlen. Liegen die Sy-

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steme in unserer Natur, oder in der Natur der Dinge? Wie soll man's sagen? Nicht in der Natur der Zahl oder Farben. Hat denn dieses System etwas Willkürliches? Ja und nein. Es ist mit Willkürlichem verwandt, und mit Nichtwillkürlichem. [...] Ja aber hat denn die Natur hier gar nichts mitzureden?! Doch - nur macht sie sich auf andere Weise hörbar." (Z, 357 f.; 364) Deutlich wird hier, daß die Struktur der Grammatik nicht von der Struktur der Dinge, der Welt deduziert ist. Der vermeintliche Standard in der Natur erweist sich bei näherer Betrachtung als Norm der Grammatik. Der Notwendigkeit in der Natur entspricht eine grammatische Regel. Darin ist die Grammatik mit „Willkürlichem" verwandt, und deshalb bezeichnet Wittgenstein sie auch als Konvention. Inwieweit sich die Natur dennoch „hörbar" macht, erläutert Wittgenstein an den zitierten Stellen nicht, aber sie verdeutlichen, daß „Willkürlichkeit" nicht etwa bedeutet, vom Gutdünken von Personen abzuhängen. Die Natur macht sich in der Grammatik insofern „hörbar", als wir eine andere Grammatik hätten, wenn die Realität anders wäre. Hier bringt Wittgenstein einen evolutionären Gedanken in sein Sprachdenken hinein. Die außersprachliche Realität fungiert als eine die Grammatik einschränkende Bedingung (constraint), die Grammatik in diesem Sinne paßt wie ein Organismus in seine Umwelt. Wäre diese Umwelt anders, würde diese Grammatik nicht passen bzw. nicht funktionieren, es hätte sich eine andere entwickelt. Deshalb hängt die Grammatik sowohl von der biologischen Natur des Menschen, seinen historisch-kulturell gewachsenen Lebensformen ab als auch von der Natur der Fakten. Die Grammatik ist daher auch nicht in der Weise beliebig, daß sie nach meiner persönlichen Willkür zu verändern wäre. Hier gibt es eine Härte des grammatischen Muß. Sofern ich mich verständlich machen will, muß ich mich an die grammatischen Regeln halten. Folge ich anderen grammatischen Regeln als den etablierten, so wird man das, was ich sage, nicht mehr verstehen und die Frage entsteht, ob ich überhaupt Regeln folge: „Die Schritte, welche man nicht in Frage zieht, sind logische Schlüsse. Aber man zieht sie nicht darum nicht in Frage, weil sie .sicher der Wahrheit entsprechen' - oder dergl. - sondern, dies ist es eben, was man ,Denken', .Sprechen', .Schließen', .Argumentieren' nennt." (BGM, 96) Menschliche Rationalität läßt sich nicht nur nicht auf den Gebrauch logischer Gesetze (Schlußfolgerungsschemata) reduzieren, sie ist meist auch nicht an „logische Gesetze" gebunden. Aus vielen Studien in der Kognitionspsychologie wissen wir, daß der Psychologismus in der Logik, der annahm, die logischen Gesetze seien empirische Gesetze des Denkens, empirisch falsch ist. Die Menschen orientieren sich in ihrem Denken nicht an den formalen Gesetzen der Logik. Wittgensteins späte Auffassung dazu möchte ich wie folgt zusammenfassen: Sprache ist nur dort, wo Regeln am Werke sind, Analoges gilt auch für das, was

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wir Denken nennen. Wittgensteins Analysen weisen lokale Regelsysteme wie Sprachspiele als conditio sine qua non von Rationalität aus. Das, was als vernünftig bzw. rational beschrieben wird, erweist sich als eine Funktion von Regeln bzw. regelhaft organisierten Prozessen und nicht umgekehrt. Rationalität ist also nicht das Fundament von Regelsystemen, wir folgen den Regeln blind (vgl. PU, 219), wenn wir sprechen und denken gelernt haben. Rationalität wird erst auf dem Fundament von Regelfolgen möglich. So wird es möglich, sich von einem dogmatisch an die Logik geketteten Rationalitätskonzept zu lösen und Rationalität im Irrationalen zu entdecken.

Von den logischen „Denkgesetzen" zu einer „verrückten" Logik Wittgenstein reflektiert in den Vorlesungen über die Grundlagen der Mathematik häufig die Frage, in welchem Sinne die logischen Gesetze „Denkgesetze" sind. Dabei kommt er auf Freges Psychologismus-Kritik zu sprechen und macht eine interessante Bemerkung, die ich hier ganz zitieren möchte: „In seinem Vorwort zu Grundgesetze der Arithmetik spricht Frege davon, daß die logischen Gesetze keine psychologischen Sätze sind. Das heißt, wir können die Wahrheit der logischen Sätze nicht durch eine psychologische Untersuchung herausfinden - sie hängen nicht von dem ab, was wir denken. Frege stellt dort die Frage, was wir denn sagen würden, wenn wir auf Menschen stießen, die im Gegensatz zu unseren logischen Sätzen urteilen. Was würden wir denn sagen, wenn wir auf Menschen stießen, die unsere logischen Gesetze nicht a priori anerkennen, sondern durch einen langwierigen Induktionsprozeß zu ihnen gelangen? Oder wenn wir gar Menschen fänden, die unsere logischen Gesetze überhaupt nicht anerkennen und logische Sätze aufstellen, die den unseren entgegengesetzt sind? Frege schreibt: ,Ich würde sagen: ,Hier haben wir eine neue Art von Verrücktheit" während der psychologische Logiker nur sagen könnte: ,Dies ist eine neuartige Logik'." (VGM, 243 f.) Hier wird der Unterschied in den Position Freges und Wittgenstein sehr deutlich. Frege argumentiert hier ganz in der Tradition der abendländischen Identitätslogik. Etwas, das nicht den Gesetzen der Logik gehorcht, gilt als „verrückt", als defizitär, wird ins Pathologische verdrängt. Daß man anders denken kann, ist selbst nicht denkbar. Das ist auch der Ansatz, der in der Schizophrenie-Forschung durchgeschlagen hat und der bei Schizophrenen ein Defizit im „logischen Denken", in ihrer Kognitionsfahigkeit konstatiert. Demgegenüber läßt Wittgensteins anti-fundamentalistische Position anderes Denken, andere Logiken zu, und darin liegt auch die Möglichkeit, den Wahn-

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sinn bzw. das „verrückte Denken" aus dem Bereich des Unverständlichen, Unlogischen wieder in den Rahmen des prinzipiell Geordneten zurückzuholen. Dem möchte ich mich abschließend zuwenden.

Die Geisteskrankheit als Lebensform Aus der Rezeption verschiedener Werke Freuds entwickelte Wittgenstein eine Art Haßliebe zur psychoanalytischen Theorie. Was er offenbar als richtigen Ansatz der psychoanalytischen Betrachtung des Wahnsinns anerkannte, trug er 1938 in eines seiner Notizbücher als Charakterisierung der Freudschen Idee ein: „Das Schloß ist im Wahnsinn nicht zerstört, nur verändert; der alte Schlüsse.1 kann es nicht mehr aufsperren, aber ein anders gebildeter Schlüssel könnte es." (VB, 496; Herv. v. H. R. F.). Der Schlüssel zum Wahnsinn läßt sich aus Wittgensteins eigenen Bemerkungen dazu und seinem Sprachverständnis rekonstruieren. Salopp gesprochen geht man also davon aus: der Wahnsinn hat System, er bildet eigene und andere Ordnungsmuster. Und damit hat man implizit auch unterstellt, daß dieses System ein nicht-chaotisches ist, und dies ist wiederum die Voraussetzung für einen verstehenden „Schlüssel" zu diesen Phänomenen. Um diesen Gedankengang von Wittgenstein her zu entwickeln, möchte ich von folgenden Bemerkungen ausgehen: „,Es ist höchste Zeit, daß wir diese Erscheinungen mit etwas anderem vergleichen' - kann man sagen. - Ich denke da, z.B., an Geisteskrankheiten. Den Wahnsinn muß man nicht als Krankheit ansehen. Warum nicht als eine plötzliche - mehr oder weniger plötzliche - Charakteränderung?" (VB, 526 f.) Hier wird explizit ein Paradigmenwechsel bei der Betrachtung der Geisteskrankheiten gefordert, sie sind als Änderung und nicht als völlige Desintegration dessen zu begreifen, was man gemeinhin unter dem „Charakter" eines Menschen versteht. In Zettel fragt Wittgenstein, wie eine Gesellschaft von Geistesschwachen aussehen würde, und damit wird nach dem intersubjektiven Rahmen, nach der Lebensform gefragt, in der die Sprachspiele von „Geistesschwachen" funktionieren könnten. Der gängigen Vorstellung vom Schwachsinn wird eine andere gegenüber gestellt: „Den Schwachsinnigen stellt man sich unter dem Bild des Degenerierten, wesentlich Unvollständigen, gleichsam Zerlumpten vor. Also unter dem der Unordnung statt der primitiveren Ordnung (welches eine weit produktivere Anschauungsart wäre). Wir sehen eben nicht eine Gesellschaft solcher Menschen." (Z, 372; BPP, I, 646) Betrifft Wittgensteins Vorschlag, den Wahnsinn als Charakteränderung zu begreifen, die Subjektivitätsseite des Problems, so ergänzen seine Bemerkungen in Zettel die Intersubjektivitätsseite dazu. Die Rede von „Geistesschwachen" läßt

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sich auf „Geisteskrankheiten" übertragen. Von daher will ich dem Wahnsinn nicht eine primitivere, sondern eine andere kognitive Ordnung zugrundelegen. Bedenkt man, daß bis zu Bleulers Begriffsbildung „Schizophrenie" die übliche Bezeichnung für solche Krankheiten dementia praecox lautete, dann haben wir darin noch das von Wittgenstein kritisierte Bild des Wahnsinns als Degeneration, als vorzeitigem Schwachsinn. Für Wittgenstein entspricht dem Wahnsinn auf der Subjektivitätsseite eine andere Ordnung und eben keine vollständige Auflösung dessen, was man als den Charakter oder die personale Identität eines Menschen begreift. Aber dies spiegelt sich dann auch auf der intersubjektiven, gesellschaftlichen Seite, dort wo emotionale Störungen oder deviantes Verhalten als Symptome einer Krankheit erscheinen. Die produktive Anschauung der Geisteskrankheit ist deshalb in der Berücksichtigung ihrer kontextuellen Dimension zu sehen. 5 Wir sollen uns also eine Gesellschaft vorstellen, in der die Sprachspiele der Geisteskranken oder Schwachsinnigen eine Funktion, d. h. einen Sinn haben. Damit sind wir wieder im Zentrum von Wittgensteins Diskussion der Begriffe Regel und Regelbefolgen in der Spätphilosophie. Die dem Denken, Sprechen und Handeln zugrundeliegenden Regeln müssen im Sozialisationsprozeß internalisiert werden. Das entscheidende sprachphilosophische Problem liegt in der Regelbefolgung. Da die Regeln angewandt werden müssen und es keine Regel für die Anwendung der Regel geben kann, besteht scheinbar eine metaphysische Kluft zwischen einer Regel und ihrer Befolgung, d. h. dem, was als die richtige Befolgung gilt. Wittgenstein zeigt, daß zwischen einer Regel und ihrer Befolgung - der mit ihr übereinstimmenden Handlung - ein interner bzw. grammatischer Zusammenhang besteht, der aber nicht ein für allemal platonistisch festliegt, sondern als soziale, intersubjektiv gebundene Praxis, als „Gepflogenheit" bzw. gesellschaftliche „Institution" diesen konstituiert. Die Regel wird verstanden, wenn die betreffende Person der Regel folgen kann; die „richtige" Befolgung ist Kriterium des Regelverständnisses. Dadurch ist die Regelbefolgung nicht dem subjektiven Belieben anheimgestellt, sondern an die gesellschaftliche Praxis gebunden. Die über das gemeinsame Regelverständnis zustandekommende Übereinstimmung ist deshalb nicht primär eine der bloßen Meinungen, eine nur sprachliche, sondern vor allem eine fundamentalere in der Lebensform (PU, 241). Das Sprachspiel als Ort regelgeleiteten kommunikativen Handelns ist deshalb pragmatisch in einem umfassenden Bezugssystem fundiert, nämlich der Lebensform: „Jetzt können wir auch erkennen, weshalb wir diejenigen, die eine andere,

5 „Bring den Menschen in die unrichtige Atmosphäre, und nichts wird funktionieren, wie es soll. Er wird an allen Teilen ungesund erscheinen. Bring ihn wieder in das richtige Element, und alles wird sich entfalten und gesund erscheinen." (VB, 509)

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der unseren Logik widersprechende Logik haben, verrückt nennen würden. Mit der Verrücktheit stünde es nämlich so: a) Die Leute tun etwas, das wir sprechen oder schreiben nennen, b) Ihr Sprechen ist dem unseren sehr ähnlich etc. c) Dann erkennen wir plötzlich eine völlige Diskrepanz zwischen unserem Handeln und ihrem." (VGM, 246) Wittgenstein schlägt also bezüglich der „Geisteskranken" die Ergänzung eines Rahmens vor, in dem die Sprachspiele solcher Menschen eine „Heimat" hätten; anders formuliert: Ein verstehender, ein hermeneutischer Zugang zu den Sprachspielen von Schizophrenen (um die es mir hier hauptsächlich geht) muß diese vor dem Hintergrund einer potentiell anderen, schizophrenen Lebensform thematisieren und analysieren. Diesen Zusammenhang haben wir uns zu vergegenwärtigen, wenn wir uns dem Problem der Geisteskrankheit nähern.

