Mit dem Fahrstuhl in die Römerzeit

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Mit dem Fahrstuhl in die Römerzeit

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RUDOLF PORTNE R

M it dem Fahrstuhl in die R öm erzeit STÄ D TE U N D ST Ä T T E N D E U T S C H E R F R Ü H G E S C H IC H T E

EGON-VERLAG GMBH • DÜSSELDORF

Gestaltung des Einbandes und des Schutzumschlages: W erner Rebhulin, Hamburg

l.b is 6 . Tausend: September 1959 7. bis 12. Tausend: Oktober 1959

Alle Rechte der Verbreitung cinscliließlich Film, Funk und Fernsehen sowie der Fotokopie und des auszugsweisen Nachdrucks Vorbehalten. Copyright © bei Econ-Verlag GmbH, Düsseldorf, Pressehaus Gesamthcrstcllung: Droste Verlag und Druckerei GmbH, Düsseldorf, Pressehaus Printed in Germany

INHALTSÜBERSICHT

I Die Suche nach den verlorenen Schlachtfeldern II Pom peji am N iederrhein III Die N eußer «HDV-Festung» IV M it dem Fahrstuhl in die R öm erzeit

Die H auptstadt der M atronen VI Der große W affenplatz am R hein VII Die Teufelsm auer war nur M enschenwerk VIII Eine spätröniische Festungsstadt IX Die «Splendidissima» und der M arktort

R heum a, R ö m er, heiße Q uellen XI V alcntinian und der O berrhein XII A uf der Straße des Ausonius XIII T rier - Kaiserresidenz des W estens XIV R öm ische W asserleitungen in der Eifel

VORW ORT

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit einem Stoff, der bisher nicht nach Gebühr gewürdigt wurde: mit der geschichthchen, geistigen und materiellen Hinterlassenschaft der Römer in Deutschland. Was gibt diesem Thema seinen Rang, sein übernationales Volumen, seine unter­ gründige Aktuahtät ? In der Begegnung von Römern und Germanen stellt sich ein historisches Phänomen erster Ordnung dar. Die antike Welt, repräsentiert durch das militärische, pohtische und zivihsatorische Aufgebot des Imperiums, stieß hier in ein noch unbearbeitetes, aber ungeheuer vitales und aufnahme­ fähiges menschhches Potential - und erlag ihm, nach fast 500jährigen Kämpfen. Ein Vorgang von einer außerordentlichen inneren und äußeren Dramatik, dessen Wirkungen über lange Zeiträume den Wellengang der Gescliichte bestimmten und dessen Femwirkungen noch heute zu spüren sind. Die Cäsaren haben die Chancen und die Gefahren dieser Begegnung von Anfang an richtig erkannt und daher die stärksten Energien des Römi­ schen Reiches in die Rhein-Donau-Gebiete hineingepumpt. So waren die beiden germanischen Provinzen und jene Teile der Gallia Belgica, die wir heute das Moselland nennen, in weitaus intensiverer Weise Objekt ständiger Bemühung als beispielsweise das benachbarte GaUien. Die besten Legionen, die erfolgreichsten Feldherrn, die tüchtigsten Verwaltungsbeamten wurden in diese Gebiete entsandt. Die Mittel und Methoden der Grenzsicherung, der wirtschaftlichen Erschheßung und der kulturellen Integration gelangten hier in der konzentriertesten Form zur Anwendung. Kurz: was damals in Germanien geschah, war von exemplarischer Bedeutung. War auch, wie wir sehen werden, von exemplarischem Erfolg. Denn die Romanisierung der römischen Grenzlande erreichte nirgendwo den gleichen Dichtegrad wie an RJiein und Mosel. Und war schließhch von exemplarischer Wirkung, insofern nämlich, als das Imperium hier wie nirgendwo sonst die Waffen für seinen eigenen Untergang schmiedete, indem es unbedenkhch seine höheren Lebensformen, seine Techniken, seine Erfahrungen an die Besiegten weitergab, diesen am Ende sogar Zutritt zu seinen Heeren gewährte. Die Ergebnisse der Römerforschung in Deutschland - die zusammen­ zutragen in diesem Buch versucht wurde - sind daher nicht nur für den

deutschen Fachgelehrten interessant, sondern auch für seinen Kollegen jen­ seits der Grenzen, und darüber hinaus für jeden, der bereit ist, sich um das Ver­ ständnis der Vergangenheit zu bemühen und aus ihren Erfahrungen zu lernen. Das gilt um so mehr, als in der Auseinandersetzung zwischen Römern und Germanen die seelenverwandelnde Macht des frühen Christentums mit wirkte, der lateinischen Ratio und der germanischen Volkskraft sicli das Sendungsbewußtsein eines Glaubens hinzugesellte, welcher der Vielzahl der alten Götter den alleinigen Gott gegenüberstellte, den aus­ einanderstrebenden Tendenzen der Zeit die ewig gleichbleibende Mitte. Wir erkennen in diesem Prozeß die Inkubationszeit der abendländischen Kultur, der wir uns heute inniger denn je verbunden fühlen... Damit ist auch die innere Aktualität des Themas hinreichend belegt. Wie kommt es, daß wir trotz alledem über diese Epoche der deutschen Frühgeschichte nur unzulänglich informiert sind? Und daß die meisten Historiker das halbe Jahrtausend, das zwischen Cäsars Erscheinen am RJiein und dem Abrücken der letzten römischen Kommandos lag, sozusagen im Handgalopp bewältigen? Die Antwort ist leicht zu finden. Das Werden und Vergehen der griechisch-römischen Welt hat sich in den Werken ihrer Geschichtsschreiber, Philosophen und Dichter tausendfältig niedergeschlagen. Die Quellen über die Randbezirke aber sind entweder völUg verschüttet oder derart aussage­ arm, daß sie kaum mehr als die wichtigsten Daten enthalten. Während der Historiker dort die Ernte reich bestellter Felder in die Scheuem karren kann, muß er sich hier damit begnügen, die wenigen Ähren aufzulesen, die von den Stürmen der Geschichte nicht verweht wurden. Von den Ergebnissen der archäologischen Erforschung der deutschen Römerzeit aber hat die Geschichtsschreibung nur zögernd Gebrauch gemacht. Auch das hat seine Gründe. Einer davon ist, daß die deutsche Provinzialarchäologie vor rund 150 Jahren nicht als ein ehrbares Kind der Wissenschaft in die Welt trat, sondern als ein Bastard von Schatz­ gräberei und Heimatkunde. Es waren Landpastoren und Volksschullehrer, Ärzte und pensionierte Obristen, Bürgermeister imd Postsekretäre, Bücher­ würmer und Archivare, Studienräte und höhere Schüler, die sich der Erfor­ schung und Pflege der heimatlichen Altertümer mit Haut und Haaren ver­ schrieben - Idealisten vom Scheitel bis zur Sohle, aber Laien und deshalb von der zünftigen Forschung ein wenig mit Geringschätzung betrachtet. Nichtsdestoweniger kam der Tag, an dem die Fachgelehrten die Resultate ihres ameisenhaften Fleißes zur Kenntnis nehmen und sie nicht nur der öffentlichen Anerkennung, sondern auch der Obhut des Staates empfehlen 8

mußten. So wurden 1877/78 in Bonn und Trier die beiden ersten deut­ schen Provinzialmuseen gegründet, denen zahlreiche Schwesterinstitute folgten. Damit trat auch in der Altertumsforschung der Experte - der sich heute selbst der Atomphysik mit Erfolg bedient - seine Herrschaft an. Freilich: einen Universitätslehrstuhl hat sich die Provinzialarchäologie noch immer nicht erobern können. Noch immer hat sic auch eine dürftige Presse. Über die Mauern von Jericho, den Goldschatz des Darius, versunkene Städte in der Sahara oder die Entdeckung eines Inkatempels im peruanischen Urwald wird ausgiebig berichtet, die neuen Forschungen am Niederrhein aber finden allenfalls regionale Beachtung. Zu diesem Mangel an Pubhzität mag beitragen, daß sich die Geschichte der Archäologie in Deutschland - sieht man von der längst historisch gewordenen Limeskampagne ab - größtenteils aus kleineren Unternehmungen zu­ sammensetzt, deren innere Spannung sich eigentlich nur dem Fachmann erschüeßt. Es fehlt an den großen Coups im Stile Heinrich ScUiemanns, mehr noch an dem Theaterdonner, der die Grabungen in Troja und Mykene oder die Öffnung der ägyptischen Königsgräber hörbar untermalte. Obendrein unterlag die Altertumsforschung in Deutschland von jeher vielfältigen Beschränkungen. Wo beim Bau einer Bahn oder einer Wasser­ leitung alte Mauerzüge freigelegt wurden, wo ein Bagger einen Grab­ stein oder eine Urne tief aus der Erde heraufschaufelte, wo ein pflügender Bauer auf einen vergrabenen Schatz stieß, wurden und werden die «Römer» alarmiert. Sie haben dann die undankbare Aufgabe, zu retten, was noch zu retten ist, möglichst ohne den Fortgang der Arbeiten zu stören - eine mißUche und unpopuläre Aufgabe, die von vornherein Bescheidung, Maßhalten und sparsames Wirtschaften verlangt . .. Dabei war die Arbeit des Spatens gerade in den germanischen Grenz­ provinzen des Imperiums von unverhoffter Ergiebigkeit. Von Troja und Mykene wurde nicht erst durch die Grabungen Schliemanns ein anschau­ liches Bild gewonnen, dagegen ist das Panorama des römischen Köln ausschUeßUch das Werk der Archäologen. Ja, wenn wir heute in der Lage sind, die Geschichte der Römer in Deutschland fast lückenlos zu verfolgen, wenn wir ihr Leben und das ihrer Schutzbefohlenen bis in die privatesten Bezirke auszuleuchten vermögen, so ist das unbestreitbar das Verdienst der deutschen Provinzialarchäologie, die sich in dieser Hinsicht hinter der klassischen Archäologie nicht zu verstecken braucht. Ruinenstädte wie Pompeji, Pergamon und Palmyra gibt es in Deutschland freilich nicht. Aber es künden Millionen Funde von jener Zeit, sowie

zahlreiche Denkmale und Bauten. Da gibt es nicht nur die Porta Nigra in Trier, sondern auch die Porta Praetoria in Regensburg. Und nicht nur die alte Kaiserstadt an der Mosel, die damals zu den vier bedeu­ tendsten Städten der Welt zählte, hat ihr römisches Amphitheater, sondern auch das kleine Xanten am Niederrhein. In Badenweiler Hegt die großartigste römische Thermenruine, in Weiden bei Köln die besterhaltene römische Grabkammer nördUch der Alpen, und die römische Stadtmauer von Boppard hat allen Zeitenstiirmen getrotzt. In der bemoosten Mainzer Zitadelle steht ein 1900 Jahre alter Turm, der an den römischen Feldherm Drusus erinnert. Erdwall und Graben des römischen Limes ziehen ihre Spur noch immer weithin durchs Land, und neben der wiederaufgebauten Saalburg markiert eine ganze Kette römischer Erd- und SteinkasteUe den Verlauf dieses riesigen Befestigungswerkes. Römische Wachtürme im Taunus und im Odenwald, römische Straßen auf dem Hunsrück, römische Villen und Grabdenkmäler an der Mosel, römische Wasserleitungen, Bergwerke und Steinbrüche in der Eifel - das alles Hegt gewissermaßen vor unserer Tür . .. Manchmal ein wenig ver­ steckt, aber jedermann zugängHch. Und trotzdem so gut wie unbekannt. MilHonen Deutsche bestaunen aUjährHch die Römerbauten Italiens, daheim fahren sie ahnungslos daran vorbei. Gewissenhaft durchwandern sie das Museo Impero in Rom oder das Museo Nazionale in Neapel die Neumagener Grabmäler, die Mainzer Jupitersäule, der Bonner CaeHusEpitaph, die herrlichen römischen Mosaiken von Köln, Kreuznach, Trier und Nennig sind nahezu vergessen. Kein Zweifel - hier sind, trotz aUen Bemühungen der Staatlichen Denkmalpflege, im öffentlichen Bewußtsein Werte von höchster kultureUer und historischer Bedeutung gelöscht. Hier haben wir ein gut Teil unseres Erbes der Vergangenheit, statt mit ihm zu leben, einsargen und mumifizieren lassen. Hier gilt es etwas gutzumachen. Versuchen wir’s. Versuchen wir’s, die Städte und Stätten der Römer in Deutschland neu zu entdecken, dem Abenteuer ihrer Erhaltung und Erforschung nachzugehen und, geführt von den Erkenntnissen der Archäologie, eine Zeit zu durchschreiten, welche die erste große Epoche der deutschen Geschichte umschließt. Im KeUer des neuen Kölner Rathauses sind die Ruinen des römischen Statthalterpalastes zu besichtigen. Ein Fahrstuhl führt zu ihnen hinab - ein Fahrstuhl in die Römerzeit. Bonn, im Sommer 1959 10

Rudolf Pörtner

Erstes Kapitel

D IE S U C H E N A C H D E N VERLO R EN EN SCHLACHTFELDERN Haltern, Aliso und des Varus fürchterliche Rache Paradepferd der Archäologie • Fünf Römerwerke in Haltern • Der Schatten des Besiegten • Amphibienkrieg im Altertum • Das Winterlager des Tiberius • Der Sündenbock und die Lichtgestalt • Die Achillesferse des römischen Fleeres • Das Ende in den Wäldern • In welche Richtung marschierte Varus ? • Die Schlachten im Moor^ bei Idistaviso und am Angrivarierwall • Keine Schonzeit für Aliso • Die Bombe war eine römische Amphore Zwei Bodenräume in einer Schule beherbergen heute die Reste der römisch-germanischen Funde, die in mehr als fünfzigjähriger Arbeit aus der Halterner Erde geborgen wurden. Ihre frühere Unterkunft, das Halterner Museum, wurde im Kriege zerstört. Zwar hatte man «die besseren Sachen» vorsorgHch ausgelagert, der Tresor der Sparkasse, in den sie eingebunkert waren, überstand auch Invasion und Luftangriffe, wurde jedoch in den Tagen des Zusammenbruchs von 1945 gesprengt und ausgeplündert. Damals verschwand neben vielen anderen wertvollen Stücken die ganze Münzsammlung. Die Scherben und sonstige Über­ bleibsel von Gefäßen, Schalen und anderen Gebrauchsgegenständen, die einige Unverzagte Stück für Stück aus dem Trümmerschutt heraus­ holten, wurden später in Mainz restauriert und bilden heute neben neueren Funden den Grundstock der immer noch beachtlichen Samm­ lung. Die Stadt Haltern gehört nicht zu den Perlen im Diadem der deutsehen Städte. Zwar zieht sie dank der nahegelegenen Seen und Wälder im Sommer allsonntäglich Hunderttausende von Besuchern aus dem Ruhrgebiet an, im übrigen aber vermag sie nicht mit Schönheit zu prunken. Selbst das Wirtschaftswunder hat hier keine rechte Heimstatt gefunden, - die Haupteinnahmequelle des kommunalen Finanzgewaltigen ist noch immer das Grundwasser, das die Stadt zahl­ reichen Städten und Gemeinden des Reviers als Trinkwasser verkauft. 11

Paradepferd

Für den Archäologen jedoch ist Haltern so etwas wie ein Paradepferd seiner Wissenschaft. Das gilt nicht nur für die Ergebnisse der Arbeit selbst, sondern auch für deren Auswirkungen. Die hiesigen Grabungen haben ganze Kettenreaktionen von Folgen und Folgerungen ausgelöst, ja, sie sind ein Musterbeispiel dafür, welche Probleme Spaten und Bagger bloßlegen und aufwerfen können, - und welche Gefahren beschworen werden, wenn bei der Auswertung der Ergebnisse die Phantasie die Rolle der nährenden Amme übernimmt und nüchterne Registrierung und Einordnung von Tatbeständen durch wissenschaftliches Wunsch­ denken ersetzt werden. Vorreiter der archäologischen Erkundung des Haltemer Raumes waren preußische Offiziere. Der eine von ihnen, ein gewisser Major Schmidt aus Münster, dessen Steckenpferd die Erkundung der römischen Garnisonen an der Lippe war, entdeckte 1838 unweit der Stadt das Kastell auf dem Annaberg. Er war ein nüchterner Mann, der sein Lager genau vermaß, dann aber zur weiteren Bestellung das Feld der Wissen­ schaft überheß. Nicht so der General von Veith, gleichfalls ein Alter­ tumsforscher aus Passion, der einige Zeit später den Niemenwall im Osten der Stadt unter die frühgeschichtliche Lupe nahm. Er identifizierte ihn kurzerhand als Teü der Römerfestung Aliso und hatte dabei nur das Pech, daß es sich um einen von der Natur gebauten Wall handelte. Als nächster versuchte der imermüdliche Sanitätsrat Dr. Conrads aus Haltern sein Heil, mit einigem Erfolg sogar, denn er brachte manch wertvollen Fund in die Scheuem. Aber erst ein Jahr vor der Jahrhundertwende begannen, betreut von den Professoren Friedrich Koepp und, später, August Stieren, die heute noch andauernden Grabungen, die über die Fachwelt hinaus beträchtliches Aufsehen erregten. «Über dem Boden hatte sich nichts Römisches erhalten», lesen wir darüber bei Emü Sadee. «Aber mögen auch von einer Jahrtausende alten Bau- oder Befestigungsanlage keinerlei Spuren mehr über der Oberfläche sichtbar sein, so läßt sich ihre Lage und Beschaffenheit doch durch Nachgrabungen immer noch feststellen. Das gilt sogar vom Erd­ wall und Graben eines römischen Marschlagers, sicher aber von den Holz-Erde-Festungen der augusteischen Epoche. Wo nämhch einmal zu irgendeiner Zeit Erdreich aus der Tiefe ausgehoben worden ist, wird die Masse, welche die Lücke im Lauf der Jahre wieder ausfüllt, niemals Farbe, Schichtung und Zusammensetzung des gewachsenen Bodens zeigen. Sie ist lockerer, meist dunkler und mit allerlei Einschüssen ver­ mischt . . . , gewöhnlich mit Resten von menschlichen Gebrauchsgegen12

Ständen, in einem römischen Lager besonders mit den Scherben zer­ brochener Kochtöpfe, Becher und Teller, auch wohl mit den Bruch­ stücken von Waffen und Metallgeräten. Wo aber einst der Wall war, wird man auch die Pfostenlöcher der Palisaden leicht wiederfmden, namentlich an den häufigen Kohleresten. Pflegte man doch, wie noch jetzt unsere Weinbergpfähle, so auch die Palisaden unten anzuglühen, um sie gegen das Verfaulen im feuchten Boden zu schützen. Ebenso lassen sich die Einbettungen der Holzpfosten aller Gebäude noch im Boden nachweisen und damit wenigstens die Umrisse dieser Bauten feststellen, wenn auch das Baumaterial längst verbrannt oder vermodert ist. Denn die römischen Anlagen von Haltern bestanden lediglich aus Holz und Erde. Nirgends hat man einen Bruchstein oder einen Ziegel oder auch nur einen Brocken Kalk gefunden.» Geschult im Lesen solcher Spuren, vermochten die Archäologen in F ü n f Haltern und Umgebung fünf verschiedene militärische Anlagen zu ^ött^^w^rke erforschen: das Kastell auf dem Annaberg, dem Anlegeplatz am alten

Plan der Römeranlagen in Haltern 13

Lippeufer, das Uferkastell und zwei große, zum Teil übereinander­ liegende Lager. Auf dem Annaberg, vier Kilometer westlich von Haltern, wurde ein sieben Hektar großes, etwa 3000 Mann fassendes Dreieck vermessen. Es war von einem Spitzgraben und einem Holz-Erde-Wall umschlossen, der alle 30 Meter mit einem Turm bewehrt war. Die Befestigung paßte sich dem Berghang an, der etwa 35 Meter steil zur Lippe abfällt. Ein idealer Platz also: «wer die Schiffahrt lippeaufwärts sichern wollte, mußte, solange er nicht weiter östhch eine Festung besaß, diesen Punkt besetzen.» Auf den Anlegeplatz an der alten Lippe stieß man, als beim Bau eines Hauses starke Brandschichten zum Vorschein kamen. Die Untersuchun­ gen ergaben, daß hier ein großes Magazin gestanden hatte, ein Getreide­ magazin, wie MiUionen verkohlter Weizenkörner bezeugten, die sich im Boden erhalten hatten. Auf die Speicherung von Vorräten wiesen auch zahlreiche Tonscherben hin, «aus denen eine Anzahl von Amphoren wieder zusammengesetzt werden konnte». Aus der Größe der freigelegten Anlage war zu schließen, daß Haltern das Versorgungs­ zentrum der im Lippegebiet operierenden Legionen war. Das Uferkastell fand sich weiter östlich am alten Nordufer der Lippe, dem Bahnhof gegenüber. Es gab sich durch ein «Gewirr von Pfosten­ löchern und Grabungsprofilen» zu erkennen, «deren Verfolgung, Scheidung und Erklärung» den Scharfsinn der Grabungsleiter immer wieder auf die Probe stellten. Im Endeffekt kam man einer bogen­ förmigen Wall- und Grabenlinie auf die Spur, die mehrfach erweitert, verengert oder anderweitig verändert worden war. Das Ganze diente wahrscheinlich dem Schutz einer Brücke. Spielende Kinder, die römische Scherben gefunden hatten, lenkten die Aufmerksamkeit schließlich auf ein nördhch der Lippe gelegenes Plateau, das aus der Flußniederung etwa 30 Meter emporsteigt. Dort befanden sich die zwei großen Lager, die den Hafenplatz von Norden sicherten. Das ältere von beiden, ein Quadrat mit etwa 600 Meter Seitenlänge, bedeckte eine Fläche von 36 Hektar, bot also zwei Legionen Raum. Die jüngere Anlage, das sogenannte Hauptlager, war nur halb so groß, durch Doppelgraben, Pahsade und ErdwaU aber wesentlich stärker geschützt. Das Lagerinnere dürfte vöUig bebaut gewesen sein. Außer den Kasernen, dem Praetorium und den Offiziershäusern enthielt es also Werkstätten, Magazine, Mühlen,Waffenkammem und Töpferöfen. Das ältere Lager bestand, nachdem das Annabergkastell aufgegeben 14

worden war, nach Ausweis von Münzfunden etwa bis zur Zeitenwende. Das jüngere Lager und die übrigen Römerwerke wurden wahrscheinlich nach der Varusschlacht durch eine große Feuersbrunst vernichtet. Einzel­ heiten konnten nicht ermittelt werden. «Aber an der Stelle des ehemaUgen Praetoriums fanden sich imter einer Steinpackung germanische Umengräber... Die Gräber der deutschen Bezwinger von Haltern, die gerade hier, im Mittelpunkt der gebrochenen Zwingburg, in Ehren ihre letzte Ruhestätte gefunden haben ?» Unter den zahlreichen Einzelfunden brachte man neben Gewand­ fibeln und Gescliirren aller Art große Mengen jener eisernen Geschoß­ spitzen ein, mit denen die Römer ihre Geschützpfeile spickten. Sie veranlaßten einen bekannten Müitärhistoriker, den damaligen Oberstleutnant Schramm in Metz, nach antiken Vorbildern römische Schleudermaschinen zu bauen, die in der Praxis hervorragend funktio­ nierten. Das Grabungsergebnis hätte auch sonst mancher Einzelunter­ suchung Material hefem können. Das allgemeine Interesse ging jedoch andere Wege. Der gesamte Befund stand nämlich von Anfang an unter dem Aspekt eines ganz bestimmten Problems, und zwar der Frage: War Haltern Aliso? Lag hier an der Einmündung der Stever in die Lippe das seit langem gesuchte Drusus-KasteU, der Hauptwaffenplatz der Römer in Westfalen ? Diese Frage wiederum ist nur Teilstück eines größeren Komplexes, der die Gemüter - man darf schon sagen - seit Jahrhunderten brennend interessiert: der Untergang der drei Legionen des römischen Feldherm Publius Quinctihus Varus. Wo, wann und unter welchen Umständen wurde jene blutige Schlacht im Teutoburger Walde geschlagen, mit der sich der Cheruskerfürst Arminius in die Annalen der Geschichte einschrieb ? Man braucht kein Historiker zu sein, um zu wissen, welch überschwenghehe Gefühle und gefährhehe Ressentiments diesem Thema assoziiert sind. Ganze Kohorten von ahnenstolzen Lokalforschern und VerherrUchem der deutschen Geschichte haben ihren Enthusiasmus hier investiert und ihr unzulängliches Wissen in Gestalt von Irrtümern, Ver­ drehungen und wild ins Kraut schießenden Kombinationen ausgesät. Wenn ein Verzeichnis der in den Jahren 1909 bis 1939 erschienenen Schriften zum Thema «AHso und Varusscldacht» allein 375 Titel nennt, die ausschweifenden literarischen Produktionen nicht gerechnet, so kann man ermessen, was sich auf dieser Walstatt der Pseudoforschung abgespielt hat. Und man versteht den Unmut Friedrich Koepps, der 15

Der Schatten des Besiegten

einen seiner Vorträge mit dem Stoßseufzer begann: «Noch immer geht der Schatten des Varus um und nimmt an den Enkeln des Arminius fürchterUche Rache... Solchem Unmaß an GeschichtskUtterung begegnet man meist da, wo der Acker der Überheferung allzu dürftigen Ertrag abwirft. Auch unser Wissen um die Geschichte der Römer in Deutschland wird nur von spärlichen Quellen gespeist. Die überkommenen Texte fußen zudem durchweg auf älteren Bearbeitungen und enthalten schon aus diesem Grunde zahlreiche Fehler und Widersprüche, von den absichtsvollen Verfärbungen zum jeweiligen Zwecke ganz abgesehen. Viele Probleme, welche die Quellenanalyse nicht zu klären vermochte, konnten jedoch von der Archäologie gelöst werden. Als die Halterner Grabungen 1899 begannen, sprach man in ganz Deutscliland von den Erfolgen der Limes-Kampagne, die das Büd der römischen Okkupation Germaniens um wesenthehe Züge bereichert hatte. Sollte der Spaten nicht auch in Westfalen in der Lage sein, alle die Fragen zu beantworten, über die man bis dahin vergebheh diskutiert hatte ? Und es war ein ganzer Rattenschwanz von Fragen, um die es hier ging. Man wußte von AHso, der Römerfestung an der Lippe. Man wußte von der Varusschlacht und dem Untergang der drei augusteischen Legionen im Teutoburger Wald. Man wußte von den Zügen des Germanicus, von den Begegnungen im Moor bei Idistaviso und am Angrivarierwall. Aber weder Aliso noch die Örtliclikeit der Varusschlacht noch die sonstigen Kampfstätten waren geographisch zu bestimmen. Wenn es nun gelang, wenigstens Aliso zu lokalisieren, sollte es dann nicht möglich sein, auch die übrigen Brennpunkte der römisch-germanischen Kriege in der frühen Kaiserzeit zu finden ? Hier ist eine kurze Darstellung der geschichtlichen Vorgänge not­ wendig. Amphibienkrieg im

Die Niederlage des Statthalters Marcus Lolhus im Jahre 16 v. Chr. Anstoß! Die zwischen Ruhr und Sieg siedelnden Sugambrer stießen damals über den Rhein, rieben eine römische Reiterabteilung auf und nahmen der fünften Legion den Adler ab. Der Schrecken währte nach und Ueß in Rom den langgehegten Plan reifen, alle germa­ nischen Stämme bis zur Elbe in das Joch des Imperiums zu zwingen. Das Projekt wurde mit einer bewundernswerten Methodik vorbe16

Links: Gajus Julius Cäsar schob durch seinen Gallischen Krieg (58-51 v. Chr.) die Grenze des Imperiums bis an den Rhein vor. - Rechts: Kaiser Augustus (30 v.-14 n. Chr.) versuchte vergebens, Germanien zu befrieden und die Grenze des Reiches bis an die Elbe vorzuverlegen. In seine Regierungszeit fällt die Schlacht im Teutoburger Walde, die mit der Vernichtung der drei varianischen Legionen endete.

Links: Drusus, (38v.-9n. Chr.), Sohn des Tiberius Claudius Nero, baute 50 Kastelle am Rhein und war der Feldherr der ersten Offensiven gegen das germanische Kcrnland. Rechts: Der junge Tiberius, der 23 n. Chr. den Oberbefehl über die Rheinarmeen über­ nahm und Germanien „fast“ zur Provinz machte. Als Kaiser (14-37 n. Chr.) verzichtete er auf die Fortsetzung der Eroberungspolitik in Germanien. (Fotos: Archiv Garzanti)

Grabstein vom Kenotaph des in der Varusschlacht gefallenen Marcus Coclius, gefunden in Xanten, heute im Rheinischen Landesmuseum Bonn. Der Centurio trägt außer zahlreichen Kriegsauszeichnungen die Bürgerkrone aus Eichenlaub, die für die Rettung eines Kameraden aus höchster Lebensgefahr verliehen wurde. Neben ihm seine beiden Burschen, zwei Freigelassene. (Foto: Rheinisches Landesmuseum Bonn)

reitet. Augustus selbst begab sich für drei Jahre nach Galhen und nahm an allen Arbeiten lebhaften Anteü. Die Hauptlast aber trug sein Stief­ sohn Drusus, eine der großen Heldengestalten der römischen Geschichte. Münzen mit seinem Büdnis zeigen ein lockengekröntes Haupt mit großen Augen, gerader Nase, energischem Kinn, und die Geschichts­ schreiber schildern ihn als einen jungen, hochgewachsenen Mann, den Abgott seiner Soldaten, die seine Leutseligkeit ebenso hebten wie seine Verwegenheit. In den Alpen hatte er bereits seine militärische Begabung bewiesen, in Gallien sein taktisches Gescliick im Umgang mit den Adelsgeschlechtern der heimischen Bevölkerung. Drusus suchte nicht den sclinellen Sieg, sondern den dauerhaften Erfolg. So sicherte er den bevorstehenden Angriff durch eine feste Verteidigungslinie ab, indem er am RJiein an die 50 Kastelle und zahl­ reiche neue Straßen anlegen heß. Auch baute er die berühmte «fossa Drusiana», jenen Wasserweg also, der durch Schiffbarmachung der Vecht den Fleva-See der Rheinflotte erschloß und damit eine Ver­ bindung zu den der Emsmündung vorgelagerten Nordseeinseln und weiter zur Weser- und Elbmündung herstellte. Die erste große ampliibische Operation im Jahre 12 v. Chr., noch von den Historikern der Spätzeit begeistert besungen, hef freilich nicht ganz nach Wunsch ab. Die Unbilden des Wetters und die stürmischen Fluten machten den römischen Landratten schwer zu schaffen. Und daß die Flotte, wahrscheinhch im Wattenmeer, auf treibende Bäume stieß, die sich wie Untiere «aus des Meeres träg starrender Fläche» erhoben, erfüllte die Teilnehmer der Expedition mit Furcht und Schrecken. Trotzdem gelang es dem Drusus, im Land der Friesen und Chauken festen Fuß zu fassen und sie durch Verträge an das Imperium zu binden. Ein unheimliches Land... «Ein elendes Geschlecht», so heißt es bei Plinius, der selber jahrelang zwischen Ems und Weser stationiert war, «lebt dort auf hohen Erdhügeln oder Bühnen, die von Menschenhand so weit aufgeschichtet werden, wie erfahrungsgemäß die höchste Flut reicht. Darauf» - er meint offenbar die Wurten - «stehen ihre Hütten: sie gleichen Seefahrern, wenn die Gewässer die Umgebung bedecken, aber Scliiffbrüchigen, wenn sie zurückgewichen sind... Diese Leute können kein Vieh halten, keine Müch genießen. .. , nicht einmal mit wilden Tieren kämpfen, da jedes Gesträuch weit zurückgedrängt ist. Aus Scliilf und Sumpfbinsen flechten sie Stricke, um den Fischen Netze zu sclihngen... Mit Erde» - von Torf wußte der Römer nichts «wärmen sie ihre Speisen und ihre von nordischer Kälte erstarrenden 2 Pörtner

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Eingeweide. Ihr Getränk ist nur Regenwasser, das sie in Gruben im Vorraum des Hauses aufbewahren... » Die Offensive des nächsten Jahres richtete sich gegen die aufsässigen Sugambrer. Drusus traf sie nicht zu Hause an, da sie gerade gegen die Chatten ins Feld gezogen waren, und wandte sich deshalb gegen die Cherusker. Auf dem Rückmarsch geriet er bei Arbalo, wohl in der Soester Gegend, in eine Falle, schlug sich aber durch und errichtete am Zusammenfluß von Lupias und EHson, den Feinden zum Trotz, eine Festung - jenes Aliso vermutHch, das den Archäologen später so viel Kümmernis bereiten sollte. Damit hatten die Legionen des Augustus das Lippe-Weser-Gebiet so weit gesichert, daß die Aktionen der beiden folgenden Jahre von Mainz aus gestartet werden konnten. Auf dem zweiten Feldzug bereitete ein Sturz vom Pferd der meteorhaften Laufbahn des Drusus ein Ende. Sein Bruder Tiberius setzte das Werk der «Befriedung » Germaniens fort. Das «Tiberius Claudius Nero war wie sem Bruder hochgewachsen, breitWinterlager schulterig, von gewaltiger Widerstandskraft des Körpers.» Er stand des Tiberius Mann, nicht nur auf dem Marsch, sondern auch beim Trinken. «Biberius Caldius Mero » nannten ihn die römischen Landser, «Prinz Glühweinschwelg» hat man den hübschen Wortwitz übersetzt. Als Vorgesetzter mißtrauisch und ungemütheh, war er als Feldherr genau­ so tüchtig wie sein strahlender Bruder. Und als ein kiililer und versclilossener Rechner, der um die Schwächen der Menschen wußte, verstand er besser noch als dieser, die germanischen Fürsten gegen­ einander auszuspielen und mit dem ihm eigenen «Talent und Glück», wie Vellejus überhefert, siegreich alle Teile Germaniens zu durchziehen, «ohne irgendeinen Verlust des ilim anvertrauten Heeres». Germanien galt also bis zur Weser «fast» als Provinz, als Tiberius sich im Jahre 6 v. Chr. mit dem Kaiser wegen einer leidigen Famüiengescliichte überwarf und grollend nach Rhodos zurückzog. Fast... mehr aber auch nicht. Denn schon unter seinem Nachfolger L. Domitius Ahenobarbus begann das Land wieder zu brodeln. «Wir kennen allerlei Skandale aus seinem früheren Leben», so hat ihn Sadee charakterisiert. «Der leidenschaftliche Sportsmann konnte sich rühmen, einen Menschen absichtlich überfahren, einem Ritter ein Auge ausgescldagen, beim Rennen um den Einsatz betrogen zu haben, und seinen Witz betätigte er, als er einen Freigelassenen, der sich weigerte, auf Befelil beim Gelage weiterzutrinken, kurzerhand töten ließ. .. Das 18

war nicht der geeignete Mann, die Germanen für Rom zu gewinnen.» Augustus rief ihn also vier Jahre später nach Rom zurück. Ein Mann namens M. Vinicius übernahm des Domitius Amt, - ein unbeschriebenes Blatt, von dem nur bekannt ist, daß er einen Aufstand niedersclilug und dafür mit dem Triumphalabzeichen belolint wurde. Aber vielleicht war es gerade dieser Aufstand, der den Kaiser veranlaßte, dem Tiberius zu verzeihen und ihn erneut als Statthalter nach Germanien zu schicken. Tiberius, ebenso geschickt wie energisch und von den Truppen mit Jubel begrüßt, entwickelte eine starke Aktivität. Seine Legionen mar­ schierten bis zur Elbe. In die Mündung des Stromes fuhr eine römische Flotte ein. Die wankelmütig gewordenen Brukterer, Cherusker und Chauken unterwarfen sich erneut und versprachen treue Bundes­ genossenschaft. So konnten die Römer es wagen, mitten im Feindesland ein Winterlager aufzuschlagen... Ein Alpdruck mehr für die Forscher unserer Tage. Denn auch dieses Winterlager ist bis heute trotz aller Quellenvergleiche, trotz aller Hterarischen Deutungsversuche, trotz aller Arbeit des Spatens nicht ausfmdig gemacht worden. Das war im Jahre 4 n. Chr. Das nächste Jahr sollte durch die Nieder­ werfung der Markomannen die Elbe-Donau-Grenze verwirklichen und damit den Sieg krönen. Doch die Geschichte ist ein komplexer Vorgang. Die beiden römischen Armeen, die den Markomannenkönig Marbod in die Zange nehmen sollten, standen bereits tief in Feindesland, als Pannonien und Dalmatien rebellierten. Tiberius wurde zum zweiten Male abberufen. Drei Jalire und fünfzelin Legionen brauchte er, um des gefährhchen Aufstandes Herr zu werden. Und kaum war der Sieg errungen, da jagte die Nachricht von der Vernichtung der drei Legionen des Varus dem alten, abergläubischen Kaiser neue Schauer der Angst und Beklem­ mung über den Rücken. «Man erzählt» - so heißt es in Suetons Kaisergeschichte -, «daß der Kaiser derartig bestürzt gewesen sei, daß er monatelang Bart und Haar wachsen ließ und zuweilen sein Haupt gegen die Tür geschlagen habe, indem er ausrief: ,Varus, gib mir meine Legionen wieder!*. Auch berichtet man, wie viele Jahre er den Tag der Niederlage als Tag der Trauer und des Unheils begangen habe.» Die zerschlagenen Legionen selbst wurden nie wieder aufgestellt. Ein einmaliger Vorgang - die Siebzelinte, Achtzehnte und Neunzehnte verschwanden aus dem Buch der römischen Mihtärgeschichte. 19

Der Sündenbock Lichtgestalt

Der «Herr Quinctilius Varus» ist seit damals einer der großen Sündenbocke der Weltgeschichte. Die Zeitgenossen Heßen kein gutes Haar an heute gehört es zumindest in Deutschland zum guten Ton, ilin frei nach Scheffels «Römerlied» mit Spott und Hohn zu übergießen. Als eine Figur aus Erz gegossen steht dagegen der Cheruskerfürst Arminius in der Ruhmeshalle der deutschen Geschichte. Nicht nur in den Werken der Dichter, sondern auch in den Darstellungen der Historiker tritt er, einer Lichtgestalt gleich, aus dem Dunkel der germa­ nischen Wälder - ein Mythos in der schimmernden Rüstung des Frei­ heitshelden. In beiden Fällen handelt es sich um Abziehbilder. Beide bedürfen einer Korrektur. Diese ist auch immer wieder versucht worden, bisher jedoch vergebens. Es ist eben leichter, zehn neue Erkenntnisse populär zu machen, als eine überkommene Halbwahrheit zur Strecke zu bringen. Demioch - dieser Varus war sicher ein ehrenwerter Mann, «von gutmütigem Wesen, ordenthch in seinem Privatleben, geistig und körperhch freilich wenig beweglich». Er hatte sich in Syrien bewährt und genoß das Vertrauen des Augustus, der bei der Auswalil seiner Mitarbeiter, wie man weiß, im allgemeinen eine glückliche Hand besaß. Der Statthalter versuchte, die immer noch aufrührerischen Stämme mit fairen Mitteln zu gewinnen. Weder duldete er Übergriffe, noch stellte er unbülige Forderungen. Erst als er dazu überging, nach römischem Recht über freie Germanen zu Gericht zu sitzen, unterhef ihm ein schwerer Fehler, - und «es gibt Felder, die scldimmer sind als ein Verbrechen». Nach dem Bericht des Vellejus glaubte Varus allen Ernstes, die Ger­ manen für eine geordnete römische Rechtspflege begeistern zu können. Ein tragischer Irrtum! Welch eine Provokation, «in einer fremden, der Masse unverständlichen Sprache... vor römischen Richtern und Sachwaltern » zu verhandeln. «Das war schon im Zivdprozeß, in Fragen über Mein und Dein, scldimm genug. .. Noch ärger aber mußte der römische Strafprozeß wirken. Strafen wurden verhängt, die dem Volks­ gemüt völhg unverständlich waren. Ja, man erlebte den Greuel, daß freie Männer wie elende Sklaven mit Ruten gezüchtigt und kniend mit dem Bede geköpft wurden... » «In erster Linie überschauten die Vornehmen die Änderung der Ver­ hältnisse; sie waren bisher im Gericht wie im Felde die gegebenen Leiter des Volkes gewesen; jetzt drohten die neuen Rechtsordnungen 20

ihren Einfluß zu ersetzen durch die Befehlsgewalt römischer Beamter. So kam zu der dumpfen Wut der Massen über Bedrückung und Unrecht der Groll der Führer wegen des Verlustes der eigenen Stellung.» (Sadee) Varus begriff auch das nicht. Ja, er brachte gerade den Führern der Germanen ein Vertrauen entgegen, das man angesichts seiner Lage mitten im Feindesland, nur fahrlässig nennen kann. Vor allem baute er auf das Wort seines Freundes Arminius und schlug wohlgemeinte Warnungen auch dann noch in den Wind, als dessen Verrat bereits mit Händen zu greifen war. Der Cheruskerfürst - obwolil in römischen Diensten bewährt, der lateinischen Sprache mächtig und mit dem Ritterrang ausgezeichnet erscheint auf der geschichtlichen Bühne als eine bäuerhche Urkraft von Überlebensgröße. Er war ebenso tapfer wie verschlagen, so draufgängerisch wie kühl und wägend, soldatischer Tugend gleichermaßen fähig wie gemeinster Hinterlist. Dem Römer an Vitahtät und Schläue überlegen, übertraf er ihn auch an militärischem Köimen. So geschickt er dem hochgerüsteten Gegner mit den Mitteln des Partisanen begegnete, so souverän verstand er ihn auch taktisch auszumanövrieren. Sein Gefühl für die Lage verUeß ihn auch in kritischen Situationen nicht. Obwohl während der Schlacht meist mitten im Getümmel zu finden, kannte er doch keine Bedenken, das Schlachtfeld zu räumen, wenn es um den Fortbestand seines Heeres ging. Von bäuerlichem Holze auch, wenn er mit seiner ganzen Verwandt­ schaft (die ihn scUießüch umbrachte) in Fehde lag, oder die Tochter des Segest mit Gewalt heimführte. .. Eine Kolossalgestalt, wenngleich kein strahlender Held, kein Siegfried, kein Drachentöter. Aber schon Tacitus bezeugte ihm, daß er ohne Zweifel der Befreier Germaniens war - haud dubie liberator Germaniae —, «ein Mann, der nicht Rom in seinen Anfängen, sondern das Reich in seiner höchsten Blüte herausgefordert hat, in Schlachten nicht immer glücklich, im Kriege unbesiegt k Über den Verlauf der Schlacht Hegen mehrere, einander wider­ Die Achillesferse sprechende Darstellungen vor. Zwei Grundauffassungen sind in den Berichten niedergelegt. Nach Cassius Dio, einem hohen Verwaltungsbeamten des 3. Jahrhunderts Heeres n. ehr., wurden die Legionen des Varus auf dem Marsch vernichtet. Nach Florus wurden sie im Lager überfallen und niedergemetzelt. Die 21

Darstellung des Florus (zur Zeit Fladrians) fand in Ranke ihren pro­ minentesten Befürworter; Mommsen dagegen erklärte sie für «ein aus der Überlieferung gefertigtes Tableau » und nahm des Cassius Dio Partei. Wie er sind heute die meisten Historiker der Meinung, daß Varus auf dem Marsch untergegangen ist. Dafür spricht nicht nur eine genaue Analyse der Quellen, sondern auch die Tatsache, daß der Marsch die Achillesferse des römischen Heeres war. Die Legionen bewegten sich, trotz respektabler Tages­ leistungen, nur schwerfällig fort. Allein die Rüstung des Soldaten wog nahezu 15 Kilogramm. Als Verpflegung führte er bis zu 25 Kilogramm Getreide mit. Dazu kamen, da allabendlich ein festes Lager bezogen werden mußte, drei bis vier Schanzpfähle, deren Gewicht mit zelin Kilogramm nicht zu hoch angesetzt ist, außerdem Spaten und Sägen, Beile und Taue, Lederzelte und Körbe, Handmühlen und Geschirr. Mit anderen Worten: der Legionär unterwegs hatte einen knappen Zentner auf dem Buckel, selbst wenn man berücksichtigt, daß für je zehn Soldaten ein Tragtier mitgeführt wurde (oder wenigstens mitgeführt werden sollte). Überdies schränkte dieser Troß die Mobihtät des Heeres noch weiter ein. Der Überfall, soweit er aus den mageren Berichten zu rekonstruieren ist, erweist sich als ein wolilgeplantes und glänzend vorbereitetes Unter­ nehmen. Dem Varus wurde der Aufstand eines weit entfernten Volks­ stammes vorgetäuscht. Der Feldherr entschloß sich in der Tat zu einer sofortigen Strafexpedition und gab, wie erwartet, Marschbefehl. Arminius weilte noch am Vorabend des Aufbruchs im Lager und tafelte und pokuHerte mit dem Statthalter.Eine gewitter trächtige,fast gespenstische Szene steht am Anfang der Katastrophe, Segestes nämlich, ArminsWidersacher und späterer Schwiegervater wider Willen, stand auf und bezichtigte den Cherusker offen des Verrats. Ja, er verlangte sogar, zusammen mit ihm in Fessehi gelegt zu werden, bis die Wahrheit seiner Worte erwiesen sei. Selbst das konnte den Gleichmut des Arminius nicht erschüttern, und schon hemmte - nach Vellejus - «das Fatum die menschliche Einsicht und hatte alle Klarheit im Geiste des Varus ganz verblendet. Denn so ist es: wessen Geschick ein Gott wenden will, dem verwirrt er das Denken und bewirkt unseligerweise, daß das Geschehene verdient zu sein scheint und daß das Schicksal in Schuld übergeht. Varus erklärte daher, er glaube es nicht, und versicherte, er wisse den Ausdruck der Ergebenheit nach Gebühr zu schätzen... » 22

Unmittelbar nach dem schicksalsträchtigen Gelage brach er auf mit drei Das Ende Legionen, drei Alen, sechs Kohorten und einem riesigen Troß, insgesamt 30000 bis 40000 Menschen. Arminius und die übrigen Verschwörer gaben dem stattlichen Heerbann eine Weile das Geleit, ehe sie sich angeblich um die germanischen Hilfstruppen heranzuführen - von Varus förmheh verabschiedeten. Die römischen Marschkolonnen kamen auf den unbekannten Wegen, die sie von den germanischen Spähern geführt wurden, nur langsam voran. Schließlich gerieten sie in tiefen Wald. Bäume mußten gefällt, Flüsse und Bäche überbrückt werden. Die Ordnung löste sich auf, und der Zug mit seinen Schwärmen von Weibern, Kindern und Marketendern zog sich auseinander und wurde immer unbewegheher. «Sonst machte man es bei der gewölmhchen Marschordnung folgen­ dermaßen: Wenn die Straße einen Fahrdamm (agger) in der Mitte und daneben einen Marscliierstreifen, einen Limes, hatte, nahm den agger der Fuhrpark ein, den Limes zu beiden Seiten die marschierende Truppe. Jede Legion hatte ihr Gepäck in der Mitte. War besondere Gefahr zu befürchten, so wählte man das agmen quadratum, das heißt: in der Front, zu beiden Seiten und hinten marschierten schlagfertige Truppen; in der Mitte fuhr das Gepäck des ganzen Heeres. Konnte man hier aber überhaupt auch nur jene erstere Formation anwenden? Hatte man neben dem Wege noch einen Limes? Vermutheh mußten vielmehr Truppe und Troß auf dem schmalen Wege hintereinander marschieren, ja, diese ganze, sehr gemischte Gesellschaft hielt sich nicht für sich sondern hatte sich in die Linie der Streitbaren und Militärfahrzeuge hineingedrängt. Dann mußte die Kolonne 20 bis 25 Kilometer lang sein; in jedem Fall war sie unabsehbar und völhg unbrauchbar zum Gefecht.» (Sadee) So mag man ein oder zwei Tage vorwärts gekommen sein, langsam zwar, aber unbeheUigt. Dann wurden die ersten feindhehen Überfälle gemeldet, und die schwerfällig dahinstampfenden Truppen sahen sich bald hier, bald dort in verlustreiche Gefechte verstrickt. Zu gleicher Zeit setzten, wie Cassius Dio berichtet, starker Regen und Sturm ein. Der sclilüpfrige, schwere Boden ließ die Bewegungen der Soldaten unsicher werden, «und die zerbrechenden und niederstürzenden Baum­ wipfel verbreiteten Entsetzen Wir wissen nicht, ob Varus in dieser Situation die Aussichtslosigkeit seiner Lage bereits erkannte. Noch hätte er vielleicht die Chance gehabt, zurückzukehren und sich in dem verlassenen Sommerlager einzuigeln. 23

Er begnügte sich jedoch damit, in dem inzwischen erreichten bergigen Gelände notdürftig Quartier zu machen.«Sie fanden», erzählt Dio weiter, «einen passenden Platz, soweit es in dem Waldgebirge möglich war und schlugen dort ein Lager auf. Die Mehrzahl der Wagen und was sonst entbehrhch war, verbrannten sie darauf und marschierten am nächsten Tag in etwas besserer Ordnung weiter, so daß sie bis zu einer waldlosen Gegend gelangten; freüich kamen sie nicht ohne Verluste davon.» Schheßhch verschlang sie erneut unwegsamer, sumpfiger Wald. Sturzregen prasselte auf sie nieder, und Orkane umheulten sie grauenvoll. Der fortdauernde Kampf gegen einen fast unsichtbaren, bereits sieges­ trunkenen Feind zehrte am Mark der verzweifelten Truppe. Noch einmal versuchte sie sich zu formieren. Zu spät. Einer antiken Schicksals­ tragödie gleich, nahm die Katastrophe ihren Lauf. Denn da die Römer «bei der Enge des Raumes dicht gedrängt standen, damit in ganzen Abteilungen zugleich die Reiter wie das schwere Fußvolk auf die Feinde losgehen kömiten, wurden ihnen teils die eigene Masse, teils die Bäume verderblich». Selbst der Gebrauch der Waffen war, wie Dio weiter sehr anschaulich beschreibt, in dieser Lage nahezu unmöglich. Die Germanen dagegen, «die, der Mehrzahl nach leicht bewaffnet, ohne Bedenken angreifen oder sich zurückziehen konnten, wurden von dergleichen Unfällen weniger betroffen. ..» Außerdem waren sie weit in der Überzahl, so daß es ilmen leichtfiel, die Reste der varianischen Legionen nun vollends zu umzingeln. «Da entschlossen sich Varus und die übrigen hohen Offiziere zu einer furchtbaren, aber notwendigen Tat: sie stürzten sich in ihr eigenes Schwert. Als dies bekannt wurde, wehrte sich niemand mehr. Die einen folgten dem Beispiel ihres Feldherrn, die anderen warfen die Waffen fort und Ueßen sich von dem ersten besten töten. Fhehen konnte keiner, hätte er es auch gern gewollt. So wurde von den Barbaren ohne Scheu alles niedergemetzelt, Mann und Roß. . . » Hier bricht der dramatische Text des Dio ab. So etwa hat die Tragödie sich vollzogen. Im Detail wechseln die Meinungen. Viele Historiker nehmen einen dreitägigen, manche einen viertägigen Verlauf der Schlacht an. Andere sind der Ansicht, daß Varus, das sichere Ende bereits vor Augen, noch einmal den Versuch unter­ nahm, in sein Marschlager zurückzukehren - darauf deutet jedenfalls der berühmte Bericht des Tacitus über den Besuch des Germanicus auf den Schlachtfeldern des Teutoburger Waldes hin. Die einen verlegen 24

den Kampf in den Hochsommer, die andern in den Früh- oder Spät­ herbst. Sie alle streiten mit vortrefflichen Argumenten, und die Hitze ihrer Beweisführung steigert sich bisweilen zu bedenklichen Graden. Ein wahrer «furor germanicus» aber hat sich an der Frage nach dem Schau­ platz der Katastrophe entzündet. Die Zahl der Antworten - und die Zahl der Haare, die gespalten wurden, um zu einer Antwort zu gelangenist Legion, und die meisten verraten mehr Leidenschaft als Sachkenntnis. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß dieses Problem - als Ganzes gesehen - mit einer philologischen Akribie durclileuchtet und einem kriminalistischen Scharfsinn behandelt wurde, der einem Sherlock Holmes alle Ehre gemacht hätte. Die zaldreichen Vermutungen haben sich scliheßlich zu drei Haupt- In welche diesen verdichtet. Die erste, von Kapazitäten wie Mommsen und Zangemeister befürwortet, erhebt die Ortschaft Barenau nördlich des Wiehengebirges auf den Schild. Danach hätte Varus von seinem Sommerlager an der Weser, das etwa in der Gegend von Rehme bei Bad Oeynliausen zu suchen wäre, den Marsch nach Westen angetreten, das Wiehengebirge überquert und in dem großen Moor bei Barenau sein Ende gefunden. Die zweite geht ebenfalls von einem Sommerlager an der Weser aus, glaubt den Ort der Handlung aber in der Nähe des Städtchens Iburg bei Tecklenburg finden zu köimen. Die dritte verlegt das Ausgangslager nach dem lippischen Schötmar und das Schlachtfeld auf die Höhe des (erst seit dem 17. Jahrhundert Teutoburger Wald genannten) Osning in die Gegend der germanischen Grotenburg - wo sich auch das ragende Hermannsdenkmal erhebt, das dem Befreier im vorigen Jahrhundert gesetzt wurde, und die Erin­ nerung an die Varussclilacht am lebendigsten ist (festgehalten vor allem durch ein plattdeutsches Lied ländUcher Skalden, das von der älteren Generation noch heute gern gesungen wird). Eine Variation dieser These sucht das Sommerlager bei Paderborn, läßt Varus also in West-Ost-Richtung marscliieren, ehe ihn in den lippischen Wäldern sein Scliicksal ereüt. Andere Vertreter der West-OstTheorie gehen dem Schlachtfeld weit jenseits der Weser nach, am Deister etwa, bei Hannover, bei Flüdesheim. Auch Südwestfalen hat seinen Anspruch angemeldet und durch den Hinweis auf Knochenfunde im Arnsberger Wald zu erhärten versucht. 25

In der Hauptsache aber nähren sich diese Theorien aus der Analyse der Quellen. Die antiken Autoren müssen sich dabei manches gefallen lassen. Wo ihre Berichte mit der Konzeption des jeweiligen Forschers nicht übereinstimmen, werden sie abgeändert oder als falsch und lügenhaft verworfen, so daß der Rhenus dann plötzlich die Maas, Albis der Rhein und Visurgis die Lippe ist. Auch örtliche Überlieferungen - Flurnamen, Sagen und dergleichen wurden weidlich ausgeschlachtet. Es kam dabei zu merkwürdigen Pannen. Ein wackerer Westfale entdeckte zum Beispiel eine «Theadburch» bei Arnsberg und übersah in seinem Eifer ganz, daß es sich hier nicht um die vielgesuchte Teutoburg, sondern um eine Dame dieses Namens handelte. Ein Mann, dessen Name die Wissenschaft ver­ schweigt, dem es aber etliche «tumuli», also kleine Hügel, in der Nähe seiner Heimatstadt angetan hatten, heß durch einen Mathematiker die makabre Rechnung auftun, daß 15000 Skelette, in fünf Schichten säuberlich aufeinandergelegt, nur 120 Quadratmeter Fläche bean­ spruchen. Da er in seinen Hügeln nicht die gewünschte Spur von Knochen oder Asche fand, ja, nicht einmal von phosphorsaurem Kalk, kam er auf den erhellenden Gedanken, die Soldaten des Germanicus hätten die Gebeine ihrer Kameraden vor der Verbrennung mit Öl übergossen - die glühende Asche sei dann, einer alten Sitte gemäß, mit Wein gelöscht worden. Insgesamt zählt man heute etwa dreißig Varus-Schlachtfelder, von denen jedes einzelne vortrefflich erforscht und nachgewiesen ist. Die meisten von ihnen hegen zwischen Weser und Ems, doch ist auch der hessische und niedersächsische Raum vertreten, neuerdings hat sich sogar Mitteldeutschland vernehmlich zu Wort gemeldet. Walther Pflug, seines Zeichens Diplomingenieur, vertritt in seiner Schrift «Media in Germania» die Meinung, den Schauplatz der Kata­ strophe endgültig in der Gegend von Merseburg gefunden zu haben mit allen Einzelheiten sogar, nicht einmal die tumuli fehlen (Knochen hat er allerdings keine entdeckt). Das lateinische Wort Amisia, das ganze Humanistengenerationen mit «Ems» übersetzten, ist bei ihm gleichbedeutend mit Merseburg. Die Lupia - bisher als Lippe bekannt glaubt er mit dem mitteldeutschen Flüßchen Luppe identifizieren zu können, und Rhenus, von den Altvorderen schlicht als PJiein ver­ standen, wird als ein Ort an der Elbe bezeichnet. Und die Flotten­ expeditionen der Römer führten nicht etwa, wie bisher angenommen, emsaufwärts bis nach Rheine, sondern elbaufwärts nach Aken. 26

Als Ganzes wiederum eine These, die - wie üblich - bedeutenden Scharfsinn, aber auch eine souveräne Verachtung der Wirldichkeit ver­ rät. Ihre Absicht: «die entschlossene Beseitigung der Trümmer eines irrealen Geschichtsbildes der römisch-germanischen Epoche ». Den Archäologen fiel es in den meisten Fällen nicht besonders schwer, solche Theorien als Humbug zu entlarven. Sie müssen aber zugeben, daß ihre eigene Mitarbeit an der Lösung des Problems sich auf unliebsame negative Feststellungen beschränkt. Der Boden hat die Antwort, die man von ihm erheischt, bisher verweigert. Vielleicht wird es einmal gelingen, das Sommerlager des unglück­ seligen Varus zu entdecken. Das Schlachtfeld selbst wird kaum zu be­ stimmen sein. «Einige Gebeine», sagt Friedrich Koepp, «beweisen... gar nichts. Etwas anderes wäre es freihch, wenn man den tumulus noch nachweisen könnte, in dem Germanicus die zusammengelesenen Gebeine der Opfer der Schlacht geborgen hat . .. Aber wie unwahrscheinlich ist eine solche Entdeckung, da wir doch lesen, daß die Germanen den tumulus zerstört haben und Germanicus auf seine Herstellung ver­ zichtete: selbst wenn die Germanen nicht sehr gründliche Arbeit getan haben sollten, so wird doch die Zeit den einmal zerstörten Hügel im Laufe so vieler Jahrhunderte aller Wahrscheinlichkeit nach dem Erd­ boden gleichgemacht haben.» Immerhin: unmöghch wäre es nicht, zumal die Metlioden der «Scherbenwissenschaft» sich in den letzten Jahrzehnten sehr verfeinert haben. «Aber vor dieser Entdeckung », fährt Koepp fort,«stehe warnend die Gestalt des Sammlers aus Immermanns ,Oberhof‘. Wenn wir die Gebeine gefunden zu haben meinen, dann soU uns kein Hofschulze sagen dürfen: ,Kuhknochen, Herr Schmitz, Sie sind auf einen Schind­ anger gestoßen und nicht auf das Teutoburger Schlachtfeld.*» Aber der Kampf um Varus beschränkt sich nicht auf diese Walstatt allein. Auch die Feldzüge des Germanicus geben der Wissenschaft eine Reilie von Nüssen zu knacken. Seine militärischen Aktionen begannen, wie man weiß, im Frülijahr 15 mit der Entsetzung der von Arminius belagerten Burg des Segestes. Dabei fiel nicht nur Beutegut aus der Varusschlacht, sondern auch Thusnelda, die Gattin des Cheruskers und Tochter des Segestes, in des Germanicus Hand. Außer sich vor Zorn und gewiß auch im vollen Bewußtsein der Gefahr, die dem freien Germanien wieder drohte - stachelte Arminius seine Landsleute zu neuem Kampf auf, und sie folgten ihm in hellen Scharen. 27

D ie Schlack-

am An,^rivarierwdll

Das römische Aufgebot bestand diesmal aus nicht weniger als acht Legionen, der gesamten RJieinarmee. Germanicus versuchte sein Glück nach dem Prinzip «Getrennt marschieren - vereint schlagen». Das heißt, er teilte seine Armee in drei Abteilungen auf. Der Legat Caecina marschierte mit den vier niederrheinischen Legionen durch das Gebiet der an der Lippe sitzenden Usipeter und Brukterer. Die Kaval­ lerie ritt durch das Land der Friesen. Der Drusussohn selbst schiffte sich mit den vier Legionen des obergermanischen Heeres ein. An der Ems trafen die drei Heeresgruppen zusammen. Dann zogen sie weiter und verwüsteten das Land der Brukterer, bestatteten die Opfer der Varusschlacht und verfolgten den ausweichenden Cherusker, der sich einer größeren Begegnung entzog, aber keine Gelegenheit zu kleineren Überfällen versäumte. Mehrfach in schwerste Bedrängnis gebracht, entschloß sich Germanicus, seinen Feldzug für dieses Jahr zu beenden. Während er sich wieder einschiffte, trat Caecina den Rück­ marsch in Richtung Niederrhein auf dem Landwege an. Indessen waren die Germanen den Römern wieder auf den Fersen, und als sie den auf Moorbrücken und Knüppelwegen zurückgehenden Caecina faßten, schienen sie einem zweiten vollständigen Triumph nahe. «Seht da!» so rief Arminius nach dem ausfülirhchen Bericht des Tacitus, «Varus und die Legionen zum zweiten Mal vom gleichen Geschick umstrickt.» Diesmal aber machte ihm die Beutegicr seiner Scharen einen Strich durch die Rechnung. Sie stürzten sich auf das von Caecina zurückge­ lassene Legionsgepäck und verschafften dadurch dem kaltblütigen, erfahrenen General die Gelegenheit, sich zu verschanzen. Der Sturm auf das Lager, gegen den Rat des Arminius unternommen, wurde abge­ schlagen. Die Atempause genügte dem alten Haudegen für eine erfolg­ reiche Absetzbewegung zum Rhein, wo kurze Zeit später auch zwei der eingeschifften Legionen, durch eine Sturmflut arg zerrupft, nicht eben ruhmbedeckt eintrafen. Muß man erwähnen, daß auch diese Schlacht im Moor wieder ganze Centurien von Heimatforschern und besessenen Lokalpatrioten auf die Wälle gebracht hat? Und daß auch sie den Schauplatz des Kampfes nicht einmal, sondern dutzendemal genau festgelegt haben? An der Hasemündung, bei Diepholz, im Burtanger Moor, hei Coesfeld und am Dümmer See fanden sich Spuren, vor allem von Moorbrücken. Zu einem exakten Nachweis reichten sie nicht aus. Auch die Suche nach dem Schlachtfeld von Idistaviso und dem 28

