Mexiko jenseits der Einsamkeit - Versuch einer interkulturellen Analyse. Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus. 9783964564443

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Mexiko jenseits der Einsamkeit - Versuch einer interkulturellen Analyse. Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus.
 9783964564443

Table of contents :
Inhalt
EINLEITUNG
I. Kultur in der Lateinamerika-Forschung: Das Fremde und das Eigene
IL Identität, Mythos und europäische Hispanoamerika- Utopien. Versuch einer Rettung des Mythos als ethische Frage nach dem Anderen
III. Der Magische Realismus
IV. Die Mestizierung: Das kulturelle Identitätsmodell Hispanoamerikas im 20. Jahrhundert
V. Barock und Americanidad
VI. José Revueltas: El luto humano
VII. Juan Rulfo: Pedro Páramo
VIII. Elena Garro: Los recuerdos del porvernir
Literaturverzeichnis

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Vittoria Borsò Mexiko jenseits der Einsamkeit

Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -kríükJHistoria y Crítica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft/¿mgütoica Serie C: Geschichte und Gesellschaft///iíforia y Sociedad Serie D: Bibliographien/fliMogra/íaí Herausgegeben von¡Editado por : Walther L. Bemecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann

A: Literaturgeschichte und -kñtik/Historia

y Crítica de la Literatura, 5

Vittoria Borsò

Mexiko jenseits der Einsamkeit Versuch einer interkulturellen Analyse Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1994

Als Habilitationsschrift der Fakultät f ü r Sprach-und Literaturwissenschaft der Universität Mannheim gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Borsò, Vittoria: Mexiko jenseits der Einsamkeit : Versuch einer interkulturellen Analyse : Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus / Vittoria Borsò. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1994 (Editionen der Iberoamericana : Serie A, Literaturgeschichte und Kritik ; S) Zugl.: Mannheim, Univ., Habil.-Schr., 1991 ISBN 3-89354-855-6 NE: Editionen der Iberoamericana / A

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1994 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Printed in Germany

für H. Ihm sei das Buch gewidmet

Messico - "La forma dell'albero" In Messico, vicino a Oaxaca, c'è un albero che si dice abbia duemila anni d'età. E' noto come "l'albero del Tuie". [...] Il tronco sembra unificare nel suo perimetro attuale una lunga storia d'incertezze, geminazioni, deviazioni [...]: ciò che mi preoccupa mentre giro intomo all'albero del Tuie è la disponibilità della morfologia a cambiare i propri ruoli, è lo sconvolgimento della sintassi vegetale [...] Per temperamento ed educazione sono sempre stato convinto che solo conta e resiste ciò che è concentrato verso un fine. Ora l'albero di Tuie mi smentisce, vuol convincermi del contrario. Italo Calvino Collezione di Sabbia

7

Inhalt Vorwort

12

Einleitung

13

I.

KULTUR IN DER LATEINAMERIKA-FORSCHUNG: DAS FREMDE UND DAS EIGENE

Das Problem des Umgangs mit dem Fremden: conquista und colonia als Provokation der Forschung 1.1 Die lateinamerikanische Kultur und das Fremde 1.1.1 Kritik an literarhistorischen Diskursen 1.1.2 Diskursanalyse statt Fremdeikenntnis 1.2 Die Rolle der Literatur: Das "ästhetische" Modell Sahagüns 2. Mexiko im Rahmen der hispanoamerikanischen Kultur 3. Methodisches Vorgehen: Modell versus Diskurstheorien 3.1 Objektanalyse: Michail Bachtin und das Modell einer Kulturpluralität . . 3.2 Diskursanalyse: Michel Foucault

19

1.

II.

19 21 22 24 27 30 32 33 36

IDENTITÄT, MYTHOS UND EUROPÄISCHE HISPANOAMERDCA-UTOPIEN. VERSUCH EINER RETTUNG DES MYTHOS ALS ETHISCHE FRAGE NACH DEM ANDEREN

1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2

Identität und Alterität Nationale Identität durch Geschichtsschreibung bzw. orale Tradition . . . Ästhetische Individualität als Grenze nationaler Identitätsdiskurse Der Mythos, europäische Hispanoamerika-Utopien und mythische Prozesse in der Literatur Der Mythos als Alternative zum Logos? Mythos als Erzählung des Ursprungs Der Ursprungsmythos in Ethnologie und Psychoanalyse Die mythopoetische Perspektive des Ursprungsmythos: Mythos als Werkzeug der Erkenntnis und des Bewußtseins Die Ambivalenz des Mythos: Jolles Mythe vs. Mythus Kulturelle Ambivalenz des Mythos der Wiederkehn Mythopoetische vs. mythenkritische Perspektive Die Urzeit zur Unzeit: Kritische Anmerkungen zu arche und telos in mythischen Utopien hispanoamerikanischer Identität

42 45 51 57 58 60 61 63 66 68 70

g 2.3.3 Statt mythischer Utopien über Hispanoamerika: Das Antlitz leidender Menschen 2.4 Der Mythos als Drama der Offenbarung 2.5 Emmanuel Lévinas. Von der mythischen Offenbarung des Anderen zur Öffnung durch den anderen Menschen 2.6 Mythen in literarischen Texten

73 74 76 81

in.

DER MAGISCHE REALISMUS

88

1. 1.1

Realismo mágico: Die ästhetische Formel eines Identitätsdiskurses . . . . Zwei Seiten einer Medaille: Die Prämisse einer authentischen Welt im realismo mágico und real maravilloso Realismo mágico: Eine eigenständige philosophische Methode? Der alternative discurso del método Von einem alternativen discurso del método zur Kritik der Authentizitätsfrage Diskurs statt authentischem Modell - Realismo maravilloso von Irlemar Chiampi als diskursstrukturelle Kategorie Der Weg aus der Authentizitätsprämisse - Kosmpolitische Literatur und "Phantastischer Realismus" Statt Begriffs- bzw. Genrediskussion - Der Text als kulturelles Abenteuer Das Problem von Theorie und literarischer Praxis Walter Mignolo: ein diskurshistorisches Beispiel

88

1.2 1.3 2. 3. 4. 5.

IV.

DIE MESTIZIERUNG: DAS KULTURELLE IDENTITÄTSMODELL

1.

Mestizaje statt blanqueamiento der Rasse? Das kolonialistische Apriori in der Genealogie des Mestizen Die Mestizierung. Ein "avantgardistisches" Kulturmodell Kritik der Opposition Criollo vs. Indio: Henríquez Ureña Die kulturelle Mestizierung als Metapher für Kreativität: Uslar Pietri Die Mestizierung als kulturphilosophisches und soziologisches Programm Mexikos Mexicanidad als Identitätsdiskurs in den 30er Jahren Integration als Ausblendung des indianischen Anteils Eine "kritische Tradition" der mexicanidad Die Otredad von Octavio Paz und der offizielle Diskurs

HISPANOAMERKAS IM 2 0 . JAHRHUNDERT

2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.2 3.3

92 97 98 100 107 109 111

114

116 119 119 120 124 128 128 132 134

9 V.

BAROCK UND AMERICANIDAD

141

1. 2.

142

4. 5.

Caipentiers barroco americano José Lezama Limas Curiosidad barroca: Kulturelle Assimilation statt Authentizität Indiatide im hispanoamerikanischen Barock: Widerstand des Anderen statt Synthese Assimilation als Abbau von Differenz- und Identitàtsanspriichen Die Allegorie: "Poetische Methodik" Mexicanidad im Barock - Die Provokation von Octavio Paz durch Sor Juana Barock und Allegorie als Methode Kritik der Diskurse und methodische Schlußfolgerungen

VI.

JOSÉ REVUELTAS: EL LUTO HUMANO

2.1 2.2 2.3 3.

1. 1.1 1.2 2. 3. 4. 5. 5.1 5.2 6. 6.1 6.2 6.3 7. 7.1 7.2 8. 8.1 8.2

José Revueltas. Ein Grenzgänger Stilisierung der Makrostruktur £ Ein Baustein der Kritik mythischer Diskurse Die mexikanische Geschichte. Zwischen Genesis und Apokalypse . . . . Eine Gesellschaft von Außenseitern Der Diskurs des Ursprungs. Figuren als Allegorien des Mestízierungsdiskurses Der Crwfero-Aufstand und die Rolle der Religion Eine Besondeiheit der Identität des Mexikaners: Die Mutter als Hure . . Kulturelle Mestizierung Ambiguität der mestizieiten Symbolik Die Kehrseite der Symbolik Eine andere Form von Genesis Génesis oscuro Revueltas' Antiheld: Eine síntesis negativa Der Existentialismus einer síntesis negativa Die "negative Dialektik" als Prinzip von El luto humano Ästhetische Prozesse des Romans und das essayistische Werk von José Revueltas Die Aktualität Revueltas' Kulturanalyse von El luto humano Literarischer Text und Kulturanalyse Kritik der Revolutionsmythen im offiziellen Diskurs der mexicanidad . .

150 151 153 154 158 163 166

168 170 172 175 179 187 189 193 193 196 197 199 202 203 206 206 209 212 212 214

10 VN.

JUAN RULFO: PEDRO PÁRAMO

217

1. 1.1

Orientierungsverlust - Initiation in die Welt Cómalas Tod des autobiographischen Erzählers: Der Bruch in der Beziehung zwischen Sprache und Dingen Tote als Gesprächspartner Der Orientierungsverlust im Lektüreprozeß . Traumerinnerung vs. Kommunikation: Die Geschichte des Pedro Páramo Totengespräche: Geschichte und Erinnerung im Chronotopos des unterirdischen "Paradieses" Die Lehre des Juan in der Unterwelt Das "irdische" Prinzip der Unterwelt: Begehren als Antriebskraft Doroteas allegorische Lektüre Allegorie als Prinzip des Diskurses Traum als Konstituent allegorischer Arbitrarität Allegorische Lektüre als Distanzierung von Interpretationsmodellen . . . Historischer Diskurs, Gedächtnis und Erinnerung Die Provokation mythischer Modelle von Geschichte durch die Erinnerung Die Provokation des historischen Gedächtnisses durch Erinnerung und Imagination Die Poetik der oralen Kultur - Plädoyer für einen freien Umgang mit Kulturpluralität Juan Rulfos Vorsicht im Umgang mit dem "Anderen" Die Ästhetik von Juan Rulfo im Kontext des mexikanischen Romans . . Pedro Páramo als Provokation Pedro Páramo und die Erosion mexikanischer Mythen

222

1.2 2. 3. 3.1 3.2 3.3 4. 4.1 4.2 5. 5.1 5.2 5.3 6. 7. 7.1 7.2

226 230 233 242 243 245 248 250 250 252 255 256 259 262 264 266 266 270

V i n . ELENA GARRO LOS RECUERDOS DEL PORVENIR

1. 1.1

Die postrevolutionäre "Kultur" Mexikos Militarisierung des Staatsapparates als Bruch in der mexikanischen Geschichte 1.2 Ästhetisches vs. politisches Handeln: Illusion vs. Täuschung 1.2.1 Theater als Praxis der Befreiung 1.2.2 Die locura - Einbildungskraft in einem militärisch besetzen Chronotopos 1.3 Konflikte und Phantasmen einer unverarbeiteten Revolution 2. Masken der Gewalt im revolutionären Fest 3. Gedächtnis und Kultur 3.1 Verlust kultureller Erinnerung in der postrevolutionären Zeit

273

275 275 278 281 282 285 290 292 292

11 3.2 3.3 4. 4.1

5. 5.1 5.2

Reivindicación als Zerstörungsspirale Wiikungsverlust der Volkskultur Die Autobiographie eines pueblo Versteinerung: Die wiedergefundene Zeit der Revolution. Erinnerung als Mahndenkmal für die Zukunft Theatralisierung des Erzählers - Eine subversive Form von Geschichtsschreibung Literarische Repräsentation historischer Identität Subversivität des kulturellen Gedächtnisses als Erzählprozeß Kritik am politischen Mißbrauch kultureller Formen

IX.

DER KULTURELLE BEITRAG DER LITERATUR IM

4.2

1. 1.1 1.2 2. 3.

296 298 300 303 306 311 311 314

ZEITGENÖSSISCHEN MEXIKO

317

Der kritische Beitrag der Literatur zur Kulturwissenschaft Kritik des mythischen Ursprungs mexikanischer Geschichte Jenseits des Labyrinths der mexicanidad: Kulturelle Heterogenität . . . . Der Magische Realismus - eine ethnozentrische Kategorie Der Weg aus dem Labyrinth der Einsamkeit: Wiedergewinnung der memoria

317 317 320 323 326

LITERATURVERZEICHNIS

1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.2 3.3 3.4

Behandelte Primärliteratur Romane Essayistische Texte Sekundärliteratur Der hispanoamerikanische Roman Identität, Mythos und Utopie Hispanoamerikas Magischer Realismus und Phantastik Indigenismus und Mestizierung Allgemeine Kulturgeschichte und Kulturwissenschaft (Hispanistik) . . . . Theoretische Literatur Mythostheorie Historiographie und Geschichtswissenschaft Allgemeine essayistische und theoretische Literatur Mehrfach zitierte Sammelbände

329 329 329 331 331 337 338 341 342 349 349 350 352 358

13

EINLEITUNG Die Literatur des lateinamerikanischen Booms, die sich zwischen 1955 und 1975 einordnen läßt, ist unter dem Zeichen des "Magischen Realismus" in die Geschichte eingegangen. In diesen zeitlichen Rahmen fällt auch eine umfangreiche Forschung diEsem Begriff seitens der Literaturwissenschaft. Es hat den Anschein, als hätte diese Literatur eine Brückenfunktion erfüllt: Durch die Werke, die im allgemeinen mit Hundert Jahre Einsamkeit (1967) des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez sowie mit dem Namen des Mexikaners Juan Rulfo und dessen in 19 Sprachen übersetzten Pedro Páramox (1955) assoziiert werden, hat die lateinamerikanische Kultur ein internationales Profil gewonnen, das sowohl die interne Diskussion über die eigene kulturelle Identität als auch das Bild der "fremden" Kultur für den europäischen Leser wesentlich bestimmt hat Nicht nur auf dem literarischen Markt, sondern auch im Bereich der Literaturwissenschaft und anderer wissenschaftlicher Gebiete hat diese Literatur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen können, so daß die Frage nach dem kulturellen Beitrag der Romane des sogenannten Magischen Realismus zugleich zum Brennpunkt verschiedener Diskurse geworden ist. Anthropologische, kulturphilosophische und ästhetische Formeln der Identität schienen jeweils adäquate Antworten auf die von den literarischen Texten an das Selbstverständnis der Kultur gestellten Fragen zu geben. Nach Ende der Konjunktur erscheint es angesichts der sich einstellenden historischen Distanz möglich und notwendig, eine kritische Bilanz der theoretischen Diskurse2 über die americanidad im Bereich der Literatur des Magischen Realismus zu ziehen. Dementsprechend wird in der vorliegenden Studie eine kritische Rückschau vorgenommen, mit dem Ziel, am Phänomen des Magischen Realismus Grundsatzfragen der Lateinamerikanistik zu entwickeln. Am Ausgang der Fragestellung steht die Beobachtung folgender Tendenzen: Der kunst- und literaturwissenschaftliche Begriff des Magischen Realismus, der nach der Übertragung auf Lateinamerika zunächst einen Erzählstil kennzeichnete, hat einen wesentlichen Beitrag zur Identitätskonstitution Lateinamerikas geleistet. Mit der Verwendung dieses Begriffs wird auch die Definition der Andersheit der lateinamerikanischen Welt impliziert. Die Verbindung heterogener Bereiche, nämlich des Realismus, also eines im Abendland von positivistischen Theorien des 19. Jahrhunderts beeinflußten Genres mit jenem "anderen" Denken, das man als magisch oder mythisch bezeichnet, soll die "andere" Welt darstellen. Die schöpferische Leistung von 1 Bereits 19S8 im Hanser-Verlag ins Deutsche Ubersetzt. 2 Im Sinne Foucaults. Vgl. entsprechende methodische Überlegungen in Kap. 1.3.

14 Austauschprozessen zwischen Genres (Realismus und Phantastik), Weltsichten (Magie und rationale Logik) und Traditionen (Schriftlichkeit und Mündlichkeit) in der nueva novela des Magischen Realismus wurde als Quelle einer eigenständigen lateinamerikanischen Ästhetik eingeschätzt3. In der paradoxalen Struktur der Werke sah man einen kreativen Beitrag zur Bildung einer neuen, vom europäischen Rationalismus abweichenden Identität. Bestimmte Ideologeme, besonders die Mestizierung, sind an der Begriffsbildung des Magischen Realismus beteiligt. Als historischer Diskurs hat die kulturwissenschaftliche Theorie der Mestizierung, d.h. die Theorie der Austauschprozesse durch die Vermischung von Kulturen, einen bedeutenden Anteil an der Bildung der Identität im 20. Jahrhundert. Dies trifft besonders auf Mexiko zu, wo der Mestize nicht nur einem kulturellen Modell entspricht, sondern sich mit der Revolution von 1910 als konkrete politische Gestalt etablieren und aus dem Diskurs der "Mestizen-Identität" eine politische Macht gewinnen konnte. Die Interpretation von Romanen des sogenannten Magischen Realismus unter dem Zeichen eines Identitätsentwurfes muß heute als problematisch angesehen werden: Mit der Reduktion der ästhetischen Funktion dieser Werke auf tendenziell apologetische und kompensatorische Identitätsdiskurse4 entspricht die Interpretation eher der abstrakten Kategorie der Identität als den literarisch vermittelten, heterogenen Bildern gelebter Kultur3. Mit dem Rückgriff auf mythische und magische Bewußtseinsformen hat die Theorie des Magischen Realismus dieser Literatur den Stempel des Exotismus aufgedrückt, dessen Wirkung noch heute ungebrochen ist. Nicht zufällig hat sich besonders, teilweise fast ausschließlich, die Literatur von García Márquez oder Isabel Allende auf dem europäischen Literaturmarkt durchgesetzt, wobei die literarischen Institutionen - insbesondere der literarische Markt, der auch heute auf den exotischen Charakter der angebotenen Werke anspielt - dafür sorgen, daß im Bewußtsein der Europäer für die Exotik dieser Bücher noch reger Bedarf existiert. Feministische Stereotypen scheinen dabei einen fragwürdigen Kompromiß mit Exotik einzugehen nur so ist das Mißverhältnis in der Rezeption von lateinamerikanischen Werken zu verstehen. Nur um ein Beispiel zu nennen: Dem Erfolg einer Schriftstellerin wie der Mexikanerin Laura Esquivel steht das Vergessen bedeutender, sich jedoch weniger für

3 Vgl. A. Rama (1982:224f.) 4 Zur Literaturgeschichtsschreibung als Kompensation einer Identitätsfrage vgl. Gumbrecht/Sánchez (1983). 5 In dem von Saúl Yurkievich herausgegebenen Band Ober Identidad cultural de Iberoamérica en su literatura (1986) betont Alfredo A. Roggiano, daß Identität als Kategorie der einmalig identifizierbaren eigenen Realität in Differenz zum Anderen nur als abstraktes Konzept Bestand haben kann: "Pero esta (...) búsqueda de una realidad identificable por su naturaleza diferenciadora e intransferible sólo es viable teóricamente como acto de especulación pura" (11-12).

15 exotisierende Auslegungen anbietender Schriftsteller wie José Revueltas seitens deutschsprachiger Literaturinstitutionen gegenüber*. Die Rezeption von Autoren des Booms bzw. des Magischen Realismus macht ein weiteres Problem deutlich: Bei der Tatsache, daß bei Interpretation der literarischen Werke Identitätsdiskurse zugrunde gelegt werden konnten, berief man sich auf kulturtheoretische Aussagen führender lateinamerikanischer Schriftsteller7. Dabei war die teilweise Gleichsetzung der Romane mit theoretischen und essayistischen Werken durch die fließenden Grenzen zwischen dem lateinamerikanischen Essay und fiktionaler Literatur begünstigt worden. Der Einfluß des essayistischen Oeuvres von Octavio Paz, besonders von Das Labyrinth der Einsamkeit (1950), auf die Bildung von Identitätsdiskursen ist erheblich. Die Kategorie der otredad, die Paz aus der Aufarbeitung der Intrahistoria8 präkolumbischer Kulturen Mexikos gewann, schien eine neuartige Antwort auf die Frage nach der lateinamerikanischen Identität9 zu geben: Im Bewußtsein des Mexikaners wirke die kulturelle Mestizierung als Präsenz des Fremden im Eigenen. Somit stelle die Alterität den Wesenszug der mexikanischen und lateinamerikanischen Identität dar. Eine Entsprechung dieser kulturhistorischen Kategorie fand man in der Ästhetik des Magischen Realismus, was erlaubte den Beitrag dieses Stils zu einer neuen lateinamerikanischen Identität als wesentlich zu erachten10. Paz' kulturtheoreüsche Essays wurden - bis zu den 70er Jahren auch in Mexiko selbst - zum Kanon der Interpretation von mexikanischer bzw. lateinamerikanischer Kultur und Literatur erhoben11, eine Tendenz, die sich auf eine wesentliche Seite mexikanischen Denkens diskriminierend ausgewirkt hat, die von den offiziellen Identitätsformeln abweicht oder diese gar in Frage stellt. Gerade in bezug auf die verspätete internationale Rezeption von José Revueltas spielt der kanonische 6 Gerade dieser Fall macht deutlich, daß es nicht allein an der Politik der Verlage liegen kann, sondern auch an der Bereitschaft der literaturkritischai und akademischen Institutionen: Suhrkamp, der Laura Esquivel landen hat (1992), erfüllte auch die verdienstvolle Aufgabe, Revueltas erstmalig auf dem deutschen Markt zu edieren (Die Schwester, die Feindin, 1991), ohne daß die deutschsprachige Literaturwissenschaft von diesem Klassiker der mexikanischen Literatur nennenswerte Notiz genommen hatte. 7 Der mexikanische Philosoph Leopoldo Zea zieht diesbezüglich eine Parallele zu Spanien, dessen Suche nach Identität nach der Jahrhundertwende zu ähnlichen Konstellationen führte. Der Einfluß etwa vom Diskurs Ortega y Gassets war filr das Selbstbild Spaniens und z.T. auch Mexikos grundlegend (1982 [1952]:8). 8 Ein von Unamuno Uber Alfonso Reyes Übernommener Begriff, der die Notwendigkeit einer Aufarbeitung kultureller Vergangenheit meint, jedoch in einer Form, die andere Aspekte der Kultur als die Geschichte der Zivilisation im posthegelianischen Sinne offenlegt Alfonso Reyes' Umsetzung dieses Versuchs ist in dessen Studien zur Kolonialkultur Mexikos (Letras de la Nueva España, 1946) zu sehen. Ahnliches tut Pedro Henrfquez Urefla in Historia de la cultura en la América hispánica (1947). 9 Für einen historischen Überblick Uber die Identitttsmodelle vgl. Martin Stabb, 1969, sowie Kap. n.l und Kap. IV. 10 Vgl. gangige Thesen zur nueva novela, z.B. Benedetti (1972:9), Valdivieso (1975:83f.) und Shaw (1981:129); Campra erwähnt die magisch-realistische Literatur als einen Konstruktionsversuch im Rahmen der Identitatsdiskurse (1982:24); Siebenmann nimmt aus der Perspektive einer empirischen Rezeptionstheorie kritisch darauf Bezug (1986:65f.). 11 Dies wird vom uruguayischen Schriftsteller Mario Benedetti in einem 1972 geschriebenen polemischen Artikel gegen die mexikanischen Intellektuellen mit scharfen Westen kritisiert: "La mafia mexicana fue - y todavía sigue siendo una experiencia casi única en América Latina. Octavio Paz es su dios; Carlos Fuentes, su profeta" (1977:135f.).

16 Stellenwert der literaturkritischen Stellungnahmen Octavio Paz' eine wichtige und unheilvolle Rolle, wie es sich in Kap. VI zeigen wird. José Revueltas ist ein solcher Autor, der es heute besonders angezeigt und dringend erscheinen läßt, mit einer kritischen Arbeit im Umfeld des Magischen Realismus jene Mechanismen offenzulegen, die ausgrenzend wirkten, und gleichzeitig jene Autoren und Autorinnen ans Licht zu tragen, für die sich Kritik und Literaturwissenschaft bisher nur spärlich interessieren konnten12. Die Orientierung der Ausgangsfrage dieser Studie am Phänomen des Magischen Realismus soll den Problemcharakter bestimmter Positionen der Lateinamerikanistik deutlich machen. So geht diese Studie von einer historischen Rekonstruktion der Ansätze der Latein- bzw. Hispanoamerikanistik aus (Kap. I), um dann die Prämissen der Begriffe, die um den Magischen Realismus kreisen, anhand interdisziplinärer Ansätze zu klären: Diese Begriffe sind Identität, Mündlichkeit versus Schriftlichkeit (als Modalitäten des historischen Gedächtnisses) und Mythos (Kap. II). Die historische Rekonstruktion von Ansätzen zum Magischen Realismus, zur Mestizierung und zur Kategorie des Barock soll die Implikationen der Diskurse untersuchen, die über die literarischen Werke des sogenannten Magischen Realismus gebildet wurden. Dieser erste Teil der Studie will auch den teilweise bestehenden Mangel an Werken kompensieren, die einen Überblick über hispanoamerikanische Kulturtheorien verschaffen. Ein Vergleich der Diskurse zur mexicanidad bzw. americanidad ist lohnend. Er zeigt, daß im Gegensatz zu den reduzierenden Tendenzen der Theorie des Magischen Realismus kreativere und offenere Äußerungen zu dieser Literatur mit dem Stilbegriff des Barock verbunden sind, der z.T. ersatzweise13 zu ihrer Charakterisierung verwendet wird. Dieser Begriff geht auf kubanische Schriftsteller zurück, die sich auch auf Peru und Mexiko beziehen. Während Alejo Caipentier unter "Barock" eine in der "Neuen Welt" verankerte kulturelle Manifestation anvisiert, möchte José Lezama Lima im "Barock" eine Erkenntnismethode sehen, die die kulturelle Kreativität Lateinamerikas nicht im Sinne historischer Kausalität und Progression erfaßt14. Octavio Paz erhebt dagegen die "barocken" Eigenschaften der Kolonialkultur zur Essenz Mexikos. 12 Rafael Gutiérrez Girardot spricht in seinem in der Zeitschrift Quimera (46/47) erschienenen Artikel Ober "América sin realismos mágicos" von der dringenden Notwendigkeit, die unter der Perspektive des Magischen Realismus vergessenen Autoren der hispanoamerikanischen Kultur nicht weiter zu unterdrücken, eine Unterdrückung, die im Sinne meiner vorangehenden Argumentation von Kritik und Literaturwissenschaft verantwortet wird: "La maestra de ceremonias de Octavio Paz y 'madre' amadísima y respetadísima de todo autor hispanoamericano - revolucionario o no - que ansia ser traducido al alemán y colocado en el museo folklórico del exotismo para uso de los cansados de la civilización e incapaces de enfrentarse y de formular sus propios problemas, dictaminó recientemente: 'La literatura laúnoameriana tiene la edad de este siglo.' Por paradójico que parezca, esta ignorancia la comparten y corroboran numerosos críticos literarios hispanoamericanos y extranjeros" (1990:99). 13 Vgl. bspw. Campra (1982:24) sowie die in Kap. III behandelten Studien von Márquez Rodríguez (1982) und Irlemar Chiampi (1983). 14 Unter Bezug auf Lezama Lima wurde in jüngerer Zeit der Begriff des "Neubarock" durch den kubanischen Schriftsteller Severo Sarduy zur Definition einer zeitgenossischen, "postmodcmen" Ästhetik verwendet, die in Lateinamerika bestimmte Merkmale aufweisen soll.

17 Das Kulturgebiet Mexiko wird aus verschiedenen Gründen, die in Kap. 1.2 dargelegt werden, im Zentrum der kulturwissenschaftlichen Überlegungen stehen. Die analysierten Texte fallen in den Zeitraum von 1940 bis 1965. Die historische Relevanz dieses Zeitraums für die mexikanische Literatur und Kultur liegt darin, daß dieser von der Konsolidierung der nachrevolutionären Identität bis zu ihrer endgültigen Krise nach den Ereignissen von Tlatelolco im Jahre 196815 wesentliche Entwicklungen des Diskurses der mexicanidad umfaßt, nämlich die nationale Variante des gesamthispanoamerikanischen Diskurses, mit dem sich Hispanoamerika im 20. Jahrhundert als Manifestation zweier Welten versteht. Dieser Diskurs findet einen Entfaltungsraum und eine ästhetische Formel in der Literatur des sog. Magischen Realismus. Aus dem Hauptanliegen dieser Studie, nämlich dem Versuch, verschiedenartige Diskurse über das Phänomen des Magischen Realismus zu rekonstruieren und nach ihrer Leistung im Vergleich zum literarischen Werk zu befragen, ergibt sich die methodische Notwendigkeit, literarische Texte nicht einem paradigmatischen Blick zu unterziehen, sondern durch Einzelanalysen verstärkt auf ihre spezifische Leistung hin zu untersuchen. Damit ist diese Studie weit davon entfernt, die Gattungsdiskussion durch einen weiteren Beitrag abermals zu komplizieren. Vielmehr wird es darum gehen, die wissenschaftliche Perspektive für literarische Texte bzw. theoretische Positionen jenseits des kanonisierten wissenschaftlichen Diskurses zu öffnen und zu sensibilisieren. Der Magische Realismus stellt somit lediglich den Ausgangspunkt und den Fokus für Grundsatzfragen der Spannung zwischen literarischen Texten und kulturwissenschaftlichen Diskursen im Bereich der Latein- bzw. Hispanoamerikanistik dar. Die paradoxale Struktur der Romane, die traditionellerweise dem Magischen Realismus zugeordnet wurden, bietet ein besonders geeignetes Material im Hinblick auf die Frage nach der Leistung der Literatur fiir die Kulturwissenschaft. Die drei für die Untersuchung ausgewählten Romane El luto humano (1943) von José Revueltas, Pedro Páramo (1955) von Juan Rulfo und Los recuerdos del porvenir (1963) von Elena Garro repräsentieren drei Generationen von Romanen, die noch zum Kanon des sogenannten Magischen Realismus in Mexiko gehören, während nach 1965 die Literatura de la Onda16 zunächst die Rückkehr zu einer direkten, realistischen Konfrontation mit den Problemen der Wirklichkeit wünschte. Die magisch realistische Literatur Mexikos ist als Reaktion auf die Krise angesehen worden, die nach den 40er Jahren, die als zeitliche Grenze des klassischen Revolutionsromans gelten17, durch

15 Gemeint sind die Ereignisse vom 2.10.68, als die Regierang von Präsident Gustavo Diaz Ordaz - als Antwort auf die studentische Benbewegung - das Massaker an Hunderten von Studenten auf dem Platz der Drei Kulturen anordnete. 16 Eine Literarische Bewegung (ca. 1965-1973), die die Themen und die Sprache der Jugend als Provokation gegen Konventionen ins Zentrum stellt und eine Rückkehr zu einem unmittelbar realistischen Bezug zum Alltagsleben forden. Für die "Onda" spricht die mexikanische Schriftstellerin Margo Glantz von einem "neuen Realismus", der an der Nachahmung der Massenmedien orientiert ist (1971). Vgl. auch Reinhard Teichmann (1986) und Vf. (1990c). 17 Vgl. Dessau (1967).

18 die teilweise zynische Demontiemng des Revolutionsmythos eingeleitet worden ist". Nach dieser Krise braucht das romaneske Genre eine Erneuerung, die Revueltas und Rulfo definitiv herbeiführen19. Obwohl auch andere mexikanische Werke als Beispiele für magisch realistische Literatur denkbar wären, erfolgte die Wahl der drei Romane nicht nur weil sie in einem stilistischen und thematischen Zusammenhang stehen, sondern auch weil sie mit dem Revolutionsthema auch verschiedene Bausteine des Diskurses der mexicanidad verarbeiten. Die subjektive und kollektive Erinnerung an die Vergangenheit stellt bei allen drei Texten ein grundlegendes Prinzip dar, durch das es gelingt, die Suche nach der historischen Identität in das Spiel der interdiskursiven20 Spannungen geraten zu lassen.

18 Vgl. Paz (1943). 19 Zusammen mit Augustin Yäfiez (AI filo del agua, 1947). Wie auch der Roman von Rulfo, setzt dieser Text die Analyse der Revolution in deren Vorfeld, in der Porfirianischen Zeit, an. 20 Zum Begriff des Interdiskurses vgl. Link (1986 und 1988) sowie Kap. I.

19

I. Kultur in der Lateinamerika-Forschung: Das Fremde und das Eigene Gin wissenschaftshistorischer Rückblick, der der internationalen Hispanistik Rechnung trägt, zeigt eine im deutschsprachigen Raum weniger rezipierte, jedoch länger bestehende Tradition kritischer Fragestellungen. In den 80er Jahren machte sich die Bemühung um die Revision der Prämissen gängiger Konzepte und Eiklärungsmodelle im Hinblick auf die Kultur Lateinamerikas besonders bemerkbar. Es erschien geboten, den bis dahin in wissenschaftlichen Diskursen kaum problematisierten Bezug zu Identitäts- und Alteritätsbildem als fraglich zu betrachten. Die Forschung begann, die Kategorie der otredad kritisch zu untersuchen. Nicht zufällig wurde eine solche kritische Perspektive durch Studien zum Phänomen der conquista und der colonia angeregt, handelt sich doch bei der Entdeckung und der Eroberung der neuen Welt um eine extreme Form der Begegnung mit dem Fremden. Die epistemologischen Bedingungen, unter denen diese Begegnung verarbeitet wurde, erlauben es, Grundsatzfragen im Bereich der Alterität zu stellen.

1. Das Problem des Umgangs mit dem Fremden - conquista und colonia als Provokation der Forschung Das historische Ereignis des Zusammentreffens zweier fremder Kulturen hatte eine außerordentlich reiche literarische Produktion zur Folge: die Texte der conquista und der colonia. Bei diesen Texten wird die literaturwissenschaftliche Forschung mit Problemen konfrontiert, die gängige Kategorien von Literatur, Geschichte und Interpretation gleichsam zu sprengen scheinen. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung hat die Lateinamerika-Forschung begonnen, sich kritisch mit der eigenen Methodologie auseinanderzusetzen. Begriffe wie 'Text", "Schrift" bzw. "Literatur" und deren Ursprung in Lateinamerika, sowie die Bezeichnung "Lateinamerika" selbst geraten in den Blick

20 einer methodologischen Hinterfragung1. Die in Lateinamerika, in den USA und inzwischen auch im deutschsprachigen Raum erschienenen Monographien sind zahlreich2. Das Problem der Alterität verdient im Rahmen einer Arbeit über die Kultur Mexikos besondere Beachtung. Das 1982 erschienene Buch von Tzvetan Todorov mit dem Titel La conquête de l'Amérique wählt das Phänomen der Eroberung, das der Autor als einzigartig in der abendländischen Geschichte und Kultur bezeichnet3, als Beispiel für die Begegnung mit dem "Anderen", ein Phänomen, das Todorov als erkenntnistheoretische Frage behandelt. Das Besondere an Todorovs Untersuchung liegt darin, daß seine Betrachtung des Anderen, nämlich sog. lateinamerikanischer Texte, nicht das Ziel hat, die andere Kultur zu beschreiben, sondern vielmehr die Strategien des Erkenntnisaktes und die jeweiligen epistemischen Bedingungen kritisch offenzulegen. Es sind Strategien, die schließlich die Fragestellung auf die eigenen Prämissen und auf die Prämissen der wissenschaftlichen Gemeinschaft lenken, der man angehört. Im Folgenden werde ich einige Aspekte von Todorovs Argumentation zuammenfassen, die es mir ermöglichen, die Frage der Erkenntnis des Anderen differenziert einzuführen: Anhand der Begegnung zwischen der "alten" und der "neuen" Welt entwickelt Todorov ein Modell verschiedener Umgangsformen mit dem Fremden. Todorovs Konzentration auf die sog. ersten Texte lateinamerikanischer Literatur, d.h. auf Chroniken -

1 Zur Entwicklung von kritischen Fragen der Methodologie anhand der Eroberung vgl. Noè Jitrik (über Kolumbus), 1982; Pupo-Walker (als kritische Analyse des Diskurses der Historiographie, auch Ober die Studien zu Garcilaso Inca de la Vega), 1984; Noriega, 1989. Ganz besonders hinterfiragt wird der Begriff des Textes" und der "Schrift" bei Mignolo (1988). In der deutschen Forschung ist u.a. die Analyse von Tauber in bezug auf die Spannung zwischen Buchstabenschrift und Stimme in der mexikanischen Grammatik von Alonso de Molina im Gegensatz zur Identitatsannahme von Renaissance-Grammatiken zu erwähnen (1989). 2 Mit einem Vorhaben, das man diskursanalytisch avant ¡a lettre nennen kann, nimmt sich das Buch von O'Gorman, La invención de América als erstes vor, a) das historische Faktum der Entdeckung Amerikas von dessen Interpretationsakt zu (rennen (1984[1958]:15f.), b) einige in verschiedenen Epochen entstandene Interpretationen zu analysieren und c) die unterschiedlichen epistemologischen Vorannahmen aufzudecken, die einer jeweiligen Interpretation zugnmdeliegen (17). Die Besprechung verschiedener Kolumbus-Studien vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (20-54) zeigt, daß Amerika als das fiktionale Bild europäischer Utopien und historischer Modelle konstruiert wurde, die Lateinamerika als empirisches Faktum vernachlässigten und die Idee Amerikas als Projektionsflache des europaischen Selbstverstandnisses benutzten. Als Weiterfilhmng der Studie von O'Gorman können neuere kritische Reflexionen Uber die zur Bestimmung der lateinamerikanischen Identität benutzte Begrifftichkeit betrachtet werden: u.a. Franklin, 1979; Fernández Retamar, 1974 (1972), bes. 14f.; Moreno-Durán, 1976, bes. 61-86; José Luis Martínez, 1979 und 1989; Ardao, 1980; Hulme, 1986; Mignolo, 1988; Neira, 1990. Dabei nehmen die Texte von conquista und colonia in der lateinamerikanischen Forschung allgemein eine Sonderstellung ein, z ü . in den Sammelbanden von González Echevarría (1984) und Ana Pizano (1985). In der deutschen Lateinamerikanistik kehrte die Studie von Frauke Gewecke (1986) zu den ideologischen und diskursiven Reaktionen der Europaer auf die Entdeckung der Neuen Welt die gangige Perspektive der europaischen Lateinamerikanistik um, richtete diese auf die kritische Überprüfung der eigenen Kultur und führte damit einen maikanten Schnitt in die gängige Forschungshaltung ein. Um eine Relativierung traditioneller Dependenzthecrien bemuhte sich auch der von C. Strosetzki herausgegebene Band (1989), wahrend von G. Siebemann und H.-J. König 1992 herausgegebene Band die Bilder Lateinamerikas im europaischen Bewußtsein kritisch hinterfragte. Für eine umfassende, interdisziplinare und internationale Studie zur Eroberung mit kritischer Perspektiviening vgl. K. Kohut (Hrsg.), 1991. 3 "D'abord la découverte de l'Amérique, ou plutôt celle des Américains, est bien la rencontre la plus étonnante de notre histoire" (12). Todorov führt das Ungewöhnliche (¿trangetf) auf die Tatsache zurück, daß bei diesem Zusammentreffen die sog. amerikanischen Volker die Rolle des absolut Anderen insoweit übernommen haben, als kein Wissen über diesen Kontinent vorlag, was fUr die anderen "Entdeckungen" nicht zutrifft. Vgl. darüber auch Paz, 1987, III:42f.

21 jene Texte von spanischen Soldaten und Missionaren, die über den Kontakt mit der neuen Welt berichten - weist auf zwei Ziele hin: einerseits die Aufdeckung der verschiedenen Strategien zur Beherrschung des "absolut Anderen" - eine Beherrschung sowohl durch Wissen als auch durch Waffen. Andererseits verspricht sich Todorov weiterführende Einsichten aus der Behandlung eines Phänomens, das den Übergang zum modernen Bewußtsein eingeleitet hat, einem Bewußtsein, das mit der Gewißheit, durch die Mittel der Vernunft das "Ganze der Natur" erkennen und beherrschen zu können, den Auftakt zu einer rationalistischen Form der Identität und deren Krisen gegeben hat4. 1.1 Die lateinamerikanische Kultur und das Fremde Das gemeinsame Meikmal verschiedener Umgangsformen mit dem Fremden besteht in der Schwierigkeit von Eroberern, Kolonisatoren und Missionaren, das Ereignis überhaupt als die Begegnung mit einer fremden Kultur zu begreifen, deren Fremdheit zerstört wird, sobald sie verstanden werden soll5. Trotz der Unterschiede epistemologischer und ethischer Art zwischen den verschiedenen Modellen von Eroberung, Evangelisierung und Kolonialisierung zeigt sich, daß das Fremde nicht anders verstanden werden kann als durch die Übertragung vorgegebener Denkmuster: Die direkte Projektion des eigenen utopischen Wunsches innerhalb einer scholastischen Weltsicht bei Kolumbus, was Todorov als eine "finalistische" (allegoretische) Hermeneutik bezeichnet; die "semiotische" Interpretation Cortés' als Vertreter einer Episteme, in der die Welt als ein System von Zeichen bewußt wird, wobei die Dekodierung gleichsam deren Herrschaft sichert; die Suche nach analogen Beziehungen zwischen der fremden und der eigenen Kultur bei Durán, dem ersten sog. lateinamerikanischen Europäer, der einen "wissenschaftlichen" Interpretationsversuch vollzieht; die Autonomie der Stimmen der anderen Kultur, gleichberechtigt neben dem Bewußtsein des die Eikenntnis der fremden Kultur und Religion suchenden Franziskaner-Paters Sahagún6. Diese Versuche, sich dem Fremden anzunähern, wiederholen bei 4 Todorov kennt die Quellen nicht im Original Dies ist vor allem seitens der mexikanischen Kritik negativ beurteilt worden (José Luis Martine*, 1989). Andererseits geht es bei Todorov weniger um die philologische Rekonstruktion als um die Modellanalyse eines komplexen Phänomens unter einer diskurskritischen Perspektive. 5 Bernhard Waldenfels hat der philosophischen Frage des Anderen - unter Berücksichtigung der Diskurstheorie von Foucault und der Kritik der Alterität seitens Lévinas - eine umfangreiche Studie gewidmet (1990a). Vgl. auch meine Ausfuhrungen in Kap. n. 6 Obwohl es den Anschein eines Modells historischer Progression in der dialogischen Haltung des Abendlandes gegenüber der sog. neuen Kultur hat, ist von Todorov keine historisierende These intendiert Sie wäre historisch leicht widerlegbar Die Verfestigung kolonialer Strukturen einer Feudalgesellschaft, die in Neuspanien die im Mutterland verlorengegangene Stabiiitat konstruieren und sichern wollte, produziert ab dem 18. Jh. seitens der spanischen Krone eine Einengung des in der Kolonialzeit begonnenen Dialogs und einen kulturellen Rückschritt gegenüber der ersten Zeit der Colonia, dessen Signal z.B. die Ausweisung der Jesuiten Ende des 18. Jhs. auch aus Mexiko ist Ein inquisitorisches Feudalsystem etabliert sich, das in Neuspanien die Situation Spaniens - ohne Zwischenschritte, wie z.B. die aufgeklarte Monarchie Karls des ID. - nur radikalisiert

22 Kolumbus, Cortés und Durán die epistemische Folge, die Foucault in Les mots et les choses (1966) bei dem Verhältnis des Abendlandes zur Sprache und Welt im Übergang von Mittelalter zur Renaissance und zur klassischen Epoche festgestellt hat. Sahagún nimmt eine Sonderposition ein, auf die noch einzugehen sein wird. Das Ergebnis Todorovs erscheint mir interessant, weil es das Dilemma einer wissenschaftlichen Studie zur Kultur Lateinamerikas, deren Ziel die Gewinnung von Erkenntnissen über das Fremde ist, in aller Schärfe aufzeigt; eine Schwierigkeit indes, die nicht allein den Gegenstand Lateinamerika betrifft. Doch ist das Problem des Fremden in der Auseinandersetzung mit Lateinamerika insoweit besonders komplex, als die eigenen Identitätsdiskurse dieser Kultur das Fremde als MaB für das Eigene zugrundelegen. Für die Diskurse der americanidad bestimmt die "Übersee"-Perspektive die Suche nach einer Identität, die als Kopie oder als Differenz zur alten Welt konzipiert ist. Die Wissenschaft sollte diese Prämisse kritisch bedenken. Die Anregung Todorovs, ein kritisches Bewußtsein des eigenen wissenschaftlichen Tuns im Bereich der Alterität anzustreben, sollte ernstgenommen und Überlegungen über die Haltbarkeit bestimmter Vorannahmen der Identitätsdebatte Lateinamerikas angestellt werden. Eine solche Perspektive möchte ich im folgenden Abschnitt einführen.

1.1.1 Kritik an literaihistorischen Diskursen Eine erste kritische Reflexion betrifft das Vorgehen der Literaturgeschichte: Die auf der Grundlage historischer Fortschrittstheorien ausgebildete traditionelle Literaturgeschichte hat die Entwicklung Lateinamerikas als progressive Folge von Ereignissen gesehen. Dementsprechend gehe die lateinamerikanische Literatur von der Kopie des Fremden aus7, weise erste Emanzipationsversuche in der romantischen Literatur der Independencia auf und erreiche erst Mitte des 20. Jahrhunderts, mit der Literatur des Booms, einen eigenständigen Ausdruck, der eine Differenz zum Anderen und damit die eigene Identität findet. Die Debatte um Kopie oder Differenz im Veifiältnis zu Europa wurde in der Forschung geführt, ungeachtet der Bedenken, die bestimmte Autoren äußerten: In seinem El perfil del hombre y la cultura en México (1934) kritisierte z.B. der mexikanische Philosoph Samuel Ramos die Tatsache, daß Europa als fremder Vergleichspol der Identität dient, und sah darin die Ursache für den Minderwertigkeitskomplex des Mexikaners. Diese kritische Perspektive wurde von der seit 1949 entstandenen Gruppe Hiperión und deren filosofía de la mexicanidad fortgeführt - eine Kritik, die von mexikanischen Denkern durchgehend wachgehalten wurde, etwa durch Leopoldo Zea (1982[1952]:35) und José Luis Martínez (1963:10). Innerhalb der Literaturwissenschaft beginnt indes erst in jüngerer Zeit ein Diskurs, der

7 Dies bezieht sich auf Spanien bzw. auf Frankreich (im 19. Jahrhundert).

23 solche kritischen Argumente reflektiert*. Die vom Phänomen der conquista ausgehenden Studien zur Alterität haben einen Impuls zur Revision überkommener historischer Kategorien gegeben. Als erste Korrektur der Kontinuitätsthese traditioneller Geschichtsschreibung und damit der These der Geschichtslosigkeit Amerikas9 war die Notwendigkeit gesehen worden, den historisierenden Blick durch das Modell der kulturellen Spannungen im System zu ersetzen und dieses im Sinne der Präsenz der Diachronie in der Synchronie10 zu enubeiten. Diese "dynamische" Erfassung von Kultur11 löste bestimmte, bei heikömmlichen historischen Fragestellungen bestehende Probleme. Auf der Grundlage dieses Begriffs konnte bspw. der Barock, der auch in der vorliegenden Studie einen besonderen Platz einnimmt (Kap. V), nicht nur als historische Epoche von Neuspanien, sondern auch als epochenübergreifendes Stilmeikmal einer transculturación verstanden werden12. Das Gleiche trifft für den mit dem barroco verbundenen Begriff des nativismo zu. Dieser bezeichnet zwar ein Produkt der Eroberung (Leenhardt, 1985:32), geht jedoch auch in die Identitätsdiskussion des 19. Jhs. als Regionalismo bzw. Indigenismo ein. Die lateinamerikanische Forschung strebt nun an, ihre Kategorien nach territorialen13, ideologischen und diskursiven Implikationen und Standpunkten insbesondere im Bereich der Identitätsdefinitionen zu differenzieren14. Dieses Erkenntnisziel liegt besonders bei der anglo- und lateinamerikanischen Forschung vor13. Mit einem solchen Rahmen hat man begonnen, Polarisierungen zu Uberwinden. Militante Reaktionen gegen eine vermeintliche Vereinnahmung der Eigenständigkeit durch den Begriff der Dependenz" weichen dem Modell des wechselseitigen Austauschs und der intertextuellen Beziehungen von Kulturen11. Dement8 Daraus zieht Roberto Fernández Retanur die Konsequenz einer Selbstkritik bzgl. der lateinamerikanischen Univeraliffltsansprflche nach der Literatur des Booms: "¿no se tratará sin más de esa misma cultura europea cuya anegante pretcnsión de universalidad hemos convenido en rechazaí? Este es el momento de recordar que aceptar esa "Europa" como un bloque prácticamente homogéneo y crónico [...] implica una actitud de colonizados. Así como es un fraude identificar (como tan frecuente es 'allá') a 'América' con 'los Estados Unidos*, es otro fraude (esta vez, frecuente 'aquí*) identificar a 'Europa' con unos pocos países de la Europa occidental" (1981:77f.). 9 Vgl. hierzu Matzat (1992:15f.). 10 Fernández Retamar plädiert eindringlich für das Modell der literarischen Evolution von Tynjanov (1975:17): vgl. auch Noé Jitrik (1982a:23). 11 Neben Yuri Lotman nimmt Fernández Retamar explizit Bezug auf Ferruccio Rossi Landi (1981:77). 12 A. Rama (1983:60f.). 13 Arturo Ardao (1980) zeigt, daß der Name "Lateinamaika", "Hispanoamerika" bzw. "Südamerika" jeweils in Abhängigkeit von ideologischen Standpunkten und historischen Kontexten entstand (1980). Vgl. auch Mignolo, 1988. Darauf werde ich im Rahmen meiner methodologischen Überlegungen in Abschn. 2 eingehen. 14 Zur diskursiven Besetzung der Begriffe "Schrift", "Sprache" und "Territorialität" anhand der Texte von colonia und conquista vgl. Walter Mignolo (1986a, 1988 und 1991) sowie Kap. n.M. 15 Auch in derfranzösischenHispanistik. etwa in den Arbeiten von LeenhardL 16 Zur Dependenz der lateinamerikanischen Literatur des fin de äicle von den literarischen Bewegungen Europas vgl. Meyer-Minnemann (1986); zur Kritik des Begriffpaaies Dependenz und Emanzipation vgl. Schulte-Sasse (1975). Zu den Unabhängigkeitsbestrebungen der mexikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts vgl. Holz (1990). 17 (Pizano, 1985:57).