Verrücktheit als veränderte Grammatik: Zum Unterschied zwischen Irrtum und Wahnsinn Bereits Kant hat in seiner von mir eingangs schon einmal zitierten Anthropologie in pragmatischer Hinsicht dem Wahnsinn eine mögliche Ordnung unterstellt: Er entwickelte eine ausführliche Nosographie der verschieden Formen der Verrücktheit. „Das einzig allgemeine Merkmal" dieser verschiedenen Formen „der Verrücktheit ist der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis) und der dagegen eintretende logische Eigensinn (sensusprivatus)" (Kant 1917, 219). Er unterscheidet dabei eine tumultuarische, methodische und systematische Verrücktheit (ebd., 214). Für uns besonders interessant ist die letzte Form der Verrücktheit, weil Kant darin die Idee formuliert, daß es ein „System" im Wahnsinn gebe. Ich möchte die entscheidende Passage wegen ihrer klaren Formulierung und Relevanz ganz zitieren: „Denn es ist in der letzteren Art der Gemüthsstörung nicht blos Unordnung und Abweichung von der Regel des Gebrauchs der Vernunft, sondern auch positive Unvernunft, d . i . eine andere Regel, ein ganz verschiedener Standpunkt, worein, so zu sagen, die Seele versetzt wird, und aus dem sie alle Gegenstände anders sieht und aus dem Sensorio communi [...] sich in einen davon entfernten Platz versetzt findet (daher das Wort Verrückung)\ wie eine bergichte Landschaft, aus der Vogelperspective gezeichnet, ein ganz anderes Urtheil über die Gegend veranlaßt, als wenn sie von der Ebene aus betrachtet wird. Zwar fühlt oder sieht die Seele sich nicht an einer andern Stelle [...]; aber man erklärt sich dadurch, so gut wie man kann, die sogenannte Verrückung." (Ebd., 216) In Kants Orientierung an der wörtlichen Bedeutung von Verrückung wird sehr schön der Gedanke einer anderen Perspektive offenbar. Gemäß Kants Lehre von

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den Erkenntnisvermögen ist beim „Aberwitz" eine systematische Veränderung des obersten Erkenntnisvermögens, der Vernunft zu finden, die in diesem Falle gemäß anderen Regeln urteilt. Wenn wir von Kants Unterscheidung der verschiedenen Erkenntnisvermögen und deren Verflechtungen mit dem transzendentalen Programm abstrahieren, dann können wir in diesem Verständnis der systematischen Verrücktheit jene Thesen erkennen, unter denen Gregory Bateson, der Begründer eines kommunikationstheoretischen Verständnisses der Schizophrenie, den Wahnsinn als „Charakteränderung" bzw. als Veränderung des „Interpretationssystems" von Wirklichkeit beschreibt, das er wie Wittgenstein auch als Grammatik bezeichnet. Ich möchte zum Abschluß noch zeigen, daß es bei einer systematisch anderen Perspektive, „Wirklichkeit" zu kategorisieren, logisch gesehen kein „Irren" gibt, da wir es mit einer anderen Grammatik bzw. Logik zu tun haben. Das Problem des „Irrens" diskutiert Wittgenstein im Zusammenhang des mathematischen Regelfolgens. Folgt jemand einer arithmetischen Regel nicht, so stellt sich die Frage, ob man hier von Irrtum oder von einer Geistesstörung reden soll; für Wittgenstein gibt es grundsätzlich keine scharfe Grenze zwischen beiden: „Sähe ich einmal von meinem Fenster statt der altgewohnten eine ganz neue Umgebung, benähmen sich die Dinge, Menschen und Tiere, wie sie sich nie benommen haben, so würde ich etwa die Worte äußern ,Ich bin wahnsinnig geworden'; aber das wäre nur ein Ausdruck dafür, daß ich es aufgebe, mich auszukennen. Und das gleiche könnte mir auch in der Mathematik zustoßen. Es könnte mir z.B. scheinen, als machte ich immer wieder Rechenfehler, so daß keine Lösung mir verläßlich erschiene. Das Wichtige aber für mich daran ist, daß es zwischen einem solchen Zustand und dem normalen keine scharfe Grenze gibt." (Z, 393) Das für meinen Zusammenhang relevante Ergebnis von Wittgensteins Diskussion um das „Irren" sieht im wesentlichen so aus: Wird ein solcher Fehler beim Rechnen häufig oder immer gemacht, so wird die Rede vom „Irrtum" fraglich, denn um sich irren zu können, „muß man schon mit der Menschheit konform urteilen" (ÜG, 156), d. h. ein gewisses Maß an Ubereinstimmung muß vorausgesetzt werden, von der her etwas als „Irrtum" charakterisiert werden kann. Ist dieser Grundkonsens nicht mehr gegeben, kann der Irrtum als solcher nicht mehr eingesehen werden, so wird auch die Rede von einem „Irrtum" sinnlos. Die Konformität im gemeinsamen Urteil scheint dann nicht mehr gegeben, der Konsens prinzipiell aufgehoben und eine konsensfähige Kritik unmöglich. Dies gilt nicht nur für den Bereich des mathematischen Regelfolgens, sondern für alle Bereiche, in denen wir es mit Regelfolgen zu tun haben, also für das Sprechen, das Denken und das Handeln. Ein solches konsensuelles Auseinanderklaffen zwischen Individuen scheint bei den meisten Formen der Schizophrenie vorzuliegen, so daß die Rede vom Geisteskranken als „Irren" selbst ein irreführendes Bild ist, denn

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der Kranke irrt sich nicht, so daß er den Irrtum einsehen könnte. Dies wird deutlich in Wittgensteins Auseinandersetzung mit Moore in Uber Gewißheit. Hier macht Wittgenstein den Unterschied zwischen Wahrheit und Gewißheit deutlich; die im Tractatus noch ausgeschlossene Intentionalität, der Glaube an bestimmte Sätze, geht als logische Voraussetzung in die Grammatik des Spiels ein: „Wenn mein Freund sich eines Tages einbildete, seit langem da und da gelebt zu haben, etc. etc., so würde ich das keinen Irrtum nennen, sondern eine, vielleicht vorübergehende, Geistesstörung. Nicht jeder fälschliche Glaube dieser Art ist ein Irrtum. Was aber ist der Unterschied zwischen Irrtum und Geistesstörung? Oder wie unterscheidet es sich, wenn ich etwas als Irrtum oder als Geistesstörung behandle? Kann man sagen: Ein Irrtum hat nicht nur eine Ursache, sondern auch einen Grund? D. h. ungefähr: er läßt sich in das richtige Wissen des Irrenden einordnen." (ÜG, 71-74) Der Irrende läßt sich also prinzipiell davon überzeugen, daß seine Annahme, sein falscher Glaube, daß p, falsch war, und er kann Gründe geben, warum er zum falschen Glauben, daß p, gelangt ist. D. h. der Irrtum läßt sich „in das richtige Wissen des Irrenden einordnen", denn der Irrende akzeptiert mit seinem Irrtum die Grundlagen des problematisch gewordenen Spiels. Die Sätze, die Moore als genuine Wissenssätze versteht (beispielsweise: „Ich weiß, daß ich einen Körper habe"), sind für Wittgenstein Sätze unseres Bezugssystems, sie sind grammatische Sätze, und es ist sinnlos, sie als Wissen behaupten und theoretisch begründen zu wollen, denn sie liegen als redundante, tautologische Paradigmen am Grunde des Spiels. Daher behauptet Wittgenstein auch, wenn Moore das Gegenteil seiner Sätze annehmen würde, dies nicht für einen Irrtum gehalten werden könnte, sondern für eine Geistesstörung (ÜG, 155). Denn dann hätte er die Basis unseres gemeinsamen Bezugssystems, unserer Grammatik verlassen und wäre nicht vom Gegenteil überzeugbar: „Wer annähme, daß alle unsre Rechnungen unsicher seien und daß wir uns auf keine verlassen können (mit der Rechtfertigung, daß Fehler überall möglich sind), würden wir vielleicht für verrückt erklären. Aber können wir sagen, er sei im Irrtum? Reagiert er nicht einfach anders: wir verlassen uns darauf, er nicht; wir sind sicher, er nicht." (ÜG, 217; Herv. v. H. R. F.) Hier deutet Wittgenstein an, daß wir in einem solchen Falle eine andere Lebensform vor uns hätten, mit der ihr je eigenen Rationalität, ein anderes Glaubenssystem, aus dem sich andere Verhaltensweisen ergeben, und da wäre es sinnlos, von einem Irrtum zu reden oder den Anderen von seinem Irrtum überzeugen zu wollen. Eine Einsicht in den Irrtum, den irrigen Glauben ist deshalb ausgeschlossen. In solchen Fällen wären also die „Wahrheiten" unseres Bezugssystems nicht gültig bzw. nicht gemeinsames Fundament, an dem ein Zweifel enden würde.

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Wenn Wittgenstein im Zusammenhang des Irrens bzw. „Verwirrtseins" schreibt: „Hier ist wieder ein Schritt nötig ähnlich dem der Relativitätstheorie" (ÜG, 305), so drückt er damit aus, daß die „Wahrheit" der grammatischen Regeln nur relativ zu unserem Weltbild, zu unserer Grammatik eben „Wahrheiten" sind, und darin kann man sich prinzipiell nicht irren. Eben das spiegelt unsere Erfahrung im Umgang mit Verrückten, daß sie sich nicht irren, sondern daß ihr Denken und Handeln einer aus dem kommunikativen Kontext heraus verständlich werdenden Rationalität folgt. Darin liegt ein Schlüssel zum Veständnis der gegenüber der üblichen Grammatik irrationalen Logik verrückter Sprachspiele.