Angrivarierwall ist bis heute nicht abgeschlossen. Hier wie dort wagte der Cherusker im folgenden Jahr, den Legionen des Germanicus in offener Feldschlacht entgegenzutreten. Hier wiedort wurde er geschlagen, aber nicht vernichtet, ja, nicht einmal besiegt; denn beide Male ver­ stand er es nach blutigem Ringen, in der Nacht sein Heer dem Zugriff des Feindes zu entziehen. Am Vorabend der Schlacht von Idistaviso kam es zu jenem denk­ würdigen Gespräch, in dem sich Arminius und sein in römischen Diensten stehender Bruder Flavus zunächst inständig beschworen, auf den rechten Weg zurückzukehren, schheßlich aber in der unflätigsten Weise bescliimpften; es wäre - so meint Tacitus, der den Feldzügen des Germanicus einen zwar ungereimten, aber packenden Bericht ge­ widmet hat - zu einem Zweikampf zwischen den feindlichen Brüdern gekommen, wenn nicht die beiderseitige Begleitung dieses Äußerste verhindert hätte. Die Schlacht selbst, in der Arminius schwerverwundet in eine schwierige Lage geriet, wurde an den Gestaden der Weser ausge­ tragen, nach Carl Schuchhardt, einem der verdienstvollsten deutschen Vorgeschichtsforscher, in der Nähe des Nammer Lagers an der Porta Westfalica, nach anderen bei Eisbergen oder Hameln, so daß auch in diesem Fall mit der endgültigen Bestimmung des verlorenen Sclilachtfeldes noch ein Doktorhut zu verdienen ist. Schuchhardt will auch den Angrivarierwall wiedergefunden haben, und zwar nördhch von Minden bei dem Dorfe Leese, - « ein erstaun­ liches Werk », wie er selbst sagt, «ein Wall aus Haid- und Rasensoden, oben zelin Meter breit und vorn, das heißt nach Süden, von einer pfostenverstärkten Holzwand gehalten, wie sie weder eine mittelalter­ liche Landwehr... noch auch der römische Limeswall je erhalten hat. .. K Aber auch hier hat die Wissenschaft das letzte Wort noch nicht gesprochen. Schlimmer noch steht es um das Aliso-Problem. Drusus ließ, wie Keine man weiß, am Zusammenfluß von Lupias und Ehson ein befestigtes Lager errichten. Als Lupias kommt nur die Lippe in Frage. Nach dem Elison aber hat man bislang vergebens gefahndet. Die Alme bei Pader­ born, die Ahse bei Hamm, die Seseke bei Lünen, die Glenne bei Lippstadt und die Stever bei Haltern, sie alle sind als elisonverdächtig in die Dis­ kussion gezogen, - oline daß bis heute eine Entscheidung gefallen wäre. Der Name des Drususlagers ist nicht bekannt. Die Lagebezeichnung am Ehson legt jedoch die Vermutung nahe, daß es mit jenem Aliso 29

identisch ist, das in den späteren Feldzügen eine so große Rolle spielte: zum ersten Mal nach der Schlacht im Teutoburger Walde, da es, nach Vellejus, als einziges Kastell im Lippegebiet Widerstand leistete, nachdem es zahlreiche Versprengte aus der Schlacht aufgenommen hatte, darunter Frauen und Kinder. Von starken germanischen Kräften be­ lagert, hielt es damals unter Führung des Caedicius solange stand, bis sich Gelegenheit bot, in Richtung Vetera durchzubrechen. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß man es auch bei dem Kastell, das sieben Jahre später von Germanicus entsetzt wurde, wiederum mit Ahso zu tun hat, denn der Bericht des Tacitus erwälmt, daß daraufhin die ganze Strecke zwischen Aliso und dem Rhein mit Wegen und Dämmen versehen wurde. «Über diesen zwei oder drei Weizenkörnern türmt sich nun die Spreu der Ahso-Literatur auf», hervorgerufen vor allem durch die Erfolge der Halterner Spatenkampagne. Friedrich Koepp, der Leiter der Grabungen, hat sich darüber einmal mit der Vehemenz ausgelassen, die alle seine Äußerungen kennzeiclinet. «Als der Spaten im Lippetal in Bewegung gesetzt wurde, da hätte eine Schonzeit für die Ahso-Frage und für die Varusschlacht geboten werden sollen. Das ist versäumt worden, und als die ersten Spatenstiche bei Haltern. .. so ganz erstaunhche umfangreiche römische Anlagen ankündigten, da kam dem einen oder dem anderen wieder der unglück­ liche Name auf die Lippen. Wir haben wohl vorsichtig darüber beraten, ob man den Namen öffentlich aussprechen sollte oder nicht; wir sagten uns aber, genannt wird er doch, tun wir es also lieber selbst; dann können wir gleich die nötigen Fragezeichen beifügen. .. So wurde er denn genannt, - erst mit gedämpfter Stimme, mit Frage- und Anfüh­ rungszeichen. Dann aber fielen die allmähhch weg, und als Schuchhardt seinen ,Fülirer durch die römischen Ausgrabungen bei Haltern* drucken ließ, da wurde dann mit fetten Lettern Ahso aufs Titelblatt gesetzt, und dann kam das ,Hotel Ahso*, und es kamen die Ansichtskarten, die ja heute » - inzwischen allerdings nicht mehr - «das beste Mittel sind, eine Sache populär und unwiderrufhch zu machen.» «Wenn wir danach gefragt wurden, so sagten wir freilich immer: ,Bewiesen ist es nicht, vielleicht überhaupt niemals beweisbar* - aber doch ,wahrscheinlich*, ,recht wahrscheinhch*, ,sehr wahrscheinlich*, und so fort, je nach dem Temperament, bis zu ,bombensicher*, was ja bekannthch auch noch lange nicht ,bewiesen* heißt. » Soweit waren die Dinge gediehen, als durch die Schrift «Aliso im 30

Lippe-Seseke-Winkel zu Elsey-Oberaden», verfaßt von Otto Prein, .Pfarrer zu Methler’ eine gänzlich neue Situation geschaffen wurde. Dieser Seelenhirte war durch kirchengeschichtUche Forschungen und das Studium alter Flur- und Straßennamen zu der Überzeugung gelangt, daß Ahso in Oberaden bei Dortmund gesucht werden müsse, genauer gesagt in der Gemarkung Elsey, in deren Name er das alte Aliso wiederzuerkennen glaubte. Seine Anregungen führten zu Grabungen, die zunächst einen über­ raschenden Erfolg hatten. Man fand ein großes Standlager für zwei Legionen, außerdem, wie in Haltern, ein Uferkastell. Das Problem Aliso schien endgültig gelöst! Aber der Triumph währte nur kurze Zeit. Eine genaue Untersuchung der gefundenen Münzen und Sigillaten ergab nämlich, daß das Lager Oberaden allenfalls von 12 v. Chr. bis zur Zeitwende bestanden haben kami. Auch die Preinsche Theorie mußte wieder zu den Akten gelegt werden. Haltern bheb Aliso-Anwärter Nr. 1. Ein findiger Kopf schlug sclJießlich einen salomonischen Urteilsspruch vor. Das Lager von Oberaden, so meinte er, sei jedenfalls die älteste römische Befestigung auf westfähschem Boden und als solche gleich­ bedeutend mit dem Drususkastell am Zusammenfluß von Lupias und Ehson. Dieses sei wälirend der Verbannung des Tiberius zerstört worden, zu einer Zeit also, da die römischen Truppen in Germanien tatsächlich schwere Verluste erlitten. Nach seiner Rückkehr habe Tiberius dann das neue Lager von Haltern eingerichtet und ihm den Namen des kurz zuvor zerstörten von Oberaden geschenkt: Aliso. Eine bildschöne Erklärung, und eine Hypothese mehr, die aber zu ilirer Entlastung anführen konnte, daß sie - zur Zeit ihrer Geburt jedenfalls - mit den Funden von Haltern und Oberaden weitgehend übereinstimmte. Das aber konnte man noch längst nicht von jeder der vielen Aliso-Theorien sagen, die in Mengen vom Baum der Heimat­ forschung fielen, - reifen, aber leider faulen Früchten gleich. Doch auch die Haltern-Theorie empfing eines Tages den Todesstoß, oder sagen wir vorsichtiger: den beinahe tödlichen Stoß. Wie verwickelt das Problem inzwischen geworden war, mag eine Äußerung von Prof. Sadee vor Bonner Altertumsfreunden bezeugen. Haltern kann nicht Aliso sein, so erklärte er, «wenn Aliso identisch ist mit der Drususfestung am Zusammenfluß von Lupias und Elison, denn diese war die älteste römische Anlage an der Lippe (11 v. Chr.). Haltern aber ist nach Ausweis der Münzen jünger als Oberaden. Haltern kann 31

aber auch nicht Ahso sein, wenn Ahso nicht jenes Kastell am Elison war. Deim die jüngste Keramik von Haltern bricht ab mit der Zerstö­ rung des Werks im Jahre 9 (Brandschutt!), und nur eine vorübergehende geringe Belegung aus späterer Zeit erscheint noch in Resten möglich...» Sadce kam zu dem Schluß, daß Aliso zwischen Haltern und Vetera zu suchen sei, etwa auf der Mitte der Strecke, 25 bis 30 Kilometer von Haltern entfernt. In diesem Punkt irrte er freilich, wie die Entdeckung des Lagers Holsterhausen im Jahre 1950 ergab, die dem beinahe auf der Strecke gebliebenen Aliso-Problem neue Impulse zuführte. Die Bombe Hie Entdeckung von Holsterhausen ist typisch dafür, welch günstiger war eine Umstände und glücklicher Zufälle es heute bedarf, weim in dem dicht Amphore Lippe-Gebiet noch außergewölinliche Entdeckimgen ge­ lingen sollen. Bei Regulierungsarbeiten in der Nähe des Flusses stießen Arbeiter im Jalire 1952 auf einen bauchigen Gegenstand, den sie für eine Bombe hielten und entsprechend respektvoll behandelten. Bei näherer Betrachtung stellte sich jedoch heraus, daß man es nicht mit einem Blindgänger, sondern mit einer großen römischen Amphore zu tun hatte. Die Vermutung, einem weiteren Lager auf der Spur zu sein, bestätigte sich sehr bald. Es lag auf dem Nordufer der Lippe und bedeckte eine Fläche von 25 Hektar, war also walirschcinlich ein Marsclilager für zwei Legionen. Obwolil die genauere Erforschung noch aussteht, kaim man heute bereits sagen, worin der eigenthehe Erfolg in diesem Fall besteht - cs scheint nämlich ein Maßstab «für die Entfemung der einzelnen Lager voneinander» gewomien zu sein. Holsterhausen hegt 18 Kilometer von Haltern entfernt. Doppelt so groß, 36 Kilometer also, ist die Strecke zwischen Holsterhausen und Xanten. Nimmt man an, daß sich zwischen beiden noch ein weiteres Lager befand, so hätte man alle 18 Kilometer mit einer solchen Anlage zu rechnen, - auf 18 bis 20 Kilometer werden ja in der Tat die Durchschnittstagesleistungen einer römischen Legion veransclJagt. Der Gedanke hegt also nahe, für den gesamten Lippelauf eine Kette von Kastellen anzunehmen, die in Abständen von solchen Tagesmärschen sich aneinanderreihten. Wenn man die in Frage kom­ menden Orte markiert, so handelt es sich tatsächlich fast ausschließlich um Dörfer und Städte, in denen bereits Funde aus der augusteischen Zeit eingebracht wurden. Damit ist ein wertvoller Anlialtspunkt für künftige Grabungen ge­ geben. Ob und wami diese einmal durchgeführt werden, steht angesichts 32

Römische Legionäre mit gefangenen Germanen. R elief auf der Colonna Antonina. (Foto: Archiv für Kunst und Geschichte)

So sah der Lcgatenpalast von Vetera aus. Das Modell steht iin Rheinischen Landesmuseuni Bonn. (Foto: Rheinisches Landesmuseum Bonn)

der Tatsache, daß man es durchweg mit bebautem Gelände zu tun hat, freihch in den Sternen. Mit anderen Worten: die Chancen, daß diese ältesten Rönierlager in Deutscliland in absehbarer Zeit erkannt und ergraben werden, sind gering. Eingesargt bleibt einstweilen auch die Hoffnung, dem Problem Aliso neue Aspekte abzugewinnen. Ebenso wird die vielzitierte «Örthclikeit der Varusschlacht» weiterhin eine unbekannte Große der Geschichtsschreibung bleiben. Unabhängig davon gebührt den Haltemer Grabungen, die in den letzten Jahren mit guten Ergebnissen fortgesetzt wurden, ein historisches Verdienst. Daß liier der Hauptwaffenplatz der Römer an der mittleren Lippe lag, steht fest; ebenso, daß er unsere Kenntnisse über Bewaffnung, Unterbringung und Versorgung einer augusteischen Legion bedeutend erweitert hat. Auch die archäologische Forschung hat von den Halterner Grabungen profitiert. «Auf dem Fundplatz Haltern», so heißt es bei Stieren, «hat die Altertumskommission, unterstützt von hervorragenden Fachleuten Deutschlands. .. , die modernen Grabungsmethoden für Holz-Erde-Bauten entwickelt und in den Sattel gehoben.» Erst seit Haltern weiß man, daß nichts so dauerhaft ist wie ein Loch, und daß Erdverfärbungen im Boden der gleiche urkundliche Wert zukommt wie den Handscliriften der Historiker.

3 Pörtner

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Zweites Kapitel P O M P E J I AM N I E D E R R H E I N Ritter Götz bei den Legionären Vom Legionstheater zur Freilichtbühne *Der niedergermanische Limes • Das Prunklager der neronischen Zeit • Civilis betritt die Szene *Eine Belagerung im Jahre 69 • Die «Seeschlacht» in der Rheinniederung • Lebensretter als Altertumsforscher *Die versunkene Römerstadt • Unter der Tarnkappe des Drachentöters • Das Martyrium des heiligen Viktor • Ein Doppelgrab im Dom • Die Grabungen im 8, Jahrhundert • Erkennt Xanten seine Chance ? Fanfarenstöße verkündeten den Beginn des Spiels vom Ritter Götz von Berlichingen. Die Lautsprecheranlage, die die gellenden Töne übertrug, war, wie unser Cicerone betonte, genau da montiert, wo sich vor neunzehnhundert Jahren die Feldherrnloge befand; bescheidener ausgedrückt: die Loge der beiden Legaten, denen die Legionen des nahegelegenen Lagers unterstanden. Und genau wie damals, wenn der rangälteste Offizier des Zwei­ legionenlagers von Vetera das Zeichen zum Beginn der Spiele gab, waren die aufsteigenden Ränge des Amphitheaters dicht besetzt, und die sonnendurchflirrte Luft vibrierte vor Erwartung. Vom ^^th^t"

Das Publikum freilich hatte ein anderes Gesicht. Auf den Plätzen der rauhen Krieger Roms saßen fröhlich zwitschernde Mädchen, deren bunte Sommerkleider und Kopftücher die grasüberFreilicht-- wachsenen Sitzreihen vielfarbig betupften, schubsten sich Schüler und bühne Schülerinnen der näheren und weiteren Umgebung, von ihren Lehrern vergeblich zur Ordnung gerufen, biwakierten Bauernfamihen mit ihren Kindern und Kindeskindern. Nicht zu übersehen auch die zalilreichen grauhaarigen Matronen der Frauenvereine, deren Omnibusse draußen zu förmlichen Wagenburgen aufgefahren waren, und was dergleichen ziviles und sonntäglich gestimmtes Volks mehr war. Die Freilichtbühne, ohne Zweifel die älteste Deutschlands, die all-

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jährlich im Sommer mehr als 50000 Besucher aus den frucht­ baren Gefilden des Niederrheins anlockt, hegt bei dem Dorfe Birten 3 Kilometer von Xanten, am südhchen Hang des Fürstenberges, der sich hier w^ie ein großes schlafendes Tier aus den fließenden Weiten der Landschaft erhebt. Es handelt sich um eine halb natürhche, halb künst­ liche Anlage, einen «ovalen Erdaufwurf mit vier Eingängen », der von römischen Soldaten um eine bereits vorhandene Mulde geschaffen wurde und mit seinen 98 mal 84 Metern eine Arena von 47,5 mal 34,5 Meter umschloß. Spuren von Mauerwerk wurden bisher nicht entdeckt, so daß man es wohl mit einem reinen Holz-Erde-Werk zu tun hat, aber wahrscheinlich war es gerade der improvisatorische Charakter dieses Legionstheaters, der es vor der Zerstörung bewahrte. Nach Abzug der Römer wurde es nämHch von Baum, Busch und Strauchwerk überwuchert, so daß es sich in eine dunkle Sclilucht ver­ wandelte, die niemand gern betrat. Sie galt zudem als verrufener Ort, da die Legende den Märtyrertod des heiligen Viktor, des Schutzheiligen von Xanten - zu Unrecht zwar, aber nichtsdestoweniger dauerhaft -, an diesen düsteren Ort verlegte. Daher auch der Name Viktorsloog oder Viktorslager... Mitte der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts machte das alte Legionstheater seine Wandlung zur modernen Freüichtbühne durch. Die Eigenart des Amphitheaters ging dabei ein wenig verloren. Der Innenraum, die alte Arena also, wurde zum großen Teil mit Bankreflien ausgestattet, der Westteil des Ovals mit einer Art von Bühne versehen, deren Holzbauten je nach Bedarf einen Burghof, einen Söller, eine Domtreppe, einen Kaisersaal oder eine keusche Kemenate darstellen, den bildkräftigen Hintergrund für jene ritterlichen und komödiantischen Spiele, die hier besonders gepflegt werden... Doch solchen Veränderungen zum Trotz stellt das alte Amphitheater - ein merkwürdig faszinierender Gedanke - noch immer eine Direkt­ verbindung zu den römischen Jahrhunderten am Rhein dar. Wenn man irgendwo sagen kann, daß die Vergangenheit noch nicht vergangen ist, dann hier. Dieses Vetera war in der Tat ein Platz von geschichthcher Bedeutung, Der nieder^ der manch prunkvolleren Namen an Rang und Größe auszustechen vermag. Hier traten in der Zeit der Drusus-Offensiven die Armeen an. die sich an der Lippe entlang den Weg in die Herzkammern Germaniens bahnten, - Kaiser Augustus weilte damals in höchsteigener Person drei 35

Jahre teils in Gallien, teils in Germanien und wird auch vom Fürstenberg aus, dessen Sockel noch vom meerwärts fließenden Rjiein umspült war, das Gelände inspiziert haben. Hier waren mit höchster Wahrscheinlichkeit zwei der drei Legionen bereitgestellt, die in der mehrtägigen Varusschlacht zerrieben wurden. Hier - wo damals «die schlechten Elemente des römischen Stadtpöbels den Ton angaben» - brach nach dem Tod des Augustus jene Mihtärrevolte aus, die schnell um sich griff und zeitweilig den Bestand des niedergermanischen Limes gefährdete. Die Existenz eines solchen niedergermanischen Limes ist erst durch die archäologische Arbeit der letzten Jahrzelmte nachgewiesen worden. Er begann im heutigen Valkenburg in Holland am nördlichsten Arm des Rheindeltas und endete am Vinxtbach bei Sinzig. Der Strom bildete auch liier die natürhche «Schutzwehr des Reiches». Rückgrat der Verteidigung aber waren die großen Legionsfestungen, als deren stärkste sich Nijmegen, Xanten-Vetera, Neuß und Bonn ausgewiesen haben. Zwischen diesen Festungen lagen kleinere Kastelle, die durchweg mit Hilfstruppen belegt waren, selbständigen Formationen, in denen die Söhne der Bundesgenossen unter römischer Fülirung dienten. Als solche Kastelle sind uns u. a. Rindern (Harenaticum), Altkalkar (Burginatium), Asberg (Asciburgium), Gellep (Gelduba), Dormagen (Dornomagus) und Remagen (Rigomagus) bekannt geworden. Die noch ver­ bleibenden Lücken wurden durch Miniaturfestungen und Wachtürme ausgefüllt, die sich bis auf 1000 Meter einander näherten, so daß sie sich durch optische Zeichen verständigen konnten. «Alle Anlagen verband» - so heißt es bei Flarald von Petrikovits, der diesen niedergermanischen Limes erkannt und erforscht hat «eine Straße, die so nahe am damahgen Rheinufer entlang fülirte, daß der RJiein von ihr aus ständig überwacht werden konnte. Entlang dem rechten RJieinufer gehörte ein Landstreifen gleichfalls zum Mihtärterritorium. Hier pendelten die Spähtrupps. Dieses rechtsrheinische Gebiet wurde auch wirtschaftlich genutzt.» Das Prunk- In diesem System nun nalim Vetera schon deshalb eine besondere lager der Stellung ein, weil es gegenüber der damaligen Lippemündung lag und damit das wichtigste Ein- und Ausfalltor Niedergermaniens kontrolherte. Daraus ergab sich, daß das Lager mit der Festigung der römischen Herrschaft am PJiein immer konstantere Formen annahm und schließlich fast ganz aus Stein aufgeführt wurde. 36

Das heißt nicht, daß es vorher, wie lange vermutet wurde, nur aus Erdwall und Graben sowie einem Innenraum für Zelte und Baracken bestand. Neuere Forschungen haben vielmehr ergeben, daß auch die augusteischen und tibetischen Quartiere schon Holz- und Fachwerk­ bauten kannten. Offenbar auf Befehl des Kaisers Claudius wandte man sich jedoch um die Mitte des ersten Jahrhunderts an der germanischen Rheinfront einer dauerhafteren Bauweise zu, die auch den Stein und da­ mit die architektonische Leidenschaft der Römer zu Ehren kommen ließ. Das Ende dieser Entwicklung markierten die großen Legionsfestungen, zu denen auch Vetera gehörte. Genauer gesagt: das große neronische Lager von Vetera, dessen Ausgrabung und Erforschung zu den Groß­ taten der deutschen Archäologie gehört. Schon die Humanisten und gelehrten Herren des Clevischen Hofes suchten das von Tacitus beschriebene Lager in der Gegend von Xanten, und bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde die Meinung laut, daß zwei Türme des 1586 zerstörten, 1670 auf Abbruch verkauften Benediktinerklosters auf dem Fürstenberg römischer Herkunft seien. Diese These erhielt durch zalilreiche Zufallsfunde ständig neue Nahrung. Die Behauptung, daß frülier schon ein Wolkenbruch genügte, um Münzen und allerlei Kleingerät aus der römischen Zeit auf dem Fürsten­ berg ans Tageshcht zu spülen, dürfte zwar der lokalen Mythenbildung angehören, Tatsache ist aber, daß die Pflüge der Bauern dem Erdboden zalilreiche Topfscherben, Glasbruchstücke, ja, sogar Ringe und anderen Schmuck abgewannen. Auch der berühmte Caehus-Stein aus dem Kenotaph des Legaten Pubhus Caehus, der in der Schlacht im Teuto­ burger Walde fiel, war ein solcher Zufallsfund; in unmittelbarer Nach­ barschaft des Amphitheaters entdeckt, ist er heute das mehrstemige Prunkstück der römischen Sammlung des PJieinischen Landesmuseums in Bonn. Das Gelände selbst stellte sich, als 1905 die ersten Suchschnitte gezogen wurden, genau wie heute als eine sanft gewellte, etwa 50 Meter über den PJiein ansteigende Ackerlandschaft dar, durch die, außer der Duisburg-Clever Bahn, einige kaum befestigte Landwege führten, - so die Alte Poststraße, der Alte Heerweg oder jener gemächlich zu bewandemde Püttweg, der, wie wir heute wissen, quer durch das alte Lager auf die Grenzscheide zwischen Birten und Xanten zuläuft. Um so überraschender waren die Ergebnisse der Grabungen, um die sich besonders die beiden Direktoren des Rheinischen Landesmuseums 37

in Bonn, Hans Lehner und Franz Oelmann, verdient machten. Sie ver­ mochten deudich drei Hauptperioden zu unterscheiden, von denen die erste etwa vom Jahre 15 v. Chr. bis zum Jahre 16 n. Chr. reichte, also die Zeit der augusteischen und tiberischen Offensiven umschloß, die zweite sich bis in die Regierungszeit des Kaisers Claudius erstreckte, die dritte bis zur Zerstörung des Lagers im Jahre 70 dauerte. Die äußeren Maße haben sich in diesen Dezennien kaum geändert. Sie sind durch folgende Zahlen genau wiedergegeben: Außenfläche der Umfassungsmauer - Länge 902, Breite 621 Meter; Spitze des inneren Lagergrabens - Länge 912, Breite 631 Meter; Spitze des äußeren Lager­ grabens - Länge 933, Breite 644 Meter. Eine respektable Anlage also, mit einem Flächeninhalt von 60 Hektar oder 240 Morgen.

Lageplan der römischen Lager und Siedlungen im Raum Vetera-Xanten. 38

Die Grabungen lieferten vor allem ein umfassendes und sehr eindrucks­ volles Bild des letzten, des neronischen Lagers, das mit jeglichem Luxus seiner Zeit ausgestattet war. Die Via principalis zum Beispiel war sieben Meter breit und auf beiden Seiten von Kolonnaden gesäumt, hinter denen Verkaufsläden und Magazine lagen. Mittelpunkt des Lagers war - hier wie überall - die Principia (oder das Praetorium, wie man früher meist sagte), ein rechteckiges, überaus selbstbewußtes Gebäude von 120 mal 94,8 Meter Grundfläche, ein wohl­ durchdachter Bau mit großer Halle und Versammlungshof, um den die Waffenkammern, Büroräume, Archive und das Falmenheihgtum gelegen waren. Den gleichen Komfort ließen die beiden Legatenwohnhäuser er­ kennen, deren jedes einen riesigen, rennbahnartigen Raum enthielt, der in einem Fall 83 mal 18,5 Meter, im andern Falle 74,6 mal 19 Meter maß - hier wie dort dürfte es sich nach neueren Forschungen um säulen­ umstandene Innengärten gehandelt haben. Die Gesamtanlage bewies, genau wie die in Vetera gefundenen Ge­ schirre, Kelche und Trinkgefäße, einen ungewöhnlichen Grad formaler Vollkommenheit. Daß sie Refugium und Repräsentanz eines hoch­ stehenden, musischen Geistes war, eines echten arbiter elegantiarum, ist sicher. Durchaus möghch, wenn auch unbewiesen, daß es der ethehe Jahre in Germanien weilende ältere Plinius war, dem Vetera diese splendiden Bauwerke verdankte. Er berichtet zum Beispiel, daß die Legaten Pompejus Paulinus und Duvius Avitus, die in neronischer Zeit in Niedergermanien nacheinander kommandierten, sich durch ihre Vorliebe für reiches, kunstvolles Tafel­ geschirr auszeiclineten. «Wir denken dabei», so kommentiert Lehner diesen Satz, «an den Hildesheimer Silberfund, jenes prächtige Tafelgeschirr..., welches ganz gut aus dem Besitz eines der Legaten von Vetera stammen und im Jahre 70 in dem eroberten Lager erbeutet sein kann; oder an den soge­ nannten Xantener Knaben, jene lebensgroße Bronzestatue, die, im RJiein bei Xanten gefunden, sich durch neue Forschungen als Teil eines Kredenztisches erwiesen hat. Die Besitzer solch kostbaren, kunstvollen Hausrats wohnten nicht in bescheidenen Zelten oder Baracken, sondern in geräumigen Wohnungen mit Prachtsälen... , und sie brauchten für ihre repräsentierenden Amtshandlungen... großräumige Prunkgebäude wie die Halle und den Säulenhof des Praetoriums...» Zu den vornehmen Dienst- und Wohnhäusern gesellte sich eine Reihe weiterer prächtiger Gebäude, deren Verwendungszweck nicht 39

ganz geklärt werden konnte - vielleicht beherbergten sie die Präfekten der Hilfstruppen. Weiter wurden drei Infanteriekasemen der üblichen Bauart festgestellt, sowie ein Lazarett mit Operationssaal und zahlreichen Krankenstuben. Auch Spuren der sogenannten Canabae, der Lager­ vorstadt, zu der auch unser Holz-Erde-Amphitheater gehörte, wurden gefunden, unter anderem mehrere steinerne Sockelmauem, die ziegel­ gedeckten Fachwerkhäusern als Fundament dienten__ Ein Lager also, das mit allen Finessen der neronischen Zeit ausge­ stattet war und - im Vollgefühl seiner Sicherheit - nur fortifikatorisch einige Wünsche offenließ. Dieses Manko trug sicher zu dem Verhängnis bei, das eines Tages mit vernichtender Gewalt über die Festung herein­ brach. Civilis Die Geschichte seiner Zerstörung ist zugleich die Geschichte des betritt die Civilis-Aufstandes, der im Jahre 69/70 die römische Herrschaft am Rhein bis in die Grundfesten erzittern Heß. Der Niederrhein bis zur Mündung war damals Siedlungsgebiet der Bataver, eines germanischen Stammes, dessen soldatische Tugenden durch einen so hervorragenden Gewährs­ mann wie Tacitus beglaubigt sind. Sie waren tollkühne Reiter, ausgezeichnete Schwimmer und von einer Unerschrockenheit, die auch den Römern Respekt abnötigte. Tacitus weist ausdrücklich daraufhin, daß sie als Bundesgenossen, nicht etwa als Unterworfene behandelt wurden. «Auf ihnen ruht kein ent­ würdigender Tribut, kein Steuerpächter saugt sie aus; frei von Lasten und Abgaben und nur zum Dienst im Krieg aufgerufen, sind sie wie Wehr und Waffen für den Kampf bereitgestellt.» Allein in der unteren Provinz stellten sie tausend Reiter und neun­ tausend Fußsoldaten, und selbst die kaiserliche Wache in Rom bestand vorzugsweise aus den hünenhaften Söhnen des Niederrheins. Selbstverständlich hatten die Edlen dieses Volkes längst Zugang zu den Offizierstellen, zumindest der römischen Auxiliarformationen, gefunden. Zwei von ihnen, die Brüder Paulus und Civilis, waren jedoch bei Kaiser Nero in Ungnade gefallen - Paulus war hingerichtet. Civilis ins Gefängnis geworfen. Kaiser Galba, der Statthalter Spaniens, der sich nach Neros Tod bis zu seiner eigenen Ermordung für einige Wochen in den Purpur des Imperators hüllte, gab dun die Freiheit zurück. Wenig später riefen in Rom die Prätorianer den Otho, in Köln die Legionen der Rheinarmee den VitelUus zum Kaiser aus. Dieser zog nahezu seine gesamte Macht zusammen und marschierte nach Italien, 40

Krypta des Xantcner Doms. Heutiges Bild nach den Grabungen Baders. Unten rechts das Doppelgrab zweier Märtyrer aus der Zeit von 361 -363. Darüber moder­ ner Altar mit Wandmosaik. Oben links die Fundamente der steinernen Cella Memoriae von 450 und der karolingischen Kirche. Rechts davon steinerner Tisch aus dem Holzbau des 4. Jahrhunderts. (Foto: Hubmann)

Die Reste zweier Töpferöfen, die bei den Xantener Doingrabungen entdeckt wurden. Oben links, an der Erdverfärbung kenntlich, Spuren einer Vorrats­ grube. Oben rechts der Grabungsleiter vor zwei Pfostenlöchern. (Foto; Hubmann)

l^ic kurz zuvor entdeckten Töpferöfen werden mit Hilfe von Zollstock und Senkblei genau vermessen. Eine maßstabgerechte Zeichnung hält die Ergeb­ nisse fest. (Foto: Hubmann)

Der Leiter der Xantener Domgrabungen, Dr. Hugo Borger, in seiner Behau­ sung. A uf dem Tisch Urnen, Kannen und Töpfe aus römischer, fränkischer und karolingischer Zeit, die bei den Grabungen gefunden wurden. (Foto; Hübmann)

wo ilim nach seinem Sieg über Otho jedoch ein neuer, tüchtigerer und glücidicherer Gegenspieler in Vespasian erwuchs. Diese verworrene Situation nutzte Claudius Civüis, sich dem Schein nach auf die Seite Vespasians zu stellen, in Wirklichkeit aber die Bataver und mit ilinen die Friesen, Brukterer, Usipeter, Tenkterer und Canninefaten aufzuwiegeln. Er war, wie auch Tacitus bekennt, ein recht gescheiter Kopf, mit dem Öl der Beredsamkeit gesalbt und mit allen Wassern der Demagogie gewaschen, überdies von mächtiger Gestalt und einprägsamem Äußeren. Einäugig wie Hannibal, trug er einen rotgefärbten Bart, den er erst nach Vertreibung der Römer zu scheren gelobte. Mit dem Segen der Veleda, einer Art germanischer Pythia, wohl­ versehen, versammelte er die Verschworenen zu nächtlicher Stunde in einem heihgen Hain und hielt ihnen eine Brandrede, in der er die Feinde, wie man auch heute zu tun pflegt, Blutsauger, Erpresser und Betrüger nannte. Mit dem Hinweis auf die entleerten Winterquartiere, in denen, wie er sagte, außer liilflosen Greisen nur Unmengen an Beute des germanischen Zugriffs harrten, weckte er zugleich die Begehrlichkeit. Auch die Trommel der Selbstbehauptung verstand er vortrefflich zu rühren. «Freiheitssinn », so etwa schloß er sein rhetorisches Meisterstück, «hat die Natur auch den stummen Tieren verUehen, Mannestugend dagegen ist das dem Menschen eigentümliche Gut. Und die Götter schenken dem ihre Gimst, der den größeren Mut hat. » Dann brach der Sturm los. Civüis operierte auch als Heerführer mit Eine beträchtlichem Geschick. Schon nach wenigen Wochen waren die Auxüiarlager der Bataverinsel eingenommen und eine aus Vetera aus­ gerückte römische Truppenmacht blutig zurückgeschlagen. Und noch im Spätsommer des Jahres 69 erschien er selbst vor Vetera und schloß die Festung ein, die von etwa 5000 Mann der 5. und 15. Legion ver­ teidigt wurde, nachdem sie die Lagervorstadt dem Erdboden gleich­ gemacht hatten. Mehrfach versuchten die Bataver im Verein mit ihren Verbündeten, das Lager im Sturm zu nehmen. Sie erwiesen sich dabei als tüchtige Schüler ihrer römischen Lehrmeister. So führten sie Leitern, Lauben und Schilddächer ins Treffen, ja, sie verfügten über beweghehe Brücken, die auf Rädern an die Wälle herangerollt wurden. Ausgesuchte Kämpfer standen auf der Plattform der ungefügen Kriegsmascliinen, bereit, die 41

Wälle von hier aus zu erspringen, während andere im Innern verborgen waren, um von dort die Mauern einzureißen. Doch die Ballisten der Verteidiger zertrümmerten die schwerfälligen Werke, ehe sie gefährlich wurden, und was zu tun bHeb, schafften die brennenden Lanzen und Pfeile der Legionäre, die die Schanzkörbe und Schirmlauben der Belagerer in Flammen aufgehen ließen. Auch warfen sie eisenbeschlagene Pfähle und schwere Feldsteine auf die Angreifer und erwehrten sich ihrer mit flüssigem Blei. Gelang es diesen dennoch, die Verschanzung zu erklimmen, so wurde der Kampf auf der Mauer mit kurzen Schwertern und Dolchen weiter­ geführt. In diesem Ringen Mann gegen Mann waren Ausbüdung und Disziplin der Römer der ungestümen Tapferkeit der Germanen überlegen. Es spricht also nur für die Einsicht des Civilis, daß er nach mehr­ fachen erfolglosen Unternehmungen darauf verzichtete, die Festung weiterhin zu attackieren, und daß er sich darauf verlegte, sie durch Aushungerung zur Übergabe zu zwingen. Bevor er damit jedoch zum Zuge kam, wurde das Lager - es war inzwischen tiefer Herbst gewor­ den - durch eine von Mainz heranrückende Truppe unter Befehl des Legaten C. Dillius Vocula entsetzt. D ie ^.Seeschlacht** in der R hein­ niederung

Civihs, nach einem schweren Sturz vom Pferde außer Gefecht gesetzt, zog ab. Vocula versäumte, ihm auf den Fersen zu bleiben und begnügte sich damit, die Schanzen instand zu setzen und die Festung neu zu ver­ proviantieren. Dann setzte er sich von Vetera wieder ab und ging über Gellep nach Neuß zurück, wo er das Lager in hellem Aufruhr vorfand, der sich kurz nach seiner Ankunft in Gewalttaten entlud. Hordenius Flaccus, der Oberbefehlshaber sämtlicher in Germanien verbliebenen Einheiten, wurde von den meuternden Truppen erschlagen. Vocula entging dem gleichen Schicksal nur dadurch, daß er, als Sklave verkleidet, sich nächthcherweise aus dem brodelnden Lager stahl. Der Nutznießer dieser blutigen Rebellion war Civüis, der das nur noch von 3500 Mann verteidigte Vetera jetzt erneut einschloß, Gefechte mit den Neußer Legionen siegreich bestand und - nach dem inzwischen bekanntgewordenen Tod des Vitellins - offen auf eine Abtrennung der Rheinlande und der gaUischen Provinzen von Rom hinarbeitete, unter­ stützt vor allem durch die Treverer Classicus und Tutor. Sein Nahziel hatte er bald erreicht - Vetera streckte die Waffen, nachdem die letzten Pferde dem Hunger der Soldaten geopfert worden 42

waren. Civilis forderte Plünderung des Lagers und Übergabe der Kriegs­ kasse, versprach aber freien Abzug, - was die entfesselten Germanen freilich nicht hinderte, die abmarschierenden Legionäre zu überfallen und niederzumetzeln. Das Lager selbst wurde in Brand gesetzt und bis auf die Grundmauern zerstört, Munius Lupercus, der gefangene Legat, gleichsam als Morgengabe des Sieges der Seherin Veleda geschickt, deren sagenhaften Wohnturm er aber nicht erreichte, da er schon unter­ wegs umgebracht wurde. Civüis heß, seinem Schwur getreu, den rotgefärbten Bart scheren. Von Tacitus hören wir auch, «daß er seinem kleinen Solm einzelne Gefangene als Zielscheibe für seine Pfeile und kindHchen Wurfspieße zur Verfügung gestellt habe». Der Triumph schien vollkommen, währte aber nur wenige Monate; denn schon im Sommer des Jahres 70 wurde Civüis durch den aus härterem Holz als Flaccus und Vocula geschnitzten Legaten Q. Petüius CeriaUs, einem Verwandten Vespasians, bei Trier geschlagen. Wenige Monate später stellte er sich den wiedererstarkten Römern, die nun - nach den Wirren des Vierkaiserjahres - alle ihre Mittel und Erfahrungen aufboten, bei Vetera zum Entscheidungskampf. Wahrscheinlich ostwärts des Fürstenberges, in der künsthch über­ schwemmten Rheinniederung, kam es nach Tacitus zu einer Art von «SeesclJacht», in der die Bataver dank ihrer kühnen Reiter und tüchtigen Schwimmer zunächst Vorteüe errangen, dann aber umgangen wurden und schließlich das Feld räumen mußten. Civüis zog sich «auf die Bataverinsel» zurück. Aber noch der ge­ schlagene Löwe zeigte seine Klauen. So gelang ihm ein Überfall auf das Schiff des Ceriahs, und wenn der siegreiche Feldherr nicht gerade auf Landurlaub geweüt hätte - bei einer Dame namens Claudia Sacrata, einer Frau aus ubischem Geschlecht -, hätte die Entwicklung vieUeicht noch eine Wendung genommen. Doch die Bataver und ihre Bundes­ genossen waren kriegsmüde geworden; auch mochten sie wohl ahnen, daß sie den Ordnungsprinzipien und dem zivüisatorischen Geist des Imperiums nichts Gleichwertiges gegenüberzusteUen hatten. So kam es zu Verhandlungen. Irgendwo im Rheindelta wurde eine Brücke über den Strom gebaut. In der Mitte blieb eine Lücke. Jeder von seiner Seite, traten der Römer und der Bataver einander gegenüber. Und Civüis, zwar geschlagen, aber nicht bezwungen, hob zu einer großen Verteidigungsrede an . . . 43

Hier bricht der Bericht des Tacitus ab. Die weitere Spur des Bataver­ fürsten verhert sich im Dunkel der Geschichte. Auch von dem zweiten Lager Vetera wissen wir nur sehr wenig. Immerhin ist es der archäologischen Forschung gelungen, wenigstens die wichtigsten Details zu klären. Lebensretter An einem heiteren Junitag des Jahres 1958 hef in der Drefeldtschen ^ Kiesgrube, etwa drei Kilometer südwestlich von Xanten, unweit dem forscher heutigen Rjieinlauf, ein nicht gerade alltägUches Unternehmen an. Ein knappes Dutzend in Trier beheimateter Taucher der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft stieß zu einer Gruppe Bonner Archäologen, die sich für einige Tage in einem Zeltlager zu Füßen des Fürstenberges etabUert hatte. Die Trierer Lebensretter, geführt von dem Arzt Dr. Keusch, dessen Passion die Erforschung von Kreislaufproblemen beim Schwimmen und Tauchen ist, gingen unverzüglich ans Werk. Mit Flossen und Sauerstoffgerät ausgerüstet und an ein mitfahrendes Schlauchboot geseilt, begannen sie systematisch den einige hundert Meter langen, gut 50 Meter breiten Teich abzusuchen. Während die Bagger unverdrossen weiterarbeiteten und die kiesgefüllten Loren an den Stahltrossen der Seilbahn rheinwärts knirschten, sah man die Flossen­ menschen hechtend in dem dunklen Wasser der Grube ver­ schwinden. Was sie zu berichten hatten, wenn sie nach 20 oder 30 Minuten prustend wieder am Tageshcht erschienen, klang zunächst wenig erfolgverheißend. Das Gewässer war an die 15 Meter tief, aber schon fünf Meter unter der Oberfläche wurde es dunkel wie die Nacht, und unten auf der Sohle herrschte tiefste Finsternis, bei einer Temperatur von nur wenigen Grad, die an die Taucher auch körperlich die härtesten Anforderungen stellte. Mit einer eisernen Suchstange ausgerüstet, tasteten sie trotzdem drei Tage lang den Grund der Grube methodisch ab, und bald schon wurden auf der Wasseroberfläche die ersten Luftballons als Markierungszeichen gesetzt. Sie zeigten die Mauerreste an, die, wie erwartet, in den Tiefen der Kiesgrube deutUch festzustellen waren . . . Die Hoffnungen, die man an diese erste - selir behelfsmäßige, sehr unzulänghche - archäologische Unterwasseraktion in Deutschland ge­ knüpft hatte, erfüllten sich also. Dr. Harald von Petrikovits, der wissenschafthche Leiter des Unternehmens, konnte über diese Entdeckung mit Recht erfreut sein. 44

Die Mauern, die hier schon lange vermutet, nun aber endgültig nach­ gewiesen worden waren, gehörten dem zweiten Vetera-Lager an, das walirscheinhch kurz nach der Zerstörung der Festung auf dem Fürsten­ berg entstand. Es ist belegt, daß die beiden zerriebenen Stammlegionen des alten Lagers, die Fünfte und die Fünfzehnte, zunächst durch die wohl von Pannonien zum RJiein verlegte Zweiunddreißigste ersetzt wurden. Diese löste rund 20 Jalire später die bis dahin bei Neuß stehende 6. Legion ab, die ihrerseits um das Jahr 120 herum der 30. Legion, der Ulpia victrix, Platz machte. Die Dreißigste war dann Hausdivision von Vetera, zumindest bis zum Frankensturm des Jahres 276. Ilir Dasein ist archäologisch durch zahlreiche Ziegelstempel und Kleinfunde belegt, nicht zuletzt durch die Platte eines Bronzesockels, die dem Gedenken des Pubhus Aehus Severinus, des Fahnenträgers der Dreißigsten, gewidmet ist. Auch der Name Tricensima, den eine im 4. Jahrhundert wiederhergestellte Befestigung im Xanten-Birtener Raum trug, weist auf die «Dreißigste » hin. Vetera II lag also nicht, wie sein Vorgänger, auf dem Fürstenberg, sondern strategisch günstiger auf der unteren Stufe der PJieinterrasse, gegenüber der alten Lippemündung, durch den Pdiein selbst sowie einen Baclilauf abgesichert. Seine Festigkeit wurde freihch nicht auf eine ähnhch harte Probe gestellt wie die der Fürstenbergfestung. Nach melir als zweüiundertjäliriger Dauer der «pax romana» scheint es erst nach dem FrankeneinfaU des Jahres 276 aufgegeben worden zu sein. Ob es danach noch einmal wiederhergestellt wurde und seine alten Funktionen wieder ausübte, ist unbekannt. Ebensowenig vnssen wir, wann seine Mauern durch eine südwesthch vordringende RJieinschlinge unterspült und schheßhch zum Einsturz gebracht wurden . . . Das Ruinenfeld auf der «Bislicher Insel» wurde bisher in einer Aus­ dehnung von 430 mal 250 Meter vermessen. Da anzunehmen ist, daß das Lager Vetera II, obwohl nur für eine Legion bestimmt, wesenthch größer war, bleibt dem Spaten - und den Baggern der Drefeldtschen Kiesgrube - hier noch einiges zu tun. Immerhin hat die Erforschung dieser zweiten Festung im Raum Vetera bereits wesentÜche Ergebnisse gezeitigt. Die Canabae können wenigstens auf der Karte eingezeichnet werden. Südwesthch vom Lager, unter den Wiesen, Äckern und Hecken der Rlieinniederung, wird ein heihger Bezirk vermutet. Auch die Gräberfelder sind bekannt. Auf das 45

Legionsterritorium entfällt eine Fläche von mindestens 11 mal 3,2 Kilo­ meter, das sind rund 3500 Hektar, und in der Nähe von Drüpt wird noch ein Kastell gesucht. . . Der Fachwissenschaft harren also noch zahlreiche Aufgaben in diesem Raum, nicht zuletzt in Xanten selbst sowie im nordwestüchen Vorfeld der Stadt, wo die Grundmauern der alten Colonia Ulpia Trajana wenige Meter unter der Ackeroberfläche bis vor kurzem ein fast vergessenes Dasein fülirten. D ie versunkene Römerstadt

Der Weg war leicht zu finden. Man verheß die Stadt durch das Clever Tor, folgte einige hundert Meter der Landstraße und bog dann, am Stumpf einer alten Windmühle, links in einen Feldweg ein. Schon wurden die Erdhaufen sichtbar, die die Grabungen ankündigten, «Feld­ herrnhügel » von drei bis vier Meter Höhe, die aber genügten, eine Vor­ stellung vom Ort der Handlung zu gewinnen. Ein weites, flaches Land, durch Hecken und Dralitzäune parzelliert. Auf den Weiden grasten Rinder, zwischen den Halmen des Roggens blühte roter Mohn. Telegrafenmaste gaben einer Bahnlinie das Geleit. Die wenigen Häuser hoben ihre roten Dächer aus dem Grün von Strauch­ werk und Bäumen . . . Darunter die versunkene Römerstadt. Die alte Mühle, so erklärte der Leiter der Grabungen, Dr. Hinz, gibt etwa ihren Mittelpunkt an. Die Chaussee, die sich bis heute an den Lauf der alten Imperiumstraße hält, durchsclinitt sie der Länge nach, schnurgerade, wie mit dem Lineal gezogen. Den Grundriß der Siedlung bildete, nach lateinischem Vorbild, ein Rechteck, das freilich nach einer Seite abgeschrägt war, und zwar dort, wo die Stadtmauer der heutigen Pistley folgte, die damals noch ein Teil des weitverzweigten Rheinlaufs war und als Hafen diente. Die Colonia Trajana bedeckte eine Fläche von 83 Hektar, war also nur wenig kleiner als das 96 Hektar große römische Köln. Die Colonia Trajana entstand, wie überliefert ist und durch ihren Namen bezeugt wird, auf kaiserUchen Befehl, doch gab es an gleicher Stelle bereits vorher so etwas wie einen kleinen Markt- und Händler­ flecken, dessen Wurzeln in die vorrömische Zeit zurückreichen, zu­ mindest bis in die letzten Jahrzehnte vor der Zeitenwende. Das Dorf war häufig Überschwemmungen ausgesetzt, scheint einige Male abgebrannt zu sein und dürfte auch den Bataveraufstand nicht heil überstanden haben, doch besaß es eine Art natürlicher Wachstums­ 46

energie, die es nach jeder Katastrophe schnell wieder emporschießen Heß. Diese Kernsiedlung enthielt bereits mehrräumige, strohgedeckte Fachwerkhäuser mit Koch- und Vorratsgruben, Windfängen und offenen Vorräumen, auch Scheunen und Speicher aus Holz. Trinkwasser wurde in Holzbrunnen gesammelt. Abflußrinnen stellten so etwas wie eine erste Kanalisation dar, und die Straße - oder sagen wir besser: der Hauptweg - war durch Pflöcke und Pfähle befestigt. Der Kai am Rheinarm bestand aus eichenen Bohlen, und obwohl die Fahrrinne kaum tiefer als 80 Zentimeter war, bildete der bescheidene Hafen ein wichtiges Element der kleinen, aber lebenskräftigen Siedlung. Es liegen keine Äußerungen darüber vor, was Trajan veranlaßte, dieses Dorf in den Rang einer mit allen Rechten ausgestatteten Kolonie zu erheben. Die Landschaft war dem Kaiser, der mehrere Jahre in Ger­ manien als Statthalter weilte, jedenfalls bekannt, und man darf anneh­ men, daß er die Gunst der Lage am PJiein sowie an der Kreuzung der Rlieintalstraße mit der Verbindungsstraße zur Maastalstraße wohl ein­ zuschätzen wußte. Das kaiserliche Projekt wurde mit einer Aufwendigkeit und Energie in Szene gesetzt, die Bewunderung erheischt. Das alte Dorf wurde radikal von der Karte radiert, das heißt: niedergebrannt und nieder­ gewalzt. Der Brandschutt wurde planiert und zur Ausgleichung der Unebenheiten mit einer Tondecke überzogen. Tuff aus dem Brohltal, Trachyt vom Drachenfels lieferten das Steinmaterial. Dem Aufbauplan lag das lateinische Schema zugrunde. Nach trans­ alpinem Vorbild erhielt also auch die Colonia Ulpia Trajana ihren schachbrettartigen Grundriß, zwei Hauptstraßen, deren Achsenkreuz auf die vier Tore zielte, eine zwei Meter starke Umfassungsmauer, einen heihgen Bezirk, große Verwaltungsgebäude, Kolonnaden, Thermen und was sonst zur wolilbedachten Organisation einer römischen Kommune gehörte. Mit welcher Großzügigkeit zu Werke gegangen wurde, lassen noch die Trümmer erkennen, die der Spaten des Archäologen im Erdreich freilegte. Gleich nach Beginn der neuen Kampagne, die durch den Bau eines Betonwerks vor den Toren von Xanten ausgelöst wurde, stieß man 1956 auf die Reste eines Gebäudes mit einem Grundriß von 105 mal 107 Meter und einem riesenhaften Innenraum von 70 mal 20 Meter. Man hat lange darüber gerätselt, welchem Zweck es diente. War es der obligate Staatstempel, wo dem Götterchef Jupiter die verordneten 47

Ehren erwiesen wurden, war es das Gerichtsgebäude, war es die Curie, der Sitz des Stadtrates also, war es eine Marktbasilika ? Schließhch wurde es als städtische Badeanstalt entlarvt. Deuthch zeichnete sich bald auch das aus lauter Karrees bestehende Straßenmuster ab. Und die Solidität der römischen Bauweise wird wohl durch nichts so selir bewiesen wie durch die Tatsache, daß ein Pfeiler des an dieser Stelle entstandenen modernen Betonwerks unmittelbar auf einen alten römischen Steinsockel plaziert wurde . .. Beispiele einer solch innigen Synthese von Alt und Neu sind selbst in Itahen äußerst rar. Die Stadt selbst trat etwa um das Jahr 100 ins Bhckfeld der Geschichte und erfreute sich gut anderthalb Jahrhunderte sichthchen Wohlstandes. Ihre Einwohnerzahl wird auf etwa zelmtausend geschätzt. Sie scheint auch die Stürme und Wirren des 3. und 4. Jalirhunderts einiger­ maßen wohlbehalten überstanden, ja, noch im 4. Jalirhundert eine glanzvolle Neubauperiode erlebt zu haben. Erst um die Mitte des 5. Jahrhunderts dürfte sie von ihren Bewolinern verlassen und dem Verfall preisgegeben worden sein. Eine riesige Ruinenstätte bheb zurück, die Jahrhunderte später für das um den heutigen Dom entstehende Xanten und sicher auch für den Dom selbst das Baumaterial heferte. Auch andere Städte am Nieder­ rhein profitierten von diesem gigantischen Steinbruch, ja, bis weit nach Holland hinein wurden die Reste der trajanischen Kolonie «en gros et en detail» verhandelt. Xantener Nonnen zum Beispiel tauschten römische Steinquadern gegen Wein - eine Tatsache, die einem Chronisten des 16. Jalirhunderts die Bemerkung entlockte: «Und so rannen die Reste der Römer durch die Kehlen der Nonnen auf und davon. > Unter der Daß in einem so phantastischen Trümmerfeld sich allerlei Sagen und ^ T^nkappe Mythen einnisteten, versteht sich von selbst. Dazu gehört etwa die töters iiici^l^würdige, allen geographischen Bedenken trotzende Überheferung von der trojanischen Herkunft der Franken - wobei wahrscheinlich zwei so ähnhch klingende Namen wie Troja und Colonia Trajana ein­ fach gleichgesetzt wurden. Auch die Siegfriedsage fand hier eine illegale Heimstatt, - der Drachentöter soll ja auf einer Burg bei Xanten auf­ gewachsen sein. Diese Mär stand 1934, in der hohen Zeit der Germanenforschung, Pate bei der Gründung der «Gesellschaft der Freunde zur Erforschung 48

der Siegfriedstadt Xanten », die den damals wenig geschätzten «Römern » unter den Archäologen die Chance gab, genau wie der Lichtheld selbst unter eine Tarnkappe zu sclJüpfen. Die Mittel der Siegfriedgesellschaft kamen jedenfalls auch einem Unternehmen zugute, das sonst keine Chance gehabt hätte, bewilligt zu werden: der Ausgrabung des römi­ schen Amphitheaters von Xanten, für die ebenfalls Dr. von Petrikovits verantwortlich zeichnet. Die Ruinen dieser Anlage bilden heute neben dem Dom den stärksten Anziehungspunkt der Stadt. Dabei ist außer den mächtigen Pfeilern, die die Zuschauerränge trugen, eigentHch nicht viel geblieben. Dieses Wenige genügt aber, die Phantasie anzusprechen und - was in diesem Fall wichtiger ist - einen Eindruck von den imponierenden Maßen dieses Amphitheaters zu vermitteln, das im Gegensatz zu dem Legions­ theater von Vetera, wenigstens in seiner endgültigen Gestalt, aus Stein errichtet war. Der erste Bau, dessen Entstehung etwa in die Zeit der Stadtgründung fällt, enthielt außer konzentrischen Mauerzügen noch drei Reihen hölzerner Stützen. Diese wurden hundert Jahre später durch Steinauf­ bauten ersetzt, welche die Gesamtanlage in ein Oval von 99 mal 87,5 Meter verwandelten. Zehntausend Zuschauer fanden darin Platz. Mit dem Colosseum in Rom verghchen, das 80 000 Menschen faßte, nimmt sich die Xantener Anlage zwar verhältnismäßig bescheiden aus, doch übertrifft sie andere bekannte Amphitheater bei weitem - das von Carnuntum bei Wien zum Beispiel hatte nur ein Fassungsvermögen von 3500, das von Aquincum bei Budapest von 7500 Personen. Auch technisch entsprach es allen Anforderungen der spätrömischen Zeit. Zwei große Tore mit fünf Meter breiten Rampen lagen in der großen Achse der Arena, weitere kleinere Zugänge führten von den Gelassen unterhalb einer 2,70 Meter über dem Kampfplatz hegenden Ehrentribüne in den Innenraum. Auch gab es Garderoben für die Gladia­ toren, sogenannte «carceres» für die Tiere, und mitten unter der Arena befand sich ein 16 mal 6 Meter großer Kellerraum. Die Kampfbahn selbst maß 60 mal 48 Meter und war mit einem röthchen eisenoxydhaltigen Sand bestreut. Daß sie unter anderem der Schauplatz blutiger Tierhetzen war, ist durch Knochenreste hinreichend belegt. Man fand die Hauer von Ebern, das Gehörn von Rindern und die Knochen von Bären und Auerochsen, den gefürchteten Urtieren der germanischen Wälder. 4 PÖrtner

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In dieses Amphitheater - und nicht in das von Vetera - hat man auch das legendäre Martyrium des heiligen Viktor verlegt. Er war, wie des es heißt, römischer Offizier, und zwar Angehöriger der geheimnisvollen heiligen Viktor Thebaischen Legion, die sich weigerte, an den von Diokletian befohle­ nen Christenverfolgungen teilzunehmen. Die daraufhin verfügte Auf­ lösung der Truppe verschlug den glaubensstarken Mann, der im Orient und an der unteren Donau tapfer für seinen Kaiser gekämpft hatte, an den Niederrhein. Noch einmal führte man ihn hier vor das Standbüd des Imperators und forderte ihn auf, seinem Glauben zu entsagen und dem Kaiser zu opfern. Aber nicht einen Augenbhck, so wird erzählt, wurde der Heüige in seiner Treue wankend. «Erhebt Euer Schwert», rief er, «daß Ihr das Werk vollendet. Uns ist es gegeben, die fremde Erde zu weihen mit unserem Blut, daß sie ewig für Christus gewonnen sei, ihm, dem wir leben und sterben.»Dann starb er den Glaubenstod, gemeinsam mit seiner ganzen Kohorte. Seine und seiner Soldaten Gebeine wurden, wie es in den Heihgengeschichten weiter heißt, später in den Sümpfen bei Xanten gefunden und in einer Kapelle beigesetzt, die Helena, die fromme Mutter des Großen Konstantin, im Vorfeld der Colonia Trajana errichten Heß. Diese Kapelle wurde die Urzelle des berühmten Domes und damit der neuen Stadt, die in Anlehnung an das Viktorsstift entstand. Von ihr empfing die Stadt auch ihren Namen; denn die fromme Stätte wurde «Ad sanctos martyres» genannt, «Zu den heiligen Märtyrern», und daraus wurde der Name Xanten. Die sterblichen Reste des Heiligen aber werden bis heute in einem kostbaren goldenen Reliquienschrein inmitten des Xantener Hochaltars aufbewahrt.

D as Martyrium

Ein Doppelgrab im Dom

Als Prof. Walter Bader, von diesen Überlieferungen ausgehend, im Jahre 1933 die ersten Grabungen unter dem Dom veranstaltete, kam er tatsächhch zu einem überraschenden, ja, sensationellen Ergebnis. Am 26. Oktober 1933 - das Datum güt seitdem als eines der wichtigsten der Stadtgeschichte - wurde unter dem Kanonikerchor, 3,54 Meter unter dem Plattenfußboden, ein wohlerhaltenes Doppelgrab freigelegt. Die Gebeine der beiden Toten, die in einem gemeinsamen Holzsarg bestattet waren, wurden im Februar 1934 durch die Professoren Pietrusky, Naegeh und Stöhr, medizinischen Koryphäen der Universität Bonn, untersucht und begutachtet. Nach ihrer Diagnose «handelte es 50

sich mit Sicherheit um die Skelette von zwei Männern im Alter von dreißig bis vierzig Jahren, die nebeneinander zu gleicher Zeit an der jetzigen Stätte begraben worden sind. Der siidhch Liegende hatte bei der Bestattung zahlreiche Rippenbrüche und eine Ausrenkung des rechten Oberschenkels. Die gefundenen Verletzungen sind geeignet, einen gewaltsamen Tod zu erklären. » Man stellte weiter fest, daß die beiden jungen Männer während der Regierungszeit von Kaiser Julian Apostata erschlagen wurden, in der Zeit von 361 bis 363 also, da eine letzte Welle grausamer Christenver­ folgungen durch das sterbende Imperium ging. Kein Zweifel demnach, daß es christliche Märtyrer waren, die hier ihre letzte Ruhestätte ge­ funden hatten. Die Namen der beiden Glaubensopfer bUeben unbekannt. Das Patro­ nat über die einzigen nie gestörten Märtyrerrehquien, die nördlich der Alpen an die römische Zeit erinnern, übernahm der heilige Viktor. Die Domgrabungen, die 1953 wiederaufgenommen wurden, noch immer andauern und dank ilirer Systematik und Gründhchkeit inter­ nationale Anerkennung erfuhren, haben auch diesen Vorgang weit­ gehend erhellt. Nach dem vorläufigen Bericht von Dr. Hugo Borger, der die Grabun­ gen seit 1955 leitet, steht es heute zweifelsfrei fest, daß in der Colonia Trajaiia tatsäclilich «Christen gelebt haben, die ihre Toten» - nach römischer Sitte - «vor der Stadt begruben». Einer ihrer Friedhöfe lag unter dem Immunitätsbereich des Xantener Domes, auf einem hoch­ wasserfreien Platz, der vielleicht schon in der vorröniischen Zeit als Bestattungsort diente. Zumindest hatte dieser christHche Gottesacker einen älteren Vorgänger mit heidnischen Brandgräbem, die aber bei Anlage des christhchen Friedhofs im 4. Jahrhundert zerstört wurden, «wie den in den jüngeren Grabgruben verstreut vorkommenden Resten zu entnehmen ist». Auf diesem christlichen Friedliof fanden auch die beiden unbekannten Märtyrer ilire letzte Ruhestätte. Über ihrem Grab wurde ein Grabhügel aufgeworfen, an dem Totenmahle gehalten wurden, wie «Reste von Tierknochen mit Bißmarken beweisen». Die Stätte scheint sehr bald inständige Verehrung genossen zu haben, denn kurz nach 383, «so zeigen es die ausgesiebten Münzen an», wurde der Hügel eingeebnet und «durch ein querrechteckiges Grabhaus aus FIolz» ersetzt, in dem zwei steinerne Tische standen, an denen sich die Gläubigen weiter zur Feier der Totenmahle zusammenfanden. 51

Diese Cella Memoriae wurde um 400 ein Raub der Flammen. Noch einmal entstand ein offener Holzpfostenbau, der aber provisorischen Charakter hatte und daher, «sicher noch vor 450», einem steinernen Neubau mit einem langrechteckigen Saal Platz machte. Gleichzeitig wurde das «spätrömische Grabfeld einplaniert. Alle anderen Gräber fallen dem Vergessen anlieim, und nur dieses eine merkwürdige Doppel­ grab macht Geschichte.» Die Der Ort verödete nämlich auch nach dem Abzug der Römer nicht. Grabungen £j. spielte, wie aus einem zwischen Cella Martyrum und Mensa gefundejahrhundert Münzanhänger der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zu folgern war, im Leben der Franken ebenfalls eine bedeutsame Rolle. Das spätrömische Grabfeld wurde also wieder von einem merowingischen überdeckt, dessen Mittelpunkt die bis ins 8. Jahrhundert unverändert weiterbestehende Memoria der Märtyrer blieb. «Zwischen 752 und 768 ist nun dieser Steinbau niedergelegt worden. Nur die unteren drei oder vier Lagen des Fundamentes blieben unbe­ rührt. Dann ist auf diesem alten Fundament ein neuer Bau errichtet worden, der nach Osten eine Erweiterung um einen kleineren recht­ eckigen Raum erfuhr: Aus der Totengedächtniskapelle wurde eine Kirche ... », die aber, wie aus den Spuren eines weiteren Anbaus hervor­ geht, noch immer dem Totenkult diente. Während der Bauarbeiten nun geschah etwas Merkwürdiges. Man durchschlug nämhch den steinernen Fußboden und trieb von dort ein tiefes Loch in die Erde - einen Suchschacht. . . Was sollte dieser Suchschacht ? Borger erinnert in diesem Zusammenhang an Gregor von Tours, der in seinem um 590 entstandenen «Buch vom Ruhm der Märtyrer» berichtet, daß der Kölner Erzbischof Ebergisil damals in Birten bei Xanten die Gebeine des Märtyrers Mallosus entdeckte, und zwar beim Bau einer neuen Kirche, durch den die dortige Memoria zum Chor wurde. Gregor fährt fort: «Es wird berichtet, daß daselbst auch der Märtyrer Viktor begraben sei, aber wir haben bis jetzt noch nicht er­ fahren, daß er enthüllt worden sei.» Es hegt auf der Hand, daß man zweihundert Jahre später in Xanten versucht hat, den heüigen Viktor zu finden. Man grub, obwohl nur um ein Geringes, an den beiden unbekannten Märtyrern vorbei, traf aber auf das spätfränkische Grabfeld und entdeckte zahlreiche Steinsärge mit menschhchen Gebeinen, die man - das Wunder war auch hier des 52

Glaubens liebstes Kind - für die sterblichen Reste der Todesgefährten des heihgen Viktor hielt und deshalb in Demut barg. Auch die Rehquien im goldenen Schrein des Hochaltars wurden damals wahrscheinlich er­ graben. Zwischen 752 und 768 entstand also - «das bezeugen, mit den Händen greifbar, diese leeren Särge - auch für Xanten die Legende von dem Martyrium der Thebaischen Legion, die am Rhein überall da auftritt, wo man im Mittelalter unter den Kirchen viele Tote fand, in St. Moritz, dem römischen Agaunum in der Schweiz, in Mainz, in Bonn, in Köln . . . » Der heilige Viktor genießt seitdem Heimatrecht in Xanten. Und der Dom, der seinen Namen trägt, wuchs aus dem Boden der Märtyrer­ verehrung, die, wie wir sahen, das unauslöschhche Siegel der Erinnerung an die spätrömische Zeit blieb. Fast 700 Jahre schufen noch an der Kirche des heüigen Viktor. Der nach 732 errichtete Bau wurde bereits um 800 wieder nieder­ gelegt und durch einen neuen und größeren ersetzt, der bis zum Normanneneinfall im Jahre 863 stand. Eine ottonische Kirche übernahm seine Tradition und gab sie an zwei Neubauten des elften und zwölften Jahrhunderts weiter, bis schließlich, von 1190 bis 1533, jene herrhche gotische Kathedrale entstand, die bis heute die Pilger von weither ins niederrheinische Land zieht. Alle diese Kirchen aber schlossen wie ein Kleinod jenes Doppelgrab zweier Unbekannter ein, die unter der Regierung von Julian Apostata für iliren Glauben in den Tod gingen - die Verwurzelung unserer Ge­ schichte in der Antike und die Kontinuität unseres Lebens von der Römerherrschaft bis zur Gegenwart bedürfen also zumindest an dieser Stätte keines weiteren Beweises. Aus welcher Fülle von Kleinarbeit, von Beobachtungen, Aufzeich­ nungen und Schlüssen sich das Ergebnis eines solchen Forschungsunter­ nehmens zusammeiisetzt, läßt der zitierte Bericht nur zwischen den Zeilen ahnen. Aber spürt man nicht selbst in seinen protokollarisch­ sachlichen Angaben die innere Dramatik dieser Kampagne ? Die Xantener Domgrabung darf in der Tat als Musterbeispiel dafür gelten, bis zu welch tiefliegenden Bereichen von Geschichte und Legende die moderne Archäologie vorzudringen vermag - und daß ein Grabungs­ loch, in dem das ungeschulte Auge allenfalls einige Scherben und Knochen entdeckt, dem Blick des Forschers längst versunkene Zeiten als lebendige Gegenwart darzustellen vermag . . . Auch dann, wenn die Erde, die er durchsucht, Friedhofserde ist. 53

Erkennt Die Xantener selbst ficht der makabre Untergrund, auf dem sie leben, Xanten wenig an. Sie haben sich längst daran gewölint, auf Gräbern zu wohnen ChancT? Ausgräbern heimgesucht zu werden. Obwohl man von den archäologischen Unternehmungen im näheren und weiteren Bereich der Stadt gern profitiert, ist man den «Römern» doch nicht in jedem Fall freundlich gesonnen. Man weiß, daß der Gang der Handlung sich meist sehr verzögert, wenn sie bei Ausschachtungen oder Bauarbeiten plötzhch auftauchen, nach Münzen und Scherben suchen und wie gebannt irgendwelche Bodenverfärbungen in Augenschein nehmen. Da kann es dann schon Vorkommen, daß der Besitzer eines Grundstücks vorzieht, derartige Funde zu verheimhchen und auf den archäologischen Beistand zu ver­ zichten. Mit den Funden ist es überhaupt so eine Sache. Sie bleiben zwar im Besitz des jeweiligen Bodeneigentümers, müssen aber der wissenschafthchen Auswertung jederzeit zur Verfügung stehen. Mit anderen Worten: der Inhaber kann sich an ihnen freuen, sie aber nicht an den Meistbietenden verkaufen, und Händler aus Deutschland wie aus den Nachbarstaaten lassen sich eine römische Gemme, einen Ring oder einen Halsschmuck schon einiges kosten - doch darüber spricht man nur im Flüsterton. Wer sehr genau hinhört, wird gelegentlich auch etwas von Fälschun­ gen erfahren. Schwamm drüber! Aber es soU so etwas geben . . . Zur Ehre der guten Stadt Xanten muß aber gesagt werden, daß schon viele ihrer 6000 Einwohner ihr Herz für die Archäologie ent­ deckt haben und sie mit angelegentUcher Begeisterung als Hobby be­ treiben. Ein Hotelier hat mehrere Regale seines Restaurants mit schönen SigiUaten, Krügen und farbigen Gläsern gefüllt. Bei dem Besitzer der Vetera-Kiesgrube kann man eine ganze Sammlung römischer Alter­ tümer bewundern, desgleichen bei einem Möbelhändler der Stadt. Was ein Pfarrer im benachbarten Altkalkar an Bodenfunden zusammenge­ tragen hat, genießt sogar den offenkundigen Respekt der Spezialisten. Und ein römisches Öllämpchen, eine Münze, eine kleine Statuette findet sich in nahezu jedem Haushalt. Trotzdem sind die Stadtväter sich wohl nicht darüber klar, welche Schätze ihre Erde noch birgt. Wie sonst hätten sie das nahezu unbebaute Gelände der Colonia Trajana für Industriezwecke freigeben können? Sie vergaben damit die in Deutschland absolut einmahge Chance, die Reste einer ganzen römischen Stadt freizulegen, die sich, wie wir sahen. 54

wenige Meter unter der Ackerkrume gut konserviert haben. Ein solches Pompeji am Niederrhein wäre nicht nur eine steinerne Kultur­ geschichte ersten Ranges, sondern auch eine öffentliche Attraktion, die dem Stadtsäckel wahrscheinhch ebenso zuträgHch wäre wie ein halbes Dutzend Fabriken. Schade, daß man bisher so wenig Neigung hegt, sich dieser Chance zu versichern. Vielleicht besinnt man sich noch eines besseren. . . Wie man am Beispiel des Legionstheaters von Vetera erkennt, tragen die Investierungen der römischen Besatzer noch lange Zinsen. Manchmal noch nach 2000 Jahren. Warum sollte es in Xanten anders sein ?