24 sprechend beobachtet der Kubaner Roberto Fernández Retamar folgende Phasen in der lateinamerikanischen Literaturwissenschaft: Bestand zuerst das Kreativitätsdesiderat von asimilar y estimular (José Martí) und wurden mit der Literatur des Booms Identitätsdiskurse gebildelt, die in den 60-70er Jahren eine theoretische Fundiemng durch die Aufarbeitung des Russischen Formalismus erhielten, so sollte nun der gewonnenen Identität eine dritte Phase der kritischen Reflexion über die Vorannahmen der übernommenen Theorien folgen (1981:70). Die kritische Überarbeitung der traditionellen Geschichtsschreibung ist seit den 80er Jahren in Angriff genommen worden". Periodisiemngen, Kanonbildungen und Gattungsbegriffe wurden in Frage gestellt". Es ist eine begrüßenswerte Perspektive, die u.a. die besonders im deutschsprachigen Raum verbreitete Annahme korrigieren soll, die Literatur des Booms und insbesondere des Magischen Realismus sei der erste eigenständige Ausdruck der lateinamerikanischen Kultur. 1.1.2 Diskursanalyse statt Fremderkenntnis Eine weitere Überlegung bezüglich des wissenschaftlichen Vorgehens ergibt sich aus der Studie Todorovs über den im Zentrum dieser Arbeit stehenden Begriff der kulturellen Mestiziemng - ein Konzept, das auf die Entstehung kultureller Mischungen in der Colonia zurückgeht. Mit dem sog. ersten Mestizen, dem Dominikaner Diego Durán20, weist die Analyse Todorovs darauf hin, wie problematisch die Anwendung dieses Begriffs ist: Der Europäer Durán versucht, das religiöse System der Azteken zwar "von innen", d.h. aus der aztekischen Perspektive, jedoch für einen christlichen Adressaten zu übersetzen21. Indem er annimmt, die Sicht der anderen Kultur zu

18 Zu den Problemen der Historiographie, Diskontinuität und kulturellen Pluralitat vgl. den Beitrag von Ana Pizano in dem von ihr herausgegebenen Band (1985: bes.42-48) bzw. Pizarro (Hrsg.), 1987. 19 Die Beispiele sind zahlreich. Am Fall des uruguayischen Autors Acevedo Dfaz zeigt etwa Rodriguez Monegal die Blindheit einer traditionellen historischen Forschung, die diesen Autor vor dem Hintergrund der Norm des historischen Romans als mineur einschätzt, wahrend seine Romane Uber den kanonisierten Kostumbrismus hinausgehen und mit der Hinterfragung des Begriffs der Nationalitat bereits Ende des 19. Jhs. einen kulturicritischen Realismus verwirklichen ("Viö la novela histdrica como el instnimento para desvelar el origen de la nacionalidad", 1984:182). 20 Durän kommt um 1537 im Alter von ca. fünf Jahren nach Mexiko, wichst dort auf, wo er ausgebildet wird, mid unternimmt den Versuch, aus einer doppelten Perspektive heraus eine Historia de las Indios de la Nueva Espana e Isias de la Tierra Firme zu schreiben, die aber erst im 19. Jh. publiziert wird. Zunächst von einem anüreformerisch inspirierten und gegen das Heidentum gerichteten religiösen Purismus geleitet, USt sich Drän zunehmend auf Vergleiche des Christentums mit den Riten der Azteken ein und entdeckt in diesen eine Ähnlichkeit mit den christlichen. Trotz seiner ursprunglichen Absicht, den Religionssynkretismus zu bekämpfen, übernimmt Durin selbst eine mestizierte Perspektive, weil er versucht, die mexikanischen Brauche aus der europaischen Sicht zu erklären. Im Gegensatz zu Sahagiin, der im Bewußtsein der unUberwindbaren kulturellen Unterschiede zwischen den aztekischen und den christlichen Traditionen seinen Standpunkt und den seiner Informanten deutlich voneinander getrennt halt und zwar dadurch, daß er seine Kommentare als solche markiert (Todorov, 1985:266), produziert Durin eine Verschmelzung der Standpunkte (Torodov, 1985:254 und 267), die die Unterschiede verwischt und den Blick auf die Andersartigkeit der Kultur versperrt 21 Vgl. Todorov, 1982:212 f., bes. 238.

25 reproduzieren, gleicht er diese der eigenen an. Es entsteht zwar eine erste Form von Religionsmestizierung, die die religiöse Kultur Lateinamerikas wesentlich bestimmen wird, jedoch ist das Ziel Duräns verfehlt, die Andersheit der mexikanischen Kultur zu übersetzen. Neue Formen von Diskriminierung des Anderen können sich vielmehr in die synthetisierende Sicht des Mestizen einschleichen22; eine Perspektive, die die Lateinamerika-Forschung zur Vorsicht einlädt23. Im Gegensatz zu einer bevorzugten Tendenz der Forschung, die gerne die versöhnliche Formel der Kulturmischung als Basis eines amerikanischen Kreativitätsmodells übernimmt, wird es mein Bestreben sein, Mestizierungsdiskurse als historisch relativ zu sehen und ihre soziale, politische und kulturelle Ambivalenz zu untersuchen. Es sollte bedacht werden, daß das Mestizieiungsmodell keinesfalls eine essentielle Eigenschaft des Amerikanischen bezeichnen kann, sondern vielmehr das Ergebnis bestimmter epistemologischer und historischer Bedingungen ist: Das Konzept der Mestizierung konnte als ausgrenzende Identitätsdefinition in Opposition zum Abendland nur als Diskurs des 20. Jahrhunderts operieren, und zwar nach dem Aufkommen nationaler Identitätsdiskurse im europäischen 19. Jahrhundert (Hobsbawm in Miliani, 1985:110), vor deren Hintergrund erst die Mischung der Rassen als ein distinktives kulturelles Merkmal gelten kann24. Das Phänomen des Mestizen Durän zeigt auch die generell bestehende Schwierigkeit, Standpunkte mit Kategorien der Eigentlichkeit und der Fremdheit zu bestimmen. Eine solche Schwierigkeit tritt bei der Lateinamerika-Forschung verstärkt auf, weil die Bestimmung der Eigentlichkeit der lateinamerikanischen Kultur als Differenz zum vermeintlich Uneigentlichen, d.h. dem Abendländischen, geschieht Von dieser Annahme, die die Identitätsdiskussion des 20. Jahrhunderts wesentlich belastet hat, sollte Abstand genommen werden. Der Abbau eines Denkens in dichotomischen Kategorien der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit scheint mir notwendig und eine erste Form der adäquaten Antwort auf die poiesis der literarischen Weike zu sein, die - schon seit der romantischen Dichtung programmatisch - das Andere als Teil des

22 Vgl. Kap. IV. 23 Rama zufolge gehen Äquivalenzen auf die Präsenz der europaischen Perspektive als Bezugspunkt zurück: "Estamos fatalmente en la organización por corrientes literarias y entonces hay cieñas equivalencias. Yo creo que las equivalencias se dan más que nada por la presencia del polo externo y por la respuesta que a ese polo se da dentro de América. Me parece que en cierto sentido el efecto filial es la expansión de las literaturas europeas y respuesta a ellas por procesos de adaptación y 'aggiomamento" (1983:64). 24 Die Notwendigkeit, die Mestizierangsthese von Kultur zu bilden, bot sich als Gegenbewegung nach den Nationalisieningsbestrebungen an, die erst mit der bürgerlichen Konzeption des Staates im 19. Jh. entstanden sind. Der Begriff "Mestizierung" als Identitatszeichen hatte im 18. Jh. noch keinen Sinn gehabt, als infolge kontinuierlicher Verschiebungen innerhalb europaischer Herrschaftsverhaltnisse Mischungen als normale Bedingung von Kultur galten. Illustrativ für diese These scheint mir die Nachzeichnung der kulturellen Mischungen des spanischen Mittelalters als Weg der Bewußtseinsbildung durch Gaspar Melchor de Jovellanos (Sobre la necesidad de unir ai estudio de la legislación el de nuestra historia. Historia, 1780).

26 Eigenen implizieren25. Meine Untersuchung sowohl der theoretischen Diskurse als auch der literarischen Werke richtet sich auf die Problematisierung dichotomischer Prämissen der Forschung zum Magischen Realismus und verwandter Begriffe und auf die Erweiterung des Diskurses der Literaturwissenschaft durch die kulturellen Perspektiven, die von der poiesis der literarischen Texte vermittelt werden. Anfang der 80er Jahre begann die anglo- und lateinamerikanische Forschung, die Texte der conquista diskursanalytisch zu bearbeiten. Das 1983 erschienene El discurso narrativo de la conquista de América (Beatrix Pastor) hat gezeigt, daß durch die narrative Struktur der Chroniken jene Pole von vencidos und vencedores konstituiert wurden, die die diskursive Grundlage des Selbstverständnisses Lateinamerikas darstellten. Diese Schlußfolgerung hat die lateinamerikanische Forschung auch für das eigene gegenwärtige Tun gezogen: "Estamos construyendo un discurso, el discurso es nuestro, no es la realidad de la historia" (Angel Rama, 1983:63). Mignolo hat daraus eine klare Schulfolgerung gezogen, die die conquista nicht als Objekt einer historisierenden Analyse, sondern als methodologisches Programm behandelt26, das ein "desplazamiento del área del estudio de la literatura hispano/latinoamericana al discurso" erfordert (1988:142). Eine diskursanalytische Perspektive scheint mir sinnvoll, um nicht etwa, wie Durán, der Täuschung zu verfallen, auf der Grundlage des eigenen Wissenssystems auch ein Bild des Anderen konstruieren zu wollen27. Im Rahmen einer Studie, die sich wie die vorliegende Untersuchung in den europäischen wissenschaftlichen Kontext einschreibt, gilt es um so eindringlicher zu bedenken, daß die Erkenntnisebene einer Arbeit Uber eine fremde Kultur ihr Ziel nicht in der Beschreibung des Objektes, des Anderen, sehen kann, sondern in der Rekonstruktion der Diskurse Uber das Andere. Zu einem solchen diskursanalytischen Voihaben wird in Abschnitt 3. dieses Kapitels Stellung genommen. Weil aber gerade der Gegenstand Lateinamerika die Fluidität der Begrifflichkeit über das Eigene und das Andere besonders deutlich zeigt, ist klar, daß der Umgang mit der fremden Kultur auch die kritische Perspektivierung der eigenen impliziert28. Im Rahmen eines solchen

25 Filr die Rekonstruktion des Alteritätsparadigmas seit der romantischen und der symbolistischen Lyrik vgl. M. Frank (1983). 26 "Tanto la complejidad idiomitica de las colonias como la confrontación de culturas basadas en la ondidad y sociedades basadas en la escritura, hacen del periodo colonial un modelo ideal tanto para la reflexión sobre culturas y lenguas en contacto como del espectro de interacciones discursivas" (Mignolo, 1988:138). 27 Eine solche Täuschung kritisiert Mignolo auch bei den - obgleich informativen - Arbeiten der Ethnologie zur präkolumbischen "Dichtung", etwa von León-Portilla, aber insbesondere von dessen Lehrer Angel Maria Garibay: "Las dificultades que tenemos hoy con la obra de Garibay es que la valoración de la cultura náhuatl se hace, la mayoría de las veces, en forma paralela a la imagen post-renacentista de la cultura griega. Y (...] reconstruye una cultura fundamentalmente oral en términos de unafilosofíade la producción verbal forjada sobre la experiencia de las sociedades con escritura alfabética. Una defensa, en suma, que se construye sobre la base de la semejanza y toma el lugar de lo que hoy quisiéramos que fuera una descripción que enfatíce la diferencia" (1988:146). 28 Jacques Leenhardt fordert eine selbstkritische Haltung, wenn er aus der Bedeutung von Garcia Márquez für Europa aus Anlaß der Verleihung des Nobelpreises folgert, daß die vermeintliche olredad dieses Autors als Spiegel fungiert, in dem sich das Alteritätssystem des Europäers (und des dieses System Übernehmenden Lateinamerikaners) wider-

27 Erkenntnisziels hat der literarische Text die wesentliche Funktion, eine Kritik etablierter Vorstellungen von Kultur anzuregen29. Es ist eine Aufgabe, die aus den vorangehend erwähnten Gründen der lateinamerikanischen Literatur besonders zufällt.

1.2 Die Rolle der Literatur: Das "ästhetische" Modell Sahagúns Ein qualitativer Unterschied zwischen den Modellen von Kolumbus, Cortés und Durán einerseits und Sahagún andererseits liegt nach Todorov in der Ebene, auf der die eigentliche Annäherung an das Fremde stattfindet. Das Vorhaben dieses FranziskanerPaters hát zwar mit der christlichen Mission ein ethisches Ziel30, verfährt aber als Eikenntnissubjekt ähnlich wie die Eroberer: "Erkennen" kann Sahagún die alten Bewohner Amerikas nur durch die Projektion des eigenen Denksystems, in welchem die "guten Wilden" in Opposition zur christlichen Zivilisation stehen31. Auf einer anderen Ebene jedoch reagiert Sahagún sensibler gegenüber einem zwar nicht begreifbaren, aber durchaus spürbaren Reichtum der Kultur und läßt mehr und mehr die Stimmen des Anderen in seiner Historia verdadera de las Indias selbständig neben seiner eigenen auftreten. Eine Liebe zum Fremden ersetzt die ursprüngliche christliche Nächstenliebe in dem Maße, in dem sich Sahagún dem Fremden ästhetisch annähert.

spiegelt. Daraus seien die Inflation und die múltiples máscaras des Begriffs der otredad zu eridben (in: Leander, 1986:21). 29 Darauf wies Angel Rama in seiner umfassenden Monographie Ober La novela en América Latina hin, wenn er zum Schluß seiner theoretischen Überlegungen Foucaults Einschätzung der Literatur Übernahm, einer Literatur, die die Aufgabe hat. auf die Philologie kritisch zu antworten (Rama: 1982:417). Als weiteres Beispiel fUrdiskursanalytiscbe Positionen in Lateinamerika: "Podemos leer el texto. Podemos leer en él sus fuentes y rastrearlas. Podemos presenciar la distancia y el camino entre uno y otras. Las palabras, los discursos, no están allí exclusivamente como vehículos para representar el mundo funcional. Además de ser signos, de nmtUai otras realidades, están allí por su proprio valor representativo como discursos, son representados para que exhiban sus peculiaridades, su diversidad, sus enfrentamientos" (Carlos Pacheco, 1981:61). 30 Zur Diskussion der Rolle der Kirche im Kontext der Conquista vgl. etwa den entsprechenden von Karl Kohut herausgegebenen Band (1988). 31 Vgl. Prefacio zu Historia general de las cosas de Nueva España, 4 Bd., México: Ponúa, 1956. Sahagún rechtfertigt den missionarischen Eingriff in die aztekische Kultur durch die Krankhätsmetaphorik, mit der eine potentielle Gute der Indianer bei gleichzeitiger Fiststellung augenblicklicher Verirrung (Idolatrie) behauptet wird, gegen die ein ärztlicher Eingriff seitens des Christentums notwendig erscheint (Todorov, 1985:263). Sahagún teilt das missionarische Ethos mit Bartolomé de las Casas, der mit der Milde der Evangelisierungs- und Kolonialisierungsidee versucht hatte, der Sklaverei Einhalt zu gebieten (Todorov, 1985:208f.). Die Positionen von Sahagún und Las Casas divergieren jedoch voneinander. Sahagúns Ziel ist der Erwerb von Kenntnissen Ober die fremde Kultur im Wissen um die Schwierigkeit des eigenen Vorhabens; Las Casas entwickelt dagegen von Anfing an ein idealisiertes Bild der Indianer, ohne sich die Frage nach der Andersheit der indianischen Kultur zu stellen. Las Casas hat primar eine apologetische Absicht (Memorial de Remedios und Kontroverse von Valladolid gegen Sepúlveda im Jahre 1500), die auch in die Kritik der eigenen Kultur mündet (Brevísima relación de la destruición de las Indias), wodurch Las Casas als Begründer der sog. leyenda negra (vgl. Juderías. 1967(1914]), wie aber auch einer Religionsanthropologie (Apologética Historia) in die Geschichte eingeht. Auf letzteres Werk beruft sich der Indigenismo im 20. Jahrhundert Zur Eroberung vgl. auch D. Janik/W. Lustig (1989).

28 Damit ist das Werk Sahagúns im Hinblick auf die Rettung des kulturellen Anderen erfolgreicher als das des Kolumbus oder des Cortés. Der Grund liegt im begeisterten Umgang mit dem fremden Text seiner Informanten, der Aztekenfürsten. Das Medium der Literatur im weiteren Sinne veihilft ihm dabei zu einer vorsichtigeren Behandlung der anderen Kultur. Diese wird durch die ästhetische Betrachtungsweise Sahagúns gerettet, weil es ihm gelingt, die Stimmen des/der Anderen mit seiner eigenen Interpretation koexistieren zu lassen. Sahagún mischt weder die fremden Stimmen mit seiner eigenen32, noch ordnet er die andere Kultur seinem hermeneutischen Rahmen unter, womit er gleichsam riskiert, daß dieser als inadäquat und unzureichend entlarvt wird. Über das Verstehenwollen hinaus liegt die Stärke Sahagúns darin, daß er sich der Schwierigkeit, den Anderen zu erkennen, bewußt ist und zugleich Leidenschaft gegenüber der Andersheit der fremden Kultur hegt. Die Studie Todorovs zeigt am Modell Sahagúns, daß die Frage nach der dialogischen Einbeziehung der Stimmen des Anderen offenbar ein brauchbares Kriterium der Unterscheidung verschiedener Umgangsformen mit dem Fremden ist Dabei ist der Dialog eine Möglichkeit des Umgangs mit Kultur, die Michail Bachtin zufolge im Genre des Romans besonders intensiv verwirklicht sein soll33. Das Interpretationsmodell Todorovs geht nicht nur eindeutig auf die eigenen Studien zur Dialogizität von Michail Bachtin (1981)34 zurück, sondern es besteht Konsens darüber, daß das Bedeutende an Dialogtheorien das postulierte (ethische) Desiderat ist, in einem Wechsel von Fragen und Antworten dem Anderen eine Rolle zuzugestehen33. Sahagún erreicht dieses Ziel als ästhetisches und ethisches Subjekt und nicht als Erkenntnissubjekt. Der ethische Aspekt des Umgangs mit dem Fremden der Kultur im und durch den literarischen Text wird ein zentraler Bereich dieser Studie sein. Darauf wird in Kap. II, 2.3.2 und in den einzelnen Analysen eingegangen. Inwieweit das Dialog-Modell von Bachtin eine adäquate theoretische Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem Problem des Fremden darstellt, ist im Folgenden zu überprüfen.

32 Auf der Basis nanatologischer Kategorien zeigt Todorov, daß Sahagúns Position eines "auktorialen" ErzShlers diskuisstnikturell offengelegt und nicht unter der scheinbaren Neutralität einer personalen Perspektive verschleiert wird, die in die Psyche des Anderen einzutauchen vorgibt Letzteres entspricht vielmehr dem Vorgehen von Motolinias Historia de los Indios de In Nueva España. Im Stil der erlebten Rede vermischt Motolinia den Diskursrahmen und projiziert damit den eigenen Blickwinkel als Erzähler auf die Inhalte seiner Informanten (1985:266). Diese Feststellung Todorovs muB als indirekte Kritik an den Realismus-Annahmen von narrati vischen Theorien gewerte« werden, für die eine als erlebte Rede artikulierte personale Perspektive als die Wiedergabe der Sicht der Figuren gilt 33 Der sprechende Mensch im Roman. In R. Grflbel (1979: 219-251); vgl auch 3.1. 34 Zum Problem des Anderen im Dialogbegriff vgl. auch die Diskussion verschiedener Positionen in Fuget, 1984. Zu Dialogizität auch Lachmann (Hrsg.) (1983) - eine vom Instituto de Investigaciones Filológicas der UNAM in México D.F. eingehend diskutierte Debatte (Acta Poética, núm. 7,1987); zum dialogischen Prinzip in der Literatur (im Sinne Bachtins) vgl. Kloepfer (1983). 35 Die Dialogtheorie Bachtins ist in Lateinamerika breit rezipiert worden. Vgl.uj.Tatiana Bubnova, 1987; Carlos Pacheco, 1979; Walter Mignok), 1986b; Susanna Reisz de Rivarola, 1988. Fflr einen interdiziplinaren Ansatz der angloamerikanischen Forschung zur Ethik des Dialogs vgl. Maranhao, 1990.

29 Die Überlegungen in Abschnitt 1 und 2 führen zu zwei verschiedenen Ansätzen der Texttheorie: zu einem diskursanalytischen und einem ästhetischen nach dem Modell des Dialogs. Beide finden Anwendung in der internationalen Lateinamerikanistik. Dies hat eine gewisse Berechtigung im Zusammenhang mit dem lateinamerikanischen Roman der Gegenwart und insbesondere mit Texten wie den in der vorliegenden Studie zur Diskussion stehenden Romanen des sog. Magischen Realismus. Es sind Texte, die entsprechend dem Konsens der Kritik, eine transavantgardistische poetische Praxis verwirklichen36, die zu einer kritisch-poetischen Sicht von Kultur führen kann37. Unter Zugrundelegung einer solchen Perspektive beabsichtigt die vorliegende Studie, die Vorannahmen der wissenschaftlichen Diskurse über die Kultur und die Literatur des Magischen Realismus transparent zu machen, um dann mit der Analyse der poetischen Praxis der Texte die kulturelle Leistung der Romane zu erarbeiten und daraus ein kritisches Bewußtsein im Hinblick auf den Umgang mit Kultur zu gewinnen. Auch die lateinamerikanische Forschung ist zu einer solchen Einsicht über die kulturkritische Funktion literarischer Texte vorgestoßen und hat die Literatur, insbesondere den sog. avantgardistischen Roman, als eine Form philosophischer Tätigkeit gesehen und zum kritischen Werkzeug erhoben. Eine solche Einschätzung knüpft an die historischen Quellen der Romantik an und deutet diese postmodern um3*: A partir de la vanguardia, la novela va a asumir una forma radicalmente crítica ante la historia y ante cómo narrarla. En vez de la postura 'científica' de la novela del diecinueve39, que supone un observador privilegiado que mira desde fuera el mundo [...] la novela más próxima ahora a la filosofía o al mito - pondrá en tela de juicio precisamente los vehículos de pensamiento y observación [...]. Se asumirá conscientemente la crisis de Colón para barajar textos, lenguaje, conocimiento, autoridades, en busca de un principio que dé sentido a todo; ese principio incluirá, sin jerarquía, relatos indígenas, africanos, europeos, así como textos orales tanto como escritos (1984: llf.) 40 .

36 Das Urteil Femando Alegrías, der Magische Realismus sei eine avantgardistische Konstante, ist transhistorisch zu verstehen (in Miliani, 1985:111). 37 Unter Bezug auf Schräders Analyse von Pedro Páramo (1978) faßt Hölz die Meinung Uber die ästhetische Leistung der Romane des Magischen Realismus mit dem Pazschen Begriff der ratón crítica fUr die moderne Literatur zusammen, "eine kritische Vernunft, die gegen ihre eigenen Erkenntnisinhalte operiert" (1984:454). Vgl. auch Paz, Los signos en rotación (1971:220). 38 Nach Lyotard liegt eine "trans-avantgardistische" Ästhetik bei denjenigen Textprozeüen vor, die mit der Kritik der Vernunft durch die Romantik beginnen und in der "Postmodeme" zu dem Zusammenfall aller synthetischen Möglichkeiten der Phantasie führen (1985,1988 und 1988a). Zum Verhältnis von Postmodeme und Romantik vgl. Harry Garwin (1983) und Paul de Man (1983). 39 Die Bedeutung des Romans für eine kulturkritische Forschung zeigt sich auch im Roman des 19. Jh., wie dies Charles Grivel in Production de l'intirèt romanesque (1973) nachgewiesen hat. Grivels Theorie mache klar - so Rama -, daß der Roman ein "campo cultural 'par excellence" ist (1982:228). 40 So faßt González Echevarría in seinem Vorwort zum Kolloquium über Historia y ficción en ¡a narrativa hispanoamericana, an dem Alejo Carpentier, Emir Rodríguez Monegal und andere bekannte Autoren teilnahmen, die Funktion der lateinamerikanischen Literatur im 20. Jahrhundert zusammen.

30 Pizarro hebt schließlich die Spannung zwischen dem integrativen Modell der Geschichtsschreibung und dem eher desintegrativen Diskurs der Literatur als konstitutiv für die Texte des zeitgenössischen Romans hervor (1985:62). Den vorangehenden Argumenten ist zuzustimmen. Gleichzeitig muß aber das Mißverständnis einer anklingenden Festlegung auf die zeitgenössische Literatur als Folge der Annahme eines mit der Avantgarde herbeigeführten Bruchs ausgeräumt werden41. Ein Bruch läßt sich nur inneihalb der Wissenssysteme, d.h. der Episteme der historischen Moderne feststellen, jedoch nicht als essentielle Eigenschaft von literarischen Werken, die potentiell im Widerstreit zu wissenschaftlichen, philosophischen oder theologischen Diskursen stehen. Darauf soll unter Bezug auf Foucault unter Punkt 3.2 des vorliegenden Kapitels ausführlicher eingegangen werden. Aus dem vorangehenden Überblick über die Forschungspositionen der internationalen Lateinamerikanistik wird festgehalten: Die aktuelle lateinamerikanische Kultur gibt sich ein neues, auf kultureller Pluralität gründendes Identitätsmodell. Ein solches Modell erfordert die Untersuchung des Einzelnen im Verhältnis zum eigenen Bezugsrahmen (Leenhardt, 1985), ein sowohl diachrones als auch synchrones Verhältnis innerhalb eines Landes sowie der Länder untereinander und im Verhältnis zu Europa42. Dabei sollte zunächst durch die Betrachtung der Literatur eines Landes der Vielfalt von Diskursen Rechnung getragen werden. Entsprechend räumt die vorliegende Studie dem literarischen Gegenstand eine bedeutende Rolle für die Entwicklung der Fragen nach der Kultur Lateinamerikas ein und beschränkt die kulturelle und literarische Analyse auf das Gebiet des mexikanischen Romans.

2. Mexiko im Rahmen der hispanoamerikanischen43 Kultur Der Kultuibereich Mexikos weist infolge der Bedeutimg der colonia44 eine besonders starke multikulturelle Tradition im Medium der Literatur auf. Darüber hinaus bezieht sich der Identitätsdiskurs Lateinamerikas seit Beginn des Jahrhunderts wiederholt auf Mexiko, was neben der Revolution und der sich unter anderem aus der Nähe zu den 41 Luiz Costa Lima zeigt, da8 sich bspw. die Mißachtung der brasilianischen Literatur des 19. Jahrhunderts durch die Literatlirkritik und Literawrgeschichte auf die stillschweigende Übernahme eines (seit der Romantik bestehenden) modernistischen Diskurses der Umwälzungen und des kulturellen Neubeginns zurückfahren läßt Dieser schlagt sich in nationalen Wertungskriterien der Unabhängigkeit vom Mutterland nieder und UBt die Gefahr des tatsächlichen Vorhandenseins einer "Kolonialmentalitäl" der Lateinamerikaner selbst vergessen (1983:401f.). 42 Nach Überwindung der Generalisieningen in Arbeiten wie den von Enrique Anderson Imbert hat die lateinamerikanische Forschung die Impulse der Semiotik (zur Rezeption des Russischen Formalismus und der Kritik durch Baithes vgl. Fernández Retamar, 1981:41-50 und Miliani, 1983:98) sowie das semiotisch-hermeneutische Textmodell von Paul Ricoeur rezipiert (Rama, 1982:413f.). Mit den Diskurstheorien (Angel Rama, 1982:417f.) ist a x h der Poststrukturalismus aufgearbeitet worden. Zur Rezeption Foucault in Mexiko vgl. Cebaltos Garibay, 1988). 43 Zur Begründung der Wahl der Bezeichnung "Hispanoamerika* vgl. weiter unten. 44

Vgl. bspw. Henrfquez Urefta, Reyes und Paz (Kap. IV und V).

31 USA ergebenden Assoziation mit dem Mythos der Modernisierung und des desarrollismoAi auf eine gewisse intellektuelle Vormachtstellung seit Beginn des Jahrhunderts zurückzuführen ist, bei der Mexiko Argentinien die Rolle des kulturellen Zentrums streitig macht46. Auch im deutschsprachigen Raum entspricht die Konzentration auf einen Kulturbereich den neueren Tendenzen der Lateinamerika-Forschung, die nach einer eher verallgemeinernden Rezeption der Literatur des Booms in einer zweiten Phase die Notwendigkeit der Vertiefung von Spezialgebieten verspürt hat. Nach der historischen Relativierung des Konzeptes von conjunto durch José Luis Martinez47 (1979[1969]) haben die Lateinamerikaner die reduktionistische Wirkung einer paradigmatischen Betrachtung von Kultur eikannt, weil in dieser interne Spannungen innerhalb eines Kulturbereichs oder zwischen verschiedenen Bereichen der kulturellen Einheit ausgespart bleiben und Einzelphänomene als additive Teile einer lateinamerikanischen Einheit verstanden werden (Pizarro, 1985:47f.). Das Denken in Kategorien der Einheit entspricht eher dem Kontext der Jahrhundertwende. Mit der Vorstellung einer einheitlichen Kultur des Kontinents (conjunto) versuchte Lateinamerika zu Anfang des Jahrhunderts, sich als kulturelle und politische Einheit gegen Europa zu behaupten. Seine Funktion muß in diesem diskursiven Rahmen historisch relativiert werden, denn das Beharren auf einer einheitlichen Gesamtschau Lateinamerikas muB heute als Verlegenheitsmythos aus mangelnder Kenntnis der Vielfalt dieser Kultur gewertet werden4*. Saül Yuikievich hat bspw. vor der Rückkehr zum Denken in Kategorien der Einheit im Rahmen der Identitätsdiskussion ausdrücklich gewarnt. Die Rolle des Diskurses der Einheit im Zusammenhang mit der Identitätsproblematik verdient eine gesonderte Behandlung. Darauf wird in ILI eingegangen. Weniger als auf die Einheit wird heute der Akzent auf die diversidad innerhalb der kulturellen Einheit Lateinamerikas gelegt und zwar im Sinne der Pluralität nationaler und übernationaler kultureller Spannungen. Eine Folge dieser Einsicht ist die differenzierte Benutzung territorialer Bezeichnungen und damit die Aufgabe des Gesamtbegriffes Lateinamerika zugunsten Hispanoamerika für die Forschung Spanisch sprechender Länder. Galt der Begriff der Hispanidad für das 19. Jh. als der Ausdruck einer von Spanien abhängigen Identitätssuche und schien das von französischer Seite 45 In einem von Leopoldo Zea herausgegebenen Band zu América Latina en sus ideas meint F. Mini Quesada mit mitoide del desarrollo die Rationalisierung des Mythos des Fortschritts, durch den die Macht des Mythos aufrechterhalten wird (1986:80). Auf eine solche Funktion des Mythos wird in Kap. n, 2.1.4 eingegangen. 46 Vgl. Antonio Cándido (in Pizarro, 1985:65). 47 Gemeint ist das sich Anfang des Jahrhunderts etablierende Bewußtsein der lateinamerikanischen Nationen, Teil einer Gemeinschaft zu sein (1979:12), die - trotz Unterschiede in der nationalen Geschichte - durch einen gemeinsamen Ursprung und eine gemeinsame Identität vereint sind, was sich in einer eigenständigen Kultur niederschlägt Als Symbol der Eigenständigkeit dieser territorialen und kulturellen Gemeinschaft gilt die mestizierte Kultur, die Martínez zufolge als gemeinsames Merkmal einer kulturellen Offenheit und als Kraft gilt, kulturelle Gegensätze zu synthetisieren (1979:17f.). 48 Vgl. Christian Wentzlaff-Eggebert (1989:X).

32 angebotene Latinoamérica emanzipatorischen Charakter zu haben, so war die um die Jahrhundertwende erfolgte Rückkehr zu Hispanoamérica das Zeichen sowohl der aufkommenden vorurteilsfreieren Beziehung zu Spanien als auch des Bewußtseins der kulturellen Unterschiede insbesondere im Verhältnis zum Portugiesisch sprechenden Lateinamerika49. Diesem diskursiven Rahmen wird auch in der vorliegenden Studie Rechnung getragen und im folgenden die Bezeichnung Hispanoamerika benutzt. Dem Versuch der neueren hispanoamerikanischen Kritik, Kultur als polyphonen Ausdruck einer lebendigen Vielheit einzelner Manifestationen (z.B. Fernández Retamar, 1981:78f.) statt als Geschichte von Ideen zu verstehen, möchte ich Nachdruck verleihen. Unter anderem soll die vorliegende Arbeit der Unterstützung eines solchen Bestrebens dienen. Notwendige Schritte sind zunächst die Dekonstruktion der theoretischen Diskurse, welche die Vielheit der kulturellen Manifestationen in die Einheitsvorstellung einer authentischen Identität zurückführen, um auf der Grundlage der literarischen Analyse zu einer Vision von Kultur als Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen zu kommen. Eine Monographie zu den Romanen des sog. Magischen Realismus steht im Zentrum der vorangehenden Fragestellungen, nicht nur weil sich die Identitätsdiskurse des 20. Jahrhunderts auf diese Literatur bezogen haben, und sowohl die Kritik als auch die theoretischen Aussagen der Autoren in diesem literarischen Stil den gelungenen Akt einer Identitätskonstitution sehen. Die Wahl dieses Gegenstandes eimöglicht vielmehr die Behandlung der wichtigsten Themen, die das Selbstbild Hispanoamerikas im 20. Jahrhundert charakterisieren. Darüber hinaus stellen die hier zu untersuchenden Texte ein wesentliches Moment der literarischen Produktion dar sowohl für die ästhetische Entwicklung des mexikanischen Romans als auch für die kulturelle und ideologische Verarbeitung der Revolution.

3. Methodisches Vorgehen: Modell versus Diskurstheorien50 Zu Zeiten intensiver Methodendiskussion und -pluralität sollte der Versuch unternommen werden, bei methodologischen Überlegungen die Erfordernisse des Untersuchungsgegenstandes zu berücksichtigen. Zwei Ansätze verdienen, für die Zwecke der vorliegenden Studie besprochen zu werden.

49

Vgl. u.a. Antonio Cándidos "posición de Brasil en un proyecto de Historia de Literatura Latinoamericana" (1985:78).

50

Zu einer erweiterten Fassung und zur Operabilität des Begriffs der Heterotopie am Beispiel von Jorge Luis Borges (Vindicación de Bouvard et Picuchet) vgl. Vf., 1991d.

33

3.1 Objektanalyse: Michail Bachtin und das Modell einer Kulturpluralität Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß kulturelle Pluralität und Alterität grundlegende Konstituenten der Diskurse über Hispanoamerika darstellen. Die Kulturtheorie von Michail Bachtin wird von einem großen Teil der Forschung als ein Beschreibungsmodell angesehen, das beide Elemente impliziert. Bachtin zufolge trägt das Wort die Spur des Anderen, weil es in einem "Meer von kulturellen Zeichen" eingetaucht ist. Dieser in zahlreichen Werken Bachtins wiederkehrende Kemsatz seiner Ästhetik gilt auf verschiedenen Begriffsebenen: Das Konzept der Alterität des Wortes gilt zugleich als formale, textbezogene Beschreibungskategorie und als sprachphilosophische und anthropologische Bedingung von Kultur51. Mit "Alterität" definiert Bachtin eine Bewußtseinsstruktur, die onto- und philogenetisch als dialogisch zu verstehen ist. Das Wort ist damit nur als soziale und kommunikative Instanz zu denken92 und im Rahmen einer "Translinguistik" zu untersuchen53, die das Zeichen im sozialen und ideologischen Kontext in Betracht zieht. Das Wort ist nach Bachtin mit der Stimme des Sozialen durchsetzt; die Rede, mit der sich individuelles und kollektives Bewußtsein artikuliert, ist durch die Stimme des Anderen durchbrochen. Mit der eingeführten Kategorie der Extopie54 postuliert Bachtin, daß die Auseinandersetzung mit dem Anderen die Bedingung für die Entstehung von kulturellem und persönlichem55 Bewußtsein ist, das zunächst vielstimmig - als Dialog mit dem Anderen - entsteht und nur als Sonderfall zu einer monologischen Manifestation führt. Mit dem Modell des Gesprächs wird das Soziale als Pluralität von Stimmen56 verstanden, wobei die Stimme den Baustein von "Reden" und Weltsichten darstellt. Soziale Kontexte sind die Verwirklichungssphäre des dialogischen Prinzips, während der polyphone, d.h. der vielstimmige Roman als diejenige Form der Kunst gilt, die eine pluralistische Vision

51 Zu diesem Problemkomplex vgl. ausführlicher Vf., 1985:16f und 214f. 52 Dieser Grundsatz wurde im Zusammenhang mit einer Kritik am rein kunstbezogenen Verständnis des Deautomatisieningsverfahrens durch die Russischen Formalisten hervorgehoben (Bachtin-Medvedev, 1929). Vgl. die umfangreiche Studie von Augusto Ponzio (1980:85f.). 33 Mit diesem Begriff meinte Bachtin die Notwendigkeit einer sich pluridisziplinar verstehenden Wissenschaft der Zeichen. Vgl. hierzu Kristeva, 1969; Todorov, 1981 und Ponzio. 1980. 54 Die Manifestation der Extopie als diskursstruktureUes Verfahren, d.h. als Eigenschaft der inondation wird durch Todorov mit dem Begriff der Hitirologie bezeichnet - als Obersetzung des von Bachtin eingeführten Neologismus raznorechie (Todorov, 1981:88f.) -, wahrend Alterität die philosophische Ebene der Dialogizität meint Todorov arbeitet die Beziehung Bachtins zu Martin Buber, 1981:151f., sowie auch die größere Nahe zum Existentialismus (mit Bezug auf Heidegger) als zum Marxismus (1981:152) heraus. Zur Besprechung der Darstellung Todorovs vgl. Vf., 1985:214, Anm. 24. 55

"Comme le corps est initialement formi dans le ventre de la mère (dans son corps), de même la conscience humaine se réveille enveloppée par la conscience d'autrui" (in Todorov, 1981: 148).

56 Zur Darstellung der poststnikturalistischen Kritik am Begriff der Stimme vgl. Vf., 1985: 215, Anm. 25.

34

von Wirklichkeit vermittelt37. Der polyphone Roman, dessen Prototyp in den Werken Dostojevskis gesehen wird, realisiert die Vielstimmigkeit auf verschiedenen Ebenen: a) stilistisch durch die Verfahren von Parodie, Stilisierung und indirekter Polemik, die b) Ausdrucksmittel eines grundlegenderen Prinzips sind, nämlich eines vielstimmigen Bewußtseins, wobei c) das Genre des Romans den höchsten Grad an Intertextualität umsetzt, indem es andere Gattungen als fremde Stimmen zitiert und kritisch bricht. Das romaneske Wort wird somit grundsätzlich als "stilisiert" und gebrochen "wiedergegeben". Die Bedeutung des romanesken Genres in der Ästhetik Bachtins hat dessen Hieorie bei der Anwendung auf lateinamerikanische Studien besonders nützlich erscheinen lassen. Die Kulturpluralität und die aus den Studien zu Rabelais (1970) entstandene Theorie des karnevalesken Prinzips verleihen der kulturellen Vielfalt einen subversiven Charakter. Darin findet die hispanoamerikanische Utopie der Umwälzung herkömmlicher Hierarchien zwischen der hispanischen, sakralisierten Norm und autochthonen kulturellen Kräften eine theoretische Basis58. Angesichts ihrer Relevanz in der Hispanoamerikanistik verdient die Ästhetik Bachtins, insbesondere auch die implizierte Mimesis-Prämisse genauer erörtert zu werden. Bachtin hebt hervor, daß das romaneske Zeichen notwendigerweise eine Wiedergabe und nicht eine Abbildung der 'Reden' ist. Die Begriffe Abbildung und Wiedergabe (Modellierung) lassen sich ericenntnistheoretisch als sprachmaterialistisch bzw. -idealistisch verstehen. Daß Bachtin das romaneske Zeichen der "Wiedergabe" zuordnet, impliziert, daß der Romantext nicht als transparentes Vehikel für eine positivistisch vorausgesetzte Realität fungieren kann, sondern daß er vielmehr durch Bezug auf den sozialen Kontext der Zeichen auch auf die Bedingungen der ideologischen Vermittlung verweist (229f.)59. Als Ausdruck einer sozialen Welt beinhaltet die Vermittlung auch Wertesysteme (Medvedev), die nicht aus der Welt selbst, sondern aus ihrer ideologischen Organisation stammen - eine These, die sich an das Prinzip der Modellierung im Sinne Lotmans (1972)60 anknüpfen läßt. Als Vermittlung eines vielstimmigen Zeichens impliziert der Begriff der Wiedergabe

57 Dies findet Bachtin bei Dostoevskij realisiert: "Le monde de Dostoïevski est profondement pluraliste" (in Todorov, 1981:160) • eine in allen Werken wiederholte Position, die in seinem Probleme der Poeiii Dostoevskijs 1963 (dt 1971) systematisch begründet wird. 58 Vgl. bspw. Carlos Pachecos Analyse der parodistischen und subversiven Prozesse in Roa Bastos' Yo el supremo (1981:61), bzw. das Modell kultureller Vielstimmigkeit durch Juan Duchesnes (1984). Auch Lienhards Untersuchung von El zorro de arriba y el torro de abajo von José Marta Arguedas erklärt Arguedas' utopisches Modell eines Kulturdialogs durch das karnevaleske Prinzip (1981). Die ausfuhrliche Besprechung von Lienhards Anwendung der Bachtinschen Kulturtheorie durch Carmen Lederò (Instituto de Investigaciones Filológicas der UN AM, México D.F.) zeigt u.a. den Stellenwert dieser Theorie in der zeitgenossischen hispanoamerikanischen Diskussion (1987:123-150). 59 Nach dem Prinzip der Wiedergabe wäre der realistische Roman eine Mimesis im aristotelischen Sinne, d.h. ein die poetische Transfiguration implizierendes, wahrscheinliches Modell von Wirklichkeit (vgl. Vf., 1985). 60 Neben dem Konstruktionsaspekt des als Gesamtzeichen gesehenen Textes betont der Modellbegriff Lotmans den Erkenntnisgewinn (1972:40f.). Zur Realismus-Diskussion in Bachtin vgl. Todorov, 1981:120. Zur Modetlierungsfunktion der Metaphorik im realistischen Roman vgl. Vf., 1985:138f.; zur Definition des Modellbegriffes im Sinne des drillen ModellbegrifTs von Max Black vgl. Köller, 1975; Ricoeur, 1975:304 und Vf., 1985:224.

35 zugleich die Aufsplitterung der Zeichenkonstituenten. Dieses Prinzip, das Roman Jakobson die poetische Funktion des Zeichens genannt hat, trifft entsprechend der Konzeption Bachtins besonders auf die Rolle des Autors zu: "Dem Romanautor ist sie [die Stimme] als aufgespaltene und in der Rede differenzierte Sprache gegeben" (1979:220). Bachtin zufolge kann keiner Textinstanz, weder dem Helden61 noch dem Autor, ein Vorrang zukommen. Der dialogische Prozeß im Roman betrifft somit den Autor auf der Ebene des Bewußtseins wie auch des Ausdrucks (Bachtin, 1984). So kommt es zu einem erweiterten Verständnis vom "Autor". Dieser kann nicht mehr als einheitliches Subjekt und als empirische, seinen eigenen Text beherrschende Instanz begriffen werden, sondern er konstituiert sich durch die Auseinandersetzung mit anderen Texten (Intertextualität) und mit den Figuren seines Romans (1984:193f.)62. Bachtins offene Auffassung des Autors stößt dennoch auf Grenzen. Die Behauptung fehlender Hierarchien der in den Text eingehenden Stimmen zeigt, daß Bachtin das aus dem marxistischen Kontext stammende Postulat ihrer prinzipiellen ideologischen Neutralität voraussetzt. Es ergibt sich die Frage, ob aus der Pluralität gleichberechtigter Standpunkte für den Interpreten notwendigerweise eine ideologische Unbestimmtheit hervorgehen muß63. Diese Frage wird durch die Theorie Bachtins ebensowenig geklärt wie die grundsätzliche Ambivalenz des Begriffs der Vielstimmigkeit Bachtin operiert mit der Alterität auf doppelter Ebene: einmal auf der textwissenschaftlichen Ebene des Dialogs, der das Beschreibungsmodell einer mit der Alterität durchwobenen Welt liefert, und zum anderen auf anthropologischer und bewußtseinsphilosophischer Ebene, in der Alterität a b ontologisches Prinzip fungiert. Die Frage nach der Erkennbarkeit von Alterität selbst wird aber nicht gestellt64. Alterität ist vielmehr als Grundprämisse vorausgesetzt. Der Doppelstatus des Bachtinschen Dialogbegriffs - als Wesenheit von Kultur und als textwissenschaftliche Kategorie - wird besonders problematisch, wenn der Dialogbegriff in Verbindung mit Modelltheorien als Objekteigenschaft

61 In R. Grübet (1979:223) bzw. in Todorov (1981:113). 62 Daraus entsteht die Forderung, die Analyse nicht auf eine Dimension, sondern auf die dynamische Spannung zwischen den nanativen Dimensionen zu beziehen. Vgl. auch Rainer Warnings Kritk an gängigen Erzahlgrammatiken in der Folge von Greimas, die "undialektisch [bleiben], solange sie die Vermittlung zwischen dem Allgemeinen eines formalen Regelsystems und dem Besonderen der nanativen Praxis nicht explizit mittheoretisieren" (1979:554). Dies betrifft besonders die Historizitat des Textes und dessen Verhältnis zu Erzahluniversalien, nach denen makrostnikturelle Theorien ausgerichtet sind (1979:556f.). 63 Auf diese LekUlremOglichkeit, die eher der Zerstreuung von Bedeutung im Sinne von Denidas La dissimination (1972) als der als ganzes Zeichen (Loonan) funktionierenden Modellierung nahekommt, bin ich im Zusammenhang mit der Metaphorik eingegangen (1985:203f.). 64 Paul de Man zeigt die Ambivalenz zwischen Dialogue und Dialogism im Denken von Bachtin; bei ersterem handele es sich um eine metalinguistische Kategorie, die die (philosophische) Frage nach dem Anderen durch die Affirmation der Alterität des Anderen ersetzt und damit die Möglichkeit zerstört, sich dessen Andersheit gewahr zu weiden: "The self-reflexive, autotelic [...] structure of form [...] is hereby replaced by an assertion of the otherness of the other, preliminary to even the possibility of a recognition of his otherness" (1983:102). De Man zufolge hat die Pluralität des Sozialen bei Bachtin den Wen einer metaphyischen Kategorie ("as a religious transcendentalism which would allow one to read 'God' wherever Bakhtin says 'society", 1983a: 103). Auch die Kritik von P. Zima am DialogBegriff von Bachtin geht in diese Richtung (1991:119f.).

36 angesehen wird. Die Ontologisierang des Dialogs als Prinzip von Kultur und dessen Verabsolutierung als ästhetische Norm hat überdies diskriminierende Folgen*5. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die mimetisch-referentielle Auslegung des Dialogs gründet darauf, daß sich die Theorie Bachtins am Gesprächsmodell orientiert66 und die Tendenz hat, ein offenes Universum der kulturellen Manifestationen dialogischer Spannungen vorauszusetzen. Zwar unterscheidet Bachtin zwischen monologischen und vielstimmigen Reden; er meint aber bei den monologischen Reden eine Form offizieller Ideologie, die sich als Oberflächenstruktur verfestigen kann und dialogische Konflikte der koexistierenden Reden bzw. Ideologien scheinbar in den Hintergrund geraten läßt67. Alterität und Dialog gelten in der Konzeption Bachtins als eine anthropologisch und sprachphilosophisch essentielle Eigenschaft von Kultur*8. Mit einer solchen Vorannahme kann der Dialog die historische Bedingtheit gewisser Konfigurationen nicht erfassen, die nicht nach der Logik einer Tiefendimension des Dialogs im kulturellen Zeichen funktionieren. Hier kommt der Diskurs-Begriff von Michel Foucault in Betracht.