Matthias Kroß (Potsdam)

Philosophieren in Beispielen. Wittgensteins Umdenken des Allgemeinen

Der Umgang mit Beispielen scheint schon in der Antike ein grundsätzliches Problem für die Philosophie gewesen zu sein.1 Folgt man Aristoteles, beschäftigt sich eigentliche Theorie, die scientia, nicht mit dem Partikularen, dem Einzelfall, sondern nur mit dem Allgemeinen (vgl. Metaphysik, 1027a, 20-27; Analyticaposteriora, 87b, 19 f.). Das Beispiel ist aber eine Partikularität, wenn auch schon je eine ausgezeichnete. Zunächst gilt: Das Anführen von Beispielen gehört dem Reich des Bedingten, Vergänglichen und Kontingenten an. Zugleich aber weist seine Erzählung (der konkrete Fall) oder seine Anführung (als Partikulares gegenüber dem Allgemeinen) über sich hinaus auf dieses Allgemeine. Das Beispiel besitzt daher eine Zwischenstellung; je nach Kontext kann es dem Partikularen oder aber dem Allgemeinen zugeordnet werden. Das Beispiel bleibt an seinen Kontext gebunden, auch wenn es eine Öffnung auf etwas Allgemeines, über das Beispiel Hinausgehendes bedeutet. Diese Zwischenstellung des Beispiels wirft eine Reihe von Fragen auf. Innerhalb der abendländischen Philosophietradition haben diese zu folgenreichen Weichenstellungen geführt, welche sich am besten vielleicht mit einer logischen Überlegung beschreiben lassen: Die Fähigkeit des Beispiels, in einem Einzelfall auf etwas Allgemeines durchgreifen zu können - nämlich das, wofür es steht läßt es als ein bloßes Vehikel dieses Allgemeinen erscheinen. Der Fall, der das Beispiel ist, ist gerade kein Einzelfall, keine Singularität, keine Ausnahme von der Regel, sondern die Veranschaulichung der Regel, des Allgemeinen, dessen, was gewöhnlich (oder immer) geschieht. Hier ist das Beispiel Illustration, und dieser

1 Im folgenden werde ich keine begriffliche Differenzierung zwischen den familienähnlichen Termini „Beispiel", „Gleichnis", „Modell", „Typ", „Muster", „Analogie" etc. v o r n e h m e n , da ein solches U n t e r f a n g e n der Darstellungsintention widerspräche. Einen ausführlichen historischen Überblick über die Begriffsgeschichte bietet Rentsch 1989, 74 ff.

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Umstand befähigt das Beispiel offensichtlich allererst, als solches zu fungieren. Wäre sein Signum die bloße Partikularität, höbe es sich in seiner Funktion auf: Es taugte nicht mehr zur Inkorporation und Veranschaulichung von etwas Allgemeinem. Dagegen aber gilt ebenso: Die Fähigkeit des Beispiels wiederum, das Allgemeine, das in ihm zur Sprache kommen soll, als etwas bloß Partikulares, an den Einzelfall unlösbar Gebundenes erscheinen zu lassen, scheint jenen Allgemeinheitsanspruch schlichtweg zu dementieren. Das Beispiel ist potentiell immer das Gegenbeispiel zu dem, was es exemplarisch zu machen versucht: Es muß ein Eigenes bewahren, das Allgemeine, zu dessen Erläuterung es herangezogen wird, dementieren und einen Eigensinn entfalten. Wäre es eine bloße Illustration, hätte es allenfalls eine mäeutische, eine pädagogische Funktion. Doch es ist mehr. Könnte man das Allgemeine als Allgemeines ausweisen, bedürfte es des Beispiels nicht. Piaton hat die Verwendung von Beispielen in dieser konstitutiven Funktion für das Philosophieren als nicht wesentlich bezeichnet. Es kommt bei ihm vor als Muster, als Urbild der Ideen. Das Verwenden von Beispielen in einem über die Illustration eines Modells oder Urbilds hinausgehenden Sinne fallt für ihn in den Bereich des bloß Rhetorischen. Daher ist es von vornherein des sophismos verdächtig. Dennoch ist unübersehbar, daß gerade auch die philosophische Ablehnung der Rhetorik und der Beispielverwendung im Sinne rhetorischer Strategien selbst der Rhetorik bedarf. Ist etwa Sokrates' Verteidigung gegen den Vorwurf, die schwächere Rede zur stärkeren zu machen, nicht selber in höchstem Maße rhetorisch angelegt (vgl. Apologie, 19b-c.)? Die Reihe rhetorischer Momente im Werk Piatons ließe sich leicht verlängern und so auffassen, daß durch die rhetorisch begründete Ablehnung des Rhetorischen eine begriffliche Umbesetzung erfolgt, die den Logos schließlich von der Rhetorik emanzipiert und diese trotz ihrer quasi-mäeutischen Funktion diskreditiert. 2 Gewiß findet sich bei Aristoteles eine theoretische und philosophisch positivere Haltung gegenüber dem Beispiel. Während Piaton das paradeigma als ein Modell, als ein Muster der idea auffaßte, also im wesentlichen deduktiv vorgeht, ging Aristoteles in seiner Rhetorik gerade umgekehrt davon aus, daß das Beispiel auf etwas Allgemeines oder einen Schluß verweise. Das Besondere deutet auf etwas Allgemeines, auf eine Ganzheit hin, von der es ein Teil ist. Das Beispiel zeigt uns bloße Teile; ihre Verkettung enthüllt nicht das Ganze als solches, sondern knüpft Teil an Teil, Bekannteres an weniger Bekanntes, wie Aristoteles in

2 Vgl. dazu jetzt Figal 1996, bes. 138 ff.

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der Rhetorik schreibt. Das Beispiel, kann man folgern, steht kraft seiner Beispielhaftigkeit für etwas ein, das es zwar nicht ist, auf das es aber hinzuweisen versteht. Es ist mehr als eine bloße Illustration, und sei sie eine auch noch so mustergültige, dessen, was sich auch allgemein sagen ließe, aber es ist weniger als dieses Allgemeine selbst, um das es ihm eigentlich geht, denn dieses Allgemeine kann nicht ausgesprochen werden. Aristoteles beschreibt diese Kraft des Beispiels in seiner Rhetorik als das Nicht-Notwendige, also als das Nicht-Theoretisierbare. Wir können es auch als das Kontingente bezeichnen, als das „Offene", das sich der ehernen Notwendigkeit entzieht und in den Rahmen des systematischen, nämlich auf das Allgemeine gestützte Wissen nicht mehr passen will. Die Besonderheit des Beispielhaften im Vergleich zum theoretisch Notwendigen wird dadurch deutlich, daß sich aus den Wahrscheinlichkeiten des Exemplarischen kein unwiderlegliches Beweismittel ableiten läßt, so daß allgemein zwingende logische Schlüsse über das Enthymem hinaus nicht möglich sind (Rhetorik, 1357b, 19). Das in Beispielen Verhandelte zählt seitdem zum philosophischen Grenzland: Aristoteles ist sich dessen bewußt. Er verwendet einige M ü h e darauf, das bloß Rhetorische in politischer Deliberation, juristischer Argumentation und epideiktischem Vortrag von dem zu unterscheiden, was sich auf das wirklich Lobenswerte, das ethisch Gerechtfertigte und das öffentlich Tunliche positiv bezieht. Schließlich schreibt er der Klugheit das zu, was für die theoria nicht mehr zu bewältigen ist (Nikomachische Ethik, 1141b, 7 ff.). Gleichgültig, welche Ordnungsmuster man für das Exemplarische entwirft in der Fähigkeit, für etwas anderes einstehen zu können, besteht das eigentliche Geheimnis des Beispiels, die es mit der Kraft des Metaphorischen teilt. Diese Fähigkeit läßt sich aber umgekehrt ebenso sehr als eine Spannung begreifen, als eine Kluft, die dem, was Metapher und Beispiel notwendig vorausgesetzt ist, gleichsam innewohnen m u ß , damit Beispiel und Metapher diesen Riß sowohl konstituieren wie überspannen können. Die Lebendigkeit der Metapher, wie Paul Ricoeur sie faßt, besteht in dieser Spannung, dem Aixo eray non era (vgl. Ricceur 1991, 280ff.). Im metaphorein wird die Kluft zwischen dem Paradigmatischen, das konstitutiv wirkt, und der Kontingenz des Recht-Setzens, der politischen Praxis und der gesellschaftlichen Lebensformen offenbar (vgl. ebd., 17f.). Eine ähnliche Zwitterstellung des Beispielhaften bzw. des Exemplarischen findet sich bei Immanuel Kant. Mit seinen Kritiken hat Kant die Realpräsenz einer Idee bzw. Gottes aus der Vorstellungswelt der Philosophie vertrieben; das Allgemeine wird zu einem Instrument des Verstandes, der die Vernunft in ihre Schranken weist. Es bleibt das Vermögen der Erkenntniskräfte, das an sich „Offene" in eine O r d n u n g zu bringen. Sofern das Beispiel als ein Anwendungsfall eines Allgemeinen aufgefaßt wird, geht es allein darum, das treffende, das „gute" Beispiel,

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aufzufinden. Kant reserviert für diese Verwendung den Ausdruck „Beispiel". 3 Die Invention des Beispiels wird zur eigentümlichen Fähigkeit des „Mutterwitzes", der zwar nicht lehrbar, aber letztlich auch nicht zwingend nötig ist. Er ist philosophisch jedenfalls nicht weiter von Belang. In der Kritik der reinen Vernunft soll die apriorische

Grundlage

für die Beispielverwendung gelegt werden. Bei-

spiele, schreibt Kant dort, taugen dazu, das Verständnis zu erleichtern, sind aber keineswegs konstitutiv für den Erkenntnisvorgang. 4 Verwickelter ist die Bewältigung des „Offenen" auf dem Gebiet des Ästhetischen, das in der Kritik Urteilskraft

der

zur Sprache kommt. Über die Modalität des ästhetischen Urteils

heißt es dort: „Vom Schönen aber denkt man sich, daß es eine notwendige Beziehung auf das Wohlgefallen habe. Diese Notwendigkeit nun ist von besonderer Art: nicht eine theoretische objektive Notwendigkeit, wo a priori erkannt werden kann, daß jedermann dieses Wohlgefallen an dem von mir schön genannten Gegenstande fühlen werde; auch nicht eine praktische, wo durch Begriffe eines reinen Vernunftwillens, welcher frei handelnden Wesen zur Regel dient, dieses Wohlgefallen die notwendige Folge eines objektiven Gesetzes ist und nichts anders bedeutet, als daß man schlechterdings (ohne weitere Absicht) auf gewisse Art handeln solle. Sondern sie kann, als Notwendigkeit, die in einem ästhetischen Urteile gedacht wird, nur exemplarisch genannt werden, d.i. eine Notwendigkeit der Beistimmung aller zu einem Urteil, was wie Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird. Da ein ästhetisches Urteil kein objektives und Erkenntnisurteil ist, so kann diese Notwendigkeit nicht aus bestimmten Begriffen abgeleitet werden und ist also nicht apodiktisch." (Kant 1913, B 62f) Für die ästhetische Praxis stellt sich damit das Problem der zugleich „offenen"

3 „[E]in Beispiel ist nur das Besondere (concretum), als unter dem Allgemeinen nach Begriffen (abstractum) enthalten vorgestellt, und blos theoretische Darstellung eines Begriffs." Demgegenüber signalisiert das „Exempel" den besonderen Fall einer „praktischen Regel, sofern diese die Thunlichkeit oder Unthunlichkeit einer Handlung vorstellt". (Kant 1914, 479 f., Fußnote) 4 „Die allgemeine Logik enthält gar keine Vorschriften für die Urteilskraft und kann sie auch nicht enthalten. Denn da sie von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert, so bleibt ihr nichts übrig als das Geschäfte, die bloße Form der Erkenntnis in Begriffen, Urteilen und Schlüssen analytisch auseinander zu setzen und dadurch formale Regeln alles Verstandesgebrauchs zustande zu bringen. Wollte sie nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumieren, d. i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert ebendarum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft; und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will. Daher ist diese auch das Spezifische des sogenannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann." (Kant 1911, B 171 f.)