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Drittes Kapitel

DI E N E U S S E R « H DV - F E S T UN G» Lager, Legaten und Legionäre Die augusteischen Festungen • Eine Grabung um die Jahrhundertwende • Pferch für 12000 Menschen • Das Heer der vielen Völker • Die Schlacht - das blutige Manöver • 80 Chargen bis zum Hauptmann *Die Stabsgebäude, die Werk­ stätten und die Thermen • Die Doppelschmach von Neuß • Unterm Beil des Liktors • Kolonnaden, Schatzkammern und prächtige Tempel • Lagerleben im Frieden • Mars und Venus in der Barackenstadt • Schmuck gegen Vieh, Glasgefäße gegen Honig • Die landwirtschaftlichen Trabanten • Das zivile Novaesium • A uf der großen Straße Das «Büdchen », an dem man von der Bundesstraße 9 in Richtung auf die Neußer Griinwegsiedlung abbiegt, dient wie tausend andere seiner Sparte dem Verkauf von Kaugummi und Zigaretten, Bonbons und erfrischenden Getränken. Und doch handelt es sich um ein «Bild­ chen » eigener Art. Es hegt nämhch genau an der Stelle, wo die alte römische Rhein­ uferstraße, von Norden her kommend, in das Lager von Novaesium einlief, dessen Via principalis sie bildete. Den Standort unserer Linionadenstation nahm damals wahrscheinlich ein Wachlokal ein, und gegen­ über, auf der anderen Seite der Straße, lag das Gefängnis der Festung, der «Vater Pliihpp» der Legionäre - mit 59 Zellen übrigens, denn die Zucht war hart und der Bürger in Uniform noch nicht erfunden. Dieses große Neußer Lager, nach seinem Entdecker Koenen-Lager genannt, hatte mehrere Vorgänger, die einige hundert Meter weiter südhch auf das Gelände der heutigen Grünwegsiedlung plaziert waren, einer schmucken Gartenvorstadt, die vor ein paar Jahren entstand und eine Reihe umfänglicher, heute noch andauernder Grabungen veranlaßte - nebenbei: die größten und schwierigsten Grabungen, die nach dem zweiten Weltkriege in Deutscliland veranstaltet wurden. D ie augusteischen Festungen

Wie übhch arbeiteten die Trupps der Archäologen auch hier init den Baukolonnen um die Wette, um die Röntgenaufnahmen der einstigen rechtzeitig nach Haus zu bringen. Die Neußer Bürger, die 56

nach Feierabend einmal einen interessierten Blick riskierten, entdeckten freilich nicht viel mehr als rechteckige Gruben, vielleicht 20 Meter lang, 3 bis 4 Meter breit und knapp 1 Meter tief. Gelegenthch kam eine Scherbe zum Vorschein, ein Stück Ziegel, ein Knochenrest. Sonst war nichts zu sehen... Oder doch ? Nun, die Archäologen pflegen in solchen Fällen wesenthch mehr zu sehen. Zum Beispiel gewisse Verfärbungen im Boden, die ihnen erlauben, die einstige Bebauung wenigstens gedankUch zu rekonstruieren. Pfosten­ löcher, Spitzgräben, Vorratsgruben, Abwässerkanäle - nichts bleibt iliren geübten, lupenscharfen Augen verborgen. Die Zeichnungen, in denen alle diese Beobachtungen niedergelegt werden, ähneln auf den ersten Bhck abstrakten Kompositionen. Sie enthalten Rechtecke, Kreise und amöbenartig zerfließende Formen, deren merkwürdige Bilderschrift sich sogar dem Fachmann manchmal nur zögernd erschließt. Je mehr solcher grapliischen Stenogramme die Ergebnisse der täghchen Arbeit jedoch Festhalten, um so mehr ist aus ihnen zu lesen. Da zeichnen sich etwa die typischen Grundriß-Rechtecke römischer Kasernenbauten ab. Straßenzüge tauchen auf, Abfallöcher, Versamm­ lungsplätze, und so setzt sich Stück um Stück das Bild des Lagers oder Dorfes zusammen, das zu erkunden der Spaten angesetzt wurde. Was exakte Feststellungen im Falle Neuß so sehr erschwerte, war die Tatsache, daß man es hier mit verscliiedenen* militärischen Objekten aus verschiedenen Zeitabschnitten zu tun hatte, deren Spuren einander überschnitten, überdeckten, überlagerten. Die einzehien Lager waren also nicht von Dauer. Sie wurden aufgegeben, verfielen, wurden wieder aufgebaut und veränderten dabei ständig ihr Gesicht, wahrscheinheh nach Lust und Laune des jeweiligen Legaten. Schon diese Feststellung war von einigem Wert. Sie besagt nämhch, daß der Bau von Legionslagern in der augusteisch-frühtiberischen Zeit noch nicht den gleichen strengen Normen unterlag wie später. So war ihr Grundriß noch nicht der nachmals üblichen strengen Rechteckform verpflichtet. Zumindest das jüngste der bisher bekannt gewordenen Lager war polygonal angelegt, mit einspringendem rechten Winkel. Harald von Petrikovits, der Direktor des Rheinischen Landesmuseums in Bonn, vermutet, daß diese Form «als Prinzip der Festungsbaukunst» für die frülie Kaiserzeit kennzeiclinend ist. «Vetera, Vindonissa und Carnuntum sind neben Novaesium weitere Beispiele dafür, daß die unregelmäßige Gestalt nicht vom Gelände bedingt sein muß. Polygonale 57

Grundrisse und einspringende Winkel sind Eigentümlichkeiten römi­ scher Lager, die den Marschlagem noch nahestehen, während man in der weiteren Entwicklung römischer Festungsbaukunst rechteckige Grundrisse für militärische Festungsbauten bevorzugte.» Ein etwa vier Meter breiter, zwei Meter tiefer Graben schützte diese Art Lager. Dazu kam, ebenfalls nach den Angaben von Dr. von Petrikovits, eine Holz-Erde-Mauer, die aus zwei festen, etwa drei Meter voneinander entfernten Wänden bestand, zwischen die Erde gefüllt war. «Der Wehrgang wird durch eine Brustwehr gegen den Feind geschützt gewesen sein. Man konnte ilin über eine Erdrampe aus dem Lagerinnem besteigen. Manchmal lag vor dem Lagergraben noch ein weiteres Annäherungshindernis.» Im Lagerinnem fanden sich eine Reihe von Fachwerkbauten, die als Kasernen, Teile der Principia, Fahnenlieiligtum und als Gerichtssaal identifiziert wurden. Auch Holzkeller und Vorratsgruben wurden frei­ gelegt. Man hat daraus geschlossen, daß - ebenfalls im Gegensatz zu den späteren Gewolinlieiten - in der augusteisch-tiberischen Zeit die Trosse in die festen Lager mitaufgenommen wurden. Eine Von der Jahrhundertmitte an sah das alles anders aus. Da regierte die Grabung Vorschrift, die befohlene und allgemeinverbindhche Ordnung, die Jahrhundertunabhängigsten Legionskommandeur an die Kandare seiner wende «Heeresdienstvorschrift» band. Wie eine solche «HDV-Festung» be­ schaffen war, wurde erstmaUg ebenfalls in Neuß geklärt, und zwar durch die großen, recht langwierigen, aber überaus erfolgreichen Grabungen, die in den Jahren 1888 bis 1900 von Konstantin Koenen und Heinrich Nissen veranstaltet wurden. Dieser Spatenaktion, auf deren Ergebnisse die deutsche Archäologie, nicht zuletzt im Hinblick auf den damahgen Stand der fachwissenschaft­ lichen Methodik, bis heute stolz sein kann, gingen Versuche voran, die große, durch Tacitus beglaubigte Legionsfestung im Stadtgebiet selbst auszukundschaften. Arbeiten an der städtischen Wasserleitung bekräf­ tigten aber die durch alte Darstellungen genährte Vermutung, daß sie in den südlichen Außenbezirken, nahe der Erftmündung, gelegen haben mußte. Die daraufhin einsetzenden planmäßigen Grabungen förderten zwar keine wertvollen Fundstücke mehr zu Tage; «dagegen waren in ein bis zwei Meter Tiefe unter der Oberfläche die Züge der Römerbauten», so heißt es in Heinrich Nissens «Geschichte von Novaesium», «dem 58

zähen Lehm des Mutterbodens unvertilgbar eingeprägt, eine im ganzen Umfang der Alten Welt einzig dastehende, wenigstens bisher nie aus­ genutzte Gelegenheit bot sich dar, den vollständigen Grundriß eines Legionslagers aus früher Kaiserzeit zu gewinnen.» Dazu bedurfte es freihch einer zwölfjährigen Kampagne, in deren Verlauf die ursprünghch geschätzten Kosten «infolge der vielen Über­ raschungen» beträchtlich über den Anschlag hinausgingen. Sie behefen sich schheßhch auf 60 000 Mark (und das in einem Staat, der seine vornehmste Pflicht darin sah, mit dem Pfennig der Bürger zu rechnen). Auch in Neuß wurde, wie Nissen ausdrückhch betont, äußerst sparsam gewirtschaftet. Die Professoren fuhren mit der Straßen­ bahn zu ihrer Grabung hinaus, sofern sie nicht vorzogen, zu Fuß hinauszupilgem, führten selbst die Aufsicht, und wenn Not am Mann war, legten sie auch mit Hand an. Trotzdem - die Ausgaben summierten sich. «100 Morgen besten Komlandes» mußten je nach Art der Bestellung ein halbes oder ganzes Jahr gepachtet werden, wofür nach Rang und Ergiebigkeit des Bodens 30 bis 100 Mark je Morgen zu zahlen waren. Dazu kam der Lohn für die Arbeiter, deren Zahl zwischen 14 und 25 schwankte. Sie schafften im Akkord, das Zuwerfen der Gräben wurde beispielsweise mit 25 Pfen­ nig je Kubikmeter vergütet, und schheßhch waren auch die Geräte von Zeit zu Zeit erneuerungsbedürftig. Damit war es aber noch nicht getan. Am Ende mußte das gesamte Feld noch einmal umgegraben und seinen Besitzern «in befriedigendem Zustand wieder eingehändigt» werden. Und die Gelehrten setzten ihre Ehre darein, daß auch das in der loyalsten Weise geschah. Das Unternehmen trug reiche Früchte. Als die Grabungen Pferchfür beendet waren, konnten ihre Betreuer den ersten vollständigen und detailherten Aufriß eines römischen Legionslagers vorlegen und ihre Erfahrungen mit dem vergleichen, was durch antike MüitärschriftsteUer wie Polybios, Pseudo-Hygin und Vegetius überhefert war. Die Festung Novaesium füllte ein Rechteck von fast 600 Meter Länge und 460 Meter Breite aus. Ilir Flächeninhalt von rund 25 Hektar ent­ sprach etwa dem des Bonner Lagers, übertraf aber den des Prätorianer­ lagers in Rom, das nur 16,72 Hektar maß. Die Lagerecken waren gerundet, und der vorgeschriebene Graben hatte die respektable Breite von etwa zehn Meter, eine Tiefe von drei Meter. Die ursprünghehe Holz-Erde-Mauer wich unter Kaiser Claudius 59

einer 1,20 Meter dicken Steinmauer, die nach dem Bataveraufstand vermutlich noch einmal verstärkt wurde. Zwölf mit Geschützen be­ wehrte und ständig mit Wachen besetzte Türme waren in die Um­ wallung eingefügt. Die beiden Hauptstraßen Hefen auf zweiflügelige Tore zu, die eben­ falls durch Türme gesichert waren. Die nur leicht gewellte Landschaft war von ihnen aus kilometerweit einzusehen. Weiteren Schutz boten der Rhein imd der Lauf der Erft, der gleichzeitig den Anscliluß an die Eifel und damit an das Quellgebiet von Ahr, Urft und Kyll herstellte. Der Platz war also gut gewälilt. Seine Lage allein läßt den geschulten Bhck für die strategischen QuaUtäten eines Ortes erkennen. Das Lager war für den Bedarf einer Legion errichtet. Eine Legion zählte, wie wir wissen, in der frühen Kaiserzeit 6000 Schwerbewaffnete zu Fuß und 120 Reiter. Sie wurde ergänzt durch 2000 Fußsoldaten sowie 702 Reiter der Auxiliarverbände. Dazu kamen 400 Veteranen, die in ruhigen Zeiten ihren Dienst in den Handwerkerstuben verrichte­ ten, in kritischen Lagen aber ebenfalls zu den Waffen griffen. Außerdem war jeder Zeltgenossenschaft - dem Contubernium, der kleinsten Einheit der Legion - ein Knecht zugeteüt. Jeder Reiter hatte deren zwei, ebenso jeder Centurio. Den elf Stabsoffizieren standen je sechs, dem Legaten zwölf Burschen zur Verfügung. Da auch die Bundes­ genossen in etwa entsprechender Weise mit «Putzern» versorgt waren, zählte ein Legionslager nach der Nissenschen Rechnung 2142 Planstellen für Nichtstreiter. Schließhch aber wollten auch noch 2460 Pferde und Lasttiere untergebracht werden. Es kamen also auf je einen Hektar im Durchschnitt 500 Menschen und 100 Tiere. Selbst wenn man berücksichtigt, daß so ein Lager wohl selten voll belegt war, läßt sich an den zehn Fingern ausreclmen, welch drangvoll­ fürchterliche Enge in der Festung herrschte; und welches Maß an Zucht, Ordnung und Disziplin den auf derartig knappem Raum zu­ sammengepferchten fast 12 000 Menschen abverlangt wurde. Die Leidtragenden waren - selbstverständhch - die gemeinen Soldaten, vornehmer ausgedrückt: die Mannschaftsdienstgrade. Eine Zeltgenossen­ schaft, die in Novaesium in der Regel acht Mann umfaßte, «bewohnte» einen Raum von etwa 4,50 mal 4,25 Meter. Das sind weniger als 20 Quadratmeter, auf den einzelnen Legionär umgerechnet knapp 2% Quadratmeter. Vor der gemeinsamen Behausung lag die Waffenkammer des Contubemiums. Das Dach sprang von hieraus vor und bildete nach der Gasse 60

Grundriß eines römischen Legionskgers, durch die Grabungen von Nissen und Lehner in Neuß zum erstenmal festgestellt. (Nach einem Plan in den Bonner Jahrbüchern.)

hin einen offenen Raum, wo der Knecht mit den Packtieren kam­ pierte. In der Gasse selbst befand sich die Kochgrube der Gruppe. Je zwölf solcher Gelasse lagen einander gegenüber, je 96 Mann also oder, wenn man die Chargen dazuzählt - das heißt: den Centurio, den Optio, seinen Stellvertreter, den Tesserarius, der als Ordonnanz fungierte, und den Signifer, den Fälmrich, der gleichzeitig die Kassengeschäfte be­ treute - je eine Centurie, die beide zusammen den Manipel bildeten. Die Soldaten hatten nur einen gemeinsamen Ausgang, der an den Räumen des Centurio sowie einer ständigen Wache vorbeiführte - ein ebenso simples wie raffiniertes Kontrollsystem, das Tag und Nacht funktionierte. Das Heer der vielen VölkcT

Das römische Heer der frühen und mittleren Kaiserzeit (mit dem wir Pestung Novaesium zu tim haben) - war überhaupt eine bewundemswerte Organisation. Dabei stimmte die Praxis des mihtärischen Alltags durchaus nicht immer mit dem durch die augusteischen Re­ formen erstrebten Idealgebilde überein. Aber was davon Ln die Wirkliclikeit umgesetzt wurde, stellt sich als ein genial durchdachtes Macht­ instrument dar, das allen vergleichbaren Einrichtungen seiner Zeit weit überlegen war, nicht zuletzt wegen der in ilim wirkenden Rationahtät. Theoretisch stand der Bürger des Imperiums unter dem Gebot der allgemeinen Wehrpflicht. Praktisch wurde von der Möglichkeit der Einziehung jedoch nur in Krisenzeiten Gebrauch gemacht - und auch dann meist nur gebietsweise. Normalerweise aber reichte das von Augustus geschaffene Berufsheer mit langer Dienstzeit aus, die Grenzen des Reiches zu schützen. Dieses Berufsheer ergänzte sich zum größten Teil aus Freiwifligen, deren Dienstzeit 20 Jahre betrug. Weitere fünf Jahre hatten sie der Truppe als Veteranen zur Verfügung zu stehen - manchmal auch länger, denn die Pensionierung erfolgte nicht automatisch. Da gleichzeitig mit der Verabschiedung eine größere Abfindung als Altersversorgung gewährt wurde, die voUe aerarische Kassen voraus­ setzte, mußte der Legionär manchmal sogar recht lange auf seine Ent­ lassung warten. So bestanden viele Legionen zum guten Teil aus alt­ gedienten Graubärten, die an die 30 Jahre beim römischen Barras auf dem Rücken hatten. Nach den Vorschriften sollten nur freigeborene Bürger in den Legionen Dienst tun (Freigelassene zum Beispiel durften nur in der hauptstädtischen Feuerwehr verwendet werden). Aber schon unter 62

Augustus kam es vor, daß Provinzialen in die Armee aufgenommen wurden, wobei die papierenen Probleme dadurch behoben wurden, daß man den jungen Rekruten das Bürgerrecht schenkte. Wenn Not am Mann war, kannte man auch keine Bedenken, Distrikten mit einem tüchtigen, soldatischen Menschenschlag pauschal die Civitas Romana zuzuerkennen. Ulrich Kahrstedt führt in seiner «Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit» eine spätaugusteische, in Ägypten stationierte Legion an, die zu 50 Prozent aus kleinasiatischen Galatern, zu 25 Prozent aus Griechen und Ägyptern, zu 15 Prozent aus Syrern und sonstigen Orientalen und nur zu 10 Prozent aus Italikern zusammengesetzt war. Allerdings handelt es sich hier um ein extremes Beispiel; denn minde­ stens bis zur zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts gaben die Lateiner in den Legionen den Ton an. Erst dann begann das Reich systematisch auf die Provinzen zurückzugreifen, wobei SüdgalHen und Südspanien den Anfang machten. Diese Tendenz setzte sich im 2. Jahrhundert verstärkt fort, bis schließUch der lokale Ersatz das Gesicht der Legionen bestimmte. Nach den augusteischen Plänen waren die Provinzialen eigenthch den bundesgenössischen Hilfsformationen Vorbehalten. Diese Auxilien waren die zweite tragende Säule der bewaffneten Macht Roms. Auch ihren Soldaten war eine 25jährige Dienstzeit vorgeschrieben; das Bürgerrecht wurde jedoch erst bei der Entlassung verUehen, und eine Altersver­ sorgung stand nicht auf dem Programm. Auch gab es keine Legionen, sondern nur Kohorten und Alen - Einheiten also, deren Stärke 1000 Mann nicht überstieg. Im übrigen gHchen sich die Auxüien im Lauf der Zeit dem Bürgerheer mehr und mehr an. Ihre Kohorten, ursprünghch nur leicht bewaffnet, trugen schheßhch die gleiche (oder wenigstens fast die gleiche) Aus­ rüstung wie die Legionen, und die Alen übernahmen immer mehr die Aufgaben der regulären Kavallerie, für die die 120 Berittenen einer Legion nicht ausreichten. Am Ende traten die Auxüien auch bei der Rekrutierung des Ersatzes als Konkurrenten auf, indem sie, genau wie die Legionen, ihren Nach­ wuchs aus den Einsatzbezirken holten, nicht mehr aus den Herkunfts­ ländern. Als die Entwicklung so weit gediehen war, war es durchaus folge­ richtig, daß unter Hadrian die dritte, wenn auch etwas brüchige Säule des Heeres geschaffen wurde, die Truppengattung der nationalen Numeri, 63

die innerhalb der Heeresverbände dann die gleichen Aufgaben über­ nahm wie früher die Auxilien: vom Wachdienst abgesehen, wurden sie vor allem als Späher und für die Zwecke der Marschsicherung ver­ wendet, .. In Neuß traten sie allerdings nicht in Erscheinung. Außerdem gab es Provinzialmihzen und Landsturmeinheiten, die aber nicht zur regulären Armee gehörten und deshalb dem Statthalter unterstanden. Als Ganzes: ein bunt zusammengewürfelter, tausendzüngiger Haufe, den zu gUedern und einem einheitlichen Befehl zu unterstellen ebenso­ viel Schweiß wie Strenge und Duldsamkeit gekostet haben wird. Aber das Wunder geschali - es gelang, aus diesen Vielvölkerarmeen ein Heer zu formieren, das zumindest in der offenen Feldschlacht nahezu unbesiegheh war. Die Das Gefülil der Überlegenheit, das den Legionär auch in aussiclitsSchlacht - losen Lagen nicht verließ, resultierte zunächst aus seiner hervorragenden ^^Manö^er Bewaffnung, die zwar jahrhundertelang kaum eine Entwicklung kannte, immer aber besser war als die der Gegner. Der in die Schlacht ziehende Legionär trug Eisenlielm und Brust­ panzer, am Gürtel links das für Hieb und Stich gleichermaßen geeignete Schwert, rechts den kurzen Dolch, die «ultima ratio » des Nahkampfs. Dazu kam ein hoher, längheher, etwas gewölbter Schild, der die linke Seite des Körpers von Kopf bis Knie bescliirmte. Gefährdet war die rechte Körperhälfte, wo das Führen der Waffe ein Öffnen der Deckung notwendig machte. Der Kampf selbst wurde zumeist mit einer Speer­ salve eröffnet, die aus etwa 10 bis 15 Meter Entfernung auf die feindUchen Kader abgefeuert wurde. Auch die Reiterei pflegte ihre Attacken mit einem Speerhagel einzu­ leiten. Kurze Wurfspieße, deren der Kavallerist drei oder vier im Köcher hatte, folgten. Erst dann trat das Schwert in Aktion, das aller­ dings länger und schwerer als das der Fußtruppen war. Eine komplett ausgerüstete Legion führte außerdem 55 CarrobaUisten mit, - von Maultieren gezogene Schleuderapparate, die eisenbeschlagene Pfeile verschossen. Den Geschützpark vervollständigten die zehn auf Ochsenkarren montierten Onagri, die den Gegner, vor allem im Festungskampf, mit schweren Steinkugehi bewarfen. Die Bewaffnung allein tat’s jedoch nicht. Es kam dazu eine Ausbildung, die an Härte und Drill bis heute ihresgleichen sucht. Das Exerzieren 64

Legionär der frühesten Kaiserzeit mit Schild, Kurzschwert und Lanze. (Foto: Archiv Garzanti)

Römischer Legionär der späten Kaiserzeit in Fechterpose mit Rundschild, Panzer und Kurzschwert. (Foto: Archiv Garzanti)

war ein fester Bestandteil des Dienstplans. Die älteren Soldaten wurden täglich einmal, Rekruten sogar zweimal mehrere Stunden «geschhffen Man übte mit Weidenschild und hölzernen Stecken oder Keulen, die doppelt so schwer waren wie die regulären Waffen. Den heutigen «Pappkameraden » gab damals ein Holzpfahl ab. Außer dem Speerwurf, dem Lanzenstich und dem Schwertgefecht - dem A und O der solda­ tischen Erziehung - wurde auch das Schleudern und Werfen schwerer Steine trainiert. Bei Übungsmärschen mit 30 Kilo Gepäck waren 30 Kilometer in fünf Stunden zurückzulegen. Gegen die Spezialwaffen fremder Heere - germanische Reiter etwa oder orientalische Bogen­ schützen - suchte man schon auf dem Exerzierplatz die geeigneten Gegentaktiken zu entwickeln. Ziel war ein Ausbildungsgrad, der die Schlacht in «ein mit Blut­ vergießen verbundenes Manöver » verwandelte. Die hervorragende körperhche Verfassung der Legionäre war nicht zuletzt der Erfolg einer Verpflegung, die des Beifalls der modernen Ernährungsapostel sicher sein dürfte. Sie bestand fast ausschheßhch aus Getreide, meist Weizen, den der Soldat unzermalilen empfing, alle 16 Tage 15 Kilo. Fleisch erschien nur als «Zubuße» und allenfalls zu Kaisers Geburtstag auf dem Magenfahrplan. Erst in der Spätzeit wurde der Speisezettel mit Brot und Zwieback, Speck und Käse ange­ reichert - ohne daß dadurch die mihtärischen Leistungen angehoben worden wären. Freüich konnte der Soldat seinen Wehrsold - er betrug etwa 70 Pfennig am Tag - bei den Marketendereien auch in nahrhafte Dinge um­ wechseln. Ihr Angebot enthielt vor allem Rauchfleisch und Käse. Dazu die vielgeliebte Posca, eine hmonadenähnhche Mischung aus Essig und Wasser. Und natürhch Wein, Wein in jeder Menge, - Wein aus Spanien, Wein aus Gallien, Wein aus Italien und Afrika. Denn die trockenen Kehlen der Legionäre waren wählerisch. Und sehr konsumfreudig, wie die aller Soldaten der Welt. Von den großen Kaisern, wie Trajan und Hadrian, ist bekannt, daß sie sich im Feldlager - wo sie auch die täghchen Exerzierstunden mitmachten - mit den Zuteilungen des gemeinen Mannes begnügten. Auch die Offiziere «faßten» die gleiche Verpflegung wie der Soldat, und es galt zumindest in der Frülizeit als ungeschriebenes Gesetz, daß sie sich keine unlauteren Vorteile verschafften. Im übrigen führten sie - kraft ihrer Herkunft, kraft ihrer Bildung, 5 Pörtner

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A chtzig Chargen bis zu m Hauptmann

kraft ihrer Privilegien - ein Eigenleben, das den Mannschaftsdienstgraden nicht zugänglich war. Der «Marschallstab im Tornister» wurde damals also noch nicht in der Kleiderkammer ausgegeben. Im Gegenteil. Die Möglichkeiten des Avancements stießen sich, wie Ulrich Kahrstedt betont, an dem Grundsatz, «daß die höchsten Offiziers­ stellen vom Kommando einer Legion aufwärts, wir würden etwa sagen: die Generalität, dem Senatorenstande Vorbehalten waren, und daß die Posten, modern ausgedrückt, der Stabsoffiziere, die Führung einzelner Kohorten und Alae, zur MiUtia equestris des Munizipaladels, zur pro­ kuratorischen Laufbahn gehörten ». Bheb dem gemeinen Mann die Offizierslaufbalm also verschlossen, so war doch an Beförderungsmögliclikeiten kein Mangel; denn zwischen dem Gemeinen und dem Centurio, dem Kompanieführer, gab es, wie Ulrich Kahrstedt weiter ausführt, «in der Legion achtzig Chargen, vom Immunis, dem Gefreiten, über die . .. Stellen der Unteroffiziere und Subalternoffiziere zu den ungezählten Verwaltungsposten von der Waffenkammer und dem Arrestlokal bis zu den Stellen der Abkomman­ dierten in den Behörden der Provinz, im Stabe der Legion usw. Ein römischer Legionär wird während seiner 20 Jahre Dienstzeit unaus­ gesetzt befördert, immer steht er dicht hinter oder dicht vor dem Augenblick, wo er wieder ein paar Denare mehr Löhnung bekommt. Er wird sogar oft genug einzelne Stellen überspringen, sich doppelt aner­ kannt fülilen, doppelt diensteifrig sein - und trotzdem nie in Regionen geraten, wo seiner Aufgaben warten, denen er mit seiner Bildung nicht gewachsen wäre ». Im Offizierskorps nänJich stand Bildung obenan. Hauptmann zum Beispiel wurde man erst, wenn man sich auch in den Büros des Statt­ halters oder wenigstens in den Provinzialbehörden umgetan hatte; die Kenntnis einer Fremdsprache, meist des Griechischen, war dabei Vor­ aussetzung. Dem Bildungsprinzip wurde vielfach sogar auf Kosten der mihtärischen Qualität gehuldigt - die Senatorensöline etwa, obwolil dem Walfenhandwerk meist nur wenig zugetan, komiten ohne militä­ rische Schulung Legionstribunen und Legionspräfekten werden. Die Im Lager drückten sich Rang und Stellung des Offizierskorps schon Stabsgebäude, ^ pj-adit und Größe der Stabsgebäude aus, des Praetoriums vor die Wefk“ Stätten und beherrschenden Platz an der Hauptstraße einnahm die Thermen und den repräsentativen, verwaltungstechnischen und - wie wir 66

heute sagen würden - ideologischen Mittelpunkt der Festung bildete. Zwar konnte sich die Principia von Neuß an Pomp und Luxus nicht mit der von Vetera messen, doch nahm sie wie diese nicht nur den besten, sondern auch einen relativ großen Teü des Lagers ein. Mit säulen­ geschmückten Portalen und arkadenumzogenen Innenhöfen war auch hier nicht gespart. Ebenso gab es ganze Fluchten von « Schreibstuben » und Waffenkammem. Das Lagerheüigtum mit Kaiserbüste und Feld­ zeichen, ein integrierender Teil der Principia, lag liinter der großen Querhalle, flankiert von zwei weiteren Räumen, deren einer wolJ der Gerichtssaal war. Der Legat der Legion, nach unseren heutigen Begriffen der Divisions­ general, bewohnte ein respektheischendes Gebäude, dessen Front sich ebenfalls der Via principalis zuwandte. Auch das Flaus des Lagerkom­ mandanten, der den Feldherm vertrat und für das innere Gefüge, den täghehen Arbeitsdienst sowie die Einteilung der Wachen zuständig war, hob sich solcherart aus dem Einerlei der Kasernen und sonstigen Dienst­ gebäude. Daß das Lager ein eigenes Lazarett besaß, ist angesichts seiner bis ins letzte durchdachten Organisation eigentlich nur natürlich - der große Augustus selbst güt als der Schöpfer des römischen Sanitätswesens, und auch von dem mißtrauischen und bösartigen Tiberius wird berichtet, daß ihm das Wohl seiner kranken Soldaten am Herzen lag. Das (natürheh rechteckige) Valetudinarium von Neuß schloß einen ebensolchen Hof ein und enthielt unter anderem, wie die aufgefundenen chirurgischen Instrumente beweisen, einen wohlausgestatteten Opera­ tionssaal. Die Krankenzimmer lagen, genau wie heute, in zwei Reihen an einem langen Flur, waren allerdings wesentlich kleiner als die Revier­ stuben des nachmaligen Sanitätsgefreiten Neumann. Wie ein römisches Mihtärlazarett zu seiner Zeit ohne Vorgang und Beispiel war, so auch das Veterinarium, in dem die Pferde und sonstigen Tragtiere medizinisch betreut wurden. Sie galten schon damals, vor­ sichtig ausgedrückt, als mindestens genauso wertvoll wie ein voll ausge­ rüsteter Soldat, und zweifellos war ihre Beschaffung kostspieliger als die Einberufung eines germanischen Söldners. «Außerdem verfügt eine solche Legion», so heißt es bei Vegetius, einem Klassiker der Lagerbeschreibung, « über Zimmerleute, Wagner, Schmiede, Anstreicher und die übrigen Handwerker, die geschult sind, die Bauten der Standlager auszufüliren, Maschinen, Holztürme und 67

alles, was zum Angriff oder zur Verteidigung von Städten gehört, zu errichten, und sich darauf verstehen, Geschütze aller Art sowohl herzuStehen als auszubessem. Daneben unterhielten sie Werkstätten für Scliilde, Helme und Bogen... », kurz Fabrica genannt, die in Novaesium sinngemäß dem Quaestorium zugeordnet waren, dem Befehlsstand des Lagerkommandanten, dem sicherUch auch die Getreidespeicher an der rheinwärts gelegenen Schmalseite des Lagers unterstanden. Hier lagen auch die Thermen, die Bäder mit den Heiß-, Warm- und Kaltwasserbecken, jene splendiden Jung- und Gesundbrunnen, die kein echter Römer vermissen mochte. Der Feierabendgestaltung dienten Klubräume, Messen und Kasinos, die sich, zumal in der späteren Zeit, einer recht komfortablen Aufmachung erfreuten. Karger waren die VersamnJungssäle und Unterrichtsräume ausgestattet, deren Existenz sowohl literarisch als auch archäologisch bezeugt ist. Wieweit sie einem echten Bedürfnis entsprachen, bleibt freilich offen. Denn der eigenthehe Versammlungsraum der Legionäre lag, lateinischer Gewohnheit entsprechend, unter freiem Himmel, - die Via principalis nämlich, die, gut 30 Meter breit, das Lager durchschnitt und dessen Hauptverkehrsader bildete. D ie D oppelSchmach

von N euß

Hier stand und schleuderte der Soldat herum, sobJ d er sich dem Zugriff des Dienstes entziehen komite. Hier traf er seine Freunde. renommierte er nnt seinen Dekorationen, hier tauschte er Nach­ richten aus, hier suchte er sich über alles zu informieren, was zwischen den Lagerwällen und Unter den Lagerkulissen vor sich ging, - woraus gesclJossen werden darf, daß diese Paradestraße des Luxus auch der Hauptumschlagplatz für Latrinenparolen war. Hier brachte der Legionär seine Beschwerde vor den Tribunen, hier komite er Briefe schreiben oder sein Testament diktieren. Hier schimpfte er auf seine Vorgesetzten, Uer machte er seinem Ärger Luft, wenn er sich zuviel zum Wachdienst emgeteilt sah (und den gab es mehr als genug: Heinrich Nissen hat ausgerechnet, daß jederzeit 134 Mann auf Posten standen; rechnet man für jeden sechs Stunden, so wurden pro Tag also 616 Leute allein für den Wachdienst ge­ braucht). Hier, auf der Prachtstraße des Lagers, züngelte auch wohl m J die Flamme der RebeUion, wenn die Offiziere der allzulange aufgestauten Leidenschaften des Kriegsvolkes nicht mehr Herr wurden. Man denke nur an den wütenden Aufruhr, der gerade durch die Festung Novaesium 68

fegte, als die Truppe während des Bataverkrieges gegen ihre Vorge­ setzten meuterte. Es waren allemal die gleichen Motive, die solche Meutereien aus­ lösten. Der Mangel an Sold und an Getreide spielte fast immer eine gravierende Rolle - auch damals in Neuß, als sich zu jeghchem übrigen Unglück eine Dürre gesellte, die die Schiffahrt auf dem PJiein und damit einen geregelten Nachschub unmöghch machte. Auch waren, wie Tacitus berichtet, die gemeinen Soldaten «zweifellos dem VitelHus treu, während die hohen Offiziere dem Vespasian zuneigten». Außerdem mißtrauten sie dem militärischen Geschick ilirer Führer und das mit einigem Recht. Ihr Oberbefehlshaber Hordenius Flaccus wird von Mommsen als «ein hochbejahrter podagrischer Mann ohne Energie » charakterisiert, und der Legat Vocula fülirte den Kampf gegen die Bataver mit halber Kraft und war auch im Lager ein Mann der Halbheiten, der der gärenden RebeUion heute mit Hinrichtungen, morgen mit larmoyanten Beschwichtigungsversuchen beizukommen suchte. In der Hauptsache nährte sich die Rebellion jedoch aus der Habgier der Truppe. Als eines der bei Thronbesteigungen übüchen Gnaden­ geschenke des Kaisers eintraf, in diesem Fall also des ViteUius, verlangte sie sofortige Auszahlung des Geldes. Der alte Flaccus war schwach genug, das Donativ im Namen Vespasians zu bewüligen, und vergab damit den letzten Rest an Autorität. Denn die Sonderzuteilung an klingender Münze wurde unverzüghch in Wein umgesetzt. Es kam zu Ausschwei­ fungen und Gelagen, sowie zu nächtlichen Versammlungen und Zu­ sammenrottungen, welche die betrunkene Meute in einen Zustand ungehemmter Raserei versetzten. Mord-, blut- und beutesüchtige Haufen tobten scliheßlich über die Via principalis, verfluchten, da ihnen niemand entgegentrat - «denn jedes Ehrgefühl hatte die Nacht erstickt» -, ihre Offiziere und gaben nicht eher Ruhe, bis sie den gichtischen Feldherm in seinen Gemächern aufgestöbert und totgeschlagen hatten. «Das gleiche Scliicksal» - schrieb Tacitus, dem wir die genaue Kenntnis dieser beschämenden Vorgänge verdanken - «drohte Vocula, doch gelang es diesem, als Sklave ver­ kleidet, im Dunkel der Nacht unerkannt zu entkommen.» «Darauf riefen sie abermals», so beschreibt Theodor Mommsen die weiteren Vorgänge, «den ViteUius zum Kaiser aus, nicht wissend, daß dieser damals schon tot war. Als diese Kunde ins Lager kam, kam der bessere Teil der Soldaten, namentlich die beiden obergermanischen 69

Legionen, einigermaßen zur Besinnung, sie vertauschten an ihren Stan­ darten das Bildnis des Vitellins wieder mit dem Vespasians und stellten sich unter Voculas Befehle; dieser führte sie nach Mainz, wo er den Rest des Winters 69/70 verblieb...» Civilis besetzte Gellep. Die Lager von Neuß und Bonn hielten sich. Die beständigen Mißerfolge der Römer im batavischen Krieg hatten inzwischen auch die Lust der moselländischen Treverer an einem Auf­ stand geweckt. Julius Classicus, der Befehlshaber ihrer vielgerühmten Reiterei, und Juhus Tutor, der Kommandant der Uferbesatzungen am Mittelrhein, waren die Seele der Bewegung. Als im Dezember 69 im Capitol zu Rom ein Brand ausbrach, glaubten sie den Untergang des Imperiums und die Zeit für ein gallisches Reich gekommen. Um ihre Pläne zu verwirklichen, «gingen sie den Weg des Arminius...» Nach Mommsens Darstellung ließ sich Vocula «wirklich durch ge­ fälschte Rapporte... bestimmen, im Frühjahr 70 nach dem Unterrhein aufzubrechen, u m. .. das hartbedrängte Vetera zu entsetzen. Auf dem Marsch von Novaesium nach Vetera verließen Classicus und die mit ihm einverstandenen Offiziere das römische Heer und proklamierten das neue galhsche Reich. Vocula führte die Legionen zurück nach Novaesium, unmittelbar davor schlug Classicus sein Lager auf... Dies vor Augen, versagten die römischen Truppen und kapitulierten mit den abgefallenen Offizieren...» Ja, sie ließen sich von den Aufständischen in Eid und Pflicht nehmen,«eine im römischen Heer unerhörte Schande », wie Tacitus bemerkt. In der Tat gibt es in der Geschichte des Imperiums kaum ein schmäh­ licheres Ereignis als dieses. Die antiken Historiker wissen von vielen Rebellionen zu berichten, fast ausschließlich aber richteten sich diese gegen mißliebige Personen oder offenbare Übelstände, nie gegen das System, nie gegen das Reich. Hier in Neuß im Jahre 70 entäußerte sich eine völlig entfesselte Truppe auch dieser letzten Bindung, lieferte die Legaten Herennius und Numisius dem Feinde aus und heß es geschehen, daß ein römischer Überläufer den Feldherrn Vocula im Auftrag des Classicus umbrachte. Hier in Neuß wurde die Meuterei, wie «nie vorher und nie nachher» in der Geschichte Roms, zum Prinzip erhoben, und niemand war da, der sich dem tobenden Pöbel in den Weg stellte und verhinderte, daß «das ganze stolze RJieinheer, die erste Armee des Reiches. .. , vor seinen eigenen Auxilien»in die Knie ging. Fraglos hat Theodor Mommsen also recht, wenn er feststellt, daß 70

Cannae und Karrhae und der Teutoburger Wald Ruhmesblätter der römischen Mihtärgeschichte seien, vergHchen mit der «Doppelschmach von Novaesium ». Damals, im 1. Jahrhundert, waren solche Ausschreitungen freüich Unterm Beil selten. Und meist endeten sie mit der Hinrichtung der Schuldigen, die Liktors ebenfalls - zur Abschreckung aller derer, die noch einmal davon­ gekommen waren - auf der Via principalis stattfand. Überhaupt war dies der Ort, wo alle Verbrechen und Vergehen gegen die Zucht des Heeres geahndet wurden. «Der Tribun oder Präfekt verhängt aus eigener Machtbefugnis Buße, Pfändung, Prügel. Ohne Gürtel und barfuß muß hier vom Morgen bis zum Abend stehen, wem der Feldherr solchen Schimpf auferlegt hat. Hier endhch wird die Todesstrafe vollzogen durch das Beil des Liktors oder durch Spießrutenlaufen. Nach altem Recht kommt sie sehr häufig zur Anwendung. Wer die nächtliche Sicherheit fahrlässig gefährdet, wer im Lager stiehlt, falsches Zeugnis ablegt, Unzucht treibt, wer dreimal wegen desselben Vergehens bestraft wird, die Abteilung, die vorm Feinde ausreißt, sie alle sind dem Tode verfallen... » Auch versuchter Selbstmord und die Verwundung eines Kameraden im Lager galten als todeswürdige Verbrechen. Freilich durfte, wie Heinrich Nissen weiter bemerkt, nur der Statt­ halter konsularischen Ranges Hinrichtungen verfügen; der Legat von Novaesium konnte allenfalls über Sklaven und Bundesgenossen richten. Todeswürdige Verbrecher mußte er in Köln aburteilen lassen. Centurionen, von den höheren Rängen ganz zu schweigen, und die so pflegUch behandelten Reiter hatten sogar die Möghchkeit, beim Kaiser Berufung etnzulegen. Das ändert nichts daran, daß Zucht und Disziplin spartanisch streng, die Strafen rigoros waren. Wie anders hätte man eine Truppe, die aus römischen Bürgern aller Schattierungen, Bundesgenossen der verschie­ densten Herkunft, aus Gezogenen, Söldnern und Sklaven wunderlich genug gemischt war, zu dem Machtinstrument entwickeln können, das an die tausend Jahre europäischer und mittelmeerischer Gescliichte ent­ scheidend bestimmte. Der Prügelstock des Centurionen und «Vater Philipps» 59 Zellen, jede zwei Meter im Geviert und mit einem Balken versehen, an den die schweren Fälle angekettet wurden, sprechen da eine ganz unmißverständ­ liche Sprache. 71

Kolonnaden, ^

Schatz-^ prächtige Tempel

Was übrigens die Rebellenlegion betrifft - es war die Sechzehnte, die Jahre 43 n. Chr. die von Köln nach Neuß verlegte Zwanzigste hatte so wurde sie wegen ihres unrühmhchen Verhaltens während des Bataveraufstandes von Kaiser Vespasian aufgelöst. An ihrer Stelle zog die Sechste Legion in die schwer mitgenommene Festung Novaesium, allerdings nur für zwei Jahrzehnte, denn sie wurde, wie berichtet, um 93 n. Chr. herum nach Vetera verlegt. Die Zeit genügte immerhin, dem Lager ein neues Gesicht zu geben. Leider waren die Grabungstechniken Ende des vorigen Jahrhunderts noch nicht so entwickelt, daß sie die zahlreichen Neubauten und sonstigen Veränderungen mit Sicherheit registrieren konnten. Soviel ist jedenfalls sicher, daß nach Wiederherstellung des Friedens im Jahre 70 n. Chr. auch in Neuß ein bis dahin nicht geduldeter Lebensstandard das Regime übernahm. Das Praetorium verwandelte sich in eine Art Privatpalast des Legaten. Die beiden Hauptstraßen - außer der Via principalis die Via praetoria erhielten überdeckte Gehsteige, so daß die Legionäre bei ihrem abendhchen Bummel vor den Unbüden der Witterung geschützt waren. Mit Wäldern von Säulen zogen die verschiedensten Formen nutzloser Protzarchitektur ins Lager. Das Bewußtsein, den größten Teil der damals bekannten Welt bezwungen und befriedet zu haben, prägte sich sichtbar auch in Bauten wie einem Schatzkeller mit zwei Meter dicken Mauern aus, in dem der Besitz an wechselbarer Münze vor jedem Anschlag sicher war. Weitere Kasinos schossen aus dem Boden, und selbst die Herren Unteroffiziere meldeten in dieser Hinsicht Ansprüche an. Wo sich vordem die stete Kriegsbereitschaft und das Gefühl des ständigen Auf­ einanderangewiesenseins zu einem einzigartigen Kampfkollektiv ver­ dichtet hatten, bewirkten die langen Jahre friedlichen Zeittotscldagens nun eine Sonderung der Stände und Ränge, die die Mikroben des Ver­ falls immer tiefer in die Blutbahnen des römischen Müitärkörpers eindringen ließ. So sahen auch die Wohnungen der Centurionen nicht mehr wie fiskahsche Dienstgebäude aus; auch sie erhielten ihre Badeeinrichtungen und zu süßem Nichtstun verlockende Gärten. Die Fußböden wurden mit Mosaiken, die Wände mit Stilleben und frechen Götterbüdern gesclimückt. Überhaupt versuchte man nun, sich angelegentÜcher der Gunst der Himmhschen zu versichern, als es ehedem übhch war. Prächtige Tempel 72

mit Jupitersäulen und Kaiserbildnissen legten davon Zeugnis ab, auch Ehrenhallen für Adler und Fahnen, in denen die ruhmreichen Symbole einstiger Schlachten und Kriege nun Gegenstände mählich erkaltender Kulthandlungen wurden. Welchen Zwecken die Festung nach dem Abmarsch der Sechsten Lagerleben Legion noch diente, ist nicht bekannt. Vielleicht wurde sie mit einer Frieden Hilfstruppe belegt, die es sich in ihren großzügigen Einrichtungen wohl sein Ueß. Der Dienst wird dann nicht übermäßig anstrengend gewesen sein und sich auf das notwendige Exerzieren, Wacheschieben und Patrouille­ reiten beschränkt haben; denn der Friede war beständig, und als es einmal galt, einen Einfall der germanischen Chauken abzuwehren, genügte das Aufgebot der Provinzialen, den Feind in seine rechtsrheinischen Wälder zurückzujagen; ein andermal ließ er sich sogar durch die Zahlung eines kleinen Handgeldes beschwichtigen. Erst um 230 n. Chr. herum, mit dem ersten drohenden Atemliolen der Franken, wurde das Lager nachweishch wieder belegt, diesmal mit einer Ala der bundesgenössischen Reiterei. Diese Tatsache wirft ein heUes Licht auf die Situation um die Mitte des 3. Jahrhunderts. Die Energien des Imperiums genügten schon lange nicht mehr, die an den endlos langen Grenzen aufgestauten und gefährhch gärenden feindlichen Völkerschaften in Schach zu halten. Je matter aber der Pulssclilag des Reiches schlug, um so wichtiger wurden die ständigen Blutspenden der an der Grenzverteidigung mitwirkenden Alliierten. Die Ala freilich, die von 235 bis 270 n. Ch. in dem alten Legionslager von Novaesium stationiert war, wirkte wohl mehr durch ihre Gegen­ wart als durch ilire kriegerische Tätigkeit und dürfte daher im wesenthchen mit dem Problem beschäftigt gewesen sein, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sie richtete sich auf einem Achtel der früheren Lagerfläche - ihr Kastell war 178 mal 165 Meter groß - behagHch ein, und zwar durchaus in Manier ihrer römischen Lehrherren. Um Platz für die Thermen zu gewinnen, wurden beispielsweise sieben Reiterkasernen niedergerissen. Spätestens in dieser Zeit werden auch Frauen Eingang ins Lager gefunden und auf ihre Weise dazu beigetragen haben, das Mark der Disziplin zu erschöpfen. Im übrigen rann der Sand im Stundenglas der Zeit ohne Hast dahin. «Der Abbruch einer leeren Baracke schaffte Luft für ein Gemüsebeet. 73

Und wenn ein Zivilist Quadern zum Bauen brauchte, wird er für ein Geringes. .. die Erlaubnis bekommen haben, aus einem eingestürzten Stück Ringmauer die nötigen Steine zu holen» (Nissen). Bevor das Lager also offiziell aufgegeben war, diente es bereits als Steinbruch. Unter anderem dürften die komfortablen Landhäuser, deren Spuren man im Gelände der augusteischen Lager entdeckte, davon profitiert haben. Was aus der Festung schließlich wurde ? Nun - offenbar hat man sie nach dem schweren Frankeneinfall des Jahres 276 n. Chr. aufgegeben. Ein halbes rundes Jahrhundert später war sie aber wieder bewohnt, wie aus archäologischem Material zu schließen ist. Ob sie mit der 359 von dem Historiker Ammianus Marcellinus erwähnten Rheinfestung Novaesium identisch oder ob damit die inzwischen herangewachsene Zivil­ siedlung gemeint war, bedarf noch der Klärung. Später ist noch einmal von einem römischen Feldherrn namens Quintinus die Rede, der von Neuß aus zu einem Unternehmen gegen die rechtsrheinischen Franken aufbrach und in den germanischen Wäldern mit Mann und Maus unterging. Damit verheren sich die Spuren der Römer am Niederrhem in der Düsternis der aufziehenden Jahrhunderte. Mars und Doch überlassen wir das Lager seinem Schicksal. Bücken wir über Venus^der jjg Festungswälle hinaus, betrachten wir das Leben, das sich jenseits Stadt Gräben entfaltete, fragen wir nach den ImpiJsen, die von der Konzentration einer römischen Legion auf derart engem Raum aus­ gingen. Die Neußer Nachkriegsgrabungen haben auch in dieser Hinsicht wertvolle Aufschlüsse erbracht, und zwar von durchaus überregionaler, ja, internationaler Bedeutung. Das gilt vor allem für das Dasein der FestungsVorstadt, jener Barackensiedlung also, die sich hier, wie auch anderswo, vor den Toren des Standlagers entwickelte. Die Trosse der augusteisch-tiberischen Armeen fanden, wie bekannt, noch innerhalb der UmwaUung Platz. Ob sie sich später freiwillig aus der Zone der militärischen Disziplin absetzten oder aus ihr verbannt wurden, wissen wir nicht. Tatsache ist jedenfalls, daß es sich um unab­ sehbare Haufen von «Sklavenhändlern, Krämern, Kneip- und BordeUwirten, Bäckern, Köchen, fahrenden Leuten » und anderem zwieUchtigen Volk handelte, das,«wenn die Zucht schlaff und die Aussicht auf Gewinn günstig schien, an Kopfzahl die Streiter übertreffen konnte» (Nissen). 74

Alle diese Mitläufer und Nutznießer waren auch in Neuß sehr schnell zur Stelle, als ein festes Lager regelmäßigen Verdienst verliieß. Dem Bedarf entsprechend, den eine hart am Zügel gehaltene Truppe nach Feierabend entwickelt, lockten bald die Buden der Weinhändler und andere Etablissements zur abendlichen Kurzweil. Das weibliche Element, dessen Anwesenheit im Lager streng verpönt und verboten war, wirkte dabei kräftig mit. Wie überall, wo Mars regiert, werden die langhaarigen Töchter der Venus auch liier ihre Schäflein ins Trockene gebracht und des Kaisers Legionäre nach Kräften geschröpft und ausgesogen haben. Daß bei diesen Saturnalien der unteren Dienstgrade nicht immer eitel Friede und Einverständnis herrschten, versteht sich von selbst. Wo geliebt, gezecht und gewürfelt wird, da wird auch gerauft, und vermutHch saßen die Messer in einer solchen Lagervorstadt genauso locker wie heute in einem nahösthchen Matrosenkeller. So stellten schon die Archäologen des vergangenen Jahrhunderts fest, daß gewisse Funde eindeutig auf Totschlag hinwiesen. Je länger der Friede allerdings währte, je mehr also die Truppe ihren Charakter änderte, um so friedfertiger scheinen auch die Canabae - als «Kneipe » lebt das Wort unter uns fort - geworden zu sein. Selbst Gott Amor und seiner panischen Kumpanei wurde in der Spätzeit auf recht zivile Weise geopfert. Die allzu wildschössige Liebe im Landsknechtsstil machte einem dauerhaften Beweibtsein Platz. Der Soldat aß und schlief zwar weiterliin in der Kaserne, doch war ihm erlaubt, außerhalb der Festung einen Hausstand zu gründen. Zu diesem Zweck erkannte er eine Contubemahs, das heißt Genossin, genannte Frau - meist heimi­ schen Geblüts - als die seine an, baute ihr eine Hütte, versorgte sie mit dem Notwendigsten und zeugte mit ihr viele Kinder, - womit zugleich der Nachwuchs für die Legionen des Imperiums gesichert war. Schied er später aus dem Dienst aus, wurde seine Soldatenehe öffentlich legitimiert und mit dem Segen des fernen obersten Kriegsherrn aus­ gestattet. Der Soldat selbst pflegte sich dann in einen schlichten Handwerksmann zu verwandeln. Denn diese Lagervorstädte waren ja nicht nur das Sündenbabel der Legionäre, sondern vielfach auch der stille Hafen, in den sie am Ende ihrer militärischen Karriere einliefen, um sich einem bürgerhchen Beruf zuzuwenden. Die notwendigen Fertigkeiten hatten sie sich im Lauf der Dienstzeit meist zur Genüge erworben, so daß es ilinen nicht schwerfiel, sich 75

Schmuck Glasgefäße gegen Honig

fortan als Bäcker, Schuster, Maurer, Steinmetzen oder Ziegler zu be­ währen. Sehr gefragt waren auch Töpfer, die aber als ausgemachte SpeziaUsten wolJ einer Sonderausbildung bedurften. Außer sieben Töpferöfen wurden in den Neußer Canabae die Reste einer Eisenund einer Kupferschmiede entdeckt, die sich u. a. mit der Herstellung von Sporen und Fibeln befaßten. Auch die Kunst der Stoffherstellung war dort heimisch, wie sich aus den insgesamt 200 000 Funden, die in Neuß bisher geborgen wurden, mit Sicherheit nachweisen läßt. Gleichrangig neben Handwerk und dem, was wir heute Vergnügungs­ industrie nennen (als ob man Vergnügen industriell erzeugen kömite!) richtete sich der Handel in den Festungsvorstädten ein, - vielfach spielten die Jünger Merkurs sogar die erste Geige; denn der Bedarf des Heeres war groß, der der Legionäre nicht minder. Die Soldaten hatten ja ihre mittelmeerischen Gewohnheiten nicht zu Hause gelassen. Sie brauchten ihr Tongerät, ihre Amulette, gelegentUch auch eine Kette für den weiblichen Anhang. Und vor allem: sie waren Weintrinker und wollten auch im rauhen Germanien nicht auf die Labe durch die bacchantische Rebe verzichten. Und was die Armee betrifft, so huldigte sie zwar dem Prinzip der möghchst autarken Bedarfsbefriedigung - sie verfügte beispielsweise über eigene Steinbrüche, eigene Ziegeleien, baute auch ihr Kom größten­ teils selbst an - doch war sie in mancherlei Beziehung auf die Zufuhr von draußen angewiesen. Das galt vor allem für Leder und Stoffe. Auch der Warenaustausch mit dem freien Germanien lag durchweg in den Händen römischer und gallischer Händler, die von den Canabae aus ihre weitverzweigten und sicher nicht immer sehr übersichthchen Geschäfte handhabten. Getauscht wurden im wesenthchen Fertigwaren gegen landwirtschaftUche Produkte: Schmuck gegen Vieh, Silberbecher gegen Pelze, Glas- und Tongefäße gegen Honig, später auch gegen Geld; denn die Germanen, ihre Stammesfürsten vor allem, lernten im Lauf der Zeit die blanke, hartgeprägte Münze nicht nur kennen und schätzen, sondern auch brauchen, und ihre Bauemschläue heß sie durchaus auf ihren Vor­ teil achten. Solche Geschäfte erforderten Speicher, Kontore, Markthallen. Soweit die Canabae bis heute durchforscht sind, gab es einen MehrzweckGcbäudetyp, der nur hier zu Hause war. Er richtete seine Schmalseite zur Straße, hatte aber häufig eine Tiefe von 80 Meter. Wohn- und Geschäftsbereich waren unter einem Dach vereint. Die meisten dieser 76

Häuser waren unterkellert, viele entliielten Werkstätten, Magazine, StäUe für das liebe Vieh. Gebäude solcher Art, die schon bei den Limesgrabungen ans Tages­ licht kamen, wurden auch in Neuß festgestellt, und zwar mit den gleichen Grundrissen und AufteUungen wie dort. Hier wie dort be­ stimmte die Fachwerktechnik das Bild, eine leicht zu erlernende und mit geringen Mitteln zu praktizierende Bauweise, die dem schnellen Wachstum und dem Wildwest-Charakter der Lagervorstädte Rechnung trug. Zerstörungen durch verheerende Feuer oder feindHche Überfälle lagen ja immer in der Luft. Bei den Grabungen im Neußer CanabaeGelände waren jedenfalls vier Bauperioden deutUch erkennbar, von denen allerdings nur die dem Bataveraufstand folgende einwandfrei datiert werden komite. Im übrigen handelte es sich hier um eine Siedlung von mindestens 75 Hektar Fläche, die sich, von einem kleinen Ableger im Süden abgesehen, in nordwesthcher Richtung an die Via principalis der Festung ansclJoß. Zur Legionsfestung gehörte nach römischem Brauch das Legions- Die landterritorium. Auch die Erforschung dieses mihtäreigenen Grundbesitzes lichctt steckt noch in den Anfängen. Daß es sich dabei jedoch um riesige j^fabanten Latifundien handelte, wird schon durch antike Schriftsteller bekundet. Von Vetera ist bekannt, daß der militärische Gutsbezirk auf mehrere Flöfe aufgeteüt war, die von Pächtern bewirtschaftet wurden. In Novaesium wird es sich ährdich verhalten haben. Zumindest kann man sagen, daß man in der näheren und weiteren Umgebung des großen Lagers zalilreichen landwirtschaftHchen Betrieben auf die Spur kam, die ihrer vermutbaren Größe nach den Pachthöfen von Vetera entsprachen. Beim Aufbau solcher Trabanten-Betriebe pflegte die Truppe Hilfe­ stellung zu leisten. Die Legionsziegelei lieferte die Steine, wahrscheinhch gingen auch die Bauarbeiten zu Lasten der Truppe. Als Pächter fungierte meist, wie anzunehmen ist, ein verdienter Veteran. Da an Hilfskräften kein Mangel war, da man sich zudem über den Absatz seiner Erzeug­ nisse keine Sorgen zu machen brauchte, werden solche Pachtstellen wohl zu den begehrtesten Auszeichnungen gehört haben, die die Truppe zu vergeben hatte. Viele Legionäre salien die Heimat also nicht vsneder, aus der sie das Imperium zur Sicherung seiner Eroberungen zusammengetrommelt hatte. Viele wurden seßhaft und starben als römische Bürger in fremden 77

Ländern, wurden auch römischer Sitte gemäß beerdigt, weit außerhalb der menschlichen Siedlungen, denn die lateinische Vorstellungswelt duldete das Nebeneinander von Lebenden und Toten nicht. So fanden sich auch im Umkreis der Neußer Canabae und ihrer Nachfolgesiedlungen, zum Teil auch in den Ruinen der Legionsfestung selbst, zahlreiche Gräber, in der Hauptsache aus dem 2. und 3. Jahr­ hundert. Auch sie beweisen, welcher Völkermischmasch damals am Rhein heimisch geworden war, und zwar nicht nur in den Festungen, den Lagervorstädten und den militärischen Territorien, sondern auch in den bürgerhchen Kommunen, die unabhängig von den müitärischen Siedlungen bestanden. Eine solche Zivüstadt gab es auch im Raum von Novaesium. Aus ihr ist das heutige Neuß hervorgegangen. Das zivile Diese Zivilsiedlung war älter als die römische Festung. Zumindest Novaesium fanden die Legionäre, die sich hier in augusteischer Zeit zum ersten Mal eingruben, einen Hof oder Weiler vor, dessen Namen sie, nach römischem Brauch, auf ihr Standlager übertrugen. Archäologisch ist die Urzelle der Stadt Neuß freüich erst im 1. Jahrhundert n. Chr. nach­ zuweisen. Wie in der Kemsiedlung der Colonia Trajana, lebten ihre Bewohner in Holz-Erde-Bauten, die häufig abbrannten oder durch Überschwem­ mungen und kriegerische Ereignisse in Mitleidenschaft gezogen wurden. Über den eingeebneten Baugrund wurde auch hier nach jeder Kata­ strophe eine Ton-Lehm-Decke gezogen, so daß das Niveau sich aUmähheh hob und hochwasserfrei wurde. ScliheßUch begann man, nach dem Vorbild der Legionsfestung, in Stein zu bauen; allerdings scheint man über steinerne Fundamente kaum hinausgekommen zu sein. Die Siedlung dürfte zumindest im 2. Jahrhundert einigen Wohl­ stand entwickelt und 2000 bis 3000 Seelen gezählt haben. Stadt­ rechte wurden ihr jedoch nicht verliehen, ihre Bewohner galten also nicht als römische Bürger. Obwohl von den Frankenstürmen des 3. Jahrhunderts schwer mitge­ nommen, vermochte sie sich, wenn auch nicht im alten Umfang, in das 4. Jahrhundert hinüberzuretten. Dann verstummen die Nachrichten, und auch für den Archäologen bildet das Neuß der fränkischen und frühkarolingischen Zeit ein Buch mit sieben Siegeln. Grabungen in der Umgebung des Quirinus-Domes, die kürzheh begannen, werden es vielleicht öffnen. 78

Soweit die Geschichte der Stadt. Das Gebiet, in dem sie lag, gehörte ursprünghch den von Caesar so schwer dezimierten Eburonen. Was seinem Strafgericht entkam, ging wahrscheinhch in den Ubiern auf, denen die entvölkerten linksrheinischen Gebiete in den dreißiger Jahren V. ehr. als neuer Lebensraum zugewiesen wurden. Zu dieser gaUisch-germanischen Mischbevölkerung bäuerlichen Typs stießen nach der Okkupation zahlreiche GaUier keltischen Geblüts, die das Land mit ihrem lebhaften Gewerbesinn durchdrangen und, wenn Merkur ihnen günstig war, hier ansässig wurden; und natürlich sickerten, bezeugt durch Gräber und Weiliegaben für ihre diversen Götter, auch in die Zivilsiedlung zahlreiche Italiker, Macedonier, Spanier und wasch­ echte Orientalen ein. Die Verkehrs- und Amtssprache war Latein, zumindest für alle Händ­ ler, Handwerker, Bürokraten und Soldaten. Bei der Urbevölkerung selbst lebten germanische und keltische Idiome weiter, - durchaus im Einverständnis mit den Schutzherren, deren Elirgeiz nicht darauf aus war, Eroberungen spraclilich und religiös zu assimüieren. Der Vorgang der Angleichung wurde nämhch, für die Unterlegenen kaum spürbar, fast ausschheßheh mit wirtschafthehen und zivihsatorischen Mitteln vollzogen, in der langen Zeit der «pax romana» selbst in den Grenzgebieten, wo die Müitärs das letzte Wort sprachen. Die gewerbhehe Schichtung der Zivüsiedlung wird also im wesent- Auf der heben der der Lagervorstadt entsprochen haben. Schmiede, Töpfer, Gerber, Schuster betrieben ihre kleinen Ein- oder Zweimann-Werk­ stätten, viele gewiß in Verbindung mit einer kleinen Landwirtschaft. Der Handel aber gab den Ton an, und Haupthandelsweg war der RJiein, auf dem Ruderboote, Segelkälme und Treidelschiffe einen lebhaften Verkehr unterhielten; daneben die große, von den Legionären erbaute und kontroUierte Rheinuferstraße. Sie führte, wie wir gesehen haben, gerade im Neußer Bezirk durch ein dichtbesiedeltes teils militärisches, teils ziviles Gebiet, das wenigstens in der Frühzeit streng getrennt war. Von Vetera her kommend, passierte sie die Bürgerstadt mit ihren vor den Mauern gelegenen Gräberfeldern, durchschnitt die Canabae und deren Nachfolgesiedlungen und mündete, noch heute genau zu markieren, in die große Legionsfestung ein. Hier, vor dem hnken Haupttor, stießen die Planierraupen der Archäo­ logen im Frühjahr 1959 auf die Reste einer großen Thermenanlage, einer römischen Militärbadeanstalt vermutheh. Sie legten unter anderem 79

den Boden des Kaltwasserbeckens frei, eine Fläche von zehn mal sieben Meter, flach wie ein Bfllardtisch und völhg unversehrt, obwohl das Gebäude, wie aus umgestürztem Mauerwerk zu erkennen war, später abgerissen wurde. Es entstand wahrscheinhch nach dem Bataverkrieg, diente also den Soldaten des «verbesserten » großen Lagers als luxuriöses Badehaus. Wo die Straße das Lager nach 460 Metern wieder verließ, am rechten Prinzipaltor, lag in der Blütezeit ein ausladender Steinbau, über dessen Funktionen sich die Gelehrten noch nicht einig geworden sind. Koenen liielt es für das Gästehaus der Legion, Lehner und Oelmann entscliieden sich für eine Therme. Vielleicht war es beides, ein großes Hotel für hohe Staatsbeamte, die natürhch auch auf Reisen nicht auf ilire gehebten Bäder verzichten wollten. Auch heute Hegt am Ausgang der Legionsfestung, bereits auf länd­ lichem Boden, ein Gastliaus mit Fernsehempfänger und Musiktruhe. Nahe der Theke hängt ein Diplom, das dem Besitzer hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Kochkunst bestätigt. Daneben ein Plan des Koenen-Lagers. Draußen donnert der Verkehr über die alte Römerstraße von und nach Köln, der damaUgen Colonia Claudia Ara Agrippinensis, Haupt­ stadt Niedergermaniens.