3.2 Diskursanalyse: Michel Foucault Seit Mitte der 80er Jahre hat ein Teil der Hispanoamerika-Forschung von der Neigung zu Argumentationen Abstand genommen, die mit der Kategorie der Vielstimmigkeit und der Alterität das Sosein des kulturellen Objektes zu bestimmen glaubten69. Das Fremde wird somit nicht mehr auf Objekt-, sondern auf Diskursebene angesiedelt und als Teil der Diskurse verstanden. Daß diese nicht notwendigerweise dialogisch operieren, wird deutlich, wenn man eine Dimension des Sozialen in die Überlegungen einführt, die in der Bachtinschen Ästhetik ausgeschlossen bleibt. Ich meine jenen Bereich, der sich nicht durch das Prinzip der Pluralität, sondern durch das der Macht erklären läßt. Eben die soziale Funktion von Kultur, die die Machtimplikationen der institutionellen Natur der Sprache zu bedenken ermöglicht, stellt einen zentralen Aspekt des Diskurses im Sinne von Michel Foucault dar. Beim Diskurs-Begriff wird vorausgesetzt, daß sich mit der Organisation von sprachlichen Äußerungen nach bestimmten epistemischen Konfigurationen auch Praktiken 65 Vgl. Vf., 1991d. Seinen normativen Prämissen entsprechend fallt Bachtin selbst diskriminierende historische Befunde, wie die Abwertung Balzacs zugunsten Dostojevski (als Prototyp des vielstimmigen Textes) oder die Abwertung der Lyrik zugunsten des Romans. 66 Schon bei VoloSinov (1975[1929]), bes. S. 67f. 67

Auch bei einer monologischen Kulturmanifestation bzw. einem monologischen Autor handelt es sich um das verfestigte linguistische Bewußtsein, dessen tiefere Schichten - Bachtin zufolge - vielstimmig bleiben (Ponzio, 1980:104).

68 Semerari nennt bspw. den Dialog "un atlo di compromissione ontologica" (1973:77f.). 69 Vgl. die diskurstheoretischen Ansätze zum Magischen Realismus (Kap. in, 2.).

37 und Regelsysteme notwendigerweise herausbilden. Ihr Status ist weiterreichend. Sie sind eine das individuelle und soziale Bewußtsein transzendierende Instanz, die die Logik der Aussage bestimmt. Die unterschwellige Wirkung der Diskurse gilt als zwingend. Dire interne Logik bestimmt die Regelung der Machtverteilung im gesellschaftlichen und machtökonomischen Bereich, wobei sich der Zwang als Zufall verschleiert (Foucault, 1971:39). Darüber hinaus siedeln sich die Zwänge der sich unter bestimmten historischen Bedingungen herausformenden Diskurse auf der Ebene des Sprachsystems selbst an: Im individuellen Bereich bestimmen sie die Logik bzw. die interne Kohärenz des sprechenden Subjektes, während sie im gesellschaftlichen Bereich auch die Wahl der Sprecher beeinflussen (1971:39). Der Begriff der Macht, auf dem die Konzeption des Diskurses gründet, ist zwar aus der empirisch-historischen Betrachtung von materiellen Bedingungen -etwa von geschlossenen Anstalten (Gefängnis, Irrenhäuser) - gewonnen, hat jedoch einen transzendentalen Status. Diskurszwänge stellen ein Apriori der Sprache dar. Gleichzeitig implizieren sie materiell faßbare historische Bedingungen und Folgerungen, weswegen sie als wandelbares historisches Apriori der Sprache gelten70. Unter den verschiedenen, umstrittenen Ebenen des Begriffs scheint die Wandelbarkeit von Diskursen interessante Perspektiven zu bieten. Dieser Azkent wird hauptsächlich in Foucaults Archéologie du savoir (1969) in den Vordergrund gestellt: Die Funktion eines Regelsystems institutionalisierter bzw. institutionalisieibarer Aussagen impliziert Diskontinuität und Brüche des Systems, die sich aus der Pluralität der Diskurse ergeben können. Diskontinuität und Brüche sind nicht als dialektische Oppositionen zum sozialen und ideologischen System71, sondern als Teile von diesem zu sehen. Ebensowenig gelten sie als Gegensätze im Sinne der Saussureschen Definition der parole in Opposition zum Sprachsystem der langue (M. Frank, 1988). Diskontinuität und Brüche sind an der Sprache als Ereignis beteiligt und transzendieren sowohl das gesellschaftliche System als auch das Sprachsubjekt: Il s'agit de césures qui brisent l'instant [die Zeit] et dispersent le sujet en une pluralité de positions et de fonctions possibles. Une telle discontinuité frappe et invalide les plus petites unités traditionnellement reconnues ou les moins facilement contestées (1971:60). Die Aufgabe der Diskursanalyse liegt darin, das Faktum historischen Erscheinens der Reden zu konstatieren, wobei diskursive Tatsachen nicht als Bedeutungsträger, sondern als Ereignisse wirkender Systeme gelten: "les discours doivent être traités comme des ensembles d'événement discursifs" (1971:59).

70 Der Machlbegriff ist einer der Aspekte, der die Diskursanalyse von der Ideologiekritik unterscheidet (vgl. auch Link/Link-Heer, 1980:378). 71 Es handelt sich nicht um Bruche außerhalb des ideologischen Systems, etwa in literarischen Texten, die in Opposition zur Ideologie stehen. Letzteres stellt vielmehr die Position von Pierre Macherey dar. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Foucault und Macherey vgl. Vf., 1991d.

38 Foucault rechnet der Literatur eine regulative Funktion gegenüber den wissenschaftlichen Diskursen zu, woraus sich die Operabilität dieser zwei Seiten des Diskursbegriffes für die Literaturwissenschaft ableiten läßt (Forget, 1988:313f.). Der literarische Text kann Resistenzen gegen kohärente Ordnungen, die dem Diskurs innewohnen72, so ausbauen, daß das System und dessen Schwäche sichtbar werden. Die Texte können zum Ort bestimmter diskursiver heterogener Praktiken werden; sie inszenieren das Bestehen und das Wirken kultureller Diskurse in einer bestimmten historischen Situation ebenso, wie sie auf der Ebene der Textmanifestation, d. h. in der Diskursstruktur, widerstreitende und resistente Kräfte ausbauen73. Die Brüchigkeit wird damit offengelegt, wobei sich der Text der durch Bachtin beobachteten Verfahren von Stilisierung, Parodie und versteckter Polemik (Bachtin, 1971) bedienen kann. Der Diskursbegriff siedelt sich auf epistemologischer Ebene an. Eine Diskursanalyse ist kein Referenzmodell. Sie begreift die Rede nicht als referentiellen Bestandteil einer zu dekodierenden Information. Es wird vielmehr das "Faktum historischen Erscheinens der Reden" konstatiert, wobei diskursive Tatsachen nicht als Bedeutungträger, sondern als Ereignisse eines wirkenden Systems zu sehen sind. Mit dem epistemologischen Status des Diskurses wird auch der fundamentale Unterschied zwischen der Diskurstheorie von Foucault und dem Dialogbegriff Bachtins bzw. dem textwissenschaftlichen Begriff der Diskursstruktur und des discours (Benveniste) deutlich: Der Dialog ist auf die Referenz, der Diskurs auf das Wissen über die Referenz bezogen. Die interessante Seite des Diskursbegriffes liegt darin, daß er ein wissenschaftskritisches Ziel hat. Auf die Konsequenzen dieser Feststellung im Hinblick auf die Literaturwissenschaft als historische Wissenschaft möchte ich besonders eingehen. Dabei kann in diesem Rahmen der Anspruch nicht erfüllt werden, das gesamte Spektrum des Denkens Foucaults zu erfassen, ebenso wie auch die Hervorhebung der hegemonialen Seite des Diskurses beim späten Foucault hier nicht interessieren wird74. Während dialogische Spannun-

72 Es sind Widerstände, die sich aus der Koexistenz von verschiedenen Diskursen (und unterschiedlicher Formationen) in einer bestimmten historischen Epoche ergeben können, entsprechend den Phänomenen, die Foucault in L'archéologie du savoir (1969) beobachtet. Link erfaßt dieses Phänomen unter dem Begriff des "Interdiskurses" (entsprechend dem Begriff der "interdiskursiven Konfiguralionen" bei Foucault, 1969), womit "Diskurskollisionen ohne subjektive Intentionalitat" gemeint sind (1988:284). In der Tatsache, daß sich solche Dynamismen gerade im literarischen Text besonders entfalten können, sieht Link den Grund für die Brauchbarkeit des Diskursbegriffes in der Literaturwissenschaft. 73 Auch B. Waidenfels hebt - unter Bezug auf den Begriff der Polyphonie und des Intertextes (Kristeva in der Nachfolge von M. Bachtin) Phänomene des "Oberschusses" (sprachliche, symbolische und ideologische "Oberschreitung" diskursiver Grenzen) und der "Interdiskursivität", d.h. der Spannungen zwischen den Diskursen im literarischen Medium (1990a:51-52) hervor, die den literarischen Text als eine Form des Widerstreits zum Diskurs gestalten. 74

Auch in Vordre du discours, der Antrittsvorlesung Foucaults am Collège de France, scheint zunächst, daß die Offenlegung der positiven Funktion von Diskursen das eigentliche Ziel der Beobachtung ihrer Zwänge und Restriktionen ist: "il est probable qu'on ne peut pas rendre compte de leur rôle positif et multiplicateur, si on ne prend pas en considération leur fonction restrictive et contraignante" (1971:38). Dennoch läßt sich im Verlauf der Vorlesung eine gewisse Tendenz zur einseitigen Bewertung der hegemonialen Seite institutioneller Diskurse erkennen (Foucault, 1971:72f.).

39 gen modelltheoretisch auch als Objekteigenschaften gelten, operiert der Diskursbegriff insoweit primär auf metasprachlicher Ebene als er die epistemologisch-ideologische Ordnung der Wirklichkeitsrepräsentationen von Wissenssystemen meint (1971:70). Hier liegt der Unterscheid zwischen der Diskurstheorie von Foucault und dem Dialogbegriff Bachtins: Der Dialogbegriff beschreibt die Spannungen auf der Diskursstruktur eines Textes im Sinne des discours (Benveniste): Als textwissenschaftliche Begriffe haben Dialog und discours (Benveniste) Texte als Erkenntnisobjekte, was filr den Dialogbegriff Bachtins auch im Hinblick auf die Objektebene Kultur gilt, während es sich bei dem Foucaultschen Diskursbegriff um eine wissenschaftskritische Erkenntnisebene handelt, die sich auf Episteme, also auf Wissen über Texte, bezieht. Als epistemologischer und wisscnschaflskritischer Begriff ist der Diskurs keine Texttheorie. Anliegen der Diskursanalyse im obigen Sinne ist nicht die Erkenntnis der hegemonialen Wirkung und ihrer Resistenzen im Referenzmodell (Bachtins Dialog)73, sondern es sind vielmehr Systemzwänge und -Widersprüche von theoretischen und wissenschaftlichen Konstrukten selbst. Diese Unterscheidung ist wesentlich, insbesondere dann, wenn ebenfalls mit Foucault - davon ausgegangen werden kann, daB der Umgang mit literarischen Texten nicht ohne Rückwirkungen auf die Textwissenschaft bleibt. Erst durch den Foucaultschen Diskurs-Begriff wird die theoretische Möglichkeit denkbar, daß die kritischen Impulse literarischer Texte nicht allein ideologiekritisch operieren und damit hegemoniale Formen im Referenzmodell offenlegen, sondern daß Ordnung und Brüche literarischer Texte auch dazu geeignet sind, diskursive Ereignisse im Bereich der Wissenschaft selbst transparent zu machen. Auch die Alterität erhält damit einen anderen Status. Sie ist beim Foucaultschen Diskurs-Begriff nicht ein Objekt der Erkenntnis, sondern ein auf Episteme gerichtetes (ethisches) Prinzip, das die philosophische Frage nach der Erkennbarkeit des Anderen zu stellen vermag76. Statt einer modellorientierten Untersuchung wie im Falle von Ansätzen, die sich mit dem Dialogbegriff das Ziel der Beschreibung von kultureller Dynamik setzen, scheint es mir notwendig, einen diskursanalytischen Ansatz zugrundezulegen. Dieser soll die vorliegende Studie davor bewahren, in die Gefahr der erneuten Bildung von Identitätsdiskursen über Mexiko bzw. Hispanoamerika zu verfallen. "Diskursanalyse" meint hier den Versuch, mit der Textlektüre den Widerstreit77 zwischen Literatur und Diskursen nachzuzeichnen (vgl. u.a. Foucault, 1974). Im Zentrum der Überlegungen steht dem-

75 Dies trifft vielmehr in der Theorie von Macherey zu. Vgl. Vf., 1991d. 76 Zur Möglichkeit, die Ambivalenz des Diskurs-Begriffs als kritisches Moment des Ansatzes Foucaults zu verstehen und nicht als Aporie, wie sie seitens Jürgen Habermas (1988) und Manfred Frank (1988) dem Diskurs angelastet wird, vgl. Vf., 1991d. 77 Unter Bezug auf Lyotards (différend) definiert B. Waklenfels in Opposition zum Widerspruch. Widerstreit dOckt einen Konflikt von nicht zu vereinbarenden Ordnungen aus, während Widerspruch eine Opposition meint, die in eine Ordnung integrierter ist (1990a:49). Zu Diskurs und Dialog bzw. zum Widerstreit zwischen Literatur und Diskurs vgl. Waidenfels (1990x51-52).Vgl. auch Vf., 1991d.

40 entsprechend der Widerstreit zwischen der paradoxalen, disseminalen Kraft der Literatur und den systematisch angelegten Diskursen, denen die literarische Dissemination "wesensfremd und gefährlich" ist (Forget, 1988:316) und damit die potentielle Provokation, die der literarische Text im Hinblick auf epistemische Ordnungssysteme von Kultur ausübt. Ein solcher Ansatz empfiehlt sich angesichts der paradoxalen Erzählstruktur der untersuchten Romane, die man unter dem Begriff des Magischen Realismus erfaßt hat. Die allgemeine Tendenz literarischer Texte, systematisch angelegte Diskurse einer konfliktiven Bewegung zu unterziehen, wird hier zum Prinzip, das gegenüber Diskursen hispanoamerikanischer bzw. mexikanischer Identität provokativ wirkt, welche sowohl auf Objektebene (Hispanoamerika) als auch auf metakultureller Ebene (Hispanoamerikanistik) unterschwellig agieren. Solche Diskurse werden zugleich stilisiert und durch die im narrativen Prozeß geförderten Widerstände als fiktionale Konstrukte entlarvt. In allen drei Romanen wird die Erinnerung thematisiert, während die Verwirrung der Erzählsituation darauf abzielt, das Verhältnis zu Vergangenheit und Geschichte zum Prozeß werden zu lassen und damit den zentralen Anwendungsbereich des Foucaultschen Diskursbegriffs, nämlich die Bedingungen historischen Bewußtseins, kritisch zu beleuchten. Schließlich ermöglicht der Diskursbegriff die Frage, inwieweit die Manifestation der Identität bestimmte diskursive Konfigurationen als historisches Apriori impliziert, das gegenüber anderen Manifestationen tabuisierend gewirkt hat. Die Rolle des wissenschaftlichen Diskurses im Verhältnis zum literarischen Text wird dabei zur Diskussion zu stellen sein. Die Paradoxie der sog. Romane des Magischen Realismus lädt zu einer Revision der gängigen Modelle ein, die eine Beschreibung des Objektes Mexiko implizieren. Diese Romane gehören zu jenem vergleichsweise kleinen diskursiven Sondeibereich, "hinter dem die Kultur Momente ihrer meist verborgenen Wildheit entdeckt"78. "Wildes" Denken als kritischer Spiegel des Kohärenzdenkens des abendländischen Rationalismus bzw. der (modernen) Wissenschaften79, ist, wie sich im Kapitel zum Barock zeigt, eine aus der parodistischen Anlage von kulturellen Assimilationsprozessen entspringende kongeniale Eigenschaft hispanoamerikanischer Literatur. Die sog. Romane des Magischen Realismus, die in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen, führen Paradoxien geradezu vor80. Sie bringen diejenigen Diskurse in eine beunruhigende Verbindung, mit denen sich die Manifestation des mexikanischen Bewußtseins im 20.

78 Vgl. R. Kray/K.L. Pfeiffers Einleitung zum Band Paradoxien, Dissonanzen. Zusammenbräche (1991:28). 79 Eine moderne Form "wilden Denkens" ist die heterotopische Verwirrung von (wissenschaftlichen) Diskursen, wie sie auch die europaische Literatur seit Flaubert, besonders Bouvard et Pécuchet, geradezu programmatisch sucht (Vgl. Vf., 1991d). 80 Niklas Luhmann sieht in der "hingebungsvollen" Suche nach Paradoxien auch eine Eigenschaft der modernen bzw. postmodernen Philosophie Uber Nietzsche und Heidegger bis Deirida (1991:39). Angesichts der Paradoxien, die "nichts besagen, weil ihnen nichts entspricht" (39) - denn sie lassen den Beobachter (eines Systems) zwischen einer Feststellung und ihrem Gegenteil pendeln (71) -, beweisen die logischen oder rhetorischen Künste nur, daB man ohne ontologischen Wahrheitsbegriff nicht zurechtkommt (39).

41 Jahrhundert eine Identität gegeben hat. Von der beunruhigenden Faszination literarischer Texte und ihrer Wirkung auf die Wissenschaften berichtet Foucault in der Préface zu Les mots et les choses. Im ersten Satz behauptet er, das Entstehen des Buchs sei Borges zu verdanken. Die Disparität der Dinge bei dessen Zitieren einer chinesischen Enzyklopädie sei nicht bizarr, sondern irritierend. Den erhaltenen tiefen Eindruck führt Foucault auf die radikale Unmöglichkeit im Text Borges' zurück, die einzelnen heterogenen Dinge in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang zu denken. Die Unzusammengehörigkeit des Heterogenen, um die es geht und die Foucault als hétérotopie bezeichnet, produziert im Text Borges' nicht etwa die Begegnung mit dem Anderen, dem Undenkbaren, einer anderen Kultur (Foucault, 1966:8), sondern sie provoziert eine epistemologische Verunsicherung, d.h. eine Verunsicherung hinsichtlich eikenntnistheoretischer Grundsätze der Sprache. Hétérotopie ist damit der Gegensatz von Utopie; letztere ist tröstendes Modell von Welt, erstere beunruhigende Kraft der Literatur Les utopies consolent: c'est que si elles n'ont pas de lieu réel, elles s'épanouissent pourtant dans un espace merveilleux et lisse [...]. Les hétérotopies inquiètent, sans doute parce qu' elles minent secrètement le langage, [...] parce qu'elles ruinent d'avance la "syntaxe", et pas seulement celle qui construit les phrases, - celle moins manifeste qui fait "tenir ensemble" (à côté et en face les uns des autres) les mots et les choses (1966:9). Die Utopien trösten die Wissenschaft - so Foucault. Sie meinen keinen Ort der Realität, entfalten sich aber im "ruhigen Raum des Wundeibaren". Die Heterotopien greifen heimlich die Prämissen des Sprachsystems an und verhindern, daß syntaktische und syntagmatische Bezüge der Sprache - ob im Sinne des Monologs oder des Polylogs - als metaphysisches Apriori eines grundlegenderen Syntagmas fungieren, nämlich des Syntagmas, das Dinge und Sprache verbindet und zusammenhält. Im Zusammenhang mit der Besprechung von Utopie und Mythos im nächsten Kapitel (II, 2.1.4) wird auf das vorangehende Argument Foucaults näher eingegangen. Ahnlich wie der erwähnte Text von Jorge Luis Borges suggerieren die hier zu behandelnden mexikanischen Romane eine kritische Arbeit an Modellen von Kultur und nicht eine beschreibende Eridärung des Gegenstandes Kultur. Es sind Texte von einer "temible belleza del mundo fantasmal", wie Jorge Ruffinelli, der Herausgeber der Werke von Juan Rulfo, die Welt von Pedro Páramo definiert (1980:10). Dem provokativen und faszinierenden Licht einer solchen Ästhetik wird die Analyse der Texte gewidmet.

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IL Identität, Mythos und europäische Hispanoamerika-Utopien. Versuch einer Rettung des Mythos als ethische Frage nach dem Anderen Das vorliegende Kapitel ist den Begriffen von Identität und Mythos und ihrer Funktion bei der Bildung utopischen Denkens über Hispanoamerika gewidmet. Die hier schon durch die syntagmatische Nähe suggerierte Zusammengehörigkeit dieser Begriffe hat eine Entsprechung in der hispanoamerikanischen Diskussion: Beide Begriffe sind Grundpfeiler abendländischer Geistesgeschichte, die von der hispanoamerikanischen Kultur zum Zentrum der eigenen kulturellen Überlegungen gemacht wurden, und zwar in dem Maße, daß ihre Zusammengehörigkeit (mythische Identität) als Kennzeichen einer utopisch ausgelegten Identität der eigenen Kultur gesehen worden ist. Trotz der zahlreichen Publikationen zu diesem Bereich komme ich darauf zurück im Bestreben, mit der Offenlegung der Implikationen, die auch von der hispanoamerikanischen Diskussion über den Magischen Realismus übernommen wurden, die Selbstverständlichkeit dieser Übernahme in Frage zu stellen.

1. Identität und Alterität Die hispanoamerikanische Identitätsfrage äußert sich bei ihrem Entstehen als Bewußtsein eines wesensmäßigen Mangels Hispanoamerikas. Solange Hispanoamerika nicht besteht, können die letras hispanoamericanas nicht als Ausdruck einer eigenständigen Literatur gelten - so lautet der vielzitierte Satz von José Martí: No hay letras, que son expresión, hasta que no haya esencia que expresar en ellas. No habrá literatura hispanoamericana hasta que no haya Hispanoamérica. (1972:51)' Auf dieses Urteil bezieht sich der hispanoamerikanische Identitätsdiskurs noch im 20. Jahrhundert2. Die Hauptthese der Forschung zum Magischen Realismus, diese Literatur habe schließlich die Leerstelle der Identität gefüllt, ist eine Variante des obigen Diskurses.

1 Vermutlich 1881 geschrieben; aus: Ensayos sobre arle y literatura, hrsg. von Roberto Fernández Retamar (1972). 2

In einem Essay zur Rolle des Schriftstellers in Lateinamerika bezieht bspw. Mario Benedetti den gleichen Mangel an Eigenständigkeit nun auf die Kritik und geht vom erwähnten Satz Manís aus (1978:3).

43 Dieser Diskurs übernimmt im wesentlichen die Prämissen des historischen Kontextes seiner Entstehung im 19. Jahrhundert3. Martis Idee ist begleitet vom Bewußtsein einer notwendigen politisch-territorialen Einheit, die nach der politischen Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Kolonien von Spanien auch die Formulierung eines Selbstbildes sucht. Das romantische Klima der Unabhängigkeit hatte das Aufkommen eines Bedürfnisses nach Identität beeinflußt. Aus dem Ideenvorrat der Romantik dominiert in Hispanoamerika die Frage nach nationaler Identität, die dringlicher erscheint als die in der europäischen Romantik4 ebenfalls bedeutende Entdeckung der Psyche und des Individuums. Die romantische Idee der Nation impliziert das Bewußtsein einer historischen Tradition, die den Volksgeist als wesentliche Konstituente ansieht5. Daß die ontologische Auslegung der Kultur durch die Romantik in das Denken Martis und mit ihm in das Hispanoamerikas einging, läßt sich im zitierten Satz erkennen. Die Literatur gilt als eine von der Nationalkultur abhängige Manifestation und reflektiert eine idealistisch vorausgesetzte kulturelle Wesenheit im Kantischen Sinne, verstanden als Prinzip aller Möglichkeiten des Seins. Identität ist auch für Hispanoamerika ein europäischer Diskurs6, der ausgehend von der Bewußtseinsphilosophie des deutschen Idealismus und mit dem ästhetischen Paradigma der Romantik eine ontologische Prägung erfahrt, nachdem die Frage des Identischen in der aristotelischen Philosophie und noch im mathematischen Individuationsprinzip Leibniz' als logische Problemstellung galt (Henrich, 1979:137-138). Die hispanoamerikanische Identitätsfrage wurde im 19. Jh. tendenziell mit der europäischen These gelöst7. Mit der Anpassung an das liberale, bürgerliche und moderne Europa wurde auch dessen Ku/mrbegriff übernommen. Dieser gründete auf dem Prinzip eines sowohl rassentheoretisch als auch soziologisch gedachten Fortschritts und auf der Überlegenheit einer Zivilisation, welche die Barbarei von Ländern ausgrenzte, deren Manifestationen nicht als der Ausdruck eines überge-

3 Als Diskurs, d.h. als Äußerung der Wissenschaften, entsteht die Identität im Obergang zum 19. Jahrhundert, als das theoretische Interesse an dieser Kategorie erweckt wird (Sánchez-Blanco, 1989:89). Ausgehend von dieser Feststellung analysiert Sánchez-Blanco die Genese der patriotischen und nationalistischen Identitátsdiskurse im spanischen Kostumbrismus. Eine solche These gründet sich auf Foucaults Analyse des epistemologischen Bruchs, der mit dem Aufkommen aufklärerischen Wissens Ober den Menschen und infolge des ab dem 19. Jahrhundert vom Menschen eingenommenen Objektstatus der Humanwissenschaften stattfand (Foucault, 1966:356f.). 4 Wegen der Verzahnung von Kunst und Politik in der Romantik sieht bspw. Fernández Retamar einen Vergleich Hispanoamerikas mit Osteuropa, z.B. Polen und Ungarn (la otra Europa), als angemessener an als z.B. mit Frankreich (1975:25). 5 Zur Bedeutung Herders isid der deutschen Romantik für die hispanische Welt vgl. Amador de los Ríos' Historia de la literatura española (1861-65). Sie laßt sich auch durch die Leyendas von Gustavo Adolfo Bécquer und dessen Bewertung der Volkstraditionen im Essay La soledad de Ferrán dokumentieren. 6 Für die europäischen Quellen des Begriffs der Nation, den José Joaquín Fernández de Lizardi in seinem im Pensador Mexicano 1813 publizierten Artikel "Sociedad y Policía'1 entwickelt, vgl. Janik (1990). Der Nationbegriff liefert die Basis des nach der Unabhängigkeit aufgekommenen Identitätsdiskurses. 7 Zu historischen Überblicken vgl. Stabb (1969), Sambarino (1980), Siebenmann (1986), Roggiano (1986).

44 ordneten Vernunftsprinzips der Universalgeschichte8 erkannt werden konnten. Mit der Übernahme dieses Identitätskonzepts9, das auf der Grundlage der idealistischen Geschichtsphilosophie auch die eigene Geschichtslosigkeit10 postuliert, beginnt ein politischer Diskurs, der bei den auch noch so unterschiedlichen oder gar konträren Lösungen tendenziell als der Niederschlag des immergleichen logos zu sehen ist11: der Wunsch nach Anpassung an das moderne Europa im 19. Jahrhundert, was die Abwertung des auf dieser Grundlage als barbarisch angenommenen autochthonen Elements implizierte; Integration in die Universalgeschichte durch den Modemismus; schließlich der scheinbare Bruch in der Geschichte der Abhängigkeit zu Europa durch die Entdekkung der Anomalie als Wertkategorie in der Avantgarde und der Negation tradierter Werte bei der mexikanischen Revolution12. Die hispanoamerikanische Ästhetik der Avantgarde kann damit beanspruchen, aus der Peripherie des kulturellen Systems und aus dem Verhältnis der Dependenz zu Europa herauskommen. Letzteres bedarf eines Kommentars. Was auf den ersten Blick als Bruch erscheint und als Befreiung von der Abhängigkeit von Europa bewertet wurde, zeigte sich mithin als eine konsequente Fortsetzung der alten Prämissen, die allmählich mit mit Rekurs auf Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918-1922)13 umgekehrte Vorzeichen erhielten: Hispanoamerika und nicht Europa galt als historischer Ort des Heils zukünftiger kultureller Entwicklungen. Diese kurzen Etappen geben lediglich die groben Linien jenen Identitätsdiskurses Hispanoamerikas wieder, der kulturelle Phänomene apologetisch auslegt hat, ohne dem differenzierten Vorgehen einzelner literarischer Werke gerecht zu werden. Auf einzelne Etappen wird bei der Behandlung der Erforschung des Magischen Realismus (Kap. III) und der Mestizierung (Kap. IV) präziser eingegangen. An dieser Stelle gilt es zunächst, nach den Implikationen dieses abendländischen Identitätsbegriffes zu fragen. Als bewußtseinsphilosophischer Begriff versteht sich die Identität wie folgt: a) mit Bezug auf eine ursprüngliche Fundierung, b) als Ausdruck einer Beständigkeit und c)

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Im Rahmen seiner Geschichtsphilosophic schließt Hegel die neue Welt ausdrücklich von einem aktuellen Interesse für die Geschichte aus. da sie vor einer Angleichung an den Zivilisationsstand des Abendlandes keinen Platz in der Universalgeschichte finden kann. Diese Position wird von O'Goiman kritisiert. O'Gorman legt offen, daS im Denken des 19. Jahrhundeits Lateinamerika als Projektionsfläche eines historischen Subjektes gedient hat, das sich - Hegel zufolge - als Trager einer vernunftgeleiteten historischen Progression und eines Zivilisationsauftrags verstanden hat. O'Gorman bezieht sich dabei auf Alexander von Humboldts Cosmos (1984:36-38).

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Vgl. auch Raul Dorra: "No quiero decir que este tema sea ilocalizable antes del romanticiscmo; quiero decir que el romanticismo le diö la forma que nosotros aprendimos" (1986:49).

10 Die Auflassung Hegels bezüglich der Geschichtslosigkeit Amerikas (1970:107f.)t geht über Ortega y Gasset C*1957:563f.) in das hispanoamerikanische Denken ein. Zur Übernahme der Hegeischen These der Geschichtslosigkeit Amerikas - wie sie auch bei Spengler vorliegt • durch Martihez Estrada, vgl. Kap. IV und Matzat (1992:15f.) 11 Roggiano, 1986:18, und Dona, 1986:51. 12 Auch die Anomalie der Rasse, d.h. die Rassenmischung, wird dann als Wert entdeckt (vgl. Kap. IV.). 13 1923 in der von Ortega y Gasset herausgegebenen Revisla de Occidente in Spanisch erschienen.

45 als wesenhafte Differenzqualität in Bezug auf eine Einheit territorialer, ideologischer bzw. linguistischer und historischer Art, die sich Kultur nennt. Der Ursprung ist in der Natur als Teilhabe am kosmischen Sein zu finden, das sich im Volksgeist niederschlägt (Herder), wobei die Geschichte als Ausdruck einer dem individuellen Prinzip übergeordneten Vemunfitinstanz gilt, die in der Zeit fortschreitet. Die Differenzqualität operiert insoweit als logischer Bestandteil des Identischen, als sie dieses durch die Ausgrenzung des Unidentischen definiert14. Das Äußere garantiert die Einheit des Inneren als ein durch territoriale, ideologische und historische Äquivalenz bestimmtes Gefüge. Der Ursprung nimmt in der hispanoamerikanischen Identitätsdiskussion die Gestalt des romantischen Naturmythos an. Hierauf wird im Rahmen der Mythosdiskussion ausführlicher eingegangen. Die weiteren Implikationen und Komponenten des Identitätsdiskurses der Forschung, und zwar der Geschichte eines Volkes als Ausdruck der Teilnahme an einer fortschreitenden, universalen Vernunft und der Unterordnung der Differenz unter das logische Prinzip des Identischen, sollen in den folgenden Ausfuhrungen näher betrachtet werden.

1.1 Nationale Identität durch Geschichtsschreibung bzw. orale Tradition Die Rekonstruktion der Geschichte als historia rerum gestarum ist eine wichtige Konstituente der Identität, die auch in der synchronen Präsenz mehr enthält als das, was aus gegenwärtigen Bedingungen verständlich gemacht werden könnte (Lübbe, 1979:280). Umgekehrt erhalten die res gestae einen von der individuellen Raison unabhängigen Sinn und werden in Funktion von übergeordneten Vemunftskriterien bewertet, die die Objektivität der historisch bedeutsamen Fakten garantieren. Hegels historisches Fortschrittsmodell bestimmt die Kriterien der Objektivität der res gestae vom Telos des zukünftigen Heils her. Geschichte gilt dabei als zeitliche Progression, die antithetische Bedingungen zu stets neuen dialektischen Synthesen führt15. Im Bewußtsein Hispanoamerikas bilden die Antithesen von ursprünglicher Sünde vs. Heil der Endzeit respektive Paradies der Archè vs. Apokalypse im Telos besonders bedeutsame Pole der Identitätsdiskussion. Als wechselndes Paradigma von Sünde und Paradies des Ursprungs gehen die Schwankungen der Identitätsbilder Hispanoamerikas vom 14 Mit Lévinas wird in diesem Kapitel auf die ethische Seite des Problems von Identität und Allentai eingegangen. Auf der Basis der Luhmannschen Systemtheorie beleuchtet A. Hahn die jedweder Identitatsdefinition impliziten Ausgrenzungsmechanismen: "Immerhin ist deutlich, daß jede Selbstbeschreibung eines Systems Alteri tat in Anspruch nehmen muß. Wenn man sagt, was man ist, muß man dies in Abgrenzung von dem tun, was man nicht isL Die paradoxe Funktion von 'Fremden' besteht eben darin, daß sie Selbstidentifikationen gestatten. Je mehr Möglichkeiten ein System folglich nutzt, sich positiv als so und nicht anders zu bestimmen, desto zahlreicher werden auch die ausdrücklichen Ausgrenzungen, desto mehr Typen von Fremdheit erzeugt es" (1992:54). 15 Diesem Modell zufolge enthalt bspw. die mittelalterliche Kultur als Antithesis die griechische und bedeutet deren Aufhebung in die fortschrittlichere Stufe des Humanismus.

46 Schuldgefühl einer unreinen, bastardischen Geburt im 19. Jh. zur Nostalgie des ursprünglichen Paradieses des Indigenismo der 30er Jahre, dessen Kehrseite, nämlich apokalyptische Zukunftsvisionen, nur noch eine logische Konsequenz sind. Die Thematik der Apokalypse als Zeichen eines sich kritisch verstehenden Bewußtseins wurde folgerichtig besonders erfolgreich im Rahmen der internationalen gesellschaftskritischen Bewegung der 60er Jahre. In Mexiko beginnt bspw. der Roman des Autors Carlos Fuentes, La región más transparente (1958), die Serie der apokalyptischen Stadtvisionen, die der gleiche Autor später in einen Zyklus von Paradies und Apokalypse überführt, womit - so die Kritik16 - eine neue Identität in Form der Synthese von abendländischer und amerikanischer Kultur in Terra riostra" entworfen wird. Ein solches Identitätsbild, das aus der Projektion eines zukünftigen Heils auf einen utopischen, d.h. in Ort und Zeit nicht festgelegten Punkt der Rettung europäischer Utopien durch die hispanoamerikanische Kultursynthese18 besteht, hebt das Paradigma eines auf dem heilsgeschichtlichen Modell gründenden Identitätsdiskurses nicht auf, sondern vollendet es lediglich. Das heilsgeschichtliche Fortschrittsmodell regelt normativ auch die Konzeption von Kultur. Diese kann mit einem solchen Ansatz nur als Hochkultur, d.h. als Manifestation bestimmter Fortschrittsstufen verstanden werden, deren Tradierung an Texte gebunden ist. Tradition bedeutet hier Schrift. Die Romantik wertete zwar Folklore wieder auf, die als Kristallisation des Volksgeistes gilt, und förderte damit eine Intensivierung entsprechender Materialsammlungen, dennoch konnte es nach dem Aufkommen historischer Fortschrittstheorien nicht ausgeschlossen werden, daß die historische Einordnung der Volkskultur vom teleologischen Standpunkt des Heils aus entweder rationalistisch abgewertet oder mythisch überhöht wurde19. Dies erklärt auch die Etappen der etwa 100jährigen Geschichte hispanoamerikanischer Identitätsdiskussion, und zwar von der defensiven Haltung des 19. Jahrhunderts, weil man sich mit dem Maßstab der europäischen Identität als außerhalb des Zentrums des Modells zu erkennen glaubte, zur offensiven Umkehrung der territorialen Positionen und zur Beanspruchung des Zentrums für Hispanoamerika im 20. Jahrhundert. Auf einen weiteren für die Konzeption von Kultur bedeutenden Aspekt historischer Identitätsmodelle, die die Bildung des Bewußtseins im Hinblick auf eine kulturelle 16 Nur als Beispiel dieser Interpretationsrichiung vgl. die Analyse von Maya Scharer in dem von Saúl Yurtrievich herausgegebenen Band zur Identidad cultural de Iberoamérica en su literatura (1986:39-66). 17 Barcelona: Seix Barral, 1975. 18 Dies ist eine zunächst in seiner Essaysammlung Tiempo mexicano (1973 [1971]) von Fuentes entworfene Identitatsformel. In Terra nostra verwirklicht die Hauptfigur Percgrino-Quetzalcóatl-Cortis die mythische Utopie einer Konvergenz aller Zeiten und Orte des mare nostrum in der Neuen Welt (vgl. Vf., 1992b). Als Antwort auf die doppelte Negation, mit der Paz in El laberinto de la soledad die mexikanische Identität definiert hatte (1950:133), bietet der aufgeklarte Kosmopolit Fuentes die doppelte Affirmation. Dies ist das suggestive Modell eines zwischen den Hügeln der Colonia San Jerónimo in México DJ7., Harvard, Madrid, London, Paris, Rom, Berlin usw. schwebenden Intellektuellen. 19 Besonders infolge der Fundierung des Populären im Natürlich-Kosmischen.

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Einheit postulieren, ist besonders hinzuweisen: In einem solchen Modell gelten die einzelnen Elemente lediglich als Teile einer integrierenden Sicht von Kultur. Es ist eine vereinheitlichende Vision, die dem Einzelnen in Funktion des maSgeblichen Kriteriums der Teleologie Sinn verleiht. In einem solchen Modell ist der Begriff von Kultur als Pluralität von gleichberechtigten Manifestationen nicht denkbar. Seit der Aufwertung des autochthonen Elements zu Beginn dieses Jahrhunderts ist die Suche nach historischer Identität an den präkolumbischen Ursprung gebunden. Die Wiederfindung eines autochthonen kulturellen Gedächtnisses steht im Zusammenhang mit mündlichen Quellen. Das Geschichtsbewußtsein Hispanoamerikas benötigt damit die Komponente der Oralität. Oralität bezeichnet zunächst eine Modalität des kollektiven Gedächtnisses, dann aber auch die Wesenheit einer Kultur, deren Gedächtnis und deren Wissen sich nicht durch das Medium der Schrift konstituierten. Mündlichkeit wird damit zur differentia specifica der Identität Hispanoamerikas und stellt seit den 80er Jahren einen neuen Problembereich der Identitätsdiskussion dar. Der Diskurs der Oralität erhält besonders in Ländern mit hohem indianischem Anteil wie Peru, Bolivien und Paraguay die militante Komponente der reivindicación des Autochthonen, sowohl historisch als Ursprung als auch ontologisch als Wesenheit der hispanoamerikanischen Kultur20. Die Studien zum Bereich der mündlichen Kulturen zeigen verschiedene Anwendungen des Begriffs der Oralität als Bestandteil der Identitätsdiskussion. Die Ansätze lassen sich in folgenden Positionen zusammenfassen: - Oralität wird im Sinne von Michail Bachtin21 mit Stimme als sozialer Komponente gleichgesetzt und bezeichnet eine Manifestation der Volkskultur, die am Gesprächsmodell orientiert ist. Mit mündlicher Kultur werden die im Verhältnis zur Schriftkultur marginalisieiten Bereiche des kulturellen Systems charakterisiert. Órale Volkskultur gilt hier als Gegenpol zur hegemonialen, spanischen Schriftkultur. In dieser Auslegung der Oralität spielen soziolinguistische Aspekte eine wesentliche Rolle. Als Aufgabe der Literatur gilt es, dem linguistischen Code von unterdrückten Subkulturen Ausdruck zu geben und ihn in die Schriftkultur zu integrieren. Ein solcher Eingriff der populären Oral- in die sakralisierte Schriftkultur gilt als subversiv: Die Schrift, d.h. Tradition und Geschichte im abendländischen Sinne, soll damit nicht mehr der hegemonialen Hochkultur angehören; vielmehr soll die Koexistenz sich wechselseitig kontaminierender, konträrer kultureller Bereiche (des schriftlichen Sakralen und des populären Mündlichen) sowie zweier Sprachen (der indianischen Sprachen und des Spanischen) eine Sphäre der verwiiklichten Utopie schaffen. Dies ist im wesentlichen die Richtung der Untersuchungen Martin Lienhards zur Mündlichkeit bei José María Arguedas' El zorro

20 Z.B. Roa Baslos, 1984. Vgl. auch Vf.. 1990. 21 Vgl. Kap. I, 4.1.

48 de arriba y el zorro de abajo (1981) sowie seiner späteren Arbeiten zum müidlichen Wissen in der lateinamerikanischen Erzählkunst (1990)22. Diese für einen bedeutenden Teil der hispanoamerikanischen Forschung geltende Auslegung der Mündlichkeit gründet auf den üblichen Oppositionen zwischen Normund Subkultur respektive Schrift und Oralität, also Dichotomien, die in der Regel auch den Interpretationen literarischer Werke zugrundeliegen. Ein wesentliches Problem solcher Studien zur Mündlichkeit scheint mir darin zu liegen, daß das literarische Werk in Funktion der Identitätsdiskussion ausgelegt wird, ohne zu den Prämissen selbst kritisch Stellung zu nehmen. - Eine weitere, diskursanalytisch orientierte Position, für die Mignolos Arbeiten zur Conquista stellvertretend sind23, bestreitet die Richtigkeit der Anwendung der Begriffe und wirft den Anwendern des Konzepts der Mündlichkeit als differenna specifica der hispanoamerikanischen Identität die Übernahme von nur aus der Sicht abendländischer Episteme geltenden Dichotomien und den unreflektieiten Gebrauch des Konzepts der Schrift vor (1988). Letztere sei nach dem Modell des Buchs definiert, wobei das Buch sowohl als metaphysische Kategorie (die Heilige Schrift) als auch als essentielle Bedingung der Schrift postuliert wird, während es sich vielmehr um ein mediales, historisches Phänomen handelt, dessen Verallgemeinerung in der Neuzeit auf den Kontext des Humanismus zurückgeht. Als Schrift gelten im Gegenteil auch andere Zeichensysteme, die mit dem Medium Buch nichts gemein haben. Mignolo folgert, daß mit der Übernahme des Begriffs von Schrift und Buchstabe aus dem epistemologischen Rahmen von Humanismus und Renaissance auch die Annahme ihrer hegemonialen Anwendung im pragmatischen Feld der Colonia fortgeführt wird. Dies macht die Definition der letras hispanoamericanas von hegemonialen Gesichtspunkten stillschweigend abhängig und führt zum bekannten Urteil des Fehlens einer eigenständigen Literatur Hispanoamerikas, auf das sich die vorliegenden Überlegungen zu Beginn dieses Kapitels bezogen haben. Mignolo weist daraufhin, daß bei Anwendung der Kategorie der Oralität zumindest ein verfälschtes historisches Bild bestimmter Manifestationen der Kultur entsteht. Dies ist etwa der Fall bei den sog. Cantares nähuas. Ihre Wiederentdeckung ist zwar den mexikanischen Historikern A. M. Garibay und Leön Portilla zu verdanken, diese haben jedoch die "Oralität" dieser Dichtung in Opposition zur Schrift definiert, die Schrift als "Buch" verstanden und damit die Cantares innerhalb Wertkategorien eingeordnet, die die Rezeption in einen dem Phänomen fremden und unangemessenen Erwartungs- und Diskursrahmen gelenkt haben. Die Kritik Mignolos geht über die Aufforderung der Wiederaufwertung der oralen Kultur als Archi und Telos des eigenständigen Hispanoamerikanischen - und damit über die in der erst-

22 Obwohl im präkolumbischen Mexiko sog. Schrifllculluren herrschten, gilt auch dort die Opposition zwischen mündlicher und schriftlicher Kultur. Mit dem Einzug der abendländischen Sprachen blieben der autochthonen Kultur Uberwiegend mündliche Überlieferungskanäle vorbehalten. 23 Vgl. Kap. 1,1.1.

49 genannten Position implizierte Rtickfindung zum Ursprung der präkolumbischen Kultur - hinaus. Mignolos Überlegungen zu den Implikationen des Begriffsgebrauchs lassen bei der obengenannten ersten utopischen Position die Gefahr neuer Formen von Diskriminierungen im Namen der Oralität erkennen. Darauf wird bei der Besprechung der Opposition von regionalismo und cosmopolitismo24 in der Erforschung der Literatur des Magischen Realismus eingegangen. Hier sei daraufhingewiesen, daß bei Anwendung der Kategorie der Oralität als distinktiven Bestandteils einer hispanoamerikanischen Identität ein großer Teil der hispanoamerikanischen Kultur ausgeschlossen bleiben würde, die sich, wie die Schriftsteller des Río de la Plata, vor allem schriftund textbezogen artikulieren25. - Ein letzter für die Problematik der Identität interessanter Aspekt der Oralitätsdiskussion liegt im Verhältnis zwischen Mündlichkeit und kulturellem Gedächtnis. Hier stellen die Werke von Maurice Halbwachs26 auch in der heutigen Forschung eine bedeutende Grundlage dar27. Das Gedächtnis eines kulturellen Kollektivs - nach Halbwachs mémoire collective - hat die Aufgabe, die Wesenheit einer Gemeinschaft in Form einer integralen Zeit (der Vergangenheit) aufzubewahren, und artikuliert sich, Halbwachs zufolge, im mündlichen Gespräch sowie im mündlichen Erzählen von Mythen und Legenden, deren mnemonische Kraft aus Wiederholungsstrukturen und der Integrationstendenz mythischer Gestalten entsteht. Identität durch Oralkultur gilt somit als eine Form der Wiederfindung der kulturellen memoria und als gelungener Akt der Integration eines isolierten Augenblicks der Vergangenheit in eine einheitliche Zeit, die das Vergängliche in das kollektive Subjekt der Geschichte einzubinden vermag. Die memoria hat die Aufgabe, die Inhalte der Vergangenheit aus dem Nichts des Vergessens zurückzugewinnen. Halbwachs zeigt, wie ausgehend vom kulturellen Horizont des Jetzt die Organisation des Gedächtnisses und die Erinnerung einer Gemeinschaft als nachträgliche Rekonstruktion funktioniert (1985:67f.)2* - eine wichtige Feststellung,

24 Zu dieser auf Josi Maria Arguedas als Mißverständnis seiner Ausführungen in den Diarios zu El zorro de arriba y el torro de abajo zurückgehenden Dichotomie vgl. Kap. III. 25 Nicht nur die Metapher Textlabyrinth von Jorge Luis Borges, sondern auch die Tendenz zur phantastischen Literatur, die Cortázar als Eigenschaft der rioplatcnsi sehen Autoren ansieht, sind - soweit man den Begriff als distinktive Kategorie überhaupt annimmt • Manifestationen einer abendlandischen Schriftkultur in engerem Sinne. Vgl. bspw. auch Rosalba Campra (1982:69ft). Jacques Lafaye weist auf das Problem hin, von einer identidad cultural zu sprechen, angesichts der diametralen Unterschiede zwischen dem criollismo Argentiniens und den indianisch geprägten Kulturen der andini sehen Gebiete, von Mexiko oder Mesoamerika (1986:22). 26 Les cadres sociaux de la mémoire (1925) und La mémoire collective (1950). 27 Vgl. bspw. Assmann/Hölscher (1988). 28 Dies gilt auch für mundliche Überlieferungen. Bei seiner Untersuchung von Tradition und Geschichte als Paradigmen der Aufbewahrung der Vergangenheit in der griechischen Kunst zeigt Tonio Hölscher, daß selbst bei Mythen als Bestandteilen mündlicher Traditionen "die verschiedenen Vorgange des Mythos unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammenzufassen sind, der aus der Perspektive der Gegenwart stammt" (1988:144).