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wie sich zugleich „schließenden" Nachfolge (imitatio). Einerseits, so Kant, dient das Beispiel dazu, den Maßstab vorzugeben, dem der Künstler, aber auch der ethisch handelnde Mensch nachzustreben habe; andererseits sei der Maßstab für dieses Handeln vom Künstler oder dem Menschen in seinem moralischen Handeln allererst zu entwickeln. Diese Fähigkeit, etwas offenkundig Unvereinbares dennoch zu vereinen, macht für Kant das Genie bzw. die moralische Autonomie, die Freiheit des Subjekts aus (Lloyd 1995, bes. 259 f.). Indem Kant darauf verzichtet, seinen Diagnosen eine metaphysische Stützkonstruktion einzuziehen, hat er das Problem des Beispielfolgens in der Moderne in seiner Widersprüchlichkeit, aber auch in seiner kreativen Dynamik mustergültig formuliert. Wenn das Urbild, das kraft seiner Ur-Bildlichkeit das Vor-Bild abgeben soll, philosophisch nicht mehr einholbar ist, weil sich nicht bestimmen läßt, worin dieses denn bestehen könnte, dann bedarf es stets der Selbst-Schöpfung des Vorbildes in seinen Nachbildern in einem zweifachen Sinne: Einerseits erzeugt der Künstler (das Genie) oder der moralisch integre Mensch Maßstäbe, die formal sich an der Moralität der Menschheit orientieren - gerade dies macht diesen Menschen und zugleich die Maßstäbe vorbildlich - andererseits ist klar, daß die Verwirklichung dieser selbst erzeugten Maßstäbe jeweils historisch, also durch Tradition und Umstände oder, wie Kant sich ausdrückt, durch heteronome Momente, geprägt sind. Es muß zwangsläufig offen bleiben, auf welche Weise diese Verschmelzung eigentlich von statten gehen kann; daß Kant das Genie als Träger eines besonders entwickelten Vermögens bemühen muß, ist verräterisch. Es hat den Anschein, als ob er sich mit der merkwürdigen Kreisbewegung, in der das Genie das Allgemeine in seinem je besonderen ästhetischen Tun allererst aufruft und „setzt" und doch zugleich ihm bloß folgt, zufrieden gegeben hätte. Man wird Derrida zustimmen können, wenn er den von Kant im Bereich des Ästhetischen beschriebenen „Übersprung" des im Beispiel Thematisierten zu dem, worauf das Beispiel verweist, als ein Rätsel bezeichnet. Denn sobald offen bleiben muß, ob das Ganze, woraufhin das partikulare Beispiel „gerichtet" ist, überhaupt unabhängig von dem besteht, was allererst im Akt des Verweisens mittels eines Beispiels konstituiert wird, ist die im Beispielhaften angelegte Allgemeinheit fragwürdig (vgl. Derrida 1994, bes. 248 ff.). 5

5 Es m u ß dahingestellt bleiben, ob Derrida trotz seiner kritischen Haltung gegenüber der abendländischen Tradition eine „Lösung" der Beispiel-Problematik beabsichtigt. Zumindest darf bezweifelt werden, ob sie ihm gelingt, wenn man mit Wittgenstein unter „Lösung" eines Problems die „Auflösung" des Problems versteht, da Derrida den Horizont der abendländischen Metaphysik wohl ausschreitet, aber nicht äferschreitet.

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I. Diese merkwürdige Beschaffenheit des Beispiels: Modell und Anwendungsfall, Illustration und Paradigma, Konstitutivum und Konstituiertes in einem zu sein, markiert den Ausgangspunkt, an dem auch Wittgenstein seine Auseinandersetzung mit dem Beispiel einsetzen läßt. Ich glaube, daß Wittgenstein eine überzeugende, vielleicht sogar unwiderstehliche Antwort auf das obstinate Problem des Exemplarischen gegeben hat. Ich werde im folgenden zunächst Wittgensteins philosophische Entwicklung zum Denker des Beispiels skizzieren, sodann seine Methode des Exemplifizierens darstellen und am Ende meiner Ausführungen versuchen, einige wenige Bemerkungen über die zukünftigen philosophischen Chancen eines „Denkens in Beispielen" anstelle eines Denkens in größtmöglicher „Allgemeinheit" geben. Wittgenstein geht es gewiß nicht um den Beispieleinsatz im Sinne einer philosophischen Sokratik, also der Beförderung philosophischer Professionalität. 6 Es geht ihm auch nicht um das Plädoyer für eine spezifische Theorie des Exemplarischen im Zusammenhang mit einer „Logik des Beispiels". 7 Er möchte auch nicht differenzlogisch wie Derrida das Scheitern des Exemplarischen an dem, was dessen Anderes ist, aufweisen; er spielt nicht den Rahmen, den Rand gegen das Zentrum, nicht das Transgredierende gegen das Regelhafte aus. 8 Gewiß hat er auch kein Interesse darin, wie Adorno die Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes zu beobachten. In bezug auf die Metaphysik ist Wittgenstein mehr als ein Vorfall; er will ihren Fall nicht nur diagnostizieren, sondern betreibt aktiv ihre Destruktion. Wittgensteins Untersuchung zur Exemplarität des Exemplarischen richtet sich darauf, an der Beispielverwendung die Normativität der im Beispielgebrauch vollzogenen Gleichsetzung dessen, wovon das Beispiel konkret handelt, und dem, worauf es deutet, zu zeigen, gleichsam die Gestik der Beispielsverwendung deutlich zu machen. Daran anknüpfend gibt es für Wittgenstein und, wie meine, auch für uns - ein Weiterdenken nach dem Fall von der Höhe des Allgemeinen, ohne die Gefahr eines Rückfalls in die Metaphysik. Die Frage nach der Exemplarität des Exempels stellte sich Wittgenstein zur Zeit der Abfassung der Abhandlung nur am Rande. Der Grund für dieses Ubersehen des Problems ist im wesentlichen in der merkwürdigen Ontologie und Metaphy-

6 Wie Wünsche 1985 gezeigt hat - und wie jeder Leser der Wittgenstein-Texte leicht selber feststellen wird - ist Wittgensteins philosophischer Eros nicht frei von pädagogischen Ambitionen, allerdings nicht im Sinne der traditionellen Philosophie. Vgl. zum Beispieldenken im Verständnis exemplarischen Lernens vor allem Buck 1969. 7 Eine solche Absicht vermutet Marcuschi 1976. 8 Vgl. einen entsprechenden Versuch Rehbergs 1995.

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sik des Traktates zu suchen, die sich auf die Grenzen des sinnvoll Sag- und Denkbaren richtet. Ein solcher Grenzgang, der dem Projekt der Kritiken Kants gewiß nicht unähnlich ist, läßt für Beispiele kaum Raum. Für den frühen Wittgenstein zählt nicht die Untersuchung der Arbeit der Logik an der Konfiguration eines Gegenstandes, sondern deren Arbeite» selbst, gleichsam die Logik sans phrase. Dieses Arbeiten der Logik ist eben das, was im Tractatus der Fall ist, alle Tatsachen dieser Welt sind virtuell ihre Beispiele; alles, was der Fall ist, kann als Beispiel dienen. Warum finden sich trotz dieser Abundanz möglicher Beispiele für das Funktionieren der Logik im Tractatus nur so wenige Beispiele? Der Grund liegt in der im Tractatus vertretenen Isomorphiebehauptung zwischen der Logik und der Welt. Die logischen Sätze, so Wittgenstein, „beschreiben das Gerüst der Welt, oder vielmehr, sie stellen es dar. Sie .handeln' von nichts." (T, 6.124). Dieses Abbilden selbst, seine „Logik", kann wiederum nicht in Beispielen dargestellt werden, sondern innerhalb der Beispiele nur aufgewiesen werden. Es zeigt sich (es kann sich auch nur zeigen). Das, was die Anwendung der Logik auf den einzelnen Fall, der als (oder zum) Beispiel für diese Anwendung dienen soll, zeigt, ist diese Logik selbst, die mit ihrer Anwendung stets in Einklang stehen muß: „Die Logik muß für sich selber sorgen." (T, 5.47); oder: „Daß die Logik a priori ist, besteht darin, daß nicht unlogisch gedacht werden kann." (T, 5.4731) Deshalb kann Wittgenstein sagen, daß die Elementarsätze, die es laut Traktat geben muß (T, 5.5561 ff.) und die aus den Namen für Gegenstände bestehen, sich aus der Anwendung der Logik selbst allererst ergeben. Sie können also nicht durch andere vertreten werden, d. h. sie können für einander nicht als Beispiele dienen. Denn eine solche Beispielhaftigkeit würde etwas voraussetzen, das die Logik des Elementarsatzes überschreitet bzw. hintergeht. Deshalb ist das Fehlen von Beispielen für die ontologische Logik kein Mangel der Abhandlung, sondern im Gegenteil nur ihr folgerichtiges Ergebnis (vgl. T, 5.61). Wenn sich zeigt, daß am Grunde der Beispiele Isomorphiebeziehungen liegen, die selbst nicht mehr zugänglich sind, dann entgleitet der Maßstab, an dem die Exemplarität des Exemplars überhaupt noch abgetragen werden könnte. Deshalb sieht sich der Verfasser der Abhandlung schließlich auch genötigt, die Grenzen der Welt als die Grenzen der Sprache bezeichnen zu müssen, in der alles gleichwertig ist. In der Welt des Tractatus kann es keine logische Hierarchie geben. Der Tractatus kann zur Begründung der Geltung seines Logik-Begriffes selbst keine Logik mehr namhaft machen. Er ist in seiner Logik selbst a-logisch. Er ist daher in einem logischen Sinne in seinem Gefüge weder stringent noch konsequent; er setzt die Geltung dessen, was er zu zeigen bemüht ist, immer schon voraus. Indem er eine Isomorphiebeziehung zwischen der Logik und der Welt in ihrer Struktur behauptet, beraubt er sich per definitionem der Möglichkeit, sich

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selbst als ein treffendes, erhellendes oder gar schlagendes Beispiel für diese Isomorphiebeziehung zu thematisieren. Das Werk dementiert sich am Ende selbst (vgl. Hacker 1997, 87-118). Das berühmte Diktum, daß man von dem, worüber man nicht sprechen könne, schweigen müsse, ist kein Epilog zum Werk, sondern integraler Bestandteil der Abhandlung selbst. Gleiches gilt von dem Bild der Leiter am Ende der Abhandlung. Die Leiter, jenes transitorische Medium des Aufstiegs, wird ja gerade fortgeworfen. Der, welcher das Beispiel des Tractatus überwindet, „sieht die Welt richtig" (T, 6.54). 9

II. Der Tractatus endet bekanntlich in jenem Schweigen, das die Schau des absoluten Außen, das in keiner Beziehung mehr zu dem, was sich logisch organisieren läßt, impliziert: eine sowohl ästhetisch, philosophisch wie ethisch aufgeladene Haltung der „richtigen Weltsicht" (vgl. T, 6.54). Derjenige, der über die Leiter aufgestiegen ist und sodann das Mittel dieses Aufstiegs, die „Leiter", fortgeworfen hat, also derjenige, der in einem absoluten Sinne „oben" ist, verharrt in der ineffablen Luftigkeit des Mystischen, der coincidentia oppositorum, in unbewegter Bewegung. 10 Alle Bezüglichkeit und damit alle Beispielfähigkeit ist verschwunden. Die Logik und das jenseits ihrer Grenze Angesiedelte, das Mystische, stehen bezogen und doch zugleich „unvermittelt" zueinander. Es ist diese Universalität und Abgeschlossenheit der Onto-Logik, die Wittgenstein zur Entdeckung des Beispiels als des Mediums der „Offenheit" führt. Er schreibt bald nach seiner Rückkehr nach Cambridge unter offensichtlicher Anspielung auf die Abhandlung: „Wenn der Ort, zu dem ich gelangen will, nur auf einer Leiter zu ersteigen wäre, gäbe ich es auf, dahin zu gelangen [...]. Was auf einer Leiter erreichbar ist, interessiert mich nicht." (VB, 460) Wenn die Logik und das Sein in einer Onto-Logie zusammenfallen und ein logisches absolutum des Denkens erreicht ist, dann ist die philosophische Erstarrung erreicht. Es gibt dann kein Zurück mehr. Wenn der Wittgenstein der Spätphilosophie nun die

9 Selbstverständlich ist auch die Abhandlung kein Beispiel im illustrativen Sinn. Derjenige, der das Buch verstanden hat, kann den Traktat eigentlich nur einmal lesen. Er soll ja eben die Leiter fortwerfen, nachdem er sie erklommen hat. Die Wiederlektüre eröffnet neue, andere Kontexte, weil sie die Erstlektüre bereits mit umschließt. Dies ist das Thema der interessanten Interpretation von Majorie Perloff (Perloff 1996, xiv). 10 In PT gibt Wittgenstein selbst eine Erläuterung zu seinem Leiter-Bild. In einer als Satz 6.55 eingeordneten Passage heißt es: „Er muß diese Sätze überwinden dann kommt er auf der richtigen Stufe [zu dem was sich sagen läßt.] zur Welt." - „Die richtige Stufe" gehört offensichtlich nicht mehr zur Leiter.