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Der „cingckcllcrtc“ Statthalterpalast in Köln. Zyklopenhafte Wände und Mauer­ züge iin modellierenden Licht unsichtbarer Scheinwerfer. (Foto; Hubmann)

Teil des constaiitinischeii Praetoriums unter dem Kölner Rathaus, dessen Mittel­ punkt ein mächtiger Achteckbau bildete, wahrscheinlich ein Vestibül für Staats­ empfänge. (Foto: Hnbmann)

Viertes Kapitel

M IT

DEM

FAHRSTUHL

I N DIE

RÖMERZEIT

Die Sternstunde der Kölner Archäologen Odyssee einer Sammlung • Die Grabkammer von Weiden • Frühe Stätten der Kölner Christen • Nympheny Faune und Mänaden • Die eingekellerten Ruinen • Der Stein des Catulus • Reste eines Kaiserpalastes ? • Das Schwert Caesars, der Dolch Othos • Der Tod des Silvanus • Der alte Vater Rhein *Die erste Kölnerin * Vier Buchstaben auf drei Steinen • Die Felsenlaube in der Römer­ mauer • 200 Jahre Frieden am Rhein • Tongefäße, Sigillaten und Gläser • Die große Handels- und Hafenstadt • Thermen, Villen und Paläste • Das Ende als Steinbruch Die Hohe Straße in Köln gilt als die einzige Straße in Deutschland, die seit 2000 Jahren weder ihren Lauf noch ihren Charakter geändert hat. Unweit des Doms, am Wallrafplatz, beginnend, schneidet sie parallel zum Rhein durch die Gevierte der einstigen Altstadt, Zentrum von Handel und Wandel seit eh und je - Straße der Kaufleute, Straße der Frauen, von mittelmeerischer Geschäftigkeit erfüllt. Stromwärts führend, biegt die Große Budengasse von ilir ab, die sich wenig später die Kleine Budengasse nennt und an Läden, «Büdchen», Nachtlokalen und Großgaragen vorbei in planiertes Trümmergelände vorstößt. Dort hegt Kölns Neues Rathaus, ein klargeghederter Bau aus matt­ roten Ziegeln, ein Stück konventioneller Architektur, dessen große Fenster, Treppen, Aufgänge und umbauten Höfe jedoch den Eindruck von Weite, Wohlstand und Weltoffenheit wecken. Dieses Rathaus hält eine merkwürdige Überraschung bereit. Man betritt einen Fahrstulil, drückt auf den Kellerknopf, sinkt surrend in die Tiefe, setzt auf, durchschreitet einen schmalen, hellgetünchten Flur, an dessen Ende in einem gläsernen Kasten der obligate Cerberus seines Amtes waltet - und befindet sich in einer anderen Welt, unendlich fern den gebolinerten Fluren und Zellen des modernen Bürokraten­ klosters über uns. 6 Pßrtner

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Ein kurzer, orientierender Blick, der unentschlossen und einigermaßen erstaunt über alte Vasen, Plastiken, Gedenksteine und Skulpturen wandert, - aber schon fühlt sich das Auge von zyklopenhaften Wänden und Mauerzügen angezogen, sorgfältig verfugten Ziegelgebilden und bizarren Tuffsteinpfeilern, deren Kraft und Mächtigkeit durch das modellierende Licht unsichtbarer Scheinwerfer zu einer urtümUchen Phantasmagorie gesteigert wird. Es handelt sich um die Reste des Praetoriums der «Colonia Claudia Ara Agrippinensis», in dem der Statthalter Roms residierte und als Militärbefehlshaber und oberster Beamter die Provinz Niedergermanien verwaltete. Odyssee einer Sammlung

Köln ist alter römischer Kulturboden, von dem eine seltsam bannende Kraft ausgeht, die die Archäologen in ständiger Spannung hält und immer neuen Erkenntnissen und Problemen ausliefert. Wer zwischen Ring und Rhein einen Spaten in die Erde stößt oder gar die stählernen Schaufeln eines Baggers betätigt, wird überall Münzen, Vasen, Ton­ gefäße oder Mauerreste zu Tage fördern. Funde dieser Art sind ständig im Gespräch. Mal stößt man auf ein Stück der römischen Kanahsation - der Abwässerkanal unter der Buden­ gasse zum Beispiel, «einer der drei großen Sammler der römischen Stadt, ist heute noch unter der Straße begehbar» -, mal auf Teile eines Badehauses oder einer Kaufherrenvilla, mal auf die Reste einer Schlem­ mermahlzeit, mal auf eines der berühmten kölnischen Gläser, mal auf das Grab eines Kindes, dessen blonde Locken sich über 1700 Jahre erhalten haben. An der Peripherie der Stadt, beim Bau des Stadions, entdeckte man vor einigen Jahren die Spuren eines römischen Gutshofes. Auch von den Tagebaubetrieben der Braunkohlenindustrie rund um Köln wurde schon mancher Fund sichergestellt. Kein Wunder also, daß Köln die größte Sammlung römischer Klein­ kunst in Zentraleuropa besitzt - Waffen, Schmuck, Geschirr, Altäre, Götterbilder, kostbare Gläser, insgesamt mehr als 80 000 wohl­ erhaltene Einzelstücke, die ursprünglich die Römische Abteilung des Wallraf-Richartz-Museums bildeten, seit dem Kriege aber ohne feste Bleibe sind. In Kisten verpackt, wurden sie zunächst nach Oberaudorf in Bayern evakuiert. Von dort gelangten sie 1945 nach München, an­ schließend auf ein rheinisches Schloß und schheßlich nach Köln zurück, wo sie sinnigerweise in der früheren Gauleitung Unterkunft fanden. Die Ruinen einer Fabrik und die Keller eines Kölner Kaufhauses waren 82

das nächste Quartier, bis 1958 «wenigstens das schönste Zehntel der Sammlungen» in dem neuen Römisch-Germanischen Museum in der Alten Wache der ÖfFentlichkeit wieder zugänghch wurde. Aber nicht nur in Sammlungen und Museen, sondern auch in der Stadt selbst und ihrer Umgebung begegnet man den Stätten der Römer man muß sie nur zu finden wissen. Die Geschichte der großen archäologischen Entdeckungen, die Köln zu einem wahren Dorado der Altertumsforschung machten, setzte vor mehr als 100 Jahren mit der Freilegung der Grabkammer von Weiden ein. Im April 1843 begann der Fuhrmann Ferdinand Sieger in dem 9 Kilometer von Köln entfernten Weiden mit den Ausschachtungs­ arbeiten zu einem neuen Wirtschaftsgebäude, das unmittelbar neben seinem Haus an der Aachener Straße liegen sollte. Dicht unter der Erd­ oberfläche stieß er auf steinerne Treppenstufen, die zu einem durch eine Platte verschlossenen Eingang führten. «In ungeduldiger Habgier», wie es heißt, wurde diese Steinplatte sofort zertrümmert. Zur großen Ent­ täuschung des schatzlüstemen Gräbers fand sich darunter jedoch nur Erdmasse aus Mergel, die mit Ziegeln und Steinen durchsetzt war. Der Fuhrmann wollte die Grube bereits wieder zuwerfen. Inzwischen aber hatte sich die merkwürdige Begebenheit herumgesprochen. Unter den Interessenten, die die Fundstelle neugierig in Augenschein nahmen, befanden sich auch der Bürgermeister Weygold aus Weiden und der Gutsbesitzer Dapper aus Lövenich. Nach ausgiebiger Besichtigung erklärten sie sich bereit, die Kosten für die weiteren Arbeiten zu über­ nehmen, falls Sieger sie an dem Ergebnis beteiligen werde. Der Fuhr­ mann willigte in den Handel, und so wurden unter Leitung eines pensionierten Bergmannes die Grabungen fortgesetzt, die zwar nicht zu der erhofften Schatzkammer, wohl aber zu einer guterhaltenen römischen Grabkammer führten. Es handelte sich um einen 4,44 mal 3,55 Meter großen Raum, der an drei Wänden je eine Nische zur Aufnahme von Aschenurnen und anderen Erinnerungsstücken enthielt - ein echtes Columbarium also, nach römischem Vorbild, erbaut wahrscheinhch von einem italischen Gutsbesitzer, der vor den Toren der großen Stadt seinen gewinnbringen­ den Ackerbau betrieb. Die vierte Wand enthielt den Eingang, zu dem die von Sieger angegrabene Treppe hinabfülirte. Der Boden der Kammer lag 5,91 Meter unter der Erdoberfläche. Das Columbarium enthielt außer ethchem Kleingerät (das später 83

Die Grabkammer

nach Berlin verkauft wurde) einen Steinsessel, drei Marmorbüsten, die einen Mann, eine Frau und ein Mädchen darstellten, sowie einen schönen Jahreszeitensarkophag, ein fast einzigartiges Stück, mythologisch wie künstlerisch gleich aufschlußreich: wohl ein Direktimport aus Rom. Das Unternehmen hatte sich also gelohnt, und die drei Beteiligten kamen auf ihre Kosten. Zunächst versuchten die Könighchen Museen in Berlin die Grabkammer zu erwerben. Dann gaben belgische Mittels­ männer ihre Visitenkarten ab. Beide Male scheiterten die Verhandlungen jedoch an den Forderungen der Entdecker. SchheßHch erwarb der kölnische Dombaumeister Zwirner den gesamten Komplex für die beachthche Summe von 23 000 Talern. Das Tonnengewölbe wurde restauriert, eine neue Treppe gebaut und die überholte Anlage zur Besichtigung freigegeben. Unmittelbar an der verkehrsreichen Landstraße nach Aachen gelegen, der alten schnurgeraden römischen Ausfallstraße, sowie in nächster Nähe der Eisenbahn, bildet die Grabkammer von Weiden bis heute ein Refugium der Stüle im Lärm der Welt. Die Fachwelt reclmet sie zu den bedeutendsten Denkmälern römischer Zeit in Europa; «denn nördheh der Alpen», so heißt es in der Publikation von Fritz Fremersdorf, «gibt es nichts, das an Vortreffhehkeit der Erhaltung und Vollständigkeit der Ausstattung mit ihr verglichen werden könnte... » Das Publikum aber hat sie vergessen. Und es geschieht nur sehr selten, daß einer aus dem großen Touristenstrom, der Jahr um Jahr hier vorbeiflutet, an der Aachener Straße 328 anhält, um sich einige Minuten der Besinnung zu gönnen. Frühe Auch die Gräber und «Katakomben», die der Spaten der Archäologen Stätten der unter der Kirche von St. Severin in Köln freilegte, sind so ein Refugium Christen Stüle, der Andacht und Versenkung. St. Severin liegt ebenfalls vor den Toren der einstigen Römerstadt, an der Straße nach Bonn, jedoch innerhalb des heutigen Stadtgebietes. Anders als in Weiden, wo «König Zufall» eine wichtige Rolle spielte, wurde hier in mehr als 30jähriger Arbeit methodisch ein ganzer Friedhof freigelegt, der von der römischen bis in die fränkisch-merowingische Zeit kontinuierheh belegt war. Die von 1924 bis 1955 dauernden Grabungen erstreckten sich auch auf das Kircheninnere oder besser: auf das unter der Kirche hegende Gelände, das bis zur letzten Erdkrume durchsucht und diagnostiziert wurde. Die Ergebnisse waren in melir als einer Beziehung sensationell. Nach dem Bericht von Fritz Fremersdorf, dem Leiter der Aktion, 84

ergaben die langjährigen Forschungen zunächst in aller Eindeutigkeit, «daß sich an der Stelle der heutigen Severinskirche ein heidnischer Begräbnisplatz befand, d. h. die Toten wurden verbrannt und die Brandasche zusammen mit allen möglichen Beigaben der Erde über­ geben ». Zwischen diesen Brandgräbem aber fanden sich Särge aus Holz, Blei und Stein, die genau ostwestheh ausgerichtet waren, also schon von der Anlage her auf christHche Herkunft schließen ließen. Der interessanteste war ein «gewaltiger Behälter aus Tuff, dessen Deckel fast so mächtig war wie der Behälter selbst... Der ungestörten Leiche waren vier Münzen beigegeben: ein Denar von Vespasian, Ikonzemünzen von Antoninus Pius und Marc Aurel sowie ein Denar der jüngeren Faustina von etwa 160 n. Chr. in stempelfrischer Erhaltung. » In unmittelbarer Nachbarschaft dieses Sarges kam ein zweiteiliger Be­ hälter aus Ziegelplatten zum Vorschein, der nach den Feststellungen der Archäologen etwa um 180 n. Chr. der Erde übergeben war. SchließHch entdeckte man noch den mit christlichen Symbolen geschmückten Grabstein eines Mädchens mit Namen Concordia, das seinen Eltern anderthalbjährig genommen wurde. «Weim wir bedenken: Leichenbestattungen, beigabenlos, in genauer Ost-West-Lage, teilweise älter als nahe dabeiliegende Brandbestattungen mit reichen Beigaben, so werden wir vermuten dürfen, daß hier die Bestattungen von Christen vorliegen.» Diese wären etwa in das Jahr 160 n. Chr. zu datieren, - eine überraschende Erkenntnis, die jedoch der um 180 abgefaßten Schrift des heiligen Irenäus entspricht, wonach cs in Germanien schon damals organisierte Christengemeinden gab. Die Legende wurde also, gegen jede geschichtliche Mutmaßung und Erfahrung, von der Archäologie bestätigt, - nicht zum letzten Mal, wie wir noch sehen werden. Die Parallelen zu St. Victor in Xanten, die sich hier bereits abzeichnen, kennzeichnen auch die weitere Geschichte von St. Severin in Köln. Auch hier erhob sich aus dem teüs heidnischen, teils christlichen Gräber­ feld zu Beginn des 4. Jahrhunderts - wahrscheinlich also unter Constantin - eine kleine Friedhofskirche, und genau wie dort lagen unter dem Altar die Gebeine zweier Unbekannter, möglicherweise zweier Märtyrer. Diese aus einem rechteckigen Raum und einer Apsis bestehende Gedächtniskapelle wurde bereits um 400 wesentlich erweitert und nahm dann auch das Grab des heiligen Severin auf, «der nach den Angaben Gregors von Tours die Fäden der kulturellen Entwicklung von der ausgehenden Antike in die nachrömische Zeit weitergab ». 85

Diese römische Urzelle blieb Kernelement der St.-Severin-Kirche bis in unsere Zeit, sie bestimmt zum Beispiel noch heute Richtung und Maße des dreischiffigen Bauwerkes. ÄhnUch verhält es sich mit anderen Kirchen in Köln, mit St. Gereon, dessen Zentralbau aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts stammt, und mit St. Ursula, die zur gleichen Zeit bereits als dreischiffige Basilika bestand. Auch St. Ulrich, St. Aposteln, St. Maria im Capitol, selbst der Dom wachsen aus römischen Grundmauern, wie durch Grabungen festgestellt wurde. Während dort aber die Grabungsspuren wieder beseitigt wurden, «konnte in St. Severin der ganze monumentale Befund erhalten werden ». Unter dem Fußboden des heutigen spätgotischen Gotteshauses befindet sich also eine Art Unterkirche mit ausgedehnten Gängen und Mauerzügen, die neben zahlreichen Gräbern den Grundriß der MärtyrerGedächnisstätte deutlich markieren. Auch dies eine Anlage, die die Aufmerksamkeit aller derer verdient, «die sich den Sinn für die Größe der Vergangenheit und des historisch Gewordenen bewahrt haben». Nymphen, Im Kriege schließlich, im Sommer 1941, bei den AusschachtungsFaune und arbeiten zum Dombunker, stieß man auf die herrhchen DionysosMosaiken, die dann in die Bunkeranlage einbezogen, 1947 wieder aus­ gegraben wurden und heute eine der Attraktionen des «billigen Köln» darstellen - obwohl sie überaus heidnisch und ergo alles andere als «hillig » sind. Es handelt sich um die Arbeit zweier unbekannter Künstler des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, die den Boden des Fest- und Speisesaales einer römischen Kaufmannsvilla, ein Geviert von 10,70Meter mal 7,70 Meter, mit 31 Einzeldarstellungen bedeckten, wobei sie, wie eifrige Rechner feststellten, die Kleinigkeit von 1 447 500 farbigen Sternchen verlegten. Nymphen, Faune und Mänaden und allerlei sonstiges mythologisches Gesindel aus dem lüsternen Gefolge des antiken Weingottes treiben auf diesen Mosaiken ihre tolldreisten Spiele; im Mittelpunkt der junge, lockige Gott selbst, der sich selbstvergessen, im Zustand der Volltrunken­ heit, auf einen noch standfesten Bruder im Rausche stützt. Dazu die vollsaftigen, prallen Hüftstücke unbekleideter Damen, die sich je nach Temperament auf der Flucht oder in seliger Ekstase befinden, Gott Pan mit einem Ziegenbock, ein junger Satyr, auf einem Esel reitend, ein weibUcher Panther, des Dionysos Lieblingstier, Perlhühner vor Wägel86

dien niit Weintrauben gespannt, Enten, Pfauen, Feigenbäume - eine wahrhaft bacchantische Szenerie... Und eine Darstellung, die schon so manchen Sänger der frommen kirchenfreudigen Stadt bewogen hat, über das geheime Heidentum und die fortwährende Latinität ihrer Bewohner nachzudenken und zu ihrem Lob und mit einem Seitenblick auf den «kölschen» Karneval schmun­ zelnd in die Saiten zu greifen. Freilich haben die Kölner mit dem Dionysos ihre liebe Not. Der trunkene Gott bedarf dauernder Sanierung, da er eine unverkennbare Neigung zur Blässe beweist, seit er in die Luft dieser Welt zurückgekehrt ist. Nachdem man ihn und seine Schar zunächst durch einen Lacküberzug gegen die Feuchtigkeit der Bunkeratmosphäre abgeschirmt hatte, bereitete man ihm ein neues Estrich-Bett, so daß er sich nun einigermaßen trockengelegt seinem feuchtfröhlichen Treiben hingeben konnte. Als auch das nichts half, holte man Experten des Staatlichen Italienischen Kunstinstituts für Restauration zu Hilfe, die jeden einzelnen der fast 1% Millionen Steine heraushoben, reinigten und frisch einfärbten. Das Ganze kam dann unter einen Glassturz, der eine Klimaanlage erhielt. Derart bearbeitet und isoliert, hat Dionysos seine alte Leuchtkraft wiedergefunden... Doch das nur nebenbei. Später hat dann der Luftkrieg den Archäologen die Arbeit bedeutend erleichtert. So wäre schon die Freilegung der Thermen in der Stadtmitte ohne Vorleistung der Bomben nicht möglich gewesen. Ihre größte Stunde aber, geradezu eine Sternstunde ihrer Wissenschaft, erlebten die «Römer», als 1953 bei den Erdarbeiten zum Bau des Neuen Rat­ hauses ein ganzes Kombinat von Mauern, Fundamenten und Gebäude­ resten freigelegt wurde. Die Grabungstechniker und Frühhistoriker brauchten nur einen Blick auf die Anlage zu werfen, um zu erkennen, daß sie es hier mit etwas Besonderem zu tun hatten. Schon der Ort der Handlung war verdächtig. Die Baustelle umfaßte nämlich das Gelände des Alten Rathauses, von dem schon dank früherer Forschungen bekannt war, daß es einen bevor­ zugten Platz über der RJieinfront der römischen Kolonie einnahm. Diese folgte hier einer Biegung jenes als Hafen dienenden Rlieinarms, der später zugeschüttet wurde und den heutigen Heumarkt entstehen ließ. Dem schönen Alten Rathaus mit der berühmten Portalslaube von 1567, das vorwiegend der Repräsentation diente, schloß sich als Forti-

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Die ein-

fikation der Verwaltung der sogenannte Spanische Bau an, ein Werk des frühen 17. Jahrhunderts, dessen Taufherren - entgegen seinem holländisch-protestantischen Charakter - die Vertreter der KathoHschen Liga waren, die 1623 in seinen Mauern eine Tagung abhielten. Auch dieser Spanische Bau erlebte während des Krieges eine gewaltsame Demontage, und zwar mit derart durchschlagendem Erfolg, daß ein Neubau von Grund auf notwendig war. Zu diesem Zweck also wurde 1953, an der archäologisch interessantesten Stelle der Kölner Altstadt, eine Fläche von 75 mal 100 Meter aufgeschlossen. Das, was die «Römer» zu zeigen hatten, als sie kurz darauf Alarm schlugen, war in der Tat so eindrucksvoll, daß der Rat der Stadt ihrem Drängen nachgab, eine wissenschafthche Leitung der Baggertätigkeit und damit eine wesentliche Verlangsamung der Arbeiten in Kauf nahm und schheßhch eine runde sechsstellige Summe auf den Tisch legte, um die wichtigsten Teile des Ruinenbezirks durch eine schön gespannte Betondecke zu überwölben. Man schuf auf diese Weise nicht nur einen Ratskeller besonderer Art, sondern auch ein in Deutschland einzig dastehendes Museum. Der Stein des Catulus

Zwischen den Säulen, Kapitellen, Gesimsen, Grabdenkmälern, j^ehefs und Skulpturen, die im Vorraum dieses Museums ausgestellt sind, findet sich ein Stein, der bei der Entschlüsselung der eingekellerten Mauerreste eine große Rolle spielte. Er stammt aus dem 3. Jahrhundert nach der Zeitwende und trägt die Inschrift: «Den bewahrenden Göttern Quintus Tarquitius Catulus, der Statthalter des Kaisers, durch dessen Sorge das zusammengefallene Praetorium in neuer Gestalt wiederher­ gestellt worden ist.» Dieser Stein wurde bereits vor mehr als 300 Jahren bei der Reno­ vierung eines Hauses in der nahen Bürgerstraße aus der Versenkung geholt und nährte schon damals die Meinung, daß die Mauerreste unter dem Rathaus, vor allem unter dem Spanischen Bau, zum einstigen Praetorium gehörten. Untersuchungen gegen Ende des vorigen Jahr­ hunderts erklärten diese Mauerreste jedoch für fränkischen Ursprungs. «Dieser Irrtum», so sagt Dr. Otto Doppelfeld, der Leiter der neuen Ausgrabungen, «wäre vielleicht nie berichtigt worden, wenn nicht die große Ausschachtung des Jahres 1953 die ganze Anlage aufgedeckt hätte, an deren römischem Ursprung jetzt kein Zweifel mehr möglich ist.» Es ist nicht ganz leicht, einem zünftigen «Maulwurf» zu folgen, wenn er, von einigen Mauerteilen ausgehend, das vielfältige Rüstzeug seiner

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Wissenschaft auffährt, um aus den verbliebenen Resten auf das Ganze der Anlage zu schließen. Die Kenntnis lateinischer Quellen ist dabei ebenso wichtig wie ein lebhafter Sinn für Architektur und alte Bau­ weisen, von der notwendigen schöpferischen Phantasie und jenem Wünschelrutentalent ganz zu schweigen, das auch die größte Erfahrung nicht zu ersetzen vermag. Daß Größe und Weitläufigkeit der freigelegten Ruinen ein Gebäude amthchen Charakters anzeigten, stand in diesem Fall von vornherein fest; auch daß dieses Bauwerk seine Front unmittelbar zum Hafen wandte. Schon diese beherrschende Lage ließ auf das lange gesuchte Praetorium schließen. Was zum Beweis dieser These noch fehlte, war dann eine Sache fachlicher Kleinarbeit, deren Ergebnisse heute auch von den Historikern bejaht werden. Im Verlauf dieser Untersuchungen gelang es sogar, die außerordentlieh komplizierte Baugeschichte des Palastes nachzuzeichnen. Vier Epochen sind deutheh erkennbar. Der erste Bau dürfte um das Jahr 50 n. ehr. entstanden sein, und zwar in Art einer Porticusvilla, die auf dem Stadtplateau lag und die Stadtmauer überragte. Nach einem Brand im Jahre 69 wurde die RJieinfront in Richtung auf den Fluß hinausgeschoben, mit behelfsmäßigen Mitteln freilich, die genau wie weitere Änderungen um die Mitte des 2. Jahrhunderts den Verfall nicht aufhielten. So kam es zu dem Neubau des 3. Jahrhunderts (auf den der Stein des Catulus hinweist), der die Front wieder zurück­ verlegte, Läden und einen Basar schuf und der Gesamtanlage eine oder zwei Pfeilerhallen anfügte. Dieses Praetorium dürfte zu Beginn des 4. Jahrhunderts, unter dem jungen Constantin, einem ausladenden Bauwerk mit 90 Meter PJieinfront, die durch starke Mauern abgesichert waren, Platz gemacht haben. Der Palast nahm ein volles Zehntel der Kölner RJieinfront in Anspruch und bekundete damit schon äußerheh den Willen zu Prunk und Luxus, hinter dem das spätrömische Reich seine schwindende Kraft verbarg. Die Gelasse und Magazine der Händler, auch der schöne Basarhof des Tarquitius Catulus, wurden mit einer herrischen Handbewegung gleich­ sam wegretuschiert. An ihrer Stelle entstand eine majestätische Aussichts­ galerie und ein (in den Ausgrabungen deutlich sichtbarer) mächtiger Achteckbau, wahrscheinlich ein Vestibül für Staatsempfänge. 89

eines Kaiser­ palastes ?

Dazu Hofraum, lange Flure und zahlreiche Gemächer, die ebenfalls mehr der Repräsentation als der Verwaltung dienten. Der Grundriß dieses Baues weist einige Ähnlichkeit mit dem seeseitig gelegenen Flügel des Diocletian-Palastes von Spoleto auf; auch in den Maßen besteht weitgehende Übereinstimmung. Möglich also, wenn auch nicht bewiesen, daß man es hier ebenfalls mit den Resten eines Kaiserpalastes zu tun hat. Schließhch erinnert sich der Historiker nicht von ungefähr der regen Bautätigkeit, die zu Beginn des 4. Jahrhunderts, nach den voran­ gegangenen schweren Stürmen der Germanenaufstände, die Stadt noch einmal wesentlich erweiterte und verschönerte. Auch die erste Brücke zum heutigen Deutzer Ufer wurde damals errichtet, eine kraftvolle Holzkonstruktion, die an die 500 Jahre stand und erst unter Erzbischof Bruno um das Jahr 900 herum abgebrochen wurde... Noch heute kommt es gelegentlich vor, daß, vornehmlich auf der Deutzer Seite, Pfähle aus dem Rhein gezogen werden, die dieser alten constantinischen Brücke angehörten. Das Schwert Caesars, Othos

Doch ob Kaiserpalast oder nicht - da es den Archäologen ohne Zweifel gelungen ist, die hier angestrahlten Steine, Ruinen und Mauerrömischen Praetorium zuzuordnen, lassen sich jetzt eine Reihe bekannter historischer Ereignisse genau lokalisieren. Daß daran kein Mangel war, ist zur Genüge überliefert. Köln war von Anfang an eine höchst aktive und zufassende Stadt, welche die Energien, die sie vom römischen Imperium empfing, doppelt und dreifach zurückstrahlte. So war, zumal im 1. und 3. Jahrhundert n. ehr., keine andere Stadt nördlich der Alpen im gleichen Maße an den Kämpfen und Kriegen um den Kaiserthron beteUigt. Von hier aus trat zum Beispiel Soldatenkaiser Vitellins - damals konsularischer Legat von Niedergermanien - im Jahre 69 n. Chr. jenen abenteuerhehen Marsch nach Rom an, der ihn Kopf und Kragen kostete. Die durch allzu lange Ruhe tatendurstig und beutehungrig geworde­ nen Soldaten holten den ob seiner Freßlust bekannten kaiserlichen Legaten aus seinem Schlafzimmer, gürteten ihn mit dem Schwert Caesars, das als Symbol des Imperiums in Köln aufbewahrt wurde, setzten ihn auf sein Pferd und heßen ihn einen Umritt durch die brodelnde und vor Begeisterung nahezu überkochende Stadt machen. Vitellins führte die Truppen der germanischen Provinzen dann über die Alpen, schlug seinen Gegenkaiser Otho in Oberitalien und sandte den 90

I')as Praetorium um 50 n. Chr. auf dem Stadtplateau (1) überragt die Stadtmauer (2), Der .Steilhang des Stadtplateaus wird durch davor gesetzte Mauerzüge zu einer Fassade ausgestaltet (3). Das Wasserbecken (4) ist noch sichtbar. Auch die neue Frontniauer von 150 n. Chr. (5) ist erhalten.

Die «neue Gestalt» im 3. Jahrhundert. Das Praetorium (1) bleibt an der alten Stelle. Zu seinen Füßen ein geräumiger Basarhof (2). In der Mitte eine Ladenreihe (3). Seit­ lich eine Pfeilerhalle (4), der wohl eine zweite (5) als südlicher Abschluß ent­ sprochen hat.

Dolch, mit dem sich dieser nach seiner Niederlage entleibte, nach Köln, wo er neben dem Schwert Caesars im Marstempel einen geweihten Platz fand. Viel länger währten die guten Tage des ViteUius nicht. Denn er fiel schon kurze Zeit später im Kampf gegen die Legionen des Vespasian. Mehr Glück entwickelte 29 Jahre danach der Statthalter Trajan, der in Köln durch seinen späteren Mitregenten und Nachfolger Hadrian die Nachricht vom Tode seines Adoptivvaters, des Kaisers Nerva, empfing und damit selber Augustus wurde - einer der größten des Imperiums, wie wir wissen. Köln war auch der Schauplatz jener düsteren Episode, mit der para­ doxerweise die Karriere Triers begann. Kaiser Gallienus vertraute, als er selbst von den Kämpfen am Rhein nach dem aufständischen Pannonien abberufen wurde, seinen Sohn P. Licinius Valerianus dem energischen Statthalter von Gallien an, dem Latinius Postumus. Dieser ließ jedoch sich selber zum Augustus ausrufen, belagerte Köln, tötete den kaiser­ lichen Prinzen, wurde von GalHen, Spanien und Britannien anerkannt und verlegte seine Residenz nach Trier, von wo aus er dem Gallienus erfolgreich Widerstand leistete. Hier in Köln residierte auch der junge Constantin, bevor er sich in den fast 20 Jahre dauernden Kämpfen zum Alleinherrscher des Römi­ schen Reiches aufschwang. Und hier kam es im Jahre 355 zu jenen denkwürdigen Vorgängen, die den damaligen Statthalter Silvanus das Leben kosteten. Die Archäologen glauben sogar, den Raum bezeichnen zu können, in dem die Soldaten - nach dem Bericht des Ammianus Marcellinus - diesen Silvanus niedermachten. Der Tod des Silvanus

Die Tragödie - die für die innere und äußere Verfassung der nachconstantinischen Zeit symptomatisch ist und deshalb kurz berichtet werden mag - begann mit der Entsendung des Silvanus nach Gallien, wo er, der romanisierte Franke, den Überfällen und Brandschatzungen der germanischen Stämme Einhalt gebieten sollte. Bevor der tüchtige General Rom verließ, trat ein gewisser Dynamius, seines Zeichens Angestellter der Tragtierbereitschaft der kaiserlichen Hofhaltung, mit der Bitte um ein Empfehlungsschreiben an ihn heran, und der arglose Kriegsmann kannte kein Bedenken, den Wunsch zu erfüllen. Kaum aber war er in Gallien eingetroffen, ersetzte Dynamius wir wissen nicht, in wessen Auftrag er handelte oder was ihn sonst zu seiner scheußhchen Tat trieb - den echten Brief durch einen gefälschten 92

Text, in dem Silvanus Freunden und Palastbeamten in kaum verhüllten Worten Absichten auf den Thron zu erkennen gab. Diese Fälschung wurde dem ohnehin um Reich und Leben fürch­ tenden Constantius in die Hände gespielt, der sofort einen Staatsrat zusammenrief, um über Maßnahmen gegen den ungetreuen General zu befinden. Süvanus erfuhr in Köln von der Schlinge, die man ihm heimtückisch um den Hals gelegt hatte, und war sich sofort darüber klar, daß es ihm nie gelingen werde, den argwöhnischen Constantius von seiner Unschuld zu überzeugen. Er entschloß sich deshalb, genau das zu tim, was man ilim unterstellt hatte - nämhch die Macht zu usurpieren und sich zum Kaiser ausrufen zu lassen. Bedenken seiner Offiziere und Soldaten wußte er im Stü der Zeit durch Geschenke zu zerstreuen - und so sah er sich bald mit dem kaiserüchen Purpur geschmückt. Den Stoff Ueferten übrigens, wie Ammianus ausdrückHch berichtet, die Fahnen und Standarten der Silvanus unterstellten Truppen. Wenig später traf, von eben diesem aufmerksamen Chronisten be­ gleitet, der Magister Militum Ursicinus ein, ein Mann, der ein Jahr zuvor ebenfalls in Ungnade gefallen war und deshalb darauf brannte, sich zu rehabihtieren. Vom Kaiser mit der stillschweigenden Liquidierung des Falles betraut, trat er dem Silvanus mit der Miene des Biedermannes gegenüber, ja, er beugte sogar das Knie vor ihm und wußte jegliches Mißtrauen so weit zu besiegen, daß er sich im Palast und in der Stadt frei bewegen konnte. Inzwischen aber versicherte er sich durch eine offene Hand einer ent­ schlossenen Kamarilla, die gegen entsprechende Honorierung bereit war, den Purpurtraum des Silvanus im Blut zu ertränken. Eines Tages erschien dann ein schwerbewaffneter Haufe vor den Toren des Palastes, machte die Wachen nieder, stürzte in die Gemächer des Süvanus und verfolgte den Fhehenden bis in eine kleine christhehe Kapelle, wo ihn die Verschwörer durch zahlreiche Schwerthiebe den Tod des Caesar sterben ließen. So sind noch die Ruinen- und Mauerreste jener Zeit schwer von Der alte Gescliichte und Geschichten. Und wie man aus der Anlage des Palastes R-hein auf Pracht und Pomp des späten Rom schließen kaim, so aus den Klein­ funden, die sozusagen im Foyer des unterirdischen Statthalterpalastes Platz gefunden haben, auf zahlreiche private Schicksale und Begeben­ heiten.

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Da hat ein Legionär die Initialen seines Namens in den noch weichen Ziegel gedrückt und damit die Spur seiner Erdentage verewigt. Viel­ leicht gehörte ihm der Hund, dessen Pfotenabdruck sich auf einem anderen Ziegel abzeichnet. Und hier ein Gedenkstein für die Matronen, die als Göttinnen der Fruchtbarkeit im römischen Rheinland inständig verehrt wurden; dort eine Tafel, durch die der für dieTierzwinger im Amphitheater verantwortliche Centurio seine Arbeit unter den Schutz der Diana stellt. «Weihungen großer Herren und kleiner Leute; was für die Öffent­ lichkeit gebaut wird, steht unter dem besonderen Schutz der Götter.» Die großen Straßen aber, die das Reich erst zu einer Einheit banden, «wurden nicht nur unter die Obhut der Götter gestellt, sondern mehr noch: die viae und semitae, die quadrivia und trivia (Kreuzungen und Straßengabelungen) werden selbst als Genien verehrt. Welch weise Regelung - uns sind sie längst zu Dämonen geworden.» (Doppelfeld) Auch zum alten Vater Rhein bestand bereits ein inniges Verhältnis. Mehr sogar, - sein Bild wurde damals für alle Zeiten geprägt. Genau­ so bärtig, stark und majestätisch, wie er auf den Humpen und Gläsern der heutigen Andenkenindustrie konterfeit wird, blickt er uns auf einem steinernen Abbild jener Zeitläufte entgegen, - eine imposante Erschei­ nung, trotz ramponierter Nase, dieser rheinische Süßwasser-Neptun. Und dann die Inschriften auf den Steinen! Da hat ein Mann namens Bienus deren vier in Auftrag gegeben, einen für Eltern und Brüder, einen zweiten für Schwiegereltern, Schwäge­ rin und Nichte, einen dritten für sich selbst und seine Gattin - der vierte blieb einstweilen frei; wahrscheinlich sollte er so etwas wie eine Familientradition begründen. Aber die Nachkommen des Bienus waren wohl anderer Meinung. Oder sie wurden ein Opfer der Stürme, die vom 4. Jahrhundert an immer wieder über die alte Römerstadt hinweg­ brausten. Sie muß dazumalen ein rechter Völkertiegel gewesen sein, diese Colonia Claudia Ara Agrippinensis. Selbst darüber wissen die Grabsteine der Toten höchst lebendig zu berichten. Da ist z. B. das Denkmal des Titus Flavius Bassus, der aus Mazedonien kam und Reiter in der nori­ schen Schwadron des Fabius Pudens war. Er starb mit 46 Jahren, nach­ dem er 20 Jahre Soldat gewesen war, zuletzt Gardereiter des römischen Statthalters. Auch von einem Kameraden namens Marcus Valerius Celerinus wird berichtet, der in Ästige in Spanien zu Hause war und in Köln als Veteran - als 131er, würden wir heute sagen - seine Tage beschloß. 94

Ja, es waren die Söhne vieler Herren Länder, die sich in der festen Stadt am Rhein den Wind aus den dunklen Wäldern Germaniens um die Nase pfeifen heßen, Griechen, Kappadozier, Illyrer, Afrikaner, braungebrannte und zähe Gesellen, im Kriegshandwerk wohlerfahren, trinkfreudig und händelsüchtig und den Töchtern des Landes wohl­ geneigt. Denn den Stamm der Bevölkerung, dem sie ihre Reiser in großer Zahl aufpfropften, bildeten noch immer die Ubier, jene ger­ manische Völkerschaft also, die 50 Jahre vor der Zeitenwende von Caesar auf das linke Ufer des Stroms «verlegt» worden war, nachdem er ihr durch Ausrottung der Eburonen den gesuchten Lebensraum ver­ schafft hatte. Ein harter und zäher Schlag, diese Ubier, dabei anpassungsfähig und agil, mit einem nüchternen Bhck für die politischen und miUtärischen Gegebenheiten, so daß sie trotz der mächtigen, befehlsgewolinten römischen Beamtenschaft ein Wort mitzureden hatten in ihrer schönen und betriebsamen Stadt, und häufig das letzte und entscheidende. Die Stadt wurde, wie man weiß, sehr schnell flügge und erfreute sich Die erste bald des besonderen Wohlwollens der römischen Imperatoren, nachdem sie um das Jahr 12 v. Chr. als Oppidum Ubiorum Taufe und Segen erfahren hatte. Zweierlei trug zu ilirem schnellen Wachstum bei - die Konstituierung der Ara Ubiorum, eines germanischen Heiligtums, das von Drusus, dem Stiefsohn des Augustus, geweiht und von renommierten Sehern ver­ waltet wurde, und die Garnisonierung zweier Legionen in der Nähe des Oppidum. Diese beteiligten sich an den gewaltsamen Erkundungen, die Tiberius in den Jahren 12 und 13 n. Chr. in den rechtsrheinischen Gebieten vornahm, wurden dann aber, im Jahre 14, vom Sog jener Rebellion erfaßt, die bei der Nachricht vom Tode des Augustus die niederrheinischen Truppen erfaßte. Es war ein außergewöhnlicher Glücksfall, daß um diese Zeit der Prinz Germanicus als Kommandant der Rheinarmee in Köln residierte, ein energischer Herr, der den Aufstand in kurzer Zeit niederschlug. Zur gleichen Zeit wurde ihm eine Tochter geboren, Agrippina ge­ nannt, die von den Geschichtsschreibern als eine ehrgeizige, kluge, aber auch etwas dubiose Person verzeichnet wird, die in der Wahl ihrer Mittel niemals wählerisch war. Die ebenso schöne wie kaltherzige Frau heiratete im Jahre 49 den damaligen Kaiser Claudius, den sie später kurzerhand töten ließ, bevor sie selbst durch ihren halbverrückten Sohn 95

Nero umgebracht wurde, - ein düsteres geschichtliches Schauerstück, das aber nichts daran ändert, daß sie die erste Kölnerin von Rang und Geblüt war. Dank dieser Agrippina nämlich wurde das Oppidum Ubiorum im Jahre 50 n. Chr. in den Rang einer Kolonie erhoben. «Den Hergang der Stadtgründung haben wir uns nach Nissen in der Weise zu denken, daß Wall und Graben eingeebnet und die Lagerbaracken abgebrochen wurden. Auch die bürgerhche Niederlassung verschwand; da der von ihr eingenommene Grund und Boden dem Staate gehörte, so ließ ihn dieser limitieren, d. h. nach Befragung der Götter regelrecht vermessen. Dabei gingen die Agrimensoren von der Mainz und Xanten verbinden­ den Heerstraße, der heutigen Hohe Straße, aus. Nissen fülirt weiter aus, daß die Veteranen, etwa 3000 an der Zahl, mit einem Hausplatz in der Stadt und mit einem Stück Land vor den Toren ausgestattet wurden.» (Asbach) Darüber findet sich in den Annalen des Tacitus jener berühmte Satz, den jeder Kölner Lateinschüler auswendig zu lernen hat. «Sed Agrippina quo vim suam sociis quoque nationibus ostentaret, in oppidum Ubiorum, in quo genita erat, veteranos coloniamque deduci impetrat.» Zu deutsch: «Agrippina, die dadurch auch den verbündeten Völkerschaften üire Macht zeigen wollte, setzte durch, daß im Oppidum Ubiorum, ihrem Geburtsort, eine Veteranenkolonie eingerichtet wurde. » Demnach trug die Stadt fortan den splendiden Namen: Colonia Claudia Ara Agrippinensis. Oder kurz und bündig (da man derartige Abbreviaturen offenbar schon damals Hebte): CCAA.

auf drei Steinen

Diese vier Buchstaben finden sich auf drei Steinen des römischen das bis in die Neuzeit hinein allen Stürmen widerstand, und zwar als Eingang zur Domimmunität - es hieß deshalb auch Porta clericorum oder, auf gut «Kölsch», das «Paffinporze ». Als das Pfaffentor 1826 abgebrochen wurde, bUeben 13 Steine übrig, deren weiteres Schicksal typisch ist für das Los so vieler geschichthcher Denkmäler in Deutschland. Man wollte sie zwar nicht wegwerfen, wußte aber auch nichts damit anzufangen. Sie wurden also zunächst dem WaUrafischen Museum im Kölnischen Hof überantwortet, 1862 im neuen Wallraf-RichartzMuseum untergebracht und 20 Jahre später in eine Wand der Schule in der Pipinstraße eingemauert. Von dort gerieten sie in den KeUer der Schule in der Georgstraße, wo sie, als Trümmer unter Trümmern, 96

Maske eines Flußgottes, «Vater Rhein» symbolisierend. 62 Zentimeter hohe Darstellung aus Kalkstein, wahrscheinlich eines Kölner Grabmals aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Siehe Seite 93. (Foto: Verkehrsamt Köln)

Der Römerturm in Köln. Besterhaltener Teil der römischen Stadtmauer. Nordwestlicher Eckpfeiler der großen Befestigung. Die reich ornamentierte Fassade demonstriert die Ziegelbaukunst der Römer. Der Turm steht an der Ecke Zeughausstraße/St.-Apern-Straße. (Foto: Verkehrsamt Köln)

auch die Bomben und Phosphomächte des Zweiten Weltkrieges über­ standen. Im Frühjahr 1950 grub man sie wohlbehalten wieder aus einen festen Platz haben sie bis heute nicht gefunden... Eine ähnlich wechselvolle Wanderschaft brachte einer der seithchen Durchlässe des gleichen Tores hinter sich. Aufrecht stehend unter Mauerwerk, erbhckte er 1892 bei Niederlegung der Domkurien, nach jahrhundertewährender Abwesenheit, wieder das Licht der Welt, wurde 1897 in den Museumsgarten geschafft und behauptete sich dort, allen feurigen und dynamitenen Unbilden der Zeit trotzend, bis zum heutigen Tag. An der Rückseite des neuen Wallraf-Richartz-Museum führt er noch immer ein unauffälHges, wenn auch wohlbehütetes Dasein. Wichtigstes Denkmal über Tage aber ist der alte Römerturm, ein Teüstück der imperialen Stadtbefestigung. Der dickbauchige Turm mit seinen farbigen, geometrisch geordneten Steinen - eine Art Gegenstück befindet sich in Pompeji - wurde im 14. Jahrhundert in das zu Ehren der heüigen Clara errichtete Franziskanerinnen-Kloster einbezogen und diente den frommen Schwestern jahrhundertelang als Abfallgrube, als überdimensionaler Mülleimer, wenn man so will. Das St.-Claren-Kloster löste sich 1802 auf, wurde kurzfristig franzö­ sische Domäne, dann Seiden- und Samtmanufaktur und verschwand schließlich, nach dem es zu guter Letzt einer Papierfabrik Unterkunft gewährt hatte, - der Römerturm blieb bestehen und vermittelt bis heute einen Eindruck von der Mächtigkeit jener Befestigungen, die unter Kaiser Tiberius begonnen und unter Kaiser Claudius im wesent­ lichen beendet wurden. Diese Stadtmauer, als erste Germaniens im Massivbau ausgeführt, und zwar «als bruchsteinverstärktes Guß werk zwischen vorderer und hinterer Verkleidung», war etwa 4 Kilometer lang und mit 8 Toren versehen. Die Zahl der Türme ist nicht genau bekannt, doch wurden 17 bereits nachgewiesen, in wohlbemessenen Abständen auf den Lauf der Mauer verteilt, deren Fundamente ein 9 Meter breiter, mehr als 2 Meter tiefer Graben umzog. Auch ihr ist in den 19 Jahrhunderten, die sie nun schon steht, arg zugesetzt worden. «Viele Schlupfpforten wurden hineingebrochen», berichtet Otto Doppelfeld, «geheime Gänge führten unter ihr her, Nischen aller Form und Größe zum Abstellen von Gerät oder auch für Heiligenstatuen wurden sauber ausgestemmt. Man kann noch heute eine lauschige Felsenlaube bewundern, hübsch mit Schlacken ausgesetzt. Q7

Die Felsenlaube in der Römermauer

eine Art Lourdes-Grotte, geräumig und tief. Das alles hatte Platz in dem massiven Mauerwerk von 2,40 Meter Stärke...» «Den größten Teil der Mauer aber traf ein weniger günstiges Ge­ schick; er geriet in das Gedränge der engbebauten Altstadt. Gewisse Möglichkeiten waren hier immerhin gegeben, weil die Grundstücks­ grenzen natürhch meist dem Mauerzuge folgten. Aber die Grundstücke waren so winzig klein und der Boden so kostbar, daß man, um einige Quadratfuß zu gewinnen, keine Mühen scheute und von beiden Seiten an den betonharten Mauerkörper heranging, bis schHeßHch nur noch eine dünne Scheibe vom innersten Mauerkem als Scheidewand stehen­ blieb. In der Regel aber mußte er ganz weichen... Das Bollwerk, dem keine Feindeshand ernstlich Schaden antun konnte, fiel nicht etwa dem Zahn der Zeit, sondern einzig und allein der nagenden Gewinnsucht zum Opfer.» So ist von der am besten bekannten und durchforschten römischen Stadtmauer Deutschlands heute nicht mehr viel zu sehen. Trotzdem braucht man nicht zu fürchten, daß sie eines Tages gänzlich verschwinden könnte. «Das Grundrißbild des stolzen Mauerzuges ist nämlich fest im Bo­ den verankert und wird im Straßenplan von Köln immer sichtbar bleiben.» 2 0 0 Jahre Frieden am Rhein

Die Mauer umschloß eine geometrisch angelegte Stadt, die in ihrer Blütezeit im 2. Jahrhundert etwa 50 000 Bewohnern Platz bot. Es war eine unternehmende, lebensfreudige und geschäftstüchtige Stadt, die die Eierschalen der Kommißherkunft schnell abstreifte und sich die zivili­ satorischen Errungenschaften der hellenistisch-römischen Hochkultur zu eigen machte. Große und wohlausgebaute Straßen liefen konzentrisch auf sie zu, von der Kanalküste her, von Gallien, von Trier, rheinauf und rheinab, und eine fast 100 Kilometer lange Wasserleitung mit großen Aquäduk­ ten, deren Reste ebenfalls bekannt sind, führte aus dem Quellgebiet der Ahr Wasser in die CCAA, sauberes, blankes, hygienisch einwandfreies Quellwasser, wie es die Stadt in gleicher Qualität nie wieder gehabt hat, dazu in einer Menge, die für 300 000 Bewohner gereicht hätte. Quelle des Reichtums war der Handel, Mittelpunkt des Handels der wohlausgebaute, unmittelbar zu Füßen des Statthalterpalastes liegende Hafen. «Vater Rhein » erlebte damals seine erste große Zeit. Von den großen Strombauten am Unterlauf war bereits die Rede. Dazu kamen später der Kanal des Corbulo, eine Art Etappenstraße nach Britannien^ sowie die Deichbauten am Niederrhein. 98

Grundriß des römischen Köln, Der Pfeil bezeichnet das Praetorium, dessen Mauern unter dem heutigen Rathaus konverviert wurden

Trotzdem verblieb der Fluß mehr oder minder im Urzustand. Sand­ bänke, Felsbarrieren, wechselnde Fahrrinnen und bewaldete Steilufer gehörten zu den Fähmissen, mit denen der Schiffer zu rechnen hatte. Man benutzte also Kähne mit geringem Tiefgang und im Höchstfall 10 bis 15 Meter groß. Sie wurden bergab durch Ruderer und Segel fortbewegt, stromauf vom Ufer her gezogen, in der Regel durch Menschen, seltener durch Pferde. Die Schiffer waren in Zünfte zusammengeschlossen, die nach Strom­ gebieten gegUedert waren. Sie entstammten durchweg kleinbürgerhchen Schichten, die aber gerade in Städten wie Köln häufig in die Provinzial­ bourgeoisie aufstiegen. 99

Schrittmacher des Rheinverkehrs war die Armee. Sie baute die ersten Häfen, - außer in Köln auch in Xanten und Mainz und weiter stromauf in Straßburg und Basel. Unter ihrer Regie entstanden die notwendigen technischen Einrichtungen, wie Laderampen und Lagerhäuser. Ebenso übte sie die Kontrolle über den Strom aus. Aber nicht nur das - sie war Bedarfsträger Nr. 1, und von ihrer Konsumfreudigkeit profitierten bald auch die Zivüisten. Als nach dem Bataveraufstand der fast 200jährige Friede am Rhein begann, die Verwaltung Wurzeln schlug und immer mehr Menschen ins Land strömten, waren alle Voraussetzungen für eine gesunde wirtschaftUche Entwicklung gegeben. Die ökonomische Wohlfahrt übertraf in der Folgezeit sogar die des benachbarten Gallien. Ja, es wird damals außerhalb des Mutterlandes Italien nur wenige Gebiete gegeben haben, die so schnell zu Reichtum und Ansehen gelangten wie das Rheinland. Veteranenkolonien und Zivilsiedlungen wuchsen schnell heran, unter Beibehaltung des mittelmeerischen Kolorits, das ihnen von ihren Gründern gleichsam als Paten­ geschenk vermacht worden war. Auch das flache Land wurde zum guten Teil von «Zugereisten» bebaut und bewirtschaftet und damit immer itahscher. Die Romanisierung ging also, wie Ulrich Kahrstedt betont, wesentlich schneller voran als in den meisten Grenzlanden. «Die Qualitätsprodukte der campanischen Güter, die Öle und Fischkonserven aus Gades, Malaga und Arles finden hier so viele Abnehmer wie nirgend sonst an den Grenzen, Gläser und Sigillaten werden in Massen verbraucht. An keiner Stelle in Westeuropa liefern die Abfallhaufen so viele Austernschalen und Pfirsichkerne wie in den Garnisonstädten am PJiein.» Es ist nur natürUch, daß die fleißigen und leistungsstarken germa­ nischen Provinzen bald auch begannen, ihre eigene Produktion aufzu­ bauen und sich solcherart von der Zufuhr von draußen unabhängig zu machen. Das gelang auf drei Gebieten hundertprozentig - dem der Töpferei, der Sigillatenherstellung und der Glasfabrikation. Tongefäße,

Die Kunst der Töpferei kam schon mit den Legionären nach Germanien. Bei Grabungen an militärischen Objekten, wie den Legions­ lagern von Neuß und Xanten-Vetera, wurden immer auch Töpferöfen entdeckt. Das Geschirr, das sie in großen Mengen herstellten, war von Lager zu Lager verschieden. In Haltern zum Beispiel dominierte Ton­ gerät Xantener Herkunft, das an seinem blauroten Kern mit roter 100

Rinde kenntlich ist. Eine gewisse Sorte schneeweißer Amphoren und Krüge wurde in Neuß verfertigt. «Später machten die Töpfer von Vetera die gefäUige Neußer Ware nach, und da sie jenen weißen Ton nicht hatten, so haben sie ihre rotblauen Töpfe mit weißem Überzug angestrichen.» (Sadee) Von den sieben Töpferöfen ausgehend, die bei den neuen Grabungen in Neuß festgestellt wurden, hat Harald von Petrikovits die Produktion derartiger Tongefäße genau beschrieben. Sie umfaßt eine Reihe kompli­ zierter Arbeitsgänge. Der Ton muß zunächst gestochen, dann auf­ bereitet, d. h. mit Wasser gereinigt und mit feinem Sand «gemagert» werden, was für den Brand sehr wichtig ist. «Er wird darum durch Treten mit den Füßen ordenthch gemischt. Dann werden Fladen abgeschnitten und auf der Drehscheibe gedreht. Nachdem das Gefäß seine Form bekommen hat, seinen Henkel und seinen Dekor, wird es an der Luft getrocknet, bis es »lederhart* ist. Dann kann es nach einem kurzen Vorbrand (dem Schmauchen) gebrannt werden.» Auch die kreisrunden, ovalen oder rechteckigen Öfen stehen sich als technisch wohldurchdachte Einrichtungen dar. «Ein bienenkorbförmiger Raum wurde durch eine durchlöcherte Zwischendecke zweigeteilt. Im unteren Raum sammelte sich die heiße Luft, im oberen Raum waren die Waren gestapelt, die gebrannt werden sollten. Da im Scheitel der Kuppel, die den Brennraum überwölbte, eine Öffnung w ar..., zog die Heißluft aus dem unteren Heizraum durch die Löcher des Zwischen­ bodens und strich an der zu brennenden Ware entlang nach oben, wo sie den Ofen verließ. Vor dem Heizraum war noch ein Arbeitsraum, in dem das Heizmaterial, meist Hartholz, bereitgelegt werden konnte, und von wo aus das Feuer geregelt wurde », - was wiederum eine besondere Kunst war, da die Ware auf diese Weise erst die richtige Farbe erhielt. Töpferwerkstätten gelangten von den Legionslagern sehr bald in die Städte, und zwar in solcher Zahl, daß sie den Import von Tonwaren überflüssig machten. Neben dieser einfachen Töpferware, die den Bedarf des kleinen Mannes deckte, gab es noch eine bessere für den gehobenen Anspruch: die terra sigillata, gewissermaßen das Porzellan des Altertums, das wie kaum ein anderes Produkt seiner Zeit bereits dem Gesetz der rationali­ sierten Massenherstellung unterlag. Der erst im vorigen Jahrhundert aufgekommene Name bedeutet soviel wie «Bildergeschirr», doch wurden die rot gebrannten Vasen, 101

Schalen und Krüge mit dem glänzenden Überzug nicht nur mit Relief­ dekor, sondern auch mit glatter Oberfläche gehefert. Das Geheimnis des blanken Überzugs, \ ^ 2 Jahrtausende in Vergessenheit geraten, wurde erst, wie Harald von Petrikovits berichtet, nach dem Zweiten Weltkrieg von dem deutschen Keramikchemiker Theodor Schumann wieder­ entdeckt. «Es besteht im wesenthchen darin, daß durch eine besonders feine Tonaufschlämmung (zu deren Herstellung mancherlei besondere Mittel, wie Pottasche, Erden oder Fäkalien, mitverwendet worden sein können) alle Beimischungen zur reinen Tonsubstanz entfernt werden. Diese reine Tonsubstanz», mit einer Glasur nicht zu verwechseln, «legt sich nach Verdunsten des Wassers in geringer Dicke in Blättchen auf die Gefäßoberfläche, so daß sie spiegelt.» Das Verfahren scheint mit Griechen aus Kleinasien nach Itahen gelangt zu sein, wo es bereits im letzten vorchristhchen Jahrhundert riesige Manufakturen begründete. Diese konzentrierten sich auf Arezzo in Etrurien und Puteoli in Campanien, deren Ware zeitweise weltbeherr­ schend war. Von den Firmenstempeln, die der Produktion mit auf den Weg gegeben wurden, kennen wir die Namen der Hersteller und Firmeninhaber, etwa des berühmten Atejus, der als einer der ersten eine rheinische Filiale begründete und den hiesigen Markt mit den Mitteln des erfahrenen Geschäftsmannes zu bearbeiten begann. Sehr bald aber faßte im Rheinland eine eigene Sigillata-Industrie Fuß. In Trier, in Heiligenberg bei Straßburg, im elsässischen Ittenweiler, im saarländischen Bhckweiler entstanden die ersten Fabriken, Sinzig und Remagen folgten. Insgesamt kennen wir heute allein in den Rhein­ landen an die 40 Herstellungsstätten, allen voran Rjieinzabern in der Pfalz, das in kurzer Zeit in die Rolle des deutschen Arezzo hineinwuchs. Der Export erstreckte sich in der Blütezeit bis ins nördhche Britannien, tief nach GaUien hinein und donauabwärts bis fast zum Schwarzen Meer, wo man den Markt allerdings mit der kleinasiatischen Ware teilen mußte. Die stärkste kulturelle und wirtschaftliche Eigenleistung des RJieinlands aber war das Glas, das berühmte rheinische Glas der Römerzeit, dessen wundersame Gebilde vor allem der kölnischen Produktion entstammten. «Zum ersten Mal wird hier am RJiein», so hat Ulrich Kahrstedt das Aufkommen dieses Werkstoffes in den germanischen Grenzprovinzen des Reiches beschrieben, «das Glas der eigentliche Stoff für das Gefäß, das alle Flüssigkeiten, aber auch die Totenasche aufiiimmt, der im 102

besseren Haushalt die Sigillaten verdrängt. In der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts ist die Erfindung gemacht worden, das Glas zu ent­ färben, und nirgends im ganzen Westen ist diese verfeinerte Ware so massenhaft hergestellt und exportiert worden wie in dem neuen Zentrum des ganzen Gewerbes, Köln.» «Der itahsche und alexandrinische Konkurrent werden aus dem Abendlande so gut wie völlig verdrängt, der Kölner Export hat sich in den Donauprovinzen, stellenweise in Südrußland durchgesetzt. Gewiß kommt auch einmal das eine oder andere Stück alexandrinischer Luxus­ gläser nach dem Westen. Aber es gibt mehr kölnische Gläser in Ägypten als alexandrinische im transalpinen Westen.» Köln lebte jedoch nicht nur von der Glasindustrie und von Umschlag und Ausfuhr keramischer Produkte. Köln war in jenen Tagen die erste Handels- und Hafenstadt am RJiein überhaupt, betriebsam, wohlhabend und erfolgreich wie keine zweite. Eine Stadt mit weltweiten Verbin­ dungen, in der kapitalkräftige Wirtschaftspatrizier den Ton angaben, wie 1200 Jahre später im Augsburg der Fuggerzeit. Der lebhafte Schiffsverkehr auf dem RJiein und die Wagen- und Tragtierkolonnen auf den Uferstraßen waren der sichtbarste Ausdruck dieses ersten Wirtschaftswunders im deutschen Westen. Wie heute diente der Strom in der Hauptsache dem Transport von Massengütern. Nicht zuletzt galt es den großen Steinbedarf der aufwachsenden Kom­ mune und darüber hinaus des Müitärs zu befriedigen. Basalt kam aus der Vordereifel, Tuff aus dem Nette- und Brohltal, Trachyt wurde bei Berkum und am Drachenfels gebrochen und von dort verschifft. Granit Heferte der Felsberg im Odenwald, der einzige in Europa bekannte Steinbruch, in dem schon in der Antike Hartstein gebrochen wurde. Außer Meißel, Keü und Hammer wurden hier bereits Steinsägen benutzt. Felsbergsteine wurden in Mainz und Trier gefunden - in Mainz als Sockel einer Fortunastatue, in Trier als Säulen der ersten großen Bischofskirche. Ihre mächtigen Reste sind dort vor dem Hauptportal des Domes zu bewundern. Im «Felsenmeer» des Felsberges selbst liegen noch 324 römische Werkstücke, darunter die 9,33 Meter lange «Riesensäule», die wie die übrigen Halb- und «Beinahe-Fertig»-Fabri­ kate unter Denkmalschutz stehen. Für Ornamente wurde Jurakalkstein aus Metz herangeschafft. Schließhch holten die kölnischen «negotiatores artis lapidariae» sogar Steine aus Griechenland und Ägypten. 103

Die große Handels- und

Daneben füllten landwirtschaftliche Produkte die zahlreichen Barken und Boote auf dem Rhein, - Getreide und Wein vor allem, und auch in diesem Falle folgten die privaten Handelsleute den Militärintendanten. Getreide Heferten Lothringen und die Wetterau, gelegenthch Britannien. Die Weinamphoren trugen zum überwiegenden Teil die Stempel spanischer und südfranzösischer Orte. Ihr Weg führte entweder rhoneaufwärts über Lyon zum Oberrhein oder an der Atlantikküste entlang zum Mündungsdelta des RJieins, von wo sie dann nach Köln gerudert oder getreidelt wurden. Vom Unterlauf kam auch der Fisch, meist aus der friesischen Nordsee, die als kaiserliches Regal an eine staatliche Fischfanggesellschaft ver­ pachtet war. Von Britannien kamen außerdem Vieh und Felle, Erze und schlechte Perlen, Jagdhunde und Sklaven; aus Germanien Pferde und Gänsefedern, Holzteer und Laugenseife, Honig und Harz, das rotblonde Frauenhaar nicht zu vergessen, das die braunhäutigen Söhne des Südens schon damals in Weißglut versetzte. Auch der aus den Buchen- und Eichenwäldern Germaniens stammende Schweineschinken scheint sich schon einiger Beliebtheit erfreut zu haben. Die nordischen Völker sind auf dieser Warenhste besonders mit Bernstein vertreten, auch als SklavenUeferanten erfreuten sie sich ständiger Nachfrage. Umgekehrt gingen auch die Erzeugnisse der Kölner Manufakturen sowie die Überschüsse der rheinischen Landwirtschaft - besonders an Käse, Geflügel und Mohrrüben - weit über See. Fernverbindungen mit Irland, Britannien und Nordgallien sind bezeugt. Sogar in Aquincum bei Budapest gab es eine Vereinigung kölnischer Kaufleute. Und selbstverständlich war vom Ende des 1. Jahrhunderts ab auch Nord­ germanien in den Aktionsradius der rheinischen Handelshäuser einbe­ zogen. Auf den Spuren der frühen Feldzüge segelten die Kauffahrer durch die «fossa Drusiana» ins Wattenmeer, erreichten an der Ems-, Weser- und Elbemündung ihre Stapelplätze und erschlossen von dort die jütländischen und norwegischen Küsten. Bis zum 5. Jahrhundert ist ihre Wirksamkeit in Skandinavien durch Münz- und Warenfunde nachgewiesen. Die spätere Hansezeit scheint hier zum guten Teil bereits vorweggenommen. Thermen, Villen und

Dieser schwunghafte Handel ließ einen enervierenden Reichtum nach ^ 5!^ strömen. Die wolJhabenden Kaufleute, später auch die besitz­ stolzen Grundeigentümer, die die Erträge ihrer Güter in der Stadt umsetzten, wetteiferten mit den hohen Verwaltungsbeamten in der 104

Kunst luxuriöser Lebensführung, Ihre Häuser, Villen und Paläste, ihre mosaikgeschmückten Thermen und Basiliken, am meisten aber wohl die erlesenen Produkte der kölnischen Glasbläserei, lassen uns ahnen, «bis zu welch anspruchsvoller Höhe die Lebenshaltung selbst in dieser Grenzprovinz in langen Friedensjahren stieg In der Tat - man verstand etwas von der ars vivendi im alten römi­ schen Köln, man verstand Geld nicht nur zu verdienen, sondern auch mit vollen Händen auszugeben. An Gelegenheit und Versuchung war kein Mangel. Da gab es Lokalitäten aller Art, von der einfachen Weinkneipe bis zur Schlemmerdiele, mit und ohne Damenbedienung. Da gab es die obligaten Zirkusspiele, Tierkämpfe und GladiatorentrefFen. Da gab es die großen Staatsfeiertage, an denen auch der kleine Mann dem fernen Kaiser und seiner göttlichen Familie durch endlose Schmausereien opferte, das eigene Wohlergehen mit dem des Herrschers identifizierend. Es war aber auch eine Stadt der Arbeit, dieses alte Köln, von emsiger Betriebsamkeit nach allem, was die Archäologie darüber zusammen­ getragen hat. Wir wissen von Handwerkerstüben und Werkstätten ohne Zahl, in denen in allen Sprachen der Himmelsrose geflucht, ge­ feilscht und geschachert wurde, von Glasschmelzen und Metallgieße­ reien, von Lederwarenmagazmen und Töpfereien, Friseurstuben und Bäckereibetrieben. Auf Inschriften werden zudem genannt: Zimmer­ leute und Metzger, Parfumfabrikanten und Mühlenbesitzer, Pfandleiher und Wechsler. Auch von Ärzten wissen wir, von Rechtsbeiständen und Winkeladvokaten, von Chorpfeifem, Tubabläsem und Stenografen. Eine hochentwickelte Arbeitsteilung also, mit allen sozialen Ab- und Einstufungen. Eine ansehnliche Stadt auch, mit gepflasterten Straßen und überdachten Gehsteigen und Kolonnaden. Mit dem großen Markt (nach dem bisher ver­ gebens gesucht worden ist), den repräsentativen öffentlichen Gebäuden und dem berühmten Staatsaltar, auf den sich die Kölner so viel zugute taten, daß sie bis in das 3. Jahrhundert hinein als einzige Stadt des Im­ periums das Wort «Ara »im Namen führten. Mit den Villen der Reichen, den Hütten der Armen, den Mietshäusern, den Speichern, den Magazinen. Und dann die Kasernen und Unterkünfte der Soldaten, die zahlreichen Behörden und obrigkeitlichen Instanzen, die den Willen des Reiches verkörperten und, wenn nötig, nachdrücklich in die Tat umsetzten. Und nicht zuletzt: dieser Statthalterpalast, dessen Ruinen eine so beredte Sprache sprechen. 105

Das Ende Über sein weiteres Schicksal liegen keine Nachrichten vor. Nur S ' so viel: daß mit dem Zusammenbruch des Römerreiches auch die großen Bauten und ziviUsatorischen Einrichtungen verfielen. Zu ihnen gehörte das Praetorium, das in den Stürmen der merowingisch-karolingischen Zeit untergepflügt wurde. Es diente, wie so viele Gebäude seiner Art, vermutlich als Steinbruch und versank schließhch unter den Bauten, die eine spätere Zeit über den Trümmern der Alten errichtete. Dabei ist es bis heute gebheben - vom Verwaltungszentrum des alten Köln sind es nur wenige Schritte zur Verwaltungsburg der heutigen Stadt. Ein Druck auf den Fahrstuhlknopf, und man surrt hinauf in den Wabenbau des Neuen Rathauses. Auf der Straße hupende Autos, quietschende Bremsen. Ein Apfel­ sinenhändler ruft seine Früchte aus. Ein Moped heult vorüber, eine junge Dame mit Einkaufstasche startet ihren Roller - ein dunkelhaariges, dunkeläugiges Wesen, schmal und grazil... Vielleicht die Ururururenkelin eines illyrischen Legionärs. Wer weiß ?