50 die die hermeneutische Frage nach den Bedingungen des Deutens und nach Objektivitätsansprüchen historischer Theorien als adäquat erscheinen läßt29. In Fortführung der Theorie Halbwachs' sieht Assmann nicht nur in der mündlichen Tradition, sondern in beständigen Zeichen objektivierter Kultur ("Texte, Bilder, Riten, Bauwerke, Denkmäler, Städte oder gar Landschaften" [1988:11]), den Niederschlag "mnemischer Energien" (12) mit der Funktion, die "Identitätskonkretheit" der Gemeinschaft (bzw. die "Gruppenbezogenheit") zu schaffen (13f.). Als Organ der Bildung historischen Bewußtseins besteht nach Assmann der Gegensatz von Schrift und anderen Zeichensystemen nicht. Beides dient vielmehr dazu, das Selbstbild der Gemeinschaft in beständige Formen des Gedächtnisses zu überführen. Mündliche bzw. schriftliche Erzählung, Denkmal oder Ritus dienen zur Wiederfindung einer Einheit der einzelnen vergänglichen Momente im Gedächtnis und damit zur Garantie einer kollektiven Identität. Die Geschichtsidentität garantiert eine historische Kontinuität, die trotz Fluktuation der Gruppenmitglieder durch die Konstanz der Symbole konstituiert wird30. In der abendländischen Tradition garantiert die Geschichtsidentität eine historische Kontinuität, so daß selbst Umwälzungs- und Emeuerungsmodelle an die vorangehende Identität anknüpfen31. Als Bruch oder Konservierung32 ist die historische Identität unter diesen Bedingungen ein Anknüpfungsdiskurs, ein Diskurs des Neubeginns und nicht des "absoluten Beginns". Soweit Schriftlichkeit und Mündlichkeit an essentialistischen Identitätsdiskursen beteiligt sind, verlieren ihre Unterschiede prinzipiell an Bedeutung. Der Gegensatz zwischen kulturellem und historischem (schriftlichem) Gedächtnis ist im Hinblick auf die Schaffung beständiger Selbstbilder einer Gemeinschaft und damit ihrer Geschichtsidentität als gering zu werten33. Die Auseinandersetzung mit dem Problembereich von Identität und Geschichte zeigt vielmehr, daß die vereinheitlichende Tendenz von Gnip29 Hermann Lübbe analysiert das Verhältniß von Identität und Historie. Besonders interessant scheint mir die These, daß die Präsentation eigener und fremder Identität in Funktion der eigenen Geschichte erfolgt und daß umgekehrt diese identitätsstiftend sei: "In seiner Art. historiographisch eigene und fremde Identität nach Maßgabe der sich ändernden Geschichte zu präsentieren, durch die er selbst seine Identität hat - darin ist der Historiker nicht etwa frei" (1979:291). Dies gilt für die Wissenschaft allgemein. In seiner Untersuchung des Verhältnisses zwischen kulturellem Gedächtnis und Kulturwissenschaften zeigt Arnold Rothe, daß die Perspektive, nach der die Fakten überhaupt erst eine Bedeutung erlangen, die der Gegenwart ist - etwa die Suche nach einer einheits- und sinnstiftenden Instanz als zugleich historische Perspektive und Antwort auf die Bedingungen der Gegenwart beim deutschen Idealismus (1988:269). Daß die deutsche Geschichtswissenschaft sehr früh die Provokation der Literatur rezipiert hat, wird aus der Serie von Publikationen deutlich, die die Prämissen der Historiographie problematisieren (u.v.a. Meier, 1983 und 1989; Koselleck et al. [eds.], 1977; Demandt, 1984; Schiffer, 1980). 30 Definiert nach E.H. Erikson, in: Henrich (1979). Auf einer solchen diskursiven Kontinuität und ihren Brüchen gründet auch die Theorie der Kollektivsymbolik von Jürgen Link (bspw. 1984 und 1988:285). Vgl. auch I, 3.2. 31 Mit seiner These, daß die "Zukunft Herkunft braucht" spricht Joachim Riaer von "hypoleptischer Identität" (im Sinne von "Anknüpfen an das, was der Vorredner gesagt hat" [zit. nach Marquart, 1979:358]). 32 Marquart zufolge die zwei Seiten der Medaille der Geschichtsidentität (1979:361). 33 In seiner Untersuchung der Periodisierungsprobleme oraler Dichtung weist Paul Zumthor darauf hin, daß die Dichotomie von Oralität und Schrift "eher kategorial als historisch" sei. Zumthor betrachtet die Frage nach der "Oralität" als eine Frage nach der Modalität. Es geht für ihn um den medialen Aspekt und nicht um eine essentielle (ontologische) Kultureigenschaft (1985:361).

51 penidentität die kulturellen Unterschiede nivelliert, die den verschiedenen medialen Bedingungen der Manifestationen innewohnen. Ausgehend von M. Halbwachs unterscheidet Assmann zwischen "kommunikativem" und "kulturellem" Gedächtnis und ordnet ersteres den Modalitäten des mündlichen Gesprächs zu. Diese stehen im Gegensatz zum "kulturellen" Gedächtnis und implizieren Vergessenheit, Zufälligkeit des mündlichen Vortrags, Nebensächlichkeit der erinnerten Inhalte in Abhängigkeit von der kommunikativen Situation und schließlich mangelnde Formgebung im Hinblick auf einen kollektiven Sinn. Das kommunikative Gedächtnis scheint mir im Hinblick auf einen Bestimmen Aspekt der Mündlichkeit von Bedeutung zu sein: Mündlichkeit ist zwar in Literatur stets repräsentiert; ihre Repräsentation kann aber im Modus des kommunikativen Gedächtnisses geschehen, womit sie im Widerstreit zu den Ordnungsstrukturen sowohl des kulturellen Gedächtnisses als auch des historiographischen Diskurses steht34. Die Modalitäten des kommunikativen Gedächtnisses im Medium der Literatur fuhren zu einer Relativiemng der Kontinuitäts- und Beständigkeitsanspriiche historischer Sinngebung. U.a. aus dem Widerstand von (repräsentierter) mündlicher Erinnerung der Stimmen in Cómala (und der gelebten Kultur) gegenüber dem kulturellem Gedächtnis, das der Stimme des Diktators unterworfen ist, gewinnt Pedro Páramo, der Roman von Juan Rulfo, einige seiner glanzvollsten Augenblicke. Die vorangehenden Überlegungen zum Diskurs der Identität zeigen, daß dieser nicht mit dem Objekt Kultur gleichgesetzt werden kann, denn das kulturelle Potential der Manifestationsvielfalt bliebe von einem einheitlichen Identitätsdiskurs ausgeschlossen. Soweit man die Oralkultur im Sinne eines distinktiven Merkmals der Identität versteht, ist auch dieser Begriff als Variation des gleichen Diskurses zu weiten. Es erscheint deswegen interessanter, die Oralität und das kommunikative Gedächtnis als Symptom jener kulturellen Kraft zu betrachten, welche mit Bachtin subversiv bezeichnet werden kann, eine Kraft, die auf die dringende Notwendigkeit hinweist, von der Reduktion kultureller Phänomene auf das Problem der Identität Abstand zu nehmen35.

1.2 Ästhetische Individualität als Grenze nationaler Identitätsdiskurse Anhand der kulturellen und literarischen Vielfalt im hispanoamerikanischen Kontinent sollte es auch für den Diskurs der Wissenschaft selbstverständlich sein, daß bestenfalls von "hypothetischen Identitätsentwürfen" (Lafaye, 1986:22) oder von Identität als 34 Zur Dekonstiuktion des historiographischen Diskurses und des kulturellen Gedächtnisses vgl. die Analyse von Vf. zu den zeitgenossischen mexikanischen Crónicas von Elena Poniatowksa, Carlos Monsiviis, José Agustln u.a. (1992a,b und 1994a). 35 In dem von Saul Yurkievich (1986) zur kulturellen Identität Hispanoamerikas herausgegebenen Band sind solche Ansätze erkennbar, insbesondere bei Yurkievichs Einleitung (13f.), dem Artikel von Alfredo Roggiano (IS) und dem examen critico von Raul Dorrà (47-58).

52 utopischem Desiderat der Schriftsteller gesprochen werden kann34. Der Umkehrschluß, Alternat sei als Gegenbegriff die angemessene Beschreibungskategorie für literarische oder kulturelle Phänomene, wäre ebenso falsch. Dies zu zeigen, war u.a. das Anliegen des ersten Kapitels. Über Alterität als ausgegrenzten Bereich der Identität37 nachzudenken, kann dagegen weiterführend sein. Es war in Abschnitt 1 festgestellt worden, daß nationale Identitäten im Rahmen der Außen-Innen-Dialektik von der Beständigkeit des Identitätssystems abhängig sind. Dabei braucht nationale Identität die Differenz zum Anderen, um sich zu bestätigen. Im Bereich der Ich-Konstitution hat die Alterität sowohl im sozialpsychologischen Identitätsbegriff als auch in Kunst und Literatur eine andere Funktion. Der Diskurs der Ich-Konstitution soll im folgenden nachgezeichnet werden, um auf bestimmte Eigenheiten in der hispanoamerikanischen Identitätsbildung hinzuweisen. Es geht auch hier nicht darum, ein adäquates Modell für individuelle Identität zu entwickeln, sondern vielmehr das Bestehen entsprechender Diskurse mit bestimmten Wirkungen aufzuzeigen. Betrachtet man die soziologischen Identitätsdefinitionen, so zeigt sich, daß die Konstitution des Ich-Bewußtseins vor dem Hintergrund des sozialen Anderen als ein komplexes Zusammenspiel des durch eigene bzw. soziale Vorgaben bestimmten Handelns erfaßt wird38. Der vom Theater stammende Rollenbegriff war mit der Einbeziehung der Spannungen zwischen dem Individuum und dem Sozialen der Angelpunkt eines produktiven Verhältnisses von philosophischer, soziologischer und ästhetischer Konzeption von Identität (Marquart, 1979:356). Daß das ästhetische Paradigma der Rolle eine positive Rückwirkung auf die Soziologie wie auf den philosophischen Diskurs über Identität hatte, zeigt Hans Robert Jauß an verschiedenen Definitionen von Bewußtsein, worunter Helmuth Plessner beispielhaft erscheint: Die Bedeutung des Doppelgängertums im theatrum mundi für Plessners philosophische Anthropologie ist an dessen Kritik an der idealistischen Trennung von entfremdeter Existenz und autonomer Innerlichkeit39 sowie an der These der Dualität des Menschen als grundlegender Bedingung der Erfahrbarkeit des Selbst erkennbar (1979:602-603).

36 Identität als Utopie ist ein in der Forschung beliebter Topos. Mit der Kategorie der Utopie im Sinne Blochs definiert Sabine Horl Identität im hispanoamerilcanischen Essay als "dynamisches Werden" (1986:48). Auf die Probleme des Begriffs und seiner Verwendung gehe ich im Zusammenhang mit der Mythosdiskussion in diesem Kapitel ein. 37 Jacques Lafayes zeigt, daß der Gegensatz zwischen "literarischer Identität" und "kultureller Alterität" nur eine unhaltbare Fiktion der Wissenschaft ist (1986:21-27). 38 Meads Unterscheidung von "I" und "me", die sich auch in Lacans Dualität von "je" und "moi" findet (z.B. 1966; vgl. auch die Darstellung von M. Frank, 1983), macht das dialektische Verhältnis von Innen und Außen deutlich. Mehr als die Interpretation Lacans sind die US-amerikanische Diskussion der Identität nach Mead (vgl. Henrich, 1979:134f.) und der Begriff des Kollektivs als soziale Größe eines "generalisierten Anderen", vor dem die Identität als Selbstbezflglichkeit konstituiert wird, über Go ff mann auch in Habermas' Entwurf von Individualität in Abhängigkeit von Sozialität eingegangen (1970). 39 In Plessners Artikel "Soziale Rolle und menschliche Natur" (1960), zitiert nach Jauß (1979:602).

53 Die ästhetische Subjekterfahrung war in der abendländischen Geschichte ein wesentliches Moment, das sich infolge der Bewußtseinsphilosophie des deutschen Idealismus als ein Diskurs der Individualität entwickelte. Der Bereich der Individualität hat seit Entstehen von Schellings Identitätsphilosophie die Funktion eines Gegendiskurses zur nationalen Identität40 erfüllen können. Mit der ästhetischen Erfahrung verbunden41, beginnt das Denken in Kategorien des Individuums bei Jean Jacques Rousseaus zivilisationskritischen, insbesondere aber in seinen autobiographischen Schriften zu wirken, während schon bei der deutschen Friihromantik individuelle Identität als regulativer Diskurs gegenüber nationalen Identitätsbegriffen fungiert42. Dies wixkt sich nicht nur im Bereich der Literatur aus. Hegels Geschichtsbegriff schließt die Individualität als kreativen Faktor ein, der als Synthese von Partikulärem und Universellem die Geschichte erst zur einheitsstiftenden Kraft der Vergangenheitsverarbeitung macht. Kollektive Identität sei "Individualität des Gemeinwesens"43, was impliziert, daß das Kollektive erst durch den singulären Eingriff eines am Prinzip der historisch fortschreitenden Vernunft orientierten Subjekts die Erstarrung des Gedächtnisses zum Prozeß der Erinnerung überfuhren kann. Auf die Probleme des vereinheitlichenden historischen Modells des Fortschritts ist in Abschnitt 1 hingewiesen worden. Hier interessiert der im deutschen Idealismus implizierte Gedanke der Prozeßhaftigkeit, die in der Idee der schöpferischen Kraft des Individuums enthalten ist. Dies ist der Bereich, in dem Kunst und Literatur gegen den Diskurs der Identität bis zu dessen Erosion wirken können. Besonders deutlich wird dies im Bereich der historischen Identität des Individuums, d.h. der Organisation der Vergangenheit in Funktion des Ich-Bewußtseins, ein Bereich, der - wie unter 1.1 beobachtet - eine tragende Funktion für die nationale Identität einnimmt44. Literarische Erfahrungen mit der Erinnerung im Bereich des Individuums 40 So definiert Dietrich Harth Diskurse von "nationalen Identitäten": "Redeweisen, die nicht selten mit handfester Symbolik verbunden auftreten, ja auch von oben organisiert werden können und eine relativ dauerhafte semantische sowie materiale Piasenz im kultuellen Diskurs einer Gesellschaft erwerben. Sie schaffen Deutungsrahmen, innerhalb deren zugleich mit dem Selbstbild des Kollektivs die Orthodoxie für das Aus- und Eingrenzen der einzelnen Mitglieder entsteht" (1988:222). 41 Schellings Identitllssystem ersetzt Identität durch Originalität und vertraut letztere dem Kunstbereich und damit der Illusion an. Zwar mit anderen epistemischen Voraussetzingen, jedoch als eine Abwandlung des Identitätssystems Schellings sei - Harth zufolge - auch der aus der Theatermetaphorik stammende soziologische Begriff von Identität zu sehen, uid zwar insoweit, als beide den Versuch darstellen, aus der geschichtsphilosophischen Identitätsdefinition herauszukommen. 42 Den Gegensatz zwischen nationalen und ästhetischen Identitätsdiskursen arbeilet Dietrich Harth anhand des deutschen Idealismus aus. Infolge der Rezeption der Zivilisationskritik Jean Jacques Rousseaus durch die Friihromantik erhob sich ein Gegendiskurs der "zerrissenen" Identität des Subjekts (1988:227). Dieser Diskus versuchte, durch Poesie und Mythologie ein einheitliches Bild des Menschen zu erstellen und schuf eine "ästhetische Kultur", welche Nationaldiskurse negierte und auf eine Entzweiung der Verständigung von Macht und Geist hinauslief (232). Vgl. auch Manfred Franks Analyse von Schellings Systemprogramm (1982). 43 ZiL nach Harth (1988:236). 44 Bei der Analyse von Jarry stellt Grivel fest, da£ wahrend das Gedächtnis als das Zentrum der Wahrheitskonstitution des Subjekts angesehen werden kann, der Dichter die kodifizierte Sprache gerade im Gedächtnis trifft - jenem Ort also, durch den die sprachliche Ordnung gespeichert und verfügbar gehalten wird. Durch die Arbeit des Dichters am Gedächtnis wird das Sprachsystem selbst in Unordnung gebracht (Grivel, 1982:256).

54 haben die Prozeßhaftigkeit der Erinnerung seit Augustinus* Confessiones45 zum Kennzeichen des Genres der Mémoires gemacht, wodurch Instabilität und Brüche statt Beständigkeit und Einheit zu den Merkmalen der Ich-Identität wurden46. Henri Bergsons Unterscheidung zwischen dem Gedächtnis als physischem Wiedeiholungs- und Wiedererkennungsakt und Erinnerung als unmittelbarer Erfahrung vergangener Momente führt zur Entdeckung der Erinnerung als psychischen Prozesses. Mémoire garantiert bei Bergson noch, daß mit der Erinnerung auch Selbsterfahrung und Selbstbewußtsein erlangt werden47. Die Erinnerung führt nach Bergson zu einer Identitätsbildung, während sie erst bei Marcel Proust die Erfahrung der Fragmentierung und der verlorenen Integralität des Gedächtnisses bedeutet, so daß der Erinnerungsprozeß in den Verlust der Identität als Bewußtseinskategorie mündet48. Die literarische Erfahrung mit der Erinnerung im Bereich des Subjekts höhlt den bewußtseinsphilosophischen Begriff der Identität aus49. Als Kategorie der Literaturwissenschaft kann sie bei der Literatur des 20. Jahrhunderts entweder als Negativkategorie gegenüber postulierten einheitlichen Identitätsbildern oder als prozessualer Vorgang verstanden werden, der statt Einheit Phänomene der Fragmentierung sowie Brüche und Paradoxa verwirklicht50. Poetische Prozesse, die seit den Russischen Formalisten als Prozesse der Deautomatisation und damit der Zerstörung unmittelbarer Identifizierungsmöglichkeiten von Bildern gelten51, geben einer Reihe von Möglichkeiten der

45 Im Sinne Augustinus' ist memoria nicht erstarrtes Gedächtnis, sondern Prozeß der Wiederfindung. Sie schließt auch das Vergessen ein. Vergessen wäre eine Entfernung von der göttlichen Wahrheit und damit dem Wesen der Dinge, dessen Vermittlung die memoria zur Aufgabe hat. 46 Die Prozeßhaftigkeit der Reflexion Uber die eigene Vergangenheit seit Augustinus beschäftigt die Forschung. Identität wird dabei zunächst als Problem erfahren (Starobinski, 1970), das sich auf allen narrativen Ebenen auswirkt und zum Merkmal des Genres der Autobiographie wird (Picard, 1978). Roloff kritisiert die im allgemeinen akzeptierte These des pacte autobiographique (Lejeune, 197S), weil diese von einer fest definierten Identität ausgeht, wahrend sich Identität im Text primar als Prozeß zeigt, in dem "(als eine Form der literarischen Identitats- und Wahrheitssuche des Autors) Rollenbewußtsein und Rollenspiel aufs Engste verbunden sind und gerade die Wechselbeziehung dieser Faktoren den autobiographischen Text kennzeichnet" (1988:81). 47 Zu diesem Ergebnis kommt Gilles Deleuze (1966:117-119; bes. auch pp. 44 und 76-82) bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Durée, Mémoire und Elan vital im Werk von Bergson, insbesondere in: Essai sur les données immédiates de la conscience (1889), Matiire et mémoire (1896), L'évolution créatrice (1907), L' énergie spirituelle (1919) und Durée et simultaniité (1922). 48 Im Werk von Proust zeigt bspw. Walter B. Berg, daß der weite Spannungsbogen zwischen der Suche nach einem integralen Subjekt, das von einer Einheit der Erinnerung in einer im Sinne Bergsons gedachten Kumulation von Augenblicken (Dauer) gestiftet werden kann, und der Vergänglichkeit von augenblicklichen Fragmenten zu einem Zusammenfall des Subjektes filhrt (1986:132). 49 Mit Explosion des Gedächtnisses bezeichnet Charles Grivel die Entwicklung des Schreibprozesses bei Alfred Jarry. Das Subjekt fungiert als Grenze der Identität und das Schreiben selbst als "opération désidentificatrice (...) par déréglement des lignes du code" (1985:275) und "par dépossesskm de soi dans la langue" (276). 50 Die paradoxale Gestaltung der modernen Literatur seit Baudelaire dekonstruiert schließlich auch den Mythos der von der Aufklärung herbeigeführten Ausdifferenzienmg von Individuum und Gesellschaft Darauf gründet Luhmanns Kritik am Individualismus (vgl. u.a. 1984:362f. und 1989). 51 In "Kunst als Verfahren" versteht Victor Sklovskij unter poetischem Bild jene Prozesse, die die WiedererkennungsmOglichkeiten des Bildes zerstören und damit Wahmehmungsprozesse einleiten (1969). Vgl. auch Vf., 1983:19f. und 26f.

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Konstituentenverdoppelung freien Raum - seit Roman Jakobson eine Bedingung des poetischen Prinzips. Das Groteske sowie alle Verfahren des Komischen52 und der Vielstimmigkeit, die Bachtin mit Stilisierung, Parodie" und versteckter Polemik definiert, sind Mittel, die sich einheitlichen Identitätsbildern widersetzen. Es läßt sich beobachten, daß in hispanoamerikanischen Diskursen und kulturellen Selbstbildern die Komponente der Individualität als ästhetischer Diskurs gegen nationale Identitätsdiskurse nahezu fehlt. Vielmehr ist die Verknüpfung der Identitätsfrage mit politischen Handlungen und historischen Interpretationen des nationalen kulturellen Wesens (Dorrà, 1986:48), das ab der Jahrhundertwende eine universalistische Komponente erhält (Ainsa, 1986:40,44), ein Kennzeichen hispanoamerikanischer Identitätsformen. Die dominierende kollektive Ausrichtung der Schreiberfahrung in der hispanoamerikanischen Literatur auch in Bereichen, in denen die europäische Dichtung (Romantik und Symbolismus) eine intimistische Selbsterfahmng sucht, ist ein Zeichen der engen Verknüpfung persönlicher und kollektiver Identitätssuche im ästhetischen Diskurs. Eine solche Verknüpfung bewirkt in der zeitgenössischen Literatur, daß die kulturelle Metakritik zu einer dominanten Textebene wird54, die z.B. bei Los recuerdos del porvenir, dem zu untersuchenden Roman von Elena Garro, zu einer zentralen Dimension des Textes führt: Auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit schreibt ein pueblo in der Ich-Form der Autobiographie die Geschichte des Kollektivs kritisch um. Literarisches Schreiben ist in Hispanoamerika ein messianisches Programm. Politik und Literatur, wie auch der politische und der ästhetische Diskurs erfahren zunächst keine Entzweiung. Faustino Sarmiento im 19. Jh., Pablo Nenida, José Vasconcelos und Octavio Paz im 20. Jh. sind nur die bekanntesten unter den vielen Schriftstellern mit politischen Funktionen. Besonders illustrativ ist in dieser Hinsicht das Beispiel Mexikos. Die regulative Funktion der Kunst gegen nationale Identitätsdiskurse kann sich in der mexikanischen Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig entfalten, weil die offizielle Identität der Revolutionspaitei auch den Bereich der ästhetischen Individualität integriert hat. Der politische Personenkult, in dem persönliche und institutionelle Identität zusammenfallen, bietet sich seit der militanten Revolution als Identifikationsmöglichkeit auch im Bereich des Individuums an. Mexiko kommt zunächst nicht über die Situation der Jahrhundertwende hinaus, als Kunst und Politik die gleiche messianische Aufgabe des Findens einer Sprache für die kollektive Identität über-

52 Preisendanz spricht vom Humor als Rolle im Sinne von Jean Pauls Selbstaulhebung des Ichs durch das humoristische Mimen der Rolle (1979:442ff.). 53 Im Zusammenhang mit Jarry zeigt Grivel (1985), daß die Parodie zu den Konstitutionsverfahren eines ästhetischen Subjektes gehört (277), das gegen die Mechanismen der Identifikation vorgeht (275). 54 Damit übernimmt Hispanoamerika paradoxerweise das Erbe der spanischen Literatur. War auch in der spanischen Romantik die Bildung nationaler Identitatsmythen im kostumbristischen Stil von Mesonero Romanos eine dominante Geste, so steht eine bestimmte (romantische bzw. postromantische) Literatur solchen Mythen zwar kritisch gegenüber, jedoch nicht primär durch individualistische Gegenentwürfe. Vielmehr läßt sich - etwa bei Schriftstellern wie Mariano José de Lana und Gustavo Adolfo Bécquer - eine auf eine kulturelle Metaebene bezogene Kritik verzeichnen.

56 nehmen. Die Verbindung von ästhetischem und politischem Diskurs geht vielmehr mit der mexikanischen Revolution nahtlos in die Politisierung von Kunst über, wofür wiederum das Phänomen des Muralismo beispielhaft ist. Zwar bestand selbstverständlich eine Spaltung zwischen der offiziellen Ästhetik bzw. Philosophie und einzelnen intellektuellen Gruppen55 wie den Contemporáneos oder Rufino Tamayo56 in der Malerei; doch ist eine Opposition zwischen Ästhetik und Politik nicht Teil der Diskurskonfigurationen, die in der Identitätsdiskussion auch dem ästhetischem Individuum einen regulativen Platz einräumen würden. Das Individuum identifiziert sich vielmehr mit der Negationsprämisse57 des nationalen Identitätsdiskurses. Identität ist als ein gesellschaftlich wirksamer Diskurs und nicht als eine Beschreibungskategorie von Kultur aufzufassen. Die jeweiligen, vom Identitätsdiskurs vermittelten Selbstbilder sind Produkte einer Elite5*, die durch die Identifikation mit bestimmten Modellen Prestige (Roggiano, 1986:12) und Befreiung von der Marginalität suchen. In Mexiko nimmt die Literatur bereits zu Beginn des Jahrhunderts auf dieses Phänomen Bezug. Dies ist eine zentrale These dieser Studie, auf die ich wiederholt zurückkommen werde. Inbesondere die Erzählliteratur thematisiert den nationalen Identitätsdiskurs, arbeitet an diesem und eröffnet Perspektiven für die in Identitätsbildern ausgegrenzten Phänomene der Kultur. Soweit die Kategorie des Anderen als Grenzbegriff des Identitätsdiskurses und damit als Schärfung des Problems der Ausgrenzungen des Diskurses verstanden wird, erscheint sie als dienlich. Dementsprechend ist es ein wichtiges Anliegen der vorliegenden Untersuchung, die Arbeit literarischer Texte an den Bausteinen von nationalen Identitätsdiskursen wie Ursprung, Naturmythos und Einheit historischer, sozialer und kultureller Art zu beobachten. Die Arbeit der literarischen Texte ist nicht versöhnlich - so die Leithypothese -, sondern sie legt vielmehr eine nicht in Einheiten integrierbare Heterotopie59 der Kultur offen -eine

55 So beschreibt Monsiviis kritisch die Situation der Intellektuellen im unmittelbaren Kontext der Revolution: "Rivera, Orozco und Siquieros [...] zogen die gesamte Öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Die zurückgezogenen Maler dagegen beschrankten sich auf ein kleines Publikum, verließen Mexiko oder resignierten. Den Schriftstellern erging es etwas besser, da ihre Ansprüche geringer waren. Sie veröffentlichten für eine Elite [...] und kümmerten sich wenig darum, ob man sie 'Vaterlandsverräter' oder 'Konterrevolutionare' nannte" (1988:56-57). 56 Xavier Villaurutia zeichnet deutlich die Linie der anderen Kunst: Tamayo und die Contemporáneos, - die etwa bis zu den 70er Jahren auf eine offizielle Wiederentdeckung warten mußten -, "die damals darum kämpften, der mexikanischen Poesie einen neuen Weg zu weisen und sie ihrer tatsachlichen Bestimmung zuführten, die Öffentlich und geradeheraus die Anekdote, die Geschwätzigkeit, die Prosa verbannten [...]. Tamayos malerische Absicht war diesselbe" (1988:126). 57 Eine defensive Negation nach der Unabhängigkeit von Spanien, die nach der Revolution zu einer doppelten Negation geworden ist (Octavio Paz, 1950:133). 58 Dorra (1986)zeigt, wie die Suche nach Identität durch Abgrenzung des europaischen Anderen ein Phänomen der cultura culta ist. In der sog. popularen Kultur ist dieses Thema nicht nachzuweisen. 59 Mit Bezug auf Edouard Glissanls Darstellung des antillischen Diskurses hebt Incke Phaf die dekonstruktive Arbeit der karibischen Literatur im Bereich des Nationbegriffs hervor. Die Heterogenital einer konfliktiven nationalen Einheit fuhrt zur systematischen Destabilisiening der kodifizierten Dogmen, die diesem Begriff inhärent sind (1989:74f.). Mit Rückgriff auf Derrida und Culler sieht Phaf in einer solchen dekonstruktiven Geste eine politische Strategie, die die (nationale) Einheit zu einer problematischen Denkfigur macht. Der in der vorliegenden Studie angewandte Begriff

57 Heterotopie, deren singuläre Formen u.a. durch die gemeinsame Erfahrung eines unendlich vielfältigen Leidens verbunden sind60. Die Folgen des Verlustes an Homogenität, der bei Romanen des sog. Magischen Realismus zu einer radikalen Schreibpraxis werden kann61, sollen im Hinblick auf die harmonisierenden Kategorien der Identitätsdiskurse untersucht werden. Unter diesen herrscht die Kategorie des Mythos als alternative Form zum Geschichtsbewußtsein oder als Projektion utopischen Seins in eine die Unvereinbarkeiten der Gegenwart überwindende zukünftige Einheit vor.

2. Der Mythos, europäische Hispanoamerika-Utopien und mythische Prozesse in der Literatur Lo que podría llamarse la primera parte del Popul-Vuh corresponde a la fábula. Hay fábulas de fábulas. La niebla matutina es una fábula de la mañana. Se le ve desprenderse llevándose copia de las cosas de la tierra. Esta es la sensación que nos da el canto popol-vúhico cuando empieza a pintarnos la creación del mundo. Es una copia en neblina fría de lo que pasó cuando las manos cálidas de las divinidades americanas, abuelas y abuelos, empezaron la formación del mundo62. Der Zugang zum Problembereich des Mythos im hispanoamerikanisehen bzw. mexikanischen Roman ist gewissermaßen vorgegeben. Beim literaturwissenschaftlichen Rekurs auf den Mythos-Begriff standen zunächst ethnologische Ansätze im Vordergrund, die mythische Strukturen als Ausdruck prälogischen Denkens autochthoner Kulturelemente (Lévy-Bruhl) oder als eine von der rationallogischen verschiedenen Form der Verarbeitung von Wirklichkeit (Lévi-Strauss) betrachten. Beide Mythos-Auffassungen wurden als Niederschlag eines alternativen Bewußtseins zum abendländischen Logos

der Heterotopie impliziert - mit Foucault - eine dekonstruktive Arbeit auch in Bezug auf die wissenschaftlichen Diskurse, die mit diesem operieren. Zum Begriff der Heterotopie vgl. Kap. I, 3.2. und Vf., 1991d. 60 Lafaye erwähnt diesen Aspekt als alleinige Möglichkeit, von einer literarischen Identität Hispanoamerikas zu sprechen: "La identidad s de preocupaciones y de problemas políticos y estéticos, antes que reflejo de una homogeneidad cultural continental que dista mucho de venirse realizando; más bien se va alejando" (1986:27). 61 Die Mischung verschiedener Genres wertet Grivel als eine besondere Form von Freilegung literarischer Räume, wobei die Identifikationsmöglichkeilen der Lektüre im Zwischenraum zwischen den Genres verunsichert weiden oder verlorengehen (Grivel, 1985:262). 62 M.A. Asturias, Amirica, fábula de fábulas. Caracas: Monte Avila, 1972,282-287 (284).

58 gewertet63 und gingen als solche in die hispanoamerikanische Identitätsdiskussion ein. Ausgehend von der alternativen Position des Mythos im abendländischen Alteritätssystem beurteilte man die Verarbeitung von Mythen im hispanoamerikanischen Roman im Sinne autochthoner Identitätsfindung und als eigenständige amerikanische Ästhetik. Letztere Perspektive nimmt Bezug auf den Ansatz, der im 20. Jahrhundert auf André Jolles, Ernst Cassirer sowie Hans Blumenberg zurückgeht und die These hervorhebt, daß der Mythos onto- wie auch phylogenetisch zum poetischen Erkennen und damit zur schöpferischen Kraft von Kultur gehört. Mythos, Mythen und mythische Prozesse sind komplexe Phänomene, die den Anfängen der abendländischen Kultur angehören, seit Aristoteles im Zentrum von Philosophie und Ästhetik stehen und im 20. Jahrhundert auch in der europäischen Literatur sowie im wissenschaftlichem Bereich auffällige Erscheinungen unserer kulturellen und gesellschaftlichen Aktualität darstellen64. Es kann nicht Aufgabe dieser Studie sein, die Komplexität des Mythos erschöpfend darzustellen. Es scheint indes notwendig, die Pluralität der AnsätzOe soweit zu erarbeiten, daß unterschiedliche Dimensionen des Mythos erkennbar werden, mit dem Ziel, eine differenzierte Problemstellung für die Analyse der Texte zu gewinnen. Die Wahl der Autoren, die eingehender behandelt werden, ist nicht als Maß für die Bedeutung ihrer Theorien zu verstehen. Diese werden hier nicht mit dem Bestreben behandelt, eine eigene Theorie zur Bewertung des Mythos in der hispanoamerikanischen Kultur zu erstellen, sondern um die Funktionen zu identifizieren, die der Mythos im hispanoamerikanischen Bewußtsein und im Diskurs darüber einnimmt. Nach diesem Grundsatz wurde eine Passage aus dem 1954 in Caracas (El Nacional) erschienenen Artikel von Miguel Angel Asturias mit dem Titel "La biblia de los indios quichés o biblia de América" als Motto gewählt. Asturias und der Ursprungsmythos gelten als repräsentativ; die schöne Passage des Textes Asturias* enthält in verdichteteter Form die Aspekte, die für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung von Relevanz sind.

2.1 Der Mythos als Alternative zum Logos? Sowohl im Sinne ursprünglicher Inhalte der Kultur als auch eines Bewußtseinsprozesses, der sich dem rationallogischen Denken des Abendlandes entzieht, fungiert der Mythos als Zeichen des Niederschlags ursprünglicher kultureller Formen. Beide Aspekte schaffen diejenige Perspektive, die aus der Sicht von Europäern exotisch

63 Über diese Forschungsposition berichtet ausführlich Michael Rössner in seiner 1988 erschienen komparatistischen Studie zum Mythos des verlorenen Paradieses in der europäischen Avantgarde und in Lateinamerika bis zu den Romanen des boom. Ich verweise auch auf den von Chr. Wentzlaff-Eggebert herausgegebenen Band Realität und Mythos in der lateinamerikanischen Welt (1989) und Frauke Gewecke (1983b und 1990). 64 Zur aktuellen Diskussion von Mythotheorien vgl. H. Zinser (1992).

59 wirkt. Im Niederschlag von Mythen im hispanoamerikanischen Roman ein Zeichen alternativen Denkens zum Abendland zu sehen, wäre indes schon aus Gründen der Überlieferung verfehlt. Beim Popul VuhiS, ebenso wie beim Großteil der überlieferten präkolumbischen Traditionen, handelt es sich um eine Vermischung präkolumbischer Urmythen mit dem Christentum und damit generell mit abendländischen Texten, die sich im Zuge der Niederschrift nach der Eroberung ergab. Schon obige Passage Asturias' räumt das Vorurteil dichotomischer Auslegungen des Mythos in der hispanoamerikanischen Literatur aus, die das mythische Bewußtsein als Ausdruck eines bestehenden Naturzustandes gegen das dekadente, intellektualisieite Abendland interpretieren. Betrachtet man Asturias' Beschreibung des Genesismythos der Quiché, dann ist nichts vom Mythoskult des "ursprünglich denkenden bon sauvage" zu finden, der in der europäischen Suche nach Exotik seit der Entdeckung Amerikas mehr oder weniger unterschwellig präsent ist66. Vielmehr beschreibt Asturias den Genesismythos in einer komplexen Weise, die den Mythos der Quiché, wenn er zum ursprünglichen Denken gehören soll, als einen so anspruchsvollen Prozeß darstellt, daß in Auseinandersetzung mit ihm wichtige Momente der abendländischen Mythosdiskussion behandelt werden können: Der Genesis-Mythos der Quiché wird als eine copia en neblina fría dargestellt, eine Kopie der Dinge dieser Welt, die sich im kalten Nebel verflüchtigt. Es ist ein Nebel, in dem die warmen Abdrücke der großelterlichen Schöpfungsgötter noch zu spüren sind. Im gesamten Essay betont Asturias die Verschwommenheit der Inhalte der in der "amerikanischen Bibel" besungenen Schöpfung67. Die Inhalte des Mythos sind fábulas de fábulas, sind Erzählungen von Erzählungen. Mit dem Verweis auf die Schichten von Erzählungen distanziert sich der Text von der Vorstellung eines transparenten, wahrsagenden Diskurses, in die allzuleicht besonders die abendländische, christlich-judaische Genesis eingeordnet wird. Der Text des Genesis-Mythos des Popul Vuh ist

65 Die Überlieferung des Popul Vuh ist Uberaus labyrinthisch: Vermutlich zwischen 1550 und 1560 durch einen gewissen Diego Reynoso in Quiché mit lateinischen Buchstaben geschrieben, wurde "La bibla de los indios" durch den Dominikaner-Pater Francisco Ximenes am Anfang des 18. Jh. ins Spanische Übertragen und erst in französischer Übersetzung (eher Interpretation) nach Europa importiert Schon bei Pater Ximenes spricht Asturias davon, daB wahrend der Obersetzung der Pater "explicaba las extnfias aproximaciones de la llamada bibla quiché a la santa biblia" (1972:283). Zur Überlieferangsgeschichte vgl. auch Moreno-Durán (1988:350-353). 66 ROssner rekonstruiert die auf der Faszination des bon sauvage gründenden Diskurse, die in dichotomischer Weise die "ganz reale Wunderwelt, eben das 'real maravilloso" als Alternative zu den "mühevoll experimentierenden, zerebralen Europaern" setzen (1988:204). Auch der Roman Hombres de mah bejahe den Mythos als Objektivierung des "kollektiven Unbewußten" (215). Weiterhin sei "die europaische Suche nach dem verlorenen Paradies ursprünglichen Denkens in Hispanoamerika, wie schon zuvor in Brasilien übernommen, und [werde] mit der Frage nach der 'americanidad' oder der nationalen Identität verknüpft" (219). Anders als Roessner liest der guatemaltekische zeitgenössische Schriftsteller und Kritiker Jorge Mario Martínez den Roman von Asturias, und zwar als paradoxale, karnevaleske Ironisiening von Mythos und Identität (1990). Letzteies kennzeichnet die ironische Arbeit des Textes gegen die Diskurse, auf die Roessners Analyse eher die Aufmerksamkeit richtet 67 "El 'libro del Consejo' refiere cómo y por qui fue reducida la visión de estos seres extraordinarios. Alcanzaban a verlo todo recién formados por los dioses. Pero se les puso neblina en las pupilas, para que su vista sólo alcanzara a lo que está cerca, paia que sólo vieran un poco de la faz de la tierra" (285).

60 vielmehr verdunkelt, wobei die Verdunkelung zwar auch aus den verschiedenen Übersetzungen resultiert6®, die aber - so Asturias - schon Bestandteil der Bilder und der Gesänge, d.h. des ursprünglichen Mediums der Überlieferung, gewesen ist. Nur als schriftlicher Text wirft der Popul Vuh die Frage nach der Wahrheit auf und kommt in die Spannung zwischen Dunkelheit und Wunsch nach Offenbarung: Han dejado de ser pintura y canto, gracias a la sabiduría de aquel fraile benemérito, y se escribe para que 'su faz no esté oculta al pensador', oculta antes tras el velo de la pintura, y oculta ahora tras los caracteres latinos (282). Es ist schließlich eine besondere Dimension des Gesanges bzw. des Textes, die den Mythos begehrenswert macht. Die Brillanz der mythischen Erscheinung und die Faibe der Worte - "el matiz de lo que expresan" (287) - lassen das Unbekannte, das Andere, verspüren. Mit obiger Argumentation Asturias' lassen sich die Überlegungen zum Mythos in drei Bereiche gliedern: 1.) Mythos als Erzählung des Ursprungs 2.) Verdunkelung und Offenbarung als Spannungsverhältnis zum Unbekannten, zum Anderen 3.) Literatur als besondere mediale Bedingung mythischer Strukturen.

2.2 Mythos als Erzählung des Ursprungs Mythos ist zunächst Erzählung: eine ursprüngliche Erzählung oder die Erzählung des Ursprungs69. Die Erzählung von Göttern, Helden und Unterwelt, für die Piaton den Begriff Mythos in der Bedeutung von Fabel prägte (Politeia), wird bei Aristoteles erst durch die Verbindung mit der lexis, (Ricoeur, 1975:52) d.h. durch die Einheit des Sagens in Bezug auf mimesis definiert und gilt erst dann als eine kohärente, den gesamten Text betreffende (57) schöpferische Mimesis70 von Welt. Entsprechend der Auslegung des aristotelischen Mythos-Begriffs durch Paul Ricoeur, nämlich der Verbindung von Fabel und lexis, bedeutet Mythos die aus der Rede resultierende Weltsicht ebenso wie das Reden selbst (Diskurs71). Entlang dieser scheinbar einfachen

68 "Concedemos la mayor importancia al hecho de que el Padre Ximenes se haya cedido lo bastante para hacer oscuro su castellano, al texto quiché porque al hacerlo cedía a la belleza literaria del Popol-Vuh, y al ceder que era conceder, dejaba en suspenso por momentos su condición religiosa" (283). 69 Zur Thematik des Ursprungs in der christlichen Genesis vgl. Gilbert (1986). 70 Im Sinne von Ricoeurs Modellierung (S6). Ricoeur vermerkt die Relevanz der physis im Mythos (wodurch die Mimesis einen referentiellen Bezug erhalt [58]). Dieser Aspekt interessiert ihn nur insoweit, als er darin einen Beleg für die referentielle Funktion des poetischen Diskurses sieht (60), die Hauptthese seiner Milaphore vive (1985). Vgl. auch Vf. zur Metaphertheorie (1985). 71 Ricoeur benutzt diesen Begriff im Sinne Benvenistes. In meinen Überlegungen weide ich aber besonders die Wirkung mythischer Reden in diskuisanalytischer Perspektive behandeln. Vgl. hierzu Kap. 1.3.

61 Formel lassen sich einige wichtige Mythos-Konzepte gruppieren, wobei gängige Theorien den Akzent auf die Objekte einer mythischen Erzählung, d.h. auf die mythische Weltsicht, oder auf die mythische Tätigkeit des Erzählens und damit auf den schöpferischen Akt selbst legen. Auf die letzteren wird näher einzugehen sein.

2.2.1 Der Ursprungsmythos in Ethnologie und Psychoanalyse An zwei unter den meist rezipierten anthropologischen Ansätzen zur Mythostheorie lassen sich die oben angesprochenen unterschiedlichen Akzente erkennen: Der formende Eingriff interessiert Mircea Eliade, während Claude Lévi-Strauss' strukturale Methode die Invariablen mythischen Denkens zu erfassen sucht Eliade beschreibt die gestalterische Kraft des Mythos im Hinblick auf das historische Bewußtsein und bringt die ursprünglichen Inhalte des Mythos, die Archetypen72, mit der Tätigkeit des Gedächtnisses in Zusammenhang (60f.). Mythos ist die Aufhebung der Geschichte als profaner Zeit (49); die Geschichte wird durch Rückrufen der Ereignisse ab origine (35) sakralisiert. Wird durch Eliade das Wirken des Mythos im Prozeß des mytischen Erzählens hervorgehoben, so betont umgekehrt Lévi-Strauss die Erzählung, indem er die Mytheme, verstanden als die abstrakten, universalen Einheiten des Mythos, aus der Pluralität und Ambivalenz der einzelnen Mythen zu rekonstruieren sucht. Lévi-Strauss betrachtet den Mythos zwar als eine Sprache, die auch eine Tätigkeit ist73, doch geht es in der strukturalistischen Theorie Lévi-Strauss' um die Makrostruktur, d.h. um die gemeinsamen Merkmale der Individuationen und deren Beziehungen (1977:16). Der Mythos vereint elementare Oppositionen in einer triadischen Struktur, die durch eine Art dialektischer Beziehung Gegensätze in eine Synthese aufzuheben vermag74. Obgleich die triadische Struktur des Mythos für eine prozessuale Betrachtung mythischer Phänomene fruchtbar gemacht werden kann75, scheint der Mythos-Begriff von Lévi-

72 Im Vorwon zur amerikanischen Ausgabe (19S8) definiert Eliade die Archetype als Paradigma mit beispielhaftem Charakter (1986:11-12). 73 "Semantisch gesehen gewinnt ein Mythos erst dann einen Sinn, wenn man ihn in die Gruppe seiner Transformationen eingebettet hat; ebenso entspricht ein Maskentypus, rein plastisch gesehen, anderen Typen, deren Form und Farben er transformiert, um zu seiner Individualitat zu gelangen" (1977:16). 74 Livi Strauss exemplifiziert dies an der mythischen Figur des nordamerikanischen tricksurr, "das mythische Denken geht von der Bewußtmachung bestimmter Gegensatze aus und führt zu ihrer allmählichen Ausgleichung [...] durch eine Dreiergruppe" (1971:247). Lévi-Strauss' Bestreben, den Mythos als rationale Operation zu beschreiben, war wichtig fttr die Ethnologie, fllr die bis dahin der Mythos zum Bereich der Religion und der Irrationalität (Tylor, Frazer, Dürkheim) gehörte. 75 Ansätze der semiotischen Anthropologie, bspw. von Terry Prewitt, sehen zwar ein, daß die prinzipielle mythische Offenheit der Genesis dem politischen Diskurs untergeordnet ist (1982:542); sie versuchen jedoch, die Polyfunktionalitat des Mythos durch eine Erweiterung des Modells von Lévi-Strauss zurückzugewinnen (Prewitt, 1986).

62 Strauss hier nicht relevant für die weitere Argumentation76. Demgegenüber wird die Verbindung des Ursprungsmythos mit dem historischen Bewußtsein durch Mircea Eliade im weiteren Verlauf der Argumentation erneut von Interesse sein (vgl. 2.1.3). In psychoanalytischer Perspektive bezieht Freud den Mythos-Begriff auf die verdrängten Ablagerungen des Unbewußten, die in der Theorie von C.G. Jung als Archetypen - oder zusammen mit Kerényi77 - als Mytheme gedeutet werden. Als Inhalte des Unbewußten unterliegen die Mythen bei Freud einem subjektbezogenen Prozeß undO implizieren damit die Möglichkeit historischer Aktualisierungen78. Demgegenüber ist Jungs Begriff des Archetypus ahistorisch und universalistisch ausgelegt. In dieser Hinsicht ist der Archetypus vergleichbar mit dem Mythem von Lévi-Strauss79, wobei sich beide Begriffe, mit narrativen Kategorien ausgedrückt, auf die Tiefendimension der Makrostruktur beziehen, während Freuds Auffassung des Unbewußten und der Bezug, den er zwischen Mythos und Subjekt herstellt, auch die Prozesse der Diskursstruktur impliziert. Freuds Einfluß auf die Wiederbelebung des Interesses für den Mythos in der Literatur des 20. Jahrhunderts80 in der Folge von James Joyces Ulysses81 ist unbestritten. Besonders intensiv war die Begeisterung der hispanoamerikanischen Autoren für die Wiederentdeckung des Mythos im Kontext der Avantgarden. Im Rahmen der Identitätssuche machte die Verknüpfung der ethnologischen Feststellung eines überzeitlichen kulturellen Wertes des Mythos mit der Theorie des Unbewußten die Annahme möglich, daß mit der "Wiederkehr des Verdrängten"8i auch die "wahre", ursprüngliche indianische Seele und damit die Eigenständigkeit der Kultur zutage gefördert werden könnte83 (Roessner, 1988). Während in der heutigen hispanoamerikanischen Mythosdiskussion der Mythos-Begriff von Freud insbesondere wegen der von Mircea Eliade kritisierten Aspekt der pa-

76 Das Problem von der Mythos-Theorie Lévi-Strauss' liegt darin, daß sie sich der Dimension der Diskursstniktur (parole) verschließt Die Analyse des Mythos als Erzählung durch Lévi-Strauss bleibt auf dem abstrakten Niveau der ¡angue bestehen (vgl. Carbone, 1986). 77 Vgl. C.GJung/K.Kerényi (1951). 78 In den Nachtragen zu "Massenpsychologie und Ich-Analyse" behandelt Freud den Mythos als Prozeß der Subjektivierung der KoUektivgeschichte am Beispiel der epischen Dichtung: "Der Dichter log die Wirklichkeit um im Sinne seiner Sehnsucht. Er erfand den heroischen Mythos". (1974:126). 79 Lévi-Strauss legt C.G. Jungs Begriff des Archetypus seiner Theorie zugrunde (1971:228) und ergänzt ihn mit einem linguistischen (stmkturalistischen) Ansatz (229). 80 Dies gilt nicht nur für die historische Avantgarde, vor allem den Surrealismus, sondern auch fttr die Erzählliteratur (vgl. z.B. Marchese, 1983:130). Zur Rolle des Mythos im Roman des 20. Jahrhundeits vgl. John J. White, 1971. 81 In der deutschsprachigen Literatur setzt sich Thomas Mann in seinem einflußreichen Essay Freud und die Zukunft mit der Mythos-Konzeption Freuds auseinander. 82 Die Wiederkehr des Verdrängten hat Freud im Zusammenhang mit Kultur und Religion untersucht (insbesondere in: Das Unbehagen in der Kultur, 1929-1930) und Totem und Tabu, 1913). Vgl. auch Frank, 1982:26. 83 Jungs kollektives Unbewußtes war in dieser Hinsicht prägender als die Konzeption Freuds. Zu den ideologischen Problemen, die mit dem Begriff des kollektiven Unbewußten verbunden sind, vgl. René Welleks Kritik, es handle sich um eine racial memory (1963:336).

63 thologischen Komponente keine wesentliche Rolle spielt und die anthropologischen Mythosbegriffe vornehmlich im europäischen wissenschaftlichen Diskurs von Bedeutung erscheinen, nimmt unter den eigenen Entwürfen der americanidad die Deutung des Mythos als eines alternativen Werkzeugs der Erkenntnis die wichtigere Funktion ein. Die hispanoamerikanische Kultur hat sich die im abendländischen Diskurs der Philosophie bestehende Opposition zwischen Mythos und Logos zu eigen gemacht und darin eine Möglichkeit gesehen, mit einem mythisch begründeten, alternativen discurso del mètodo84 in den Dialog der Kulturen einzutreten. Aus diesen Gründen soll im folgenden nach einer solchen bewußtseinsphilosophischen Perspektive des Mythos gefragt werden. Zwei Autoren stehen zur Diskussion: Ernst Cassirer und André Jolles.