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Leiter wegzuwerfen beabsichtigt, dann nur, um sich von dem Leitermotiv des Aufstiegs und des „Überstiegs" zu einem absoluten, logischen Allgemeinen nicht länger leiten zu lassen.11 So betrachtet, kann der Tractatus nunmehr selbst als ein Beispiel für das Streben nach unbedingter Allgemeinheit gelesen werden. Und zugleich wird klar, daß er ein gutes Beispiel für die Unerreichbarkeit des philosophischen Allgemeinheitsstrebens ist: Es ist ein Verfahren, das die „Allgemeinheit" bis in die Spitze der eingestandenen Unsinnigkeit treibt. Wittgensteins Wendung gegen diese Allgemeinheit folgt zwei komplementären Strategien: einerseits wird in kritischer Wendung gegenüber dem Tractatus die Rolle der Sprache im Prozeß der Erkenntnis neu gefaßt; andererseits ergibt sich daraus der methodische Beispieleinsatz, um das philosophisch Allgemeine in das „interessante Allgemeine", d. h. in das nicht-absolute, sondern kontextabhängige Allgemeine „umzudenken" (vgl. BGM, 301). Wittgenstein gründet seine mit dem Neueinsatz seines Philosophierens nach 1929 erfolgende Kritik auf ein „undogmatisches Verfahren", das sich, wie es im traktat-kritischen Teil der Philosophischen Untersuchungen heißt, durch eine „Drehung" (vgl. PU, 108) der Betrachtungsperspektive ergibt. Er bezeichnet die Abhandlung als „dogmatisch", weil in ihr die Unmöglichkeit sinnvoller allgemeiner (oder philosophischer) Sätze über die Welt mit untauglichen Mitteln, nämlich unter Verwendung solcher allgemeiner Sätze, nachgewiesen werden solle. Wenn der Sprache aber nur innerhalb der Sprache eine Sinn-Grenze gezogen werden kann, dann markiert nicht der Sinn diese Grenze, sondern umgekehrt die Sprache die Grenze des Sinns; die Frage nach der Grenze und der Möglichkeit sinnvollen Sprechens ist in der Sprache zu situieren 12 : Gerade der Tractatus gilt in dieser neuen Perspektive der Sprachimmanenz nunmehr als eine Möglichkeit des Umgangs mit Sprache, als ein Beispiel - wenn auch eben ein zutiefst irreführendes - für das Funktionieren der Sprache (vgl. Malcolm 1987, 114). In seinem Gespräch mit Waismann über Dogmatismus ist die neue Methode der Beispielverwendung bereits am Werk: „Den Unterschied zwischen einem dogmatischen und einem undogmatischen Verfahren möchte ich durch ein Beispiel andeuten", heißt es dort (WWK, 185; Herv. v. M. K.). In dem 1933/1934 verfaßten Blauen Buch erläutert er seine Neuerung durch die ausgiebige Diskussion der traditionellen Auffassung des Allgemeinen bzw. des Status' von Allgemeinaussagen. Die Argumentation richtet sich besonders gegen die essentialisti-

11 So äußerte Wittgenstein gegenüber Waismann am 9. 12. 1931: „Ich habe einmal geschrieben: Die einzig richtige Methode des Philosophierens bestünde darin, nichts zu sagen und es dem andern zu überlassen, etwas zu behaupten. Daran halte ich mich jetzt." (WWK, 183). 12 In diesem Sinne argumentiert auch Wallner 1983, 70ff.

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sehe Fragehaltung bisheriger Philosophie: „Wenn wir sagen, daß Denken wesentlich ein Operieren mit Zeichen ist, dann könnte deine erste Frage sein: ,Was sind Zeichen?' - Statt dir irgendeine allgemeine Antwört auf diese Frage zu geben, werde ich dir vorschlagen, bestimmte Fälle [...] unter die Lupe zu nehmen." (BB, 36) Sodann beschreibt Wittgenstein den beispielhaften „Fall", wie ein Kaufmann anhand einer schriftlichen Anweisung Waren für den Kunden zusammenstellt. Für dieses Handeln nach sprachlichen Zeichen führt er den Begriff „Sprachspiel" ein. Wittgensteins Resümee seines Kaufmann-Beispiels: „Wenn wir die Probleme von Wahrheit und Falschheit, von der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Sätzen mit der Wirklichkeit, von der Beschaffenheit von Behauptung, Annahme und Frage studieren wollen, dann wird es von Vorteil sein, primitive Sprachformen zu untersuchen, in denen diese Denkformen ohne den verwirrenden Hintergrund äußerst komplizierter Denkprozesse auftreten. Wenn wir solche einfachen Sprachformen untersuchen, dann verschwindet der geistige Nebel, der unsern gewöhnlichen Sprachgebrauch einzuhüllen scheint." (Ebd., 37) Wittgenstein charakterisiert das Sprachspiel dabei als einen Kalkül (vgl. WWK, 168 ff.), der zum simplifizierten Modell für die äußerst „komplizierte [n] Denkprozesse" dienen soll. Die im Tractatus vorgetragene Auffassung, daß es innerhalb der Sprache unterschiedliche Grade der Allgemeinheit im Sinne einer zunehmenden „Reinheit" des Sprachmaterials gibt, ist damit noch nicht endgültig überwunden. Noch immer trägt für Wittgenstein die Alltagssprache „ein Kleid", das nicht „auf die Form des bekleideten Gedankens schließen" (T, 4.002) läßt, und offensichtlich sollen - ganz im Sinne eines logisch kontrollierten Sprachaufbaus - „primitive" Sprachformen als elementare Bausteine für den Aufbau komplexer Systeme verwendet werden, etwa wenn die reduzierte Sprache eines Kindes die einfachen Regeln offenbaren soll, die „klar und durchsichtig" sind. Die gegenüber dem Tractatus wichtigste Neuerung des frühen Sprachspielkonzepts besteht vor allem in der Erwägung, daß die kalkülisierte Sprachverwendung nicht mit dem Ideal- oder dem freilich nicht augenfälligen Allgemeinfall des Sprachgebrauchs gleichzusetzen ist, sondern nur einen Gebrauchstyp der Sprache neben anderen vorführt (vgl. BB, 39ff.). Der Kalkül gilt als ein Beispiel für das Funktionieren von Sprachspielen; er kann keine allgemeine Verbindlichkeit für sich reklamieren; er ist ein „Zentrum der Variationen" (BB, 190). Die Auflösung der essentialistischen Frage nach der Sprache und die Einsicht, daß das Problem der Sprache in die Pluralität von „Sprachspielen" aufzulösen ist, wirft unweigerlich die Frage auf, ob es in den Sprachspielen etwas gibt, das als Allgemeines in ihnen enthalten ist, das die Anwendung der Regeln, nach de-

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nen Sprachspiele funktionieren, garantiert und das wiederum zum Gegenstand eines eigenen Sprachspiels gemacht werden kann. Folgt das konkrete Sprachspiel einer verborgenen „Anweisung", die als seine Struktur, seine „Form", vielleicht sogar als ein A priori zu bezeichnen wäre und die das korrekte, regelkonforme Sprechen ermöglicht und gewährleistet? Im Blauen Buch, einem Dokument der Übergangsphase Wittgensteins, hat es manchmal in der Tat noch den Anschein. Doch ebenso ist unübersehbar, daß Wittgenstein sich bereits in ihm gegen die „Bestrebung" wendet, „nach etwas Ausschau zu halten, das all den Dingen gemeinsam ist, die wir gewöhnlich unter einer allgemeinen Bezeichnung zusammenfassen." Auf den Ausdruck „Sprachspiel" übertragen, heißt dies: „Wir sind z.B. geneigt zu denken, daß es etwas geben muß, das allen Spielen gemeinsam ist, und daß diese gemeinsame Eigenschaft die Anwendung der allgemeinen Bezeichnung ,Spiel' auf die verschiedenen Spiele rechtfertigt; während Spiele doch eine Familie bilden, deren Mitglieder Familienähnlichkeiten haben. Einige haben die gleiche Nase, einige die gleichen Augenbrauen und andere wieder denselben Gang; und diese Ähnlichkeiten greifen ineinander über." (BB, 37) Damit ist der entscheidende Schritt zum Pluralismus der philosophischen Betrachtungsweise und zu einer Neubewertung des Beispiels für die philosophische Reflexion vollzogen. Das Gebiet der (philosophischen) Sprachanalyse hat sich damit fast ins Unermeßliche erweitert; die Unschärfe der Betrachtung, die gezielt Ubergänge, Ähnlichkeiten, Differenzen und Heterogenitäten und die unerschöpfliche Wandelbarkeit der für die Sprachhandlungen konstitutiven „Voraussetzungen" (vgl. PU, II, 491) in die Analyse einbezieht, wird methodisch fruchtbar: Sprachspiele sollen nicht länger hierarchisiert, sondern lediglich differenziell beschrieben werden. Die Analyse durchquert die Sprache, statt diese an der philosophischen Fragehaltung längszuführen. Sie erkennt die Unermeßlichkeit und Unerschöpflichkeit der Sprache als Ausgangs- und Zielpunkt der philosophischen Tätigkeit an: „Ich werde keine allgemeine Definition von ,Satz' zu geben versuchen, denn das ist nicht möglich. Es ist genauso wenig möglich wie die Angabe einer Definition des Wortes ,Spiel'. Denn jede Grenzlinie, die wir womöglich zögen, wäre willkürlich. Über Sätze reden wir immer im Sinne spezifischer Beispiele, denn wir können nicht allgemeiner über sie reden als über spezifische Spiele." (VI, 170) In den Philosophischen Untersuchungen heißt es im selben Tenor, daß es „unzählige [...] Arten" von Sätzen gebe. Diese Mannigfaltigkeit sei nichts Festes, ein für allemal Gegebenes: „Das Wort .Sprachspiet soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform." (PU, 23; vgl. auch VI, 275) Die gleitende Mannigfaltigkeit des Wort- und Satzgebrauches, die in einer