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Fünftes Kapitel

D IE H A U PT S T A D T D E R M A T R O N E N Das amtliche Bonn ruht auf römischen Fundamenten Der Oberpräsident auf Schatzsuche • Die Bonner wandern nach Pompeji • Steinkohle in der Lagerwerkstatt • Das KastelU die Festung und der Vicus • Der Grabstein der Eunuchenfrau *Für Jupiter und den Kaiser *Die «inter­ pretierten » Götter • Metaphysik als Massenepidemie • Frühlingsmythen, Blut­ gruben und Erlöserlehren • Der Sieg des Christentums *Zentrum der Matronen­ verehrung • Der Tempelbezirk von Pesch *Die Märtyrerkirche unter dem Münster • Als Bonn Verona hieß • Roms «monumentale Hinterlassenschaft* Unter den kubischen Blöcken des Deutschen Bundestages hegen römische Gräber. Noch im Sommer 1959 wurde in unmittelbarer Nähe des Weißen Hauses am Rhein ein römischer Töpferofen entdeckt. Mauerzüge römischer ViUen in dem Gelände zwischen dem Strom und der Bundestraße 9 sind seit langem bekannt. Die alte römische Rheinuferstraße, die Vorgängerin der auch außer­ halb Bonns als «Diplomatenrennbahn» bekannten Straße nach Godesberg, läßt sich in der Flußniederung als leichte Erhebung deuthch verfolgen. Auf der Höhe des Bundespresseamtes, hier aUerdings nicht mehr sichtbar, mündet sie in die heutige «Koblenzer». Stadtwärts führend folgt die Repräsentationsstraße der Bundeshauptstadt von hier aus der antiken Trasse, deren Basaltsteindecke wiederholt etwa ein Meter unter dem östlichen Bürgersteig angeschnitten wurde. Das amtliche Bonn ruht also zum guten Teil auf römischen Funda­ menten. Am Tor des Bundeskanzleramtes, wo heute eine militärische Wache postiert ist, wurden vor etlichen Jahren Abfallgruben aus der Römerzeit freigelegt. Auf der feudalen Uferstraße des Palais Schaum­ burg und der angrenzenden Präsidentenvilla dürften auch in römischer Zeit herrschafthche Villen «mit Siebengebirgsbhck» gestanden haben, ebenso auf dem Areal des Auswärtigen Amtes, wie durch zahlreiche Gräber, Mauerreste und Kleinfunde belegt werden kann. Dem ViUen107

gelände scliloß sich ein Soldatenfriedhof an, der sich vom heutigen Postministerium bis zur UniversitätsbibUothek beiderseits der Straße erstreckte. Am Hofgarten knickte die Chaussee ab, um eine unwegsame Gelände­ mulde zu umgehen, und führte an der Legionsziegelei, die sich an der Stelle der heutigen Universität befand, vorbei über den jetzigen Markt und durch die Bonngasse zum Südtor des römischen Lagers. Die Bedeutung der Bonngasse «als Zugang zu dem damals allein Bonn genannten Römerlager erklärt auch ihren Namen; denn es ist wohl ein einziger Fall, daß innerhalb einer Stadt eine Straße nach dieser Stadt selbst benannt ist... Sie ist eben entstanden, als das Gelände noch freies Feld war.» (Philippson) Vom Geburtshaus Beethovens in der Bonngasse - das also ebenfalls auf «römischem» Boden liegt - zur neuen Beethovenhalle sind es nur wenige 100 Meter. Dort mündete die Straße der Legionäre in die Lager­ vorstadt ein, durchmaß sie und hef dann durch das Lager selbst, ein Karree von 525 Meter Seitenlänge, dessen äußere Begrenzungen sich im Kartenbild des Bonner Nordens klar erhalten haben. Auch das Straßenkreuz des Lagers zeichnet sich noch deutUch ab. Die Bundesstraße 9 zum Beispiel folgt, wie in Neuß, dem Lauf der alten Via Principalis. Der Ober-

Im Gegensatz zu der Legionsfestung von Novaesium ist das Bonner nur teilerforscht, obwohl es wesenthch länger bekannt ist. Schon im Jahre 1582 machte der Kanoniker Campius auf ein «thurmarti­ ges Gebäude» am Wichelshof aufmerksam; die Bezeiclmung Wichels­ hof leitete er von dem lateinischen Wort vigiha, d. h. Wache oder Wachtposten her. Und zu Beginn des 19. Jahrhunderts bescheinigte ein Rheinischer Reiseführer dem Kanoniker Pick «eine nicht unbedeutende Sammlung» von Münzen und anderen «römischen Alterthümem», die zum überwiegenden Teü ebenfalls von den Äckern des Wichelshofes stammten. Im Jahre 1818 fand die erste offizielle Grabung statt, von der Karl Ruckstuhl im ersten Jahrbuch der kurz zuvor gegründeten Bonner Universität überaus anschaulich berichtet hat. Der den Grabungen den Anfang gab, so heißt es da, «und an den Ergebnissen die größte Theilnahme bezeugte, derselbe ist der Herr Graf von Solms-Laubach, Oberpräsident der Herzogthümer JüHch, Cleve und Berg und Curator der Rheinischen Universität. Als er auf 108

seiner Rund-Reise im August 1818 nach Bonn kam, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Wichelshof und ging selbst nach diesem einen Büchsenschuß weit von den Stadtmauern abgelegenen Ort, um nach eigenem Augenschein zu beurtheilen, ob es da der Mühe des Nach­ grabens nach römischen Alterthümem sich verlohnen möge.» «Zur Untersuchung der Gegend war er aufgemuntert worden durch den Bericht: daß durch bloßen Zufall eine große Menge von römischen Münzen und Anticaghen da sey gefunden worden, daher sey eine starke Ausbeute wahrscheinlich, sobald man mit der Absicht zu fmden im Boden wühle und suche; ferner, daß durch einzelne Erhabenheiten der Erde, Unfruchtbarkeit des Feldes, und die Spuren der bisher gefundenen Gegenstände die Stellen ziemhch genau bezeichnet seyen, wo man in sicherer Erwartung graben könne...» «Der Herr Graf ging auf dem Feld des Wichelshofes herum, dann besuchte er auch den gerissenen Abhang des hoch emporragenden Rheinufers. Er verwunderte sich über die vielen römischen Scherben von Gefäßen und Bruchstücke von Ziegeln, die theils angehäuft am Wege lagen, theils da und dort aus der Erde hervorragten, und rief zu den Männern, die ihn begleiteten: ,Hier ist ja kein Sandkömchen, was nicht ein Römer in Händen gehabt hätte.*» Dann ließ er eine Probe aufs Exempel machen und den Boden an einer beliebigen Stelle aufschürfen. Der Erfolg war verblüffend - «gleich beim ersten Streich der Hacke sprang eine Münze des Nero hervor. Freudig wurde das gute Omen ergriffen, und verordnet, daß. . . die Nachgrabungen ins Werk gesetzt werden sollen...» Die Ausbeute der Kampagne bestand, den Ruckstuhlschen Notizen Die Bonner zufolge, aus altem Gemäuer, Ziegehi, Gefäßen und anderen römischen Gerätschaften; vor allem aber aus klingender Münze - daher auch die launige Bemerkung des Grafen Solms-Laubach: «Wenn unser Schatz in dieser Weise anwächst, so könnten wir einer römischen Legion, die hier durchzöge, den Sold in ihrer eigenen Münze auszahlen. » Die ans Tageshcht tretenden alten Mauern standen bald im Mittel­ punkt reger Pilgerschaft. «Die Seltsamkeit der Erscheinung von Gebäu­ den, die nach einer Nacht von mehr als anderthalb Jahrtausenden und nach so langem ruhigem Schlaf endhch aus dem dunklen Schoß der Erde wieder... auferstanden, lockte in starken Schaaren die Einwohner von Bonn aus ihren Thoren. Die Gruben waren umzogen von einem ihren Rand überhängenden, oft dicht gedrängten Kranz von Besuchenden 109

und Zuschauenden. Und die dahin gingen, ließen zu Hause zurück, daß sie nach Pompeji und Herculanum wandern. . .» Die zahlreichen Funde richtig auszuwerten, überstieg jedoch die Mittel und Möglichkeiten der damaligen Altertumsforschung. Grabungsleiter Ruckstuhl war sich über die Problematik seiner Aufgabe vöUig klar. Er behielt zwar über dem Wust von Funden «das Ganze, auf welches sich die Gegenstände bezogen», stets im Auge. «Jenes aber daraus zu erkennen und darzustellen, ist freihch so leicht nicht. Es ist dafür sowohl genaue Kenntnis des Zeitalters nöthig und dieses Fachs alterthümliche Gegenstände, als auch eigenes Geschick und lebhafter Schwung der Einbüdungskraft.» Karl Ruckstuhl selbst fühlte sich in dieser Hinsicht offenbar überfor­ dert, denn er schließt seine Überlegungen mit dem Satz: «Es ist zu hoffen, daß ein damit ausgerüsteter Mann herkommen werde.» Nichtsdestoweniger scheint er ein sehr genauer und umsichtiger Beobachter gewesen zu sein. Die Technik des römischen Mauerbaus war ihm bekannt. Es war ihm auch klar, daß die verschiedenen Fundamente aus verschiedenen Bauperioden stammten. Schwierigkeiten bereitete ihm jedoch der Grundriß eines Gebäudes mit zellenartigen Einbauten. Ein Professor der klassischen Philologie hielt diese für Schweineställe. Ruckstuhl entschied sich für Kasernenräume, obwohl er mit dieser Diagnose auf Widerspruch stieß. «Die hiesigen Einwohner», stellt er in seinen Aufzeichnungen fest, «begreifen nicht, wie da Soldaten einquartiert werden konnten. Sie haben die hier in Garnison stehenden preußischen Ulilanen, lange, stämmige Männer, vor Augen. Freilich diese, sollten sie in einer so engen Kammer zum Schlafen sich ausstrecken, müßten vor allen Dingen ein Jeder um seinen Kopf kürzer gemacht werden. . . » In Wirklichkeit handelte es sich wohl um das Gefängnis des Lagers, den «Vater Philipp » der Legionäre, der genau wie in Neuß zum festen Bestand der Festung gehörte. Steinkohle in Trotz der offenkundigen Erfolge dieser ersten Grabung blieb die der Festung dann mehr als ein halbes Jahrhundert ihrem Schicksal überlassen. Erst zwischen 1876 und 1881 wurden weitere 4 Hektar des 27,5 Hektar großen Gebietes durch den Spaten erschlossen. Auf der Bilanz von Prof, aus’m Weerth, der das Lager «nach Umfang und Zahl seiner Steinbauten » für das bedeutendste diesseits der Alpen hielt, erschienen außer zahl­ reichen Kleinfunden zwölf römische Kasernen. 110

Für die säuberliche Unterscheidung der mindestens fünf Bauperioden, mit denen man es in Bonn zu tun hat, reichte die archäologische Technik aber selbst in der zweiten Jahrhunderthälfte noch nicht aus. Auch das 93 x 72 Meter große Praetorium wurde eines Tages gefunden, ebenso ein starkes Doppeltor, dessen Anlage auf die «drohenden Innen­ höfe » der Trierer Porta Nigra verwies. Im Nordteil des Lagers wurde ein gut erhaltenes Medusenmosaik entdeckt, das im Museum konserviert wurde. Später wurden große Teile des Lagers überbaut und damit der For­ schung entzogen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es, die Grund­ mauern des bis dahin nur inschriftlich bekannten Lazaretts festzusteUen ein wertvoUes Ergebnis, das ein wenig darüber hinwegtröstet, daß der größte Teil der «Retentura», d. h. der dem Feind abgewandten Lager­ seite, unter den KeUem und Straßenzügen moderner Siedlungen ver­ schwunden ist. Der dem Gegner zugewandte Lagerbezirk, Praetentura genannt, hegt bis heute größtenteils unter Äckern und Gärten. Das Gelände soU aber in Kürze bebaut werden. Wäre es möghch, es noch vorher methodisch durchzuarbeiten, brauchte man um den Erfolg nicht zu fürchten. So stieß man bei einer Teilgrabung im Sommer 1959 alsbald auf einen 28 X12,50 Meter großen Speicher, dessen Boden auf gut erhaltenen kubischen Pfeilern lag, und auf eine Thermenanlage. Geradezu sensatio­ nell war die Entdeckung einer Werkstatt, in der - erstmahg in Deutsch­ land - die Verwendung von Steinkohle in römischer Zeit nachgewiesen werden konnte. Eine ganz neue Fährte tat sich damit auf, die der Arbeit der heimischen Archäologie gewiß noch manche Anregung geben wird. Auch die Lage der Festung Bonn bestätigt den militärisch geschulten Blick der Römer. «Der materiell wichtigste Faktor», so hat Alfred Philippson die frühen Spuren menschlicher Niederlassungen in diesem Raum begründet, «ist nicht nur der Wasserweg des Stromes, sondern auch die große Süd-Nord-Landstraße, welche hier dessen linke Seite be­ gleitet und aus dem Tal in die Ebene heraustritt. Diese Hauptstraße führt durch Bonn, das somit den Schlüssel zur wichtigsten Pforte des Mittel­ rheintales besitzt.» Aber auch die Struktur des Geländes kam der Anlage einer Festung vor der Erfindung weittragender Geschütze entgegen. Das 10 bis 15 Meter hohe Steilufer bildete einen natürlichen Damm zum Rjiein und damit zum Feind hin. Nach der Landseite bot die Gumme Schutz, 111

Das Kastell, die Festung und der Vicus

eine sumpfige, noch heute deutlich erkennbare Senke, die dem Ufer­ plateau den Charakter einer Halbinsel gab. Die uralte linksrheinische Straße konnte also mit Leichtigkeit an dieser Stelle gesperrt werden. Als Drusus seine 50 Kastelle am Rhein errichten ließ, ergab es sich also ganz von selbst, daß eines davon nach Bonn kam. Es leimte sich an das schon bestehende keltisch-germanische Fahr- und Fischerdorf an und übernahm auch dessen Namen. Als Castra Bonna oder Bonnensis trat es wenige Jahre vor der Zeitenwende in die Geschichte ein. Südlich der späteren Legionsfestung, zwischen Rathaus und Rhein gelegen, von wo auch der Fährbetrieb sich am besten kontrollieren ließ, hat es nach den Erfahrungen der letzten Jahre als Auxiliarkastell noch nach dem Bau des Legionslagers bis in die Mitte des 3. Jahr­ hunderts weiterbestanden. Im übrigen ist von ihm nur so viel bekannt, daß es in seiner Frühzeit mit einer bundesgenössischen Ala belegt war, die, wie dem Grabstein des germanischen Reiters Niger, «Sohn des Aeto», zu entnehmen ist, einem gewissen Pomponius anvertraut war. Diese Ala Pomponia war die alleinige Vertreterin der römischen Macht in Bonn bis in die dreißiger Jahre des 1. Jahrhunderts, als Köln Zivilsiedlung wurde und die dort stationierte «Zwanzigste» nach Neuß, die «Erste» mit dem Beinamen Germanica nach Bonn abgab. Die Germanica fand «im Kopf jener Halbinsel» zwischen Rhein und Gumme einen prächtigen Platz, von dem aus sie die versumpfte, ver­ wilderte und daher sehr gefährhche Siegmündung unter ständiger Beobachtung halten konnte. Im Blutjahr 69 zerstörten Bataver dieses erste Holz-Erde-Lager und «füllten seine Gräben mit Leichen», wie Tacitus schreibt. Noch während der Civilis-Kämpfe begann der Wieder­ aufbau, an dem der römische Feldherr CeriaUs selbst tätigen Anteil nahm. Wie in Neuß, entstand ein festes Steinkastell, in dem bis zum Jahre 83 an Stelle der unrühmhch abgetretenen Germanica die «sclinelle» XXL Legion gamisonierte. Deren Nachfolge trat die unter Domitian aufge­ stellte legio I Minervia an, die an der Niederschlagung des SaturninusAufstandes im Jahre 89 entscheidenden Anteil hatte und dafür mit dem Titel «pia fidehs», «die zuverlässige und die treue», ausgezeichnet wurde. Die Minervia, zeitweilig von dem späteren Kaiser Hadrian komman­ diert, richtete das Lager als Dauerfestung ein und scheint es bis Mitte des 4. Jahrhunderts gehalten zu haben. Vor den Toren der Festung etablierte sich auch hier bald eine Lager112

Die früheste Kultanlage unter dem Chor des Bonner Münsters. Zwei ge­ mauerte Tische zur Feier von Opferund Liebesmählern zum Gedächtnis an hier bestattete Tote, umgeben von einer niedrigen Steinbank. Errichtet zwischen 260 und 300. (Foto: Rheinisches Landesmuseiini Bonn)

Bonner Grabung im Sommer 1959. A uf den kubischen Blöcken im Vorder­ grund ruhte ein Speicher des Legionslagers. In der Mitte, in Shorts und Basken­ mütze, Grabungsleiter Dr. Gersbach. Jenseits des im Hintergrund sichtbaren Weges fand 1818 die erste Grabung statt. (Foto: Verfasser)

Drei Frauen mit Fruchtkörben in einer Tempelnische. Eine charakteristische Ma­ tronendarstellung aus Nettersheim. (Fotos: Rheinisches Landesmuseum Bonn)

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Blick in den Lichthof des Bonner Landesmuseums. Im Hintergrund ein Familien­ grabmal aus Nickenich. Vorn ein Grablöwe aus Köln.

Vorstadt, die später einer Zivilsiedlung — einem Vicus — Platz machte. Villen, Tempel und Friedhöfe vervollständigten das Panorama, das wie die Geschichte des Lagers selbst keine besonderen Merkmale aufwies. Trotzdem hat der Bonner Boden den Archäologen eine Fülle von Erkenntnissen beschert. Sie sind im wesentlichen den zahlreichen Gräbern, Grabsteinen und Weihedenkmälern zu verdanken, die über das ganze Stadtgebiet hin in großer Zahl aus dem Schoß der Erde geborgen werden konnten. Ruckstuhl weiß schon von solchen Entdeckungen zu berichten. Er zitiert auch den Ausspruch eines Mannes, der bei der Betrachtung eines «aus der Tiefe hervorgerollten menschhchen Schädels» bekümmert fest­ stellte: «Könntest du reden; du wüßtest die Sache am besten; du würdest uns alles erzählen.. . » Inzwischen hat man gelernt, auch die Sprache der Gräber zu verstehen. Schon die verschiedenen damals üblichen Bestattungsarten begründen die «eminent historische Bedeutung», welche die Archäologie den Gräberfunden beimißt. Die Römer zu Beginn der Kaiserzeit pflegten ihre Toten zu ver­ brennen. Der Leichnam wurde am Bestattungstag in einen offenen Holzsarg gebettet und zur letzten Ruhestätte gebracht, die immer außerhalb der Ansiedlung lag, meist an den großen Ausfallstraßen in Bonn also vornehmlich an der heutigen «Koblenzer». «Die Angehörigen und Freunde des Verstorbenen bildeten den von Flötenbläsern eröffheten und von Fackelträgern geleiteten Trauerzug der sich . . . nach dem Scheiterhaufen bewegte.. . Die nächsten Ange­ hörigen steckten sodann mit abgewendetem Antlitz den Scheiterhaufen an, während gleichzeitig Trauergesänge ertönten.» «Nachdem das Feuer niedergebrannt war», heißt es bei Carl Blümlein weiter, «löschte man die glühende Asche und sammelte unter Anrufung der Namen des Abgeschiedenen die übriggebliebenen Knochenreste, mit Wein und Milch, Gewürzen und wohlriechenden Essenzen vermischt, in eine Aschenume.» Bei einer anderen Art der Bestattung baute man die Totenkline mit dem Leichnam und dem Scheiterhaufen über einer quadratischen Grube auf. Die Rückstände des Feuers und die Asche des Verstorbenen fielen in die vorbereitete Grube, deren Wände bei der Prozedur meist «verziegelten », so daß sie mehrfach benutzt werden konnte. Außerdem gab es öffentliche Verbrennungsplätze mit kleinen Krema8 Pörtner

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Der Grabstein der Eunuchenfrau

torien, in der Regel Gevierte von 2,50 Meter Durchmesser, die der Archäologe an den aus Ziegeln gebauten Luftkanälen erkennt. Welcher Art die Bestattung auch sein mochte, immer gab man dem Toten Speise und Trank mit auf den Weg, Amulette, Ringe, Ketten und das eine oder andere Gerät. Auch wurde der Fährgroschen nicht vergessen, den der Verstorbene am Grenzfluß zum Totenreich zu ent­ richten hatte. Ein erst kürzlich aufgedecktes Grab aus der Nachfolgesiedlung der Neußer Canabae enthielt sogar die doppelte Löhnung, außerdem eine Glasplatte, einen Trinkbecher und drei Krüge, die wahrscheinhch mit Wasser, Wein und Honig gefüllt waren. Sie dienten der Bereitung jener Mischgetränke, die in römischen Landen - und also nach den damaligen Vorstellungen auch im Jenseits - so sehr geschätzt wurden. Die Sitte der Grabbeigaben wurde auch dann noch beibehalten, als es - unter dem Einfluß neuer Jenseitsvor Stellungen - von der Wende des 2. zum 3. Jahrhundert üblich wurde, die Toten in Holz- oder Steinsärgen beizusetzen. Erst die christliche Bestattung verzichtete auf solche Bei­ gaben. Der Archäologe, der auf ein Grab oder gar auf ein Gräberfeld stößt, kann also aus der Fülle von Material auf die Lebensgewohnheiten des Verstorbenen, seine Herkunft und soziale Stellung sowie auf die Zeit und die Dauer seines irdischen Daseins scliließen. Wurde dem Toten überdies ein Grabstem gesetzt, so wird er sogar seinen Namen (der selbst in lati­ nisierter Form Aufschluß über seine Heimat gibt), Beruf, soldatischen Rang oder bürgerlichen Ehrentitel erfahren. Ja, manchmal wird ihm sogar, über Jahrtausende hinweg, der Preis für den Denkstein übermittelt. So bezahlte die Vindelicerin Zejona für das Grabmal ihres Vaters nach heutigem Geld etwa 3000 Mark, ein Tribun in Augsburg für den Grabstein seiner Tochter rund 800 Mark. Die Grabsteine, welche die Bonner Erde freigab, nennen zum größten Teil Bonner Legionäre, Reiter und Infanteristen, Exerziermeister, Fah­ nenträger und Centurionen; Soldaten aus GalUen und Ligurien, aus Rom und aus Mailand, vom Niederrhein und aus Kleinasien. Häufig ließen sie sich auch selbst abbilden; in der frühen Kaiserzeit meist als Halb- oder Vollfigur, Reiter mit Vorliebe hoch zu Roß, den niedergestampften Feind unter den Hufen. Später wurden Rehefs be­ vorzugt, die den Toten beim Mahl zeigen - wohlig auf eine Liege ge­ bettet, den vollen Becher und die Schüssel des Schlemmers auf dem Tisch. Der Tod wird meist als ein Wild zerfleischender Löwe dargestellt 114

- ein Symbol, das auf dem Umweg über mittelalterliche Darstellungen schließlich in das Bonner Stadtwappen einging. Der originellste Grabstein indessen ist ziviler Natur. Seine Inschrift erzählt einen ganzen Roman: «Thessalonich war mein Vaterland, mein Name Demo. Und Asias, des Batalos Sohn, gewann mich mit Liebeszauber, wenn er auch Eunuch war, und ich fand das Los, das ich mir erwählte. Hier aber hege ich jetzt so weit von meinem Vaterlande.» Die interessantesten Gräber förderte allerdings die große Münster- Für Jupiter grabung zutage. Um diese richtig zu würdigen, bedarf es eines Bhcks und den Kaiser auf die während der Römerzeit in den germanischen Provinzen herr­ schenden religiösen Verhältnisse. Da sich die literarische Überlieferung nur in Gestalt eifernder Polemiken aus dem frühen Mittelalter fixiert hat, sind wir auch in dieser Hinsicht im wesenthchen auf Bodendenk­ mäler angewiesen, - auf Götterbilder, Altäre und andere Weihegaben aus Stein, Bronze und Terracotta, welche die Erde in fast unübersehbarer Zalil freigegeben hat. Bezeichnenderweise sind die Inschriften - bis auf wenige in griechischer Sprache - lateinisch gehalten. Die Formulierung des Textes entspricht der in Italien üblichen, und die äußere Gestaltung des Denkmals ist von den Formen gleichzeitiger Kultdenkmäler in Italien bestimme. Meis handelt es sich, wie es bei Klinkenberg weiter heißt, um die Erfüllung von Gelübden, offenbar die verbreitetste Form der Frömmigkeitsäuße­ rung. Typisch ist auch die immer wiederkehrende Formel: «V(otum) S(olvit) L(aetus) L(ibens) M(erito) », daß heißt «Der Geber hat hiermit sein Gelübde freudig und gern erfüllt, wie es der Gott verdient ». Oft­ mals handelte der Spender auch «ex jussu » (oder imperio), «auf Befehl eines Gottes », oder auch: «visu jussus», «durch ein Traumgesicht ge­ mahnt ». Trotz solcher und anderer lateinischer Formeln - das Imperium war in religiösen Dingen tolerant. Rehgion war Privatsache, auch in den erober­ ten und besetzten Gebieten. Es gab weder eine rehgiöse Organisation noch eine religiöse Politik und dementsprechend auch keine religiöse Propaganda, und nichts war den Römern fremder als missionarischer Ehrgeiz, wie er Religionen eignet, die den Endzweck des Lebens im Jenseits suchen; denn davon waren die griechisch-römischen Glaubensvor­ stellungen weit entfernt. Jedoch setzte diese Duldsamkeit die loyale Teilnahme am Jupiter- und 115

Kaiserkult voraus. Mit anderen Worten: es war die Pflicht jedes Reiclisangehörigen, diesen beiden höchsten Personifizierungen des Reichsge­ dankens die geforderten Opfer darzubringen und sie damit als oberste und letzte Instanz anzuerkennen. Wer diesem Gebot nachkam, mochte in den eigenen vier Wänden verehren, wen er wollte; wer sich weigerte, mußte drastischer Maß­ nahmen gewärtig sein, wie das Schicksal zahlreicher früher Christen beweist, die in den Amphitheatern von wilden Tieren zerfleischt wurden. Der offizielle Charakter der JupiterVerehrung fand auch darin einen Aus­ druck, daß die Standbilder des Götterchefs gleichsam in Serie der großen Kultstatue im Haupttempel des Capitols in Rom nachgearbeitet wurden. Diese Darstellung zeigt ihn mit unbedecktem Oberkörper auf einem Thron mit Rückenlehne, daS/ majestätische Haupt von Locken umwallt. Ein faltenreicher Mantel bedeckt die unteren Partien. In der Linken hält der Gott das Zepter, in der Rechten ein stilisiertes Bhtzbündel. Meist postierte man ihn auf eine Säule, ein Brauch, der keltischen und vielleicht auch germanischen Vorstellungen sehr entgegenkam; ebenso, daß man ihn gern mit Juno und Minerva zu einer mythologischen Dreilieit vereinte. Der Kaiserkult, von Augustus etwas zögernd begründet, verschmolz mehr und mehr mit dem Jupiterkult. «Osthche Einflüsse, natürliche Dankbarkeit der Untertanen und die Eitelkeit mancher Herrscher» bahn­ ten ihm auch in den germanischen Provinzen, die sich lange gegen ihn sperrten, einen Weg. In ihn eingeschlossen war die Verehrung ver­ storbener Angehöriger des Kaiserhauses, «die man sich wie Heroen und Propheten zum Himmel aufgestiegen vorstellte ». (Petrikovits) Die nnter-

Unter den Fittichen dieses Staatskults lebten die heimischen Götter ungefährdet weiter, da die Römer die religiösen Vorstellungen der unterworfenen Völker «nur für andere Aspekte der gleichen Wahrheit» hielten. Es war für sie eine Selbstverständhchkeit, daß die Götter der Provinzialen sich nicht von den eigenen unterschieden, und so lösten sie das religiöse Problem in der einfachsten Weise, indem sie deren Gott­ heiten mit den eigenen identifizierten - ein Vorgang, den Tacitus als «Interpretatio romana» bezeichnet. Diese «römische Auslegung» ging in der Praxis so vor sich, daß man den Göttern der Trabanten die Namen der lateinischen Verwandten beigab. Der keltische Cissonius etwa wurde, wie Friedrich Drexel for­ muliert, «mit Merkur ausgeglichen» und hieß dann Mercurius Cissonius. In gleicher Weise entstand der Lenus Mars der Treverer oder der in 116

Baden-Baden verehrte Apollo Grannus. Im Gallischen tauchen Namen wie Apollo CobleduUduvius oder Mercurius Jovantocarus auf. Am Niederrhein gesellte sich der griechisch-römische Hercules dem ger­ manischen Magusanus, der im Bataverland verehrt wurde, «wo sein Name noch heute in Mahusenham, einem Dorfe • . . unweit Utrecht, fortlebt...», und in Heidelberg und Miltenberg begegnet man einem Mercurius, der den Beinamen Cimbrianus führte, ungeachtet des «cimbrischen Schreckens», den seine Taufpaten einstmals in Itahen hervorgerufen hatten. Der «Interpretatio romana» parallel ging die Zivilisierung der manch­ mal recht ungeschlachten Vertreter des heimischen Götteraufgebots. Die mehrköpfigen, gehörnten oder mit Hirschgeweihen versehenen Gestalten der keltischen Mythologie wurden, von diesen ihren besonderen Kennzeichen befreit, sozusagen gesellschaftsfähig gemacht. Sie gewannen menschenähnhehe Züge und existierten, ohne Namen, Charakter oder Zuständigkeit einzubüßen, in der Vorstellungswelt weiter. In dieses Bild rehgiöser Toleranz paßt die Verehrung, welche die heimische Götterwelt auch bei den Fremden genoß. Die Armee war in dieser Beziehung am aufiiahmefähigsten, und da sie dauernd in Bewe­ gung war, gelangten keltische und germanische Kulte zwangsläufig in andere Reichsteile. Epona zum Beispiel, die in Trier so hochgeschätzte Schutzherrin der Pferdezucht, wurde «bei der für Stall und Roß inter­ essierten Jugend der Städte . . . eine Art Modegöttin » und fand sogar auf den Rennbahnen in Rom ihre Verehrer. Neußer Legionäre erwiesen der Sunuxal, der Stammesgöttin der ger­ manischen Sunuker, ihre Reverenz. Hinter der häufig vorkommenden Dreiheit von Merkur, Mars und Herkules verbargen sich offenbar die drei germanischen Großgötter Wotan, Ziu und Donar. Ebenso verrät der Name der Göttin Hludana oder Hluthena, der u. a. auf einem von Legionären geweihten Altar für Kaiser Severus Alexander erscheint, germanische Herkunft; germanisch waren schließlich auch die in Tongern in hohem Ansehen stehenden Walkyrae. Am meisten wurden im Rheinland, von der Schweiz bis zu den Niederlanden, die Matronen verehrt, «eine einheimisch keltische oder wahrscheinlich germanische Trias von Schutzgöttinnen der ländlichen Gehöfte und Familien ihrer Besitzer. Deswegen wurden sie auch regel­ mäßig in einheimisch-ländhcher Tracht und mit Fruchtkörben auf dem Schoß dargestellt und so als Schützerinnen des Landbaus und seiner Erzeugnisse charakterisiert.» (Lehner) 117

Meist zu dritt in der Nische eines Tempelchens sitzend und von Pilastern flankiert, tragen sie lange Mäntel, die auf der Brust durch eine Spange gehalten werden, und große Hauben. Nur die mittlere, durchweg als die jüngste und hübscheste der wohltätigen Trias dargestellt, bleibt unbedeckt. Der Matronenkult wurde nicht nur von der eingesessenen Bevölkerung, sondern auch von der Truppe und der römischen Beamten­ schaft gepflogen. Germanische Gardereiter brachten die mütterliche Dreiheit sogar nach Rom. Mittelpunkt der Matronenverehrung war der Bonner Raum, ihr kul­ tischer Hauptsitz, wie die Münstergrabung erwies, das Bonner Stadtgebiet. Methaphysik Das religiöse Leben in der Germania Romana gewann durch das als Massen- Eindringen der orientahschen Religionen noch an Farbigkeit und Inten­ sität. Von der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts an war auch hier jene seltsam flackernde Glaubensbereitschaft zu spüren, die von Ägypten, Kleinasien und Persien aus das ganze Imperium erfaßte. Die heiter-verspielte, zu Späßen und Amouren aufgelegte Göttersippschaft des Olymp trat in den Hintergrund, und die Vision eines alleinigen, allmächtigen, unfehlbaren Schöpfers aller Dinge dämmerte herauf «Eine im Grunde homogene Religiosität» breitete sich aus, die so ver­ schiedenen Menschen, wie dem Kaiser Marc Aurel, dem reichen Rjietor Aristides, dem historisch interessierten Biedermann Plutarch oder dem ironischen Spötter Lucian, das neue Leitbild heferte: «Gott ist allgütig und teilt jedem das zu, was ihm nach seiner, menschliches Denken über­ steigenden Einsicht zuträglich ist, der Mensch verdient es sich durch Nächstenhebe und ethisch sauberes Leben, er soll seinem Gewissen folgen, GroU und Haß, Stolz und Hochmut in sich ausmerzen, soll alles im Hinblick auf Gott tun.» (Kahrstedt) Es waren vor allem die orientalischen Hilfstruppen, die diese neuen Gedanken nach Germanien einschleusten. Der Einsatz der dunkelhäutigen Auxiliarformationen in den germanischen Grenzlanden ist tausendfach bezeugt, in der Hauptsache wieder durch Grabsteine, welche die Namen ägyptischer, syrischer, phönikischer, mauretanischer, numidischer Sol­ daten tragen. Die Bonner Auxüien waren stark mit Thrakiem durchsetzt, das Mainzer Straßenbild hatte zeitweise ausgesprochen orientahsche Züge, am Limes standen syrische Bogenschützen. Hinzu kamen die Kontingente nahösthcher Händler und - deren Sklaven, ein nicht zu berechnendes, aber für die Verbreitung neuer Glaubensvorstellungen sehr wichtiges Element. 118

Natur, Herkunft und Beruf dieser Glaubensmittler machen es ver­ ständlich, daß die zunehmende Religiosität zunächst in der breiten Masse ein gesteigertes Bedürfnis nach Zauber und Magie erzeugte - «und es machte sich von selbst, daß diese Schattenseiten der intensiveren Gläubig­ keit rasch auch in Kreise aufstiegen, die an sich durch ihre Bildung hätten gefeit sein sollen ». Es ist bekannt, welchem methaphysischen Hokuspokus ein Staatsmann und Organisationsgenie wie Augustus sich unterwarf, welche Rolle Traumdeuter bereits in der frühen Kaiserzeit spielten. Der tüchtige General Caecina, des Arminius Gegner in der Moorbrückenschlacht, pflegte seinem Oberkommandierenden nicht nur den militärischen Stand der Dinge, sondern auch seine Träume zu melden. Claudius ließ einen Senator hinrichten, von dem ein Dritter geträumt hatte, daß er dem Kaiser nach dem Leben trachte. Und der Arzt Galen führte Operationen aus, deren Technik er «erträumt» hatte. Mit Beginn des 2. Jahrhunderts wuchsen sich derartige Bräuche zu einer Art Massenepidemie aus. Wer sich einen eigenen Traumdeuter nicht leisten konnte, erstand wenigstens eines jener zalilreichen Zauberbücher ägyptischen, persischen oder hebräischen Ursprungs, die in einer dunklen, verworrenen Sprache die nächtlichen Halluzinationen deuteten. Auch Amulette gegen BÜtzschlag, bockende Pferde und den bösen Blick gehörten zum Inventar des kleinen Mannes; daß er vor Antritt einer Reise oder vor Abschluß eines Geschäftes sich nach der Gunst oder Ungunst der Sterne erkundigte, war eine Selbstverständlichkeit. Dieser tropisch wuchernde Aberglaube fand auch in Germanien Emgang. Seltsame, undeutbare Zeichen auf Grabsteinen sind gerade zwischen Mainz und Xanten an der Tagesordnung, ebenso merkwürdige Bronze­ gegenstände in den Gräbern - Amulette in Form von Schlüsseln, Käm­ men, Waagen, Eidechsen, Fröschen. In Badenweiler fand man ein Zaubertäfelchen mit folgender abstruser Inschrift: «ia, ia, ia, i Sabaoth, Adonai, Ablanathanalba, Acramachamari, Semesilam, Sesengem, Barpharanges, ihr sollt den Luciolus beschützen, den die Mutter Livia geboren hat, und die Mercussa». Dieser Massenaberglaube bereitete den Boden für die zahlreichen Mysterienkulte, die vom Beginn des 2. Jahrhunderts an, nach Form und Inhalt verschieden, den an sich selbst und der Welt unsicher gewordenen Menschen des Imperiums in ihren Bann schlugen. Ihr gemeinsames Kennzeichen war die Beschäftigung mit dem Jenseits. Sie alle versprachen ihren Mitgliedern - und nur diesen - ein Weiterleben nach dem Tode. 119

Der Dualismus von Gut und Böse, sowie das Absterben der Natur im Winter und ihr lenzliches Wiedererwachen heferten diesen Kulten die unerläßlichen Symbole. Die großen Feiern und Feste, in denen sich ihre Anhänger zu einer mythischen Glaubensgemeinschaft vereinigten, wur­ den daher durchweg im Frühjahr begangen. Man bediente sich dabei eines geheimnisvollen, ebenso raffinierten wie primitiven Rituals, dem die formalistisch erstarrten alten Religionen nichts Vergleichbares gegen­ überzustellen hatten. Auswüchse lagen in der Natur der Sache. Ja, häufig waren sie das eigentliche Ziel der zahlreichen, von mächtigen Priesterschaften gelei­ teten Zusammenkünfte, in denen die Vernunft verdammt, die Gnosis, das gefülilsmäßige Erfassen und Begreifen der Wahrheit, inthronisiert wurde. Zwei heute noch gebräuchliche Worte, die aus der Welt der Mysterien stammen, belegen diese Haltung: die «Ekstase », der Zustand, «in dem man aus sich heraustritt», und der «Enthusiasmus», die seelische Verfassung, in der «man der Gottheit teilhaftig ist». FrühlingsIn Deutschland scheinen die Gemeinden der Bacchusverehrer die ^mythm, AVegbereiter der Mysterienbewegung gewesen zu sein. Sie huldigten und Erlöser- ihrem Gott als über oder Pater über und versprachen - griechische lehren Dionysosvorstellungen einschmelzend - «ein jenseitiges Leben in einem paradiesischen Garten, der alles Getier in Frieden vereinte, in dem Tanz, Musik und Liebesglück höchste Daseinssteigerung bewirkten. In zahl­ reichen Darstellungen » - Neuß war auch in dieser Hinsicht eine wahre Fundgrube - «wird diese äußere Form der Jenseitshoffnung ausgedrückt, hinter der tiefere Gedanken verborgen waren, die nur der wahrhaft Eingeweihte kannte. . . » (Petrikovits) Zu den Großkulten, deren Spuren wir in den germanischen Provinzen vielfach begegnen, gehörte außerdem die ägyptische Isisreligion, die, von uralten Mythen ausgehend, den Gedanken der Erlösung als eine der ersten exakt formulierte. Straff geführt, betont kämpferisch auftretend und mit einem außer­ ordentlich farbigen und pompösen Zeremoniell ausgestattet, das «unter Mitwirkung griechischer Experten» entstand, faßte sie schon in der frü­ hen Kaiserzeit in Italien Fuß und fand bald auch den Weg über die Alpen. In Baden bei Zürich, in Augst bei Basel, in der Pfalz, in Württemberg, vor allem aber in Köln und in Lechenich bei Euskirchen wurden fest organisierte Isisgemeinden nachgewiesen. Kleinasien steuerte den Kult der «Großen Göttermutter vom Ida-

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Gebirge» bei, nach deren Namen kurz Kybelekult genamit. Auch er sprach die Menschen vor allem mit einer optimistischen Auferstehungs­ botschaft an. Sie verkörpert sich in der Mythe von Atthis, dem jungen, schönen Sohn und Geliebten der Großen Mutter, der stirbt, beklagt wird und wiederaufersteht. Schon im 1. Jahrhundert tauchte die Gestalt des Atthis im Rheinland auf, meist als Auferstehungssymbol auf Grabsteinen. Der Weg der Ge­ meindebildung führte von Windisch und Augst über Baden-Baden, Hei­ delberg, das Limesgebiet und Mainz nach Köln. Noch für das 4. Jahr­ hundert läßt sich der Kybelekult am Niederrhein nachweisen, wo er nach den Berichten antiker Schriftsteller einer der hartnäckigsten Gegner des Cliristentums war. Die jüngsten Ausgrabungen in Neuß haben ihn durch eine einzigartige Entdeckung belegt - eine sogenannte Blutgrube, eine fossa sanguinis, wie sie bisher nur einmal, und zwar im Heihgen Bezirk der Großen Göttermutter von Ostia bei Rom, gefunden wurde. Die Blutgrube war der Mittelpunkt einer kultischen Handlung, die mit dem Gedanken der Erneuerung des alten Adam die Vorstellung des mystischen Einsseins mit der Gottheit verband. Festlich gewandet stieg der Gläubige in die etwa mannstiefe, quadra­ tische Grube, die mit durchlöcherten Holzbohlen bedeckt wurde. Priester und Tempeldichter führten einen heiligen Stier oder Widder auf die Bedachung und schächteten ihn mit einem geweihten Messer. Das Blut des Tieres troff durch die Bohlen auf den Täufling, der davon kostete und Augen und Stirn damit benetzte. Gereinigt und verjüngt stieg er unter den Klängen von Flöten, Zymbeln und Schlagbecken wieder ans Tageslicht, von der Gemeinde mit Jubel und frommen Gesängen begrüßt. Der Neußer Tauf keller war Teil eines kultischen Bezirks, in dem sich wahrscheinlich auch ein Heüigtum der Großen Mutter befand, ein Metroon. Kybele und Atthis wurden hier zumindest seit dem 2./3. Jahr­ hundert verehrt, wie aus einer einwandfrei datierten Terracotta-Statuette hervorgeht, die im Grab eines Jüngers der Kybele gefunden wurde. Die Statuette hat ihr Vorbild in einer Devotionalie aus Köln, die aus der Werkstatt des Servandus stammt. Im Gegensatz zu dieser, die ihrerseits auf ein 500 Jahre v. Chr. entstandenes Marmorbild des Pheidias-Schülers Agorakritos zurückgeht, stellt sich die Neußer Kybele als ein primitives und unförmiges Machwerk dar, in dem Züge heimischer Matronendar­ stellungen wiederkehren . . . Durchaus möglich also, daß der Kult der 121

Großen Göttermutter hier wie auch anderswo die Verehrung der Matronen ablöste oder in sie eindrang. Der Kybelekult scheint in den germanischen Provinzen recht kräftige Organisationen entwickelt zu haben. Bruderschaften der Magna Mater sind zum Beispiel in Pier bei Düren und in Pesch bei Münstereifel fest­ gestellt worden. In Kleinasien endeten die rehgiösen Feste der Derwische der Großen Mutter häufig in orgiastischen Ausschweifungen. Der zivilisatorische Einfluß des Westens war aber bereits so kräftig, daß sie in der lateinischen Welt sich in «Biedermannsvereine» verwandelten, die ihrer Disziplin wegen von den Städten gern «als Kern der kommunalen Pflichtfeuer­ wehr» verwendet wurden. Die Mainzer Hastiferi, eine Kultgenossen­ schaft der Mä-Bellona (einer «Verwandten» der Kybele) übten sogar die Funktionen der Stadtpolizei aus. Trotz Stier- und Widderopfer, trotz solcher mönchischen Bruder­ schaften, sprach die Große Mutter vor allem die Frauen an. Die Männer fülilten sich ungleich stärker von der Sonnengestalt des persischen Mithras angezogen, - die Soldaten vor allem, die diesem kämpferischsten aller Götter die begeisterten Kader stellten. Die Sinnenhaftigkeit dieser Religion, ihre leichte Zugänglichkeit und nicht zuletzt ihr einheitliches Lehrge­ bäude waren vor allen anderen dazu angetan, natürlich empfindende, unverbildete Menschen m Massen zu missionieren. Die Mithrasgemeinden versammelten sich nach Möglichkeit in unterirdischen, lichtlosen Räumen. Diese enthielten links und rechts erhöhte Podien, auf denen die Gläubigen lagen oder knieten, den Bhck auf das große Kultbild an der Stirnseite der Cella gerichtet. Das häufig doppelseitig skulpierte und drehbare ReUef wurde durch raffinierte Lichteffekte magisch beleuchtet. Geheimnisvolle Musik und Blutopfer auf dem Altar - auch der Mithraskult kannte die Taufe mit dem Blut eines Stieres - taten ein Übriges, die Gemeinde in einen Zustand tiefster Entrückung zu versetzen. Als Lagergott der levantinischen, erst durch Pompejus bezwungenen Seeräuberstaaten kam Mithras mit den nach Italien ausgesiedelten geschlagenen Piraten nach Rom, nach Ostia, nach Capua, nach Puteoli, in den Tessin, in die Häfen der afrikanischen Küste und überzog Galhen und weite Teile Britanniens mit einem Netz kultischer Stützpunkte. Seine größten Triumphe aber feierte er an PJiein und Donau, vornehm­ lich am Limes. In der Wetterau, so lesen wir bei Kahrstedt, gab es mehr Mithraeen als 122

in ganz Kleinasien. Friedberg allein zählte drei, Heddernheim, wo eins der schönsten Mithrasrehefs entdeckt wurde, deren vier. Weitere wolilerhaltene Mithrasdarstellungen wurden in Osterburken, in Neuenheim bei Heidelberg und in Dieburg bei Darmstadt geborgen. Die gesamte Militärgrenze stand, wie sich aus den zahlreichen Funden folgern läßt, im 2./3. Jahrhundert im Zeichen des militanten Lichtgottes aus Persien. Er teilte diesen Rulim mit dem in Syrien beheimateten Jupiter Dolichenus. Ursprünglich wohl in Tiergestalt auftretend, unterlag dieser auf seiner Wanderung westwärts dem üblichen Zivüisierungsprozeß, aus dem er als einer der Hauptgötter der Armee hervorging. Dolichenus-Heiligtümer erhoben sich am afrikanischen und britanni­ schen Limes so gut wie an der Rhein- und Donaufront. Denksteine des Gottes wurden vor allem in Mainz, Remagen, Bonn, Köln und Xanten ergraben. In der Regel wird er, bis an die Zähne bewaffnet, auf einem nach rechts schreitenden Stier abgebüdet, den Blitz in der Linken, in der Rechten das Doppelbeü, das Haupt häufig mit der in eine Spitze enden­ den phrygischen Mütze bedeckt. Auf den pyramidenförmigen Bronzetafeln, die man ihm zu weihen pflegte, sind meist auch Herkules und Minerva, eine Viktoria mit Kranz und Palme sowie Sonne und Mond vertreten, - ein ausgesprochen mihtärisches Aufgebot also, wie es dem Geschmack der Legionäre ent­ sprach. Im Gegensatz zu dem syrischen Blitzeschleuderer reichte des Mithras Hausmacht über die Kasernen hinaus. Er drang auch in die Zivilsiedlun­ gen ein. Größere Gemeinden dürften zumindest in Köln und Trier bestanden haben. In Bonn kündet ein Rehef von ihm, daß seine beiden Diener Cautes und Cautopates zeigt. Der Mithraskult war bis weit in die Mitte des 4. Jahrhunderts der Der Sieg des Konkurrent des frühen Christentums, mit dem er vieles gemein hatte: außer der Taufe, der Konfirmation und dem Abendmahl den Unsterb­ lichkeitsglauben und das Geburtsfest des Erlösers am 25. Dezember. Wieweit man hier von einer inneren Verwandtschaft sprechen kann, mag unerörtert bleiben. Fraglos aber haben die Mysterienkulte dem Christentum Schrittmacherdienste geleistet und den Boden für die Evangehen bereitet. Archäologisch einwandfrei nachgewiesen, gilt dies nicht zuletzt für die Germania Romana. Überhaupt dürfte das Maß hellenistisch-römischer Allgemeinbildung 123

im Rjieiiiland des 2./3. Jahrhunderts, «der Zeit, die man . . . die helle­ nistische Periode des Rheinlandes nennen könnte, ein weit höheres gewesen sein, als wir bisher wissen und ahnen. Die griechischen Päd­ agogen in Köln und Trier werden eben weit mehr gelehrt haben als Lesen und Schreiben, und die religiösen Konventikel, von denen uns die Inschriften sprechen, werden gleichzeitig Schulen hellenistischer und orientalischer Bildung gewesen sein. » (Lehner) Der Sieg des Christentums war trotzdem kein Zufall. Die junge Kirche war den orientaUschen ReUgionen nicht nur organisatorisch, sondern auch ethisch überlegen. Sosehr sie, wie die Mysterienkulte, die Gläubigen mit feierhchen Riten und Zeremonien zu beeindrucken verstand, hielt sie sich doch jeglichem Überschwang fern. Auch ihre unverbrauchte Frische zeichnete sie gegenüber den Wider­ sachern aus. Die Botschaft ihres Stifters und seiner Jünger kam nicht aus grauer Vorzeit zu den Menschen, sie wirkte schon dank der zeithchen Nähe unmittelbar wie keine zweite. Außerdem fühlten sich Männer wie Frauen in gleicher Weise von ihr angesprochen. Nicht zuletzt mag auch ihre radikale Intoleranz ein Element ihres Erfolges gewesen sein. Anders als Mithras und Kybele, deren Heihgtümer häufig auf dem gleichen Grundstück lagen, hat sie mit niemandem paktiert. Ihr Ziel war Alleinherrschaft, nicht Koexistenz. Dabei kam ihr zugute, daß ihre Zentren von Anfang an in den Städten lagen. Zwar gab es hier und da christliche Soldaten, ihre Verbreitung verdankte die Lehre Jesu jedoch den Händlern und Kaufleuten. Von den frühen Stätten der Cliristenheit in Kleinasien, Syrien und Ägypten sickerte sie, meist unter Umgehung Roms und ItaUens, auf dem klassischen Handelsweg über Massüia, das heutige Marseille, in Gallien ein und wanderte rhoneaufwärts zum Rhein. Im Gepäck von Handwerkern und Gewerbetreibenden als Bannware mitgeführt, scheint sie, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, zunächst in den Vorstädten und in den Straßen der Händler Wurzel geschlagen zu haben. Wann die ersten echten Zusammenschlüsse entstanden, hat die Kirchen­ geschichte noch nicht festgestellt. Erster Stützpunkt in Gallien dürfte Lyon gewesen sein, wo eine christliche Gemeinde um 170 bezeugt ist. Bald danach ist in einem der Bücher des Bischofs Irenäus von Lyon beiläufig von Kirchengründungen in Germanien die Rede. Das heißt jedoch nicht viel; denn die Provinz Germania Superior reichte damals bis in die Nähe von Lyon. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts aber war die Kirche auch am Rhein 124

aus ihren Erstlingsschuhen heraus. Der 200 Jahre später lebende Kirchen­ historiker Sozomenos will zum Beispiel von christlichen Priestern wissen, die bei den Grenzkämpfen am RJiein in der Zeit des GaUienus (260 bis 268) von den Germanen gefangengenommen wurden . . . In die gleiche Zeit verweist die Cella memoriae, die bei den Ausgra­ bungen unter dem Bonner Münster entdeckt wurde. Die Münsterkirche, eines der schönsten romanischen Bauwerke des Zentrum der Rheinlands, stammt aus dem 11. Jahrhundert. Nach einer alten Legende steht sie auf der Stätte einer Gedächtniskirche, die von der Heihgen Helena, der Mutter des großen Constantin, zu Ehren der Märtyrer Cassius, Florentius und Mallusius errichtet wurde. Auch die Legende von der Thebaischen Legion, der wir schon in Xanten begegneten, knüpft sich an diesen Platz. Solche fromme Mären haben, wie wir heute wissen, meist mehr Tief­ gang, als ihnen das rationalistische 19. Jahrhundert zubilhgte. Man muß zwar sehr tief graben, um an ihren historischen Kern zu gelangen, doch ist der Gewinn dann um so überraschender. Das Bonner Münster erhebt sich, wie seit längerem bekannt, über einem von der frühen Kaiserzeit bis in die fränkische Epoche kontinuier­ lich belegten Friedhof. Nach zahlreichen Gräberfunden stieß man 1924 nördlich des Münsters auf die Reste eines rechteckigen Bauwerks, in dessen Grundmauern heidnische Altäre und Weihedenkmäler eingelassen waren. Diese Entdeckung löste die von 1928 bis 1930 dauernden Grabun­ gen unter der Krypta der Kirche aus, die einer der größten Erfolge der innerdeutschen Archäologie wurden. Schon der zweite Versuchsschnitt legte ein römisches Denkmal frei, und bald zeichneten sich Mauerzüge mit zahlreichen eingelassenen Altären ab, die vorwiegend keltisch-germanischen Gottheiten geweiht waren. Dazu kamen behauene Quadern xmd andere Architekturreste, die sich dem geschulten Auge als Teile eines Tempelbezirks zu erkennen gaben. Die Leiter der Grabung, Hans Leliner und Walter Bader, konnten einen ersten Erfolg verbuchen. Sie waren einem bisher unbekannten heidnischen Tempelbezirk auf die Spur gekommen, der wahrscheinhch in unmittelbarer Nähe des Münsterplatzes, außerhalb des Lagers der Zivilsiedlung, gelegen hatte. Der Tempelbezirk selbst ist bis heute nicht gefunden. Die ver­ bliebenen Reste, wie farbiger Wandputz, Ziegel und Fußböden, 125

lassen darauf schließen, daß er außer Tempelbauten und Ver­ sammlungsräumen Wohnungen für die Priester und Unterkünfte für auswärtige Besucher enthielt. Vielleicht hatte sich in seinem Umkreis sogar eine Art Budenstadt entwickelt. Das Studium der Weiheinschriften war um so aufschlußreicher, als das damalige Bonn in einem Kreuzungspunkt der verschiedenartigsten Kräfte lag. Die eingesessene Bevölkerung war teils keltisch, teils ger­ manisch. Mit dem Militär waren außer dem italischen Offizierskorps zahlreiche mittelmeerische, nicht zuletzt nahöstliche Elemente, an den Rhein gelangt; außerdem viele Händler vornehmlich gallischen Geblüts. Sie alle hatten ihre Götter und Gottheiten mitgebracht. Doch fühlten sie sich auch von den einheimischen Kulten so stark angesprochen, daß sie ihnen in großer Zahl opferten. Die einheimische Götterwelt wurde, wie die Münstergrabung ergab, fast ausschließlich durch die Matronen repräsentiert. Von 44 Inschriften­ altären waren sechs dem Mercurius Gebrinius gesetzt, einem «römisch interpretierten» keltischen oder germanischen Gott; der Name der germanischen Sunuxal tauchte einmal auf. Alle übrigen waren der Trias der keltisch-germanischen Muttergottheiten geweiht. An der Spitze der Stifter stand ein Legat der Bonner Legion, L. Calpurnius Proclus. Präfekten und Centurionen taten es ilim gleich. Ein Legionär, der im Partherkrieg 161/62 n. Chr. mitgekämpft hatte, dankte den Muttergottheiten für seine glückliche Heimkehr, und nutzte diese Gelegenheit, sich als tüchtigen Soldaten verewigen zu lassen, der einen Orientalen niederzwingt. Unter den zivilen Verehrern finden sich ein Geschirrhändler aus der Steiermark und der Stadtrat C. Candidinius Severus. Den schönsten Matronenaltar aber stiftete - vielleicht weil er bei einer überraschenden Revision noch einmal davongekommen war - der kölnische Stadtkassen­ verwalter Quintus Vettius Severus, eines der schönsten Stücke provinzialrömischer Plastik überhaupt, den berühmten Reliefs von Neumagen an der Mosel künstlerisch durchaus gleichwertig. Die Bonner Altäre sind bis auf zwei den aufanischen Muttergottheiten gewidmet. Den Matres Aufaniae wurde auch in Nettersheim in der Eifel gehuldigt, ihr kultisches Zentrum aber war Bonn. Insgesamt tauchen etwa 60 solcher Beinamen auf, die in der Regel auf ein Dorf oder einen Gutsbezirk hinweisen. Manchmal kehren sie noch in heutigen Ortsbe­ zeichnungen wieder: die Matres Albiahenae zum Beispiel in Elvenich, die Lanehiae in Lechenich, beide in der Eifel gelegen. 126

In der Eifel, etwa 40 Kilometer von Bonn in einem Wald bei Pesch, Der Tempelwurden 1913/17 ebenfalls unter Leitung von Hans Lehner die Ruinen Pesch eines Tempelbezirks ausgegraben. Wohlgepflegt und gut erhalten stehen sie noch heute; in Prospekten erwähnt, auf Wanderkarten eingezeichnet, im übrigen vergessen, obwohl es sich um eine eindrucksvolle Anlage handelt, die einen Besuch mit dem bleibenden Bild eines heihgen Be­ zirks aus römischer Zeit lohnt. Die Spuren der ältesten dieser Bauten weisen in das erste nachchristHche Jahrhundert. Seine große Zeit erlebte der Tempelbezirk nach vielen Ab­ brüchen und Umbauten aber erst im 4. Jahrhundert, als er von Grund auf erneuert und erweitert wurde. Aus dieser Zeit stammen die heute noch sichtbaren Mauern, die teilweise eine Höhe von 2,50 Meter erreichen. Der aus dem Tal zu dem Heiligtum aufgestiegene Besucher gelangte auf einen rechteckigen Festplatz von 100 Meter Länge und 34 Meter Breite. Die eine der beiden Längsseiten wurde durch eine überdachte Wandelhalle begrenzt, in der sich ein tiefer Brunnenschacht öflfnete. Ihr gegenüber lagen - in Abständen von 30 römischen Fuß und schnur­ gerade ausgerichtet - außer einem Gebäude, das vermutlich als Schuppen diente, zwei Tempel und ein ummauerter Hof. Der etwas höher gelegene Hof diente der Aufstellung von Altären und Weihedenkmälern. Staatsgott Jupiter stand hier auf einem sechseckigen Postament unter einem von sechs Säulen getragenen Dach und war damit bereits äußerlich als Herr im Hause gekennzeichnet. Bis auf eines, von dem noch ein quadratischer Sockel zeugt, waren die übrigen Denkmäler wahrscheinlich an den Wänden aufgereiht. Das nordwärts anschheßende Gebäude zeigt - noch gut erkennbar den Grundriß eines gallo-römischen Tempels. Um einen quadratischen Innenbau, der das Kultbild beherbergte, führte ein rechteckiger Umgang mit herabgezogenem Dach, das innen von der Cella-Mauer, außen von Säulen getragen wurde. Dieser Umgang wird ebenfalls Weihedenkmäler aufgenommen haben. Als interessantestes Gebäude stellt sich jedoch der zweite Tempel dar, eine bemerkenswert exakt aufgeführte quadratische Halle von 13,65 Meter Seitenlänge. Dem 2,20 Meter breiten Eingang gegenüber lag, etwa einen Meter tiefer als der Hauptraum, eine rechteckige Apsis. Der Hauptraum selbst war «durch zwei Reihen von je drei Säulen und zwei an die Wände angelehnte Halbsäulen in drei Schiffe geteilt, ein breites Mittelschiff und zwei schmale Seitenschiffe », zeigte also bereits alle Merkmale einer Basilika, 127

Die bei den Grabungen in Pesch eingebrachten Funde wiesen zum überwiegenden Teil auf die hier verehrten Matronae Vacallinehae hin. Außer dem durch Jupiter repräsentierten Staatskult wurden aber auch Spuren der Kybeleverehrung festgestellt, was beweist, wie stark die Große Mutter selbst «auf dem Lande» wirkte. Lehner warf deshalb mit einigem Recht die Frage auf, ob die basilikale Gebäudeform, die dieser Tempel so klar erkennen läßt, «vielleicht überhaupt erst durch die orientahschen und anderen Mysterienkulte in die sakrale Architektur des Westens eingeführt wurde.» Wie dem auch sei, - sie lebten auch liier friedlich unter einem Dach: die heimischen Matronen, der olympische Jupiter und die Große Mutter aus Kleinasien. Und gingen gemeinsam unter. Der Tempelbezirk wurde gewaltsam zerstört; wann und durch wen, verschweigen die übrigge­ bliebenen Mauern. Die Märtyrer- Das gleiche Schicksal dürfte den Bonner Tempelbezirk getroffen kircl^unter haben, und zwar mit dem Sieg des Christentums, das die zahlreichen Weihedenkmäler niederriß und, wie wir sahen, in eine christhche Ka­ pelle verbaute. Diese Kapelle aber hatte bereits eine Vorgängerin, die bei den Lehnerschen Grabungen ebenfalls entdeckt wurde. Es handelte sich um ein kleines Bauwerk von 3,20 Meter mal 1,70 Meter, das zwei gemauerte Tische und eine umlaufende Sitzbank umschloß. Der eine der beiden Tische wies eine eingelassene Schale aus «terra sigillata » sowie einen Standring für ein Gefäß auf. Das Ganze ließ sich unschwer als eine Kulteinrichtung für Gedächtnismähler identifizieren, wie sie bei den heidnischen Religionen übhch waren und vom Christen­ tum zunächst übernommen wurden. Daß es eine christhche Cella memoriae war, ergab sich aus ihrer Lage inmitten von christlichen Gräbern. Da der zweite Tisch eine Datierung der Cella in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts ermöglichte, handelte es sich offensichtlich um einen Gedächtnisbau für hervorragende Glau­ benskämpfer. Das Gebäude, so faßte Lehner seine Beobachtungen zu­ sammen, war der Gräber wegen errichtet, und diese Gräber waren christlich. Und nun das zugleich Merkwürdige, Erregende und Tiefbewegende - Gräber und Gebäude hatten dieselbe Richtung wie die drei Sarkophage in der Krypta, die, obwohl längst geleert, seit undenklichen Zeiten als die drei Särge der drei Märtyrer Cassius, Florentius und Mallusius verehrt wurden. 128

Tcilstück aus dem Matroncnaltar des kölnischen Stadtkämnierers Quintus Vettius Severus, gefunden unter dem Bonner Münster. Eines der schönsten Werke provinzialrömischer Plastik. (Foto; Rheinisches Landesmuseum Bonn)

Rekonstruktion des Tempelbezirks von Pesch (Eifel). Vorn die Fach werk-Wandelhalle. Im Hintergrund Schuppen, Basilika, ummauerter H o f mit Jupitcr-Tempelchen, gallo-römischer Tempel mit säulengetragenem Umgang. (Foto: Rheinisches Landesmuseum Bonn)

Reste des gallo-röniischen Tempels im Tcmpclbezirk von Pesch. Cella und Umgang sind noch deutlich zu erkennen. (Foto: Verfasser)

I Die erste Kirchenanlage unter der Krypta des M ünsters. Erbaut kurz vor 400. Der Chor* raum ist durch niedrige Schranken abgesondert. Jn den Fundamenten dieser Kirche waren zahlreiche römische Weihealtäre vermauert

Anbauten der frühchristlichen Kirche. A und B ungefähr gleichzeitig errichtet, C einige Zeit später.