2.2.2 Die mythopoetische Perspektive des Ursprungsmythos: Mythos als Werkzeug der Erkenntnis und des Bewußtseins Als ältester Ansatz der Mythostheorie ist die philosophische Mythosdiskussion seit Piatos Zuordnung des Mythos zum Bereich der poiesis mit der Frage nach Erkenntnis und Ästhetik verknüpft. Die Aufwertung der poiesis durch Giambattista Vico85 im 18. Jh. leitet das mythopoetische Paradigma der Erkenntnisphilosophie ein, das nach Vicos Entdeckung der Erkenntniskraft der Sprache von der Romantik aufgenommen und vertieft wurde. Es ist im wesentlichen eine Errungenschaft der Romantik84, die Erkenntnis bevorzugt als ein ästhetisches Vermögen und den Mythos als eine Methode der schöpferischen Annäherung an die Wirklichkeit definiert zu haben. Unter den späteren Ansätzen, die das mythopoetische Paradigma wesentlich vorangetrieben haben, gilt Ernst Cassirer insoweit als einer der interessanteren, weil er die Bedeutung des Mythos für die Kulturwissenschaft erkennbar gemacht hat87. Bei seinem Programm, die "Einheit des schöpferischen Kulturprozesses" philosophisch zu untersuchen (1960), mißt Cassirer dem Mythos eine wesentliche Rolle für den Aufbau einer anderen Logik als der rationalen zu: Der Mythos, die Sprache, die Religion, die Dichtung: das sind die Objekte, die der menschlichen Erkenntnis wahrhaft angemessen sind. Und auf sie blickt Vico in erster Linie im Aufbau seiner 'Logik' hin. Zum erstenmal wagt es die Logik,

84 Die Nobelpreisrede von Gabriel García Márquez wurde als ein neuer discurso del método gegen die cartesianische Grundlage des abendländischen Rationalianus ausgelegt (Méndez, 1982/1893). Vgl. auch Kap. m. 85 Auf Vicos Scienza Nuova ist die Einschätzung der synthetischen Natur der mythischen Einbildungskraft zurückzuführen. Vico zufolge faßt die Einbildungskraft das zusammen, was die Vernunft auseinanderlegt, womit sich eine Weltsicht zu eröffnen vermag, die für das abstrahierende Denken unzugänglich ist. 86 Zu den wichtigsten Ansätzen der Romantik vgl. Kerényi (M982) und Manfred Frank (1982). Auf letzteren wird naher eingegangen. 87 K. Neumann zufolge finde man in Cassirers Werk, das auf eine universale Semiotik hinzielt (1973:138) alle methodologisch relevanten Elemente einer Kulturanthropologie in ihrem heutigen Selbstverständnis (139).

64 den Kreis der objektiven Erkenntnis, den Kreis der Mathematik und Naturwissenschaft zu durchbrechen, um sich stattdessen als Logik der Kulturwissenschaft, als Logik der Sprache, der Poesie, der Geschichte zu konstituieren (1989:10). Die von der Romantik vollbrachte Verknüpfung des Mythos mit der Symbolik" bereitet die Bedingung dafür vor, daß Cassirer bei der Behandlung des Mythos als Symbolische Form die These der Defizienz89 des Mythos innerhalb des philosophischen Diskurses umzukehren vermochte. Die maßgeblichen Argumente Cassirers können folgendermaßen zusammengefaßt werden: Als "vor-analogischer, mimischer Ausdruck", in dem Zeichen und Designatum zusammenfallen90, funktioniert der symbolische Prozeß im Sinne des magischen Gebrauchs der Sprache91, wobei mit dem Magischen die Umsetzung einer von der Phantasie entspringenden Kraft gemeint ist (1960:96). Dies begründet die Nähe von Mythos und Dichtung, die durch Cassirer wegen der gemeinsamen Fähigkeit zur poetischen Kreativität vereint werden. Die Erkenntnisleistung der Dichtung gehe auf das Weiterbestehen ursprünglicher mythischer Formen in der Kunst zurück, denn, obgleich der Mythos ein Produkt der Imagination ist (1960:95-96), ist er zu logischen Operationen befähigt: "Im Mythos ist ein theoretisches Element mit einem künstlerischen verknüpft." (1960:97). Der zugleich festgestellte Unterschied zwischen Mythos und Kunst ist wesentlich: Mit Rekurs auf Kants Definition des ästhetischen Urteils, das als interesseloses Wohlgefallen gegenüber der Existenz eines Gegenstandes indifferent ist, unterscheidet Cassirer Kunst vom Mythos dadurch, daß letzterer mit der Wissenschaft ein gemeinsames Ziel habe: die Realität (1960:97)92. Ist indes Wissenschaft eine Denkoperation, so handelt es sich beim Mythos um einen Glaubensakt93. Mit letzterem begründet Cassirer einen auch gegenüber der Wissenschaft bestehenden Vorteil des Mythos, nämlich die sich die Sinnesqualitäten zunutze machende synthetische Anschauung94. Mit Rückgriff auf John Deweys "Erfahrungswelt" wird den Sinnesqualitäten die Möglichkeit zugeordnet, in sich "die Fülle der Wesensmerkmale der Welt" zu enthalten und damit das Gefühl - und nicht das Denken - als das eigentliche Organ der Erkenntnis zu nutzen (1960:101). Wie bedeutend der Einfluß Cassirers auf weitere philosophische Auslegungen der mythopoetischen Funktion von Dichtung ist, wird etwa bei der Theorie der kreativen Metapher von Paul Ricoeur deutlich (1975), dessen 88 Kreuzer (1819), K.O. Müller (1825). 89 Vertreten von Max Müller, gegen den Cassirers Mythostheorie gerichtet ist. 90 In Cassirers Terminologie: Zeichen und Anschauungsinhalt (.Philosophie der Symbolischen Formen [PSF], (1989(1923-1929], 11:284). 91 Gemeint ist eine Gleichsetzung von Wort und Sprache. Die reine Existenz des Wortes ist die Demonstration von dessen Wahrheit und Wirkung (vgl. z.B. Bubnova. 1987:102). 92 Cassirer spricht deswegen auch von einem "doppelten Gesicht" des Mythos: "Einerseits zeigt er eine begrifflichlogische, andererseits eine ontologischc Struktur" (1960:98). 93 Ein mit der Religion gemeinsamer Aspekt (1960:97). 94 Im Kantischen Sinne.

65 Begründung der vérité métaphorique, d.h. der metaphorischen Erkenntnisleistung, der vorangehenden Argumentation wesentlich verpflichtet ist95. Als "mimetischer Ausdruck" operiert zunächst Cassirers Mythos-Begriff referentiell und beschreibt das Verhältnis des Mythos zur Wirklichkeit. Als Vorstufe96 zum analogen und symbolischen Ausdruck in Sprache und Wissenschaft ist die symbolische Fom des Mythos in Cassirers Bewußtseinsphilosophie an die Erkenntnisfrage gebunden. Das mythische Denken wird dabei zwar noch als ein Werkzeug beschrieben, dennoch ist die Rückführung der Modalitäten der Form des Mythos auf die energeia97 des Ritus98 ein wichtiger Aspekt des Gestaltens als Prozeß99. Die mythische Form organisiert das Chaos der Welt in Augenblicken von Bewußtseinskrisen, in denen das Subjekt durch die Einheit mit der Daseinssphäre (PSF II: 284) aus den Dingen Kraft schöpft100. Aus den vorangehenden Aspekten des Mythos als symbolischer Form gehen die von der Theorie Cassirers gebotenen Ansätze hervor, auf deren Grundlage das mythische Denken seitens der hispanoamerikanischen Kultur mit der gestalterischen, autochthonen Kraft von Kultur identifiziert und zu einer wesentlichen Komponente des eigenen Bewußtseins erhoben werden konnte101. Besonders auf die gemeinschaftssinnstiftende Kraft des Ritus in Krisensituationen wird Bezug genommen102. Cassirers Interesse richtet sich auf die Seite der Sprachtheorie Humboldts, die mit der energeia das Gestalrungsmoment des Mythos betont Dies war zwar ein für die Aufwertung von Mythos und Kunst im Bereich der Erkenntnisphilosophie historisch wichtiger Schritt; das pragmatische Resultat der mythischen Weltsicht - verstanden als ergon - bleibt bei Cassirer unberücksichtigt. Die Differenzierung zwischen beiden Momenten des Mythos

95 Ricoeur geht explizit auf Cassirer ein (bes. 1975:310f.). Vgl. auch Vf., 1985. 96 Dies gilt natürlich nicht in Mitogenetischem Sinne, sondan als gleichzeitig existierende kulturelle Formen (bspw. 1989:11). 97 Wilhelm von Humbolls Begriff der Sprache als einer "Energie des Inneren, die sich in einem Äußeren ausprägt und objektiviert" (PSF 1,25) ist der methodische Ausgangspunkt Cassirers (vgl. Neumann, 1973:138). 98 Die Klarstellung der symbolischen Kraft des Ritus ist eine der wichtigen Errungenschaften von Mythostheorien. Ich vsrweise etwa auf Lévi-Strauss' Untersuchungen zu den Masken (1977). 99 Frank zufolge unterscheidet Cassirer, ebensowenig wie Blumenberg, zwischen "magisch-substantialer und mythischpolarer Struktur", weil er die Definition des Mythos an einer ursprünglichen Zeit des Festes und des kultischen Aktes festmacht. Danach umgibt sich die mythische Erzählung "mehr und mehr mit Reden, die sie erklären, die aber auch die Tendenz haben, sich von ihr abzuheben und in selbständigen Traditionen fortzuleben, z.B. in der großen epischen Dichtung der Antike, die als solche durchaus nicht mehr kultisch rückgebunden ist". Frank trennt somit zu Recht zwischen Mythos und mythischem Diskurs, was er am Beispiel attischer Mythen illustriert (1982:87f.). Darauf wird in Abschnitt 2.1.4 eingegangen. 100 Im mythischen Denken sind in den "Namen der Gegenstand und seine Kräfte enthalten; sie bezeichnen nicht, sondern sind und wirken" (PSF 111:53). 101 Die spanische Obersetzung von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen II. Das mythische Denken erschien 1947 in México im Verlag Fondo de Cultura Económica. 102 In der integrativen und solidari tätsstiftenden Wirkung wird z.B. eine wichtige pragmatische Funktion des Mythos als "Begründungsrede" der kubanischen Revolution gesehen (Gewecke, 1990:75). Darauf wird unter 2.1.4 eingegangen.

66 ist aber unumgänglich, will man die pragmatische Wirkung mythischer Identitätsdiskurse besonders in Hispanoamerika erfassen.

2.3 Die Ambivalenz des Mythos: Jolles Mythe vs. Mythus Das literaturphilosophische Konzept der Einfachen Form des Mythos von André Jolles (1930) bietet Ansatzpunkte für eine kritische Perspektive: Jolles teilt mit Cassirer zwar den auf W. von Humboldt zurückgehenden sprachidealistischen Ansatz und damit die Anknüpfung des Mythos an die formende Kraft der Sprache -in Jolles Terminologie die "Geistesbeschäftigung" -, für die der Begriff Mythe gewählt wird: die Mythe drückt die "stilltätige unbewußt wirksame Kraft" des Gestaltens (94) und somit die energeia des Mythos, d.h. den Prozeß, aus. Jolles geht indes auch auf die bei Cassirer ungeklärte Ambivalenz zwischen dem Akt des Gestaltens und den gestalteten Objekten ein: In der Konzeption des Mythus als "vergegenwärtigter Form", die eine jeweilige historische Objektivation des Bildens meint, gilt Mythos als ergon. Damit bekommt Jolles den Mythos als bestimmten historischen Diskurs in den Blick. Eine derartige Unterscheidung, die von Jolles in sprachidealistischem Sinne gemeint ist, erlaubt es, die Ambivalenz mythischer Diskurse103 zu charakterisieren, und neben der mythopoetischen auch eine mythenkritische Perspektive einzuführen. Ein erster Schritt ist die von Jolles gesehene Notwendigkeit, den Begriff des Mythos von der Subjekt- und Eikenntnisphilosophie zu trennen, in der dagegen Cassirers neukantianischer Standpunkt verwurzelt ist. Jolles geht nicht nur von der Kritik an dem Begriff der Erkenntnis als Unterwerfungsakt des Objektes durch das Subjekt104 aus, sondern er zeigt die manipulative Kraft einer dritten Variante der mythischen Forni, die als bezogene Form bezeichnet wird. Diese kompensiere durch Analogieschritte das Nicht-Wissen über die Welt, gebe sich aber dabei als "wahrsagende Form des Mythos" aus105. Die Gefahr der sich daraus ergebenden demagogischen Verwendung der mythischen (bezogenen) Forni als Kompensation eines "Willens zur Erkenntnis" wird von Jolles in Klartext ausgesprochen106:

103 Im Sinne Foucaults. 104 " E r k e n n e n und E r k e n n t n i s als Vorgang, der Wille, die Welt von sich aus aktiv zu verarbeiten, das Hineindringen in die Welt, um selbst Einsicht in ihre Beschaffenheit zu gewinnen - jener Vorgang, bei dem nicht Gegenstande sich schaffen, sondern bei dem sie erzeugt werden, er ist es, der mit der Mythe in aufhfiriicher Fehde lebt" (1982[1930]:102). 105 "Die Geschichte [...] stammt von einem Menschen, der bestiebt ist, eine von ihm beobachtete Erscheinung, die seine Neugierde geweckt hat, zu deren Erklärung jedoch seine Kenntnisse nicht ausreichen, nach der Art der Mythe, in der Form eines Mythus zu erläutern [...] ein Mythus, der nicht eigentlich wahr-sagt, sondern der abgeleitet und dadurch nur wahr-scheinlich ist" (109). 106 Sokrates' "Ironie" gilt für Jolles als Zeichen eines dialogischen Prozesses, in dem die Mythe "gegen den Willen zur aufklärenden Erkenntnis ringt" (111/112), während die Scholastik, die ancilla iheotogiae, als Beispiel für eine mit dem bezogenen Mythos arbeitende Erkenntnispraxis angeführt wird (112).

67 Erkenntnis mit der Maske der Mythe und die Mythe in der Larve der Erkenntnis sind sozusagen gern gesehene Erscheinungen bei dem Mummenschanz des menschlichen Denkens (111). Jolles' Konzept der Mythe als "Wahr-Sagung" entstammt einer Cassirer analogen Beobachtung des sog. magischen Zeichengebrauchs im Mythos. Während für Cassirer aber der Prozeß der Wahrsagung mit der Konstitution des Selbstbewußtseins verbunden ist, bedeutet Jolles' mythische Offenbamngsthese eine bei der Mythe vorauszusetzende Unterwerfung des Bewußtseins gegenüber der sich in der Wahr-Sagung öffnenden Welt. Das Konzept der Mythe rückt in die Nähe der Mystik107. Es ist umgekehrt die bezogene Form, die sich von der Physis abwendet und einen "künstlichen" Mythos herstellt, der den Schein der "natürlichen Wahrheit", d.h. einer unmittelbaren Beziehung von Zeichen und Welt, lediglich vortäuscht108. Jolles' Unterscheidung zwischen den Formen des Mythos ist eine erste deutliche Hervorhebung der dem Mythos innewohnenden Ambivalenz, und zwar als epistemischem Objekt, das der Subjektkonstitution unterworfen ist, oder als Prozeß eines sich der Welt öffnenden Bewußtseins. Hinter der Erscheinung des Mythos als einer Form selbsttätiger Offenbarung der Welt kann sich ein Erkenntnissubjekt verbergen, das die Welt zum Objekt der Episteme reduziert Die Ambiguität der pragmatischen Funktion mythischer Strukturen109 stellt sich bei einem besonderen, allen präkolumbischen Völkern Mesoamerikas gemeinsamen Mythos der ewigen Wiederkehr, ausgesprochen problematisch dar. Der Mythos der Wiederkehr des Gottes Quetzalcöatl, der sich als Gründungsgott der Tolteken für die Rettung der Menschheit geopfert haben soll und zurückerwartet wird, bietet Ansätze zur Mischung der indianischen Mythologie mit christlichen messianischen Komponenten und zum Entwurf von Identitätsutopien. Die nachfolgenden Überlegungen werden sich aus diesem Grunde mit dem Mythos der Wiederkehr und seiner Ambiguität in Bezug auf die Bildung von Bewußtseinsformen befassen. 107 Auch bei Jolles, wie bei Cassirer, ist der Mythos eine Anschauung des heiligen Raums, womit die Inhalte des mythischen mit dem religiösen Bewußtsein verknüpft sind (PSF II: 117 f.), jedoch bei Jolles im Sinne der Mystik. 108 Roland Barthes deckt ein ahnliches Phänomen auf, wobei allerdings in Baithes' argumentativem Kontext die Kritik vornehmlich an die Adresse des Bürgertums geht Ein wichtiger Beitrag der Mythologien ist es, die Mechanismen gezeigt zu haben, die die ideologische Manipulation der Wirklichkeit (anti-physis) unter einer natürlichen Repräsentation der Realität (pseudo-pkyäs) verschleiern. Die Verkehnmg von artificium in Pseudonatur gelingt durch den Evidenzcharakter des mythischen Bildes, das keiner Erklärung bedarf (1957:230231), weil es durch eine von allen Mythosdefinitionen postulierte - Identität zwischen Zeichen und Welt garantiert wird. Der Mythos entwickelt eine Metasprache. 109 Caillois trennt ebenfalls den Mythos von der Erkenntnis, warn er mit Mythos die Identifikation von Ich und NichtIch, bzw. von Bewußtsein und Welt verbindet, wahrend das magische Zeichen entsprechend Frobenius' Definition der Magie zur Affirmation des Subjektes als Harscher aber die Welt dient. Im Vorwort zu seinem Le mythe et l'homme (1938) fuhrt Caillois folgende von Frobenius übernommene Unterscheidung von Mythos und Magie: "II est évident que le merveilleux apparaît dans les créations spirituelles, dans la poésie et dans les contes de l'humanité comme un phénomène mystique né de l'abandon, le magique provenant par contre du besoin primitif du moi de se dégager de la réalité insaisissable et d'acquérir la puissance à l'aide de la magie"; zit. nach Caillois (1972[1938]:8f.).

68 2.3.1 Kulturelle Ambivalenz des Mythos der Wiederkehr: Mythopoetische vs. mythenkritische Perspektive Es scheint mir zunächst wichtig, auf die Bedeutung des Mythos der Wiederkehr für die Kulturwissenschaft am Beispiel von Mircea Eliade hinzuweisen. Ein besonderes Verdienst Eliades war es, die mythische Fundierung philosophischer Geschichtsbegriffe aufzudecken, mit dem Ziel, sich gegen Hegels Geschichtsphilosophie des dialektischen Fortschritts zu wenden (1986:102). Mit dem Abbau der Dichotomie zwischen Naturmythos und Geschichte kann die Opposition zwischen archaischen und modernen Gesellschaften nicht weiter als distinktives Merkmal der Kultur gelten. Diese These ist besonders relevant im Hinblick auf die häufig angenommene Opposition zwischen einem historischen Bewußtsein im Abendland und dem vermeintlich mythischen Bewußtsein derhispanoamerikanischen Kultur. Es überrascht, daß die Folgen von Eliades These bei der Identitätsdiskussion wenig Berücksichtigung fanden und einflußreiche Autoren110 den Diskurs der Polarität zwischen Abendland und Lateinamerika verfestigen, statt ihre Unhaltbarkeit zu zeigen. Der Mythos der Wiederkehr des Gottes Quetzalcöatl übt eine nahezu uneingeschränkte Faszination im Bereich mexikanischer Identitätsdiskurse aus. Die mythopoetische Interpretation111 der Wiederkehr eines ursprünglichen Gottes wird zum Baustein einer utopischen Identität, in der teilweise die Erscheinung des Mythos eine manipulative Funktion mit der erheblichen kulturellen Folge einnimmt, die Verarbeitung des eigenen historischen Prozesses zu hemmen. Unter den Autoren, die die Ambiguität des Mythos der Wiederkehr ausführlich untersucht haben, bietet Manfred Frank interessante Perspektiven an: In seiner Vorlesung über den Mythos des Kommenden Gottes (1982)112 behandelt Manfred Frank die Ambivalenz des Dionysos-Mythos ausgehend von der Analyse von Ernst Bloch113 im Hinblick auf Nietzsches zwiespältige Version einer Dionysos-Renaissance und deren Rezeption während des Faschismus. Es handelt sich um eine Ambivalenz der utopischen und regressiven Seite des dionysischen Mythos114, die zweierlei Formen von Wirkung der Vergangenheit im Bewußtsein hervorruft: Dionysos als Zeichen der ««-gewordenen oder der «r-gewordenen Geschichte. Ersteres verbindet Mythos mit

110 Ich beziehe mich auf die Utopie einer synkretislischen Identität der hispanoamerikanischen Kultur, die das utopische Potential des Abendlandes und die "mythische' Perspektive des autochthonen Kulturelements - gegen das Fortschrittsdenken des Abendlandes - vereinen soll (z.B. in Fuentes Tiempo meacano - vgl. meine Kritik in 1992b). 111 Die mythopoeotische Interpretation tilgt tendenziell die Trennung zwischen Dingen und Diskurs. Das Zeichen wird nicht als Stellvertreter einer Wirklichkeit, sondern als ihre Manifestation gesehen. Die Geltung der (poetisch gestifteten) Wirklichkeit ist somit absolut Mythopoetische Interpretation steht in Kontrast zu dem hier zugnindegelegten Ansatz, der die poetisch-kritische Funktion von Literatur ins Bewußtsein heben möchte (vgl. 2.3). 112 Mit dem Mythos des wiederkehrenden Gottes Dionysos interpretiert Manfred Frank das neuerweckte Interesse am Gebrauch mythischer Sprache im 20. Jahrhundert 113 In Erbschaft dieser Zeil (Neudruck 1973, zit nach Frank, 1982:28). 114 Frank fügt zur Kritik Ernst Blochs die von Thomas Mann hinzu: "Rhetorik, erregter Wortwitz, gequälte Stimme und zweifelhafte Prophetie, ein Schemen von hilfloser Grandezza oft rührend und allermeist peinlich" (1982:39).

69 Utopie115 und ist - so Bloch - "utopisches Licht begriffener Zuktinftigkeit"116, während das Zweite den Mythos als eine vollendete, vergangene und die Gegenwart regressiv bestimmende Geschichte dem Bewußtsein aufgibt117, Unterschiedliche Formen der Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft im Bewußtsein der Gegenwart bestimmen die Bewertung der kulturellen Wirkung vom Mythos: Im Falle der un-gewordenen Geschichte stehen sich Vergangenheit und Zukunft in einer sich wechselwixkend relativierenden Bewegung gegenüber, so daß die Utopie des kommenden Gottes ein zeitlich und räumlich uneinholbares Ziel wird. Dieser utopisch transformierte Mythos impliziert die Energie des mythopoetischen Gestaltens, ohne sich in abgeschlossenen Repräsentationen von Wiiklichkeit zu verfestigen. Die Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft im utopischen Mythos verhindert, daß sich die Auslegung des Mythos in der Form einer ursprünglich wahren Gestalt fixiert und der Gegenwart den Schein einer ewigen Sinnevidenz verleiht. Die zweite Auslegung idealisiert dagegen den Zeitpunkt des Anfangs als vollendete Geschichte menschlichen Ursprungs, so daß der Mythos die regressiv wirkende Gestalt des urtümlich Wahren erhält11®. An dieser Ubermächtigen Form der Fixierung archaischer Strukturen sind Anstrengungen historischen Denkens zum Scheitern verurteilt. Letztere Feststellung macht die Notwendigkeit einer mythenkritischen Perspektive deutlich119. Die kritische Reflexion über die Nostalgie nach dem Mythos der Wiederkehr und über dessen Erbe in der Jetztzeit150 bewahrt möglicherweise davor, daß die Vergangenheit zur Unzeit wieder hochgespült wird (1983)121. Trotz der an den Anfang seiner Überlegungen gestellten Ambivalenz des Mythos der Wiederkehr legt die Argumentation Franks zunehmend den Akzent auf die utopische Seite des Dionysos-Mythos; ein Akzent, der durch Franks Konzentration auf

1 IS "Das 'Un-vergangene', weil nie ganz Gewordene', sagt Emst Bloch, weist als 'utopischer Inhalt' Ober die Grenzen des Jetzt hinaus und ist 'daher bleibend subversiv" (Erbsclaft dieser Zeit, 126, ziL nach Frank, 1982:36). 116 Frank (1982:36). 117 Die Bezeichnung Ur-Geschichte bezieht sich dabei auf Klages' Interpretation des Dionysos gewissermaßen im Sinne eines "Statthalters des Gewesenen/Urtümlichen". Bloch zufolge wird in Klages Vom kosmogonischen Eros (Jena 1930) der dionysische Zustand, in dem der menschliche Urspring nachhallt, im Sinne eines unberührten Anfangs gesehen (Frank, 1982:31). 118 In Das Prinzip Hoffnung (19S9) denkt Bloch Gegenwart als dialektischen Prozeß aus Gewesenem und Kommenden, wodurch das Jetzt utopische Züge erhält 119 "Mythenkritisch" meint nicht eine aufklärerische Kritik des Mythos zugunsten des Logos, sondern die Offenlegung der Bedingtheit beider. Insoweit deckt sich dieser Begriff mit dem von W.B3erg (1991) an Cortizars 62. Modelo para armar entwickelten Begriff der "mythopoetischen Dekonstmktion". 120 "Jetztzeit" ist nicht bloß ein chronologischer Begriff, sondern impliziert auch den weltanschaulichen und semantischen Horizont, der den "Blick auf die Vergangenheit vor-formt und unhintergehbar vor-informiert". Aus diesem Grande nennt Gadamer jedes Verständnis von Mythen ein "Sich-Verstehen" im Sinne einer kritischen Bewußtwerdung (Frank, 1982:28). 121 Frank bringt diese Warnung Blochs in Zusammenhang mit der Forderung Benjamins an den Historiker, "der kritischen Konstellation sich bewußt zu werden, in der gerade dieses Fragment der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befindet" (Ges. Schriften II, Ffm. 1977,467/8, ziL nach Frank, 1982:27).

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die Friihromantik bedingt ist122. Im Gegensatz dazu ist es mein Bestreben, die von Bloch aufgezeigte, in der Ambivalenz des Mythos enthaltene Gefahr der unbewußten regressiven Wirkung zu vertiefen; eine Ambivalenz, die in meinem Untersuchungsgegenstand, dem Mythos des wiederkehrenden Gottes Quetzalcöatl und des verlorenen Paradieses im mexikanischen Identitätsmodell, besonders ausgeprägt ist.

2.3.2 Die Urzeit zur Unzeit: Kritische Anmerkungen zu arche und telos in mythischen Utopien hispanoamerikanischer Identität Die Metaphorik der Blochschen Paradigmen führt bei der Frage nach den kulturellen Folgen des Wiederkehrmythos weiter: Die Wiederkehr des Vergangenen in Form einer unabgeschlossenen Utopie, für die Bloch optiert123, kann zur Relativierung stabiler Bedeutungen der Gegenwart führen. In diesem Sinne hat der Mythos der Vergangenheit eine energetische, aber auch kritische Funktion. Dazu braucht der Mythos die distanzierende Bewegung der Utopie, wie auch die Utopie die Rückkehr zur Vergangenheit benötigt, wenn die Repräsentation von Welt nicht auf einen zukünftigen Zeitpunkt festgelegt werden soll. Beides bewirkt, daß die energeia, die dynamische Kraft des Mythos, erhalten bleibt. Diese impliziert auch erkenntnisJkrj'r/sc/iei Potential124. Mythische Strukturen, die im Sinne einer ur-gewordenen Geschichte funktionieren, sind dagegen als Ergon, als abgeschlossenes Weltbild zu denken, das zur metaphysischen Fundierung und Festigung gegenwärtiger Bewußtseinsinhalte instrumentalisiert werden kann'23. Der Mythos wird dabei zu einer Wertkategorie, die "nicht an sich selbst wahr ist, aber sich auf geschichtliche, philosophische oder sittliche Wahrheiten indirekt beziehen kann" (Frank, 1982:115)126. Die Wiederkehr von Mythen konsoli-

122 Die mythenkritische Perspektive bleibt zwar präsent, jedoch nur als sekundäre Rechtfertigungsstrategie für Franks transzendentales, von der Romantik gewonnenes Mythosmodell - etwa wenn Frank auf die Aufklärungskritik und die Kritik der mythischen Fundierung der Aufklärung durch Horkheim er und Adorno (Dialektik der Abklärung, 1944) Bezug nimmt eine mythische, weil systeminterne Legitimation, die keine Transzendenz mehr zuläßt (1982:118ff.). Unter dieser mythenkritischen Perspektive erscheint das Denken in Kategorien der Transzendenz als Grenzerfahrung dringend nötig, ganz besonders nach den Enthüllungen Foucaults Ober die die Irrenhäuser füllenden Verdrängungen durch die "große Umarmungsgeste der universellen, zeitlos gleichen Vernunft" (140). 123 Vgl. auch die Analyse des Blochschen Utopie-Modells durch Schwarz (1987:41f.). 124 Von dieser These geht auch Heinz Gockels Versuch aus, durch eine Aufarbeitung der Rolle des Mythos in Aufklärung und Friihromantik die falsche Alternative von Kritik und Mythopoiesis aufzuheben (1981). 125 Etwa im Sinne des technischen, funktionalisieiten Mythos nach Kergnyi. 126 In der Linie der Warnung Blochs und der AufUamngskritik von Horkheimer/Adomo ist die Aufforderung Kolakowskis (1973) an die Wissenschaft zu sehen, die Nostalgie nach dem Mythos nicht zu verdrangen, sondern für die wissenschaftliche Erkenntnis zu nutzen. Blumenbergs Aufwertung des Mythos (1979) erfolgt dagegen von einem Cassirer nahen mythopoetischen Standpunkt aus. Wahrend jedoch Cassirer zwischen Kunst und Mythos unterscheidet und der Kunst eine kritische Funktion gegenüber dem mythischen Bewußtsein zuordnet, sieht Blumenberg im Kunstmythos eine ästhetische Steigerung der schöpferischen Kraft des Grundmylhos.

71 diert und tradiert in stabiler Weise Bewußtseinsinhalte127, die als überholt gelten sollten. Die pragmatische Folge ist die Restauration vergangener Werte, die von anderen sozialen Umständen motiviert waren und kulturelle Spannungen unter dem Einheitsbild des Mythos neutralisieren. Mit dem Mythos der Wiederkehr als "Statthalter der Geschichte" festigt sich der Mythos zum Wahrheitsdiskurs128, der eine soziale Ordnung "begründet und beglaubigt" und eine wertverleihende129 Rechtfertigung voraussetzt (Frank, 1982:110). Als Ganzheitsmodell, das nicht hinterfragt werden muß und mit dem Sakralen verbunden ist, impliziert es eine Sicherheit, in der sich die metaphysischen Inhalte durch den Mythos bruchlos weitertradieren130. Letztere These einer metaphysischen Fundierung von Ganzheitsdenken, das sich als Diskurs verfestigen und auf moderne Gesellschaftsformen problematisch auswirken kann, wird auch von den Ergebnissen der Anthropologie bestätigt, etwa wenn Mircea Eliade darauf hinweist, daß die mythische Fundierung historischen Bewußtseins der Geschichte einen Wahrheitscharakter und "einen tieferen und reicheren Sinn" verleiht (1986[1953]:60) und erst die Evidenz des "gegenwärtigen Augenblickes" (70) konstituiert. Der Mythos mache die Geschichte "wahr", weil er sie mit dem Paradies und der "Perfektion der Anfänge" verbindet, deren Glauben nicht zerstört werden kann. Gepaart mit dem Ritual sei der Mythos am Bereich des Heiligen beteiligt und übertrage der Wahrheit der Geschichte einen absoluten Charakter (23) m . Vergleichbare Überlegungen finden sich bei dem russischen Ethnologen E. Meietinski, wenn er ausgehend von der modellierenden Funktion des Mythos die metaphysische Bindung der Gesellschaft an die Natur und das daraus entstehende ideologische und ethische System von Werten hervorhebt (Bubnova, 1987:112f.). Blochs Verdienst war es, das Heimtückische am Mythos mit Nachdruck nachgewiesen zu haben, nämlich daß der Mythos potentiell in der Erscheinung des Ursprünglichen mit der Wirkung des urtümlich Wahren auftreten kann. Es ist ein interner Widerspruch zwischen Form und Wirkung, die auch in Jolles' Begriff der 127 Die Wirkung des Mythos als Kategorie der Evidenz und der unmittelbaren Wafccheit ist eine in den Theorien mehr oder weniger implizierte Schlußfolgerung, die aus der Entstehung des Mythos aus sakralen Riten gezogen wird. Mircea Eliade weist bspw. darauf hin, daß der das historische Bewußtsein bestimmende Mythos des Ursprungs auch der Geschichte einen absoluten Charakter verleiht (1986[1949]:23,60, 70 und 129f.). 128 Der Mythos wird zum Komplizen der Vernunft bei der Bildung von Wahrheitsdiskursen, die sich als unmittelbaren, natürlichen Zugriff zur WirklicNceit ausgeben (vgl. Barthes, 1937:232t). 129 Auch Barthes (19S7:233f.). 130 Damit begründet Jacques Denida die Kritik am mythischen Substrat in Metaphern (1974:213), ein besonders für den Diskurs der Philosophie geltendes Problem, das die Notwendigkeit erklärt, mit der "weißen Mythologie" die Rückseite des Palimpsestes zu suchen. Damit sind jene Geräusche und das nebelhafte Licht der Genesis jenseits der Fixierung durch Diskurse von Ursprung, Subjekt und Wahrheit gemeint. 131 Eliades Interpretation einer solchen Funktionsweise des Mythos ist indes "mythopoetisch" und nicht kritisch, was auch darauf zurückzuführen ist, daß seine Argumentation gegen ein "dekadentes" Abendland gerichtet ist, das mit dem Verlust des Mythos auch ein "endgültiges Verlassen des Paradieses der Archetypen und der Wiederholung", aber auch die Zerstörung des Bewußtseins und das Ende des unheilshamen Verlaufs der Geschichte auf sich nehmen würde (176). Die Bewertung des Mythos als "heilsames" Mittel gegen die Dekadenz ist auch im Sinne der Kritik Eliades am Mythosbegriff von Freud zu sehen.

72 "bezogenen Form" deutlich wurde. Nur illustrativ soll im Folgenden die Perthenz einer Kritik der subtilen Suggestionskraft des Mythos in hispanoamerikanischen Identitätsdiskursen angedeutet werden: Am Beispiel der kubanischen Revolution und auf der Grundlage obiger Überlegungen von M. Frank weist Frauke Gewecke die Wirkung von Ursprungsmythen als Begründungs- und Beglaubigungsreden132 auch in Diskursen nach, die sich, wie die der kubanischen Revolution, ausdrücklich auf geschichtsbewußtes Handeln berufen und sich von Mythen als residualen bzw. reaktionären Kategorien abzusetzen versuchen (1990:76). Dabei mündete auch in der kubanischen Kultur die anfängliche Vitalität und positive Wirkung des revolutionären Ursprungsmythos in eine reine Legitmierungsfunktion ideologischer bzw. identitätsstiftender Fortschrittsreden ohne empirisches Korrelat (1990:92-93). Das Problem einer heimtückischen Suggestion des Mythos tritt bei mythischer Auslegung von Utopien noch deutlicher auf. Wenn der Mythos eines urtümlichen Paradieses in eine zukünftige Zeit verlegt wird, dann werden Mythoi und Utopie zu ideologischen Werkzeugen: Der Urmythos suggeriert die Wahrheit einer zukünftigen Zeit und lenkt von der kritischen Verarbeitung von Geschichte und Gegenwart ab. Eben dies scheint mir die Tendenz utopischer hispanoamerikanischer Identitätsdiskurse zu sein. Die allgemein vertrete Auffassung, "utopisches Derken" charakterisiere das "Sosein" Hispanoamerikas, ist Beispiel mythischer Auslegungen des Utopie-Begriffs. Ein solcher Wesenszug schlage sich, so etwa Sabine Horl-Groenewald, im hispanoamerikanischen Essay133. Die Autorin geht zwar ausgerechnet vom Blochschen Utopie-Begriff im oben gemeinten Sinne aus134: doch dominiert in der weiteren Anwendung des Begriffs eher der mythopoetische, prospektive Aspekt (VOR), während die andere Bewegung, d.h. die Relativierung der Geger.wart (SCHEIN), unterdrückt wird'35. Als Folge übernimmt Horl-Groenewald unkritisch die mythopoetische Auslegung der Mestizienmgsthese als eine in der gegenwänigen Repräsentation realisierte Utopie der Zukunft136. 132 Diskursstrategien setzen den Mythos des revolutionären Ursprungs der kubanischen Gemeinschaft als absdut dar. Diese sind etwa nationale Symbole, sakrale Sinnsetzungen und Ursprünge des Gemeinwesens, Erlebnisberichte u.a.m. (Gewecke, 1990:81). Es wird sich zeigen (Kap. VI), daß der Ursprungsdiskurs der kubanischen Revilutkm und der Diskurs der Wiederkehr des "wahren" (indianischen) Ursprungs der mexikanischen Revolution zu vergleichbaren pragmatischen Wirkungen fuhren. 133 Zu einer anderen Einschätzung kommt Vf. (1992b). 134 "So läßt die Gegenwart auch Tendenzen antizipatorisch in sich 'aufscheinen', das Kunstwerk, indem ei diese Tendenzen sozusagen festhält, ist 'VOR-SCHEIN' des Kommenden" (1986:51)". Die Autorin bringt den Bioaschen Utopie-Begriff mit Benjamins Begriff des Augenblicks als "Stillegung des Geschehens", d.h. als Bnch, in Zusammenhang (1986:51). 135 Mit der Unterdrückung des Scheincharakters utopischer Bilder blendet die Autorin auch die Benjaninsche Auffassung des Augenblicks aus. 136 "Durch das zweifache Eibe geprägt, entwickelt sich der 'amerikanische Mensch' als Überwindung dieses Dtulismus und als dessen Oberhöhung: als der 'ästhetische', d.h. der vollkommene Mensch [...]: der Prozeß der Ideititätsfindung mündet in ein neues Goldenes Zeitalter" (54). Urefla und Vasconcelos sollen, Horl zufolge, als Beispiele utopischer Identitätsdeflnition dienen (54). Solche Modelle des goldenen Zeitalters werden in Kap. IV dieser Studie diskutiert.

73 2.3.3 Statt mythischer Utopien über Hispanoamerika: Das Antlitz leidender Menschen Fernández Retamar hat an die Verwendung des Utopie-Begriffs für die Definition hispanomerikanischer Identität eine ebenso scharfe wie allgemein zu wenig beachtete Kritik herangetragen. Weil der Begriff einer utopischen Identität einen Nicht-Ort bzw. einen Nicht-Menschen meine, gehe er am konkreten Menschen, an dessen Bedürfnissen, Leiden und Leistungen vorbei. Zu Recht weist Fernández Retamar daraufhin, daß die Utopie Amerikas aus dem lateinamerikanischen Menschen die Projektionsfläche europäischer Bedürfnisse machte, und zwar sowohl in Form von Utopien eines paradiesischen Naturzustandes, mit dem Europa eine auf die eigene Kultur bezogene, zivilisationskritische, seit dem 19. Jahrhundert mit dem Sozialismus verbundene Idee entwickelt, als auch in Form von mágicas fórmulas metropolitanas, d.h. als Utopien eines konservativen, fortschrittsbejahenden Bürgertums (1974:15). Durch die hispanoamerikanischen Identitätsdiskurse werden beide Utopiemodelle übernommen. Als solche schlagen sie sich in zwei Formeln des hispanoamerikanischen Identitätsbegehrens nieder, der indigenistischen Aufwertung des campo und der kosmopolitischen Verlegung des Identifikationszentrums in die Stadt137. Fernández Retamar, Moreno-Durán und andere hispanoamerikanische Autoren, die die Übernahme europäischer Utopievorstellungen kritisieren, werden von einer großen Zahl literarischer Texte bestätigt. Besonders die Koexistenz von historischen und utopischen Diskursen führt (z.B. in den hier untersuchten Texten) dazu, daß utopische und mythische Motive bzw. Strukturen in einer Dialektik von Vergangenem und Zukünftigem verwendet werden. In dieser Dialektik scheint mir gerade ein wesentlicher Aspekt der poetisch-kritischen Arbeit der literarischen Texte zu liegen. Die weiter oben dargestellte Ambivalenz mythischer und utopischer Strukturen wird von den drei in dieser Studie zur Diskussion stehenden Romanen aufgedeckt. Diese Ambivalenz, der in der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht genug Beachtung geschenkt wird, tritt in der mexikanischen Kultur in der Verschränkung von Fortschrittsideologien und religiöser Symbolik auf, mit der sich unter der Erscheinung desakralisierender Fortschrittskategorien die religiöse Metaphysik als regressive Bewußtseinsform konsolidiert. Ein solches Phänomen ist im revolutionären Messianismus und in dessen mestizierter Symbolik138 zu beobachten. Die Kritik an Identitätsmythen des revolutionären Messianismus und der Mestizierung steht im Vordergrund besonders des ersten der hier zu untersuchenden Romane, El ¡uto humano (1943) von José Revueltas. Aber auch die andere Seite, die utopische Gestaltung des Mythos, wird im Roman von Elena Garro Los recuerdos del porvernir (1963) als Entwurf einer Geschichte erprobt, 137 Vgl. Moreno-Durán (1988:87f.). Der kolumbianische Autor bezieht Fernández Retamars Kritik am Utopiebegriff auch auf zeigenössische, "postmoderne" Utopieformen (von z.B. Fuentes). 138 Vgl. Kap. IV (Mestiziening) und Kap. VI (José Revueltas).

74 in der die Verwirklichung des "Bildens", der Triebenergie, zu keinem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte zur Ruhe kommt und kritische Kraft bleibt139. Bedenkt man die Dialektik von Vergangenem und Zukünftigem, die literarische Texte vollziehen können, dann gewinnt der Mythos die energetische Qualität zurück, die in seiner rätselhaften Erscheinung prinzipiell ausstrahlt140. Ich erinnere an Asturias' Kommentare zur Genesis der Quiché. Die Welt erscheint im Spiel von Licht und Dunkelheit. In diesem kann die Erzählung des Ursprungs nicht als die ur-tümliche Geschichte einer mythischen Geburt aufgefaßt werden. Das Licht der mythischen Erscheinung verleiht der Welt vielmehr unklare Konturen, wie bei der "Dämmerung im morgendlichen Nebel", wenn dieser dem Licht der Erkenntnis nicht weichen will141. Auf diese Dialektik zwischen Licht und Schatten, die mythische Erzählungen begleitet, soll nun in den folgenden Ausführungen eingegangen werden.

2.4 Der Mythos als Drama der Offenbarung Pater Ximenes, der Übersetzer des Popul Vuh, verdunkelt seinen spanischen Text -so Miguel Angel Asturias -, weil er von der sich ihm offenbarenden anderen Welt betroffen ist. Die "Verhüllung" der Welt geschieht metaphorisch. Die benutzten Metaphern enthüllen aber zugleich die eigentliche mythische Botschaft: Betroffenheit. Betroffenheit wird im Text von Miguel Angel Asturias durch die Metapher der Begegnung zweier Hände ausgedrückt, die dazu dienen, die Landschaft am Golf von Honduras zu charakterisieren. Kristallklare Finger aus dem Süßwasser der Flüsse Guatemalas treffen und berühren die Finger jener anderen Hand, die vom Meer ins Land hineinreicht: La tierra y el agua que en las zonas geográficas de Guatemala se encuentran, como si los dedos cristalinos de los ríos, una gran mano marina de agua dulce, entraran a los dedos de una gran mano de tierra que sale hasta Yucatán (1972:287).

Asturias weist darauf hin, daß Pater Ximenes' Reaktion auf die "neue Welt" mit der Wahrsagung des ursprünglichen Mythos der Quiché übereinstimmt. Auch in diesem

139 Die im Zusammenhang mit dem Barock stehende Allegorie wird andere Perspektive eröffnen (Kap. V). Frank zeigt bspw., daß die Einschätzung des Mythos als allegorischer Prozeß und damit als arbiträres Zeichen durch Herder (gegen die in der Romantik gängige Zuordnung des Mythos zum Symbol) auch eine mythcnkritische Perspektive zur Folge hat (1982:134). 140 Vgl. hierzu Gockels Ausführungen zum produktiven Verhältnis von Dichtung und Geschichte bei Hölderlin: "Angesichts der von ihm beschriebenen Dialektik des Mythos, die die Synthese des Intellektuellen und Historischen intendiert, kann das Etikett Hermetik nicht als Vorwurf verstanden werden. Im Gegenteil: die im Wiederschein des Gedichts offenbare Hermetik beantwortet die Frage der verborgenen Hermetik der menschlichen Geschichte" (1981:281). 141 Die Auslegung der Erscheinung als Lichterkenntnis wäre vielmehr das Denkparadigma im Bereich der Theologie und Philosophie (vgl. Blumenberg, 1957).

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sind Gesang und Bilder rätselhaft, weil die Dinge der Welt von einem Schleier umgeben sind. Dieser Schleier meint einmal die Trennung von der Wahrheit der Dinge, über die die Erkenntnisphilosophie reflektiert, aber auch das Medium, in dem sich die "Farbe der Wörter" materialisiert, als würden Hände aus der sich zur Erscheinung anbietenden Welt den Leser des Textes und den Betrachter berühren. Diese zwei Aspekte des Mythos, nämlich die Offenbarung und das Medium der Offenbarung sind in den folgenden Abschnitten näher zu betrachten. Der Mythos ist eine verschleierte Offenbarung. Mit einer derartigen Formel heben die meisten Ansätze die synthetische und konflikthafte Natur mythischer Bilder hervor, woraus gefolgert wird, daß die Reduktion mythischer Strukturen auf die vollendete Geschichte des Paradieses und des goldenen Zeitalters erst als Folge des diskursiven Eingriffs epischer Texte in die grundsätzliche Konflikthaftigkeit des Mythos'42 eintritt. Die Behauptung, mythische Bilder seien ursprünglich eine dunkle Offenbarung, läßt sich durchgehend beobachten: Bei der Verknüpfung des mythischen mit dem religiösen Bewußtsein durch Cassirer wirkt die Macht, die sich durch das Gefühl kundtut143, als "eine Offenbarung, die zugleich Enthüllung und Verhüllung ist" (PSF 11:122). Jolles* "Wahr-Sagung" betont weniger die Kategorie der Wahrheit, die mit Erkenntnis verbunden ist, als die selbständige Bewegung der Dinge in der Offenbarungsgeste (103). Frank stellt fest, daß die aufklärerische, mythenkritische Perspektive "vor den Toren der Offenbarungsreligion, also des Christentums, haltmachte" (1982:118)'44, und daß auch in der Naturphilosophie die Offenbarung der Natur das rationale Subjekt der Aufklärung transzendiert. Bei den bisher behandelten Ansätzen zeigt sich, daß das Paradox einer "dunklen Offenbarung" eine gemeinsame These der Mythostheorien ist, die damit einen besonderen

142 Daß bspw. griechische Mythen ursprünglich ambivalent waren, zeigt Frank am Beispiel von Jupiter und dessen Unterwerfung gegenüber der Macht der Moiiai (1982:90). Auch Lévi-Strauss' geht zunächst von der Feststellung der Pluralität der Versionen und der Ambivalenz des Mythos aus, die er durch seine strukturale Methode zu einer rationalen und universellen Einheit zurückführen will. Barthes spricht vom Synkretismus des Mythos, was PluralitSt impliziert, die sich allerdings einer Metasprache unterordnet Auch bei Roger Caillois, der den Mythos als ein Mittel zur Konfliktbewältigung (1972[1938]:27) etwa in Anlehnung an den Freudschen Mythos-Begriff (Totem et Tabou. pp. 26) versteht, erhalt die mythische Projektion eines psychischen Konfliktes (affabulation) "une multiplicité de résonances qui, en le rendant troublant simultanéament sur divers points, fait de lui ce qu'il apparaît être d'abord: une puissance d investissement de la sensibilité" (28). 143 Auch Caillois konstatiert, daß die Form des Ritus, in der der Mythos auftritt, eine Steigerung der mythischen Energie nach sich zieht (1972[1938]). Malinowski betont die rituelle Seite des Mythos und damit die enge Verknüpfung mit dem kulturellen Leben und sieht im Mythos nicht etwa eine intellektuelle Antwort auf epistemologische Ratsei, sondern einen Glaubensakt, der eine Reaktion auf "den schrecklichsten und quälendsten Gedanken" ist (1982:192). Mit der Hervorhebung der Rolle des Mythos im Leben und der Problematisierung rationalistischer Mythostheorien sucht Malinowslü eine Verbesserung ethnologischer Vorgehensweisen, die mit der Kenntnis der spezifischen kulturellen Bedingungen auch die legitimatorisehe Funktion des Mythos besser erfassen sollen (189). 144 Frank bezieht sich auf die infolge der Auikläningskritik durch Adomo/Horkheimer wiederentdeckte Notwendigkeit, in Kategorien der Transzendenz zu denken, etwa im Sinne der mystischen Offenbarungstheologie.

76 Aspekt implizieren: Offenbarung gilt in Bezug auf ein sich eröffnendes Anderes145. Mit der Offenbarung wird das Problem des Anderen angesprochen, dessen Spur eine wesentliche Konstituente der besprochenen Mythos-Konzeptionen ist. Die mythische Erscheinung ist die Antwort auf eine Betroffenheit, die aus der Berührung mit etwas Unbekanntem, etwas Anderem entsteht. Die Frage nach dem Anderen, die bei einem erkenntnistheoretischen Zugang Probleme zeigte, greift in der Gestalt der mythischen Offenbarung wieder in die Diskussion ein. Hier soll jedoch eine andere Annäherung an diesen Problembereich versucht werden, als die der Bewußtseinsphilosophie, denn solange das Andere ein Objekt der Erkenntnis bleibt, fungiert es als Projektionsfläche des Alteritätssystems des Selbst. Inwieweit es dabei gelingt, auf die Erfahrung unmittelbarer Betroffenheit einzugehen, ohne das Andere als Gegenstand der Erkenntnis zu fixieren, die Alterität als Projektionsläche der Identität zu benutzen und damit die Verschiedenheit des Anderen zu zerstören, soll in den folgenden Ausführungen überlegt werden. Aufgrund ihrer Relevanz in der Hispanoamerikanistik verdient die Frage nach dem Anderen einen Exkurs in die kritische Philosophie von Emmanuel Lévinas.