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korrespondierenden Pluralität der Lebensformen begründet ist, das komplizierte Geflecht von Familienähnlichkeiten, das der Vielfalt menschlicher Lebenspraktiken entspricht (vgl. PU, 25), da diese Praktiken erst den Zeichen eine Zeichenfunktion zuweisen, läßt eine Hierarchisierung sprachlicher Ebenen als Methode der philosophischen Sprachuntersuchung nicht mehr zu. Wenn an die Stelle generalisierender Aussagen oder gar des Gangs an die Grenze der Sprache das Verfahren tritt, mittels der Deskription von Sprachhandeln den Wortgebrauch in die Vielfalt seiner Nuancen aufzugliedern und zu Sprachspielen und der sie steuernden Regeln zusammenzustellen, dann ist dieser Weg über die Beschreibung von Einzelfällen, der Angabe von Beispielen gangbar. Dies macht für Wittgenstein eine weitere Spezifik des Beispiels aus, weil durch das Beispiel die Verbindung zwischen der Regel des Sprachgebrauchs und der Anwendung der Regel allererst hergestellt wird. Während die Regeln als grundlos, insofern willkürlich, und als jeder Rechtfertigung oder Begründung unfähig zu bezeichnen sind (vgl. VI, 70, 79, 108), wird durch ihre beispielhafte Anwendung ihre Regularität erkennbar: „In der Sprache gibt es stets eine Brücke zwischen dem Zeichen und seiner Anwendung. Wir müssen die Kluft selbst überbrücken; das kann uns niemand abnehmen. Keine Erklärung erspart den Sprung, denn jede weitere Erklärung wird ihrerseits einen Sprung benötigen. [...] Nur durch Ausführung der Projektion kann man die Projektionsmethode erklären; und die Projektion findet nur dann statt, wenn sie wirklich ausgeführt wird." (VI, 88 f.) Dem Beispiel kommt die Funktion zu, den Zusammenhang zwischen Regel und ihrer Anwendung zu stiften und damit den Horizont der Regelgeltung zu setzen - durch seinen Einsatz werden Sprache und Wirklichkeit, Zeichen und Bezeichnetes verkoppelt. Die „Lücke [...] zwischen der Regel und ihrer Anwendung", zwischen „dem Zeichen und seiner Anwendung", die den „Sprung" erforderlich macht, wird durch die Verwendung eines Beispiels geschlossen, so daß man ,,[i]m Alltag [...] nie beunruhigt [ist] durch [diese, M. K.] Lücke." (VI, 260 f.) Daß damit der Ausdruck „Beispiel" selbst zu jenen Begriffen gehört, deren Bedeutung schillernd ist und die daher nicht eindeutig werden können, erweist sich im Lichte der Sprachspielanalyse nun keinesfalls als ein Mangel, sondern im Gegenteil als seine philosophische Stärke. Zum Zwecke der Übersichtlichkeit der Darstellung lassen sich grob drei thematische Schwerpunkte der Beispielverwendung bei Wittgenstein unterscheiden (vgl. Marcuschi 1976, 211 ff.): Erstens kann das Beispiel als Anwendungsfall für eine begrifflich-logische Allgemeinheit dienen, so etwa im Falle generalisierter Aussagen innerhalb der Mathematik und der Logik. Hier besitzt es eine bloß illustrative Funktion, es ist gegen die allgemeine Aussage austauschbar. Diese Verwendungsweise entspricht dem Wortge-

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brauch Kants in der Metaphysik der Sitten, d e n n es fungiert als ein „Spielfall eines allgemeinen Satzes", ist „der Ausdruck der Allgemeinheit" (WWK, 206 f.). Das „interessante Allgemeine" ist hier die mittels der Anschaulichkeit eines konkreten Falles erzielte Ersparnis, den Bezug zwischen Einzelfall u n d allgemeiner Aussage jeweils erneut herstellen zu müssen (vgl. BGM, 300f.). Zweitens kann das Beispiel für eine extensionale Allgemeinheit im Sinne naturwissenschaftlicher (vorzugsweise physikalischer) Aussagen stehen. In diesem Falle wird aus d e m Beispiel (bzw. dem Experiment) nicht eine Regel oder Allgemeinheit erschlossen; diese ist vielmehr dem besonderen Anwendungsfall vorausgesetzt. In der wissenschaftlichen Formulierung von „Wenn/dann"-Aussagen drückt sich vor allem die Universalisierung von U n t e r s u c h u n g s m e t h o d e n in bezug auf Erscheinungen aus der Umwelt aus, so wie sie sich der Erfahrung darbietet (ebd.). Auch in diesem Fall läßt sich die Sprachverwendung als ein generalisierter Kalkül auf der Basis von H y p o t h e s e n auffassen, die sich entweder bewahrheiten oder aber falsch sind. Die eigentliche, kritische Relevanz der Wittgensteinschen Sprachspielbeschreibung mittels Beispielen liegt allerdings außerhalb der Gebiete von Mathematik, Logik u n d empirischer Naturwissenschaft. W ä h r e n d die Funktion des Beispiels auf diesen Gebieten aufgrund der formalen Voraussetzungen, die zu ihrem „Spiel" gehören, eindeutig festgelegt ist u n d insofern philosophisch unproblematisch erscheint, wird der Einsatz von Beispielen in der philosophischen Reflexion eine überkritische Größe a n n e h m e n k ö n n e n . Er k a n n z u m Mittel einer philosophischen Sprachkritik dienen, welche die formalisierte ( R e k o n struktion des Sprachgebrauchs als einen Dogmatismus und das Streben nach exakten Begriffsdefinitionen z u m Zwecke des Aufbaus einer kontrollierten Sprache als Irrtum durchschaubar werden läßt: „Wenn ich frage: ,wie ist der allgemeine Begriff des Satzes begrenzt', so m u ß dagegen gefragt werden: ,ja, haben wir d e n n einen allgemeinen Begriff v o m Satz?' - ,Aber ich habe doch einen bestimmten Begriff von d e m was ich ,Satz' nenne.'- N u n , wie würde ich ihn d e n n einem A n d e r n , oder mir selbst erklären? D e n n in dieser Erklärung wird sich ja zeigen, was mein Begriff ist [...]. Ich würde den Begriff durch Beispiele erklären. - Also geht mein Begriff, soweit die Beispiele gehn. - Aber es sind doch n u r Beispiele u n d ihr Gebiet soll ja eben ausdehnungsfähig sein. - Gut, d a n n m u ß t du mir sagen, was,ausdehnungsfähig' hier bedeutet. Die Grammatik dieses Wortes m u ß bestimmte Grenzen haben." (PG, 112) Wittgensteins Verweis auf die Grammatik des Wortes „ausdehnungsfähig" zeigt an, daß für ihn der Gebrauch der Sprache keinesfalls fixiert ist u n d sich nicht im Sinne eines sprachlogischen Kalküls formalisiert dar- u n d damit stillstellen läßt, sondern daß die Kalkülisierung nur ein Ausnahmefall des gewöhnlichen Sprechhabitus der Menschen ist. U m gelingend k o m m u n i z i e r e n zu kön-

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nen, bedarf es nicht der vorgängigen Sanktionierung durch einen fixierten Satz von Definitionen, logischen Operatoren, Funktionen oder Anwendungsvorschriften (es sei denn, das „interessierende Allgemeine" seien diese Kalküle selbst). Ebenso wenig stört der Umstand, daß die Sprecher meist nicht in der Lage sind, die benutzten Begriffe klar zu umschreiben oder gar zu definieren, denn die benutzen Begriffe haben, so Wittgenstein, gar keine prästabile „Definition". Die Annahme, daß wir eine solche Definition haben müssen, wäre wie die Annahme, daß ballspielende Kinder grundsätzlich nur bei strikter Einhaltung der Regeln spielen dürften (vgl. BB, 49). Angesichts der Unschärfe der Alltagssprache, in der Begriffe und Termini von einem schillernden Hof aus (Familienähnlichkeiten und divergenten Gebrauchszusammenhängen umgeben sind, lassen sich auch die „Einsatzorte" des Beispiels nicht präzise angeben. Die Verwendungsmöglichkeiten des Beispiels sind - philosophisch betrachtet ebenso mannigfaltig wie die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele und Lebensformen, zu deren Darstellung sie dienen. Die von Wittgenstein immer wieder angeführten Beispielreihungen und die Verkettungsvielfalt solcher Beispiele sollen verdeutlichen, daß sprachliche Tatbestände zu einer virtuell unendlichen Anzahl von Interpretationsmöglichkeiten ein und desselben Tatbestandes führen können. 13 Interessant wird die Beispielverwendung für Wittgenstein vor allem bei der Lösung philosophischer Probleme. Hier findet man gehäuft Beispiele, die bis zur Absurdität überspitzt oder von vornherein fiktiv sind. Sie sollen zur Verunsicherung bzw. Reductio ad absurdum traditioneller philosophischer Fragehaltungen führen und damit einen Schritt zur Lösung des „Krampfes" des philosophischen Reflektierens leisten: „Nur wenn man noch viel verrückter denkt, als die Philosophen, kann man ihre Probleme lösen." (ÜG, 557) Mittels solcher Verrückungen sollen die philosophischen Probleme in Fluß gebracht sowie das so verhängnisvolle „Starren" auf philosophische Problem konstellationen (vgl. PU, 114) aufgebrochen werden: „In der Philosophie muß man immer fragen: ,Wie m u ß man dieses Problem ansehen, daß es lösbar wird?'" (ÜF, II, 11) - „Man muß in der Philosophie nicht nur in jedem Fall lernen, was über einen Gegenstand zu sagen ist, sondern wie man über ihn zu reden hat. Man muß immer wieder erst die Methode lernen, wie er anzugehen ist. Oder auch: In jedem ernstern Problem reicht die Unsicherheit bis in die Wurzeln hinab." (ÜF, III, 43 f.) Wittgensteins Methode der Beispielverkettungen dokumentiert diese „Unsicherheit", indem sie durch neuartige Sichtweisen der „Probleme" jene Sicherheiten destruiert, die diese Probleme so schwer lösbar erscheinen lassen. Ohne diese 13 In Z, 197 zählt Wittgenstein insgesamt 16 Möglichkeiten der Deutung eines Vexierbildes auf - die Reihung ließe sich beliebig fortsetzen.

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methodische Zielstellung liefe das Beispiel „leer" - es bewegte sich in den traditionellen Bahnen der Exemplifizierung eines bereits vorausgesetzten Allgemeinen, und es fehlte, wie Wittgenstein formuliert, seine „Reibung" (PU, 130), und es erzeugte keinen „Widerstreit" (PU, 107). Deshalb wählt Wittgenstein bewußt das abgelegene Beispiel aus (vgl. BGM, 376); diskutiert ernsthaft den Ausnahmefall, greift zu Fiktionen wie der von dem in den Texten immer wiederkehrenden „primitiven Stamm", dessen Bewohner einmal ohne Seele, nur der Sprache in Befehlen fähig, des Zählens oder Messens unkundig vorgestellt werden; er läßt Marsmenschen auftreten; er bedient sich vorzugsweise des Stilmittels des fiktiven Dialogs. Zuweilen konstruiert er sogar philosophische „Idealsprachen", nur u m damit zu belegen, daß ,,[e]s [...] falsch [ist] zu sagen, daß wir in der Philosophie eine Idealsprache im Gegensatz zu unserer gewöhnlichen Sprache betrachten. D e n n das erweckt den Anschein, daß wir denken, wir könnten die gewöhnliche Sprache verbessern. [...] Wenn wir ,Idealsprachen' konstruieren, dann nicht, um die gewöhnliche Sprache durch sie zu ersetzen; unser Zweck ist vielmehr, jemandes Verlegenheit zu beseitigen, die dadurch entstand, daß er dachte, er habe den genauen Gebrauch eines gewöhnlichen Wortes begriffen. Auch aus diesem Grunde zählen wir mit unserer Methode nicht nur bestehende Wortgebräuche auf, sondern erfinden bewußt neue, davon einige, gerade weil sie absurd erscheinen." (BB, 52; Herv. v. M. K.; vgl. auch PU, II, 542) Der Einsatz fiktiver und absurder Beispiele dient hier dazu, die „Idealsprache" aus ihrem „metaphysischen" (PU, 116) Himmel zu holen und zu einem Vergleichsobjekt zu depotenzieren, das durch „Gleichnisse" (VB, 476) erläutert und damit zur Kontrastfolie für jenen „Dogmatismus" dienen kann, der darin besteht, daß „Alles" einem „Ideal [...] konformieren muß." (VB, 486) Durch das Abweichen von der „gewohnten Richtung" (Z, 373) möchte Wittgenstein freilich nicht nur auf das Unvertraute im Vertrauten aufmerksam machen oder durch Verfremdung die Fremdheit der essentialistischen Sprachkonzeption erscheinen lassen. Die Wittgensteinsche Beispielverwendung soll zugleich die philosophische Sorge über die schädliche Ungenauigkeit des alltäglichen Sprachgebrauchs zerstreuen helfen und am Ende spasmolytisch auf das Philosophenhirn wirken. Selbst die (wissenschaftlich erforschte) „Naturgeschichte" kann zu diesem Zwecke in Dienst genommen werden: So heißt es in den Philosophischen Untersuchungen, daß „wir ja Naturgeschichtliches für unsere Zwecke auch erdichten können" (PU, II, 542), und an anderer Stelle notiert Wittgenstein: „[Wir] können [...] die Fakten der Naturgeschichte benutzen und den tatsächlichen Gebrauch eines Wortes beschreiben; oder es kann sein, daß ich ein neues Spiel für das Wort erfinde, das von seiner tatsächlichen Verwendung abweicht, u m den anderen an seine Verwendung in unserer eigenen Sprache zu er-