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Die Anlage des 3. Jahrhunderts mit den beiden würfelförmigen Tischen.

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Drei der zahlreichen, in und bei der Kirche aufgedeckten Bestattungen, die durch chrlst* ‘liehe Zeichen besonders kennt­ lich gemacht w aren.

4-6 Kastenförmige, zum Fussende verjüngte Särge aus Kalkstein. Sie stammen erst aus spätfränkischer Zeit und gehören zu einer jüngeren Entwicklungsstufe der Kirche.

Die Märtyrerkirche unter dem Bonner Münster

Diese Entdeckung rundete den Erfolg einer (hier in großen Zügen berichteten) Grabung ab, der es gelungen war, einen Schacht bis zu den Urgründen der Bonner Frühgescliichte vorzutreiben. Am Strom das Legionslager und der Vicus der einheimischen Bevölkerung, unter der Münsterkirche ein ausgedehntes Gräberfeld, in unmittelbarer Nähe ein heiliger Bezirk, das Zentrum der Matronenverehrung im Rheinland. Irgendwann in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts der Märtyrertod dreier Christen, zu deren Gedenken die Lebenden sich in einer kleinen Cella memoriae beim Gedächtnismahl zusammenfanden. Und nach dem Sieg des Christentums eine kleine Kirche, in deren Mauern die Weihe­ denkmäler des zerstörten Tempelbezirks verbaut wurden. Diese Kirche stand bis in die karolingische Zeit, wurde dann erweitert und gegen Ende des 9. Jahrhunderts zerstört. Der Neubau veränderte die Längsrichtung, nahm aber auf die Lage der Märtyrersärge Rücksicht, 9 Pörtner

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die scldießlich auch von dem Münster des 11. Jahrhunderts wie ein Kleinod umfaßt wurden. A ls Bonn Verona hieß

Neben der christhchen Kirche siedelte sich das seit dem 7. Jahrhundert verbürgte Cassiusstift an, das in der fränkischen Zeit, mit reichem Grund­ besitz ausgestattet, müitärischer und politischer Mittelpunkt des BonnGaues wurde. Schon früh bildete sich im Anschluß an das Stift eine kleine Siedlung. Sie bedeckte ein Quadrat von etwa 300 Meter Seiten­ länge, war mit Wall und Graben umgeben und trug im Mittelalter den Namen Verona . . . Fast vier Jahrhunderte hindurch taucht dieser Name in Urkunden, Chroniken und Grabschriften auf, - viel umrätselt, viel gedeutet. Wie sich an die Colonia Trajana der Name Troja hängte und wie in Xanten die Burg Jungsiegfrieds stand, so hat das frühe Bonn dem Sagenkreis um Dietrich von Bern (der seinerseits ebenfalls mit der Nibelungensage ver­ bunden ist) Heimstatt gewährt. Hinter Dietrich von Bern wiederum, der, wie das heutige Bonn, einen Löwen im Wappen führte, zeichnet sich die Gestalt Theodorichs des Großen ab, der zeitweilig in Verona resi­ dierte . . . Hier werden Pfade sichtbar, die aus dem Dickicht des Bonn-VeronaProblems vielleicht einmal ins Freie führen. Der Name verschwand, als Erzbischof Conrad von Hochstaden 1243 Stift und Fischerort, die Nachfolgesiedlung des römischen Vicus, mit einer gemeinsamen Mauer umzog. Die Steine heferte - wie hätte es anders sein können! - das römische Legionslager, das den Zusammenbruch des Reiches jedenfalls in guter Form überdauert hatte. Das heutige Bonn erwuchs demnach aus drei Siedlungskernen, deren jeder in der römischen Zeit wurzelt.

Der Boden der Stadt ist noch immer reich an römischen Reminiszenzen. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht ein Grabstein, ein schaß» Mauerstück, ein Tongefäß oder ein paar Münzen ans Tageslicht kommen. Über der Erde aber ist «tabula rasa », ist reiner Tisch gemacht.

Rom s «rnonum entaleH in-

Wer die römische Vergangenheit Bonns entdecken wül, muß seine Schritte ins PJieinische Landesmuseum lenken, das als das älteste Landes­ museum überhaupt seit 1876 die archäologische Erschließung der früheren RJieinprovinz betreut. Dort kann er sich in einer Sammlung umtun, die von dem Xantener Caehus-Stein und den Bonner Matronenaltären bis 130

zu den Kostbarkeiten Kölnischer Gläser die schönsten Trophäen der rheinischen Altertumsforschung birgt. Dahinter steht eine wissenschaftliche Leistung, die - trotz Urmitz und Neandertal und den davon ausgehenden Vorzeitforschungen - vor­ wiegend der römischen Periode des Rheinlandes gewidmet war. Lehner sprach einmal von der «monumentalen Hinterlassenschaft» des römischen Imperiums und von der Aufgabe, sie «zu belegen, zu bereichern und zu berichtigen ». Das ist nach Kräften geschehen. Der Aktionsradius der Bonner «Römer» reicht von den Brücken Caesars im Neuwieder Becken bis zu den spätrömischen Befestigungen von Andernach und Boppard. Er schließt so bedeutende Unternehmun­ gen ein wie die Grabungen in Vetera, Neuß und Bonn und die Erfor­ schung des niederrheinischen Limes. Auch die rheinischen Straßen, Villen und Gehöfte, die Steinbrüche, die Bergwerke und Wasserleitungen in der Eifel, die Gräberfelder von Kreuznach, Andernach, Remagen und Bonn gehören in diese Erfolgsbilanz. Wer vom «römischen » Bonn spricht, muß also auch die Arbeit in Rechnung stellen, die von hier aus für die Erforschung der Römerzeit überhaupt geleistet wurde.

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Sechstes Kapitel D E R G R O S S E WAFFENPLATZ AM R H E I N Ein Blick vom Mainzer Drususturm Das Denkmal in der Zitadelle • Gott Mars persönlich • Taufpate war der keltische Apoll • Puzzlespiel mit alten Steinen • Der «Zehnte »für Frau Venus • Nida - die Lehrhuchstadt • Tod eines Viehhändlers • Denkmal aus 2000 Frag­ menten • Die Prominenz des Mainzer Götterhimmels • Neros Verdammnis • Der Zeichenlehrer und das Zentralmuseum • «Privatleben» eines deutschen Gelehrten • Lindenschmit, der Kaiser und ein gebratenes Täubchen • Zwerge gegen Weiber • Ein Kaiser wird ermordet * Vom Lagerdorf zum festen Platz • Boppards alte Mauer • Der Mörtel wurde eisenhart • Römerturm als Orgel­ werkstatt *Das Lyoner Bleimedaillon • Stadt und Festung Mogontiacum • Älteste Christengemeinde Deutschlands? • Mahnmal des Unabänderlichen Der Eigelstein in Mainz läßt, aus der Ferne betrachtet, an einen steil aufragenden Felsen denken, dem eine bizarre Laune der Natur die Form einer drohenden Faust gab. In Wirkhchkeit handelt es sich um den ältesten Monumentalbau in Deutschland - ein Denkmal von großer Kraft und Massigkeit, das die Römer dem Drusus setzten, dem kaiser­ lichen Feldherm und Stiefsohn des Augustus. Ähnhche Bauten stehen an der Via Appia vor den Toren Roms, so das berühmte Grabmal der Caecilia Metella. Auch dieser Kenotaph war einstmals ein zylindrischer Turm, mit glatten Quadern verkleidet und einer kegelförmigen Bekrönung versehen. Quadern und Bedachung sind längst verschwunden, - es blieb ein 20 Meter hoher Torso, der sich nach unten hin unregelmäßig verjüngt, ein archaisches Steingebilde, das außen zwar wie zernagt und zerfressen aus­ sieht, innen aber kerngesund ist, zusammengehalten durch jenen wunder­ baren römischen Mörtel, dem der Zahn der Zeit nichts anhaben kann. Das Denk^ Z '^ /ll

Das Grabmal des Drusus steht in der alten Mainzer Zitadelle, unhinter der längst begrünten Umwallung, so daß es nur von der Innenseite her in seiner ganzen Mächtigkeit ins Auge zu fassen ist. 132

Auch hier ist es nicht ganz leicht, den rechten Standpunkt zu gewinnen, da es von einer dschungelartigen Wildnis umgeben ist. Grabungen, die in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unter Mitwirkung des Mainzer Pionierbataillons veranstaltet wurden, stießen erst in sieben Meter Tiefe auf die Sohle des Mauerwerks; die Grundfläche wurde damals mit 156 Quadratmeter vermessen. Ob irgendwo im Gestein des Monumentes sich so etwas wie eine Grabkammer befindet, wurde noch nicht festgestellt. In halber Höhe, ohne Leiter oder Gerüst nicht zu erreichen, gähnt das dunkle Loch eines Einstiegs. Es führt zu einer Wendeltreppe, die dem kompakten Gestein aber erst im Mittelalter abgerungen wurde, da das Denkmal als Wachturm diente. Wer sich durch die beklemmende Finsternis dieser Treppe zur Höhe hinaufgetastet hat, wird durch einen überwältigenden Rundblick ent­ schädigt. Auf der gitterlosen Plattform hat sich allerlei Gesträuch ange­ siedelt, das die Gipfel der dicht herandrängenden Bäume noch um etliche Meter überragt. Zu Füßen des Kolosses liegen die alten Kase­ matten, dazwischen mit schloßähnlichen Gebäuden, die heute durchweg fiskalischen Zwecken dienen, das Areal der kurmainzischen Festung. An der Westseite der sternförmig angelegten Zitadelle ein Sportplatz, dahinter Laubengelände, begrenzt von hellen, modernen Villen. Zum Rhein hin wogt das Häusermeer des «goldenen Mainz », in dem majestä­ tisch der Dom vor Anker gegangen ist. Und am Horizont die Taunushöhen mit dem Feldberg, dem Altkönig und der Idsteiner Senke. Eine weite, fruchtbare Landschaft, mit Obst und Wein gesegnet - und eine Stadt darin, die schon dank ihrer Lage «die Gewähr des Bestandes» hat. Der junge Mann von 25 Jahren, «mit Talenten aller Art verschwende- Gott Mars risch ausgestattet», eben jener Drusus, dessen Name dieses Denkmal trägt und dem das Mainzer Lager seine Entstehung verdankt, wird auch die strategischen Vorzüge des Platzes auf den ersten Bhck erkannt haben. Diesseits des Rheins die etwa 40 Meter hohe, nach drei Seiten abfallende Terrasse des Kästrichs und des Linsenbergs - für ein Kastell wie ge­ schaffen. Mit ihm war die Mündung des Mains - genau wie in Vetera die Mündung der Lippe - unter Kontrolle gestellt und die Basis für offensive Unternehmungen gegen die rechtsrheinischen Germanen ge­ geben. Deren Weg wiederum war durch zwei uralte Straßen vorge­ zeichnet, die sich in der Untermainebene trafen. 133

Die eine fülirte vom Ostfuße des Taunus in die Wetterau und weiter durch die hessische Senke zur Weser, die andere über den Vogelsberg und die Rhön nach Thüringen. Beide stießen tief ins Feindesland und bildeten daher die natürlichen Operationslinien, als Augustus seinen Wunschtraum - die Elbgrenze - nach langwierigen Vorbereitungen zu verwirklichen suchte. In zwei Feldzügen drang der Stiefsohn des Kaisers in den Jahren 10 und 9 vor Chr. bis an die Ufer der Elbe vor. Chatten, Sueben, Cherusker, Markomannen bheben geschlagen oder eingeschüchtert auf der Strecke. Im zweiten Sommer jedoch ereilte ihn sein Schicksal. Irgendwo an der Elbe trat ihm, der Sage nach, eine germanische Seherin in den Weg und verkündete ihm den baldigen Tod - eine packende Szene, die manchem vaterländischen Dichter Stoff zu einer markigen Ballade geschenkt hat. «Wohin willst du, unersätdicher Drusus ?» soll sie ihm zugerufen haben. «Nicht alles das zu schauen, ist dir bestimmt. Nein, kehre um! Denn schon ist deiner Taten und deines Lebens Ende nah.» Drusus, abergläubisch wie sein Stiefvater Augustus, kehrte um, stürzte vom Pferde und starb nach wochenlangem Krankenlager einen qual­ vollen Tod. Soldat bis zum letzten Augenblick, ließ er semen in Pavia weilenden Bruder Tiberius noch rechtzeitig von seinem bevorstehenden Ende unterrichten. Der brach sofort auf, überquerte die Alpen, erreichte Mainz und ritt, nur von dem Germanen Andabag begleitet, bei Tag und bei Nacht 300 Kilometer durch das kaum unterworfene Land, um einen «letzten Bhck und Gruß mit seinem Bruder zu tauschen». Drusus, schon an der Schwelle, «wo Leben und Tod sich scheiden», befahl, ihn mit fliegenden Fahnen einzuholen, und ließ die Legionen zur Parade antreten, um ihm Titel und Amt des Konsulars und Oberfeldherrn zu übergeben. Dann starb er, von seinen Soldaten tief betrauert, während Wölfe heulend das Lager umkreisten, klagende Frauenstimmen in den Lüften gehört wurden, Sterne vom Himmel fielen und gespenstische Reiter über das Feld sprengten... So jedenfalls wird es von den römi­ schen Geschichtsschreibern berichtet. Tribunen und Centurionen trugen den Leichnam nach Mainz, von wo er mit einem Ehrengeleit den Weg in die Heimat antrat - gegen den Willen der Soldaten, die ihn Heber in der Zweilegionenfestung am Rjiein bestattet hätten. Auf dem Forum in Rom wurden die sterbUchen Reste des Feldherrn 134

verbrannt, «nachdem ihm Bruder und Vater vor allem Volke die Leichen­ rede gehalten hatten». Der Senat verÜeh ihm den Ehrennamen Germanicus, der auf den Sohn des Drusus überging, und errichtete ihm einen Ehrenbogen, der zusammen mit dem Bildnis des Feldherm auf Münzen dargestellt wurde. Spätere Geschlechter erlagen noch der Magie seines Namens. Titus Livius widmete die vier letzten Bücher seines GeschichtsWerkes «Ab urbe condita » den Feldzügen des Drusus, und Plinius nahm ihn als geistigen Urheber seiner Darstellung der germanischen Kriege in Anspruch: Drusus, so erklärte er, sei ihm im Traum erschienen und habe ihn be­ auftragt, sich seines Nachruhms anzunehmen. Auch in Mainz welkte die Erinnerung an den jugencUichen Heerführer nicht. Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod, wahrscheinlich unter Kaiser Claudius, wurde das heute noch stehende Mal errichtet - mythi­ scher Mittelpunkt des großen Waffenplatzes am Rhein - imd mit Paraden, Waffenübungen und Opfern fortan einmal im Jahr das Ge­ dächtnis des geliebten Generals beschworen, der seinen Legionen wie Gott Mars selbst vorangeritten war. Um diese Zeit war Mainz, neben Vetera, längst das stärkste Bollwerk der gesamten Rheinverteidigung geworden, zugleich Hauptstützpunkt zur Aufrechterhaltung der römischen Herrschaft in Gallien. In dem 1000 mal 750 Meter großen Lager auf dem Kästrich - das lateinische Wort«castra» lebt im Namen dieses Stadtteils in kaum verhüllter Gestalt weiter - waren zwei Legionen schwerer Infanterie stationiert. Dazu kamen die obhgaten Reiter - je 120 für jede Legion - sovde die Auxüien. Handelte es sich bei den Legionären im Laufe dieses 1. Jahrhunderts noch größtenteils um gebürtige Italiker, so war in den bundesgenössischen Einheiten bereits ein rechter Völkermischmasch vereinigt. Spanische, norische, rätische, thrakische und hbanesische Kohorten sind bereits für die erste, bis zum Vierkaiserjahr 70 währende Periode nach­ gewiesen. Insgesamt war die Besatzung mindestens 15 000 Mann stark. Der Mainzer Legat war gleichzeitig Befehlshaber des obergermanischen Heeres. Ihm unterstanden also auch die beiden Straßburger und Windischer Legionen sowie die zahlreichen Alen und Kohorten, die zwischen Andernach und Basel Quartier bezogen hatten. Unmittelbar vor den Toren von Mainz griff sein Bereich schon damals über den Rhein. Wiesbaden mit seinen heißen Quellen übte eine starke 135

Taufpate war der keltische Apoll

Anziehungskraft aus. Auch in Frankfurt-Heddernheim und Höchst lagen kleine Kastelle. Und auf dem Kapellenberg bei Hofheim stand ein Wachturm in ständiger Signalverbindung mit dem Mainzer Lager. Dem Verkehr über den Rhein diente eine Schiffbrücke (vielleicht auch eine Holzbrücke) zum gegenüberliegenden Kastell, das seine Bezeichnung übrigens vöUig unverändert, nur imter Verlust eines «1», dem früheren Mainzer Vorort Kastei verheh. Genauere Angaben über diese frühe Zeit der Festung Mainz fehlen. Die Geschichtsschreiber schweigen sich aus, und die Archäologie hat bislang nicht viel mehr als Größe und Standort des Zweilegionenlagers ermittelt, da es bis in die Neuzeit müitärisches Gelände und dem Spaten nicht zugänglich war. Sie konnte jedoch feststellen, daß der Linsenberg und damit die unmittelbare Umgebung des Drususdenkmals bereits in der älteren Steinzeit von Menschen bewohnt war. Da auch die jüngeren vorge­ schichtlichen Epochen sich durch Beüe, Hausgeräte und Waffen aus­ giebig in Erinnerung gebracht haben, läßt sich für Mainz eine kontinuierhche Besiedlung von den Urtagen der Menschheit bis zur Gegen­ wart nachweisen. Als die Römer sich bis zum Rhein durchgesäbelt hatten, fanden sie also eine recht lebhafte Siedlung vor. Wie aus Münzfunden hervorgeht, war sie keltischen Geblüts, ihr Taufpate ein Gott namens Mogon, eine Art keltischer Apoll - daher auch der Name Mogontiacum, den das Zweüegionenlager nach altem Brauch adoptierte. Der Name hatte Bestand, das Lager selbst, das übliche Holz-ErdeKastell, wurde im Bataverkrieg eingeebnet und hinterheß nur wenige Spuren. Puzzlespiel mit alten

Erfolgreicher waren die Bemühungen, ein Bild von dem späteren, Stein aufgeführten Lager zu gewinnen, obwohl man auch hier nur auf einem Umweg zum Ziel kam. Der Mamzer Boden und die Mainzer Bauweise waren der Archäologie wenig förderlich. Der moorige Untergrund zwang die Römer zu einem besonderen Fundamentierungs­ verfahren. Es wurden nicht, wie sonst, Gruben in der Größe der ge­ planten Bauten ausgehoben, «sondern nur einzelne quadratmetergroße Schächte bis auf den gewachsenen Kies abgeteuft, dann mit Zement­ masse ausgefüllt und überwölbt». Diese Zementpfeüer aber lassen nur wenige Rückschlüsse auf Grundriß, Gestalt und Charakter der Gebäude zu, die auf ihnen ruhten. 136

Doch entdeckte man eines Tages in den Resten der spätrömischen Umwallung Steine und ganze Mauerpartien, die auf eine vorherige Verwendung schließen ließen - hier waren also noch vorhandene Bauten oder deren Ruinen für die Zwecke des Mauerbaus ausgeschlachtet worden. Man versuchte nun, solche Quadern und Steine auf ihre mutmaßhche frühere Verwendung hin zu identifizieren - ein Puzzlespiel, das Geduld, Scharfsinn und ein waches baumeisterliches Gespür voraus­ setzte. Wo diese Eigenschaften am Werke waren, führten sie zu erstaun­ lichen Ergebnissen. Aus Skulpturen und Schmucksteinen, die das Fundament barg, komite man zum Beispiel auf eine Säulenhalle innerhalb des Praetoriums schließen, ein Siegesdenkmal wahrscheinlich, das die Erfolge der Mainzer Legionen in einem der vielen Chattenkriege pries, außerdem auf einen Triumphbogen aus dem 3. Jahrhundert. Auch einem mächtigen Achteckbau kam man mit den Mitteln der Steindiagnostik auf die Spur. Gesichert ist in diesem Fall zumindest eine achteckige Cella mit Säulen­ umgang, die Teil eines größeren Ganzen war, vielleicht einer Markt­ halle. Glücklicherweise waren nicht immer so beschwerliche Umwege nötig. Grabungen beim Bau des Südbahnhofs förderten Gebäudereste zu Tage, die später als Teile eines römischen Theaters erkannt wurden. Ein respek­ tables Gebäude übrigens - der Zuschauerraum hatte einen Durchmesser von 116,35 Meter (das sind genau 400 römische Fuß), die Bühne eine Breite von 41 Meter. Das Amphitheater dagegen, das in Heiligenlegenden erwähnt wird und vermuthch im Zahlbacher Tal lag, hat sich bisher der Entdeckung entzogen. Um so genauer kennt man den Verlauf der Wasserleitung, die im Bereich des heutigen Klinikgeländes in das Legionslager mündete. Die Pfeüer, auf denen sie das Zahlbacher Tal überbrückte, sind zum großen Teil erhalten; zwar fehlen die Bogenstellungen, auch die Verkleidung ist längst abgerissen, so daß nur 60 gestaltlose Steinformationen, die in Abständen von 4 bis 6 Meter die Führung des Aquäduktes markieren, die Zeit überdauert haben. Aber auch hier gewinnt die Vorstellungs­ kraft aus den verbhebenen Resten so viel Nahrung, daß sie das Bild der bis zu 35 Meter hohen Wasserleitung unschwer rekonstruieren kann. Die unweit des Stadtkerns gelegenen Pfeiler sind heute in eine ge­ pflegte, mit Bäumen bestandene Promenade einbezogen, die auf ein­ drucksvolle Weise das Idyllische mit dem Monumentalen verbindet. 137

Der und verHeh ihm das ILitterkreuz der Ehrenlegion. Die Dekoration war noch nicht überreicht, als aus Darmstadt eilends die «Goldene Medaille für Kunst und Wissen­ schaft» eintraf. Und als 1871 der Deutsche Reichstag dem Mainzer Zentralmuseum eine jährhehe Subvention bewilhgt hatte, komite Lindenschmit sogar aus dem Schuldienst ausscheiden und sich ausschheßlich seinen wissenschaftlichen Interessen und seinem Museum widmen. Fotografien aus diesen Jahren zeigen einen liebenswerten, alten Herrn mit weißem Bart und randloser Brille, auf dem Kopf das schwarze Ge­ lehrtenkäppi. Er starb im Jahre 1893, nach einem glücklichen und er­ füllten Lebensabend. . . Nie aber hat Ludwig Lindenschmit Sohn den Tag vergessen, an dem die Mutter, von einem Fenster ihrer Wohnung aus das nahegelegene Museum betrachtend, leise den schmerzHchen Satz aussprach: «Da drüben hegt viel Lebensfreude begraben ...» Ein kleiner, schwerbefrachteter Satz. Schicksalsmotiv eines deutschen Gelehrtenlebens. Doch zurück zu den Haupt- und Staatsaktionen des römischen Mainz. Zwerge gegen Eine Soldatenstadt steckt immer prall voll Energien, und Mogontiacum hatte wie keine zweite Anteil an den Kriegen, Beutezügen und ßefriedimgsaktionen der Römer in Deutschland. Der Mainzer Legat Sihus warf zu Beginn der zwanziger Jahre des 1. Jahrhunderts den Aufstand des Julius Florus und des JuUus Sacrovir in GaUien nieder. In Mainz residierte der spätere Kaiser Galba, nachdem sein Vorgänger Lentulus Gaetuheus, «ein Mann von sanftem Charakter », wie es in einer alten Stadtgeschichte heißt, auf Geheiß von Kaiser Caligula im Jahre 39 umgebracht worden war. 147

Hier verdiente sich der General Curtius Rufus unter Claudius die Triumphalabzeichen, und zwar durch Ausbeutung eines Bergwerks, worauf die unzufriedene Truppe an den Kaiser das «wunderhche Gesuch» richtete, die Triumphalabzeichen in Zukunft vorweg zu verleihen, damit sie nicht erst durch den Schweiß der Legionäre erworben werden müßten. Daß einige Forscher in diesem Curtius Rufus den Verfasser der Alexander-Biographie wiederzuerkennen glauben, sei wenigstens erwähnt, obzwar ihre These auf schwachen Füßen steht. Auch Pomponius Secundus, der Gönner des Plinius und wie dieser der Feder und dem Pergament verschworen, erwarb mit einem erfolgreichen Chattenfeldzug von Mainz aus müitärischen Ruhm. Mainzer Legionen zerschlugen in der neronischen Zeit den Aufstand des Julius Vindex, marscliierten im Jahre 69 mit Vitelhus nach Italien und trugen nach der im gleichen Jahr von den Chatten imd Mattiakem veranstalteten Bela­ gerung der Stadt dazu bei, den Claudius Civilis auf die Bataverinsel zurückzuwerfen. Zwei Jahrzehnte später - sechs Jahre nach jenem denkwürdigen Chattenfeldzug Domitians, der den Beginn der Limesgeschichte markiert - erschütterte der Aufstand des Mainzer Legaten Satuminus erneut das Gefüge der römischen Grenzverteidigung am RJiein. Eine schwere persönliche Beleidigung durch den verhaßten Domitian war offenbar die Ursache der Rebellion, zu deren Finanzierung die Sparkasse der Mainzer Legionäre herangezogen wurde. Der ehrgeizige General Heß sich zum Imperator ausrufen und verbündete sich überdies mit den feindlichen Chatten. Da das Donauheer mit einem Feldzug gegen die unruhigen Daker beschäftigt war, sah die Situation für Rom recht bedrohlich aus. Domi­ tian, zu dieser Zeit bereits ein glatzköpfiger Dickwanst, war daher genötigt, sich von seinen Tierhetzen und Gladiatorenkämpfen loszureißen und in höchsteigener Person den Kriegsschauplatz aufzusuchen. Bevor er jedoch mit seiner Sänfte und seinen Praetorianern am Ort der Handlung erschien, hatte ein gewisser L. Appius Maximus Norbanus - ein Mann, von dem wir sonst nicht das geringste wissen - die Gefahr bereits beseitigt. Der Mainzer Legat war geschlagen und im Kampfe gefallen. Domitian konnte sich darauf beschränken, die notwendigen Hinrich­ tungen zu verordnen und, nach Rom zurückgekehrt, einen neuen Triumph zu feiern, einen Triumph mit merkwürdigen Attraktionen 148

übrigens: hübsche Mädchen Hefen um die Wette, Berittene kämpften gegen Unberittene, und Zwerge maßen ihre Kräfte mit Weibern. Für Mainz hatte der Aufstand noch eine weitere Wirkung. Statt der bisherigen zwei Legionen war fortan nur mehr eine auf dem Kästrich stationiert. Da die Grenze nun weit jenseits des Rheins verhef, wandelte sich auch der Charakter der Stadt. Die Frontsiedlung wurde zur Etappe, die Lagerfestung eine Garnison, die Müitärkommune eine Provinzmetropole. Trotzdem wurde Mainz keine Handelsstadt wie Köln. Als Waffenkammer, Versorgungszentrum und Verwaltungsmittelpunkt des Limes übte Mogontiacum weiterhin vorwiegend mihtärische Funktionen aus. Von Mainz ergingen die Anordnungen zum Bau der Straßen, Kastelle, Palisaden und Gräben des Limes. Von hier wurden die Truppen verteilt. Hier lag das Oberkommando, hier die Hauptkampfmacht. Die Befehls­ haber der Auxiliarkohorten am Grenzwall entstammten zum größten Teil der Mainzer «Zweiundzwanzigsten», ebenso die Pionier- und Baukommandos, unter deren Leitung das riesige Befestigungswerk entstand. Auch die Überwachung des Grenzdienstes oblag den Mainzer Dienst­ stellen, und auf den Straßen und «Hmites» der rückwärtigen Gebiete walteten die «beneficiarii consularis», die «Begünstigten des Statthalters», ihres Amtes, eine Art römischer Feldgendarmerie, die auf Zucht und Ordnung hielt und daher bei der Truppe nicht unbedingtem Wohl­ wollen begegnete. Diese höchst aktive Rolle der Mainzer Garnison bei Ausbau und Siche­ rung des Limes macht begreifÜch, warum es ausgerechnet hier zu einer Empörung kam, als Kaiser Severus Alexander im Jahre 235 den Krieg mit den Alemannen durch Verhandlungen und Geldgeschenken beizu­ legen trachtete. Dieser junge Kaiser, Syrer von Geburt, ein Jüngling «mit schönen glänzenden Augen », wurde siebzehnjährig von den Praetorianergarden in Rom auf den Thron gehoben. Ein Mann von hohen QuaHtäten: die Rechtschaffenheit in Person, bescheiden, mäßig und ordnungsliebend, ein guter Mathematiker und umsichtiger Kriegsherr. Man konnte ihm eigentlich nur vorwerfen, daß er den Frieden mehr als den Krieg liebte, in kritischen Situationen zu zaudern begann und sein Ohr allzusehr den Wünschen und Einflüsterungen seiner Mutter Mamaea Heh - wahrscheiiiHch war es gerade dieses «Weiberregiment», das ihn die Anhänglichkeit seiner Soldaten kostete. 149

Ein Kaiser ermordet

Drei Jalire lang hatte sich Severus Alexander mit magerem Erfolg in Persien herumgeschlagen; Mesopotamien war zwar gehalten, die Macht des Perserkönigs Ardaschir jedoch nicht gebrochen. Nun hatten die Alemannen den Limes durchbrochen, der Rjiein war wieder gefährdet. In Eilmärschen führte der junge Kaiser seine Legionen an die brennende Grenze. Ganz Mainz und Umgebung war ein großes Heerlager. Aber die Truppe räsonierte, murrte, war unzufeieden. Ziel ihrer bissigen Kritik war einmal mehr die Mutter Mamaea, die ihren Sohn auch im Feldlager beriet. Schon kam es zu kleineren Meutereien, die Severus Alexander mit der Auflösung der rebellischen Einheiten beantwortete. Überdies kürzte er den Sold der Soldaten, vielleicht weil er der Mei­ nung war, daß die Gefährdung des Reiches solche Opfer erheische. Als er dann noch versuchte, die Alemannen auf dem Verhandlungswege aus den umstrittenen Grenzgebieten hinauszukomplimentieren, war die empörte Truppe nicht mehr zu halten. Sie wollte kämpfen, nicht ihren Sold dem Feinde schenken. Dem gudierzigen, auf Frieden und Einsparung von Blut bedachten Kaiser waren solche Gedanken fremd. Er maß daher der flackernden Unruhe im Lager keine Bedeutung bei. Im offenen Zelt unter seinen Soldaten lebend, nahm er sein karges Abendbrot wie gewöhnlich ein. Dann legte er sich zur Ruhe. Plötzlich taumelte ein Legionär ins unbewachte Zelt. Der Mann, viel­ leicht betrunken, hatte sich wohl verirrt. Als ihn der Kaiser unwirsch anfuhr, glaubte er jedenfalls seinen Kopf verwirkt zu haben. Er stürzte hinaus, lief wie gejagt durch die Lagergassen und schrie mit gellender Stimme, man müsse den Kaiser töten, den Kaiser töten, den Kaiser. . . Eine Kurzsclilußhandlung - aber der Funke sprang über. Minuten später war der schimmernde Glanz in den Augen des Kaisers erloschen und seine Mutter Mamaea den blindwütigen Schwerthieben der Legio­ näre zum Opfer gefallen. Ein ungeschlachter Bauer von der Ripa Thracica südlich der Donau­ mündung - Sohn eines Goten und einer Alanin, der sich als Chef des Ausbildungswesens im Obergermanischen Heer eine fanatische Anhänger­ schaft geschaffen hatte - trat seine Nachfolge an. Dieser Maximinus Thrax, ein Baum von einem Kerl, der täghch 26 Liter Wein und 40 Pfund Fleisch konsumierte, war aus härterem Holz geschnitzt als der zarte, schönäugige Syrer. Ein Mann so recht nach dem Herzen der Sol­ daten, roh, gewalttätig, draufgängerisch, aber ein tüchtiger General. Die Mainzer Legionen warfen ihm den Purpur über und riefen ihn 150

zum neuen Kaiser aus. Ein atemberaubender Vorgang - «zum ersten Mal in der römischen Geschichte», heißt es bei Franz Altheim, «wurde ein Herrscher allein durch das Heer, ohne Zustimmung des Senats, eingesetzt.» Germanische, barbarische und daher tief beunruhigende Vorstellungen und Bräuche brachen hier durch. Zwar hatten die Legionen auch früher schon - man denke nur an den gefräßigen ViteUius aus Köln - gelegent­ lich einen Thronfolger präsentiert, immer aber hatten sich Männer ge­ funden, die für die geheiligten Traditionen gegen die Ordnungsbrecher aufgestanden waren. Diesmal geschah nichts dergleichen. Der Senat schluckte die Provokation und bequemte sich der Lage an. Nicht zum Nachteil des Imperiums. Denn Maximinus Thrax schlug hart und unerbittlich zu und heß durch seine orientahschen Bogen­ schützen und afrikanischen Speerwerfer schreckUch unter den ale­ mannischen Reiterscharen aufräumen. Ein Jahr später war, wenn auch nur für kurze Zeit, die Limesgrenze wiederhergestellt. Alexander Severus war nicht der einzige Kaiser, der in Mainz erschla- Vom Lagergen wurde. Gute drei Jahrzehnte nach ihm widerfuhr dem Postumus das gleiche Schicksal, angeblich weil er sich geweigert hatte, die Stadt seinen Legionen zur Plünderung freizugeben. Das Reich des Postumus, das um die Wende des Jahres 258/59 in Köln begonnen und in Trier seine Residenz gefunden hatte, war damit seines Trägers beraubt. Es dauerte danach nur noch wenige Jahre, bis Kaiser Aurelian die abtrünnigen Provinzen GaUien, Spanien und Britannien dem Imperium wieder einverleibt hatte. Für Mainz selbst wurden diese unruhigen Jahre insofern bedeutsam, als sich herausstellte, daß die fast 200 Jahre bestehende Lagerfestung einer ernsthaften mihtärischen Erprobung nicht mehr gewachsen war. Irgend­ wann in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts wurde das Kastell auf dem Kästrich also aufgegeben, die Stadt mit einer festen, turmbewehrten Mauer umgürtet, die Trennung von müitärischem und zivilem Bereich endgültig aufgehoben. Bestimmend für den Verlauf der Mauer waren das Hochufer des Rheins, die Oberkante des Kästrichs sowie der Lauf des Zey- und Vilzbachs - der Drususturm bheb «draußen». Teüe der steinernen Umwehrung haben sich bis heute erhalten, so auf dem Kästrich und am Eisgrubweg. Ein Mauerstück an der Hinteren Bleiche wurde während des letzten Krieges durch Bomben freigelegt. Auch der mittelalterliche Alexanderturm steht auf dem Fundament 151

eines alten Römerturms und hat dessen Maße und Rundungen über­ nommen. Im übrigen tritt die Römermauer im Stadtbild nicht mehr in Erscheinuung. Auch in den Nachbarstädten, die etwa zur gleichen Zeit ihre Wand­ lung vom Lagerdorf zum festen Platz erlebten, ist sie durchweg von der Bildfläche verschwunden. In Bingen und Koblenz sucht man vergebens nach ihr. In Andernach, wo die mittelalterhche Befestigung sich ähnlich wie in Mainz mit der römischen eng liierte, stehen einige imposante Reste. Wiesbaden unter­ nahm um die Wende des 20. Jahrhunderts den mißglückten Versuch, ein Stück «Heidenmauer» zusammen mit einer recht fragwürdig nach­ konstruierten Holzbohlenbrücke einem Stadtteil mit wilhelminischem Kolorit einzufügen. Eine Ausnahme allerdings gibt es - eine Ausnahme, die um so über­ raschender ist, als der örthche Verkehrsverein mit diesem Pfund seines römischen Erbes bisher wenig gewuchert hat. Diese Ausnahme heißt Boppard. 152

Das Städtchen, unweit Koblenz an einer ebenso grandiosen wie anmutigen Rheinschleife gelegen, scheint auf den ersten Bück ein typisches Produkt der rheinischen Fremdenindustrie. Die Marzipanguß-Architektur der Uferhotels, die Rlieinpromenade mit ihren Dampfer- und Motorbootstegen, ihren Winzerstuben und fliegenden Andenkenliändlern, die engen, gesichtslosen Gassen - alles entspricht dem wohlbekannten Bild jener weinseUgen Flecken, die den durstenden Fremden mit Rebensaft und Romantik tränken, beides auf Flaschen gezogen. Doch dann steht er plötzlich vor einem urtümhehen Mauerstück, haushoch und zwei bis drei Meter stark, das so gar nicht zum Etikett dieses Städtchens passen will, und er entdeckt, daß die Mauer leicht weiter zu verfolgen ist, durch Gärten und Höfe hindurch, ja, daß sie sich sozusagen mitten durch die Häuser zieht. Boppards Römermauer. Auch Boppard nimmt den Platz eines Römerkastells ein, das im Jahre 9 vor Chr. auf dem Boden einer Keltensiedlung begründet wurde. Die Mauer allerdings stammt aus der spätrömischen Zeit. Sie wurde um 370 n. Chr. gebaut, in der Regierungszeit von Kaiser Valentinian, der noch einmal den aussichtslosen Versuch unternahm, die Rheingrenze durch große Festungsbauten zu sichern. Das Bopparder Kastell bildete ein Rechteck von 308 Meter Länge - das sind 1000 griechische Fuß - und 154 Meter Breite, war also aus zwei gleichen Quadraten zusammengesetzt und bedeckte eine Fläche von 4,75 Hektar.

Boppards

Das für die Spätzeit typische Mauerwerk wurde schon vor 100 Jahren von Archivrat Ehester genau untersucht. Nach seiner Beschreibung liegt • 1 1 r 1• 1 1 o • zwischen den aus sorgiältig behauenen Steinen zusammengesetzten Außenschichten ein mächtiges Gußmauerwerk, das aus sehr kalkreichem, mit Rheinkies vermischtem Mörtel und regellos eingefügten Bruch­ steinen besteht. Der Mörtel ist so hart geworden, daß er selbst dem Angriff modernster Geräte widersteht. So vermochte der Preßluftbohrer bei Kanalisationsarbeiten im Jahre 1949 die festen Quarzitbrocken zwar zu spalten, doch nicht aus dem Mörtelverband zu lösen. Und als im vorigen Jahrhundert ein «etwas exzentrischer» Bürger der Stadt einige Meter Mauer niederlegen ließ, um einen Zugang zu seinem jenseits des Stadtgrabens gelegenen Garten zu schaffen, waren die Ab­ bruchkosten zehnmal so hoch wie der Wert des Gartens. Das Schärfen

Der Mörtel

153

Mauer

eisenhart

der Geräte allein verschlang die dazumal recht stattliche Summe von 300 Thaler. Z’weifellos war es nicht zuletzt dieser außerordentlichen Härte des römischen Mauerwerks zu danken, daß Boppards steinerne Umwallung noch zu Goethes Zeit bis auf den bereits im 14. Jahrhundert niedergelegten rheinseitigen Mauerzug erhalten war. Die eigentliche Zerstörungsarbeit begann in einer Epoche, die sich auf ihren geschichtsbeflissenen Idealismus so viel zugute tat, und es waren auch in Boppard nicht zuletzt die Eisenbahningenieure, die die römische Hinterlassenschaft rigoros vernichteten. Trotzdem haben weite Strecken der Kastellumwallung sowie acht von den ehemals 28 Türmen diesen Feldzug der Zerstörung mit Haltung überstanden. Nicht nur das - in den Gemäuern von einst nistet noch immer das Leben. Sie sind ein Teil der städtischen Topographie, Schauplatz des Werktags und des Feierabends, und wer sich die Zeit zu einem kleinen Rundgang nimmt, wird mancherlei Staunenswertes registrieren. Römerturm

Da steht im Garten der alten Apotheke ein Turm, in dessen meterMauerwerk eine Türöffnung gebrochen wurde. Dabei stieß man nicht nur auf Ziegel der Mainzer «Zweiundzwanzigsten», sondern auch auf Teile menschlicher Skelette. Letzte Zeugen eines Verbrechens, eines Aktes unmenschlicher Justiz oder eines Unglücksfalles? Wir werden es nie erfahren. Zwei weitere Türme dienen heute als Werkstätten. In dem einen hat sich ein Orgelbauer, in dem anderen ein Schlossermeister niedergelassen. Ein vierter Turm wurde erst jüngst in eine Garage verwandelt. Ein fünfter, der wie die meisten seiner Brüder nur über den Hof eines Privathauses zu erreichen ist, trägt über den Dächern der Stadt in acht Meter Höhe einen kleinen Garten, der sommertags einem Bohnen- oder Erbsenbeet und übermütig blühenden Blumenrabatten Sonne, Luft und Regen gewissermaßen aus erster Hand bietet. Ein sechster Turm nahm während des Krieges einen Bombenvolltreffer gelassen hin. Als der Rauch der Explosion sich verzogen hatte, war zwar die mittelalterliche Bekrönung zerstoben, das Kernstück aber, der römische Gußmauerblock, hatte sozusagen nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Die beiden restlichen Türme stehen unversehrt im Verband des best­ erhaltenen Mauerstücks zwischen Hauptstraße und Strom. Die von Turm zu Turm verlaufende Mauerpromenade führt nach dem Zeugnis 154

von Schulrat a. D. Willielm Becker im Lenz durch eine wahre Park­ landschaft, einen «Wald von Fliedersträuchern und Zypressen», einen «Flor von Goldlack und anderen Frühlingsboten, die sich auf der Mauer­ krone und auf den Türmen angesiedelt haben ». Nur wenige Schritte weiter hat sich das Reststück der Nordmauer mit der Fassade eines Hotels verzahnt. Das Ergebnis ist eine ungefüge, bucklige, «fast zyklopisch anmutende» Front, die wie die gesamte Bopparder Römermauer Einmaligkeit für sich beanspruchen darf. Im Innern des auf Altdeutsch frisierten Hauses findet sich ein sonder­ barer Kaminspruch. Er lautet: ROM. SGOET. TER. VOS. IN. D. SI. VERS. CHV. UNDE. N. VEC. BIS. UEB. ERDI. OH. REN. VERSU. N. KEN. IN. DR. ECO. NURA. MORUN. D. BACCHUS. D. AS. LUS. T. IGE. PAR. KILEUZ. FIDEL. WIEVORTA. U. SEN. D. I. AR. In der Tat, eine merkwürdige Inschrift, die selbst geschulten Lateinern Schwierigkeiten bereitet. Das Rätsel ist jedoch sehr schnell gelöst, wenn man sie folgendermaßen liest: ROMS GÖTTER, W O SIND SIE? VERSCHWUNDEN, WEG, BIS ÜBER DIE OHREN VERSUNKEN IM DRECK. NUR AMOR UND BACCHUS, DAS LUSTIGE PAAR, IST KREUZFIDEL WIE VOR TAUSEND JAHR. Anders als in Boppard, das im Mittelalter ein kleines nahezu ver- Das Lyoner gessenes Städtchen war, bheben im «goldenen Mainz» von der spätrömischen Mauer nur spärliche Reste. Auch die schriftlichen Quellen spenden nur dürftige Informationen. So ist man wieder auf die Ergeb­ nisse von Grabungen und die Deutung von Inschriften und Bildern angewiesen. Ein höchst wichtiges Dokument dieser Art ist das 1862 im Saonebett bei Lyon gefundene Bleimedaillon. Es hat einen Durchmesser von acht Zentimeter und wird durch eine waagerechte Linie geteilt. Die obere 155

Hälfte zeigt zwei Kaiser, die an Soldaten und Gefangene Spenden verteilen, dazu die Inschrift: «Saeculi Felicitas» - «Glück des Jahrhunderts». Auf der unteren überschreiten die Kaiser, von zwei Victorien geleitet, auf einer Brücke einen Fluß. Den Hintergrund bilden die runden Türme und zinnenbewehrten Mauern einer befestigten Stadt. Die Buchstaben FL(uvius) P^N U S kennzeichnen den Fluß als Rhein, und über den Brückentoren sind die Namen MOGONTIACUM und

CASTEL zu erkennen. Die Darstellung ist also in jeder Hinsicht ein­ deutig. Wenn auch die Namen der beiden Kaiser nicht genannt sind, so neigen doch die meisten Forscher der Ansicht zu, daß es sich um den Festungs­ bauer Valentinian I. und dessen Sohn Gratian handelt, die um 368 n. Chr. von Mainz aus zu einem Feldzug gegen die Germanen aufbrachen. Die feste Brücke weist darauf hin, daß die gesegnete Landschaft auf der gegenüberhegenden Stromseite sich am Ende des 4. Jahrhunderts noch fest in römischer Hand befand, obwohl Nida längst zerstört und der Badebetrieb von Wiesbaden fast zum Erhegen gekommen war. Nach dem Lyoner Bleimedaillon bestand der Oberbau der Brücke aus einer festen Holzkonstruktion, die jedoch bei Gefahr leicht abgewor­ fen werden konnte, so daß nur die steinernen Pfeüer übrigblieben, die ihrerseits «auf einem Rost mächtiger Eichenpfähle» ruhten. Ein solcher Rost, der erst bei Strombauarbeiten in den Jahren 1880 bis 1882 aus dem Rhein gehoben wurde, war früher als imposantes Zeug­ nis des technischen Könnens der römischen Ingenieure im Hof des Großherzoghchen Schlosses aufgebaut. 156

Wer von dieser Brücke aus den Blick auf Stadt und Festung Mogontia- Stadt und cum richtete, hatte ein prächtiges Panorama vor Augen. Häuser und Straßen der Metropole erstreckten sich vom Rjiein bis zur Höhe des Kästrich. Außerhalb der Mauer lag zur Rechten der Handelshafen, dem sich auf der Vorhöhe eine Reihe großer öffentlicher Gebäude anschloß; zur Linken der Kriegshafen, um den sich die Hütten, Baracken und Werk­ stätten einer kleinen Vorstadt gruppierten. Dahinter, auf der ersten Geländeterrasse, zeichnete sich, von dem monumentalen Drusus-Kenotaph überragt, das festhche Halbrund des Theaters ab. «Nicht minder schön», heißt es in Schumachers Siedlungs- und Kul­ turgeschichte der Rheinlande, «war der Ausblick von den Stufen des Theaters; zu Füßen der mächtige Strom und die wiesenreiche Main­ niederung, dahinter die flache, fruchtbare Terrasse des Hügellandes, viel­ leicht schon zum Teil mit Reben bepflanzt, im Hintergrund die bewal­ deten Höhen und Gipfel des Taunus.» Und ringsum eine weithin erschlossene Landschaft mit Kultbauten, Meierhöfen und prächtigen ländlichen Villen. Von der viereinhalb Kilometer langen Mauer entfielen anderthalb Kilometer auf die herrschaftliche Rheinfront. Das Stadtgebiet selbst liatte die Form eines unregelmäßigen Trapezes und bedeckte eine Fläche von 120 Hektar. Mainz war also gut 25 Hektar größer als Köln, dem es als Hauptstadt von Obergermanien im Rang gleichgestellt war, nachdem es unter Diocletian die Erhebung zum «municipium » erfahren hatte. Die Stadt war Sitz des «dux Mogontiacensis». Dementsprechend wird sie durchaus residenzliche Züge gehabt haben. Doch ist darüber nur so­ viel bekannt, daß die beiden Hauptstraßen sich in der Gegend des heuti­ gen Schillerplatzes trafen und dort das Forum bildeten. Die Domgegend galt damals bereits als «heiliger Bezirk ». Aber nicht nur die Seelen, sondern auch die Leiber erfreuten sich, wie die großen Thermenanlagen von Mainz bezeugen, einer pfleglichen Be­ handlung. Am einprägsamsten aber wird der Grad der zivilisatorischen Entwicklung wohl durch die Falschmünzerwerkstatt belegt, die zu Be­ ginn der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts in Kastei entdeckt wurde. Daß es in dieser Spätzeit keine reine Freude mehr war, Mainzer Bürger zu sein, lassen die zeitgenössischen Chroniken zur Genüge ahnen. Keine andere Stadt - Trier ausgenommen, das in dieser Zeit seine schwelge­ rische Blüte erlebte - wird von der Mitte des 4. Jahrhunderts ab so oft erwähnt wie Mogontiacnm. 157

Mehrfach ist von kaiscrhchen Besuchen die Rede. Drei kaiserhche Er­ lasse sind hier unterzeichnet. Gratian, der Sohn Valentinians, wurde im Jahre 383 auf Mainzer Boden umgebracht, ein Beweis, daß die Festung trotz aller Auszeichnungen ein heißes Pflaster bheb, und noch im Jahre 411 nominierte die Besatzung einen GaUier namens Jovinus als Imperator. Kaisermord und Kaiserproklamation werden sich in den her­ gebrachten Formen vollzogen haben - historisches Gewicht kam ihnen nicht mehr zu; denn das Imperium war morsch geworden und vermochte selbst einen Platz wie Mainz nicht mehr zu schützen. Dreimal in einem halben Jahrhundert - in den Jahren 355, 368 und 406 - wurde die Festung von den Alemannen erobert, geplündert und ver­ wüstet. Nach diesen Aderlässen verfiel sie in eine müde, blutleere Lethar­ gie, aus der sie erst nach einem Heilsclilaf von jahrhundertelanger Dauer wieder erwachte. Älteste ChristengeDeutschlands?

Der Überfall des Alemannenhäuptlings Rando im Jahre 368 wurde, Ammianus Marcellinus berichtet, dadurch begünstigt, daß er an Sonntag geschah, während ein großer Teil der Bevölkerung in der Kirche weilte. Die Darstellung des Ammianus gilt als der erste Hinweis auf den Bestand einer christhchen Gemeinde in Mainz. Wie alt sie damals bereits war, ist unbekannt. Doch läßt sich mit eini­ gem Recht vermuten, daß sie eine der ältesten, wenn nicht gar die älteste in Deutschland war; denn vermuthch gelangten die ersten Chri­ sten mit jener Legion nach Mainz, die nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. von Palästina an den Rliein versetzt wurde. Ihre Vorstellungen schlugen vor allem in den Vorstädten Wurzel, in der Gegend des Hafens insbesondere, wo die Arbeiter und Kleinhändler ihr armseUges Leben und ihr bedrängtes Herz der neuen Botschaft am bereitwilhgsten öfBieten und hernach der Sauerteig der mähhch fort­ schreitenden Christianisierung wurden. Die ersten christUchen Grabsteine in Mainz stammen allerdings erst aus der Mitte des 4. Jahrhunderts, als die Lehre Jesu durch das Mailänder Edikt Konstantins im Jahre 313 offizielle Anerkennung erfahren hatte. Sie wurden zum überwiegenden Teil unter der Kirche St. Albans ge­ funden, der nach der Legende in Mainz den Märtyrertod erhtt. Ihrer Zahl nach muß in Mainz eine recht stattliche Christengemeinde bestanden haben. Das lassen auch die Briefe des HciUgen Hieronymus erkennen, in denen davon die Rede ist, daß bei der Eroberung der Stadt im Jahre 407 abermals « viele Tausend Menschen in der Kirche erschlagen 158

wurden ». Das mag ein wenig übertrieben sein, mit Sicherheit aber kann man sagen, daß Mainz Hauptort des christlichen Lebens am Mittelrhein und seit Mitte des 4. Jahrhunderts Bischofssitz war. Wir wissen heute, wie sehr es gerade diesen frühchristlichen Gemeinden zu danken ist, daß wenigstens ein Teil der römischen Traditionen über die dunklen Jahrhunderte bis zur Aufkunft der Karolinger weitergegeben wurde. So fand die viel geschundene, mehrfach eroberte und oftmals niedergebrannte Stadt als eine der ersten Anscliluß an die neue Stadtkultur des frühen Mittelalters. Das Römische blieb nicht nur ein Teil ihres Wesens, sondern auch ihres Besitzes. Karl der Große soll auf den Pfeilern der alten Römerbrücke einen neuen Rheinübergang geschaffen haben. Die Weinberge, die in römischer Zeit angelegt wurden, bestehen heute noch. Zahlreiche mittelalterliche Urkunden weisen auf römische Bauten hin. Die Ritter von Ageduch, deren Geschlecht im 14. Jahrhundert erlosch, lebten in der Nähe des alten Aquäduktes und fülirten dessen lateinische Bezeiclmung in verbalhomisierter Form in ihrem Namen weiter. Was unseren luftigen Aussichtsturm über Mainz, den alten Drusus- Mahnmal des stein, betrifft, er wurde im Mittelalter auf den Namen «Eygelstein» Unabänder­ lichen getauft, da sein oberer Abschluß an eine Eichel erinnerte. Diese Bedachung scheint erst während einer Fehde mit dem Markgrafen Albrecht Alcibiades von Kulmbach im Jahre 1552 abgetragen worden zu sein. Jeden­ falls heißt es bei einem Chronisten jener Zeit: «Es wurde auch da als angefangen oben die spitz abzubrechen, der meinung denselben genczlich zu ruinieren, und damit solch dem Feind nit zum Vortheil wäre, biss auff die Erd zu schleifen...» Da der Kulmbacher bald wieder abzog, wurde der Plan erfreulicher­ weise nur zum geringeren Teil durchgeführt. Seither hat man den Turm nicht wieder angetastet, obwohl man mit dem ungefügen, formlosen Mauerwerk nie so recht etwas anzufangen wußte. Mehr als 1900 Jahre sind an seinem zerklüfteten Gestein nun schon vorübergerauscht. Der Drususturm hat in dieser Zeit viel Leid, viel Krieg, viel Blut gesehen. Große Ereignisse, merkwürdige Schicksale, erstaunliche Dinge haben sich zu seinen Füßen begeben. Die Erde, die ihn trägt, die Stadt, zu der er gehört, beide haben sich unaufhörhch gewandelt, wie sie sich weiter wandeln werden. Nicht zuletzt dank der Erfindung, die eben dieses Mainz der Welt schenkte: 159

die Buchdruckerkunst, die für alle Zeiten das Samenkorn der Unruhe in die Herzen der Menschen pflanzte. Der Drususstein ist geblieben, was er von Anbeginn war - ein Mahn­ mal des Unabänderhchen. Gebieterisch in seiner Ruhe, stark in seinem Schweigen, mächtig noch als Torso.

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Links: Kaiser Doinitiaii (81-96 n.Chr.) bekriegte die Chatten, eroberte die Wetteran und legte den Grundstein zum Limes. - Rechts: Kaiser Trajan (98-117 n. Chr.) empfing als Legat in Köln die Nachricht vom Tod seines Adoptivvaters Nerva (96-98). Das Imperium erreichte unter ihm seine größte Ausdehnung. In Deutsch­ land stellte er die Verbindung zwischen der Germania Superior und der Provinz Ractien her.

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Links: Kaiser Hadrian (117-138 n. Chr.) inspizierte 121 n.Chr. den Limes und ließ ihn durch den Bau einer durchlaufenden Palisade verstärken. - Rechts: Kaiser Anto­ nius Pius (138-161 n. Chr.) schuf die Endform des Limes mit Wall, Graben und Palisade. (Fotos: Archiv Garzanti)

Modell des Kohorteii-Kastells Osterburken mit dem trapezförmigen Anbau des Numerus-Kastells. (Foto: Köinisc'h-Gcrmanisciics Zentralmiiscuin)

Mauerzüge des Kastells Pfunz, mitten in einem Getreidefeld.