2.5 Emmanuel Lévinas. Von der mythischen Offenbarung des Anderen zur Öffnung durch den anderen Menschen Die Einsicht in die Notwendigkeit einer philosophischen Problematisierung der Alterität hat Emmanuel Lévinas aus der Kritik am Konzept des Humanismus gewonnen. Lévinas' Philosophie sucht nach Wegen, die verhindern, daß die Vorstellung des "anderen Menschen" in Funktion eines anthropologisch, psychologisch oder philosophisch konzipierten Subjektes gedeutet wird. In seinem Buch Totalität und Unendlichkeit, das von kritischen Ansätzen der Kulturtheorie am stärksten rezipiert wurde, zeigt Lévinas die Unmöglichkeit, vom Horizont des Selbst heraus den Anderen in dessen Andersheit zu bedenken. Diese grundsätzliche Asymmetrie des Selbst und des Anderen im Dialog ist die Grundlage einer Definition der ethischen Frage, die für die Aktualität am sinnvollsten erscheint. Lévinas' Kritik an den Begriffen, die das Andere in Funktion des Subjektes definieren, schließt das Konzept der Natur ein. Der Begriff Natur meint "geformte Materie" und impliziert das formende Eingreifen des Bewußtseins, womit er mit der Subjekt-Objekt Dialektik verbunden ist. Alle Denkanstrengungen Lévinas' zielen darauf ab, die Existenzphilosophie so weit zu radikalisieren, daß die Kritik schon an einer der Grundlagen der Definition des Menschen ansetzt, nämlich an der Logik der Identität. Jede Definition der Identität, sei diese theologisch, psychologisch soziologisch oder logisch, 145 Die andere Seite des kollektiven Bewußtseins, das aus der mythenbildenden Kraft resultiert, ist das "Gemeinschaftsgefühl" (PSF II: 1 S3ff und 229f.), wobei mit Solidarität auch eine gewisse Erweiterung zum "Du" impliziert ist

77 impliziert einen festen, von der Willkür der jeweiligen Position abhängigen Standpunkt des "Hier und Jetzt", aus dem heraus die Bezüglichkeit von Innen nach Außen festgelegt wird146, Das Identitätssystem entsteht in Bezug auf einen vom Betrachter ausgehenden Blick147, wobei der Blick dazu dient, durch die Feststellung der Unterschiede des Anderen, sich seiner Selbigkeit zu versichern (1987:417f.). Die Totalität gilt dabei als Begriff, der den Unterschied des individuellen Inneren zum transzendierenden Äußeren in eine Einheit aufhebt. Aus der Sicherheit eines solches Verhältnisses zwischen Innen und Außen, d.h. aus der Sicherheit eines solchen Vaterlandes, ordnet das logische Subjekt die zu erkennenden Gegenstände dem BezUglichkeitssystem zu und benennt diese. Um aus diesem System herauszukommen, schlägt Lévinas vor, die Exteriorität als absolute Größe zu setzen, der gegenüber das Subjekt nicht privilegiert, sondern unterlegen ist (425). Eine solche radikale Exteriorität soll bewirken, daß unterschiedliche Positionen in einem gleichberechtigten "Von-Angesicht-zu-Angesicht" erhalten bleiben (424) und radikal heterogen zueinander stehen. Damit verhindert Lévinas, daß die Asymmetrie des dialogischen Verhältnisses zwischen Ich und dem Anderen durch verbindende Synthesen, etwa im Erkenntnisakt, zerstört wird. Vielmehr besteht gegenüber der Exteriorität ein Begehren nach dem Anderen (429), das unstillbar ist, weil es nicht in eine Dialektik von Innen und Außen eingeht14*. Das Andere kann kein epistemologisches Objekt sein. Nur als ethische Frage kann man es als einen Impuls zur Relativiemng des Selbst (des Selbigen) begreifen und versuchen, zur Sicht des Anderen als Sicht des Außens zu kommen. Lévinas hält an der Unterscheidung zwischen endlicher und unendlicher Ethik fest und geht damit weiter als die Differenzierung zwischen Moralismus als normativem System einer Sittenlehre und Ethik als einer objektivierbaren und transsubjektiv überprüfbaren Analyse moralischen Argumentierens durch eine vernünftige Willensbildung. Mit dem Begriff des Antlitzes formt Lévinas den Begriff der Freiheit und der moralischen Verantwortung um. Dabei geht er zunächst von der Annahme der Notwendigkeit eines an den Diskurs-Begriff von Jürgen Habermas erinnernden Systems von "kohärenten Reden" aus, die die Sprache als geregelte Form der Einigung gestalten und nicht nur widerspruchsfrei, sondern auch intersubjektiv gelten sollen. Gewissermaßen verlangt die gesellschaftliche Ökonomie, daß sich der Mensch im gesellschaftlichen Austausch gewissen Regeln unterwerfen muß, wenn vermieden werden soll, daß sich die Subjekte in

146 Die Frage Todorovs nach dem Fremden im Auftakt seines Buchs zur Entdeckung Amerikas scheint mir auf diese Problemstellung hinzuweisen: "Ich ist ein anderer. Aber die anderen sind auch Ich. Subjekte wie ich, die nur mein Blickwinkel, aus dem alle dort sind und ich allein hier bin, tatsachlich von mir trennt und unterscheidet" (198S: 11). 147 In Totalität und Unendlichkeit, 1987. Ich beziehe mich besonders auf Kap. I und auf das zusammenfassende Kap. V. 148 Mit Bezug auf Lévinas zeigt W. B. Berg, daß die in Cortäzars Rayuela vom Begehren nach dem Anderen getragene "Anerkennung der realen Differenz des Anderen" eine zentrale Dimension nicht nur dieses Romans, sondern auch des langen Wegs ist, der den argentinischen Autor zur Entdeckung "des Menschen als 'seines' Nächsten" (1991:218) geführt hat.

78 ihrer vitalen Freiheit gegenseitig vernichten (Krewani, 1992:145)1W. Dennoch ändert sich Lévinas' Perspektive, sobald sich sprach- und dialogphilosophische Überlegungen anschließen: Eine "unendliche Ethik" geht nicht in Sprachakten auf. Denn die Sprache des Anderen äußert sich nicht in Reden bzw. Diskursen. Sie ist weder Benennung von Dingen oder Personen noch Austausch von Bedeutungen, sondern Gruß, Anruf, das Ansprechen, das Grüßen des Anderen150. Dieses Anreden kann sich nur als Rede vor der Rede und als Vernunft vor der Vernunft vollziehen. Denn nur jenseits vom Horizont des Subjektes, des Selbst (damit jenseits des Horizonts von Sprache, Rede und Vernunft) ist der Andere seiend, d.h. ein Seiendes an sich. Lévinas nennt dies das "Antlitz". Als Ausdruck des Anderen steht das Antlitz jenseits (oder außerhalb) der Totalität des phänomenologischen Horizonts des intentionalen Sinnes. Das Antlitz ist als Ausdruck des Anderen vorsprachlich und damit dem geltenden Horizont gegenüber ohne Bedeutung151. Lévinas nennt das Antlitz "nackt", weil es nicht durch den Bezug auf ein System (148), sondern durch sich selbst bedeutsam ist. "Das Antlitz ist Ausdruck, Existenz einer Substanz, eines Dinges an sich, kath'hauto"152. Der Andere kann nicht ein Seiendes im Horizont sein, denn das hieße, ihn durch den Entwurf des Subjektes bestimmen" (Krewani, 143). Lévinas* Übernahme der Trennung zwischen einer endlichen und unendlichen Ethik geht zwar auf Kant und Heidegger zurück, behauptet aber die Notwendigkeit, die Grenze als eine weder durch die Totalität eines metaphysischen Systems noch der Vernunft einholbare Transzendenz zu bedenken. Die Grenze betrifft zunächst das Subjekt im Verhältnis zum Anderen, insbesondere im Verhältnis zum anderen Menschen. Die Sprachskepsis und die Skepsis im Hinblick auf die Erreichbarkeit des Anderen durch intersubjektives Reden einer impersonalen Vernunft - also die Unmöglichkeit des versöhnlichen Dialogs - ist gerade die Grundbedingung für die Rettung einer dialogischen Offenheit des Subjektes. Die Asymmetrie zwischen dem Vernunft- bzw. Sprachsubjekt und dem Anderen ist die conditio sine qua non der dialogischen Situation. Gerade in der Hervorhebung der ethischen Notwendigkeit, die Asymmetrie zwischen dem Subjekt und der objektivierenden Vorstellung seines Verhältnisses zu bedenken, liegt der bedeutendste Beitrag Lévinas' zur Philosophie des Anderen. In Humanisme de l'autre homme (1972) entwirft Lévinas die Modalitäten, die das Denken des Anderen jenseits seines Status als Objekt, d.h. als Projektion des Selbst, ermöglichen. Diese Modalitäten können nicht von einer Theorie geleistet werden, die

149 Bereits die Behauptung von Lévinas, die Regeln der Reden stehen nicht in der Macht eines bestimmten Subjektes, sondern es seien vielmehr die Subjekte, die der Macht der Rede unterworfen sind, stimmt mit dem Kemgedanken der Diskurstheorie von Michel Foucault überein (vgl. Kap. I). 150 Darin liegt der Unterschied zwischen dem Reden von Dingen und dem Reden von Menschen (oder Lebewesen). Erstere können angesprochen, an-geredet werden, nicht dagegen die Dinge. 151 Spater nennt Lévinas das Antlitz "Sinn", ohne jedoch den linguistischen Sinn zu meinen (Krewani, 1992:147). 152 In: Liberté et commandement, zit nach Krewani, 1992:148.

79 über die aktive Handlung des Subjektes gegenüber dem Anderen spekuliert153. Sie erfordern vielmehr eine Subjekt- und bewußtseinskritische Philosophie, die nach den Bedingungen der (passiven) Verletzlichkeit des Menschen sucht, mittels derer sich das Wirken des Anderen ausdrückt. Die Behandlung des Menschen in seiner Eigenschaft als verletzbares Wesen durchbricht die Vorherrschaft über das Andere, die das Subjekt durch sein formendes Bewußtsein innehatte: Dans la sensibilité, "se met au découvert"114 s'expose un nu, plus nu que celui de la peau qui, forme et beauté, inspire les arts plastiques; nu d'une peau offerte au contact, à la caresse qui toujours, et même dans la volupté équivoquement, est souffrance pour la souffrance de l'autre. [...] Le Moi, de pied en cap, jusqu'à la moelle des os, est vulnérabilité (104). Durch die Kategorie der Öffnung zur Verletzlichkeit deutet Lévinas den Dialogbegriff um, weil "Verletzlichkeit" die Berührung durch den Anderen in den Vordergrund stellt. Der Versuch, den Anderen jenseits von Bewußtseinskategorien zu begreifen, stößt damit zum Antlitz, d.h. jenem Bereich vor, in dem die Welt vor der Benennbarkeit durch die Stimme des Menschen und damit jenseits von dessen Abhängigkeit besteht (1972:80). Die Vulnerabilität ds Subjekts läßt im Anderen die Qualität des "Anderen Menschen" aufscheinen (1972:105). Vulnerabilität impliziert Leiden: das Leiden des gemeinschaftsstiftenden Schicksals grundsätzlicher Ex-territorialität, des gemeinsamen Fremdseins im irdischen Leben1'3 (108). Nimmt man den Dialog im Sinne Lévinas' als Lektüremodell an (Forget, 1984), dann ist die Asymmetrie zwischen dem literarischen Text und der Arbeit an diesem eine wichtige Schlußfolgerung. Sie erlaubt, den Widerstreit aufzuzeichnen, den der literarische Text (als Träger des Anderen, einer anderen Kultur) gegenüber epistemologischen Modellen aufbewahrt, ein Widerstreit, der sich an die These der Provokation der kulturwissenschaftlichen Diskurse durch die Literatur anschließt (Kap. I. 3). Im Kontext des Mythos bezieht sich der Widerstreit auf die doppelte Modalität, nämlich der Arbeit des Mythos (als einer kulturellen Form) im Verhältnis zur Arbeit am Mythos'36 (im Sinne eines epistemologischen Modells, d.h. der Interpretation des My-

133 Eine solche Symmetrie von Subjekt-Objekt liegt tendenziell Dialogtheorien zugrunde, was dazu führt, daß die Differenz zwischen den Diatogpaiman im Kommunikationsakt aufgehoben wird. Zu Lévinas Bemühungen, diese Differenz und damit die grundsätzliche Asymmetrie der Dialogpartner zurückzugewinnen, vgL SL Crowell (1990). Zur Kritik der Kommunikation als "Nivellierung der konstitutiven Andersheit des Signifikanten im Scheindialog der 'parole vide' (Lacan)" vgl. W 3 . Berg und dessen Analyse von Cortfzars 62. Modclo para armar (1991:305f.). 154 Lévinas nennt dies "ouverture" (103) statt Dialog. Obwohl der Ex-sistenz-Begriff von Heidegger den Obergang zur "Öffnung" ermöglicht habe, ist er noch in Funktion des Bewußtseins konzipiert. In Lévinas' Sinne meint Öffnung weder das Da-Sein, das sich zur Erscheinung eröffnet, noch das Bewußtsein, das angesichts der Sein-Erscheinung aufgeht, sondern ist reine, nackte Vcrletzlichkeic "c'est la dénudation de la peau exposée à la blessure et à l'outrage" (104). 155 Lévinas' Philosophie und seine jüdische Grundlage wird von Jean-François Lyotard (1988 und 1988a) wieder aufgenommen. 156 Unterscheidung in Anlehnung an Blumenberg, 1979.

80 thos). Die Arbeit des Mythos läßt sich verstehen als eine Antwort auf das Unfaßbare am Anderen, das berührt, während die Arbeit am Mythos diese Erfahrung in Epistemen, d.h. Sinnsysteme übersetzt. Die epistemologische Übersetzung zerstört aber das Andere, denn je mehr das Andere verständlich wird, desto gelungener ist die Zerstörung von dessen Andersheit (Waidenfels, 1992:655). Mit Lévinas wird man vor einer doppelten Versuchung gewarnt: Den Menschen, eine Gruppe von Menschen oder kulturelle Phänomene auf Alteritäts- bzw. Identitätsmodelle zu reduzieren. Die kritische Perspektive von Lévinas kann nicht ernst genug genommen werden, bedenkt man, daß selbst offenere plurikulturelle Ansätze schwer der Versuchung widerstehen, die andere Kultur als Phänomen der "Alterität", d.h. als alternatives Modell der Identität, zu verstehen. Die Betrachtung des Mythos unter Einbeziehung der Philosophie Lévinas' eröffnet die Möglichkeit, den Mythos als "Anrede", als Spur des Anderen zu verstehen. Diese Spur wird vom literarischen Medium so verdichtet, daß sie die Antworten, die durch die Arbeit am Mythos, d.h. durch die mythischen Diskurse, gegebenen werden, gleichsam in einem kritischen Spiegel reflektiert, um sich von diesen zu distanzieren. Der Begriff des Anderen, der in der Erkenntnis- und Bewußtseinsphilosophie problematisch erschien, wird als ethische Kategorie brauchbar, sobald man die Suggestion des Mythos nicht als Weg der Erkenntnis des Anderen, sondern als Spur des Eindrucks durch den Anderen ansieht. Diese Perspektive wird für die Analyse von Juan Rulfos Pedro Páramo (1955) von Interesse sein. Bei diesem Roman gruppieren sich die Forschungsergebnisse entlang zweier Paradigmen: Die These von der sowohl mythopoetischen, als auch mythenkritischen Identitätssuche ausgehend vom Mythos des verlorenen Paradieses einerseits und die These der Zerstörung des Erzählers andererseits. Im letzteren Fall neigt die Forschung aufgrund der experimentellen Gestaltung der Perspektive und in Verbindung mit dem Mythos des Abstiegs in die Unterwelt zur Feststellung, daß der Roman durch die Annullierung des Autors die Bedingungen einer radikalen otredad zu erproben versucht157. Mit Lévinas kann die Frage nach der Andersartigkeit des mit mythischen und narrativen Strukturen experimentierenden Romans von Juan Rulfo als eine ethische Frage gestellt werden: als Provokation des anderen Menschen, dessen Welt sich dem Beherrschungswillen entzieht, gleichzeitig aber den Leser tief berührt und in ihm die Bereitschaft zur Betroffenheit und damit zur Verantwortung erweckt. Dies leitet zum letzten Aspekt der Mythosdiskussion über: Zur Funktion des Textes bzw. des Gesanges, d.h. des Mediums, dem die mythische "Offenbarung der Welt"158

157 Vgl. Forschuiigsbericht zu Juan Rulfo in Kap. VII. 158 Lévinas nimmt zu Offenbaningsreligionen Stellung. Die Erfahrung der Offenbarung einer dem anderen (Menschen) innewohnenden Energie sollte nicht im Sinne konfessioneller Religionen aufgefaßt werden, denn die Religion zerstört die Esteriori lät: "si le terme ne faisait pas courir le risque d'une théologie, impatiente de récupérer le 'spiritualisme' présent, représentation et principes, excluant précisément l'en-deçà'" (1972:80f.).

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anvertraut wird. Dieser noch offene Aspekt der einleitenden fábula de fábulas in der Genesis des Popul-Vuh wird nun abschließend zur Diskussion stehen.

2.6 Mythen in literarischen Texten Die Frage nach der Stellung des Mythos im literarischen Text, besonders dem Roman, ist zunächst im Sinne der aristotelischen Tradition beantwortet worden. Dabei gilt der Mythos als einheitsstiftende Dimension des narrativen Textes159. Dieser Aspekt der aristotelischen Poetik wurde in unterschiedlicher Weise ausgelegt. Als formale Kategorie ist der Mythos diejenige Instanz, die der narrativen und dramatischen Notwendigkeit logischer Handlungsabfolgen entspricht und ihre Homogenität sichert. In diesem Sinne fungiert der Mythos als rhetorisches Mittel fiir die Wirksamkeit der Fabel. Ansätze, die sich auf einen solchen Aspekt des aristotelischen Mythos-Begriffs beziehen, gehen weniger auf die Eigenart literarischer Prozesse ein, die die Vertextung des Mythos160 nach sich zieht. Die poetische Natur des Mythos steht dagegen in der durch Paul Ricoeur161 vorgeschlagenen Auslegung der Aristotelischen Poetik im Zentrum. Ricoeur setzt den Mythos in Verbindung mit einer diskursiv aufgefaßten Mimesis, die nicht als Nachahmung, sondern als wahrscheinliches Modell gilt. Wie auch eine Reihe von weiteren Autoren stellt Ricoeur die schöpferische Kraft literarischer Texte in den Vordergrund. Als ein dem literarischen Text innewohnendes Prinzip bildet der mythische Prozeß ein ganzheitliches Zeichen und ermöglicht eine kognitive Operation der Organisation von Welt, die die einheitsstiftende und modellierende Wirkung162 von Romanen erklärt. Auch dieser Zugang zur Funktion des Mythos in der Literatur ordnet das Sprachmaterial einer übergeordneten Mimesis, d.h. der Konstitution einer Weltsicht, unter, und zerstört die potentielle Autonomie literarischer Prozesse von ideologischen Fragestellungen. Bei der Besprechung der Darstellung Asturias' war die Aufmerksamkeit mehr auf die Materialität des Mediums, in dem der Mythos zur Erscheinimg kommt, sei es die Schrift oder der Gesang, als auf die Mimesis-Funktion des literarischen Textes gelenkt worden. Bevor der Versuch unternommen wird, die poetische Beschaffenheit mythischer Prozesse im Medium der Literatur zu besprechen, möchte ich auf die mythische

159 Espw. Ernesto Grassi (1979). Northrop Frye differenziert dagegen zwischen Archetypen im Sinne wiederkehrender und generalisierter Motive der Literatur und Mythos als Transzendierung des Realismus durch die literarische Einbildunglcraft (1957); letzteres deutet auf die poetisch-schöpferische Kraft des Mythos hin. 160 Besonders das reine Sammmein mythischer Motive ist problematisch. Ein solches Vorgehen wurde durch René Wellek bei denjenigen Interpretationen kritisiert, die auf Archetypen fixiert sind (1963:361f.). 161 kh verweise auf meine Ausfuhrungen in Kap 1,3.1 und auf meine Darstellung von Ricocurs Theorie der métaphore «ve (1985). 162 In Sinne der Bildung "ganzheitlicher Zeichen" (Lotman, 1972). Vgl. Kap. I, 3.1.

82 Erfahrung in den Worten des Dichters Asturias zurückkommen, um den Spuren jenes Betroffenseins nachzugehen, von denen bei der Offenbarungsthese die Rede war: Unabhängig von der Art des Mediums bewirkte dieses die Verdunkelung, aber zugleich die atmosphärische Faszination, die den mythischen Text in die Zaubeikraft orphischer Gesänge und ursprünglicher Dichtung versetzt. Diese Atmosphäre hat bestimmte Qualitäten: das Eintauchen in das Mysterium einer ursprünglichen Erfahrung; die Betroffenheit durch die Begegnung mit der Erscheinung und die Sehnsucht nach etwas Ungreifbarem. Sucht man bei Dichtem nach der Form ihres Betroffenseins durch die mythische Erscheinung, trifft man, unabhängig vom Kulturkreis, auf ähnliche Darstellungen. So spricht Cesare Pavese163 vom Mythos als einer "beunruhigenden Ekstase im Angesicht der Begegnung mit einem Bild, einem Idol, einem divinatorischen Schrecken gegenüber dem Formlosen, das aus der Dämmerung des Bewußtseins kommend, wie aus dem Sog eines Strudels oder einer weiten Öffnung heraufsteigt, eine vertigo, das Versprechen von Erkenntnis..."164: Dagli istanti aurorali in cui si formò nella coscienza un'immagine, un idolo, un sussulto divinatorio davanti all'amorfo, sale, come da un gorgo o da una porta spalancata, una vertigine, una promessa di conoscenza, un avangusto estatico165 (1953:348). Eine solche, "mythische Erscheinung" kann im literarischen Text nicht anders begriffen werden als im Sinne einer poetisch konstituierten Manifestation der textuellen Zeichenwelt. Diese Erscheinung ist an die mikrostrukturelle Vertextung, d.h. an die "Spürbarkeit der Zeichen" gebunden166. Versteht man unter "mythischer Erscheinung" eine bestimmte Realisierung des poetischen Prinzips, so kann man mit Jakobson auch für mythische Strukturen behaupten, daß die "Spürbarkeit der Zeichen" in den Vordergrund rückt (1979:92), womit der Text prinzipiell eine Unabhängigkeit von der referentiellen Ebene und von der mimetischen Funktion des Textes gewinnt167. Die Gleichsetzung von Zeichen und Welt, die den Mythos als rituale Manifestation charak163 Furio Jesi veisucht, Paveses Verhältnis zum Mythos in Zusammenhang mit der aus der deutschen Romantik stammenden, bei George und Rilke vorhandenen und vor allem durch Kerényi und Frobenius (mit Frazer) vertretenen Verbindung des Mythos mit dem Unsichtbaren als der Sphäre des "Instinktiv-Irrationalen" und des Absoluten (1981[1968]:157-178) zu analysieren. Die Tradition eines "Geheimen Deutschlands" (George) und das Kind- und Wassersymbol versteht Jesi als Suche nach einem unbegreifbaren Absoluten (im Kantischen Sinne des "Dynamischen Erhabenen"), dessen Nähe zum Tod er nachzuweisen versucht (143). Die Romane von Thomas Mann (Zauberberg) und Hermann Broch (Der Tod des Vergiis) lassen sich, Jesi zufolge, in dieser Hinsicht in Verbindung mit Pavese sehen (1981[1968):147). 164 Übersetzung von Vf. 165 Mit direktem Bezug auf Baudelaire (1953:304). 166 Die poetische Funktion ist mit Jakobson im Sinne der Verdichtung der Zeichenmaterialität und damit der Autoreferentialitat des Mediums zu verstehen. 167 Bezüglich der Pertinenz dieser These bei Romanen des 20. Jahrhunderts vgl. Kap. I, 3.2 und Vf., 1991d. D. Janik führt als wesentliches Kennzeichen einer "mythischen Imagination" in modernen hispanoamerikanischen Romanen (am Beispiel von Cien años de soledad von Garcfa Márquez, Daimán von Abel Posse und Casa de campo von José Donoso) die radikal amimetische Geste der Texte an (1979:280), wobei alle mythischen Elemente der Imagination dienstbar gemacht werden. Hierin sieht Janik die künstlerische Leistung der Autoren (287).

83 terisiert, ist im literarischen Text prinzipiell vermittelt, wobei die Vermittlung verdichtet und damit sichtbar werden kann. Nähe und Ferne der mythisch sprechenden Welt sind die antagonistischen Bewegungen, die durch die Übersetzung des Mythos in Literatur verursacht werden. Literaturwissenschaftlich ließe sich die mit Asturias und Pavese weiter oben beschriebene "mythische Erscheinimg" so ausdrücken, daß sich mittels der Spürbarkeit des Mediums zugleich Nähe, Intensität bzw. Unmittelbarkeit der Erfahrung und Ungreifbarkeit des "Ur-Bildes" (Entfernung der Referenz) verbinden. Die Übertragung des Mythos in das Medium des literarischen Textes bleibt nicht ohne Konsequenzen. Darauf deutet auch Asturias' Darstellung des Genesis-Mythos der Quiché hin. Versucht man die Bedeutung des Mediums zu bedenken, so stellt man zunächst fest, daß der Mythos in der Tradition abendländischer Texte an einer doppelten Bewegung beteiligt ist: an der philosophischen Erkenntnisfrage, also an jenem Wunsch nach Öffnung des Schleiers (Vonessen, 1962) und nach Licht (Blumenberg, 1957) wie auch an der Textualität des Mediums. Nur unter Ausblendung dieses zweiten Aspekts kann von einer mythologischen Tradition von Wahrsagungen gesprochen werden, während bei Einbeziehung der Textualität des Mediums der Mythos als offene Frage und höchstens als "Versprechen einer Erkenntnis" (Pavese) begriffen werden muß. Seit der conquista hat die Literatur, die hispanoamerikanisch genannt wird, Anteil an dieser Tradition und an der intertextuellen Dichte mythischer Diskurse. Diese produziert sowohl Unmittelbarkeit der Erfahrung einer ursprünglichen, elementaren Wahrheit als auch Mittelbarkeit der Bedeutungsproduktion. Dieser Effekt läßt sich als eine besondere Form von intertextueller Verdichtung verstehen, die die erfahrene, ursprüngliche Begegnung mit der Welt in eine zugleich entstehende Distanz projiziert. Beim Mythos in literarischen Texten kann somit von einem besonderen Fall von energetischen Prozessen gesprochen werden, die der Transformation des Mythos durch das Medium des Textes entspringen: Die Polyphonie von Urkonflikten im Mythos168 multipliziert sich als textueller Prozeß. Dieses Moment der ästhetischen Dimension des Zeichens wird auch durch Cassirer zum Merkmal der ästhetischen Form erhoben. Cassirer zufolge verwirklichen die Modalitäten der ästhetischen Form einen dem Ritus entgegengesetzten Modus, nämlich das kritische Bewußtsein. Sie entlarven das Scheinen der Bilder als Schein, so daß die Bilder von der Wahrheit des Mythos autonom werden169 und in der Distanzierung des literarischen Prozesses die freie Energie der Einbildungskraft entfalten170 können. Der Bezug auf Cassirer bedeutet 168 So Roger Caillois: "La convenance de l'affabulation semble ainsi devoir être recherchée [...] dans ses propriétés mêmes, plus précisément dans le fait que la plurivocité de la projection mythique d'un conflict pennet une multiplicité de résonances qui, en le rendant troublant simultanément sur divers points, fait de lui ce qu'il apparaît d'abord: une puissance dinvestissement de la sensibilité" (1972:28). 169 Diese Funktion der "Kunstform" (PSF, D:279f.) legt Cassirer der Kulturwissenschaft zugrunde. Die Kunst produziere ein synthetisches Urteil in Kantischem Sinne (1989:32). Vgl Frank (1982:lllf.). 170 Caillois, 1972(1938):28.

84 an dieser Stelle selbstverständlich nicht einen Rückfall vom anthropologischen (Blumenberg) zu einem erkenntnistheoretischen Mythos-Begriff. Die Hervorhebung der metakulturellen und kritischen Dimension des Mythos im literarischen Text gilt vielmehr dem Versuch, die im Vorangehenden erarbeitete ethische Frage deutlicher zu stellen, als dies die eher versöhnliche Position Blumenbergs erlaubt171. Die folgenden, abschließenden Überlegungen gelten der Frage nach den Spielformen mythischer Prozesse, wenn der Mythos in Romanen auftritt. Bei der Behandlung dieser Frage werde ich mich auf diejenigen Aspekte beziehen, die für den hispanoamerikanischen Kontext und den Mythos des Ursprungs besonders relevant sind. Die gängige These, die auf der Grundlage ethnologischer Ergebnisse den Beitrag des Mythos im literarischen Text mit der Herstellung von ritualen Handlungen, etwa in Form des magischen Gebrauchs der Sprache, gleichstzt, muß man dahingehend revidieren, daß es sich bei den scheinbar magisch-mythischen Strukturen von Texten um eine poetische Konstruktion handelt, die nur als eine der möglichen Textstrategien angesehen werden kann. In zeitgenössischen Romanen, wie denen des sog. Magischen Realismus, die das mythische Zeichen verdichten, wirken mythische Strukturen autoreferentiell und vertiefen "die fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte"172. Angesichts dieser Überlegungen ist keine Position der Forschung zum Mythos im Roman des Magischen Realismus haltbar, die durch folgende Annahmen eine Variante der ethnologischen Sicht des Mythos reproduziert: a) das mythische Denken sei der semantische Niederschlag einer autochthonen Weltsicht oder die Wiederherstellung indianischer Ursprungsmythen; b) der Mythos sei sowohl die thematische als auch die ästhetische Verwirklichung einer mestizierten Weltsicht. Eine wie im ersten Fall geführte, rein inhaltsbezogene Argumentation läßt sich schon aus den oben erwähnten texttheoretischen Gründen nicht verteidigen: Als Teil eines Textzusammenhangs erfahren mythische Inhalte eine Transformation171, sobald sie im Medium der Literatur auftreten. Diese Inhalte mögen in Form ursprünglicher kultureller Bedeutungen erscheinen und "magisches" Denken modellieren; doch handelt es sich bei der etwaigen Erfahrung der Wiedergewinnung urtümlicher Integra-

171 Aus der Sicht der philosophischen Anthropologie zeigt Tullio Maranhao, daß die "doppelle Ebene d e Arbeit des und am Mythos nur potentiell existiert" (1992:131). Vielmehr tendiere die Arbeit am Mythos dazu. Identitäten festzulegen, die "zu eingeengt sind ftlr das Sein von Mann, Frau und Gott" (144). Maranhaos PUdoy? für einen "nicht-mythischen" Diskurs versteht sich als Appell, die Levinas'schen Impulse einer Ethik des Dialogs :u bedenken (144-145). 172 Jakobson (1979:93). 173 Es kann von der Transformation des Mythos durch die 'Materialität' des literarischen Textes schon desvegen nicht abgesehen werden (W.B. Berg, 1991:325), weil mythische Strukturen im literarischen Text Teil eines "rreversiblen Aussageaktes in der Zeit" werden (1991:324). Zur nanatologischen Begründung der diskursstnikturellen Umformung des Mythos vgl. auch Carbone (1986:104f.). Carbone weist darauf hin, daß der anthropologische Disktrs durch die weiteren Textverfahren "annulliert" wird: "E' la differenza tra un linguaggio antropologicamente (e coUtttivamente) denso (mito) e un linguaggio qual è quello che si presenta nel discorso narrativo, in cui tale valore tale carica vengono in qualche modo neutralizzati, in cui l'attuazione discorsiva di questa dimensione, che abbiamo visto configurarsi come considerevole scarto da essa, implica una notevole riduzione in tal senso" (1986:1 1).

85 lität des verlorenen Paradieses um eine Konstruktion, die verdichtet und damit sichtbar werden kann. Die Transparenz ursprünglicher Mythen ist repräsentiert, d.h. vermittelt, und damit ungeeignet, im Sinne der mythopoetischen Offenbarung eines authentischen Ursprungs interpretiert zu werden. Die Übertragung "mythischen Bewußtseins" in das Medium der Literatur ist zeichenhaft und kein transparentes Medium ursprünglicher Inhalte. Sofern Ursprungsmythen vom literarischen Text modelliert werden - und nicht als unkritische Übernahme von Identitätsdiskursen zu werten sind - hat man es mit einem Text zu tun, der den Diskurs einer "ur-gewordenen Geschichte" reproduziert, einen Diskurs, der aber an der Gesamtheit der Vermittlungs- und Bedeutungsprozesse teilnimmt und damit als Diskurs sichtbar werden kann. Auch die zweite Position, die die Vertextung des Mythos im realistischen Genre vornehmlich in Funktion der Modellierung einer mestizierten Identität ansieht, ist reduktionistisch. Dies gilt selbst dann, wenn man in der Verknüpfung vom mythischen Denken mit dem rationallogischen Diskurs des Realismus die subversive Seite einer neuen Identität betont sehen möchte. Die einfache Rückführung der "energetischen" Kraft des Mythos auch auf die Problematik einer mestizierten Identität wird weder dem kritischen Potential, noch dem Medium der poetischen Sprache selbst gerecht. Es sind allesamt Kräfte, die der Text aus der Spannung der mythischen Strukturen mit anderen Textprozessen gewinnt und durch die ein polyphones kulturelles Potential freigelegt wird174. Zusammenfassend sind aus den vorangehenden Überlegungen zwei grundsätzliche Möglichkeiten der Wirkung mythischer Prozesse im literarischen Text denkbar, die zusammen auftreten können173: a) Mythos als "Erfahrung" des (verlorenen) Ursprungs Mit dem Verlust an unmittelbarer Evidenz der Wahrheit, wenn sich das literarische Medium durch poetische Prozesse in den Vordergrund stellt, gewinnt der Mythos auf einer anderen Ebene Intensität, nämlich in der Materialität der Sprache, die die Anziehungskraft eines verlorenen, originären Bildes zu gestalten vermag176. Im Roman kann die mythische Erscheinung jene ursprüngliche Heterogenität zurückgewinnen, die sie als mythologischer Diskurs zugunsten der unter 2.3.1 besprochenen

174 Entgegen Üblicher Interpretationen, bei denen Asturias' Hombres de mah als Prototyp einer "mythischen* und "mythopoetischen" Literatur gilt, steht die mediale und damit intertextuell verdichtete und ironische Verarbeitung von Mythen im Zentrum der Lektüre dieses Romans durch Jorge Mario Martínez (1990). 175 Vgl. Analyse von Rulfos Pedro Páramo (Kap. VII). 176 Die Suche nach der Nähe eines mythischen Bildes, ahnlich einem unerreichbaren Gesang der Sirenen, ist der Weg des Schreibens selbst • so Maurice Blanchot in seiner Essay-Sammlung Le livre d venir (1939). Originares Bild meint Blanchot im Sinne von Lévinas, d.h. jenseits eines Denkens in Kategorien von Ursprung und Subjekt (vgl. auch Lévinas' Bezugnahme auf Blanchot in den weiter oben besprochenen Kapiteln aus Humanóme de tautre homme, p.96, 110). Bei den behandelten Autoren (Jouberi, Rousseau, Proust, Virginia Woolf, Hermann Broch, Musil, Natalie Sanaute und Jorge Luis Borges) spricht Blanchot vom mythischen Prozeß im Sinne des weiter oben diskutierten utopischen Mythos (1959:200).

86 ideologischen Homologisierung verloren hatte177. Dies trifft um so mehr bei sog. magisch-realistischen Romanen zu, bei denen die Mischung von Genres178 narrative Spannungen und den potentiellen Widerstreit zwischen den Diskursen fördert. Damit besteht im Roman des Magischen Realismus die prinzipielle Möglichkeit, daß der Mythos an jener Heterotopie der Diskurse beteiligt wird, die mit Bezug auf Foucault im ersten Kapitel diskutiert wurde. Die in solchen literarischen Texten auftretende (heterotopische) Störung der kodifizierten Oppositionen, Hierarchien und Beziehungen innerhalb einer jeweiligen Repräsentation von Wirklichkeit verhindert auch, daß die Suggestion mythischer Erfahrung zu einer als Wahrheit erfahrenen, identitätsstiftenden Einheit des Weltbildes gerinnt. Vielmehr wird sie als unmittelbare Betroffenheit durch die Berührung des Fremdes erfahren, b) Mythos als Diskurs (im Foucaultschen Sinne) Es war festgestellt worden, daß sich die Suggestion des Mythos als ganzheitsstiftende Gestalt dafür eignet, Wahrheitsdiskurse zu stützen, die sich gesellschaftlich als hegemoniale Formen des Bewußtseins auswirken können (2.3.1). Wenn mythische Ganzheiten als Erklärungsmodelle dienen, können sie dazu führen, daß Komplexität und Widersprüche des literarischen Textes eher zu- als aufgedeckt werden179. Dies trifft besonders bei Identitätsdiskursen zu, die - wie bei Romanen des Magischen Realismus - auf Ursprungsmythen zurückgehen. Die Arbeit des literarischen Textes ist eher darauf ausgerichtet, solche mythischen Diskurse parodistisch zu durchbrechen oder distanzierend transparent zu machen, um andere Perspektiven von Kultur und Geschichte zu eröffnen180. Diese Variante der Erscheinung des Mythos im literarischen Text tritt mit El luto humano von José Revueltas auf. In diesem Roman aus dem Jahr 1943 werden mythische Identitätsdiskurse, die Octavio Paz erst in El laberinto de la soledad (1950) als mythopoetische Entwürfe der mexicanidad formulieren wird, schon als Archetypen des mexikanischen Selbstverständnisses ironisiert181 und als regressi177 Bei der Analyse von Cortázars 62. Modelo para armar hat W.B. Berg die Fruchtbarkeit eines methodologischen Ansatzes gezeigt, der ausgehend vom medialen Unterschied zwischen Mythos und Literatur (1991:325) die im Roman aktualisierte PluraliUt der mythischen Versionen offenzulegen vermag, was sowohl zur "anthropologischen Erfahrung einer fundamentalen Differenz" (30S) als auch zu einer ironisch dekonstraktiven Arbeit an Mythisierungen der Wirklichkeit (334-340) fuhrt 178 Vgl. hierzu Grivel (1985). 179 Vgl. auch C. Wentzlaff-Eggeberts Kritik in bezug auf einen "allzu einheitlichen und geschlossenen neien Mythos von 'Lateinamerika', der uns hindert, die Vielfalt und die Komplexität der tatsachlichen Verhältnisse zuerkennen" (1989: XIV). 180 In diese Richtung geht auch Dieter Janiks Begriff der "mythischen Imagination". Mit "mythischer Inagination" meint Janik eine kritische Reflexion "zum Schreiben, zu den zeitgenossischen WiikungsmOglichkeiten da Literatur, zu den geschichtlichen Prozessen" sowie eine "Autonomie und Luziditat des eigenen Standpunkts" (19*9:279) bei der Behandlung von mitos consolidados der gesamten Geschichte Hispanoamerikas (287). Der BegriF der mitos consolidados (A. Rama, 1982) bezieht sich auf abendländische Ursprungs- und Paradiesmythen. 181 Man kann von "mythopoetischer Dekonstniktion" (W.B.Berg. 1991:338) sprechen, wenn das wechselseitige Interferieren von mythischen und nicht-mythischen Textstmkturen dekonstruktiv wirkt, weil diese "die Uroedingtheil ihrer Geltung" verlieren. Berg ist zuzustimmen, wenn er dabei die Ironie (336) als eines der vichtigsten Textprinzipien angezeigt

87 ve Wirkungskräfte einer "ur-gewordenen" Geschichte aufgedeckt. Mit dem Roman von Revueltas kann man den divergenten Verlauf zwischen den theoretischen Diskursen einer "mythischen" Identität Hispanoamerikas - hier Mexikos - und der metakulturellen Arbeit am Mythos im Medium literarischer Texte besonders deutlich beobachten. Mit Revueltas wird die dringende Notwendigkeit erkennbar, die Mythosdiskussion von der rein mythopoetischen Interpretation wegzuführen und jene kulturellen und epistemologischen Bedingungen zur Diskussion zu stellen, die den Mythos als historische Erscheinung einer bestimmten diskursiven Formation in der Identitätsdiskussion Hispanoamerikas haben entstehen lassen. Der Offenlegung derartiger Diskurse sind die folgenden Kapitel III und IV gewidmet.

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III. Der Magische Realismus Obwohl die Forschung zum Magischen Realismus oder dem mit diesem verwandten real maravilloso ebenso labyrinthisch erscheint wie die Werke selbst, lassen sich zwei grundsätzliche Tendenzen beobachten: Beide Begriffe sind entweder rein deskriptiv, teilweise mit nivellierenden Befunden im Hinblick auf das literarische Werk angewandt worden, oder das Bestreben einer begrifflichen Abgrenzung stand im Vordergrund, wobei das literarische Werk zur Untermauerung einer jeweiligen begrifflichen Entscheidung diente. Der Begriff des Magischen Realismus ist durchaus nicht nur auf Zustimmung gestoßen; doch hat eine Kritik der mit diesem Begriff gebildeten Diskurse nur teilweise stattgefunden. Unter Rekurs auf die bedeutende Rezeption und auf die theoretische Diskussion wird dieser Begriff gleichsam als Formel freizügig verwendet 1 , obwohl die hispanoamerikanische Literatur selbst seit den 70er Jahren nach Lösungen gesucht hat, die den Magischen Realismus bestenfalls als Zitat und intertextuelles Spiel benutzen sollten2. Bei den folgenden Überlegungen geht es mir nicht darum, in die Begriffspolemik einzugreifen, um meinerseits eine neue Definition des Begriffs vorzuschlagen. Wenn ich heute erneut auf die Konzeption des Magischen Realismus zurückkomme, die angesichts neuerer Tendenzen der Erzählliteratur als überholt erscheint, so tue ich es, weil die Implikationen der Theorie des Magischen Realismus gewissermaßen symptomatisch für bestimmte Probleme der hispanoamerikanischen Forschung sind.

1. Realismo mágico: Die ästhetische Formel eines Identitätsdiskurses Nachdem 19483 Arturo Uslar Pietri den Begriff realismo mágico und im Jahr 1949" Alejo Carpentier lo real maravilloso für die Kennzeichnung eines eigenständigen Stils 1

Shaw, 1981. Angel Flores' programmatische Definition von 19SS wird als Einführung zu seiner Anthologie des "realismo mágico en el cuento hispanoamericano" 198S wieder verlegt. Aufgrund der Akzeptanz dieses Begriffs in der Forschung kann bspw. Díaz Arenas seine Analyse zum Magischen Realismus in El otoño del patriarca von García Márquez mit der Definition abschließen: "El realismo mágico son unos elementos literarios, históricos, bíblicos, religiosos, folklóricos, etc. del pasado y del presente sabiamente intertextualizados [...] cuya pecularidad básica radica en que las fuentes intenexlualizadas fundamentan el 'realismo' mientras el 'envoltorio' [...] realiza y expresa lo 'mágico'" (1987:114) - eine vage Definition, die in einem neuen theoretischen Gewand mit der alten Prämisse spielt.

2

Darauf wird in Kap. IX eingegangen.

3

In Letras y hombres de Venezuela (1948:161f.).

4

Als Vorwort zu El reino de este mundo.

89 Hispanoamerikas verwandten, ist die Kategorie des Magischen Realismus zum Hauptbegriff jenes erzählerischen Genres geworden, das als authentisch hispanoamerikanisch gilt. Von den Schriftstellern des Booms teilweise selbst übernommen, feierte der Begriff eine uneingeschränkte Vorherrschaft in der Forschung - besonders der deutschsprachigen - im Hinblick auf die Literatur des Booms und teilweise darüber hinaus. Die Faszination dieser neuen Formel lag u.a. darin, daß man seitens der hispanoamerikanischen Kultur glaubte, damit den eigenständigen Beitrag derhispanoamerikanischen Erzählliteratur und Kunst in Bezug auf die internationale Ästhetik definieren zu können. Der neue Stil sollte auch das Identitätszeichen der Kultur Hispanoamerikas sein - einer von Europa unabhängigen Kultur. Umgekehrt sollte dieser Begriff den europäischen Interpreten ein Beschreibungsmodell für eine als fremd erfahrene Literatur und Kultur zur Verfügung stellen5. Die Gemeinsamkeit unterschiedlicher Definitionen des Magischen Realismus liegt in der Annahme, daß mit dem magisch realistischen Genre die Opposition zwischen der rationalen Logik und der Imagination aufgehoben sein soll, die sich im europäischen - vor allem dem französischen - 19. Jahrhundert in den Gegensatz zwischen Naturalismus und Phantastik niedergeschlagen hatte. Die Mischung heterogener Bereiche wird zum einen durch ein erkenntnistheoretisches Argument erklärt, das unabhängig davon, ob nun ein hispanoamerikanischer oder europäischer Kritiker den Begriff anwendet - einen auf die europäische Literaturgeschichte bezogenen Standpunkt einnimmt: Während die mythische Logik und eine magische Auffassung von Wirklichkeit im Abendland Grenzüberschreitung im Medium des Poetischen bedeutet, sollen sie in Hispanoamerika zum alltäglichen Weltbild gehören und als Manifestation einer autochthonen Bewußtseinsform zu werten sein, die auf die Integration einer magisch-mythischen in eine rationalistische Weltsicht zurückzufuhren ist6. Solche Bewußtseinsprozesse sollen sich stilistisch auf den Prozeß des Erzählens auswirken: In der Erzählstmktur werden magische Sprache, mythisches Bewußtsein und Elemente des Wundeibaren nicht wie im phantastischen Genre kontrapunktisch zum realistischen Diskurs7 verwendet, sondern mit diesem vermischt.

5 So heifit es bspw. in der Studie Dieter Janiks: "Anders ist die Situation, wenn der Leser nicht mit neuen, sondern mit fremden künstlerischen Ausdracksformen konfrontiert wird, die in einem anderen gesamtkulturellen Kontext entstanden sind" (1976:1). 6 So untersucht Dieter Janik magische Kultursubstrate als Gestaltungselemente von Erzahlwerken, wobei der Rückgriff auf Archaismen als "positive kulturelle EntwicklungsmOglichkeit" (1976:29) autochthoner Bewußtseinsformen gesehen wird. Besonders hervorgehoben wird die Einbeziehung des nahuaiismo im zentralamerikanischen und mexikanischen Bereich (30f.). Als Beispiel wird u.a. auf Revueltas' El lato humano (42) Bezug genommen. 7 Der Wechsel zwischen übernatürlicher und realistischer Logik soll entsprechend der Todorovschen Definition des Phantastischen den Zweifel Uber die Natur der Dinge aufrechterhalten (1970). Vgl. hierzu 2.1.

90 Der Roman des Magischen Realismus wird als eine Fortsetzung des indigenistischen Romans8 verstanden, jedoch mit folgendem wesentlichen Unterschied, der das Urteil begründet, es handle sich um den ersten autochthonen ästhetischen Entwurf Hispanoamerikas: Anders als bei den ersten Romanen des Indigenismo, in dem das mythische Denken indianischer Traditionen lediglich die thematische Komponente von realistischen (kostumbristischen) Romanen darstellt, greife beim Magischen Realismus das "andere Denken" in den Erzählstil ein9, und der künstlerische Ausdruck stelle eine Form sprachlich entworfener Wirklichkeit dar (Janik, 1976:20). Der Eingriff mythischen und magischen Denkens im realismo mágico verändert die Erzählperspektive, die Zeitstrukturen des Romans - die sich an die zyklische Form des Mythos anpassen und das Erzählverhalten, in dem Sprecher unterschiedlos aus dem Tier-, Pflanzenoder Menschenreich stammen. Gleichzeitig aber werden auch die Bedingungen des realistischen Romans in Form der wahrscheinlichen Darstellung der magischen bzw. mythischen Welt eingehalten. Die Verflechtung der magisch-mythischen mit der realistischen Sicht wird zur Charakterisierung des neuen magisch realistischen Genres angeführt, das damit als besonders radikales Experiment mit den Bedingungen des traditionellen Realismus beurteilt wird. Der Akzent wird auf die zyklische Zeitstruktur und eine polyvalente Perspektive gelegt: - Die zyklische Zeit des Mythos gilt als Transgression der Chronologie des traditionellen Romans. García Márquez* Cien años de soledad wird als Paradebeispiel angeführt10: Der Roman gründe eine eigene, zyklische Zeit gegen die lineare Zeit des Fortschritts. Letztere sei durch den Einbruch der Fakten von außen repräsentiert und bestehe als Folie in der Genealogie, die die Urmutter zugleich auslöst, aber auch durch die mythische Zirkularität von Ereignissen und Figuren durchbricht: Ursula soll die Inkarnation des Autochthonen sein und dessen Wiederkehr garantieren. - Eine polyvalente Perspektive ergebe sich durch die Unbestimmtheit des perspektivischen Standortes". Durch diese soll eine Vielzahl gleichberechtigter Stimmen und damit die Pluralität des kulturellen Erbes repräsentiert sein, wodurch auch die ver-

8 Zunächst rechnet Uslar Pietri die spater als magisch realistisch bezeichneten Romane der eisten Generation (z.B. Asturias' und die eigenen Romane) noch zur Novela Indigenista. Als neuerer Vertreter dieser These erweist sich bspw. Donald Shaw mit seiner synomymen Anwendung des Begriffs "magischer Realismus" und "Neo-indigenismo" (1981), insbesondere in Zusammenhang mit Arguedas' Los ríos profundos. Auch Pantigoso spricht von diesem Roman Arguedas' als einem Transitionswerk, in dem sich ein "lento pero seguro alejamiento del método indigenista de la expresión literaria" niederschlagt (1981:147). 9 Dies wird als Kennzeichnen des modernen Romans angesehen, in dem - schon Sartre zufolge - das Ereignis auch den Erzähler betrifft und affektieren kann. Durch dieses Prinzip wird versucht, die Neophantastik bspw. Borges' und Cortázar? vom traditionellen phantastischen Roman zu unterscheiden (vgl. 22., bes. Alazraki, 1983 und Sánchez, 1982). 10 Wegen der zyklischen Zeitstruktur liegen auch Vergleichsanalysen zwischen diesem Roman von García Márquez und Pedro Páramo von Juan Rulfo vor (Jill Levine, 1972). 11 Vgl. die Analyse von Cesare Segre (1985) zu El Ontoño del patriarca mit Bezugnahme auf Rulfos Pedro Páramo.