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i n n e r n . D e r W i t z ist, d a ß ich gar nichts ü b e r die N a t u r g e s c h i c h t e der Sprache mitteilen k a n n , u n d w e n n ich's k ö n n t e , w ü r d e es auch keinen U n t e r s c h i e d m a c h e n . " (VI, 271) Ebenfalls gegen den p h i l o s o p h i s c h e n Essentialismus gerichtet ist W i t t g e n steins V e r w e n d u n g „primitiver" Sprachspiele, sei es in der Fiktion „eines prim i t i v e n S t a m m e s " , der „tatsächliche [n] primitive[n] Sprache eines K i n d e s " (VI, 281) o d e r in Alltagssituationen, wie etwa bei der Tätigkeit v o n Bauarbeitern (vgl. P U , 2 - 2 2 ) . D e r Ausdruck „primitiv" ist dabei im S i n n e v o n „weniger k o m plex" u n d „übersichtlich" zu verstehen (VI, 276 f.) u n d der Verwendung des Ausdrucks „spezifisch" n a h e v e r w a n d t . Das „Spezifische" an e i n e m „primitiven Sprachspiel" zeigt an, wie „ b e s t i m m t e P h ä n o m e n e im L e b e n " (V2, 231) in sprachlichen Bildern gedeutet werden, o h n e d a ß es d a f ü r eine Erklärung geben k ö n n t e : „Primitive Sprachspiele sind etwas Spezifisches u n d k ö n n e n n i c h t d u r c h Erklärung gelehrt w e r d e n , d e n n jedes v o n i h n e n entspricht e i n e m speziellen S p r a c h g e b r a u c h " (V2, 54) - e i n e m S p r a c h g e b r a u c h , der ein M u s t e r bereitstellt f ü r das S p r a c h h a n d e l n in weiteren S i t u a t i o n e n , die diesem M u s t e r z u g e o r d n e t werden, o h n e d a ß d a m i t begriffliche Allgemeinheit oder sprachlicher Essentialism u s vorausgesetzt werden m ü ß t e n . Es geht Wittgenstein bei der U n t e r s u c h u n g primitiver Sprachspiele „nicht d a r u m , ein Beispiel f ü r eine Theorie zu n e n n e n , s o n d e r n [...] etwas Typisches an [ z u f ü h r e n ] " , das n i c h t d u r c h eine Erklärung beg r ü n d e t w e r d e n k a n n , s o n d e r n v o r jeder Erklärung k o m m t , w ä h r e n d das Verfahren der „Logiker" darin besteht, Begriffe „von e n o r m e r A l l g e m e i n h e i t " als gegeb e n zu b e t r a c h t e n : „Es sieht so aus, als g e w ö n n e m a n sie [ = diese Begriffe, M.K.] d u r c h Beispiele, lassen die Beispiele d a n n fallen u n d gelange so z u m Eigentlic h e n : z u m allgemeinen Begriff." (V2, 417f.) Allerdings, so Wittgenstein, „ u m d e n Preis", das S p r a c h h a n d e l n insoweit a u ß e r acht zu lassen, „als eine wirkliche Vielfalt v o n Gebrauchsweisen, eine Vielfalt v o n S p r a c h r e a k t i o n e n gibt." (V2, 419) M i t der U n t e r s u c h u n g „primitiver Sprachspiele" b e r ü h r t W i t t g e n s t e i n s D e n ken die D i m e n s i o n des Paradigmatischen. In i h m sedimentiert sich eine Regel, die ihrerseits zur (grammatischen) N o r m des Findens weiterer A n w e n d u n g e n bzw. Beispiele wird. Es ist klar, d a ß jedes Beispiel diesen m e t h o d i s c h e n Status erlangen k a n n , i n d e m aufgezeigt wird, d a ß u n d wie sich an i h m eine Regel exemplifiziert. Das Beispiel selbst ist methodisch o h n e das Bestehen einer Regel gar n i c h t d e n k b a r , aber n i c h t in d e m Sinne, d a ß die Regel a u c h u n t e r A b z u g aller ihrer A n w e n d u n g e n sinnvoll als regierende N o r m f o r m u l i e r t w e r d e n k ö n n t e , s o n d e r n in d e m Sinne, d a ß sie ihre Spezifik im S i n n e einer G r a m m a t i k f ü r die Beispielf i n d u n g , also f ü r die A n w e n d u n g der Regel darstellt. Folgt m a n W i t t g e n s t e i n , löst sich das Problematische des Beispiels, das die Philosophiegeschichte durchzieht, in dieser grammatischen B e z i e h u n g zwischen A n w e n d u n g u n d Regel einfach auf.

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III. Bleibt der Platz des absoluten Allgemeinen ,vakant', ergeben sich, zumindest aus der Sichtweise des Sprachspielphilosophen Wittgenstein, neue Freiheitsgrade der Darstellung und der Verknüpfungen von Sprachspielen. Hieraus erwächst immer auch eine kritische Dimension, insbesondere wenn es u m die philosophische Rechtfertigung für die Gleichsetzung des Sprachgebrauchs mit den durch ihn beschriebenen Tatsachen geht. Wittgenstein hat diese kritische Dimension selbst nicht in das Zentrum seiner Darstellung gestellt; dennoch scheint es zumindest implizit, in manchen Passagen in Gestalt der Verfremdung, in anderen Fällen mittels einer feinen Ironie, durchaus vorhanden. Das kontrastierende Verfahren des Wittgensteinschen Beispielgebrauchs bedeutet in einer kritischen Lesart eine epoche ganz eigener Art. Die Inversion der Untersuchung auf die sprachlichen Gegebenheiten, die Wittgenstein durch seine verfremdenden Beispiele immer wieder aufzeigt, vermag das philosophische Vertrauen in jeden philosophischen Realismus oder gar „Naturalismus" nachhaltig zu erschüttern. Er entpuppt sich als ein Stil der Darstellung, der, wie die Mathematik oder die Logik, nicht der Natur, sondern einem Sprachspiel verpflichtet ist (vgl. BGM, 382 ff.). Die Möglichkeit des „Umschlagens" eines Beispiels als ein Illustrativum zu einem Paradigma als Konstitutivum erfordert ein weniger dem Anspruch auf das Allgemeine, als ein an der Kasuistik orientiertes Denken. 1 4 Die Einsicht, daß die Regeln so weit reichen, wie ihre Beispiele gehen, verweist uns auf die Grundlosigkeit des Grundes, auf den wir diese Regeln stellen. Diese Einsicht verliert ihren philosophischen - vor allem relativistischen bzw. skeptischen - Schrecken, wenn sie statt einer bis ins Grundlegende reichenden Verunsicherung ein starkes Vertrauen in unsere Lebenspraxis, Institutionen und des in ihnen zum Ausdruck k o m m e n d e n Denkstils, unserer Weltbilder, unserer Gewißheiten, unserer Lebensformen erzeugt. Indem wir erkennen, daß jedes Beispiel stets ein Beispiel für etwas ist, dessen Geltung wir im Akt der Beispielsetzung implizit oder, methodisch reflektiert, explizit mitkonstituieren oder modifizieren bzw. konterkarieren, dokumentieren wir die Lebendigkeit der auf unsere Art von Beispielen gegründeten Lebensform - ganz im Sinne der Formulierung Ricoeurs, der von einer „lebendigen Metapher" spricht. Doch anders als Ricceur suchen wir nicht nach etwas anderem, das uns dieses Sein-für wie eine Gabe überreichte, sondern wir erkennen die Normativität der Beispielsetzung in dem Akt der Beispielver-

14 Eine historische Propädeutik für ein solches Denken geben Albert R. Jonsen und (der Wittgenstein-Schüler) Stephen Toulmin 1988; vgl. auch Feyerabend 1990, 154f.

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wendung selbst und damit jenes „Interesse", das sich mit dem Allgemeinen verknüpft. Wir wissen also: Die Exemplarität des Exempels verdankt sich keiner transzendenten Instanz, keines verborgenen psychischen Vermögens, sie ist nicht Moment einer Kompetenz zur Interpretation oder einer geheimnisvollen Ubereinstimmung unseres Geistes mit der Wirklichkeit der Dinge. Ein solches Modell war dem abendländischen Philosophieren seit je, von Parmenides bis Husserl, eingeschrieben. Die Erkenntnis als Privileg, die Blickrichtung auf das Eigentliche, das Allgemeine, unaussprechbar an sich, faßbar nur in illustrativen, aber mit dem Mangel der Kontamination durch das Konkrete behafteten Beispielen, als eine Strategie der Konfigurierung des Denkens - das Beispiel kommt zu seinem vollen Recht erst, wenn ein solcher Anspruch gefallen ist. Beginnen wir als Philosophen, in der „Offenheit" von Beispielen zu denken, löst sich der philosophische „Krampf" (VI, 260) und wir vermögen eine Sensibilität für die Zusammenhänge der Kommunikation und ein Gespür für die Faktizität des Daseins zu entwickeln, in der jenes philosophische Allgemeine bereits zu einem „interessanten Allgemeinen" geworden ist. Wir sind dann unterwegs zu einer historischen Anthropologie nicht eines vermeintlichen Verhängnisses, sondern der menschlichen Lebensvollzüge in ihrer Ordinarität und zugleich Originalität. Sobald wir uns weigern, das Eigentliche als das Vorrangige zu denken, nehmen wir freilich nicht Partei für das Uneigentliche, für das Verfallene. Sondern wir verweigern uns dieser Dichotomisierung (vgl. Wheeler 1988). Wir erkennen nach dem Fall der Metaphysik die wesentlich kreative Funktion des Beispiels es ist, wenn auch nicht eine Schöpfung aus dem Nichts, 15 so doch ein Gespinst, das sich selber trägt aber zugleich zur Wirkung kommt, wenn es den Freiraum findet, neue Verknüpfungen zu gestatten. Das Beispiel, von der Funktionszuweisung, ein Diener und eine Bekräftigung eines bereits vorauszusetzenden Allgemeinen zu sein befreit, schafft eine Situation der Offenheit und stiftet zugleich eine tentativ neue Ordnung. Denn ebenso wie das Beispiel die Offenheit seines Einsatzes verbirgt, verhindert der Umstand, daß es ohne Regel undenkbar ist, das Abgleiten der Kasuistik in einen haltlosen Relativismus. Die Grammatik des Sprechens, aber auch die der Lebensform eingeschriebene Grammatik ist insofern stets konservativ. Dieser Regelkonservatismus resultiert zunächst nicht aus einer Entscheidung, einer be-

15 Der cra?i;'o-Gedanke findet sich in bezug auf das Beispiel vor allem bei Augustinus, der in De Trinitate Christus als „sine exemplo nobis exemplum" (VII, III, 5 = CL, SL, L, 253). bezeichnet. Christus ist Idee und zugleich ihre Darstellung im Paradigma, Urbild und Abbild in einem. Wie Regine Münz gezeigt hat, ist dieses Motiv in Wittgensteins Denken tief verwurzelt (Münz 1997, 172 ff.).

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wußten Wahl, sondern aus der Regularität der Regel selbst: Wir sind den jeweiligen Regeln bereits gefolgt, bevor wir sie in Frage stellen. Man kann ihr nicht nur einmal folgen, sondern m u ß sie als Institution (BGM, 334), als übergreifenden Teil unserer Lebens\form und Lebensweise (BGM, 335, 342f.) bereits akzeptiert haben, u m sie in Frage stellen zu können. Einen Ausbruch aus diesem unausweichlichen grammatischen Regelkonservatismus gelingt n u n mit Hilfe, ja aufgrund der Invention desjenigen Beispiels, das in seiner „Setzung" eine neue Regel konstituiert und eine neue Form des Urteilens ermöglicht. Das kreative Beispiel konstruiert einen kühnen Fall als exemplarisch. Es befördert ein analogisches Denken, ist aber zugleich auch kritisch gegenüber einer immer wieder verlockenden Logifizierung des yiwa-logischen (vgl. Gabriel 1996, bes.167ff.; Gabriel 1997). Gewiß werden solche Beispiele per se einen schweren Stand haben, weil sie die Möglichkeit zu einem Paradigmenwechsel eröffnen. Das Herbeiführen des Padigmenwechsels wird die Aufgabe eines revolutionären Beispiels sein. Wissenschaftshistoriker wie Thomas S. Kuhn, Paul Feyerabend, Michel Foucault und viele andere haben geschichtliche Beispiele für solche revolutionären Wechsel gesammelt und Fälle des Paradigmenwechsels analysiert. Welche Beispiele in der Zukunft eine solche paradigmatische Funktion erfüllen können, entzieht sich per definitionem unserer Kenntnis: Es ist ein Rätsel. 16 Aber dieses Rätsel ist ja eben das, was mit dem Ausdruck „revolutionäres Beispiel" gerade bezeichnet werden soll: das „Offene".