(Foto: Verfasser)

Siebentes Kapitel DIE TEU FELSM A U ER W A R N U R M EN SC H EN W ER K Die zwei Gesichter des römischen Limes Ein Pfarrer, ein Faß Bier und ein Götzenbild* «An einem solchen merk-würdigen Ort»• Musterkastell mit 16 Türmen* Unter den Schwingen des Mommsenschen Genius * Das domitianische System * «Bis hierher und nicht weiter!» • Das Ende des Limes *Frauen, Kinder, Gascogner und Brittonen * Liebe am Limes *Die Grenzwall-Promenade *Der Bismarckturm aus Römer­ steinen * Von der Lagerschenke zur Snack-Bar *Die Paradefestung und die Spielbank *Der Fluch im Andachtshuch* «Konservierte» Kastelle *Eine Gasconade aus Osterburken In der Regel sind es nur wenige Reisende, die in Osterburken im badischen Frankenland den Schnellzug verlassen, und die meisten von ihnen woUen nichts weiter, als über diesen Eisenbahnknotenpunkt und Verschiebebahnhof ihren Anscliluß nach Mannheim oder Heidelberg, Stuttgart oder Würzburg erreichen. Wer sich dennoch die Zeit nimmt, dem Städtchen einige Stunden zu schenken, wird seinen Aufenthalt als unerwarteten Gewinn ver­ buchen. Osterburken - bUtzsauber im Tal der Kimau gelegen, die ihre Wasser über Jagst und Neckar dem Rhein zuführt - zählt zwar nur 2600 Seelen, macht aber einen akkuraten Eindruck und «weiß sich gut zu verkaufen ». Die Eisenbahn, etwas Industrie und neuerdings der Fremdenverkehr schaffen die materiellen Grundlagen eines wohltemperierten Lebens. Und die Leute selbst sind von jener «lebhaft-umtriebigen» Agilität, die hierzulande - man wird noch hören, warum - offenbar aus dem Boden quillt, geschäftstüchtig und hebenswert zugleich und, wie die vielen Gasthäuser mit dazugehörender Metzgerei beweisen, einem guten Tropfen ebenso aufgesclJossen wie einem saftigen Kalbsnierenbraten. Außerdem verfügt Osterburken über zwei Trümpfe besonderer Art: das «Römerkastell» und den «Mithrasstein». 11 Pörtner

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Das Römerkastell, als Wandbild bereits in der Bahnhofsvorhalle den Fremden grüßend, gehört zu den größten und besterhaltenen am ganzen Limes. Der Mithrasstein ist, zum großen Kummer des Bürger­ meisters, zwar nach Karlsruhe verschleppt, doch hält eine originalgroße Fotografie im städtischen Sitzungssaal die Erinnerung an ihn und die merkwürdigen Umstände wach, unter denen er vor 100 Jahren aus der Osterburkener Erde geborgen wurde. E in Pfarrer, ein Faß Bier Götzenbild

Im Frühjalir 1861, so weiß die Chronik der Stadt, verfaßt von dem fi-üheren Pfarrer Johannes Gebert, zu berichten, stießen Arbeiter beim Abbruch eines Vorratsschuppens tief im Erdreich auf einen kunstgereclit behauenen Stein - 1,70 Meter im Quadrat und gut 20 Zentimeter dick. Da das Ungetüm allen Bemühungen um Fortbewegung widerstand, begannen sie ihm mit Spalteisen und schweren Hämmern zu­ zusetzen. Das beobachtete der damalige Pfarrverweser Wenz, der in seiner Freizeit mit Leidenschaft den Spaten des Archäologen führte. Er stieg kurzentschlossen in die Baugrube, stellte fest, daß es sich um einen Reliefstein handelte, der auf der sorgfältig mit Sand unterbetteten Bildfläche lag, und versprach den Arbeitern eilends ein Faß Bier, wenn sie das Monument unversehrt zu Tage brächten. Sein Versprechen mußte er noch am gleichen Abend einlösen. Er tat es gern; war er sich über die Bedeutung des Steines auch nicht restlos klar, so ahnte er doch, daß er einen ganz großen Fund getan hatte. Er stellte ilin vorerst im Pfarrhaus sicher, wo ihm bald reges öffentliches Interesse zuteil wurde. Von weither strömten die Besucher herbei, um angesichts des mysteriösen «Götzenbildes» fromme und erregte Schauer zu empfinden. Das Relief ist in der Tat von einem starken dramatischen Atem erfüllt. Die Mittelpunktszene im bogenförmig abgeschlossenen Haupt­ feld zeigt, wie Mithras den Stier zur Strecke bringt, dessen Tod alles Leben auf Erden hervorrief. Indem der Gott dem Urtier mit der Linken in die Nüstern greift, stößt er ihm mit der Rechten das Messer tief zwischen die Schulterblätter. Um das bewegte Mittelfeld gruppiert sich eine Fülle von Einzeldarstellungen, die das Osterburkener Relief zu einem religionsgescliichtlich äußerst interessanten Altarbild maclien. Jedenfalls gibt es nur wenige Werke seiner Art, in denen so viele Figuren und Legenden des Mithras-Glaubens sowie persischer, grie­ chischer und chaldäischer Mythen versinnbildlicht sind. 162

Es war ein außerordentlicher Fund, wenn auch nicht der erste dieser « A n einem Art. Die Erfahrung hatte bereits gelehrt, daß die Osterburkener Erde solchen merk­ würdigen viele Schätze barg. Der Chronist der Stadt berichtet zum Beispiel O rt» von einer Mitbürgerin namens Pauline Höhnlein, die noch in ihren alten Tagen gern erzälilte, «wie sie als junges Mädchen beim Hacken der Feldfrüchte einen römischen Ring fand, ilin Bürgermeister Hofmann brachte und dafür 10 Mark erhielt». Wo gebaut wurde, kamen römische Schmuckstücke, Münzen oder Scherben zum Vorschein, und beim Pflügen konnte es geschehen, daß die Pferde plötzlich einbrachen und bis zum Bauch in einem alten «HeidenkeUer» verschwanden. Ebenso war der Verlauf des von zahl­ reichen Sagen umkreisten Limes, des «Römerpfads», wie man ihn nannte, bekannt. Schon 1768 hatte der Limesforscher Hansseimann in seinem Buch über die «Teufelsmauer» auf die Überreste der römischen Befestigungs­ anlagen von Osterburken hingewiesen. «Wollte man alldorten», so schrieb er, «durch Nachgrabungen Untersuchungen machen, so könnten sich noch, allem Ansehen nach, an einem solchen merkwürdigen O rt... rare Stücke zur Erläuterung der Geschichte hervor thun. Der «merkwürdige O rt», um den es ihm besonders ging, war der zur Pfarrpfründe gehörige Hageracker, der von einer Mauer - der alten LagerumWallung, wie man später feststellte - umgeben war. Hansseimanns Bemerkung fand aber kein Echo. Noch im Jahre 1812 wurden, wie aus einer alten Rechnung hervorgeht, gerade am soge­ nannten Hageracker «mehr als 30 Fuhren Mauersteine von einem alten unterirdischen Gemäuer und eine ganze Strecke in Kalk dicht neben­ einandergelegter 4 bis 5 Schuh langer und 1% Schuh dicker, vierkantiger Tauchsteine ausgegraben und dadurch ein ganzer Hügel dieses Ackers, wo es immer an Erde mangelte, zum fruchtbaren Boden umgeschaffen, so daß in der 1812er Ernte die schönste Frucht auf dem Platze stand». Erst in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts begann man sich ernstlich «für die im Boden enthaltenen Altertümer» zu interessieren. Römische Ziegel, die beim Torfstechen ans Tageslicht kamen, führten den Pfarrer Karl Wilhelm! aus Sinsheim erneut auf die Spur, die schon Hansseimann gewiesen hatte. Er grub 1838 kleinere zusammen­ hängende Mauerzüge des Kastells aus, fand auch etliche Münzen und Waffen - mehr aber nicht. Die Gesamtanlage des Lagers zu erkunden, mangelte es ihm nicht nur an den Mitteln, sondern auch an Zeit und Erfahrung. 163

Was in den nächsten 50 Jahren im Bereich des Osterburkener Kastells sich abspielte, wird von den Kennern der Lokalgeschichte als archäo­ logische Freibeuterei und «gleichsam kalifornische GoldgräberWirt­ schaft» bezeichnet. Wie die Wühlmäuse stürzten sich zahlreiche Alter­ tumsfreunde - oder solche, die Vorgaben, es zu sein - auf die Reste der «Römerburg », gruben eifrig drauflos, zerstörten vieles und ließen noch mehr verschwinden. Man war deshalb froh, als 1867 der Mannheimer Altertumsverein beträchtliche Geldmittel zur Erforschung des Osterburkener Kastells zur Verfügung stellte. Den neuerlichen Grabungen war wieder eine Fülle wertvoller Fundstücke zu danken, die im Mannheimer Museum pfleghche Unterkunft fanden, das Kastellgebäude selbst blieb seinem Schicksal überlassen. «Die aufgeworfenen Gräben», heißt es in der Gebertschen Orts­ chronik, «wurden eingeebnet, das bloßgelegte Mauerwerk stürzte ein, und aus den benachbarten steinigen Äckern wurden Abraummassen auf die alten Steinhalden gehäuft, die den Lauf der ehemahgen Kastell­ mauer andeuteten...» Endhch, im Sommer des Jahres 1892, nahm sich die Wissenschaft des Kastells und des römischen Grenzwalles an, der 5,5 Kilometer lang die Gemarkung Osterburken durchschnitt. «Ältere Leute erinnern sich heute noch gut, wie eines Tages die Streckenkommissare im Städtchen erschienen und mit Plänen, Stangen und Feldstechern ein ,so Erzgetue* anfingen.» Professor Dr. Karl Schumacher, später Direktor des RömischGermanischen Zentrahnuseums in Mainz, leitete die Arbeiten; Bürger­ meister, Lelirer, Bahnbeamte halfen, wo sie konnten, und viele Oster­ burkener verdingten sich als Arbeiter. Der Tagelohn betrug 2 Mark. «Für besondere Funde, wie terra sigillata, Waffenstücke und Inschriften, setzte Professor Schumacher eine Prämie von 10 Pfennigen aus.» Er war auch sonst nicht knauserig und griff häufig in die eigene Tasche, um seinen Leuten einen Schoppen zu spendieren. Allerdings ging ihm die Arbeit, wie man in Osterburken noch weiß, nie schnell genug voran. So gab es viel Schweiß und Schwielen, bis die riesigen Steinmassen weggeräumt waren, «die die Jahrhunderte über dem römischen Urgemäuer angehäuft hatten. Um einen Turm des unteren Lagers an der Hahnenklinge und das Flankentor des Anbaues freizulegen», mußten beispielsweise 96 Wagen Steine abgefahren werden. 164

Diesmal lohnte der Erfolg die Mühe. Das Kastell wurde in seiner Musterkastell ganzen Größe freigelegt. Genauer gesagt: beide Kastelle; denn es erwies 16 Türmen sich, daß die ursprüngliche Anlage später durch eine zweite ergänzt worden war, die trapezförmig an die erste sich anlehnte - ein Kuriosum in der Geschichte des Limes. Das ältere Kastell entsprach dem Schema, das für die römischen Feldund Standlager nahezu ein Jahrtausend verbindHch war. Das obUgate Rechteck war 186 Meter lang, 115 Meter breit und von einer 4 Meter liohen Mauer umgeben. Davor lag ein 7 Meter breiter, 2,5 Meter tiefer Graben, dahinter, auf der Innenseite, der durch Erdanschüttung gebildete Wallgang. Die Mitte des Kastells nahm das Praetorium ein, das freilich nur unzulänglich erforscht werden konnte, da es bereits überbaut war. Immerhin war festzusteUen, daß selbst ein kleines Kohortenkastell sich einen recht umfänglichen Bau leistete. Freigelegt wurden nur das kapeUenartige Lagerheiligtum und darunter ein Kellergelaß - die Schatzkammer des Lagers, die auch hier in einer engen Symbiose mit dem Allerheiligsten ihr verborgenes und wohlgesichertes Dasein führte. Um das Praetorium gruppierten sich, genau wie in Neuß oder Mainz, die Mannschaftskasernen, Ställe, Waffenkammern, Vorratsräume - durchweg Lehmfachwerkgebäude, von denen nur spärhche Spuren gefunden wurden. Die Mauer des Kastells trug sechzelin Türme; je zwei an den vier Toren, je einen an den abgerundeten Ecken der Lagerumwallung, sowie auf dem Stück zwischen Tor und Eckturm, - sehr sohde, kraftvolle und mit ballistischen Geräten bestückte Werke. Erbaut wurde das Kastell unter Antoninus Pius um die Mitte des 2. Jahrhunderts von einer Pionierabteilung der Mainzer «Zweiund­ zwanzigsten», wobei die in Osterburken stationierte 3. Aquitanische Kohorte die notwendigen Hilfsarbeiten leistete. Diese durch Votivsteine und Bauinschriften nachgewiesene Truppe bestand aus 120 Reitern und 380 Fußsoldaten und war an den Ufern der Garonne zu Hause. Das jüngere Kastell entstand etwa 25 Jahre später unter Kaiser Commodus. Diesmal führte eine Bauabteilung der Straßburger «Achten» das Kommando. Der Stein, den sie nach Abschluß der Arbeit dem Mauerwerk emfügte, wurde bereits 1718 «in agro versus Wemmersbach inter arandum » - in einem Acker gegen Wemmersbach beim Pflügen gefunden, wie aus einer Eintragung im Pfarrbuch hervorgeht. 165

Das Original des Steines ging später verloren, ein Abguß findet sich im südlichen Teil des erhaltenen Mauerwerks. Er trägt die Inschrift: LEG VIII AUG. P. F. C. A. S. F. Das heißt: «Legio VIII Augusta pia fidelis Commoda a sola fecit» - «Die achte kaiserliche, brave und treue Legion des Commodus hat dies von Grund auf errichtet». Die neue Anlage erklomm den Steilhang an der rechten Längsseite des alten Lagers, beseitigte also eine Gefahr, die von der «bedenklich überragenden» Höhe drohte. Größere Gebäude hat das neue Kastell, das mit seinen drei Toren, zehn Türmen und seiner luftigen Lage bereits einer Burganlage des Mittelalters ähnelte, offenbar nicht enthalten. Doch fand sich eine 1,40 Meter tiefe Grube von 7 Meter Seitenlänge, die Spuren menschlicher Behausung aufwies. Eine Wohngrube also ? In der Tat spricht vieles für diese Vermutung. Zumindest weiß man, daß in dem jüngeren Lager eine brittonische Hilfstruppe lag, und es ist durchaus möglich, daß die mittelenglischen Auxilien iliren heimischen Gebräuchen treu blieben und «in unter­ irdischen Wohngruben, die mit Reisig, Stroh oder Pferdemist abgedeckt waren», hausten. Das Doppelkastell bestand etwa 60 Jahre, als es von den Alemannen erstürmt wurde. «Die teilweise zugemauerten Tore, die verrammelten Torwege, die vom Feuer geröteten Mauern und die Vorgefundenen Massen von Brandtschutt deuten auf eine schwere Belagerung und hart­ näckige Verteidigung » hin. Ein besonders erbitterter Kampf muß am oberen Wallgraben getobt haben, der zahlreiche Skelette erschlagener Germanen barg. Vielen waren bei dem Versuch, die zinnengekrönten Mauern zu erklettern, die Hände abgeschlagen - das römische Kurz­ schwert hatte hier ganze Arbeit geleistet. Die Belagerer werden vorwiegend mit Lanzen sowie Pfeil und Bogen ausgerüstet gewesen sein. Die aus dem Trümmerschutt geborgenen Pfeilspitzen waren vielfach beim Aufprall umgebogen, die Lanzenspitzen plattgedrückt. Am Ende muß es zu einem blutigen Kampf Mann gegen Mann gekommen sein, bei dem auf beiden Seiten kein Pardon gegeben wurde. Die Übermacht der Alemannen siegte. Das Lager ging in Flammen auf, wurde zerstört und ausgeraubt. 166

Viel mehr als Waffen werden die alemannischen Krieger freilich nicht heimgebracht haben, denn ihren Besitz an harter Münze hatten die Verteidiger vorher zum größten Teil vergraben - zum Nutzen der Nachwelt, die aus üinen das Jahr derEroberung in etwa bestimmen konnte. Die jüngsten der mehr als 300 sichergestellten Geldstücke aus Oster­ burken trugen das Siegel Trebonians, der bis 254 regierte. Ein oder zwei Jahre später wird das Kastell verlorengegangen sein. Nicht nur in Osterburken wurde in den neunziger Jahren gegraben. Deutschland war damals der Schauplatz einer einmaligen archäo­ logischen Unternehmung: der Erforschung des römischen Limes, der über 550 Küometer vom Rhein zur Donau zog. Der Initiator des Unternehmens war der alte Theodor Mommsen, eine Autorität von höchstem Rang, dessen «Römische Geschichte» bis heute zu den Standardwerken der historischen Wissenschaft gehört. Allerdings bedurfte es nicht nur seines mythischen Rufs, sondern auch seiner ganzen Hartnäckigkeit, ja, seines vielzitierten Eigensinns, um dem Reichstag die notwendigen Mittel abzutrotzen. Dann aber wurde der große Plan mit echt deutscher Gründlichkeit verwirklicht, getragen von einem immensen Interesse der Öffentlichkeit, deren Chor von der Stimme Kaiser Wilhelms II. unüberhörbar angeführt wurde. Federführend war die Reichs-Limeskommission. Als Haupt dieser Kommission waltete, unter den Schwingen des Mommsenschen Genius, der Geheime Hofrat Zangemeister seines Amtes. Als «archäologischer Dirigent» und Chef der Geländearbeit zeichnete Felix Hettner, der Direktor des Trierer Museums, verantworthch. Als «Streckenkommissare», denen die praktische Arbeit im Gelände unterstand, fungierten teils verdiente Museumsleiter, wie Jacobi, Lelmer oder der in Osterburken tätige Prof. Schumacher, teils anerkannte Historiker, wie Loeschke und Fabricius, zum guten Teil aber auch die Matadoren der lokalen Altertumsvereine, wie der Kreisrichter a. D. Conrady, der Apotheker Kohl, der Generalmajor a. D. Popp oder der Geheime Oberschulrat Soldau. Zehn Jahre dauerte die Arbeit. Sie hat später manche Kritik erfaliren - zum Ted mit Recht. Gewiß sind voredige Schlüsse gezogen worden, gewiß waren nicht ade Mitarbeiter ihrer Aufgabe gewachsen, und fraglos ließen die Mittel und Methoden der damaligen Archäologie noch viele Wünsche offen. 167

Unter den Schwingen des Momm­ senschen Genius

Trotzdem: als die Grabungen 1902 vorläufig ein Ende fanden, lag eine bis ins Detail gehende Bestandsaufnahme der Limesanlagen vor. Rund 100 Kastelle w^aren freigelegt und erforscht, fast 1000 Wachtürme entdeckt und erkundet. Zum ersten Mal hatte man eine Vorstellung vom Aufbau der Lagervorstädte gewonnen. Auch war ein nahezu unübersehbares Fundmaterial eingebracht. Aber nicht nur das. Die Aufgabe, die verschiedenen Anlagen, denen man im Laufe eines Jahrzehnts auf die Spur gekommen war, richtig einzuordnen, war glänzend gelöst worden. «Niemals vielleicht», heißt es bei einem so kritischen Kopf wie Friedrich Koepp, «hat die Bodenforschung der Geschichtsforschung bessere Dienste geleistet als liier - es sei denn auf dem vorgeschichtlichen Gebiet, auf dem ja fast alle historische Erkenntnis der Archäologie verdankt wird. Hier jedenfalls hat sie nicht nur das Nacheinander beobachtet, das aus dem Übereinander sich ergibt, sondern sie hat auch das Nebeneinander aufgelöst und zu einem Nacheinander geordnet.» Kurzum, die Geschichte des Limes lag nach zehn Jahren nahezu offen da. Seine Entstehung, sein allmählicher Ausbau, seine miUtärische und zivilisatorische Rolle, das Dunkel der römisch-germanischen Grenz­ verhältnisse war weitgehend aufgehellt. Begreiflicherweise entstand daher der Wunsch, «daß eine vereinigende Instanz, wie es die Limes-Kommission gewesen war, dauernd da sein müsse, um die ganze deutsche Forschung auf sicherer Bahn und in gutem Gang zu halten ». Damit sclilug die Geburtsstunde des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches in Frankfurt, aus dem später die heute noch bestehende Römisch-Germanische Kommission hervorging. Dasdomitianische System

Was heißt überhaupt Limes? Das Wort bedeutet ursprünglich soviel Weg, Sclmeise, Feldflur, auch Besitzgrenze. Das Heer bezeichnete damit «zunächst jede offene Bahn, die eine Bewegung von Truppen gestattete», dann wurde es der terminus technicus für die von den Operationsbasen aus vorgetriebenen Straßen, wie sie etwa von Vetcra hppeaufwärts in Richtung Weser oder von Mainz mainaufwärts ins Hessische führten. Beide stützten sich auf eine große Legionsfestung am Rhein und hielten sich, auch das ist kennzeiclinend, an Flußläufe und damit wahr­ scheinlich an vorrömische Wege. Diese Straßen wurden schon in der augusteisch-tiberischen Zeit in Abständen von 10 bis 20 Kilometer durch Erdkastelle gesichert, die mit Hilfstruppen belegt wurden. 168

In diesem Sinne nennt Vellejus die Marsch- und Nachschubwege des Tiberius «limites». In der Bedeutung «Reichsgrenze» taucht das Wort erstmahg bei Tacitus auf, und zwar umschließt es bei ihm auch «deren rückwärtige Organisation, Truppenlager, Verbindungswege, Acker­ fluren, die zum Unterhalt der Grenztruppen dienen» - kurzum die gesamte Grenzmark. Wie kam es zu dieser Erweiterung des LimesbegrifFs ? Die Dinge änderten sich, als nach dem Tod des Tiberius eine neue Epoche wenn auch begrenzter Expansion begann. Nach kleineren Vor­ stößen unter Claudius und Vespasian war es vor allem der Chattenkrieg des Domitian, der den Grundstein für die imponierende Mihtärgrenze legte, die als römischer Limes in die Geschichtsbücher einging. Die Chatten, alte Widersacher der Cherusker und nach dem Tod des Arminius zu neuer Macht gelangt, erscheinen in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts als das drängendste, kraftvollste und unruhigste Volk des germanischen Bimienlandes. Ihre kriegerische Tüchtigkeit und Besonnenheit, ihre geschickte Taktik und «fast römische Kampfweise» haben in Tacitus den bestbeleumundeten Kronzeugen gefunden. Dementsprechend machten sie den Römern mehr zu schaffen, als diesen lieb war. Dem Domitian kann also ein gewisses Verständnis dafür nicht versagt werden, daß er die Nachricht über neue Bereit­ stellungen der Chatten mit dem Entschluß quittierte, der Bedrohung zuvorzukommen und seinerseits die Feindseligkeiten zu eröffnen. Um die Chatten zu täuschen, begab er sich auf eine galhsche Reise, ehe er im Jahre 83 überfallartig mit fünf Legionen, einer Prätorianerkohorte und zahlreichen Auxiliarverbänden von Mainz aus in das Gebiet des Feindes einbrach. Dieser Chattenkrieg des Domitian hat nie eine gute Presse gehabt, am wenigsten bei den römischen Geschichtsschreibern, die nach dem gewaltsamen Ende des verhaßten Imperators alles taten, seine Leistungen herabzusetzen. So soll er bei dem Triumphzug, mit dem er bereits im Jahre 84 sich als Sieger des Chattenkrieges feiern ließ, gekaufte «Gefangene» mit künstlich erblondetem Haar mitgefülirt haben. Die Zeitgenossen be­ haupten auch, der Krieg sei um diese Zeit noch gar nicht beendet gewesen, und der Kaiser habe sicli darauf beschränkt, in der Etappe ein ausschweifendes Leben zu füliren; auf dem Kriegsschauplatz sei er allenfalls in einer Sänfte aufgetaucht. Dieses unfreundliche Bild hat die mit der großen Grabungskampagne 169

einsetzende Limesforschung in wesentlichen Zügen korrigiert. Daß der mißtrauische, bösartige und von moralischen Skrupeln keineswegs geplagte Kaiser auch im Chattenkrieg - nach Mommsen - «stumpf für die Forderungen der müitärischen Ehre » war, ändert nämlich nichts an der Tatsache, daß er das Richtige tat und den Krieg zu einem erfolg­ reichen Ende führte. Ohne große Schlachten drang er systematisch bis weit in die Wetterau vor, immer darauf bedacht, das eroberte Land durch neue Straßen und Kastelle abzusichem. Von diesen Kastellen ließ er Wege zu kleineren Erdverschanzungen bauen, die, etwa 80 mal 80 Meter groß, im Durch­ schnitt mit 100 Mann belegt wurden; Spuren eines solchen Miniatur­ kastells domitianischer Prägung fmden sich noch in der Saalburg. Diesen Römerschanzen vorgelagert waren hölzerne Wachttürme, «getragen von vier mächtigen Pfosten, deren Spuren einst dem ,Pfostenloch‘ in der deutschen Spatenforschung zu einem unerwarteten Siegeszug verholfen haben ». Diese Türme wieder wurden durch einen Postenweg verbunden, eine Grenzstraße, wenn man so wül - einen «limes». «Man kann sich danach leicht vorstellen», heißt es bei Fabricius, «wie der Dienst organisiert war: in Moguntiacum die Legion als Haupt­ macht für den Kriegsfall, bei dem alles auf rasche und energische Offen­ sive ankam, jenseits des RJieins in den zurückgelegenen großen Kastellen die Auxiliarkohorten und Alen, und in den Grenzkastellen vorge­ schobene Abteüungen der Auxüien, die, den Feldwachen vergleichbar, den Wachdienst am Limes selbst besorgten. » Ein fest geknüpftes Netzwerk also, in dem jede feindliche Aktion sich mit Notwendigkeit verfangen mußte. Domitians Tätigkeit erstreckte sich aber nicht nur auf das Chattenland, er schob auch weiter südlich, zwischen Odenwald und oberem Neckar, die Grenzen des Imperiums über den Rhein vor. Bereits unter Vespasian, in den Jahren 73 und 74, hatte der Legat Pinarius Clemens, dem Tal der Kinzig folgend, sich durch den unweg­ samen Schwarzwald bis zum Oberlauf des Neckar geschlagen. Dort waren die Ara Flaviae, das heutige Rottweil, und das auf der Anmarsch­ linie liegende Kastell Waldmössingen entstanden. Unter Domitian wurde nun auch hier eine feste Grenzschutzlinie gezogen, die sich auf die Kastelle Burladingen - Gomadingen - Domstetten und Urspring stützte. Außerdem erklärte der Kaiser den verödeten Landstrich zwischen Oberrhein und Oberdonau, das sogenannte Dekumatenland, zur Kaiserlichen Domäne und gab es zur Besiedlung durch Gallier frei. 170

Hierauf weist die berühmte Stelle des Tacitus hin, der die Bevölkerung des «Zehntlandes» ausdrücklich von den germanischen Stämmen aus­ nimmt: «Allerlei Leute aus Gallien, von der Not kühn gemacht, eigneten sich in diesem Land des zweifelhaften Besitzes Grund und Boden an. Seit nun der Grenzwall angelegt ist und die Besatzungen weiter vor­ geschoben sind, wird das Gebiet als Vorland unseres Reiches und als Teil unserer Provinz erachtet.» Von kleineren Variationen abgesehen, wurde das in der Wetterau erprobte domitianische System auch auf die Anlage des Alblimes über­ tragen. Nach den gleichen Prinzipien verfuhr Kaiser Trajan, der das Befestigungswerk Domitians methodisch ausbaute. Auf Trajan geht die Odenwaldlinie zurück, die das «Loch» zwischen Main und Neckar - von Wörth bis Wimpfen - durch eine Kette kleinerer Erdkastelle absicherte, (die vielen Limeswanderern bekannte Wald­ gaststätte Hainhaus im Odenwald hat sich hinter die heute noch sicht­ baren Erd wälle einer solchen Anlage verkrochen). Zwischen Wimpfen und Köngen wurde der trajanische Limes an den Mittellauf des Neckars an­ gelehnt. Damit war die Verbindung zwischen den rechtsrheinischen Gebie­ ten der Germania superior und dem Land an der oberen Donau hergestellt. Gleichzeitig rückte Trajan die Grenze von Raetien über die Donau nach Norden vor, wo sie bei Gunzenhausen ihren Scheitelpunkt er­ reichte. Außerdem baute er von Wasserburg am Inn über Pfünz und Kösching eine Straße bis zum Donauübergang bei Eining, die von hier stromabwärts weit über das Eiserne Tor hinaus ins damalige Dakien führte. Mit Recht konnte der Historiker Aurelius Victor damals schreiben: «Es ist ein Weg mitten durch wilde Völkerschaften gebahnt, auf dem man leicht vom Schwarzen Meere nach Gallien gelangt». Ziel aller Anstrengungen war, wie Kornemann es formuliert, «die neu okkupierten Länder in solcher Weise an den Stamm des Reiches anzugliedern, daß eine wirksame Verteidigung gegenüber plötzhehen Angriffen ermöglicht und andererseits die Basis für weitere Expansion vorhanden war ». Die Anlagen waren also vom Geist der Offensive beherrscht, sie hatten eindeutig militärischen Charakter - daher auch die geschickte Anpassung an das Gelände und die Anlelinung an Flußläufe. Diese Struktur erfuhr unter der Regierung Hadrians eine tiefgreifende «Bis hierher Wandlung. Kaiser Hadrian war kein Scheusal wie Domitian, kein Heldenkaiser wie Trajan, sondern ein Imperator der Vernunft, ein 171

Rationalist reinsten Wassers, unstet zwar, doch klar und konsequent in jeder seiner Äußerungen. Durchdrungen von der zivilisatorischen Sendung des Reiches, er­ strebte er einen langwährenden Frieden, glaubte er, ohne das WafFenhandwerk zu verachten, an die Kraft des guten Wortes, selbst dem Feinde gegenüber. So versuchte er, die schwierigen Grenzprobleme durch geschicktes Verhandeln und beschwichtigendes Auspendeln der Lage zu lösen, mit dem Erfolg, daß er dem Imperium zwei Jahrzehnte höchst­ möglichen Glücks bescherte und ihm gleichzeitig die erste Hypothek des Verfalls auf bürdete. Auch am obergermanischen und rätischen Limes wurde damals auf Defensive geschaltet. Eine lineare Verteidigungsorganisation an der Grenze ersetzte das tiefgestaffelte System des Domitian. Die römischen Hilfs­ truppen aus dem Hinterland wurden nach vorn verlegt und in befestigten Kohortenlagern untergebracht. Das kleine Erdkastell der Saalburg zum Beispiel wurde in dieser Zeit auf 221 mal 147 Meter vergrößert und durch einen Holzwall, 15 Jahre später durch eine Holz-Stein-Mauer befestigt. Am Limes selbst tauchten die ersten steinernen Wachtürme auf. Außerdem entstand nun eine durchlaufende mechanische Grenzsperre, und zwar in Gestalt jener festen Holzpahsade, die von den Biographen des Kaisers immer wieder erwälint wird. Die «Scriptores Historiae Augustae» beschreiben sie folgendermaßen: «Um diese Zeit (vermutUch 121/122, als Hadrian den germanischen Provinzen einen Besuch abstattete) ließ er in zahlreichen Landschaften, in denen die Barbaren nicht durch Flüsse, sondern durch Grenzwälle von uns gescliieden waren, mächtige Baumstämme als einen mauer­ artigen Zaun tief in den Erdboden einrammen und miteinander ver­ binden und errichtete so eme Scheide zwischen uns und den Barbaren. » Dieser neue Limes wurde unter völliger Mißachtung des Geländes trassiert; militärischen Erwägungen zum Trotz zog er fortan seine Spur mit geometrischer Akkuratesse durch Sumpf und Wald, über Berge und Höhen. Typisch für diese Methode der Grenzziehung ist jene allerdings erst unter Antoninus Pius entstandene 80 Kilometer lange Strecke, die schnurgerade ohne die geringste Abweichung von Walldürn zum Haghof führte - eine einzigartige Leistung in der Geschichte der großen Wälle. Ein grundlegend anderes System also, das nach Kornemann «nicht sosehr mehr auf rückwärtige Verbindungen als auf seitwärtigen Signal­ 172

dienst ausgeht» und die Truppen «in einer langen Kordonstellung an der Grenze entlang aufreiht in einer militärisch ganz unverständhchen Weise ». Anders ausgedrückt: der Limes war zu einer «stehenden Einrichtung » geworden, die weniger der Kriegführung als vielmehr der Grenzaufsicht diente. Mit einigem Recht hat man dalier in dem hadrianischen Grenzwall eine Art symbohschen Bollwerks gesehen, das - wie die chinesische Mauer - den Feind durch ein massives «Bis hierher und nicht weiter!» beeindrucken sollte. Doch war der Kaiser Realist genug, sich nicht allein auf die Wirkung eines Symbols zu verlassen. Das Wort «Bereit sein ist alles» wurde von ihm nach allen Regeln soldatischer DiszipHn durchexerziert. Fast dauernd unterwegs, versäumte er keine Gelegenheit, die Truppe zu inspizieren, stärkere Kastelle zu bauen und der natürlichen Erschlaffung der müitärisch nicht beschäftigten Einheiten durch geeignete Maß­ nahmen entgegenzuwirken, - die enorme Baufreudigkeit der römischen Befehlshaber dürfte ja nicht zuletzt das Ergebnis einer bewußt ange­ wandten Beschäftigungstherapie gewesen sein. Auch suchte er durch neue Waffen, Verbesserung des Solds und der Versorgung sowie rechtliche Besserstellung die Truppen bei guter Laune zu halten. Ebenso geht auf Hadrian die Aufstellung der Numeri zurück, leichtbewaffneter Auxiliarverbände, die in der Hauptsache zum Wach­ dienst in bergigem und waldigem Gelände herangezogen wurden. «Es waren Truppen niedrigen Ranges, denen selbst die lateinische Dienstsprache und die römische Taktik fremd war. Sie wurden in der Provinz, in der sie ausgehoben waren, verwendet und hatten keine Aussicht auf Erlangung des Bürgerrechts. Auch waren sie an Truppen­ körper höherer Ordnung angegliedert und empfingen von diesen ihre Vorgesetzten. Hier und da treten sie als selbständige Kundschafter­ abteilungen (exploratores) auf. Der Stärke eines Numerus lag keine feste Zahl zugrunde. Sie schwankte zwischen 200 und 400 Mann.» (Wagner) Aller Aufwand änderte jedoch nichts an der Grundsignatur der hadria­ nischen Grenzorganisation. Sie war, bei aller Kraftentfaltung und Kraft­ demonstration, vom Gedanken des Verzichts auf weitere Eroberungen getragen und daher auf die Vermeidung jeglichen Übergriffs bedacht, wobei zum großen Unwillen der beschäftigungslosen Feldlierren «sogar durch Geldzahlungen der Zufriedenheit der Barbaren nachgeholfen wurde ». 173

Das Ende des Limes

Zwar traten unter seinen Nachfolgern, wie dem Großbürger Antoninus Pius oder dem Philosophenkaiser Marc Aurel, militärische Ge­ sichtspunkte wieder stärker in den Vordergrund, doch wurde der lineare Aufbau der Verteidigung beibehalten, und schon die erste große Belastungsprobe ließ sie zusammenbrechen. Die an der Donau und in Böhmen ansäßigen Markomannen ent­ larvten die ganze Fragwürdigkeit des hadrianischen Systems. Mit ihnen traten rund 25 germanische Stämme, durch Landnot gezwungen, im Jahre 162 gegen das Imperium an. Der Augenbhck war günstig gewählt. Die stärksten Legionen des Reiches standen im Kampf gegen die Parther; außerdem wütete im römischen Heer die Pest. Die Markomannen durchbrachen den rätischen Limes, eroberten und verwüsteten zahlreiche Grenzkastelle, überschritten die Donau und ver­ heerten die Provinz Raetien. Obwohl mehrfach zurückgeschlagen, wiederholten sie Jahr um Jahr ihre Beutezüge. Schließlich fielen sie in Italien selbst ein. Als sie vor Aquileja erschienen, herrschte auch in der Hauptstadt Rom Klarheit darüber, daß das Imperium in die schwerste Krise seit den Tagen Hannibals geraten war. Zum Glück für das schwer bedrohte Reich wurde es in dieser Stunde von einem Kaiser wie Marc Aurel geführt, der, bei allen philosophischen Neigungen, ein Mann der Tat und der unbedingten Pflichterfüllung war. Der Gegner wurde geschlagen. Neue Legionen drängten ihn in seine Kernlande zurück, an ihrer Spitze der Imperator selbst, der in spartanischer Einfacliheit und Strenge, hart gegen sich selbst, als Soldat unter Soldaten lebte. Während er im Feldlager von Carnuntum seine Bekenntnisse nieder­ schrieb, erwuchs ihm die Einsicht, daß ein längerer Friede nur um den Preis einer neuen Offensive zu verwirklichen sei. Noch einmal tauchte am Horizont der alte augusteische Plan der Elbgrenze auf. Bevor er jedoch Gestalt annahm, starb der Kaiser, und sein Sohn Commodus - nach Mommsen ebenso «feig und charakterlos» wie sein Vater «entschlossen und konsequent, so träge und pflichtver­ gessen wie dieser tätig und gewissenhaft» - bewies wenig Neigung, einem so fernen und ungewissen Ziel zuliebe die Strapazen des Lager­ lebens weiter auf sich zu nehmen. Der Limes wurde wiederhergestellt. Neue Kastelle, diesmal aus­ schließlich aus Stein, wuchsen aus der Asche der zerstörten. Auch die nicht betroffenen Lager erhielten nun ihre Quadermauern, Geschütz­ türme und mächtigen Torbauten. Die Strecke selbst wurde durch 174

weitere steinerne Waclitürme abgesichert, die über Leitern oder Holz­ treppen zu ersteigen waren. Das Untergeschoss diente als Vorratsraum; rings um die Plattform lief eine Galerie aus Holz, das Dach war mit Schindeln, Reisig oder Stroh gedeckt. In die Zeit des Commodus und seiner Nachfolger Severus und Caracalla fällt auch, als imponierender Abschluß, der Bau des obergerma­ nischen Pfahlgrabens und der rätischen Mauer. «Hinter der Palisade wurde in Obergermanien ein V-förmiger Graben ausgehoben und der Aushub

Die Endfonn des Limes oben: der obergermanische «Pfahl» — unten: die rätische Mauer

als Wall aufgeschüttet. Von außen kommend, hatte man also Palisade, Graben und Erdwall hintereinander zu überwinden, eine Maßnahme, welche besonders das Eindringen von Reiterhaufen in die römische Provinz erschwerte, aber auch dem Wegtreiben von Vieh eine Schranke setzte. In Rätien verfuhr man anders. Hier wurde die Palisade ausge­ rissen und durch eine steinerne Mauer ersetzt, der jedoch nicht wie der 175

Hadriansmauer in Britannien ein Spitzgraben vorgelagert war.» (Schleiermacher) Damit hatte der Limes - zu Beginn des 3. Jahrhunderts etwa - seine letzte Form gefunden. Er begann bei Rheinbrolil gegenüber dem Vinxtbach, erstieg die Vorberge des Westerwaldes, überschritt oberhalb Ems die Lahn, nahm Kurs auf den Taunus, kreiste die Wetterau ein, wandte sich südwärts und erreichte bei Großkrotzenburg den Main. Von hier bis Miltenberg bildete der Fluß die Grenze. Walldürn war der nächste große Stützpunkt des Limes, ehe er schnurgerade über Jagsthausen, Oehringen, Mainhardt und Murrhardt auf den Haghof zulief. Hier begann die rätische Mauer, die zunächst fast rechtwinklig abbog, dann in nördlicher Richtung Aalen, Buch und Halhcim passierte und von Ruffenliausen aus den Hesselberg umfaßte. An Gunzenhausen, Weißenburg und Böhmmg vorbei liielt sie schließlich auf die Donau zu, die sie unterhalb Eining bei Hienheim erreichte. Ein respektables Hindernis das Ganze, und fraglos eine gewaltige Bauleistung. Und doch nicht viel mehr als eine grandiose Geste. Denn als es ernst wurde, erwies sich bald, daß die «Teufelsmauer » nur menschhches Blendwerk war. Allerdings trugen auch gewisse strukturelle Änderungen in der Armee des Imperiums zur Schwächung der römischen Grenzverteidigung bei. Sie gingen von Kaiser Septimius Severus aus, dem in TripoUtanien geborenen Afrikaner, der besser Punisch als Lateinisch sprach. Vor leeren Kassen stehend, erhöhte er die Naturalbezüge der Soldaten. Außerdem erlaubte er ilinen, bei ihren eingeborenen Frauen im Lager­ dorf zu leben und nur zum Dienst im Lager selbst zu erscheinen, das sozusagen zum «Amtslokal der Truppe» herabsank. Einer seiner Nachfolger, der in Mainz ermordete Severus Alexander, ging noch einen Schritt weiter und stattete die Soldaten mit Land, Vieh und Ackergerät aus. «Das Ackerland vererbte sich», wie es bei einem Geschichtschreiber dieser Zeit heißt, «wie ein Lehen vom Vater auf den Sohn, wenn dieser wieder Soldat wurde. Es durfte aber nicht verkauft werden, sondern fiel bei Kinderlosigkeit des Besitzers an den Staat zurück.» Severus Alexander hoffte, die Schlagkraft der Truppe zu heben, indem er sie Haus und Hof, Weib und Kind verteidigen hieß. Aber er machte sie auch unbeweglich. Als es ernst wurde, fehlte es an einer mobilen Feldarmee, und die Milizen standen auf verlorenem Posten. 176

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Rekonstruktion eines römischen Wachturins im Butzbacher Stadtwald. (Foto: Verfasser)

Liebe am Limes. Zwei motorisierte- Pärchen haben sich auf dem rätischen Limes zu einer Rast niedergelassen. I^er Limes endete etwa 1000 Meter von hier in Hienheim an der Donau. Den Gedenkstein setzte König Max II. von Bayern vor 100 Jahren.

Grundmauern eines Gebäudes aus dem Kastell Eining an der Donau, einer der bestgepflegten römischen Anlagen in Deutschland. (Fotos: Verfasser)

Die Feldzüge des Maximinus Thrax zwischen 235 und 238 warfen die landhungrigen Alemannen noch einmal zurück. Um die Mitte des Jahrhunderts jedoch begann die mächtige Anlage unter ihren ständigen Angriffen zu zerbröckeln. Einige Kastelle scheinen freiwilhg geräumt worden zu sein, die meisten fielen nach blutiger Gegenwehr. «In dem Kastell Niederbieber», so beendete Fabricius einmal einen Vortrag über die Gescliichte des Limes, «lag unter Brandschutt auf dem Lehmestrich eines zerstörten Gebäudes ein kleiner Schatz, Schmuck­ sachen und 192 Silberstücke, der Inhalt eines Kästchens, das em römischer Soldat bei der Erstürmung des Kastells vermuthch zugleich mit seinem Leben verloren hat. An anderer Stelle fand sich ein Häuflein von 389 Denaren und Antoninianen imter den gleichartigen Spuren der Zerstörung. So ließ sich hier das Jahr der Katastrophe selbst, 259 oder 260, bestimmen. Kein zuverlässiges Zeugnis der Existenz des Limes führt über diese Zeit hinaus. » Militärisch, soviel steht demnach fest, war der Limes seit den Tagen Frauen, KittHadrians kaum mehr als eine gigantische Demonstration. Wesenthch G^co^höher ist seine zivihsatorische Bedeutung zu veranschlagen. Wie die ßrittonen kleinen Grenzkastelle ihre Abkunft von den großen Legionslagem am Rhein nicht verleugneten, so waren ihre zivilen Ableger Miniaturaus­ gaben der rheinischen Festungsvorstädte. Auch liier baute der Lager­ troß, zusammen mit der ansäßigen, meist gallo-keltischen Bevölkerung Werkstätten und Kneipendörfer, die unter dem Einfluß von Vetera­ nen und römischen Kaufleuten zu kleinstädtischen Gemeinwesen heran­ wuchsen. In diesen heß sich dann recht gut leben. Man wohnte in einstöckigen, häufig von einem Holzzaun umgebenen Fachwerkhäusern. Fleißige Familien besorgten einen Hausgarten, der ihnen Kohl und Zwiebeln, Lattisch und Rettich, Gurken und Fenchel, Kümmel und Petersihe lieferte. Blumengärten mit Rosen, Veilchen und Lüien tupften ihre bunten Farben in das gänzhch unkriegerische Bild. Das Leben selbst spielte sich, mittehneerischen Gewohnheiten ent­ sprechend, soweit wie möglich auf der Straße ab. Der Mainzer Ober­ studiendirektor Ledroit hat davon einmal ein sehr anschauhches Bild entworfen. «Da sehen wir zum Beispiel vor einem schmucken Fachwerkhäuschen einen Sutor-Schuster gar emsig bei der Arbeit. Er flickt einem fliegenden Händler seine zerrisssenen Sandalen. Vor dem Hause eines Pistor12

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Bäckers drängen sich Frauen und Kinder, von dessen schmackhaftem Gebäck zu kaufen, das eben aus dem Backofen gekommen. Bei einem Faber ferrarius - Hufschmied hält ein Lastfuhrmann mit seinem schweren Wagen, seinen Pferden neue Eisen auflegen zu lassen. » «Drüben arbeiten ein paar Fabri tignarii - Zimmerleute und Caementarii - Maurer an dem Neubau, den sich ein nächstens zur Entlassung kommender Soldat erstellt . .. er hat hier eben seine bessere Hälfte gefunden. Unter dem Vordache einer Taberne sitzen einige Aquitanier und vertrinken ihren Sold, wobei sie in der Unterhaltung prahlen und aufschneiden, daß sich die Balken biegen: es waren ja die Gascogner zu allen Zeiten als Aufschneider bekannt.» «Bescheidener sind die Brittonen, von denen einige in ihren Gärten bei ihren Häuschen arbeiten, während andere, die das Ehejoch noch nicht drückt, nachdem sie ein Bad im kleinen Ortsbade genommen, sich vor diesem sonnen. Neugierig schauen sie nach einem Tuchhändler, der seine Ballen bunten Tuches, die auf einem leichten Wagen verstaut sind, von Haus zu Haus feilbietet. Im Hofe eines anderen Häuschens ist ein Töpfer an der Arbeit... Gar emsig dreht er die Töpferscheibe, und gar aufmerksam schaut ihm die Dorfjugend z u ... » Natürlich gab es in diesen Zivilsiedlungen am Limes auch recht wohl­ habende Leute. Der Kaufmann Mercatorius Castrensis aus Osterburken zum Beispiel konnte es sich leisten, seinen Glaubensgenossen den sicher nicht billigen Mithras-Altar zu stiften. Händler oder Unternehmer seines Schlages lebten in massiven, zum Teil zweistöckigen Steinhäusern, deren Fugen rot nachgezogen waren. Auch innerhalb der vier Wände sparte man nicht mit Farbe; die meisten Liebhaber fand, genau wie in Itahen, das berühmte pompejanische Rot. Das Mobüiar wird nach unseren heutigen Begriffen recht einfach ge­ wesen sein. An schönen Türgriffen, Zierbronzen, hübschen Öllämpchen und bemalten Vasen war indessen kein Mangel. Auch war man seiner Reputation eine Fußbodenheizung schuldig, eine jener Hypokaustenanlagen, die im letzten Jahrhundert v. Chr. in Itahen Eingang fanden und mit den römischen Provinzialen ins rauhe Germanien gelangten. Ein Hypokaustenziegel aus Osterburken hat übrigens durch Viktor von Scheffel literarischen Ruhm erfahren. Der Dichter des «Ekkehard» und - nicht zu vergessen - des «Varusliedes» plante einen Roman, für den die Römerzeit in Deutschland den historischen Hintergrund ab­ geben sollte. Mit vorbereitenden Studien beschäftigt, unternahm er mit 178

seinem Freunde Felix Dahn eine Reise zu bekannten Städten und Stätten der Römer. Er kam auch nach Osterburken und wurde dort mit einem alten Weiblein bekannt, das allabendhch einen erwärmten römischen Ziegel mit ins Bett zu nehmen pflegte. Scheffel war über diese Begegnung so beglückt, daß er sich noch tagelang in schmunzelnder Betrachtung über die Vergänglichkeit des Ruhms erging. Auch Felix Dahn fand das Erlebnis interessant genug, um noch 1886, 20 Jahre später, in der Festschrift der Fünften Säkularfeier der Heidel­ berger Universität darüber zu berichten. Der Lagervorstadt schloß sich auch am Limes der Bereich der festungs­ eigenen Gutshöfe an. Sie wurden, wie am Rhein, vorwiegend von alten Soldaten bewirtschaftet, die zum Teil aus entfernten Provinzen des Reiches kamen. «In Butzbach finden wir Cyrenaiker aus Afrika, in Stockstadt Aquitaner vom Ufer der Garonne, in Neckarburken Bewolmer der britischen Inseln, in Böckingen Helvetier und Dalmatier. An der Nordgrenze von Rätien standen in Weißenburg Bataver von der Rheinmündung, zu Pfünz Breuker aus dem heutigen Bosnien; Kanather aus Syrien standen in Pföring und in Regensburg, auch Thraker von der Balkanhalbinsel, Hispaner und Lusitaner von den Ufern des Ebro und des Tajo fehlten nicht.» (Schulze) In der Osterburkener Gegend waren zahlreiche brittonische Familien -«Zwangsevakuierte» aus Mittelengland - als Wehrbauem an der Grenze eingesetzt. Auch das französisch-galhsche Element war stark vertreten. Zusammen mit den heimischen Germanen und Kelten ergab das ein abenteuerhches Rassenkunterbunt, dessen Lebens- und Arbeits­ gewohnheiten freihch fortschreitend romanisiert und damit einander angenähert wurden. Der Bedarf der Truppe verlangte vor allem den Anbau von Getreide sowie die Aufzucht von Schlachtvieh und Geflügel, - die Gänsemäste­ reien der Limesfarmer standen zum Beispiel in hohem Ruf. Man pflügte mit Ochsen. Pferde dienten fast ausschheßhch militärischen und sport­ lichen Zwecken. Schweine wurden in den Wäldern gehalten, wo die reichhch anfallenden Eicheln und Bucheckern ein besonders delikates Fleisch versprachen. Die Milch von Kühen, Schafen und Ziegen wurde nach erprobten transalpinen Rezepten vor allem zu schmackhaftem Käse verarbeitet. Auch Jagdreviere gab es, mit eigens dafür geschultem und abgestelltem Personal. In den Obstgärten wuchsen, wie heute, vornehmlich Äpfel, Birnen, 179

Pflaumen und Kirschen. Und die Aquitanier gaben sich redliche Mühe, einen trinkbaren Wein zu keltern. Gab es trotz allem nur einen «Sauremus», so wurde er mit Honig geschönt. Reste solcher Landwirtschaftsbetriebe - Häuser, Scheunen und Ställe wurden bei den Limesgrabungen in großer Zahl registriert. Im Volks­ mund lebten sie als«Heunen»- oder «Hönenhäuser» fort; denn die später nachrückenden germanischen Stämme konnten sich die Stein­ bauten nur als nachgelassene Werke von Riesen und Hünen vorstellen. Das Land am Limes war durch ein System großer und kleiner Straßen ersclJossen. Da waren die breiten und wohlgepflasterten Heerstraßen, die von den Lagern an der Grenze zu den mächtigen Waffenplätzen am Rhein führten. Da waren zahlreiche Querverbindungen von den GrenzkasteUen zu strategisch wichtigen Punkten der rückwärtigen Ge­ biete und schließlich die Kolonnenwege längs der Grenze, die - durch PfalJgraben oder Mauer gedeckt - die Kastelle, Türme und kleineren Verschanzungen miteinander verbanden. Hinzu kamen die Kundschafterpfade, die über den Limes hinaus sich weit ins feindliche Ausland tasteten, und die Wege der Händler, die dem Warenverkehr mit den Dörfern und Marktflecken der «Barbaren» dienten. Liebe am Limes

Wer eine Landkarte der Limesgebiete aufmerksam betrachtet, wird alten Römerstraßen aus dem Netzwerk der heutigen Verkehrswege noch immer herauskennen. Auch der Limes selbst weiß sich gebührend in Erimierung zu bringen, obwohl ihm im Lauf der Jahrhunderte hart zugesetzt wurde. Der Zusammenbruch der rechtsrheinischen Grenzverteidigung hatte nur eine teilweise Zerstörung der festen Steinbauten zur Folge. Um so mehr war das Mittelalter bemüht, von den zurückgebliebenen riesigen Steinlialden zu profitieren. Aber auch das gilt vorwiegend nur für die Gebiete, die in der Nähe von Städten und Verkehrswegen lagen. In der Verlassenheit der Wälder überstanden zahlreiche Limesbauten selbst die Zeit des mittelalterhchen Steinraubs. Später, so beschrieb Wilhelm Schleiermacher in seinem «Limesführer » das weitere Schicksal der Limesbauten, «hat der Neubau großer Kunst­ straßen seit dem 18. Jahrhundert und überhaupt die nach dem Dreißig­ jährigen Krieg wieder auflebende Bautätigkeit der Kirche und der Landesherren auch abseits gelegene Ruinen verschwinden lassen. Schließlich sind auch kleinere Bauten, wie Türme oder Bäder, sobald 180

sie durch archäologische Untersuchungen aufgedeckt waren, dem Stein­ raub bis in die jüngste Zeit zum Opfer gefallen.» «Es ist zu bedauern, daß es in Deutschland keine einheitliche Gesetz­ gebung zum Schutze geschichtlicher Denkmäler gibt, noch mehr aber, daß die bestehenden Gesetze in vielen Fällen zu einem wirksamen Schutz nicht helfen. Manche Bauten konnten nur unter Zuhilfenahme des Naturschutzes vor dem völligen Verschwinden bewahrt werden. Auch die Versuche, besonders charakteristische Reste in öffentliches Eigentum oder in die Obhut der historischen Vereine zu bringen, haben bei uns nur zu bescheidenen Erfolgen geführt; im Gegensatz zu England, wo solche Maßnahmen in viel weiterem Umfang durchgeführt worden sind. » «So bleibt im Augenblick nichts übrig, als die Limesbauten dem Verständnis der Grundbesitzer und dem Schutz und der Aufmerksamkeit der Besucher zu empfehlen. Überall werden die staatlichen Ämter für Bodendenkmalpflege nach Kräften bestrebt sein zu helfen, wenn sie von Heimat- und Altertumsfreunden auf Schäden und Mißstände aufmerk­ sam gemacht werden.» Trotzdem zeichnen sich die Reste des Limes noch immer deutlich im Gelände ab. Kaum irgendwo sonst ist uns die Vergangenlieit so nahe, lebt das Gewesene so als Gegenwart weiter wie am römischen Grenzwall in Deutschland. Bisweilen genügen zwei offene Augen und ein Gefülil für die Besonderheiten einer Landschaft, um ihn gewissermaßen am Straßenrand zu entdecken. Bei Idstein-Niedernhausen und bei Gießen-Butzbach durchschncidet die Autobahn den obergermanischen Erdwall, bei Denkendorf im Alt­ mühltal die rätische Mauer. Schleiermacher nennt etwa fünfzig Kreu­ zungen von Bundesstraßen mit dem Limes, der hier entweder klar zu erkennen oder leicht zu fmden ist. Bei Butzbach zum Beispiel, in der Nähe des Dorfes Grüningen, findet sich in der Gabelung zweier Straßen eine merkwürdige, mit allerlei Buschwerk bestandene Erhöhung - ein Stück Limes, der links und rechts sich kilometerweit in ausgedehnten Wäldern fortsetzt. Kurz vor Neckarburken, wo erst kürzUch bei Straßenarbeiten ein römisches Kastell angeschnitten wurde, hegt ein Turmfundament, nur wenige Meter von der Asphaltstraße entfernt. Unkraut hat das Mauer­ werk der kleinen, völlig verwahrlosten Anlage überwuchert, von dem schützenden eisernen Gestänge blättert der Rost, und da keine Tafel, keine Inschrift sagt, welche Bewandtnis es mit dieser Anlage hat, wird ihr nur selten ein interessierter Bhck zuteil. 181

Bei Mainhardt macht ein originelles Straßenschild darauf aufmerksam, daß man im Begriff ist, den Limes zu passieren. Es wird von zwei holz­ geschnitzten Figuren gekrönt, einem bärtigen Germanen, der seinem Gegenüber zuruft: «Mach, daß r . .. und einen Legionär mit Helm­ busch und Panzer, der diese Aufforderung mit einem unwilHgen «Hm» beantwortet. Die meisten Hinweise an den Straßen aber gibt es in Bayern, und zwar in Gestalt von Gedenksteinen, die der geschichtsfreudige König Max II. vor 100 Jahren aufstellen heß. An einem dieser Erinnerungsmale prägte sich dem Chronisten eine ebenso lockere wie merkwürdige Szene ein. Eng umschlungen, in antiker Unbekümmertheit, hatten sich am hellichten Tage zwei sehr junge Liebespaare zu einem Schäferstündchen niedergelassen, das eine auf der römischen, das andere auf der germani­ schen Seite. Die zeitgemäße Verbindung stellten zwei rotlackierte Mopeds her, die nebeneinander unmittelbar auf der alten Grenze geparkt worden waren. Ein ebenfalls befahrener, aber noch unbeweibter Jüngling hatte sich und sein Moped diskret in den Hintergrund verzogen, wo er im Gegen­ satz zu seinen liebenden Kumpanen auf den Resten der alten rätischen Mauer einsam der Ruhe pflog. Die Normalerweise muß man sich jedoch zu einem kleinen Fußmarsch Grenzwallj bequemen, wenn man sich vom Fortbestand des Limes überzeugen will. Von wenigen «konservierten Resten» abgesehen, tritt die rätische Mauer oberirdisch nur noch als Schuttwall in Erscheinung, gelegentlich auch als grasbewachsener Damm. Da die Handbreit Boden, die das Fundament bedeckt, nur spärlichen Pflanzenwuchs trägt, ist ihr Lauf meist unschwer zu verfolgen, vor allem als Schneise in Wäldern und Forsten. Häufig wird sie von Feldwegen begleitet, - den alten Patrouillen­ wegen der Legionäre. Hier und da verrät sie sich durch Erd Verfärbungen. Bei Treppach etwa, in der Nähe der württembergisch-bayerischen Landesgrenze, «ist der Zug der Mauer im Ackerland noch an der grauen Farbe des zu ihrem Bau verwendeten Schiefers zu erkennen ». Die Experten kennen Scheunen und Häuser, die aus Steinen der rätischen Mauer errichtet wurden. Der Bahnhof von Willburgstetten liegt auf Limesgelände. Die Hauptstraße des Dorfes Klein-Lellenfeldt verläuft auf der «Teufelsmauer », in Gunzenhausen liegt die Mauer unter der südhchen Häuserfront der Hensoltstraße, in der erst 1950 ein bei 182

den Limesgrabungen noch nicht entdeckter Wachturm freigelegt wurde. «Besonders sehenswert sind die hinreichend konservierten Anlagen oberhalb des Diakonissenhauses Hensolthöhe.» Vielfach weisen lokale Legenden auf den Verlauf der Mauer hin. Von dem Eigentümer einer Mühle in der Nähe des Kastells Ruffenhofen und den Besitzern nahegelegener Güter wird zum Beispiel berichtet, daß sie «in der Christnacht Kacheln aus dem Zimmerofen auslösen, damit der Satan, wenn er in dieser Nacht auf der Mauer seine Fahrt macht, nicht gezwungen ist, den ganzen Ofen über den Haufen zu werfen». Der sehr korrekte Berichterstatter bemerkt dazu allerdings, daß er sich nicht entschließen konnte, dieser Erzählung Glauben zu schenken, - weil nämlich «die Mauer nicht durch das Zimmer des Müllers, sondern durch die Scheune läuft». Auch Wall und Graben - heute kurz der Pfahl genannt - sind manch­ mal stundenlang zu verfolgen, so etwa in der Nähe des Feldbergs oder der Saalburg. «Er ist hier größtenteüs gut erhalten und nicht zu verfelJen. Wo der Tonschiefer durch Quarzitmassen und Quarzgänge überlagert ist, haben die Römer auf die Anlage eines Spitzgrabens verzichtet und statt dessen eine Trockenmauer gebaut, deren Reste noch immer sichtbar sind. » Im Butzbacher Stadtwald, am «Schrenzer », dient der römische Grenz­ wall, wohlbescliildert und mit Bänken versehen, als Promenade, eine Möglichkeit, von der nach verläßlicher Auskunft vor allem die hier stationierten Soldaten von heute mit ihren «Fräuleins» Gebrauch machen. Auch wurde er hier bis vor wenigen Jahren als Kugclfang der Schießstände der Butzbacher Garnison benutzt. An der Kapersburg folgt die frühere preußisch-hessische Grenze dem Limes, der häufig auch als Rain zwischen Acker und Wald erscheint. Im übrigen ist er, tief in Wäldern verborgen und mit Gras, Hecken oder Buschwerk überwachsen, allenfalls Förstern, Waldarbeitern und Wan­ derern bekannt. Selbst so charakteristische Limesstrecken wie die bei Pfahldöbel zwischen Jagsthausen und Öhringen oder die tiefe Spur des Gra­ bens bei Welzheim in Württemberg sind heute nahezu vergessen. Gäbe es nicht die Lehrer der Umgebung, die dem Limes mit ihren Schulklassen gelegentlich einen Besuch abstatten, um ihn hernach in deutschen Auf­ sätzen besingen zu lassen, es wäre um seinen Nachruhm schlecht bestellt. Auch die Reste von Wachtürmen zeichnen sich vielerorts deutlich ab. Der Soweit sie aus Holz waren, führen sie als Erd- oder Schutthügel mit aus Römeroder ohne umlaufenden Graben gleichfalls ein recht anonymes Dasein, steinen

183

Im Taunus und Odenwald sind gelegentlich noch Teile ihres Unterhaus zu finden. «Früher vielfach für Grabhügel gehalten», heißt es im Limeswerk der Römisch-Germanischen Kommission, «wurden diese stattlichen Überreste. .. anfänglich als gromatische Punkte gedeutet. Die Massen von verkohltem Balkenwerk und große Mengen von Gebrauchsgegen­ ständen, besonders Scherben von Koch-, Eß- und Trinkgeschirr . .. beweisen indes, ebenso wie die Spuren der mächtigen Eckpfosten, daß es hohe Bauten gewesen sein müssen, die zugleich für die Unterkunft von Mannschaften gedient haben.» «Auf den jüngeren Strecken sind die Holztürme überall durch steinerne Wachtürme ersetzt... Die Steintürme haben fast immer quadratischen Grundriß bei 4 bis 6 Meter Seitenlänge. Vereinzelt kommen größere Abmessungen und hie und da sechseckige Türme vor, aber niemals runde... Die Hölie der Türme läßt sich... an den ganz seltenen Stellen berechnen, wo zwischen benachbarten Türmen Terrainhindemisse sich befinden. In einem Fall des Odenwald-Limes müssen die Standorte . . . 7,60 Meter über dem Fußboden gewesen sein, die beiden Türme also drei Stockwerke gehabt haben... » «Die Dächer waren zuweilen mit Ziegeln oder Schiefer, meist nur mit Schindeln oder anderem vergängUchen Material gedeckt. Das Mauerwerk trug außen oft weißen Kalkverputz, in den Quaderlinien eingeritzt und mit roter Farbe ausgestrichen. .. In den Ruinen der Steintürme haben sich öfters. .. Steinkugeln gefunden. Die Wachtürme waren also zum Teil mit Geschützen armiert.» Ruinen solcher Steintürme sind vor allem im Odenwald und im rätischen Teil in großer Zahl erhalten gebheben. Eine eindrucksvolle Gruppe, «die aber heute leider stark zerwühlt ist», befindet sich auf dem Hormorgen, am Höhenweg zwischen RJiein und Lahn. Auf dem nahen Pulverberg wurde eine Ruine konserviert und unmittelbar da­ neben ein Aussichtsturm «in der vermutbaren Form und Abmessung der Limestürme» gebaut. Ein weiterer «Limesturm» steht auf dem Großen Kopf oberhalb Bad Ems, ein dritter im Gelände des Kleinkastells Kaisergrube bei Friedberg. Die Reste eines römischen Straßenturms auf dem Nauheimer Johannis­ berg haben einen modernen Aussichtsturm angezogen, der seinerseits aus einer alten Kapelle hervorging - möglicherweise hatte diese bereits von den Steinen des römischen Bauwerks profitiert. Auch der Bismarckturm in Gunzenhausen dürfte zum guten Teil aus Römer­ 184

quadern entstanden sein, die - der rätischen Mauer entnommen - als Teile eines mittelalterlichen Ringwalls der Nachwelt erhalten blieben. Und mit Sicherheit wuchs die 1764 erbaute KapeUe «Christus im Kerker» in der Nähe von Schwäbisch-Gmünd aus den Fundamenten und Mauern eines Wachturms des rätischen Limes. Beispiele solcher Art können die Limeskenner zu Dutzenden aus dem Ärmel schütteln. So besteht die vielgerühmte Einhardsbasilika in Sehgen­ stadt zum größten Teil aus Steinen des einstigen RömerkasteUs. Das Kastellgelände - nach heutigen Begriffen militärfiskahscher Besitz ging später in das Eigentum des Herrscherhauses über und war noch in der karolingischen Zeit Königsgut. Karl der Große vermachte es dann seinem getreuen Chronisten, der die verbhebenen Mauern abtragen und aus ihnen ein Gotteshaus errichten ließ - ein Verfahren, das sowohl den Vorzug der Billigkeit als auch einen beträchtlichen Symbolwert hatte. Solche Metamorphosen lassen sich vielfach nachweisen. Auch die Steine des Kastells Niederbieber wurden zum Bau einer Kirche ver­ wendet. Ebenso stieß man bei Grabungen in der ehemaligen Ritterstift­ kirche St. Peter zu Wimpfen im Tal auf römisches Mauerwerk, das durch einen Standartenstein der 3. Aquitanischen Kohorte sogar ausge­ wiesen wurde. Weitere Nachforschimgen ergaben, daß die Kirche an der Stelle des früheren Lagerpraetoriums steht, und daß auch das Carre der guterhaltenen mittelalterlichen Stadtmauer aus dem Fundament der alten Kastellmauer wächst. In Dorf Ems, in Lorch und in Gunzenhausen markieren Kirchen die Mitte der alten Römerkastelle, - allerdings oline nachweisbaren bau­ lichen Zusammenhang. Ähnlich ist es in Böhming in Bayern, wo man sich lange den Kopf zerbrach, warum die Kirche der Gemeinde weit außerhalb des Ortes liegt. Auch sie, so stellte man schließhch fest, wurde auf altem Kastellboden errichtet, auch sie im Lagermittelpunkt an der Stelle des römischen Praetoriums und damit des Lagerheiligtums! Vielfach bestimmt das übliche Lagerrechteck noch heute das Erschei­ nungsbild, am auffälligsten dort, wo die Kastelle - etwa an einer Fluß­ grenze - sich auf uraltem Siedlungsboden und an ebenso alten Straßen ansiedelten. So blieb sowolil in Großkrotzenburg als auch in Seligenstadt und Obernburg am Main das magische Festungsviereck im Grundriß erhalten. Der Besucher, durch Übersichtstafeln oder Hinweisschilder auf der­ artige Traditionen aufmerksam gemacht, begegnet manchem inter­ 185

Von der Lagerschenke zu r Snackbar

essanten Kuriosum. So zeigt das Schillerhaus in Lorch die Südostecke des einstigen Kastells an, während die Südwestecke von einer Strickwaren­ handlung eingenommen wird. In Mainhardt wird im «Römerkastell» geturnt und Fußball gespielt, Teile der Mauer verbergen sich dort in einer Hecke. In Oehringen ist das Lager von einem Krankenhaus über­ baut, in Aalen hat der Friedhof sich des ehemals größten Auxiliarkastells in Deutschland bemächtigt. In Sehgenstadt liegt die Schule über dem einstigen KasteUbad, der Kreuzgang der Basilika ruht auf Teilen des Lagerdorfs, und in Cannstatt hat die 1912 erbaute Reiterkaserne sich auf dem Kastell eines bundesgenössischen Reiterregiments der Römer angesiedelt. Das frappierendste Beispiel der Fortdauer des Vergangenen aber bietet Friedberg in Hessen. Hier nimmt die Stauferburg mit ilirem schönen Bergfried den Platz der alten Römerfestung ein. Und im Kern der Stadt selbst zeiclmen sich, wie nirgendwo sonst, die Canabae ab. Die breite Straße, am Haupttor der Burg beginnend, wird zu beiden Seiten von einer Flucht von Geschäftshäusern begleitet, die nur wenige Meter Straßenfront, aber eine Tiefe von 30, 40 und mehr Meter haben die typische Lagervorstadt der römischen Grenzprovinz. Da heute wie damals Kriegsvolk in der Nähe stationiert ist, das nach Dienst­ schluß sich die Zeit gern in den dortigen Snack- und Tanzbars vertreibt, hat sich sogar ihr ursprünghcher Charakter weitgehend erhalten. Ungeachtet solcher Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart wissen die meisten Städte am Limes mit ihrem römischen Erbe nicht viel anzufangen. Zwar unterhalten sie fast alle ein kleines Museum, doch erfreut es sich nur selten der Liebe der Stadtväter. Denn es wird in der Regel wenig besucht und bringt daher nichts ein. Als Betreuer walten pensionierte Lehrer, Finanzbeamte, Pfarrer oder Archivare ihres Amtes, die sich ilirer Aufgabe durchweg mit großem Geschick, zumindest mit bewundernswerter Hingabe widmen. Zu den von ilinen verwalteten Instituten gehören so vorbildlich gepflegte und behütete Schatzkammern wie die von Butzbach oder Obemburg, wo schöne mittelalterliche Bauten römischen Sammlungen Unterkunft gewähren; auch auf der Burg des Ritters Götz in Jagsthausen haben römische Funde im Verein mit der legendären Eisernen Hand ein präch­ tiges, altväterliches Quartier gefunden. Im übrigen wird das römische Roß vornehmlich von den Verkehrs­ vereinen geritten. Der Hinweis auf das jeweüige Kastell mit seiner aquitanischen, helvetischen oder lybischen Kohorte fehlt in keinem 186

Prospekt, der Poststempel trägt zusätzlich das Wort «Römerstadt», und in lokalen Festzügen pflegen naturgetreu herausstaffierte Legionäre mit­ zumarschieren. Hinter solchen Bemühungen spukt fast immer eine Zahl, welche die Werbeleiter der Fremdenverkehrsämter nur mit Ehrfurcht und angelialtenem Atem aussprechen - das sind die 200 000 Besucher, die von der im Taunus gelegenen Saalburg aUjährhch angelockt werden. Überhaupt... die Saalburg. Oberhalb von Bad Homburg hat man Die den Versuch gemacht, ein römisches Limeskastell wiederaufzubauen, An Mitteln, wissenschaftlichem Eifer und gutem Willen hat es dabei Spielbank nicht gefehlt, und das Interesse des Publikums ist über ein halbes Jahr­ hundert diesem Versuch treugeblieben. Er hat aber auch viele Kritiker gefunden, und fraglos hat manches nicht römischen, sondern «wilhel­ minischen» Charakter - nicht nur die Inschrift über dem Haupttor, die in Bronze und Latein besagt, daß Kaiser Wilhelm II. das Kastell Saalburg zum Andenken an seine Eltern wiedererrichten ließ. Die parkähnlichen Anlagen im Innern des KasteUs schaffen ein IdyU im Geschmack der Jahrhundertwende und lassen von der grandiosen Nüchternheit des römischen Militärstils kaum etwas ahnen. Die Brust­ wehren der Mauer hegen zu dicht nebeneinander, da man beim Wieder­ aufbau des Lagers von der falschen Voraussetzung ausging, daß bei einem Angriff die gesamte 500 Mann starke Besatzung auf dem Wall Posten bezogen habe; an die Reserve «zur besonderen Verwendung» hat man nicht gedacht. Auch die sogenannte Exerzierhalle, der dem Praetorium vorgelagerte überdachte Teil der Via principalis, hat viele Historiker entrüstet. Zwar kennt man derartige Bauten aus deutschen und enghschen Limes­ kastellen; ob die HaUe aber «einen Estrichboden und die heutige Höhe hatte », ist selbst nach Meinung des offizieUen Führers fraglich. Die beiden Brunnen mit neuzeitlichem Aufbau stammen aus der Zeit des Erdkastells, den zweiten Innenhof muß man sich wahrscheinhch überdacht vorstellen, das Magazin war ganz gewiß nicht unterkellert, und die Bronzestatue des Kaisers Antoninus Pius stammt von dem Berliner Bildhauer Götz. Das aUes weist auf die Bedenklichkeit eines solchen Rekonstruktions­ versuches hin; denn selbst wenn dem Besucher «die Fragezeichen der Wissenschaft» nicht unterschlagen werden, «so prägt sich», wie es bei Friedrich Koepp heißt, «doch das anschaulich vor Augen gestellte den 187

O O L IC H E N U S H E IU G T U M

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Erläuterungen

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1 Ram pen und M a u e rre s te des Steinholzkastells und Eckturm o d er T rep p en au fg an g des H o lz ­ kastells. 2 Ram pen des S teinholzkastells. 3 Backöfen unter dem W a ll. 4 Eckturm des Erdkastells, durch Pfähle gekennzeichnet. 5 Nicht über alten S tandspuren errichtete M o d elle z w e ie r M a n n ­ schaftsbaracken. 6 Zw ei nicht m ehr e rh alten e H e i­ ligtüm er. (?)