91 schüttete orale Tradition der präkolumbischen Kulturen Eingang in die Romane erhalte. Die formalen Veränderungen gelten als das Resultat einer anderen Haltung zur kulturellen Frage: Hat der indigenistische Roman ein verklärtes Bild des Indios entsprechend den Wiederaufwertungsbestrebungen zu Beginn des Jahrhunderts, so legt der Roman des Magischen Realismus die These der Mestizierung von Rassen und Kulturen zugrunde und sucht eher die Mischung kultureller Antithesen. Die Übertragung mythischer Denkstrukturen auf das im Abendland klassische Genre der Wirklichkeitsdarstellung, den Roman, geht mit der Vorstellung einher, das Wesen der hispanoamerikanischen Kultur durch diese Literatur erfaßt zu haben. Nach der die Identitätsdiskussion einleitenden These von José Martí, die den Mangel einer eigenständigen hispanoamerikanischen Literatur thematisiert12, bedeutet für Hispanoamerika ein Genre wie der Magische Realismus, der die autochthone Kultur angemessen darstellt, die Realisierung der Utopie eines eigenen, von Europa unabhängigen Bewußtseins13. Umgekehrt glaubt man auch, durch die experimentelle Gestaltung des Romans zur Erneuerung des romanesken Genres beigetragen zu haben, welches im Sinne der Dekadenzthese von Spengler im Abendland als ausgeschöpft galt14. Magischer Realismus wird damit zum Topos der reivindicación von verschütteten kulturellen Werten, z.B. von solchen der mündlichen Tradition (Uslar Pietri, 1979:170)15. Diese sollen das autochthone Erbe in Verbindung mit modernem Bewußtsein verkörpern und haben als Schauplatz vornehmlich dörfliche Gemeinschaften und Räume. Darin begründet sich auch die Tatsache, daß im Rahmen der (prinzipiell unhaltbaren) Opposition zwischen kosmopolitischem und regionalistischem Roman16 der Magische Realismus zu letzterem gezählt wird. Die im Vorangehenden zusammengefaßten Thesen lassen sich als roter Faden der Forschung erkennen17. Die nahezu 20jährige Diskussion über den Magischen Realismus hat die Prämisse der ersten theoretischen Aussagen hispanoamerikanischer Autoren teilweise als Formel übernommen, wobei die kontextuellen Bedingungen und der 12 Vgl. Kap.

n, 1.

13 Im Sinne der Identitätsdiskussion, Kap. II, 1. 14 Die Dekadenzthese des Abendlandes wird zur Basis der verschiedenen Identitaisutopien Lateinamerikas, nachdem die Philosophie Spenglers 1923 ins Spanische Ubersetzt wurde. In diese Richtung argumentiert Caipentier (1976[1967]). Die These vom Ende des europaischen Romans mit Thomas Mann ist auch der Ausgangspunkt von Fuentes' Analyse der Nueva novela hispanoamericana (1969). 15 Vgl. Mignolo in diesem Kapitel. 16 Angel Rama nimmt zu dieser von Arguedas in den Diarios von El zorro de ARRIBA y el ZOTTO de abajo eingeführten Dichotomie kritisch Stellung (1982:225f.). Zum Problemkomplex Sprachlosigkeit und Regionalismus vgl. auch Vf., 1990. 17 Einen Überblick Uber die internationale Foischungsituation in den 70er Jahren geben die Akten des 16. Kongresses des Institute International de Literatura Iberoamericana (hrsg. von D.A. Yates, 1975). Jean Weisgerber behandelt den Magischen Realismus in Deutschland, Italien, Holland und Hispanoamerika (1982). Zu einer differenzierten Besprechung des sog. magischen Denkens in der Theorie des Magischen Realismus vgl. Gewecke (1983b). Für den Magischen Realismus in der deutschen Literatur vgl. Scheffel (1990).

92 Stellenwert des Begriffs zum Zeitpunkt seiner Entstehung weniger reflektiert worden sind18. In den folgenden Ausführungen fasse ich deswegen die wichtigsten Aspekte der Begriffsdefinitionen zusammen. Die Wahl der Autoren, auf die ich explizit Bezug nehme, erfolgt im Bestreben, ein diachrones Bild zu gewinnen. Eine solche begriffsgeschichtliche Perspektive soll auch die neueren Varianten der Theorie überprüfen, um schließlich die Frage nach dem Verhältnis von theoretischen Diskursen und literarischen Texten zu stellen. 1.1 Zwei Seiten einer Medaille: Die Prämisse einer authentischen Welt im realismo mágico und real maravilloso Die verworrene Rezeptionsgeschichte des Begriffs läßt folgende Verschiebungen erkennen: Im Sinne des Kunstkritikers Franz Roh, der anläßlich einer Mannheimer Kunstausstellung der "Neuen Sachlichkeit" (1925) erstmalig von Magischem Realismus sprach, stellte dieser Begriff eine Reaktion auf Surrealismus und Expressionismus dar19. Der erste hispanoamerikanische Theoretiker Angel Flores (1955) sah zwar den realismo mágico in der ästhetischen Linie der europäischen Kunst zu Beginn des Jahrhunderts20 und übernahm damit die Absicht, sich mit dem realismo mágico gegen die rationalistische, auf dem Positivismus beruhende Grundlage des Realismus im 19. Jahrhundert zu stellen. Doch war er mit seiner Wiederentdeckung der symbolischen21 Kraft der Kunst näher am romantischen Verständnis der Sprachmagie als an der Realismus-Kritik, die der Begriff Rohs intendierte. Mit der Wendung "Magie des Seins" meinte Roh eine Wiiklichkeitsdarstellung, die Unzulänglichkeit der empirischen Evidenz des Realen deutlich machen und letztere als psychisches Phänomen dekuvrieren

18 Die Studie von Jean Weisgerber (1982) gehört zu den weniger häufigen begriffshistorischen Ansätzen. Auch Roberto González Echevarría gibt einen historischen Oberblick Uber die hispanoamerikanische Rezeption des Begriffs des Magischen Realismus von Franz Roh (1983:145-178); von manchen Thesen, die die epistemologischen Prämissen bei Entstehung und Anwendung des Begriffs nur unzureichend bedenken, divergieren jedoch die Beobachtungen dieses Kapitels. 19 Magischer Realismus kennzeichnete in Deutschland zwei Tendenzen: a) die Aufdeckung der Realität als psychisches Phänomen und b) im Sinne klassizistischer Positionen die Suche nach dem Überzeitlichen in der Wirklichkeil Nach der Kompromitdemng der letzteren Form des Magischen Realismus im dritten Reich wurde der Begriff im deutschen Sprachraum in den 60er Jahren zugunsten der "Neuen Sachlichkeit" abgewählt, obgleich Roh in seinem "Rückblick auf den Magischen Realismus" (in: Das Kunstwerk VI, 19S2, 1, 7-9) darauf zurückkommt (vgl. Jean Weisgerter. 1982:28). Rohs Katalog erschien 1927 in der von Ortega y Gasset herausgegebenen Revista de Occidente. 5, mit dem Titel Realismo mágico. Post Expresionismo. 20 "La colección de Jorge Luis Borges, 'Historia universal de la infamia' apareció [...] unos dos aflos después [...] que Borges terminara una traducción maestra al espaflol de tos cuentos cortos de Franz Kafka" (1985[19S5]:21). Vgl. auch die wiederholte Bezugnahme auf Giorgio de Chiricos pittura metafísica. 21 Symbolisch im Sinne einer spätromantischcn Auslegung des Goetheschen Symbolbegriffes durch den französischen Symbolismus und als Opposition zum abbildungstheoretischen Realismus naturalistischer Manifeste: "Encontrando en el realismo fotográfico un callejón sin salida, las artes todas [...] reaccionaron contra ello y [...] redescubrieron el simbolismo y el realismo mágico" (Angel Flores, 1985[1955]:19).

93 sollte (Weisgeiber, 1982:29)22. Während also Roh mit der Verfremdung des realistischen Objektes durch ungewöhnliche Kontexte ein Verfahren der Relativiemng des Realitätsbegriffes meinte, blieb die erste hispanoamerikanische Auslegung des Begriffs durch Angel Flores auf der romantischen Sicht der poetischen Magie als Eingriff der Phantasie und als Brücke zur Wirklichkeit stehen. Luis Leal tritt 1967 Angel Flores' symbolistischer Auffassung vom Magischen Realismus entgegen und betont in seiner Abgrenzung des Begriffs zu anderen Kunstformen die Weltimmanenz des Magischen, doch verschiebt er die erkenntnistheoretische Position im Verständnis von Magie: Der Realist bilde Realität ab, der Surrealist verletze sie, der "magische Realist" begreife das Geheimnis des Lebens. Diese Vorstellung, nach der mit dem magisch realistischen Werte die Wesenheit der Welt authentisch erfaßt wird, stellt die "amerikanische" Variante des Begriffs vom Magischen Realismus dar23. Die Auslegung von Luis Leal tritt in die Nähe des real maravilloso von Alejo Carpentier. Dieser Begriff bezeichnet eine Kunst, die das Wunderbare der amerikanischen Welt widerspiegelt. Realismo mágico und real maravilloso werden damit zu Varianten einer ähnlichen Idee und in der weiteren Anwendung oft als Synonyme aufgefaßt24. Ausschlaggebend sind die Implikationen des real maravilloso, in dem der Schöpfungsakt im Sinne der Definition Carpentiers mit einer ontologischen Komponente versehen ist: Das Wunderbare wird als weltimmanent angesehen25, d.h. als Bestandteil einer Welt, die der Wahrnehmung vorausgeht. Diese Deutung begründet die Prämisse der Authentizität der hispanoamerikanischen Welt, unabhängig von der Annahme, ob die Erfahrung dieser Authentizität naturbedingt oder ein Effekt der Kulturmestizierung ist26. Demgegenüber tendiert die Interpretation des realismo mágico zu einer ästhetisch-phänomenologischen27 Argumentation. Letztere schließt eine sprachidealistische Komponente nicht aus, wenn davon ausgegangen wird, daß die Magie als Resultat eines besonderen Wahrnehmungsaktes des Künstlers anzusehen sei, der im Sinne der Romantik befähigt sei, die "wunderbare" Wiiklichkeit zu entziffern. Erkenntnistheoretisch ist die erste Position in der Linie Carpentiers als ein tentativer Versuch der Findung jener Wesenheit der Kultur zu werten, die seit Marti als ontologische Lücke er-

22 González Echevarría ordnet die Ästhetischen Prämissen Rohs in den Kontext einer Moderne, die auf der Grundlage der Russischen Formalisten, das ungewohnte Wahmehmungserlebnis hervorhebt (1983:153). Dabei wird Rohs Anliegen, durch die Hervorhebung des Perzeptionsaktes die Mimesis-Prämisse der Kunst zu kritisieren, mißverstanden. 23 Vgl. auch Weisgerber (1982:52). 24 So z.B. Roberto González Echevarría (1983). 25 Vgl. auch I. Chiampi (1983:165 und 199) sowie González Echevarría, der zu Recht darauf hinweist, daß diese Auslegung des Begriffs in Hispanoamerika den größeren Erfolg verzeichnet hat (1983:154). Die Argumentation González Echevarrfas ist jedoch insoweit problematisch, als er die ontologischen bzw. ontoteologischen Prämissen Carpentiers nicht nur auf die Position des Magischen Realismus, sondern sogar auch auf Borges bezieht (1983:156). 26 Mit der Kategorie des barroco americano vereint Carpenlier beide Faktoren (vgl. Kap.V). 27 Vgl. auch Chiampi (1983:23ff.).

94 fahren wird. Die zweite Position läßt sich durch einen semiotischen Ansatz ausbauen, worauf unter Pkt. 2. mit der Theorie des realismo maravilloso von Irlemar Chiampi eingegangen wird. Doch liegt ein gemeinsames Problem beider Auslegungen in der mehr oder weniger expliziten Prämisse kultureller Authentizität28 in Opposition zur abendländischen Welt. Die als hispanoamerikanisch anerkannte Definition des realismo mágico, gleichgültig ob sie nun auf einer sprachmaterialistischen oder -idealistis chen Komponente beruht, beruft sich mehr oder weniger explizit auf Caipentiers These der prodigios de este mundo mágico19, d.h. auf die Immanenz des Wunderbaren in der amerikanischen Welt. Die Theoriediskussion hat sich zwar immer wieder um eine Abgrenzung der Begriffe bemüht, Unterscheidungsversuche gehen aber im allgemeinen auf Kosten eines der Begriffe30. Zur Profilierung des real maravilloso entwickelt Márquez Rodríguez eine dreifache Dimension des "Wunderbaren in der Welt", das ihm zufolge auch als einziges Kriterium zur Erfassung der Americanidad adäquat sei: In sich "wunderbar", d.h. essentiell paradox und außerhalb der rationalen Logik erfaßbar, sind im neuen Kontinent "la Naturaleza, el Hombre y la Historia". Dabei wird "paradoxal" im Sinne einer synkretistischen Koexistenz von Konträrem in Natur und Kultur verstanden31. Derartige Merkmale sollen real maravilloso und realismo mágico voneinander unterscheiden, wobei letzterer immer dann anzutreffen sei, wenn sich das Magische außerhalb der gezeigten Welt, d.h. im Schriftsteller selbst befinde. Dieser benutze z.B. das Groteske als rhetorisches Mittel, um paradoxe Weltsichten zu konstruieren, was am Beispiel von Fuentes' Terra Nostra oder an typischen Beschreibungen von Garcia Márquez ersichtlich sein soll (1982:42f.). Lo real maravilloso sei eine "in der Welt befindliche Quelle der Kunst", der realismo mágico dagegen eine Kreation des Künstlers. Letzteren ordnet Márquez Rodríguez der "phantastischen Kunst" zu. Als ästhetischer (phantastischer) Eingriff sei femer der realismo mágico mit dem Surrealismus verwandt, von dem er sich jedoch dadurch unterscheide, daß der Surrealismus eine Welt in Opposition zur alltäglichen schaffe, wohingegen die magische Transformation des realismo mágico in der Realität wurzele. Márquez Rodríguez bedenkt die Vorannahmen seiner Definitionen nicht kritisch - z.B. die Annahme einer vor kulturellen Produkten vorexistierenden "Natur". Damit löst diese begriffliche Entscheidung nur

28 Im Zuge der kritischen Reflexion Uber die Begrifllichkeit der Lateinamerilcanistik stellt Cándido fest: "Aquf tenemos que tocar un problema curioso ligado a la lalinoamericanidad, que es el de la autenticidad. Lo que es y lo que no es auténtico es una especie de obsesión de todos nuestros pueblos, porque nosotros somos extremamente ambiguos, y aunque culturalmente europeizados, sentimos que el peso de Europa es a veces más fuerte que lo que desearíamos que fuera" (1985:79-80). 29 Carpentier, A., Razón de ser, Caracas 1976. In dieser These sieht Márquez Rodríguez zu Recht den Grund für die Verwechselung der beiden Begriffe (1982:44). 30 Im Falle von Márquez Rodríguez geschieht die Entscheidung zum Nachteil vom realismo mágico (1982: 30-46). 31 "Es decir, un sincretismo que está en la raíz misma de nuestro mestizaje, el cual a su vez, también comprende el aspecto biológico y cultural" (1982:45).

95 eine Sene von definitorischen Gegenpositionen aus, die nur schwer Uber die grundsätzliche Verwandtschaft der Authentizitätsprämisse hinwegtäuschen. Auf einige von beiden Richtungen beanspruchte distinktive Merkmale soll zur Verdeutlichung eingegangen werden: In einer Studie zum Magischen Realismus in García Márquez' Cien años de soledad von Seymour Hart (1982/83) schließt sich dieser Autor der Deutung des realismo mágico durch Leal und im Sinne von Carpentier an. Wie Márquez Rodríguez für das real maravilloso gesteht Hart für den realismo mágico einen weltimmanenten Charakter32 zu. Die Nähe zum real maravilloso fällt dem Autor kritisch auf, doch findet er als Unterschied ein im realismo mágico nicht voihandenes Glaubensbekenntnis, das dem "Seher" des real maravilloso eigen sein muß. Diese zu Recht hervorgehobene Implikation wird von Carpentier selbst offengelegt31. Unter Berufung auf die Realismusdiskussion versucht Hart, der Begrifflichkeit klare Konturen zu geben. So wird behauptet, das real maravilloso schließe die Erfahrung des "wunderbar Unerwarteten" und der "unüblichen Erleuchtung" ein, und zwar auf Kosten realistischer Beschreibungstechniken (43f.)M. Dies gilt als ein differenzierendes Kriterium35. Doch ist der Rückgriff auf die Wahrscheinlichkeit des realistischen Genres nicht dazu geeignet, Ausgrenzungen zwischen den Begriffen zu untermauern: Gerade die Analysen des Werkes Carpentiers durch Márquez Rodríguez zeigen, wie wichtig der realistische Diskurs auch im real maravilloso ist. Schließlich ist auch das von Márquez Rodríguez angeführte, zweifellos zutreffende Meikmal der Vielstimmigkeit des Textes (Bachtin) und der Polyperspektivik nicht dazu geeignet, einen Unterschied zwischen dem real maravilloso und dem realismo mágico herauszuarbeiten36. Daß das für den Begriff des Magischen Realismus angeführte Prinzip der Vielstimmigkeit in gleicher Weise auf die Werke Carpentiers zutrifft, zeigt Márquez Rodríguez, der allerdings einräumt, daß die Spannung zwischen heterogenen Weltsichten (172), die sich auf alle Ebenen des Werkes Carpentiers erstrecke - von den verschiedenen Sprachebenen (Lexikon,

32 "Leal's ultímate definition of magical realism hits the nail on the head. As he writes:'[...] Para captar los misterios de la realidad el escritor magicorealista exalta sus sentidos hasta un estado límite que le permite adivinar [...] ese multiforme mundo en que vivimos'[...]"(40). 33 "Para empezar, la sensación del maravilloso presupone una fe" (1976(1967]: 108). 34 Bei seinem Versuch, sich vom Phantastischen abzusetzen, verstrickt sich der Autor in einer Definitionspolemik, etwa wenn er am Beispiel von García Márquez hervorhebt, daß die Sorge des Schriftstellers um das naturalistische Detail und die Übernahme des realistischen Diskurses neben dem phantastischen zur Umkehning phantastischer Effekte führe (46). Das Wissenschaftliche wirke hier magisch-unlogisch, wahrend sog. magische Elemente einer strikten Logik gehorchen. Die dominierende Perspektive der Urmutter Ursula zeige sich als wichtiges Verfahren an (1983:48-49). 35 Ich beziehe mich auf die vergleichende Analyse zwischen dem angeblich eher magisch realistischen "Macario" aus Rulfos El llano en Ilamas und dem Elemente des maravilloso enthaltenden Pedro Páramo des gleichen Autors (1982123-125). Vgl. diese Forschungsrichtung auch bei Jill Levine (1970 u. 1972). 36 Mignolo verweist auf die Nahe zwischen Carpentier, García Márquez und Asturias bzgl. des Versuchs, die Koexistenz zweier Realitäten zu erreichen: "Se trata de 'sobreponer' dos narraciones: la una que, repetimos, representa la razón mítica y la otra, la mítica de la razón" (1986b:154).

96 Syntax) bis hin zu größeren Texteinheiten wie Zeit- und Raumstnikturen - eine charakteristische Eigenschaft des hispanoamerikanischen Romans sei (170f.). Die Austauschbarkeit der Begriffe beruht auf der gemeinsamen Prämisse einer Ontotogie des Wunderbaren in der sog. Neuen Welt. Weil die Literatur, die man abwechselnd als real maravilloso oder realismo mágico bezeichnet, der vermeintliche Ausdruck jener Wesenheit der "wunderbaren Welt" Amerikas ist, berufen sich die Verfechter beider Begriffe auf die geglückte Aufhebung einer hispanoamerikanischen Sprachdefizienz. Diese Forderung wurde sowohl durch Carpentiei37 als auch García Márquez gestellt. Über die These der Sprachdefizienz38 der hispanoamerikanischen Kultur ist sich letzterer mit Carpentier einig: "Un problema muy serio que nuestra realidad desmesurada plantea a la literatura, es el de la insuficiencia de las palabras" (García Márquez, 1979:6). Es ist schließlich auch García Márquez, der zum Verständnis des Begriffs des realismo mágico im sprachmaterialistischen Sinne beiträgt, wenn er die hispanoamerikanische Literatur weniger als das Produkt der Einbildungskraft denn als Resultat der direkten Übertragung (Widerspiegelung) der Realität Amerikas ansieht: "En América Latina y el Caribe los artistas han tenido que inventar muy poco, y tal vez su problema ha sido el contrario: hacer creíble su realidad" (1979:4). Vergleichbare Aussagen sind auch in Essays und theoretischen Texten verschiedener Schriftsteller von Miguel Angel Asturias bis Carlos Fuentes (1969:30f.) und Roa Bastos (1984:8) anzutreffen. Die Annahme, mit dieser Literatur einen authentischen amerikanischen Ausdruck gefunden zu haben, stellt ein bedeutendes Moment des Authentizitätsdiskurses dar. Die Authentizitätsprämisse, deren Kritik ein wichtiges Anliegen der vorliegenden Studie ist, führt zu einer synonymen Verwendung von realismo mágico und real maravilloso. Die Entscheidung für einen der Begriffe in der Forschung ist als arbiträr zu beurteilen. Es wäre daher begrüßenswert, wenn die Begriffspolemik, die die Lektüre der Texte mit den Vorannahmen der jeweiligen Begriffe überlagert, aufgegeben würde.

37 Caipentier hebt vielfach hervor, daß neue Sprachen gefunden werden müssen, um eine komplexe Vision von Welt und deren Erfahrung sagbar zu machen (vgl. auch Márquez Rodríguez (1982:123). Darauf komme ich bei der Besprechung des barroco americano von Caipentier in Kap. V. zurück. 38 Das Konzept der "Sprachlosigkeit" ist eine allgemeine Piamisse der kulturellen Situation, auf die der Magische Realismus antworten soll (auch Arguedas, in: Mario Vargas Llosa, 1974:64). Russotto zufolge entspricht bspw. die Transformation des castellano zur eigenständigen Sprache einer "exigencia radical [que] consistía en hacer añorar el alma indígena por encima de la sintaxis castellana" (1986:93). Aufgrund dieser Prämisse interpretiert die Autorin die "Echos" in Pedro Páramo als Modellierung der Sprachlosigkeit, als "lenguaje inarticulado" (1986:99).

97 1.2 Realismo mágico: Eine eigenständige philosophische Methode? Der alternative discurso del método Die Prämisse einer sprachmaterialistisch vorausgesetzten Weltimmanenz des ParadoxHeterogenen und deren Verschiänkung mit romantischen Komponenten war schon besonders wichtig für den Realismus-Begriff Mariáteguis. Der vom europäischen Marxismus beeinflußte Realismus-Begriff wird durch Mariátegui übernommen und umgedeutet. Mariátegui definiert "Realismus" als einen relativen und historischen Begriff. Indem er die Fortschrittsidee marxistischer Utopien radikalisiert (Losada, 1979:141), beansprucht er zugleich die Geltung eines absoluten, einzig "wahren" Realismus. Dieser authentisch amerikanische Realismus soll die Alternative zu einer in Europa ausgehöhlten Realitätserfahrung darstellen, wie sie sich, Mariátegui zufolge, in der zeitgenössischen europäischen Kunst zeigt. Eine solche Alternative erfülle die avantgardistischen Ansprüche, etwa des Surrealismus, im Hinblick auf die Herstellung einer "wirklicheren Wirklichkeit", während die europäische avantgardistische Kunst lediglich eine Vorstufe sei: "El suprarrealismo es una etapa de preparación para el realismo verdadero"39. Der von der kubistischen Malerei beeinflußte RealismusBegriff Mariáteguis entfernt sich von einer orthodoxen sprachmaterialistischen Auslegung marxistischer Provenienz. Mariátegui verbindet eine ontologische Prämisse der "wahren" Welt mit der schöpferischen Kraft der Kunst, wie dies später von der Theorie des Magischen Realismus übernommen wird, und zeigt auch eine Nähe zu Caipentiers Aufwertung des Mythos als Bestandteil von Geschichte40: Pero el hombre, como la filosofía lo define, es un animal metafísico. No se vive fecundamente sin una concepción metafísica de la vida. El mito41 mueve al hombre en la historia. Sin un mito la existencia del hombre no tiene ningún sentido histórico" (1972:19). Mariáteguis Bestreben, den Weg zur Autonomie von philosophischen oder ästhetischen Kategorien abendländischer Provenienz zu finden, wird von allen späteren Ansätzen rezipiert, die sich auf die Notwendigkeit berufen, auch einen eigenständigen Standpunkt der Literatuikritik zu finden. Der realismo mágico bot sich dafür an, im Sinne eines alternativen amerikanischen philosophischen Diskurses interpretiert zu werden: Mit der Verflechtung vom magischen und realistischen Diskurs sei der realismo mágico eine der historischen und sozialen Situation Hispanoamerikas entsprechende Methode, Realität zu erfassen. Dieses Argument wird insbesondere auf García Márquez bezogen, dessen Nobelpreis-Rede als neuer discurso del método, d.h.

39 Miriátegui (1972:86). Vgl. auch zum realismo mágico (1970:179). 40 Vfl. zum Verhältnis von Mythos und Geschichte bei Caipentier auch Márquez Rodríguez (1982:356) und Chiampi (1983:42). 41 George Sorels Bewertung des Mythos als Instrument des Handelns liegt Mariáteguis Theorie ebenso zugrunde wie die Idealisierung des theokratischen Kollektivismus des inkaischen Reiches (vgl. Chiampi, 1983:149ff.).

98 als der amerikanische Gegenentwurf zur kartesianischen, rationalen Logik gilt. Mit dem realismo mägico als zukunftsweisender amerikanischer Erkenntnismethode behaupten die Schriftsteller, eigenständige Kulturträger eines Kontinents zu sein, der sich als eine Einheit von Ländern mit gemeinsamer Realität und äquivalenten Ausdrucksmitteln versteht42.

1.3 Von einem alternativen discurso del método zur Kritik der Authentizitätsfrage Die Reaktion der Forschung auf eine sich selbst authentisch und autonom erklärende Literatur hatte nicht nur die Konzentration auf einen prähispanischen Ursprung und, mit dem indigenismo, auf eine autochthone Ethnosoziologie (José María Arguedas [1975]), sondern auch die Spezialisierung auf einzelne Kulturgebiete zur Folge. Diese Arbeiten mündeten in den Versuch, wissenschaftliche Modelle aufzustellen, die die Mestizierung als das charakteristisch Hispanoamerikanische fassen sollten. Die Studien des kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz (1963) zu Phänomenen der transculturación43 wurden von einer Serie von philologischen Untersuchungen des castellanoamericano44, d.h. der Mestizierungsprozesse auf linguistischer Ebene begleitet. Aus der Perspektive der eigenständigen, neuen Kultur ist auch die Forderung nach autonomen Kategorien für die Interpretation literarischer Werke erwachsen45. Als eine solche autonome Kategorie erschien zunächst der Magische Realismus. Die im Kontext dieses Begriffs aufgenommenen komparatistischen Vergleiche mit anderen marginalisierten Kulturen - wie die Studie von Roberto Fernández Retamar (1975) - sollten das Übel des eurooccidentocentrismo aufzeigen. Kontrastive Analysen hatten jedoch auch die kritische Beurteilung der im Sinne der Authentizität aufgestellten Dichotomien zur Folge. Oppositionen, wie "Europa" vs. "Drittländer", bzw. "Abendland" vs. "östliche" Kulturen, wurden damit seitens der hispanoamerikanischen Forschung zur Diskussion gestellt, und es wurde erkennbar, daß es grundsätzlich um die Suche nach Kategorien zur Beschreibung von Kulturdynamik gegen einen Zentrismus geht, der

42 José Luis Méndez (1982-1983:156f.). Der Autor zieht eine explizite Parallele zu Caipentier (157) und versucht, anhand eines historischen Überblicks die bekannte These zu belegen, mit dem realismo mágico finde die hispanoamerikanische Literatur im 20. Jh. einen "neuen" Weg der Wirklichkeitserkenntnis (1S6). 43 Damit sind wechselseitige kulturelle Transferprozesse in mesti zierten Kulturen gemeint (vgl. zur Mestizierung auch Kap. IV). Der zunächst gebildete Begriff der Akkulturation betonte eher die einseitige Annahme fremder kultureller Beiträge. 44 Bspw. Charles E. Kany (1969) und Angel Rosenblat (1969 und 1977). 45 García Márquez spricht von einer "insuficiencia de los recursos convencionales" auf Objekt- und Metaebene, die, wenn sie aus fremden Kulturen gewonnen werden, zur Entfernung vom Gegenstand und zur Abhängigkeit fuhren (1983:13). Der Anspruch eines eigenen enfoque crítico wird durch einflußreiche Autoren wie bspw. Roberto Fernández Retamar (1975:8) oder Mario Benedetti gestellt. Unter Bezug auf die Forderung Martis sowie auf das Denken Mariáteguis hält Benedetti den eigenständigen Ausdruck der Wesenheit Amerikas durch die Literatur filr crrcichi und forden nun auch eine nicht-kolonialisieite Literaturwissenschaft (1978:3).

99 auch innerhalb Europas unterdrückend war. Letzteres denunziert Roberto Fernández Retamar in seinem programmatischen Artikel zu Algunos problemas teóricos de la literatura hispanoamericana anhand von Parallelen zwischen der Stellung Hispanoamerikas und dem "anderen" Europa, d.h. der Kultur der östlichen Länder Europas (1975:12 und 25)415. Bereits Ende der 60er Jahre waren klare Schritte zu einer kritischen Überprüfung der Prämisse der Authentizität erfolgt. Im Zusammenhang mit der These O'Gormans (1958), Amerika sei eine europäische Erfindung, war auch die kritische Feststellung zu verstehen, daß der Entwurf des real maravilloso als ein Rest der europäischen romantischen Sicht des amerikanischen Kontinents zu werten sei47, und auch Fuentes vertrat die These, die "magische" Realität Hispanoamerikas sei eine europäische Utopie, die nach dem Verlust der geozentrischen Illusion mit der kopemikanischen Wende entstanden sei (1969:59f.). Im Zuge der kritischen Reflexion über die Annahmen der Begriffe real maravilloso und realismo mágico machte besonders Angel Rama (1982) darauf aufmerksam, daß das real maravilloso auf der Basis einer europäischen Perspektive und vor dem Hintergrund eines rationalistischen Denkens operiert4®, wobei er bereits 1967 im Zusammenhang mit El recurso del método die Synkretismus-These des real maravilloso bemängelt hatte49. Trotz derartig kritischer Stimmen im Hinblick auf die Annahmen der theoretischen Diskurse operiert man unterdessen weiter mit der Authentizitätsprämisse, und zwar gegen die vermeintliche europäische oder kosmopolitische Vision bestimmter Autoren, die unter dem Verdacht stehen, sich der "fremden" Tradition anzugleichen90. Die Evidenz, daß gerade der Wunsch nach Originalität, Ursprung und Identität zur abendländischen Denktradition und zu ihren utopischen Entwürfen zurückführt, wie es sich bei den romantischen Wurzeln der mythopoetischen Geschichtsutopie Mariáteguis oder bei der These der poetischen Wirklichkeitsveränderung durch die Literatur des Magischen

46 Dieser Gedanke wird von Desiderio Navarro weilerentwickelt und mit der Forderung nach einem kulturellen Austausch auch auf der Metaebene verknüpft (1982). Die Wiedelentdeckung der Vielfalt Europas durch Emst Robert Curtius wird als beispielhaft angesehen. 47 Z.B. dir E. Desnoes: "En lo real maravilloso hay algo de visión romántica del europeo, que, aunque fatigado de la civilización industrial, no está dispuesto a renunciar a ella y quiere alimentar la ilusión de un mundo primitivo, lleno de contrastes y magia" (1972:304). 48 Dies gilt z.B. für Achronien, die nur als Abweichungen eines abendländischen, linearen Zeitverstándnisses bedeutsam sind. Vgl. auch Matzats Aufdeckung der Perspektive eines europaischen Touristen als Grundlage des real maravilloso in Los pasos perdidos (1988). 49 "[...] también Caipentier apela al sistema de las generalizaciones, aprovechándose de esa tendencia sincrética tan característica de la visión europea sobre nuestra América, que tiende a homologar las más dispares formas culturales de nuestras regiones en un solo y caótico producto"(43). 50 Wie unterschwellig wirksam ein solcher Diskurs ist, zeigt sich darin, daB 1988 Enrique Krauze in der Zeitschrift Vuelta eine vernichtende Kritik an Carlos Fuentes aufgrund dessen angeblich unauthentisch mexikanischen Lebenswandels verfassen konnte (Vuelta, 33, Octubre de 1988).

100 Realismus zeigt, scheint nur schwer in den Diskurs der Forschung einzudringen51. Erst in den 80er Jahren gelangen diskursanalytische Ansätze zur Feststellung, daß die Forderung nach eigenständigen Denkmethoden als eine Etappe des Identitätsdiskurses Hispanoamerikas zu werten ist52. Auf solche Ansätze ist besonders die deutschsprachige Forschung jedoch noch nicht ausreichend aufmerksam geworden. Aus diesem Grunde und auch wegen der brauchbaren Perspektiven, die sich aus einem methodischen Zugang ergeben, der nicht mehr auf die dargestellte autochthone Welt, sondern auch auf den Akt der Darstellung ausgerichtet ist, sollen diese Ansätze im Folgenden näher betrachtet werden.

2. Diskurs statt authentischem Modell - Realismo maravilloso von Irlemar Chiampials diskursstrukturelle Kategorie Die positive Wirkung der Forschung zum Magischen Realismus kann darin gesehen werden, daß sie zum Angelpunkt der Identitätsdiskussion wird und eine Differenzierung des Identitätsproblems in Bewegung setzt. Die bislang ausführlichste und m.E. brillianteste Einsicht in diesen Problembereich stammt von der Studie der brasilianischen Wissenschaftlerin Irlemar Chiampi. Es ist lohnenswert, auf die von ihr angebotene Kategorie des realismo maravilloso einzugehen, weil sie aus der inhaltsbezogenen Kategorie der Magie herausführt und zeigt, daß es sich bei der Schreibpraxis des sog. Magischen Realismus oder des real maravilloso um eine Produktion von Diskursen über Wirklichkeit handelt, die nicht mit dem Kriterium der Angemessenheit in Bezug auf eine als authentisch postulierte Wirklichkeit beurteilt werden können. Vor dem Hintergrund der Semiotik problematisiert Chiampi die ontologische bzw. die phänomenologische Verankerung des Begriffs unter der Perspektive des real maravilloso bzw. des realismo mágico, erkennt die Frage der Authentizität als falsche Fragestellung an und möchte deswegen im Phänomen des realismo mágico eine diskursive Praxis sehen, die einer bestimmten, mit Amerika in Verbindung gebrachten Ideologie entspricht (1982:12). In diesem Licht ist auch Chiampis Wahl des Begriffs des realismo maravilloso zu verstehen. Der Begriff des Realismus sei brauchbar, weil es sich auch in der europäischen Tradition um einen Diskurs über Realität handele. Anstelle des Magischen wird von der Autorin die Prädikation maravilloso vorgeschlagen, weil die

51 Eine kritische Position im Hinblick auf die Authentizität nehmen dagegen Untersuchungen zum indigenisti sehen Roman ein. Silverio Mufloz behauptet bspw., daß die indigenistische These des revolutionären Potentials autochthoner Kulturen selbst ein Mythos sei. Mit einer Analyse von Aiguedas' Yawar Fieslas versucht er zu zeigen, daß die sog. Darstellung der Macht der (ursprünglichen) unterdrückten Kultur auch das Gegenteil bezeugen konnte, nämlich "el poder de la cultura dominante" (1979:102). Das exotische, eskapistische Moment, das von jeher ein grundsätzlicher Bestandteil bürgerlicher Kultur war, schlage sich in der mythischen Repräsentation des Ursprungs nieder. 52 Vgl. bspw. die Studie der Argentinierin Rosalba Campra zur lateinamerikanischen Identität als Maske (1982:24).

101 von der europäischen Kultur nach der neuen Welt gebrachte Idee der wunderbaren Realität sowohl auf der Ebene der erzählten Fakten als auch auf der Darstellungsebene (Perspektive) die Phänomenologie des hispanoamerikanischen Realismus präzise kennzeichne. Dies leisten beide etymologische Bedeutungen von maravilloso: mirare (54) als Haltung gegenüber der Welt, d.h. Anschauen und Staunen, sowie als Wahrnehmung der Welt in Form von wunderbaren Erscheinungen. Nach Auffassung der Autorin hat die Wahl dieses Begriffs den Vorteil, daß es sich um eine narrative Kategorie handelt, die sich zwar auch in die Tradition des Abendlandes einordnen läßt53, jedoch nicht - wie die Kategorie des Magischen - die abendländische Geschichte der Episteme als Prämisse mit übernimmt54. Letztere gilt als Altemativmodell zum rationallogischen Denken und gewinnt besonders an Bedeutung als ein Erkenntnismodell gegen positivistische Auffassungen und Erkenntnistheorien (50)55. Demgegenüber drückt die Kategorie des Wundeibaren weniger eine ideologische oder epistemologische Position aus, als vielmehr eine literarische, die sich innerhalb der Poetiken (Artistoteles, Marino, Tasso, Boileau) allgemein auf eine fiktionale Form des Diskurses bezieht und sich damit in Opposition zum realistischen Diskurs setzt. Die Prädikation maravilloso impliziert andere Bedingungen als die faktisch-empirischen, wobei bspw. mit der Auslegung von Jolles auch ethische Aspekte hinzukommen56 (55). Ein wichtiges Argument für die Wahl des maravilloso ist weiterhin die Tatsache, daß anders als der auf die abendländischen Episteme bezogene Begriff des Magischen, der Begriff des maravilloso am Entstehen der "Neuen Welt" direkt beteiligt und damit ein zur Neuen Welt historisch gehörender Ausdruck ist: Die Reaktion der maravilla ist der "Sinn", den die neue Welt den Eroberem abzwang. Die Suche nach einer selbständigen Identität durch Rückkehr zum "literarischen Ursprung" Hispanoamerikas sieht die Autorin auch als Grund für die Wahl des Begriffs maravilloso durch Carpentier an, der sich nach seiner Ablösung vom Surrealismus Bretons auf die Crónicas und damit auf die "ersten amerikanischen" Texte konzentrierte. Die Vorzüge der Bezeichnung maravilloso seien folgendermaßen zu beschreiben: Es handelt sich zwar ebenfalls um eine abendländische Kategorie, die in das Verstehen 53 Vgl. den Verweis auf Artistoteles' Poetik bis zu den "Einfachen Formen" von Jolles (54f.). 54 "Su manera [bezogen auf die Magie] de integrarse al sistema de referencias occidental" (56). Chiampi kritisiert die Kategorie des Magischen nicht absolut: sie macht auf ihren diskursiven Rahmen und hermeneu tischen Standpunkt aufmerksam. Bspw. ist die Wiederentdeckung der Magie durch die Avantgarden ein notwendiger Schritt, um aus der Enge des Positivismus herauszukommen. Auch die Auslegung der Neuentdeckung präkolumbischen Denkens seitens Laieinamerikas mußte sich erstmals der von den abendländischen Epistemen gebotenen Kategorien bedienen. Letztere bestehen seit der Avantgarde im Konzept der Magie, weswegen Asturias von imaginación mágica des Indios spricht (Chiampi. 1983:50f.). 55 Weitere Argumente gegen den Begriff der Magie werden vorgebracht: a) Es gibt Romane der Art des realismo mágico, in denen Magie nicht nachzuweisen ist (z.B. Doña Barbara); b) etwaige thematische Elemente werden eher im Sinne des maravilloso verwendet (z.B. García Márquez); c) auf Lateinamerika angewendet, ist das, was filr das Abendland als magisch gilt, die Entsprechung der "exigencia foránea de la moda de lo exótico americano" (53). Vgl. auch Dessaus Feststellung, daß der Begriff Magie nur filr wenige Texte sinnvoll verwendet werden konnte (1977). 56 Zur ethischen Komponente bei Jolles vgl. U.2.1.2.

102 der hispanoamerikanischen Literatur eingeführt wird. Diese Kategorie impliziert indes auch im Abendland eher die Unbenennbarkeit der Phänomene als ihr kognitives Beherrschen. Insoweit als lo maravilloso americano zwar ein Korrelat in der empirischen Welt Amerikas findet, es aber nicht benennen kann, entspricht dieser Begriff eher den Intentionen des Identitätsdiskurses Hispanoamerikas als der Begriff der Magie (56). In seiner etymologischen Beziehung zu mirare unterstreicht der Begriff den Akt des Schauens anstelle des auf Objekte und Resultate der Erkenntnis zielenden Blickes 57 . Außerdem handelt es sich beim maravilloso um einen literaturwissenschaftlichen Begriff, der - auf das Märchen im Sinne Propps und Todorovs angewandt - die Akzeptanz der Regeln einer anderen Welt bedeutet. Während der Begriff der Magie zu viele Implikationen gerade auf der Ebene der Erkenntnis hat58 und eine referentielle Kategorie zur Bezeichnung der Welt ist, betrifft hingegen das maravilloso die Ebene der Diskursstruktur und legt mit dem Wundern die hilflose Reaktion des Erkenntnissubjektes 59 angesichts einer "resistencia al código" (56) seitens der empirischen Welt offen. Die Argumente für die begriffliche Wahl sind einleuchtend, a) weil sie die Implikationen des Begriffs nicht in Funktion einer postulierten Korrespondenz mit einem referentiellen Korrelat, sondern mit einem Diskurs über die Referenz bedenken; b) weil maravilla als historische und nicht als ontologische Kategorie verstanden wird; c) weil, anders als bei dem bisher behandelten, referenzbezogenen Begriff der Magie, weniger die Vorherrschaft des Subjektes als vielmehr die der Welt hervorgehoben wird, die mit maravilla und Sprachlosigkeit jenen "ethischen" Umgang suggeriert, der die Andersheit des Anderen nicht unmittelbar in Erkenntniskategorien auflöst 60 . Mit letzterer These wird es möglich, die in 1.1 behandelte Sprachlosigkeit angesichts der amerikanischen Welt nicht als ein Defizit, das mit magischer Sprache zu überwinden wäre, sondern als eine Qualität jener Kultur und Literatur zu sehen, die den Betrachter und Leser ins Staunen versetzen. Chiampis Einsicht, daß es sich bei der begrifflichen Frage um die Adäquatheit eines Identitätsdiskurses handelt und daß die nahegelegte erkenntnistheoretische Position 57 Chiampis Argumente streifen den Bereich der Ethik des Anderen (Vgl. Kap. II). 58 "Magia, en su acepción corriente, es el arte o saber que pretende dominar los seres o fuerzas de la naturaleza y producir, a través de ciertas prácticas y fórmulas, efectos contrarios a las leyes naturales. Como rama del Ocultismo, la magia se sitúa bajo el signo del conocimiento: la realidad se vuelve un símbolo, cuyo sentido debe ser desentrañado" (49). 59 Leo Pollmanns methodologische Entscheidung für den Begriff des "mythischen Realismus" und seine Kritik des Begriffs der Magie in seiner Geschicke des lateinamerikanischen Romans (1984) geht in die gleiche Richtung: "Mythos ist ein Begriff der Literaturkritik und Poetik. Magie ist ursprüglich einer der Religions- und, weiter gesehen, der Kunstwissenschaft Der Begriff Magie meint Glaube an einen Uber das rational Erklärbare hinausreichenden Naturzusammenhang, dessen Gesetzmäßigkeiten erlernt und beherrscht werden können; der Begriff Mythos hingegen meint eine Erzählung, die einer Erscheinung eine die Norm überschreitende Bedeutung beimißt. Der Begriff Magie ist daher zur Bezeichnung von Inhalten, Themen und Motiven I...] sicher geeignet, nicht jedoch für die Bezeichnung der Textsorte" (1984:44-45). 60 Ich verweise auf die Diskussion der Frage nach der Altcrität mit Rekurs auf die Philosophie Lévinas' in Kap. II.

103 eine ethische Komponente enthält, geht indes nicht weit genug, ihre eigenen Prämissen vom Identitätsdiskurs abzukoppeln. Dies wird bei ihrer Ablehnung des "europäisch" bestimmten Begriffs des Magischen im Zusammenhang mit der Sprachlosigkeit deutlich: Chiampi wählt maravilla als Identitätszeichen und weil diese Kategorie die Sprachlosigkeit dadurch überwindet, daß sie auf die vom europäischen Kontext der Kulturbegegnung gestellte Frage der Identität eine hispanoamerikanische Antwort gibt (44). Damit versäumt Chiampi es, sich von der Enge des amerikanischen Identitätsdiskurses zu lösen und die von der maravilla verursachte Sprachlosigkeit nicht als Identitätszeichen, sondern als Provokation der Texte zu interpretieren, die es nahelegen, Kultur ohne Reduktion auf nationale oder kontinentale Identität zu sehen. Dennoch ist es lohnenswert, auf Chiampis Studie näher einzugehen, da sich daraus methodische Probleme klarer erkennen lassen: Ausgehend von der Prämisse eines als Effekt der Diskursstruktur erzeugten Wunderbaren versucht Chiampi eine Typologie des Phantastischen und des realismo maravilloso zu entwickeln, wobei extrañamiento bzw. miedoiX erste rem, encantamiento dagegen letzterem zugeordnet werden. Zentrale Idee ist, daß das "wunderbare Ereignis" nicht auf der Ebene der Makrostruktur, sondern in der Perspektive eintritt: -Das encantamiento (Verzauberung) des realismo maravilloso wird als ein Effekt der Diskursstruktur gesehen, der durch die nicht-antithetische Interpretation der (heterogenen) Elemente der Geschichte entsteht. Das Unnatürliche gehört nicht mehr dem Bereich des Anderen62 an, wie dies mit der Folie einer realistischen Weltauffassung zu verstehen wäre, sondern wird in die Realität integriert. Dabei hat die Kontiguität zwischen prodigio und Realität die Wirkung, die totalisierende Logik des Realismus zu destabilisieren, dessen Verfestigung dagegen, nach Chiampi, ein Konstituent des Phantastischen ist (73)63. -Die Wirkung des realismo maravilloso ist nicht die Destabilisierung der rationalen Logik. Das Verhältnis von Fabel und Diskursstruktur64 gilt als komplexer als beim Phantastischen, wo die Diskursstruktur dazu dient, zwischen entgegengesetzten Logi-

61 FUr die Erklärung der vom Phantastischen ausgeloste Angstreaktion (nach Irène Bessüre) stützt sich die Autorin auf die Theorie Torodovs. Der Zweifel, der dadurch ausgelöst werde, daß eine andere Gesetzmäßigkeit gegen einen stringent aufgebauten realistischen Diskurs stoße, bewirke, daß sich der Leser für keine der beiden referentiellen Optionen entschließen könne. Angesichts der Unmöglichkeit von Bedeutung entstehe Angst. Eine reine Negativität überlagere den Diskurs (68). 62 Wie im Phantastischen, vgl. weiter unten. 63 Diese These ist den traditionellen Ansätzen zum Phantastischen, von Caillois bis Todcrov und Finné, gemein. Zur Kritik der Grenzen einer solchen Position vgl. Charles Grivel (1992:24-30). Grivel entgegnet, das Phantastische entspreche vielmehr einem grundlegenden Bedürfnis der Imagination, den Rahmen der Vernunft hinter sich zu lassen (1992:30f.). 64 In diesem Sinne, d.h. im (textlinguistischen) Sinne von hierzu Kap. I, 3.2).

enonciaciân, benutzt Chiampi den Begriff von Diskurs (vgl.

104 ken zu alternieren65. Während die Makrostruktur im realismo maravilloso heterogene Bereiche verbindet, entwickelt die Diskursstruktur eine interne, eigene Kausalität, die eine "Diskontinuität zwischen Ursache und Wirkung" (72) zu erzeugen vermag66. Dies bewirkt ein encantamiento beim Leser, weil die natürliche Kontiguität zwischen den Sphären des Realen und Irrealen wie eine revelación (Offenbarung) wahrgenommen wird. Der Offenbarungscharakter des realismo maravilloso bewirkt, daß sich statt der Angst infolge Sinnverlust wie beim Phantastischen ein Glaube an die Transzendenz von "metaempirischen Gesetzen" (72) einstellt. Das sieht die Autorin darin bestätigt, daß bspw. die Figuren selbst, anders als bei der Darstellung im phantastischen Genre, nicht extrañados (verwundert) sind (73). -Statt eine Hinterfragung des Systems vorzutäuschen, wie es das Phantastische tut67, entwickelt sich aus der Kontiguität sich ausschließender Referenzbereiche ein Diskurs, der die Gesetze der Logik destabilisiert und damit die Wirklichkeit dafür öffnet, eine transzendentale, mythische Kausalität gleichsam natürlich aufzunehmen (74f.)68. Verschiedene logische Systeme werden nicht paradoxal erfahren (75). Dies gibt dem Text die Möglichkeit, über den Mythos historische Phänomene zu erklären69. Die Erklärung sei indes so diffus, daß nicht die Unentscheidbarkeit zwischen den (natürlichen oder übernatürlichen) Bereichen (wie beim Phantastischen), sondern die als natürlich erfahrene Notwendigkeit nahegelegt wird, die Trennung der Bereiche selbst aufzuheben70.