16 Vgl. V2, 554 (zum Ende des letzten Jahres Wittgensteins in Cambridge): „Sofern es nicht gelingt zu zeigen, daß ein Rätsel eigentlich kein Rätsel ist, steht man mit wirklichen Rätseln da. Und ein Rätsel ist etwas, was keine Lösung kennt."

Anhang

Literaturverzeichnis

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196

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Schriften Ludwig

Wittgensteins

nebst Siglen

197

Schriften Ludwig Wittgensteins nebst Siglen: A

(1989): Aufzeichnungen über Vorlesungen über „privates Erlebnis" und „Sinnesdaten". In: J. Schulte (Hg.): Wittgenstein. Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt/M., 47-100.

B

(1980): Briefe. Briefwechsel mit B. Russell, G. E. Moore u.a. Hg. v. B. F. McGuiness u. G. H. von Wright, Frankfurt/M.

BB

(1969): Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), Frankfurt/M. (= Schriften 5).

BGM

(1974): Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, (= Schriften 6).

BIBr

(1958): Preliminary Studies for the Philosophical Investigations, Generally Known as The Blue and Brown Books, Oxford.

BPP

(1980): Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Hg. v. G. E. M. Anscombe u. G. H. von Wright, Frankfurt/M. 2 Bde. (= Schriften 8).

BT

The Big Typescript (unveröffentlichter Nachlaß).

LSPP

(1982): Letzte Schriften zur Philosophie der Psychologie. Bd. 1. Hg. v. G. H. von Wright u. H. Nyman, Oxford.

PB

(1981): Philosophische Bemerkungen. Aus dem Nachlaß hg. v. R. Rhees, Frankfurt/M. (= Schriften 2).

PG

(1969): Philosophische Grammatik. Hg. v. R. Rhees, Frankfurt/M. (= Schriften 4).

PT

(1989): Prototractatus. Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition. Hg. v. B. F. McGuinness u.a., Frankfurt/M.

PU

(1969): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. (= Schriften 1).

T

(1969): Tractatus Logico-philosophicus, Frankfurt/M. (= Schriften 1).

TB

(1969): Tagebücher 1914-1916, Frankfurt/M. (= Schriften 1).

TS

Typoskript 302 (unveröffentlicher Nachlaß).

ÜF

(1984): Bemerkungen über die Farben. Hg. v. G. E. M. Anscombe, Frankf u r t / M . (= Werkausgabe, Bd. 8).

ÜG

(1984): Über Gewißheit. Hg. v. G. E. M. Anscombe u. G. H. von Wright, Frankfurt/M. (= Werkausgabe, Bd. 8).

Frankfurt/M.

198

Anhang

VI

(1984) Vorlesungen 1930-35. Cambridge 1930-1932. Aus den Aufzeichnungen v. J. King u. D. Lee. Hg. v. D. Lee. Cambridge 1932-1935. Aus den Aufzeichnungen v. A. Ambrose u. M. MacDonald. Hg. v. A. Ambrose, Frankfurt/M.

V2

(1991): Vorlesungen über die Philosophie der Psychologie 1946/47. Aufzeichnungen v. P. T. Geach, K. J. Shah u. A. C. Jackson. Hg. v. P. T. Geach, Frankfurt/M.



(1968): Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion. Hg. v. C. Barrett. Übers, und eingel. v. E. Bubser, Göttingen.

VB

(1984): Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß. Hg. v. G. H. von Wright, Frankfurt/M. (= Werkausgabe, Bd. 8).

VGM (1970): Wittgensteins Vorlesungen über die Grundlagen der Mathematik Cambridge, 1939. Nach Aufzeichnungen v. R. G. Bosanquet, N. Malcom, R. Rhees u. J. Smythies. Hg. v. C. Diamond, Frankfurt/M. (= Schriften 7). WWK (1967): Wittgenstein und der Wiener Kreis. Aus dem Nachlaß hg. v. B. F. McGuinness, Frankfurt/M. (= Schriften 3). Z

(1984): Zettel. Hg. v. G. E. M. Anscombe u. G. H. von Wright, Frankfurt/M. (= Werkausgabe, Bd. 8).

Zu den Autoren

Jacques Bouveresse lehrt Philosophie am Collège de France in Paris. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen: Wittgenstein. La rime et la raison (1971); dt.: Poesie und Prosa. Wittgenstein über Wissenschaft, Ethik und Ästhetik (1994); Philosophie, mythologie et pseudo-science. Wittgenstein lecteur de Freud (1990); engl.: Wittgenstein Reads Freud. The Myth of the Unconscious (1995); Dire et ne dire. L'illogisme, l'impossibilité et le non-sens (1997). Hans Rudi Fischer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heidelberger Institut für systemische Forschung und Autor zahlreicher Publikationen zu Ludwig Wittgenstein, u.a.: Sprache und Lebensform. Wittgenstein über Freud und die Geisteskrankheit {2., verb. Aufl. 1991), sowie als Herausgeber: Ludwig Wittgenstein. Supplemente zum hundersten Geburtstag (1989). Eugene T. Gendlin lehrt seit 1963 Philosophie und Psychologie an der Universität Chicago. Er ist Gründer und Erstherausgeber der Zeitschrift Psychotherapy: Theory, Research, and Practice (bis 1967). Seit 1995 leitet er das International Focusing Institute of Chicago, an dem soziale und theoretische Anwendungen seiner Philosophie erforscht und gelehrt werden. 1997 erschien, herausgegeben von David M. Levin, der Band Language Beyond Modernism: Saying and Thinking in Gendlin's Philosophy. Peter M. S. Hacker ist Professor für Philosophie am St John's College der Universität Oxford. Er ist Autor zahlreicher Bücher über das Werk Wittgensteins, u.a.: Insight and Illusion (1972, Überarb. Fassung 1986); dt.: Einsicht und Täuschung (1978), sowie, zusammen mit Gordon P. Baker, Verfasser eines vierbändigen analytischen Kommentars zu den Philosophischen Untersuchungen. Zuletzt erschien: Wittgenstein's Place in the Twentieth-Century Analytic Philosophy (1996); dt.: Wittgenstein im Kontext der analytischen Philosophie, (1997).

200

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Matthias Kroß ist wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum in Potsdam. Er ist Autor zahlreicher Aufsätze zur Philosophie Wittgensteins und zu geschichtsphilosophischen Themen sowie von Artikeln für das Historische Wörterbuch der Philosophie. 1993 erschien: Klarheit als Selbstzweck. Wittgenstein über Philosophie, Religion, Ethik und Gewißheit. Er ist, zusammen mit Gary Smith, Herausgeber des Sammelbandes Die ungewisse Evidenz (1998). Thomas Rentsch lehrt seit 1992 Philosophie an der Technischen Universität Dresden. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen neben zahlreichen Aufsätzen und Lexikonartikeln: Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie (1985); Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie (1995). Er ist Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie sowie des Bandes Vernunft und Lebenspraxis (1995). Hans Julius Schneider lehrt seit 1995 Philosphie an der Universität Potsdam. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen neben zahlreichen Aufsätzen: Pragmatik als Basis von Semantik und Syntax (1975), Phantasie und Kalkül (1992) sowie Metapher, Kognition, künstliche Intelligenz (1996). Clemens Sedmak ist seit 1992 Assistent am Institut für Religionsphilosophie der Universität Innsbruck. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen: „Ich kenne mich nicht aus". Theologie - Philosophie - Problemtheorie (1995); Vorherwissen Gottes, Freiheit des Menschen, Kontingenz der Welt. Beitrag zu einer systematischen Diskussion (1995); Kalkül und Kultur. Studien zur Genesis und Geltung von Wittgensteins Sprachspielmodell (1996). Albrecht Wellmer lehrt seit 1990 Philosophie an der Freien Universität Berlin. Neben zahlreichen Aufsätzen zur praktischen Philosophie, kritischen Theorie, Ästhetik und Sprachphilosophie veröffentlichte er u.a.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno (1985); Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik (1986); Endspiele: Die unversöhnliche Moderne. Essays und Vorträge (1993).

Personenregister

Adorno T.W. 174 Aristoteles 85, 153, 169 ff. Augustinus 75, 81, 186 Austin, J.L. 77, 84

Foucault, M. 187 Franck, D. 84 Frege, G. 17, 99, 105, 153, 159, 162 Freud, S. 163

Baker, G.P. 41 f., 94 Bateson, G. 166 Berkeley, G. 60 Bleuler, E. 164 Brandom, R.B. 57, 62 f. Brecht, B. 13 Buck, G. 174

Gabriel, G. 187 Gadamer, H.-G. 61, 74f. Gendlin, E. 11 Goethe, J.W. 159 Goffman, E. 84

Carnap, R. 15, 17f., 26 Cavell, S. 48 Chomsky, A.N. 20 Collingwood, R.G. 115 Davidson, D. 52, 54f., 58,61, 63 ff., 66, 74 f., 91 Derrida, J. 173 f. Descartes, R. 93, 150 Dolezel, L. 80 Dreyfus, H. 17 Eco, U. 78, 89 Einstein, A. 143 Faletta, N. 86 Falkenberg, G. 79, 81 Feinhals, J.J. 92 Feyerabend, P. 185, 187 Figal G. 170

Hacker, P.M.S. 41 f„ 94, 139, 176 Hamann, J.G. 149 Hegel, G.W.F. 150 Heidegger, M. 143, 152f. Herder, J.G. 149 Hertz, H. 115 Hume, D. 60, 140 Husserl, E. 186 James, W. 108 Jaspers, K. 150 Jesus von Nazareth Jonsen, A.R. 185

83

Kambartel, F. 92 Kant, I. 115,133,143,146f„ 150,165,171 ff„ 175, 181 Kraml, H. 88 Kripke, S. 35, 41, 52ff., 55, 60, 69, 90f., 93 f. Kuhn, T.S. 160, 187 Kutschera, F.v. 79

202 Lloyd, D. 173 Locke, J. 150 Lukasiewicz, J.

Personenregister

85

Magee, B. 13, 20 Malcolm, N. 177 Marcuschi, L.A. 174, 180 McDowell, J. 37 Mittelstraß, J. 92 Moore, G.E. 167 Münz, R. 186 Nagel, T. 36 Nietzsche, F. 67, 143, 149 Ockham, W.

88

Parmenides 186 Paulus 86 Pears, D. 34, 119 Perloff, M. 176 Petrus 83 Piaton 170 Quine, W.V.O.

90 f.

Ramsey, F.P. 96 Rehberg, K.-S. 174 Rentsch, T. 169

Rhees, R. 46 Richard, J.A. 130 Richter, V. 87 Ricoeur, P. 171, 185 Russell, B. 87f., 95f., 99f., 104f., l l l f . , 130, 152 Schneider, H.J. 70, 131 Scholz, O. 64 Schulte, J. 77 Searle, J.R. 13,20,80 Sokrates 170 Stetter, Ch. 18 Tarski, A. 54 Thomas von Aquin Toulmin, S. 185 Travis, Ch. 35 ff.

81

Waismann, F. 114, 177 Wallner, F. 177 Werfel, F. 80 Wheeler, S.C. 186 Winch, P. 79, 142 Wright, G.H. von 149 Wünsche, K. 174 Zenon

130