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7 Nicht m ehr e rh alten e r Brenn­ o fen. 8 R ekonstruierter, d o rt nicht g e ­ fu n dener Backofen. 9 V erb renn ung sp latz. O CD Brunnen Mit A usnahm e des D olichenus-Heüigtum s g ib t d e r Plan nur die G rund risse d e r neute noch sichtbaren A nlagen w ied e r.

Plan der Saalburg und ihrer nächsten Umgebung (N ach dem „Führer durch das Röm erkastell Saalburg“ )

meisten als Wirklichkeit ein, während es doch im besten Fall eine Möghchkeit, zuweüen vielleicht auch eine Unmögliclikeit ist», Dieses Unbehagen verdichtet sich beim Anblick des Mithraeums oder des sogenannten Gräberhauses zu einem Gefühl lebhaften Protestes. Der Limes zum Kitsch ist hier nicht nur erreicht, sondern überschritten fraglos gibt es instruktivere Mittel, Geschichte anschaulich zu machen. Trotzdem: der Besuch ist lohnend. Der Eindruck haftet. Die Vor­ stellung gewinnt an Bildkraft. Die Stärke der Mauern, die Geschichte der Festung von der domitianischen Erdschanze bis zum SteinkasteU der Caracalla-Zeit, Große und Geräumigkeit einer solchen Anlage, die Trennung von militärischer und zivüer Siedlung, - das alles prägt sich ein. Und dann die Fülle von Funden, die so überwältigend ist, daß die durchaus ernsthafte Vermutung sich hervorwagte, «es sei die Saalburg auch zur Römerzeit gewesen», was sie zur Zeit ihres Protektors Wilhelm II. wurde - das Paradekastell, «das man dem Kaiser zu zeigen pflegte, wenn er, vom Mainzer Hauptquartier aus den Limes zu inspizieren geruhte». Freilich hat man auf der Saalburg Zeit zum Graben gehabt, nachdem der Landgraf von Homburg bereits 1818 das weitere Ausbrechen von Steinen aus den verbliebenen Wallanlagen verboten hatte. Den um die Mitte des Jahrhunderts einsetzenden Untersuchungen des Archivars Habel, die später durch Oberst von Cohausen und Geh. Baurat Jacobi fortgesetzt wurden, kam überdies die besondere Gunst der Lage zugute, - die Nähe der von zahlreichen gekrönten Häuptern besuchten Spielbank von Bad Homburg, deren Überschüsse zum guten Teil der Saalburgforschung zuflossen. Diese konnte also wesenthch gründhcher zu Werke gehen, als es sonst möglich gewesen wäre. Sie entdeckte allein 99 Brunnenschächte, deren Feuchtigkeit zalilreiche Gegenstände, insbesondere des täglichen Bedarfs, hervorragend konserviert hatte. Die Bearbeitung und Sicherung dieser Funde, die schon 1873 im Homburger Kurhaus eine würdige Unterkunft fanden, ehe sie 1907 in dem wiederhergestellten Kastell selbst Quartier fanden, ist das persönliche Verdienst der Leiter der Saalburgarbeit. Niemand wird also, um noch einmal den sonst so skeptischen Friedrich Koepp zu zitieren, «der Saalburg den Ruhm versagen, daß sie durch die Fülle der Einzelfunde und deren technische und wissenschaftliche Behandlung zur Kenntnis des römischen Lebens mehr beigetragen hat, als irgendeine andere Ausgrabungsstätte diesseits der Alpen, daß sie auf 189

ihrem Sondergebiet geradezu Ähnliches geleistet hat wie Pompeji auf einem weiteren...» Der Fluch im Andachtsbuch

« Konservierte» Kastelle

Rekonstruktionen enthält auch der Englische Garten zu Eulbach im Odenwald, allerdings nur rekonstruierte Ruinen, - womit über die Seltsamkeit dieses Unternehmens eigentlich alles gesagt ist. Ihr Schöpfer, Graf Franz I. zu Erbach-Erbach, muß einer jener deutschen Erzromantiker gewesen sein, in denen universale Bildung sich mit einem gerüttelt Maß geschichtsträchtiger Sentimentahtät vereinigte. Als er 1802 daranging, nach Plänen des kurfürstlichen Gartenkünstlers von Skell - der auch den Englischen Garten in München schuf - einen Park anzulegen, ließ er zwischen Tulpenbäumen, serbischen Fichten, Coloradotannen und anderen seltenen Gewächsen auch eine Reihe von alten Gemäuern einplanen. Diese pflegte er aus Steinen, die er anerkaimt historischen Stätten entnahm, zusammenzubasteln. Da sein Grundbesitz reich an römischen Altertümern war, kam er auf den Gedanken, die besten Stücke in seinen Garten zu verpflanzen. Er befleißigte sich dabei außerordentlicher Sorgfalt. Der Obelisk zum Beispiel, der einen bevorzugten Platz im Park einnimmt, besteht aus Steinen des von ihm selbst ausgegrabenen Römerkastells Würzberg. «Als Vorbild diente ihm, dem gründhchen Kenner und begeisterten Liebhaber antiker Kunst, der Obehsk aus Heliopolis, den die Römer von Ägypten nach Rom verbracht und im Circus Maximus aufgestellt hatten, bis er von Papst Sixtus V. auf der Piazza del Popolo aufgestellt wurde, wo er noch heute zu sehen ist.» Er umgab ihn mit Grabsteinen römischer Soldaten aus dem Odenwald, sowie mit kleinen Altären und Weihesteinen. Die beiden Hauptattraktionen seines Parks, die Reste zweier Tore, entnahm er den Kastellen von Eulbach und Würzberg. Zumindest eines der beiden Tore stellt eine recht imposante Anlage dar, obwohl es in der Gesellschaft eines mit Seerosen bewachsenen Schwanenweihers, einer mittelalterlichen «Kunstruine» und einer verträumten Holz­ kapelle sich so sonderbar ausnimmt wie ein neunschwänziger Fluch in einem Andachtsbuch. Dabei braucht man von hier aus nicht weit zu gehen, um originale Kastellreste zu entdecken. WaUartige Erhöhungen der Straßenböschung zeigen das Kastell Eulbach selbst an. Und die Fläche des Kastells Oberscheidenthal, ebenfalls im Odenwald

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gelegen, hebt sich, nach dem amtlichen Limeswerk, «deutlich vom umliegenden Gelände ab, wobei der jetzt nach Süden erweiterte Friedhof sich an der Front in ihrer ganzen Breite entlangzieht, die linke Flanke durch die . .. Straße nach Unterscheidenthal gekennzeichnet und die rechte und die mit Obstbäumen bepflanzte Rückseite . .. als Terrassen kenntlich sind. Von der erwähnten Straße fülirt ein Feldweg in der Richtung der Via principalis zu der Porta dextra, deren Ruine bloßliegt und unterhalten wird.» Nicht nur das schon erwähnte Kastell Hainhaus, sondern auch Kastell Hainhäusel im Odenwald gibt sich durch seine Erdwälle deutlich zu erkennen. Hier befindet sich auch die besterhaltene Thermenruine des Limes. Zwischen Butzbach und Gießen ist der Platz des Kohortenkastells «auf der Hunnenburg» als weithin sichtbares Viereck der Landschaft aufgeprägt. Das Kastell Böhming zeichnet sich ebenfalls durch die Höhenunterschiede des Geländes deutlich von der Umgebung ab. Kastell Alteburg an der Straße Idstein - Oberreifenberg ist durch alten Baumbestand, Haiheim bei Aalen durch Hecken lokalisiert. Ebenso grenzen Hecken das Kastell Miltenberg zum Main liin ab; außerdem sind hier noch zwei Tortürme sichtbar. Schließhch ragen auch die Umfassungsmauern verschiedener Kastelle noch meterhoch aus dem Boden. In Holzhausen, südlich der Lahn, stehen außer den Resten des Fahnenheiligtums die vier Ecktürme und vier Tore. Vom Kastell Feldberg bei Frankfurt «sind die unteren Lagen der Umfassungsmauer rekonstruiert, deutlich erkennbar die vier ein­ fachen Tore mit Doppeltürmen». Von der Kapersburg in der Wetterau wurden bedeutende Teile der Ummauerung und des Kastellbades konserviert. Neckarburken hat Torreste des Numeruskastells unter Denkmalschutz gestellt. In Köngen am Neckar wurde durch den schwäbischen Albverein erst in jüngster Zeit der südliche Eckturm des Kastells wiederhergestellt. Weißenburg am rätischen Limes zeigt außer den Umfassungsmauern die Fundamente mehrerer hinenbauten, so der Principia, eines Speichers, der Kommandantenvilla und mehrerer heizbarer Unterkünfte. Eine imposante Anlage, die leider - teils Kartoffelacker, teils Rübenfeld, teils Unkrautplantage, teils Schuttabladeplatz - von den Stadtvätern abgebucht zu sein scheint. Die Wälle des Pfünzer Lagers hegen auf einer Anhöhe oberhalb des Ortes, zu deren Füßen sich ein verschwenderisches Talpanorama aus191

breitet. Wall und Graben werden von Wald begrenzt, das Lagerinnere ist überackert, - trotzdem verrät das Ganze sorgliche Pflege, die nicht zuletzt den wiederaufgebauten Toren zugute kam. Das besterhaltene Kastell indessen ist das von Eining an der Donau, obwolil es 1945, in den wirren Tagen des Zusammenbruchs, noch einmal als Verteidigungsstellung diente und hernach restlos ausgeplündert wurde. Bleirohre waren damals, wie man sich erinnert, ein begehrter Artikel, selbst wenn sie antiker Herkunft waren. Auch die wertvollen Samm­ lungen desEininger «Thermenmuseums» fanden ihre Liebhaber, soweit sie nicht einfach zerscldagen oder dem seinerzeit grassierenden Vandahsmus sonstwie zum Opfer fielen. Das Kastell hat diese seine vierte Zerstörung ebenfalls so weit überstanden, daß es heute wieder ein detailhertes Bild seines einstigen Aussehens vermittelt. Eine Auch in Osterburken, dem Ausgangspunkt unseres Streifzugs, hat man Gasconc^e^ nach den Grabungen «dank einer persönlichen Bewilligung Sr. KönigOsterburken heben Hoheit des Großherzogs wie einer Beihilfe des Großherzoglichen Ministeriums » Teile der Anlage erhalten können. Prof. Schumacher war über die Konservierungsarbeit, die im wesent­ lichen das Numeruskastell betraf, zwar wenig beglückt und wies ihr eine Reüie von Fehlem nach. Aber auch er mußte zugeben, daß der «Besucher, der von der Kastellhöhe . . . auf den sonnigen Lagerplatz und den wiesenbedeckten Talgrund hinabschaut, einen tiefen Eindruck von diesem praktischen und wehrhaften Limeskastell» empfängt. Heute fügt sich ein Kriegerdenkmal würdig in das alte Lagergelände ein, und noch immer hegt man Pläne, das Kastell eines Tages so weit zu restaurieren, daß es als ein Modellstück römischer Befestigungskunst mit der Saalburg konkurrieren könnte. Selbst wenn es dazu nicht reichen sollte - auch hier lebt das «Römische» weiter. Nicht nur in verwitterten Mauern, in den kleinen und großen Funden, in den Schätzen, die der Boden noch birgt, sondern auch im Blut der Menschen, obwohl es sich da nicht nur um römische Beimischungen handelt. Der Chronist des Ortes weiß darüber eine vielsagende Geschichte zu erzählen, für die er als Kronzeugen den «alten Feistenberger » nennt. Während der Grabungskampagne des Jahres 1893, «in einer Mittags­ pause, als Prof. Schumacher und sein Stab von den Grabarbeitern sich entfernt hatten, gingen ein paar Burschen hin und versteckten in dem angegrabenen Steingeröll einen alten Blechhafen und taten Glasscherben, alte Nägel und angebrannte Kohlen hinein. 192

Als nach der Mittagspause Feistenberger im Beisein von Prof. Schu­ macher auf das alte Blechgescliirr schlug, daß es nur so dröhnte, rief Prof Schumacher den Arbeitern zu: «Halt! Jetzt kommt etwas», - und Feistenberger hob den alten blechernen Hafen aus dem Geröll. Die Burschen aber hatten sich im nahen Gebüsch versteckt und lachten mit Aquitanierstolz über das gelungene Stücklein, das sie dem gelehrten Forscher spielten. Der alte Kenner aber meinte: «Eine Gasconade! Utzen und aufsclmeiden können sie wie ihre Väter aus der Gascogne». Die Aquitanier waren nämlich in Südwestfrankreich, am Golf von Biscaya, zu Hause, wo ihre Nachfaliren noch heute als Possenreißer und Spaßvögel gelten, die dem Leben in jeder Lage eine heitere Seite abzu­ gewinnen vermögen.

13 Pörtner

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Achtes Kapitel EINE S PÄT RÖMI SCHE F E S T UNGS S T ADT Regensburg - das große Bollwerk an der Donau Das Tor aus der Wüste • Die römische Kegelbahn • Die Gründung Marc Aurels • Die Stadt der 77 Namen • Festung an der Grenze • Die diocletianischen Reformen • Die Akte Castra Regina • 35000 Kubikmeter Steine • ZiegelStraßen, Fußbodenheizungen und Tempel • Das große Gräberfeld • Wie sie sich einrichteten, wie sie sich schmückten • Friedhofsidyllik vor 1700 Jahren • Die Truppe ging, ihr Erbe blieb • Die Römer und der Weizenbock Die Porta Praetoria in Regensburg, in jedem Reiseführer mit drei Sternen dekoriert, sucht sich zunächst dem Betrachter zu entziehen. Sie liegt in einer Gasse, die den schönen Namen «Unter den Schwibbogen» führt. Aber diese Gasse ist schmal und lichtlos, denn ihre hohen Häuser gewähren der Sonne nur wenig Zutritt. Zudem nähert man sich der Porta von der Seite her, so daß man auf den ersten Blick nicht viel mehr als ein dunkles, schwärzliches Gemäuer bemerkt, das sich unauffällig in die Rückwand des Hotels Bischofshof einfügt. Erst wenn man dem Tor, das neben der Porta Nigra von Trier als ältester Hochbau Deutsclilands gilt, direkt gegenübersteht und es frontal ins Auge faßt, spürt man seine archaische Kraft und Strenge. Schwer amputiert zwar, doch immer noch von mächtiger Muskulatur, drückt es bis heute Stolz und Selbstbewußtsein seiner Erbauer mit imperialer Geste aus. Ein monumentaler Bau, obwohl von den zwei Flankentürmen nur einer geblieben ist und der Schutt der Jahrhunderte, seine einstige Höhe beträchtheh mindernd, bereits 1% Meter an ilim emporgeklettert ist. Was sich in unsere Zeit gerettet hat, genügt jedoch, das ursprüngUche Bild der auf mittelalterlichen Darstellungen als Wassertor erscheinenden und erst 1649 in das Bischöfliche Brauliaus einbezogenen Anlage zu rekonstruieren. 194

«Den östlichen Thurm», so hieß es im Bericht des Historischen Vereins von Regensburg, als das Denkmal im Jahre 1885 wiederentdeckt worden war, «hatte schon 1869 Graf Hugo von WalderdorfF konsta­ tiert. .. Als nun im verflossenen Sommer der Zustand eines Vorbaues in der Brauerei größere Reparaturen nöthig machte, trat die ganze ThoröfFnung in mächtigem Quaderwerk zum Vorschein.» Die Neuvermessung ergab, daß das Tor einmal 29 Meter breit gewesen und «seinem Zweck entsprechend als Festungsthor äußerst einfach, aber mit umso größerer Vorsicht und Dauerhaftigkeit angelegt» war. Die beiden Flankentürme beschrieben je einen Halbkreis, der sich 3 Meter aus der Mauerflucht hervorschob. Die 16,50 Meter messende Frontmauer enthielt eine Toröffhung von 4 Meter Breite und 5,80 Meter Höhe und führte auf einen - vieUeicht überdachten - Innenhof, der erst durch ein zweites Tor den Zugang zum Lager freigab. Der noch vorhandene Torbogen wird von 13 keilförmigen Blöcken gebildet, die in einem Radius von etwas mehr als 2 Meter früher mörtellos auf einem festen Gesimse ruhten. Der östhche Flankenturm erreicht heute noch eine Höhe von 11 Meter. Über der siebenten Quaderreihe zeichnet sich das Obergeschoß mit fünf schlanken Bogen­ fenstern ab, das wahrscheinlich in eine zinnengekrönte Plattform oder ein Spitzdach ausHef. Die Porta Praetoria weist einige Ähnhchkeit mit der Porta Nigra auf, unterscheidet sich aber wesenthch von den üblichen Limestoren. Am ehesten erinnert sie, wie die Gelehrten festgestellt haben, an Festungen in der arabischen Wüste - die Araber waren ja, wie man weiß, tüchtige Baumeister, und die römischen Fortifikationstechniker haben manches von ihnen übernommen.

Das Tor aus der Wüste

Die Porta Praetoria war ein Teil der großen Umwallung, die den Die stärksten militärischen Stützpunkt der Römer in der Provinz Raetien ^dmische Kegelbahn sicherte. Auch von dem Carre dieser Befestigung sind zahlreiche Reste geblieben. Wenn auf der Kegelbahn der St. Clara-Gaststätte in Regens­ burg die Kugel donnernd ihren Lauf nimmt, rollt sie an einem Stück der alten römischen Mauer vorbei, deren zyklopisches Gestein eine der beiden 15 Meter langen Seitenwände bildet. Wer auf der Terrasse der Niedermünsterschänke einen Krug hierorts gebrauten Bieres trinkt, sitzt auf der alten römischen Mauer, und zwar an ihrer abgerundeten Nordostecke, wo sie sich von der Donau weg 195

nach Süden wendet, und die Vorstellung, daß zu Olims Zeiten Legionäre in scheppernder Rüstung an der gleichen Stelle ihren leidigen Wach­ dienst versahen, ist im Preis des Gerstensaftes gleichsam mit einbegriffen. Geht man von hieraus eine steinerne Treppe hinab, in den Garten des nebenanhegenden Kolpinghauses, so kann man sie erneut in Augen­ schein nehmen, die alte Römermauer, die dazumalen das Lager der 3. Italischen Legion sicherte, und man registriert es fast schon als eine Selbstverständhchkeit, daß es auch hier eine « römische» Kegelbahn gibt und der Rasen des Gartens mit Hypokaustenziegeln eingefaßt ist. Der Fachmann kennt noch mindestens 20 Stellen, an denen der steinerne Wall ans TagesUcht tritt oder in den Katakomben Regens­ burger Häuser aufzuspüren ist. Der junge Architekt, der uns führte, hatte erst wenige Wochen zuvor in einem alten Luftschutzstollen in der Nähe des Dachauplatzes ein bislang unbekanntes Stück Römermauer entdeckt, und er war nicht wenig stolz darauf. Er erzählte uns, daß im Keller der KarmeUtenbrauerei 65 Meter Mauerfundament zu besichtigen seien, und daß die Bischöfhche Resi­ denz, die Clarenangerschule, das Parkhotel und selbstverständlich auch der berühmte Römerturm unmittelbar in römischem Mauerwerk wurzeln. Er zeigte uns eine alte Kapelle, deren Rückwand römisch war, ver­ wies auf Teile der mittelalterhchen Mauer, die mit der der Legionäre innig verschwistert waren, und Heß uns auf dem Garagenhof eines Hotels einen gerade ausgegrabenen Stein der römischen Festung be­ wundern, einen gigantischen Brocken, der seine 10 Zentner und mehr wiegen mochte. Er führte uns in ein kleines Kaffeehaus, wo sich unter einer modischen Tapete eine 1% Meter dicke Wand verbirgt, wiederum ein Stück der steinernen Umwallung des alten Castrums, die solcherart noch in den verscliiedensten Tarnungen die Regensburger Altstadt durchmißt. Und er hieß uns in unmittelbarer Nachbarschaft des Bahnhofs einen Bhck auf die Baustelle einer Versicherungsgesellschaft tun, wo die gewaltigen Quadern über eine Strecke von mehr als 20 Meter freigelegt waren, und entwarf mit sclineller Hand eine Skizze, die dartat, wie das antike Gemäuer in den modernen Stahlbetonbau einbezogen werden soll. D ie Gründung Marc Aurels

An dieser Mauer wurden kurz nach ihrer Entdeckung im Jahre 1955 erstmalig exakte Messungen und Untersuchungen vorgenommen. Sie führten zu einem überraschenden Ergebnis. War man bisher nämlich 196

der Meinung, daß die Legionäre sich ursprünglich mit einem gras­ bewachsenen Holz-Erde-Wall begnügten, der erst nach den schlimmen Jahren unter Kaiser Gallienus durch eine massive Steinumwallung ersetzt wurde, so gelangte man jetzt zu der Diagnose, daß das Lager «von Anfang an mit einer Quadermauer versehen » war. «Die eingeschlossenen und unmittelbar auf lagernden, mengenmäßig allerdings recht bescheidenen Funde datieren den Bau der unteren Mauerteile in die 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts», stellte der Leiter der Forschungen, Dr. Arinin Stroh, dazu fest. «Wir haben es also mit dem unter Marc Aurel errichteten Lager zu tun.» Ob Erdwall oder Mauer - die Frage verblaßt freüich angesichts der Tatsache, daß die Gründung des Philosophenkaisers als bewundernswerte Leistung römischer Organisationskunst und Befestigungstechnik rasch Bedeutung gewann und der Geschichte der römisch-germanischen Grenzkämpfe an der Donau ihr unauslöschliches Siegel aufdrückte. Schon der Bau ging sehr schnell vonstatten, so daß der kaiserliche Statthalter Marcus Helvius Clemens bereits im Jahre 179, allenfalls zwei, drei Jahre nach dem imperatorischen Erlaß, die Gründungsurkunde, der damaligen Sitte gemäß in Gestalt einer 7 Meter breiten Stein­ inschrift, dem rechten Haupttor der Festung einfügen konnte. Von hier­ aus geriet sie später, vermutUch durch kriegerische Ereignisse, in die Fundamente des nachmaligen östlichen Lagertores. Bei Ausschachtungsarbeiten zur Errichtung des Karmelitenhotels im vorigen Jahrhundert kehrte das gewichtige Dokument ans Tageslicht zurück, ein wenig ramponiert zwar, doch war es möghch, die fehlenden Worte und Buchstaben zu ersetzen und dieser ältesten Gründungs­ urkunde einer deutschen Stadt einen Ehrenplatz im Museum einzu­ räumen. Sie hat folgenden Wortlaut: «Kaiser M a r c u s A u r e l iu s , S o h n des verg öttlich ten P ius , B r u ­ der

DES V e r u s , E nkel des verg öttlich ten H a d r ia n , U r enk el

DES VERGÖTTLICHTEN T r AJAN, DES P a RTHERSIEGERS, U r URENKEL DES VERGÖTTLICHTEN N eRVA, ERLAUCHT, G eRMANEN- UND S a RMATENSIEGER, O b ERPRIESTER, IM 36. JAHRE SEINER TRIBUNIZISCHEN

G ewalt , Feldherr V aterlandes ,

zum

9. M ale , K onsul

zum

3. M ale, V ater

des

UND KIa iser L uciu s A ureliu s C o m m o d u s , E r l a u c h t , Sa r m a t e n SIEGER UND GRÖSSTER G eRMANENSIEGER, S o HN DES KAISERS A n TONiNus, E nkel des verg öttlich ten P ius , U r e n k e l des v e r ­ göttlichten

H a d r ia n , U r u r e n k e l des T r aja n , d es P a r t h e r 197

SIEGERS, U r URURENKEL DES VERGÖTTLICHTEN N eRVA, IM 4. Ja HRE SEINER TRIBUNIZISCHEN GEWALT, FELDHERR ZUM 2. M aLE, K o NSUL ZUM 2. M ale , HABEN DEN W aLL MIT DEN TOREN UND TüRMEN ERRICHTEN LASSEN DURCH DIE 3. ITALISCHE L e GION UND DIE 2. A q UITANISCHE K o HORTE UNTER DER LEITUNG DES KAISERLICHEN PROVINZSTATTHALTERS M a R-

c u s H elvius C lemens D e x t r ia n u s . »

So ganz hat es mit der ältesten Gründungsurkimde freilich nicht seine Richtigkeit. Gleichzeitig mit dem Bau des Lagers wurde nämlich auch die Neuordnung der Zivilsiedlung verfügt. Ein gewisser Aurehus Artissius, seines Zeichens kaiserhcher Beamter für Straßenbau und Marktverkehr, wurde mit der Durchführung des Projektes betraut. Er ging allem Anschein nach mit aufgekrempelten Ärmeln an die Arbeit, so daß er bereits ein Jahr vor seinem müitärischen Kollegen die Beendigung der Arbeiten melden konnte. Aus Freude darüber stiftete er einen Altar, in dem er die Baracken der Händler, Schilfer und Kneipenwirte dem Schutz des Vulcan empfahl, wobei er nicht zu erwähnen vergaß, daß er den Opferstein aus eigener Tasche bezahlt habe. Als Datum dieser originellen Form «einer antiken Feuerversicherung», die selbst dem hochverdienten Chronisten der Stadt, Konrektor Dr. Steinmetz, ein Schmunzeln abforderte, nennt der am Amulfplatz gehobene Altar den 23. August 178, - worauf man sich in Regensburg mit Recht einiges zugute hält, denn keine andere Stadt Deutschlands kann sich eines derart profdierten Lokalereignisses und genau bezeichneten Termins aus ihrer Frühzeit rühmen... Die Zivilsiedlung selbst, die eigentliche Keimzelle der Stadt, war damals übrigens bereits mehr als ein halbes Jahrtausend alt. Die Stadt

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Als Goethe einmal an der Donau zu Gast weilte, schrieb er in sein Notizbuch: «Regensburg ist gar schön. Die Gegend mußte eine Stadt anlocken.» Der vielstrapazierte Satz, der seitdem in kaum einer Stadt­ beschreibung fehlt, hat offenbar schon in altersgrauen Zeiten seine Gültigkeit gehabt. Jedenfalls legen zahlreiche Funde die Vermutung nahe, daß bereits die Menschen der Stein- und Bronzezeit die Annehm­ lichkeiten der Landschaft am Regensburger Donauknie, gegenüber den Mündungen von Nab, Laaber und Regen, zu schätzen wußten. Und sicher ist, daß spätestens um 500 v. Chr. im weitausbuchtenden Strombecken eine keltische Niederlassung entstand, die hurtig heran­ wuchs und, im Schnittpunkt großer Straßen gelegen, Handelsbeziehun198

gen selbst zu den mittelmeerischen Ländern herstellte. Sie hieß Radaspona, und dieser Name - einer von den 77, die der Stadt nach den Berechnungen eines fleißigen Lokalforschers durch Legende, Sage und Gescliichte zugelegt wurden - besaß Lebenskraft genug, sich bis weit in das Mittelalter zu erhalten. Im Französischen heißt Regensburg noch heute Ratisbonne, und selbst im Indischen kehrt che alte keltische Bezeichnung als Ratabuna in kaum veränderter Gestalt wieder. Auch das erste römische Lager, das im Süden der Siedlung, auf der sanft ansteigenden Höhe des heutigen Stadtteils Kumpfmühl, seine Erd­ wälle aufwarf, bediente sich noch des Namens Radaspona. Wann die ersten römischen Legionäre von dieser Höhe aus den scliimmernden Fluß mit seinen beiden Inseln und der davor gelagerten keltischen Niederlassung ins Auge faßten, ist nicht bekannt. Eine Münze, die um die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert geprägt wurde, trägt zwar die Inschrift «Regenspurc, erbaud 14 Jahre vor Christi Geburt», doch ist für diesen Termin nur anzuführen, daß die nachmaligen Pro­ vinzen Raetien und Noricum in jener Zeit durch Drusus und Tiberius erobert und dem augusteischen Imperium einverleibt wurden. Möglich, daß damals schon eine römische Truppe auf der «Platte» am Königsberg ihre Lederzelte aufschlug, um die allem Anschein nach recht lebhafte Siedlung am Fluß und diesen selbst unter Kontrolle zu nehmen, - das Lager Kumpfmühl aber dürfte, wie aus Münzfunden zu schließen ist, erst am Ende der siebziger Jahre des 1. nachchristlichen Jahrhunderts entstanden sein, in jenem ereignisprallen Dezennium also, das mit der Zerstörung Jerusalems begann und mit dem Ausbruch des Vesuvs und der Vernichtung der Städte Pompeji und Herculaneum sein erschreckendes Ende fand. Das Lager, das schon durch die Grabungen des Pfarrers Dahlem in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nachgewiesen wurde und heute von einem Bierkeller und einer großen Druckerei überbaut ist, war freiheh kaum mehr als ein soUdes Provisorium. Mit seinen Kasernen und sonstigen Bauten in ein Rechteck von 137 mal 164 Meter gezwängt, von einem 10 Meter breiten Graben und einem 2 Meter dicken Wall umgeben, der ursprünglich aus Holz und Erde, später aus Stein bestand, ähnelte es den üblichen Kohortenkastellen wie ein Ei dem anderen. Außerhalb der Umwallung lagen die Hütten der Veteranen, Wein­ händler xmd Lagerdirnen, ein komfortables Badehaus und der Friedhof. 199

Zur Donau und dem dort verlaufenden Patrouillenweg, dessen Reste ebenfalls nachgewiesen wurden, führte ein Pfad hinab, der auch die Verbindung zur keltischen Siedlung herstellte. Eine Allerweltsanlage also, deren knapp lOOjährige Geschichte keine besonderen Vorkommnisse enthält. Aus den Funden ergibt sich ledigHch, daß das Lager durchweg mit einer aquitanischen, also südfranzösischen Einheit belegt war, zeitweise auch mit einer Truppe aus dem syrischen Canatha. Zwei Namen sind uns aus der großen unbekannten Schar bundesgenössischer «HilfswiQiger » überhefert: der des Veteranen Secundus, dem im Jahre 153 eine Urkunde über Bürgerrecht und Ehegültigkeit ausgestellt wurde, und der des Veteranen Sicco, der nach Ausscheiden aus dem Dienst stolz sein Müitärdiplom an die Wand hing, das 1700 Jahre später aus dem Schutt der Geschichte geborgen wurde. Weitere Mitteilungen fehlen. So viel aber läßt sich aus den Funden doch mit Sicherheit lesen, daß das Lager Kumpfmühl während des Markomannenkrieges, also um das Jahr 170 herum, überfallen, erobert und dem Erdboden gleich gemacht wurde... Knapp zehn Jahre später, nach der Niederwerfung der Markomannen, wurde auf Befehl von Kaiser Marc Aurel das neue Lager errichtet, zehnmal so groß wie das alte und dicht an den Strom plaziert. Es erhielt den Namen Castra Regina und wurde Hauptstützpunkt der Römer an der raetischen Donau. Festung G f€ ttZ €

Man muß sich die Situation vergegenwärtigen, in der Marc Aurel den Befehl zum Bau der Festung gab. Kumpfmühl lag in Schutt und Asche. Die Limeskastelle waren zerstört. Und die römischen Legionen hatten volle 14 Jahre gebraucht, den Krieg gegen die Markomannen und ihre Verbündeten zu einem einigermaßen glimpfheben Ende zu füliren. Aber Kraft und Kampffreudigkeit des Gegners, daran bestand kein Zweifel, waren so lange nicht gebrochen, wie seine böhmischen Kemlande unangetastet bheben. Aus diesen Überlegungen ergab sich zwin­ gend der Entschluß, noch einmal den Versuch zu unternehmen, die Grenze weit über die Donau vorzuschieben. Das aber setzte nicht nur die Wiederherstellung der alten Kastelle voraus, sondern die Bildung neuer KristaUisationspunkte der römischen Macht, die vor allem die große Lücke zwischen Straßburg und Mainz einerseits und Carnuntum bei Wien andererseits ausfüllen mußten. 200

Die Porta Practoria in l^cgensburg als Teil des Hotels Bischofshof (Foto: Hammon)

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Römischer CJrablöwc im Museum der Stadt Regeiisburg. Im Mintergrund die steinerne ( Jriindungsurkunde des C'astra Regina. (Ixito: Hammon)

Teil der römischen Stadtmauer im (larten des Kolpinghauses von Regensburg. (Foto: Verfasser)

l^citcrstandbild des Marc Aurel in R om . l^er Sieger des Marcomannenkrieges gründete das Castra Regina, aus dem das heutige Regensburg entstand. Das Standbild überlebte die Zeit der Bilderstürme, da man den Reiter für Constantin den Choßen hielt. (Foto: Archiv Garzanti)

Blick auf die Grundmauern der frühchristlichen Taufmlage an der Südseite des Augsburger Doms.

Noch einmal die frühchristliche Taufanlage in Augsburg. Unter dem Dach iin Hintergrund römische Architekturteile. (Foto^: Verfasser)

Diese Aufgabe war neben dem weiter donauabwärts gelegenen Lauriacum - dem heutigen Lorch - in erster Linie dem Legionslager am Zusammenfluß von Donau, Naab und Regen zugedacht. Es ist an den fünf Fingern auszurechnen, daß die Verwirkhchung der kaiserlichen Pläne das Lager sehr bald auch in den Rang einer großen Handels­ niederlassung erhoben hätte. So weit kam es jedoch nicht: Marc Aurel starb im Jahre 180 in Wien, und sein ungeratener Sohn Commodus schloß einen mehr als faulen Frieden, der ein Zurückgehen auf die Donaugrenze bedeutete und die weitergehenden imperialen Pläne des genialen Vaters liquidierte. Damit schwanden die wirtschaftlichen und kulturellen Chancen der Neugründung. Sie wurde eine reine Militärstadt, eine Kommissiedlung, eine Festung an der Grenze, von deren Schicksalen wir nur wenig wissen. In dem Bericht über eine Reise des 217 gestorbenen Kaisers Caracalla wird sie als Reginum erstmahg erwähnt. Unter der gleichen Bezeichnung erscheint sie auf einer militärischen Straßenkarte des 3. Jahr­ hunderts, die auch die Standorte der weströmischen Legionen nennt. Belegt wurde sie mit der 3. ItaUschen Legion, einem Verband, der in der Notzeit des Markomannenkrieges auf den Straßen Itahens nach «Heldenklau»-Art zusammengelesen worden war und in der Haupt­ sache aus entlassenen Sklaven, Gladiatoren, Wegelagerern und anderen wenig vertrauenerweckenden Existenzen bestand. Weitere unrühmliche Nachrichten liegen jedoch nicht vor, so daß anzunehmen ist, daß die bunt zusammengewürfelte Einheit unter der Führung energischer Offiziere sich bald zu einer brauchbaren Truppe mauserte. Jedenfalls blieb sie Regensburger Hauslegion bis zum Er­ löschen des Imperiums, kämpfte redlich gegen die germanischen Völker­ schaften nördlich der Donau, die sie trotz mancher Niederlage jahr­ hundertelang in Schach hielt, nahm auch an einigen Feldzügen gegen die Parther teü und wurde durch Kaiser Probus sogar mit dem Ehren­ titel Italica Felix ausgezeichnet. Das war bereits am Ende jener chaotischen Epoche, die in den GeSchichtsbüchern als die Zeit der Soldatenkaiser figuriert. Sie begann, wie wir sahen, mit der Ermordung des Severus Alexander in Mainz und der Usurpierung des Throns durch den rohen Maximinus Thrax im Jahre 235. Sie endete 284, zwei Jahre nach dem Tod des Probus, mit zwei dramatischen und düsteren Szenen, in denen sich die ganze Menschenverachtung dieses Jahrhunderts noch einmal verdichtet. 201

D ie diocle-

In Nicomedien, unfern dem heutigen Istanbul, entdeckten die von einem siegreichen Perserfeldzug heimkehrenden Soldaten, daß sie in der kaiserhchen Sänfte einen Toten mit sich trugen: den Leichnam des Numerian, des Sohnes von Kaiser Carus, der kurz zuvor ermordet worden war. Nun hatte es auch seinen designierten Nachfolger ge­ troffen durch die Hand seines Schwiegervaters Arrius Aper. Wenig später wurde - ebenfalls in Nicomedien - der Dalmatiner Diocles zum Kaiser ausgerufen. Vor dem angetretenen Heer leistete er den Treueid. Er hob das blanke Schwert zum Himmel, daß sich die Sonne, das Zeichen des Sieges, in der ghtzemden Waffe spiegelte, schwor mit ruhiger Stimme, daß er am Tod des Numerian unschuldig sei, wandte sich plötzHch um und stieß mit eben diesem Schwert, auf das er soeben seinen Treueid geleistet hatte, den neben ihm stehenden Arrius Aper nieder. «Du wirst Kaiser werden, wenn du einen ,Aper‘, einen Eber tötest!» hatte man ihm einst prophezeit - und er erfüllte diese Prophezeiung jetzt auf seine Weise. Die Soldaten gröhlten Beifall. Dieser dalma­ tinische Sklavensohn, den sie soeben zum Imperator gewählt hat­ ten, schien ein energischer Herr zu sein, ein Mann von schnellem Entschluß. Mit ihm - der sich fortan Diocletian nannte - betrat ein Mann die Bühne der Weltgeschichte, der schon zu seinen Lebzeiten den großen Herrschergestalten des Altertums zugerechnet wurde. Dabei war er eine merkwürdig gebrochene Persönlichkeit, voll polarer und wider­ spruchsvoller Eigenschaften, ebenso abergläubisch wie klug, ebenso rücksichtslos wie wendig, ebenso geizig wie verschwenderisch. Müitärische Gradheit und füchsische Verstellung, Kühle und Leidenschaft, Härte und Güte wohnten in ihm dicht beieinander. Er umgab sich mit dem ganzen Pomp des Orients, Heß seine Schuhe mit Perlen und Edel­ steinen schmücken und verlangte als Gott verehrt zu werden, und doch zog er sich vorzeitig von seinen Ämtern zurück, um aus der Aura religiöser Verehrung in das Leben eines Privatmannes zurückzutreten, das er skeptisch, mißtrauisch und krank, ein einsamer, alter Mami, in seinem Riesenpalast in Spoleto zu Ende führte. Eins aber kann ihm nicht abgesprochen werden: daß er ein Organi­ sationsgenie erster Ordnung war, ein Mann der unbedingten Staatsraison und der harten poHtischen Praxis, und daß er das Imperium vor dem drohenden Zusammenbruch rettete. Das Erbe, das er übernahm, hätte einen schwächeren Charakter ver202

zagen lassen. 49 Jahre lang hatten die Heere des Reiches nach Gutdünken Kaiser ernannt und umgebracht. Zwar verfügte das Imperium noch immer über tüchtige Feldherrn und hochgerüstete Legionen, denen kein Feind zu widerstehen vermochte, doch gab es keine echte Zentralgewalt mehr. Schon hatten sich - unter Postumus - GaUien, Spanien und Britan­ nien zeitweilig selbständig gemacht. Der Limes war durchbrochen und lag in Schutt und Asche. Die Alemannen und Franken im Westen, die von den Sassaniden neu geeinten Perser im Osten bedrohten die Grenzen des Reiches, ja, sie waren schon tief in die Länder des Imperiums ein­ gedrungen. Durch ein riesenhaftes Reformwerk, das alle Gebiete des öffenthchen Lebens umschloß, vermochte Diocletian das morsche Gebäude noch einmal zu festigen. Er erhöhte die Zahl der Provinzen von 50 auf 101 und faßte diese wieder in zwölf Diözesen zusammen. Er trennte die Militär- und Zivilgewalten, wischte die uralten Privilegien ItaHens mit einer Handbewegung vom Tisch, reformierte die Steuergesetzgebung, gab ein neues Münzedikt heraus und setzte Höchstpreise für das ganze Land fest - (eine höchst zweifelhafte Maßnahme freüich, weü zu ihrer Durchführung, wie Jacob Burckhardt bemerkt, «der unausgesetzte Taktschlag der Guillotine» gehört). Auch die seit langem notwendige Heeresreform war, wenigstens in ihren Grundzügen, das Werk des rastlos tätigen Kaisers. Auf ihn geht eine wesenthche Vermehrung der Truppenstärken zurück. Diocletian verfügte zu diesem Zweck den Dienstzwang für Soldaten- und Vete­ ranensöhne, ermächtigte die Provinzen und Städte, Soldaten gleichsam wie Steuern einzuziehen, und kannte keine Bedenken, bei der Rekru­ tierung noch mehr als seine Vorgänger auf unterworfene Völkerschaften zurückzugreifen, ja, barbarische Stämme in menschenleeren Gebieten des Reiches anzusiedeln, um deren waffenfähige Jugend möghchst bald einzuberufen. Entscheidend aber war die Schaffung von Abschnitt- und Haupt­ reserven, eines mobilen Heeres also, das dem Kaiser selbst unterstand und als «Feuerwehr» überall da eingesetzt wurde, wo Gefahr im Verzüge war. In diesen beweglichen Kampfgruppen, den sogenannten «comitatienses», vereinigte er die besten Einheiten des Abend- und Morgen­ landes, während er den Schutz der Grenzen den mit Grund und Boden bedachten «foederatn» und als «limitanei» bezeichneten Festungstruppen überheß, die sich in der Spätzeit kaum noch von den bundesgenössischen Wehrbauern unterschieden. 203

Auch Regensburg und Marc Aurels «3. Italische Legion» wurden von Castra dieser Heeresreform betroffen. Castra Regina blieb zwar der Dienstsitz des Regina dgg neuen Müitärbefehlshabers beider Raetien, die «Dritte» aber wurde in sechs Einheiten aufgespalten, von denen nur eine in Regensburg in Garnison blieb, während die anderen zur Sicherung von Flußübergängen und zum Schutz der alpinen Verbindungen abkommandiert wurden. Am Ende erging es der Legion wie jenen alten Soldaten, von denen es in einem amerikanischen Liede heißt, daß sie nicht sterben, sondern in der Ferne entschwinden. Ohne weiteren Lorbeer an ihre Fahnen geheftet zu haben, entzieht sie sich um die Mitte des 5. Jahrhunderts dem Bhck des Historikers. Auch die Geschichte der von ihr verteidigten Festung hegt weiterhin im tiefsten Dunkel. Überliefert ist ein Besuch Julian Apostatas, der 362 in Regensburg die römische Donauflottille bestieg und mit ihr talwärts fuhr. In der Notitia dignitatum, einem um das Jahr 400 erschienenen Staatshandbuch über die Verteüung der römischen Truppen, taucht sie noch einmal als Castra Regina auf. Weitere spärliche Kunde, nun schon im Legendenton, spendet die Lebensbeschreibung des heiligen Severinus - damit aber sind die schrift­ lichen Quellen schon genannt, und gäbe es nicht die Chroniken der Mauern, Gräber und Ruinen, man müßte die Akte Castra Regina mit diesen Hinweisen bescliließen. Die frühzeitig anhebenden, wenn auch zunächst nur wenig syste­ matisch betriebenen Ausgrabungen haben jedoch die Regensburger Frühgeschichte weitgehend aufgehellt.

D ie A kte

35 000 Kubikmeter

Die jüngsten Forschungen von Dr. Armin Stroh erwiesen sich auch dieser Beziehung als äußerst wertvoll. So Heß sich in dem untersuchten Mauerwerk zweifelsfrei eine zweite Bauphase feststellen, die «wegen ihrer flüchtigen und unsachgemäßen Arbeit und der ausschließhchen Verwendung von Spolien nur durch eine tiefgreifende Zerstörung aus­ gelöst worden sein» kann. Für diese muß nach Lage der Dinge der Alemanneneinfall zu Beginn des 3. Jahrhunderts verantwortlich gemacht werden, eine unruhige und bedroUiche Zeit, wie auch aus den zahl­ reichen Münzschätzen hervorgeht, die damals vergraben wurden. Die dritte, ebenfalls einwandfrei festzustellende Phase, wird durch die Verminderung der Besatzung imter und nach Diocletian ausgelöst sein, die man durch eine Verstärkung der Mauern und Türme zu kompensieren trachtete. Damals erhielt der fast 2 Kilometer lange 204

Wall mit seinen 35000 Kubikmeter Steinen seine endgültige Gestalt. Die Mauern waren nun 7 Meter hoch und mehr als 2 Meter breit ein respektables Hindernis, das mit den seinerzeitigen Mitteln der Kriegstcclmik kaum zu bezwingen war. Auch die Porta Praetoria dürfte zu diesem Zeitabschnitt ihre endgültige Gestalt gefunden haben. Weitere Veränderungen an der Mauer gehen wahrscheinlich auf einen Angriff der Juthungen zurück, eines germanischen Volksstamms, der sich als einer der ersten im Berennen fester Plätze versuchte. Seine Krieger stürmten - es wird im Jahre 357 gewesen sein - unter anderem das Osttor, das aber, vermutlich nach Abwehr der Belagerung, aus den reiclihch vorhandenen Trümmern, überzäliligen Grabsteinen und Denk­ malsresten, darunter einer überlebensgroßen Gewandstatue, schnell wieder aufgebaut wurde. An die 100 Jahre hat sich die Festung dann noch behauptet. Ja, sie überstand den Zusammenbruch des Imperiums, olme noch einmal erobert zu werden oder sonstigen Schaden an ihren militärischen und zivilen Einrichtungen zu nehmen. Selbst die Hunnen verschonten die Stadt, nicht zuletzt dank der gescliickten Politik des Aetius, des letzten römischen Statthalters von Raetien. Als herrenlose Festung wurde sie um 470 herum von alemannischen und thüringischen Heerhaufen gleichsam in Obhut genommen. Aber noch unter dem germanischen Heerkönig Odoaker und seinem Nachfolger, dem Großen Theoderich, wurde sie der italischen Interessenssphäre zugerechnet. Erst mit dem Eindringen der Bajuwaren, deren Hauptstadt die gewesene Legionärsfestung 531 wurde, schheßt dieses letzte Kapitel der Chronik der alten Römerfestung sang- und klanglos ab. Wie ihre äußere Geschichte wäre auch ihre innere Entwicklung ein ZiegeU Buch mit sieben Siegeln, hätte der Spaten nicht die zahlreichen unterirdisehen Archive erschlossen, die der Regensburger Boden verborgen hielt. Das Lager selbst - das konventionelle Rechteck maß 450 mal 580 und Tempel Meter und war damit die größte Römerburg Süddeutschlands - bot freilich keine Überraschungen. Nüchternlieit, Zweckmäßigkeit, äußerste Sachliclikeit standen liier wie überall Pate. Die Via sagularis an der Innenseite der Mauer, die beiden Hauptstraßen, die sich rechtwinklig kreuzten und den Lagerraum in vier Teile ghederten, die Großgebäude am Schnittpunkt der beiden Straßen, das Praetorium, die Wohnungen der Tribunen, die Kasernen, das Lazarett, die Waffenkammern, das Schlachthaus, die Magazine - das alles entsprach dem üblichen Schema. 205

Erwähnung verdient immerhin, daß die vier bis sechs Meter breiten Straßen mit Ziegeln ausgelegt waren, Innenhöfe und Fußböden mit Solnhofener Platten und die meisten Gebäude sich einer Wärme und Behaghchkeit schenkenden Fußbodenheizung erfreuten. Der constantinischen Zeit verdankte die Festung noch einen palastartigen, luxuriös ausgestatteten Bau, dessen 38 Meter lange Fundamente unter dem Alten Kornmarkt ruhen. Die Bauleidenschaft der römischen Herren bediente sich vornehmlich der Natursteine von Kapfelberg und der Legionsziegel von Abbach. Im Treidelverkehr wurde das Material auf der Donau herangeschafft und bei St. Oswald, dem römischen Anlegeplatz, ausgeladen und gestapelt. Auch an Tempeln war kein Mangel. Daß sie zum guten Teil Jupiter und Mars - die zusammen mit der Kolossalgestalt des Herkules später im Sagengut der Stadt fröhUche Urstände feierten - sowie der Sieges­ göttin Victoria gewidmet waren, entspricht den Bedürfiiissen und dem Charakter einer Soldatenstadt. Der intensivsten Verehrung aber scheint doch Gott Merkur teilhaftig geworden zu sein. Ihm war ein großes Heihgtum an der Heerstraße nach Augsburg gewidmet, das 1934 freigelegt wurde und mehrere Bauten umfaßte, darunter einen fast quadratischen Tempel mit einem Innenraum von 7 Meter und einem Umgang von 14 Meter Seitenlänge. Der Tempel wurde beim AlemanneneinfaU des Jahres 213 zerstört, aber durch den Feldwebel G. Rufonius Placidus «in Erfüllung seines Gelübdes wiederhergestellt ». Die großen und kleinen Standbilder, die man im Heiligtum fand, scheinen durchweg der gleichen Werkstatt zu entstammen. Sie zeigen den Gott der Geschäftemacher mit dem Geldbeutel in der Rechten, in der erhobenen Linken das Kerykeion, den schlangengekrönten Heroldstab, zu seinen Füßen Widder und Hahn, die dem Merkur heihgen Tiere. Unter den Stiftern befanden sich zwei Trierer Kauf­ leute, die als Lieferanten der Regensburger Garnison vielleicht einen guten Abschluß getätigt hatten, sowie ein Centurio der 3. Italischen Legion nebst Sohn, die zur Vorsicht des schnellfüßigen Gottes Mutter Maja in ihre Verehrung mit einschlossen. Auch Venus und Apoll hatten - selbstverständUch - ihre Liebhaber, desgleichen die Muttergottheiten und gewisse orientahsche Götter. Mithras allerdings felilt, wie in der ganzen Provinz Raetien. Dafür begegnet man dem ägyptischen Apiskult, wie überhaupt zalilreichen ägyptischen Ausstrahlungen. Auch die römische Wölfin mit ihren 206

säugenden Zwillingen scheint nahezu göttliche Verehrung genossen zu haben. Die lebendigsten Zeugen des römischen Lebens aber waren auch in Regensburg die Stätten der Toten. Nahezu 6000 Gräber wurden freigelegt beim Bau der Bahnlinie Regensburg—Ingolstadt im vorigen Jahrhundert, auf einem Feld «von 5 bis 6 Tagwerk» Größe; dazu kamen noch zahlreiche Einzelgräber an der alten Heerstraße nach Augsburg. Leider wurden die Grabungen auch hier ausschheßlich von lokalen Kräften und überdies mit sehr unzulänglichen Mitteln durchgeführt, so daß nur ein geringer Prozentsatz des unübersehbaren Fundmaterials wissenschafthch erfaßt wurde. Leiter der Kampagne war der «frei­ resignierte Pfarrer Josef Dahlem», ein verdienter und tüchtiger Mann, dem die Arbeit aber bald über den Kopf wuchs, da er mehrere Bau­ stellen zu beaufsichtigen hatte xmd daher ständig «von einem Ort zum andern remien» mußte. Als er dann zwecks Regelung privater Ange­ legenheiten einige Zeit von Regensburg abwesend war, wurde die Arbeit von Laien kontrolliert, die an Stelle des notwendigen Fachwissens ein häufig nur «in nachteüiger Weise» gewecktes Interesse mitbrachten, wie es in einer zeitgenössischen Darstellung vorsichtig umschrieben wird. Kurzum, es wurden zahlreiche Funde auf die Seite gebracht, Privat­ sammlungen eingefügt oder in blanke Thaler umgewechselt. Was übrig­ blieb, konnte zudem nur behelfsmäßig einquartiert werden, so daß es noch jahrelang dauerte, bis die bedeutsamen Funde registriert und aus­ gewertet wurden.

Das große Gräberfeld

Das Ergebnis konnte sich trotzdem sehen lassen. «In den Gräbern W ie sie sich fanden sich» - nach Heinrich Lamprechts Bericht über den «Großen ^Iririchteten^ römischen Friedhof in Regensburg» - «zahlreiche Beigaben, besonders solche, die zum Schmucke dienten, daneben aber fast alle Gegenstände, die der Mensch für die Verrichtungen des tägHchen Lebens nicht entbeliren konnte.» Die Funde bezeugten ein beachtUches zivüisatorisches Niveau und einen bescheidenen Wohlstand. Wenn sie auch in teclinischer und formaler Hinsicht nicht mit den Höchstleistungen des römischen Hand­ werks am Rhein zu konkurrieren vermochten, was ja bei einer Mihtärsiedlung nicht weiter verwunderlich ist, so gaben sie doch «eine klare 207

Vorstellung, wie der römische Provinziale des 2. und 3. Jahrhunderts sich zu schmücken und einzurichten pflegte ». «Sehr zahlreich waren Tonwaren. Außer den Gefäßen, die gewisser­ maßen zum Bestand der Gräber gehörten, den Urnen, Lampen und Räucherschalen, fanden sich Amphoren, Schüsseln, Reibschalen, Töpfe verscliiedener Größe und Gestalt, Teller, Krüge, Becher und Tassen; auch terra sigillata fehlte nicht... Nur ganz vereinzelt waren Gefäße aus Metall, zahlreicher solche aus Glas, doch sind es meist nur Balsamarien, Ölfläschchen, die man als für das Jenseits besonders schwer entbehrUch mit Vorliebe in das Feuer des Scheiterhaufens warf » «Die Schmucksachen sind meist aus Bronze und Eisen; selten kommt Silber, nur ganz vereinzelt Gold oder Elfenbein vor. Da fanden sich für Halsketten Perlen aus Ton, Glas, Gagat, Bernstein und Korallen, Arm­ reifen, Siegel- und Fingerringe, Fibeln, Haarnadeln, Schnallen, Medail­ lons, Anliänger, Ohrringe und Gürtelverzierungen. Nicht selten w ar... die Beigabe von Schmuckkästchen, von denen sich Schloßblatt und Schlüssel, Henkel und Eckbeschläge erhielten.» «Unter den Gebrauchsgegenständen über wiegen solche, die zu Toilettezwecken dienten. Hier sind vor allem zu erwälinen die... sehr seltenen - Glasspiegel, ferner Spiegel der gewöhnhehen Art, polierte Steinplättchen zum Anreiben der Schminke, beinerne und metallene Knöpfe, Näh- und Durchzugnadeln, Kämme, Ohrlöffelchen und Scheren.» «An anderen Gegenständen fanden sich Messer mit Griffen aus Holz, je einmal aus Hirschliorn und Elfenbein - letzterer Messergriff zeigt geschnitzt einen Hasen von einem Hunde verfolgt - Löffelchen, Spinn­ wirtel, SclJüssel, Sclilüsselringe, Schlüsselgriffe, Würfel, Spielhennen aus Ton, Spielknöpfe, Glaskugeln, unseren Schussern (Klickern) ähnheh, Glöckchen verschiedener Größe, Schreibgriffel, Tintengefäßen ähnhehe Töpfe, Spateln, Tongewichte, ein Zirkel, Steinkugeln, die vielleicht als Wärmkugeln dienten, und die Stempel eines Augenarztes» - und zwar des Quintus Pompejus Graecinus, dessen Stempelstein auf der Rückseite vier Rezepte gegen die ägyptische Augenkrankheit enthält. Selten dagegen waren Waffen - «es fanden sich nur drei Lanzenspitzen und ebensoviele Dolchmesser ». Auch die Mitgabe von Münzen scheint in der römischen Militärstadt an der Donau kaum noch gebräuchheh gewesen zu sein. 208

Fast mehr noch als diese Beigaben sprechen die erhaltenen Grab- Friedhofsdenkmäler selbst den Beschauer an. Kulturhistorisch interessant sind vor 1100 Jahren allem die zahlreichen Entlehnungen aus der griechischen und vorder­ asiatischen Mythologie. Da gibt es eine sitzende Sphinx, die einen Menschenkopf an den Haaren halt, und den Torso eines ReUefs, das einen nackten Mann mit Schwert und den Rumpf einer vorangehenden Frau zeigt - vermuthch Elektra, die ihren Bruder Orestes zum Mutter­ mord ins Haus führt. Der Tod wird gern als Löwe gezeigt, der ein Schwein überwältigt ein ebenso vulgäres wie sinnenhaftes Symbol der Macht des Todes über das Leben. (Daß einer dieser Grabmallöwen eine unverkennbare Ähn­ lichkeit mit einem prominenten Deutschen der Gegenwart hat, dürfte dagegen nur nackter Zufall sein.) Gclegenthch zeigen die Grabplatten auch Szenen aus dem Leben des Verstorbenen selbst, so im Fall des Miütärarztes Ulpius Lucilianus. Darstellungen ganzer Familien tauchen auf, mit Vater, Mutter, Kindern und umfangreicher Dienerschaft. Hier ein Ehepaar, das sich hebend die Hände reicht, dort ein Kind mit den trauernden Eltern - Friedhofsidyllik vor 1700 Jahren! Einmal hat man dem Verstorbenen, offenbar einem Freund von Wein, Weib und Gesang, eine Wirtshausszene auf die Grabplatte gemeißelt: auf dem Tisch zwei Krüge, zur Linken wartend der Kellner, zur Rechten ein Liebespaar, das gerade hinter dem Vorhang verschwindet. Die den Schattengöttem, den Unterirdischen oder der ewigen Ruhe gewidmeten Grabinschriften nennen fast ausschließhch Militärpersonen, etwa den «ehrenvoll verabscliiedeten Tubabläser» Septinius Impetratus, den Juhus Aelianus, der Buchhalter der «Dritten» war, oder den Haupt­ mann Aurelius Valerianus, der seinem «süßen Sohn», gestorben im Alter von sieben Jahren und acht Tagen, ein Denkmal setzte. Überhaupt hat man den Eindruck, daß hinter den blitzenden Brustpanzem des Kriegsvolkes manch fühlendes Herz schlug, das sich nicht scheute, mit Inbrunst in die lyrische Harfe zu greifen. Mit Worten der Liebe auf den Grabsteinen ist jedenfalls nicht gespart. Da ist von «der unvergleichhchen Gattin» die Rede, der «teuersten, seltensten Frau», der «zärthch Liebenden und für ihre Verdienste hoch zu verehrenden Frau», ja, dem «süßen, holden Gedenken Aureliens». Am bedeutsamsten aber ist ein kleiner mit dem Monogramm Cliristi versehener Stein der vorconstantinischen Zeit, der einer Dame namens Sarmannina galt, «die in Frieden ruht und mit den Märtyrern vereint 14 Pöxtner

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ist». Er beweist nämlich, daß bereits vor der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion eine christhche Gemeinde in Regensburg bestand. Da die ÜberUeferung sogar von einem Bischofssitz in spätrömischer Zeit wissen wiU, ist sie vielleicht gar nicht so klein gewesen, was ja auch die zahlreichen chrisdichen Gräber an der regensburgischen «Via Appia » nach Augsburg vermuten lassen. Die Truppe ihr Erbe blieb

Auch dieser kleine Zug gehört zum Bild der spätrömischen Militär­ stadt. So sehr sich nämhch die Truppe aus dem Lande ernähren und schließhch auch rekrutieren mußte, stellte sie doch die Verbindung zu den großen Zentren des Imperiums her. Sie schuf die Kontakte zu den geistigen Bewegungen der Zeit. Von ihr gingen, obwohl in einer ver­ gröberten Form, die zivüisatorischen Impulse aus, die auch das Leben der Unterworfenen durchdrang. Die Besatzung lehrte die Kunst des Straßenbaues und den Umgang mit Mörtel und Stein. Ihre Handwerkerstuben und Manufakturen ver­ mittelten die Keimtnis neuer Geräte und Techniken. Ja, die Truppe öffnete Herz und Sinne für die Verfeinerung des Lebens und erfüllte selbst das harte Dasein an den blutig umkämpften Grenzen mit einem Abglanz mittelmeerischer Heiterkeit. Und sie bewies allein durch ihre Existenz, daß eine kleine wohl­ organisierte und planvoll eingesetzte Macht dem ungezügelten Aufbruch weitaus stärkerer, barbarischer Kräfte standzuhalten vermochte — so lange zumindest, bis der Gegner anfmg, sich der gleichen Mittel und Methoden zu bedienen und damit vom grimmigen Feind zum heimlich bewundernden Schüler zu wandeln. Wir wissen heute, daß das weltgeschichthche Potential der Germanen nicht zuletzt «in ihrer Kraft zur produktiven Aneignung» lag, «in der Empfänglichkeit ihres Gemüts für die Größe des Reichs und für den unbekannten Gott». Wenn Hans Freyer in seiner «Weltgeschichte Europas» die These aufstellte, «daß Rom in ihnen nicht nur seine Überwinder fand», sondern auch seine legitimen Erben, «die Bebauer seines brachliegenden Bodens» und «die rauhen Bewunderer und gelehrigen Schüler seiner Kultur», nicht zuletzt auch «den guten Boden für das Samenkorn des Christentums», so wird diese These jedenfalls durch das Ende und den Weiterbestand des Castra Regina belegt. Die Truppe rückte eines Tages sang- und klanglos ab, ihre Hinter­ lassenschaft aber ging in den neuen Alltag ein. Die Sieger - wenn man sie überhaupt so nennen darf - richteten sich in den Bauten der Legionäre 210

wolinlich ein. Aus dem Praetorium des Kastells wurde die Pfalz der Agilolfmger, die Pfalzkapelle setzte, wenn auch in veränderter Gestalt, die Tradition des Lagerheiligtums fort, der sagenhafte Herkulestempel wurde frühchristliche Friedhofskirche, und noch im 8. Jahrhundert rühmte Bischof Arbeo von Freising die Festigkeit der von den Legionären errichteten Mauern und Türme. Da auch viele handwerkliche Fähigkeiten weitergegeben, eine Art von städtischer Struktur beibehalten und die religiösen Gepflogenheiten zumindest nicht verschüttet wurden, ist es nur ein Ausdruck geschicht­ licher Konsequenz, daß sich die Legionärsgamison an der Donau schon 100 Jahre vor Karl dem Großen zu neuer Blüte regte und, wie auch andere Römergründungen, als eine Königin unter den Städten stolz und selbstbewußt ms frühe Mittelalter einging. «Die Stadt Ratisbona », so heißt es um 1050 bei dem Mönch Otloh von St. Emmeran, «ist alt und neu zugleich. Sie ist die erste unter allen großen Städten... Keine Stadt Deutschlands ist berühmter... Groß ist ihr Überfluß an Gold, Süber und anderen Metallen, an kostbaren Geweben, Purpur und Waren aller Art. Ihren überragenden Reichtum verdankt die Stadt der Schiffahrt und den Zöllen und dem Zustrom wertvoller Handelsgüter aller Art.» Nicht zuletzt aber auch ihrem römischen Erbe, wie man guten Gewissens hinzufügen kann. Dieses Erbe ist, wie schon ein kurzer Besuch erweist, über 1% Jahrtausende hinweg noch immer spürbar. Das Rechteck des römischen Lagers zeichnet sich unübersehbar im städtischen Kartenbild ab. Dom und bischöfliche Residenz, Herzogshof und Niedermünster, St. Kassian und der Goldene Turm, sie alle stehen auf dem Boden, der schon von den Soldaten des Imperiums militärisch, zivilisatorisch und baulich beackert wurde. Unter den beiden Bachgassen fließt noch immer der Vitusbach, der den Lagergraben der Festung mit Wasser füllte, und die Fröliliche Türkenstraße folgt bis heute dem Lauf der antiken Nordsüdstraße. Ja, selbst in Eigentumsgrenzen hält der städtische Boden die römischen «limites» beharrlich fest. Nur der westhche Zug des großen Mauer­ rechtecks ist verschwunden. Er wurde im Mittelalter niedergerissen und überbaut und kann heute nur mehr durch eine Linie markiert werden, die schnurgerade durch nordsüdlich verlaufende Häuserblocks schneidet. Freilich hat es lange gedauert, bis man sich der römischen Hinterlassen­ schaft wieder bewußt geworden ist, und von einer systematischen 211

D ie Röm er W c iz c fih o c ti

Erkundung und Pflege dieses Erbes kann trotz der Vorarbeit tüchtiger Lokalforscher selbst heute kaum gesprochen werden. Man ist aber nach Kräften bemüht, das «Römische», soweit es noch sichtbar ist, im Stadt­ bild zu erhalten und zur Geltung zu bringen. Die Versicherungsgesellschaft zum Beispiel, die in der Nähe des Bahnhofs ihr modernes Bürohaus ausführen ließ, konnte nicht eher mit den Bauarbeiten beginnen, als eine annehmbare Lösiuig zur Erhaltung des hier entdeckten Mauerstücks gefunden war, einer Erhaltung, die nicht so sehr Konservierung als vielmehr lebendigen Weiterbestand bezweckt - wie ja auch Kegelbahn und Bierterrasse keine musealen Einrichtungen sind. Auch die Porta Praetoria übt noch immer eine höchst praktische Funktion aus. Wer sie passiert und die 14 Stufen einer steinernen Treppe emporsteigt, betritt den Wirtschaftshof des BischöfHchen Hotels. Hier kann es geschehen, daß er durch ein Plakat auf den Anstich des neuen «Weizenbocks» aufmerksam gemacht und damit auf bajuwarisch handfeste Art aus der römischen Vergangenheit in die bayrische Gegen­ wart zurückbeordert wird.

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Neuntes Kapitel DIE «SPLENDIDISSIMA» U N D D E R M A R K T O R T Die Römer in Bayern Stadt der Künstler und Kaufleute • Der trojanische Krieg - in Bayern • Post­ sekretär und Schatzgräber Müller • Neugründung mitten im Walde • Kolonien^ Municipien, Residenzen • Die Herren Stadtvertreter •