65 Hier wird Todorov als Hintergrund erkennbar. Entsprechend Todorovs Verständnis des Phantastischen behandelt die Autorin den realismo maravilloso als Genre, dem sie Stnikturmerkmale zuordnet 66 Bspw. in der Verbindung von Zeiten und Orten. In den Kausalitätsbeziehungen sieht die Autorin ein Unterscheidungsmerkmal: Beim realismo maravilloso sei die Kausalität nicht konfliktiv wie beim Phantastischen und auch nicht explizit wie beim Realismus, sondern eher diffus, so daB die Kausalitätsrelationen Uberhaupt aufgehoben werden (71 f.). 67 Entgegen der Meinung Todorovs, es handle sich beim phantastischen Text um eine Transgression gegen das Gesetz, unterstreicht Chiampi, daß keine mutación ideológica im Phantastischen erreicht wird (81) und die Angst eher die Faszination der Ordnung zum Ausdruck bringt. Mit letzterem übernimmt sie Besseres Auffassung. 68 "El lector lee el prodigio, reconociendo en el régimen de la supracausalidad discontinua [..J la probabilidad de una explicación transcendente, que en las entrañas de lo real inscribe el orden de la mitología" (75). Ohne hier auf die begriffliche Polemik, die auch Chiampis Definition ausgelost hat, eingehen zu wollen, ist anzumerken, daß dieses in der Sicht der Autorin ausgrenzende Merkmal des realismo maravilloso eher auf eine allgemeine These zur Funktion von Poesie seit der Romantik zurückfuhrt Selbst die Hervorhebung der Natürlichkeit der Darstellung (auch Mignoio zu García Márquez, 1986b: 154), was dem romantischen Pathos widerspreche, übersieht gerade manche Aspekte der spanischen Romantik. Eine in der Volkstradition angelegte, beunruhigende und zugleich natürlich wirkende Erscheinung hat Gustavo Adolfo Bécquer in seinem Essay La soledad zu einem poeto logischen Programm erhoben. 69 Als Beispiel gilt die Lykanthropie des Protagonisten von Carpentiers El reino de este mundo, wo der Mythos die historische Funktion des sozialen Geltungsanspruchs der haitischen Schwarzen übernimmt. 70 Chiampis Argumentation auf der Basis von Todorov wird zunehmend formalistischer und richtet sich zusehends auf die Abgrenzung zum Phantastischen aus. Der formalisierende Blick wird bspw. in der verallgemeinernden Behandlung der Beispiele erkennbar. U.a. führt sie den zumbayllu aus Arguedas' Los ríos profundos als Ausdruck der "búsqueda de contigüidad entre los órdenes físicos" an, um ihre These zu unterstützen. Das Zitat Arguedas' "El canto del zumbayllu se internaba en el oído, avivaba en la memoria la imagen de los ríos, de los árboles negros que cuelgan de las paredes de los abismos" (Chiampi, 1983:77-78) ist aus dem Kontext des Romans herausgerissen, während der

105 Chiampis Charakterisierung distinktiver Merkmale des realismo maravilloso bringt mit letzterem, ausschlaggebendem Argument wieder ein referentielles Kriterium in die Diskussion ein, nämlich das der geglückten Aufhebung einer Trennung von Natürlichem und Unnatürlichem. Außerdem mündet ihre Abgrenzung zum Phantastischen in eine arbiträre Wertung auf der Grundlage der postulierten Leserreaktionen. Mit der Aussage, das Phantastische verrücke kulturelle Systeme, "sin ofrecer al lector nada más de la incertidumbre" (66-67), wertet die Autorin die Möglichkeit, die Aibitrarität der Vernunft aufzuzeigen (66), als "reines Spiel" ab. Dabei unterschlägt sie die Möglichkeit der kritischen Reflexion kultureller und sprachlicher Prämissen, für die die sogenannte neophantastische Literatur eines Jorge Luis Borges oder Julio Cortázar beispielhaft ist. In der Studie von Irlemar Chiampi ist eine Diskrepanz zwischen der kritischen Analyse der ideologischen und diskursiven Implikationen der Begriffe "Magie" und "Wunderbares" und einer eher begrenzten Sicht bei der Anwendung der eigenen Begrifflichkeit festzustellen. Dies ist u.a. darauf zuriickzufiihren, daß die Autorin ein formales Modell zur Definition der Strukturbedingungen eines Genres anstrebt. Die paradigmatische Analyse der Texte mit dem Ziel einer Genredefinition führt zu nivellierenden Ergebnissen, die alte Vorurteile bestätigen, etwa daß die Kriterien modemer Texte, wie z.B. Autoreferentialität und Auflösung des Erzählers (1983:206), erstmalig durch das realismo maravilloso71 im Rahmen der Literatur des Booms erfüllt wären; b) Chiampis Theorie ist eher eine Antwort auf Metatexte, d.h. auf die Theorie des realismo mágico bzw. des real maravilloso als auf Primärtexte, wobei sich ein zusätzliches Problem daraus ergibt, daß die Autorin ihre eigenen Formalisierungsversuche aus der relativ unkritischen Übernahme der Prämissen gängiger Ansätze zum Phantastischen, wie die von Todorov72 und Irène Bessière, ableitet Chiampis Erkenntnisse über die Implikationen der Begriffe gehen nicht so weit, das Apriori des Identitätsdiskurses, nämlich die Prämisse der Authentizität, diskursanalytisch zum Problem zu machen. Vielmehr legt die Autorin dieses Kriterium auch ihrer eigenen Entscheidung für den Begriff des Wunderbaren gegen das Magische zugrunde. Trotz ihrer Einsicht, daß es sich bei der Authentizität um einen Diskurs der Americanidad handelt, versucht sie sich diesem anzupassen, statt nach der Adäquatheit des Diskurses selbst zu fragen. So bleiben auch für die Autorin Kriterien wie das der wunderbaren Welt im Sinne Carpen-

Text selbst als Auseinandersetzung des Erzählers mit dem Mythos des lumbayllu gelesen werden kann. Ahnliches geschieht mit Rulfos Pedro Páramo (78-79). 71 Ich verweise auf meine Analyse des Romans La educación sentimental von Jaime Tones Bodet (1929) und auf meine dort ausgeführte Kritik an Chiampis Behandlung der Literatur des realismo maravilloso als ein paradigmalisch gesehenes conjunto (vgl. Vf., 1988:189f.). 72 Zunächst hilft der semiotische Ansatz Chiampis zu einer sinnvollen Kritik an den psychologischen Kategorien Todorovs, die die Angst in transhistorische und extralextuelle Archetypen verlegen, so daB Todorovs historisierende Prognose der Ausschöpfung des Genres mit dem Aufkommen psychoanalytischer Erklärungen im 20. Jahrhundert widerlegt werden kann. Zur Kritik Todorovs vgL auch Grivel (1983 und 1992:27f.).

106 tiers, der Sprachlosigkeit und der Neuschöpfung als maßgebliche Zeichen "amerikanischer Wirklichkeit" erhalten, die sie, wie die sonstige Forschung davor, in präkolumbischen Mythen bestätigt sehen möchte: Nada existía. Solámente la inmovilidad, el silencio, en las tinieblas, en la noche [...] Entonces vino la Palabra [...], Tierra, dijeron, y en seguida, nació (Chiampi, 1983:51). Dieses von Chiampi aus dem ersten Kapitel des Popol Vuh gewählte Zitat zur Illustration der präkolumbischen Wurzeln des Schöpfungsmythos dürfte, im Gegensatz zur Meinung der Autorin, eine der Stellen sein, die bei der nachträglichen Niederschrift vom christlichen Glauben beeinflußt wurden. Der allgemeine Gestus des Popul Vuh illustriert eher die Verlegenheit der Schöpfungsgötter, als daß es eine Hymne an das Kreativitätsprinzip ex nihilo wäre73. Chiampis Versuch, mit dem realismo maravilloso die Begriffsverwirrung durch das Angebot einer diskursiven Kategorie zu klären, bleibt deswegen mißverständlich, weil die Begriffsdefinition als Opposition zum Phantastischen konzipiert ist und sich auf referentielle Unterscheidungskriterien bezieht74. Eine referentielle Argumentation, die auf die Abgrenzung von Genres abzielt, muß aber zwangsläufig zu einem unabschließbaren Wechsel von Positionen und Gegenpositionen führen, wie sich dies in der Polemik zwischen realismo mágico, realismo maravilloso und/oder fantástico75 gezeigt hat.

73 Dies ist auch für die Náhuatl-Mythologie der Kreation als zutreffend anzusehen. Ich verweise auf León Portilla. Los antiguos mexicanos, besonders Kap. II, Tradición y anales del México antiguo", in dem es um den Geschichtsbegriff der Nahuas geht (1985[1961]:50f.). Vgl. auch Vf., 1990. 74 Auf letztere geht wiederum J. Marcone ein (1988), womit er die Begriffsdebatte zugunsten des realismo mágicc von neuem eröffnet. Ebenfalls vom Phantastischen ausgehend - diesmal verstanden im Sinne von A.M. Barrenechea (1)72) - kritisiert Marcone zwar Chiampis Kategorien, um indes zu ähnlichen Ergebnissen zu kommen. Hatte Chiampi eine Aufhebung der ideologischen Destabilisiening durch die Einbeziehung einer transzendentalen, natürlichen Kausalität als letzte Stufe des Lektüreprozesses des realismo maravilloso gesehen, so ordnet Marcone eine Erweiterung der kulturellen Regeln dem realismo mágico zu; letzteres wird durch eine ideologische und soziologische Erklärung begründet: Die Geltung volkstümlicher Glaubenssysteme wie die des Aberglaubens und indianischer Religionen füge sich in das Regelsystem der Realität konfliktlos ein. Die Perspektive produziere dieses Phänomen durch die vsión difusa des auktorialen Erzählers, was ermögliche, daß die rational-logische Weltsicht mit dem Weltbild des Volksglaubens koexistiert (1988:23). 75 Etwa auf der herkömmlichen Basis der Umkehnmg des referentiellen Bezugs durch das Phantastische (als Gegenbegriff zu 'Erfahrung' und 'Realität'; nach Jemlich; 1980:23) sieht S. Neumeister in García Márquez' Rentan Cien años de soledad eine "Auflösung der Phantastik" (1980).

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3. Der Weg aus der Authentizitätsprämisse - Kosmpolitische Literatur und "Phantastischer Realismus" Das zweite Paradigma der Hispanoamerikanistik, das sich auf Jorge Luis Borges bzw. die rioplatensischen Schriftsteller beruft und diese Literatur mit den Begriffen Phantastik, Neophantastik oder phantastischer Realismus kennzeichnet76, verdient Beachtung, und zwar jenseits der im Zusammenhang mit Ansätzen zum Magischen Realismus bestehenden Definitionspolemik77. Bestimmte Standpunkte, die sich im Zusammenhang mit der phantastischen Literatur ergeben, helfen, einen von der traditionellen Forschung zum Magischen Realismus bzw. real maravilloso nicht in Betracht gezogenen Aspekt zu besprechen, nämlich die Weigerung, in Kategorien der Authentizität zu denken. Wie Carpentier real maravilloso "erfindet", zieht Borges es umgekehrt vor, für seine phantastische Literatur von Palimpsesten zu sprechen und sich damit in die abendländische intertextuelle Tradition zu stellen78. Der erstere handelt im Glauben an die Authentizität des amerikanischen Entwurfs, der zweite mit dem Ziel, in Anknüpfung an die europäische Tradition mit kulturellen und sprachlichen Systemen spielerisch umzugehen. Impliziert das erste Paradigma eine apologetisch vertretene, essentielle Wesenheit des Amerikanischen, meint das zweite eine sich universal verstehende Kulturkritik. Der Begriff des Phantastischen soll die kosmopolitische Vision der hispanoamerikanischen Kultur in ihrer Literatur verdeutlichen79. Als gemeinsame Komponente der Begriffsdefinitionen gilt die Eigenschaft, durch eine phantastische Verfremdung die Kategorie der Realität selbst zu hinterfragen80. Eine

76 Valdivieso (1975); Berg (1980); Shaw (1981) und Mignok) (1985). Bzgl. Analysen mexikanischer Werke vgL R. Larsson (1977). Zu Beginn der Diskussion gebrauchte Angel Flores realismo mägico und lileratura fantäsaca als Synonyme: "Barges, Silvina Ocampo y Bioy Cesares compilaban la 'Antologia de la lileratura fantistica', de (an amplia influencia. El aflo siguente Borges nos dio su memorable 'El janlin de los senden» que se bifurcan', que impuso al realismo migko en muchos rinconcs de toda Hispanoamdrica" (1985[1955]:21). 77 Frauke Geweckes Bemühungen, eine begriffliche Trennung der Phantastik und des Magischen Realismus (1983b:240246) beizubehalten, und zwar trotz der Einsicht in die Tatsache, daß letzterer Begriff zu einem Schlagwort geworden ist (239), gründete auf der Einsicht, daß mit beiden Begriffen eine unterschiedliche Bewußtseinshaltung kennzeichnet wird, wobei der von Gewecke gesteckte spezifische Rahmen, nämlich die Kultur Haitis, die Beschäftigung mit der magisch realistischen Frage rechtfertigen kann. 78 Ich beziehe mich u.a. auf die als einen der Gründungsbc ¡träge zur Intettextualität betrachtete Erzählung Pierre Menard, Autor del Quijote (aus: Fkciones, 1944). 79 Zum kosmopolitischen Paradigma werden auch nicht-phantastische Autoren wie Mario Vargas Llosa und Carlos Fuentes gerechnet. Beide berufen sich, speziell in Bezug auf das Genre des Romans, auf europäische Ahnväter ersterer auf Flaubert, der zweite auf Balzac. Fuentes, der mit Ausnahme einer Kurzerzählung (Aura [1962]) keine "phantastische" Literatur geschrieben hat, bietet für seine Weite in Anlehnung an die symbolische Komponente des Realismus Balzacs (vgl. Vf., 1985) den Begriff des realismo simbölico (1969) an. 80 Der von W.B.Berg angebotene Begriff des Phantastischen Realismus versteht die Verknüpfung des Phantastischen mit dem Realistischen im Sinne einer antimimetischen Schreibpraxis. Die Phantastik soll im Werk Borges' zur Metareflexion Uber die Bedingungen des Realismus, d.h. der Kodifiziening von Wirklichkeit, fahren. Böiges' Phantastisches spiele mit dem Nachahmungsprinzip der Kunst und gestalte die Selbstaufhebung ästhetischer Mimesis. Ein "Referenzbefehl" und der "Realismus des Phantastischen" erzeugen - so Berg - eine autoreferentielle Repiäsenta

108 "wunderbare" oder "magische" hispanoamerikanische Welt81 sowie die Authentizitätsprämisse sind nicht impliziert. Deutlich wird diese Position im Essay El arte narrativo y la magia (1980[1932]) von Jorge Luis Borges am Beispiel von sog. "magischen" Verkettungen der Handlungsstruktur. "Magisch" nennt zwar die Anthropologie (Frazer) jene Verkettungen, die eine die rationale Logik überschreitende, der Natur innewohnende coincidentia oppositorum erzeugen; Borges entgegnet jedoch, daß es sich bei den Assoziationen eines literarischen Textes um eine tiefere Form der Kontiguität und Kausalität handelt (1980:168f.). Die scheinbare Magie ist für Borges nichts anderes als die Radikalisierung des rationalistischen Prinzips der Kausalität, das damit als bestimmende Logik transparent wird. Im Unterschied zu den als natürlich angesehenen Verkettungen erzeugt diese "magische" Kausalität - so Borges - periphere, im System der Realität üblicherweise ausgegrenzte Kontiguitätsbeziehungen und Motivationen (1980:170)82. Mit der Feststellung, daß die als wesenhaft angesehenen Zusammenhänge und Beziehungen der sogenannten magischen Wirklichkeitsdarstellung arbiträre Kodifizierungen sind, hat Borges auch die ontologischen Prämissen der gesamten hispanoamerikanischen Bewegung transparent gemacht, die für den Begriff des Magischen Realismus optiert (Weisgerber, 1982:49)". Die Rezeption der kosmopolitischen Tendenzen der phantastischen Literatur durch eine Forschung, die es nicht nur ablehnt, den realismo mägico als "authentisch amerikanischen Ausdruck" anzusehen, sondern die europäischen Wurzeln dieses Begriffs hervorhebt, ist ein generell notwendiger Schritt der Forschung zum hispanoamerikanischen Roman, und zwar nun nicht mehr im Sinne einer Dependenztheorie, sondern, weil eine freie Verfügbarkeit von kulturellen Traditionen und der Dialog zwischen die-

tion (Berg, 1980:T7f.). Eine ähnliche Wirkung wird bei den ironische Distanzierung erzeugenden phantastischen Isotopien in Cortázars 62. Modelo paro armar festgestellt (1991:338). 81 Die Realität stellt filr diese kosmopolitisch bezeichneten Künstler lediglich einen Ausgangspunkt dar. So bspw. für Mario Benedetti: "Probablemente, la realidad es hoy por hoy la influencia mis notable sobre la novela latinoamericana, pero es una realidad a partir de la cual el novelista prolonga coordenadas, imagina desenlaces, suspende testimonios, retrocede en el tiempo, avanza en el pronóstico. La realidad es un territorio por el cual casi inevitablemente el novelista pasa, pero en el cual casi nunca se queda" (1979:45). 82 Borges bezieht sich offenbar auf diejenigen ungewöhnlichen Beziehungen zwischen den Repräsentationen von Dingen bzw. zwischen Dingen und Sprache, die Foucault mit dem Begriff der Heterotopie im Werk von Borges bezeichnet und als Provokation metakultureller und metasprachlicher Kritik angesehen hat (Foucault, 1966:9). Vgl. Kap. I, 3.2. und Vf., 1991d. Die Bedeutung des Kontiguitätsprinzips wird auch im realismo mágico des italienischen Schriftstellers Massimo Bontempelli deutlich (vgl. Vf., 1993). Ein Detail zur Begriffsgeschichte: 1930 trifft Uslar Pietri mit Bontempelli in Paris zusammen (Uslar Pietri, 1956:888). 83 González Echevarría kommt zwar ebenfalls zu dem Schluß, Borges' Anwendung des Magie-Begriffs dekonstmiere die nazistischen Piamissen des anthropologischen Begriffs (1983:157), doch erfaßt die Annahme González Echevamas, Borges teile mit dem religiösen bzw. anthropologischen Begriff von Magie die transzendentale Grundlage, um mit einer gewissen Ironie (sie) die Kohärenz des Universums an die phantastische Literatur zu binden (156f.), nur unscharf die metakritische Position des argentinischen Schriftstellers. Nur so ist die Schlußfolgerung González Echevam'as verständlich, "Breton y Borges no proponen sino una suerte de ontotcología" (1983:157).

109 sen eine grundlegende Bedingung von Kultur überhaupt ist84. Die Analysen der surrealistischen Prägung des Magischen Realismus zeigen die prinzipielle intertextuelle Offenheit85 der Literatur des realismo mägico und damit auch umgekehrt den ideologischen Charakter jener theoretischen Lösungen zugunsten einer authentischen Americanidad. Es wird auch erkennbar, daß ein jeweiliger ideologischer Standpunkt eher ein Problem der theoretischen Diskurse über den Magischen Realismus ist86, die die vorsichtige Ambivalenz der bei den meisten Schriftstellern metaphorisch verwendeten Begriffe auflösen.

4. Statt Begriffs- bzw. Genrediskussion - Der Text als kulturelles Abenteuer Es scheint mir notwendig, die Diskussion wieder auf die Texte selbst zu beziehen, wie es etwa von der Darstellung des Phantastischen durch Charles Grivel nahegelegt wird. Grivels Theorie nimmt eine andere Perspektive als die bisher besprochenen Ansätze ein. Sie will weder ausgrenzend sein, noch wünscht sie das Genre zu definieren, sondern hat mit dem jouir fantastique (Grivel, 1992:105f.) ein grundlegenderes Lektürephänomen im Auge87. Die paradoxale Präsentation der Dinge durch die Texte der sog. phantastischen Literatur interessiert als Erlebnisquelle und als energetische Kraft, die vom "Entweichen der Dinge" und der erzeugten Erkenntnisunsicherheit ausstrahlt. Besonders das Sehen wird zu einem durch den Text vermittelten Abenteuer. Es ist ein mentales Ereignis, das nicht auf die Gestaltung sichtbarer Formobjekte reduziert werden könnte. Die Ambiguität, die Mobilität und der Widerstreit der Bilder erzeugen

84 Unter dieser methodischen Perspektive kann auch die Studie ROssners zum Mythos des "verlorenen Paradieses" (1988b) gesehen werden. ROssners motivgeschichtliches Anliegen, die Kontinuität der mit der Jahrhundertwende einsetzenden Nostalgie nach den verlorenen "prtlogischcn" Quellen des Mythos in der europäischen sowie lateinamerikanischen Literatur festzustellen, ist jenseits der AuthentiziUtsdiskussion anzusiedeln. Dies ist begrüßenswert, obgleich mit der motivgeschichtlichen Perspektive eher die Kontinuität des Motivs gesehen wird, was die Unterschiede der Identitätsdiskurse nivelliert. 85 Vgl. z.B. Horst Rogmann (1978). 86 García Márquez spricht z ü . weder von realismo mágico noch von realismo maravilloso, sondern von "fronteras enüe lo real y lo fantástico" (vgl. Mignolo, 1986b:153-154). Weil sich die Autoren weniger um Begriffsdefinitionen kümmern, macht Jean Weisgerber die Kritik für die Begriffsverwirrung verantwortlich ("la confusion provient de la critique." [1982:42]). 87 Ausgehend von der Feststellung, daS der Text zwar Vermittler sei, jedoch das Phantastische im Leser und nicht im Text anzusiedeln ist (1992:11), beschreibt Grivel die Bedingungen, die das phantastische Erlebnis auslosen. Etwaige phantastische Verfahren sind dann nicht auf die Referenz, sondern auf das erlebende Subjekt zu beziehen. Etwa die Suche nach dem Paradoxon, das des Glaubens an positive Gesetze und ihres Widerspuchs bedarf.

110 keine identité figúrale (Grivel, 1992:191), sondern lassen vielmehr Spuren von etwas aufscheinen, das sich der Repräsentation und dem Diskurs entzieht88. Auf eine solche Lektüreerfahning wird im Zusammenhang mit den hier zur Diskussion stehenden Texten, vor allem dem von Juan Rulfo, einzugehen sein. Der im Rahmen der vorliegenden Überlegungen wichtige Aspekt der Theorie Grivels ist die Tatsache, daß das Abenteuer des Lesers und damit sowohl die Transzendierung ideologischer bzw. kultureller Glaubenssysteme als auch die Konfrontation mit dem Anderen in den Vordergrund gestellt werden. Die Hervorhebung des diskursiven Ereignisses als ein Ereignis kultureller Diskurse in den Werken hispanoamerikanischer Autoren wie Borges und Cortázar89 bietet Ansätze für weiterführende Überlegungen im Rahmen der vorliegenden Studie: Durch eine Analyse von Erzählungen Cortázars zeigt z.B. Sánchez, daß nicht die referentielle Ordnung, sondern die Koordinaten des Erzählens selbst ein Abenteuer durchlaufen, so daß die Festlegung eines Standpunktes zwischen Realität und dem Anderen nicht mehr möglich ist. Bei den Texten von Borges handelt es sich um fantasías metafísicas90, die die Abenteuer der Vernunft und nicht der durch die Vernunft erkannten Welt inszenieren, ebenso wie die Koexistenz von Realismus und anderen Erklärungsmodellen wie Volkstradition und Aberglaube - die Frage nach der Adäquatheit von identitätsstiftenden Definitionen von Kultur91 überhaupt stellt. Insofern kann unter dem als phantastisch bezeichneten Phänomen eine "Fundamentalerfahrung konstitutiver Differenzen" und eine Teilhabe an der Wirklichkeitskonstitution als unaufhebbare Differenzerfahrung (W.B.Berg, 1991:92) gesehen werden. Zu Recht geht Berg bei seiner Monographie über Cortázar davon aus, daß die Radikalität einer sog. phantastischen Erfahrung den Rahmen eines Genres sprengt und "die Basisprämissen des 'phantastischen' Modells" selbst affiziert. Dabei handelt es sich um eine in der Mimesisprämisse des

88 Diese instabilité générale de l'imaginaire (1992:228) findet Ausdruck durch die Vemnsicherung der figuralen Stabilität von Bildern, eine Instabilität, die sich einstellen kann, sobald zwei Bilder zusammentreffen (191). Daß das Gesehene nur die Spur von etwas anderem jenseits des Sichtbaren ist, zeigt Grivel anhand einer generalisierten Funktion des Phantastischen als Effekt einer entidentifizierenden Ästhetik: "L"objet' fantastique est mental; c'est au mieux une trace, une vapeur, un souffle, le scorie d'une apparition irrésistible, irréalisable" (191). Grivel betont dabei, daß die Mobilität des Wahmehmungsprozesses bei visuellen Phänomenen, die man phantastisch nennt, die Erfahrung der nicht kodifizierbaren Seite des Realen einleitet (192). 89 Zu Recht kritisiert Berg den die Konstitution eines sog. neuen Genres implizierenden Begriff des neofantâstico (Alazraki, 1983), weil das Innovative zugleich die Bestätigung der Basiselemente des Genres darstellt. Ein solches Basiselement ist vor allem eine stabile Opposition zwischen Realem und Imaginärem bzw. Phantastischem, die im literarischen Text gerade in Frage gestellt wird (1991:91). 90 Bioy Casares Uber Borges, zit. nach Mignolo (1986b: 151). 91 Julio Ortegas Untersuchung von Arguedas'Loj rlos profundus zeigt, daß mythische Strukturen als autochthone. andinische Komponenten dieses Werkes Arguedas' im Schreibprozeß zugleich aktualisiert und transgrediert werden. Als Thema und Weg des Diskurses wird der Mythos zu einem Text, der in Spannung mit der Vielheit der Intertexte gerät und sich zu einer neuen Sprache entwickelt: die Sprache des jeweils Anderen der im Text eingewebten ursprünglichen Kulturen (1982).

111 Realismus implizierte Grenzerfahrung des Realen (1991:90-92) w , die in den hier zur Diskussion stehenden Texten besonders ausgeprägt ist. Sie inszenieren einen Prozeß, in dem sich der Erzähler mit den Grenzen seiner kulturellen Vorannahmen auseinandersetzt. Eine solche Einsicht aus den Werken zu gewinnen, erscheint mir wichtiger, als theoretische Debatten über Begriffsdefinitionen fortzuführen93.

5. Das Problem von Theorie und literarischer Praxis Walter Mignolo: ein diskurshistorisches Beispiel Auf eine letzte Studie zur bisher besprochenen Begrifflichkeit, die Studie Walter Mignolos (1986b), möchte ich eingehen, weil diese das Verhältnis von Diskurs und literarischem Text thematisiert, das auch im Zentrum meiner Überlegungen steht. Mit der Absicht, gängige Kategorien der hispanoamerikanischen Literaturwissenschaft einer kritischen Beurteilung zu unterziehen, widmet Walter Mignolo ein Kapitel dem "Misterio de la ficción fantástica y del realismo maravilloso" (1986b:113-160). Seine Entscheidung, die Polemik der Begriffsdefmition beiseitezulassen, hat eine methodologische Begründung: Mit der Einfuhrung der Begriffe von comprensión hermenéutica und comprensión teórica plädiert Mignolo ausdrücklich fiir eine Trennung der theoretischen und literarischen Diskurse94. Die Relevanz dieser nur scheinbar banalen Feststellung für die Literaturwissenschaft wird gerade am Beispiel der Theorie des realismo mágico bzw. des real maravilloso deutlich. Der undifferenzierte Bezug auf theoretische Aussagen, metaliterarische Autorenaussagen und Textbeispiele hat in der nahezu 20jährigen Erforschung dieser Begriffe eine progressive Verwirrung erzeugt, 92 Hierbei handelt es sich um die von Berg vertretene These, daß die den klassischen Realismus kennzeichnende Engfilhrung der Darstellung (inonciation) mit dem dargestellten Bewußtsein (inoncf) etwa im style im&rect libre als ironische Distanz zur dargestellten Welt gelesen werden kann (1991:91). 93 Die Polemik ließe sich fortsetzen. Gegen die Kritiker des Magischen Realismus behauptet Emil Volek die Legitimität des Begriffs, den er postmodern umdeutet Realistisch im Sinne von modellbildend (Bachtin und Lotman) sei jede Literatur, besonders aber die des Magischen Realismus insoweit, als sie soziale Konflikte des Kontinents repräsentiert. Die spezielle Ästhetik verbinde darüber hinaus entgegengesetzte epistemologische, soziale und historische Bezugsrahmen, und zwar die moderne Alltagswelt und eine darunterliegende archaisch-mythische Darstellung. Die Koexistenz beider produziere eine desfamitiariiación und eine desfolkloriiación, wobei diese Effekte durch die experimentelle EizÄhlstruktur verstärkt seien (1990:13). Mit der "prtmodemen", auch barock zu bezeichnenden, gleichberechtigten Koexistenz magischer und realistischer Elemente in experimentellen Texten, die auch metakritische Formen postmoderner Schreibweisen inaugurieren, verbindet Volek einen viraje valorativo, dJi. eine begrüßenswerte Abkehr exotischer Interpretationen im Sinne des nativismo (11-12). Die sog. magisch realistische Literatur sei anders zu deuten, als im Sinne einfacher historias de la abuelita, die die Bedeutung der "formidables sátiras filosóficas y visionarias de un Borges" durch eine exotistische Rezeption des Magischen Realismus in den Schatten gestellt haben (12). Auch Volek kann jedoch dem Versuch der Genredefinitionen und der Begriffspolemik nicht widerstehen, so daß seine ansonsten begrüßenswerte Argumentation schließlich in reduzionistische Etikettieningen von "magischem" vs. "symbolischem Realismus" mündet (14). 94 Mignolo, dessen Anlehnung an die Foucaultsche Diskurstheorie evident ist (vgl. z.B. 219 f.), tragt den Einsichten Foucaults dadurch Rechnung, daß er für eine strikte Trennung des Textes als Objekt der Lektüre und der Theorie plädiert.

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die zunehmend weg vom Text hin zu einer Verselbständigung der theoretischen Polemik führte95. Aufgrund der Foucaultschen Einsicht, daß jede Theorie eigene Objekte mit eigenen Prämissen konstruiert, kehrt Mignolo zu den Primärtexten zurück, in denen sich die Konzepte des Phantastischen im beginnenden 19. Jh. und des realismo maravilloso96 im 20. Jahrhundert bilden. Bei seiner Untersuchung des jeweiligen diskursiven Rahmens versucht Mignolo, die historischen Grenzen bestimmter Diskurse hervorzuheben97. So wäre es z.B. verfehlt, die Chroniken der Eroberer als realismo maravilloso zu bezeichnen (117). Dem ist prinzipiell zuzustimmen. Begrüßenswert ist der Beitrag Mignolos auch insoweit, als er den Akzent auf die historische Diskursivität von Texten setzt und damit nivellierenden paradigmatischen Ansätzen entgegenwirkt. Als Folge dieser methodischen Prämisse klassifiziert Mignolo Konzepte wie magia romántica und espiritismo naturalista als ethnologische Begriffe, die die orale Volkstradition bezeichnen. Sobald sich die orale Tradition im literarischen Werk, wie im realismo maravilloso, niederschlägt, ist man aber mit einer literarischen Semiotisierung konfrontiert, die den Gegenstand verändert. Unter dieser Perspektive trägt zwar die Bezeichnung realismo maravilloso mit Realismus dem literarischen Kontext Rechnung; ein genereller Vergleich des Wundert>aren mit dem Phantastischen anhand der Gattung des Märchens wäre jedoch eine Vermischung der diskursiven Differenzen (117)9®, da sich seit Entstehung der Reflexion über die Rolle der Phantasie und des Phantastischen im 19. Jh. literarische Werke im Diskurs des Phantastischen ausdrücken. Nur diejenigen Werke können dem realismo maravilloso zugeordnet werden, die die Bedingungen der oralen Tradition im Text rekonstruieren und damit auf den diskursiven Rahmen der Gattung Märchen zurückgreifen. Mit einer Rückschau der Schriftstelleraussagen zu Phantasie und Phantastischem untersucht Mignolo sodann die cambios de actitud vom 19. Jahrhundert bis heute99.

95 Mignolo nennt seine Entscheidung epistemologisch (1986b: 116) insoweit, als er damit aber eine jeweilige ästhetischen Kategorie im Zusammenhang mit dem Erkenntnisrahmen des Schriftstellers zu reflektieren beabsichtigt, der sie geprägt hat: "optar por las definiciones étnicas (de la comunidad hermenéutica) y tratar de reconstruirlas, en lugar de buscar definiciones analíticas (de la comunidad teórica)" (116). 96 Bei der Kritik des Magischen Realismus bezieht sich Mignolo auf Anderson Imbert (1967). Der Autor entscheidet sich für Chiampis realismo maravilloso (1982). 97 Es wäre bspw. inadäquat, den generell als Prototyp angesehenen Text Apulejus' Der goldene Esel als phantastisch zu bezeichnen, obwohl formale Kriterien sowie weltanschauliche und ästhetische Äquivalenzen dies zuzulassen scheinen. 98 Schon L. Vax hatte der Stilisierung des literarischen Marchens Rechnung getragen (Vax, 1965 in: Mignolo, 1986b: 118), indem er den kontextuellen Unterschied zwischen dem Genre des Volksmarchens in der oralen Tradition und dem Kunstmärchen unterstrichen hatte. Wie beim Volksmärchen können sich auch Elemente, die aus dem Volksglauben stammen, literarisch semiotisieren und zum phantastischen Genre transformieren, indem sie Unbewußtes narrativisch verarbeiten. 99 Die Ergebnisse der Analyse Mignolos sind nur teilweise neu. Sie rekonstruieren im wesentlichen bekannte Thesen zur Transfoimation der Rolle der Phantasie seit dem Beginn des 19. Jhs.: Die im Anschluß an Vico erfolgte Entdeckung der Nostalgie nach der verlorenen Naivität des Mythos und dessen Funktion als erweitertes Erkennmismittel bei Nodier (125-126); die Assoziation des Phantastischen mit dem Zweifel an der Realität bei Maupassant (129); die Wiederherstellung des Mysteriums an einem Ort más allá, d.h. außerhalb der Grenzen der

113 Nach Meinung des Autors ergibt sich in der hispanoamerikanischen Literatur ein Wechsel von Borges zu García Márquez. Während Borges noch zum Genre des Phantastischen gerechnet werden könne, weil er in dessen diskursivem Rahmen stehe, beginne mit García Márquez und dem realismo maravilloso eine Literatur, die die orale Volkstradition zu einem wichtigen Bestandteil macht. Der Diskurs der Americanidad vollzieht sich, so Mignolo, durch die Wiederaufnahme der oralen Tradition. Mignolo benutzt literarische Texte zum Zwecke einer diskurshistorisch orientierten Fragestellung, wobei er die herangezogenen Beispiele als Etappen einer historischen Reihung und als Niederschlag einer kausalen Folge behandelt, die eine Kontinuitätslogik als Evaluationskriterium erkennen läßt. An einem solchen Vorgehen läßt sich die Wirkung wissenschaftlicher Diskurse messen100. Angesichts der Gefahr, daß der Uterarische Text den theoretischen Diskursen unterschwellig dienstbar gemacht wird, war es in der vorliegenden Studie notwendig, das Panorama der Diskurse über den Magischen Realismus zu rekonstruieren und ihre Vorannahmen aufzudecken, statt - wie Mignolo es tut - die Debatte beiseite zu lassen. Es wird zu prüfen sein, inwieweit die literarischen Texte in Widerstreit zu diesen Diskursen stehen und sie dekonstruieren. Besonders die Einsicht in die Wiiksamkeit des Identitätsdiskurses bei den meisten hier diskutierten Ansätzen läßt erneut die Notwendigkeit der Wiedergewinnung von kulturellen, regionalen und perspektivischen Spannungen jenseits der Abstraktion von Identitätsformeln und Definitionsbestimmungen erkennen. Um eine solche Pluralität der Perspektive zu erarbeiten, soll in den nächsten zwei Kapiteln vor der eigentlichen Textuntersuchung versucht werden, das theoretische Blickfeld in zwei Richtungen zu erweitem: a) unter kulturhistorischer Perspektive mit Überlegungen zur Mestiziening und b) aus ästhetischer Sicht mit einer Behandlung der Aussagen von Schriftstellern über den Stellenwert des Barock in der hispanoamerikanischen Kunst und Literatur.

Wissenschaft, bei Dario (136); die Vorherrschaft des wissenschaftlichen Modells dagegen bei Lugones, wobei aber die Grenzen des Wissens tnmszcndiert werden und das Phantastische die Rolle Übernimmt, die Inkomm ensurabilitäi der Materie zu konstruieren (141-143). Mit Borges (Bioy Casares, Kafka, Henry James) beginne eine ficción fantástica von möglichen Welten, die die bei der ersten Auslegung des Begriffs durch Nodier zugrundeliegende Logik umkehrt Das Phantastische ist bei Nodier noch eine erweiterte Form der Vernunft, wahrend Borges' phantastische Literatur die von der Vernunft gestiftete Weh dekonstniiert (144-148). Mit diesen Werken nimmt die Literatur den Platz der Philosophie ein. Die Werice des realismo maravilloso nehmen schließlich den Diskurs der americanidad auf. Mit dem Akzent auf der Mischung von razón mítica und mito de la razón (153) übernimmt Mignolo die Thesen des historischen Synkretismus und damit die gingige Position der Forschung, wobei die indioamerikanischen Quellen im Sinne der oralen Kultur als wichtiger Aspekt hervorgehoben werden. 100 So begrüßenswert die Vorsicht Mignok» in der Formulierung der Fragestellung ist, so vorschnell erscheint seine Lektüre der Primârtexte, die ihm eine kohärente Genealogie des Phantastischen und den nahtlosen Obergang zum realismo maravilloso suggeriert. Es entsteht der Verdacht, daß Mignok» textanalytische Umsetzung seiner Theorie als Mißverständnis von Foucaults Archéologie du savoir (1969) - historisierend ist Statt auf Brüche und Ambivalenzen in Primärtexten einzugehen, wird eine historische Kohärenz konstruiert, die den provokativen Gehalt mancher Autorenaussagen außer Kraft setzt.

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IV. Die Mestizierung: Das kulturelle Identitätsmodell Hispanoamerikas im 20. Jahrhundert Die sog. magisch realistische Literatur der 50er Jahre ist die literarische Verwirklichung der Kulturtheorie der Mestizierung1, welche als ein entscheidender Bruch mit den vorangehenden hispanoamerikanischen Lösungen der Identitätsfrage gilt. Das Neue wird darin gesehen, daß sich - anders als im 19. Jahrhundert - die hispanoamerikanische Identität in Abgrenzung zu Europa definiert und hierfür das distinktive Merkmal der Heterogenität verwendet. Mit einer Uminterpretation der conquista als Schöpfungsakt der zusammentreffenden Kulturen soll dieses Konzept auch eine historische Konkretion von Identitätsbildung leisten. Es verleiht den nach der Unabhängigkeit vermeintlich geschichtslosen Nationen eine Einheit2 und einen historischen Sinn insofern, als man sich mit dem Selbstbild kulturgeschichtlicher Diskontinuität vom abendländischen Ideologem einer historischen Kontinuität absetzt. Der Mestizierung liegt die Idee einer die Gegensätze der amerikanischen Kulturen verbindenden Synthese zugrunde. Verschiedene Bezeichnungen werden angeboten: cultura sinfónica (Vasconcelos), Eurindia und cultura aluvional3 (Uslar Pietri, Valcárcel, Lezama Lima), real maravilloso (Carpentier)4. Mit dem kulturellen Mestizierungsmodell scheint eine Umkehrung der Ideologeme des 19. Jahrhunderts gelungen zu sein: Empfänglichkeit (receptividad) und Aufnahmebereitschaft statt Kopie; Kreativität statt Dependenz und - damit verbunden - Aktivität statt Passivität; Ästhetik des Gegensätzlichen statt klassischer Harmonie. Auf den Barock wird zweifach verwiesen; einmal, weil er historisch mit der Geburtsstunde der Mestizenkultur in der colonia koinzidiert, zum zweiten, weil er als Stilbegriff die mestizierte Kultur Hispanoamerikas auch transepochal verwirklicht haben soll. Infolge der Aufwertung der kulturellen Anomalie konnte mit dem Kulturmodell der Mestizierung das ästhetische Paradigma der Avantgarde mühelos aufgenommen und die Transgression der klassischen Ästhetik als kulturintemes Prinzip ausgelegt werden. 1

Chiampi fuhrt das semantische Oxymoron des realismo maravilloso auf das Ideologem der Mestizierung zurück - ein Ideologen) der kulturellen Heterogenität, dessen Konsolidierung im hispanoamerikanischen Identitätsdiskurs - Chiampi zufolge - mit der Geburt des Genres des realismo maravilloso in den 50er Jahren koinzidiert (1983:167).

2

"Aun cuando diferían los objetivos y el terreno de sus discusiones, la idea predominante en sus análisis es que el mestizaje es el verdadero criterio para postular una diferencia latinoamericana, en relación a los modelos europeos y norteamericanos así como también es el criterio para configurar un bloque cultural, diversificado por variedades regionales, aunque homogeneizado por la preceptividad ante las influencias" (Chiampi, 1983:154).

3

Ricardo Rojas verwendet erstmalig den Begriff der cultura aluvional, womit er auch die Historiographie einer Kultur meint, die sich äußere Einflasse aktiv einverleibt

4

Vgl. auch Chiampi (1983:166).

115 Dies erklärt, daß der Magische Realismus, d.h. diejenige hispanoamerikanische Literatur der 50er Jahre, die als unmittelbarer, authentischer Ausdruck der "Ontologie" der Mestizierung galt, im Sinne der ästhetischen Realisierung des kulturellen und politischen Programms eingeschätzt wurde, die die historischen Avantgarden beansprucht hatten. So konnte die Literatur des Booms, vornehmlich unter dem Zeichen der Mestizierung und mit dem Paradigma des realismo mágico, als internationale Erneuerung in die Literaturgeschichte eingehen. Auch im Bereich der Ansätze zur Mestizierung scheint die schon bei der Behandlung des Magischen Realismus beobachtete Tendenz voizuhenschen, nach der die Identitätsdiskurse mit essentiellen Wesenszügen der hispanoamerikanischen Kultur, Kunst und Literatur gleichgesetzt werden. Will man die wissenschaftliche Debatte vor einer solchen Tendenz bewahren, müssen auch diejenigen Diskurse historisch perspektiviert werden, die zu Beginn des Jahrhunderts aus dem Phänomen der Rassen- und/oder Kulturmischungen einen Hauptbestandteil von Identitätsbildem gemacht haben. Es wird zunächst klar, daB die Begriffe der "Mestiziening" und des "Mestizen" unterschiedliche Dimensionen haben: Im Bereich von Kunst und Literatur wird mit Pedro Henríquez Ureña und Arturo Uslar Pietri die Mestizierung metaphorisiert und zu einer ästhetischen Kategorie umgeformt, die prägend für den literaturwissenschaftlichen Diskurs war. Im Kontext des Ateneo de la Juventud' und mit José Vasconcelos, Bildungsminister unter Präsident Obregón (1920-1924), entwickeln sich auch die kulturphilosophischen Komponenten der Mestizierungstheorie. Besonders letztere weisen in Mexiko eine breite gesellschaftliche Wirkung auf, was sich in soziologischen Ansätzen der 30er Jahre feststellen läßt - ein Beispiel liefert der hier untersuchte wissenschaftliche Bericht des Soziologen Aguirre Cárdenas. In Mexiko hat die Mestizierung einen besonderen Status. Durch den starken sozialen und politischen Einfluß der Mestizen wird das Mestizierungsmodell zum wichtigsten Träger des Identitätsdiskurses, auf den sich die offizielle Ideologie der mexicanidad mit der Konsolidierung der Revolutionspartei6 von den 30er Jahren an stützt. Diese implizite Vermischung von rassischen, sozialen und ästhetischen Komponenten des Identitätsdiskurses verleiht dem Konzept der Mestizierung eine Ambiguität. Rassentheoretische und kulturelle Implikationen überschneiden sich unterschwellig. Auf diese Ambiguität, die im Diskurs der mexicanidad auch über den Rahmen der 30er Jahre hinaus bestehen bleibt, reagieren die Intellektuellen Mexikos mit zwei unterschiedlichen Tendenzen: Während kanonische Autoren wie Octavio Paz die These der Kreativität der Mestizenkultur übernehmen, sie zwar (als otredad) modifizieren, ihre Basisannahmen jedoch vertiefen, arbeiten andere Schriftsteller schon sehr früh kritisch an

5 Zu Ateneo de la Juventud, besonders zu Vasconcelos und Reyes, sowie zum Diskurs der mexicanidad im mexikanischen Essay des 20. Jhs. vgl. Vf., 1992b. 6 Partido Revolucionario Institucional (PRI) seil 1946.

116 den Prämissen des Identitätsdiskurses. Beispielhaft für letztere ist José Revueltas und dessen in Kap. VI untersuchten Roman El luto humano (1943). Eine Skizze der Genealogie des Mestizierungsbegriffs aus den epistemischen Bedingungen des 19. Jahrhunderts soll die kolonialistische Anlagen und die Grenzen zeigen, an die der Begriff stößt, sobald er für die Verfestigung von Identitätsdiskursen vereinnahmt wird.

1. Mestizaje statt blanqueamiento der Rasse? Das kolonialistische Apriori in der Genealogie des Mestizen Das Emanzipationsprojekt von Domingo Faustino Sarmiento, das im 19. Jahrhundert den Kristallisationspunkt der Identitätssuche Hispanoamerikas darstellt, entwirft auf der Basis europäischer Modelle das Bild einer zukünftigen Zivilisation als Ausweg aus der barbarischen Vergangenheit des Caudillo Facundo, welcher das irrationale, autochthone Element verkörpert7. Die Suche nach einer despañolización-europeización ist identitätsstiftend8. Europäische Modernisierungstendenzen der Hauptstadt Buenos

7

Mit dem 1845 zunächst als Folge von Artikeln in El Progreso, dann im gleichen Jahr als Buch erschienenen Civiliiación y Barbarie. Vida de Juan Facundo Quiroga rechnet Sarmiento mit der Diktatur Rosas' ab und entwirft das Gegenbild einer Zivilisation, die eine fortschrittliche nationale Gesellschaft aufbauen sollte. Sarmiento etabliert damit das Oppositionspaar von Barbarie und Zivilisation als Bezugssystem für die Definition der hispanoamerikanischen Identität, ein noch im 20. Jahrhundert galtiges System, dessen Pole unterschiedlich besetzt wurden (vgl. Fernández Retamar, 1972; Moreno-Durán, 1976, bes.Kap.II; Gewecke, 1983a:43-68, Janikund 1992:69-84). Der 1900 publizierte Ariel (José Enrique Rodó) repräsentiert den Kampf des formenden Prinzips, d.h. des philosophischen Humanismus der Latinidad, gegen Calibán, d.h. die kulturlose Form des angelsachsischen Utilitarismus. Eine ambivalente Beziehung zu dem machtigen Nachbarn ist auch für das Mexiko des beginnenden 20. Jahrhunderts charakteristisch (Delgado González, 1975). Seit Fernández Retamars Revision von Interpretationen des ShakespeareMotivs (The Tempest) in verschiedenen Epochen und Ländern (1972) bemühen sich hispanoamerikanische Autoren, aus dem Oppositionsdenken zwischen Barbarei und Zivilisation herauszukommen. Besonders Moreno-Durán greift auf die Studie von Fernández Retamar zurück (1988:33-60) und zeigt das Fortbestehen der von Sarmiento übernommenen Opposition auch in Fuentes' Umkehrung und Umformung der Gegensatze: In La nueva novela hispanoamericana wird die abendlandische Zivilisation als barbarisch bewertet, wahrend der nun mit imaginación positiv besetzte Gegenbegriff auf Hispanoamerika zufallen soll. Moreno-Durán dekonstmiert diese Opposition und zeigt u.a. mit Bezug auf Fernando del Pasos Palinuro de México, daß in der Imaginationskraft des zeitgenössischen hispanoamerikanischen Romans eine grundlegende Form der Barbarei, nämlich eine der Kultur innewohnende (universale) Gewalt sichtbar wird: "La imaginación, una vez más, constituye la única posible elección ante todas las formas de violencia (y ya no disimulada 'barbarie') que tradicionalmente han definido la historia del continente" (1988:41). Die 1976 erschienene, 1988 in einer erweiterten Fassung erneut herausgegebene Studie von Moreno-Durán, De la barbarie a la imaginación, deren Kritik an den Prämissen der Opposition selbst (1976) und ihrer Übernahme seitens hispanoamerikanischer Intellektuellen ansetzt, verdiente auch in der deutschsprachigen Hispanistik eine größere Beachtung. Als eine Studie, die durch die Aufarbeitung historischer Diskurse aus dem dichotomischen Denken herausfahrt, muß dagegen der einführende Aufsatz von Ottmar Ette zu seiner Übersetzung und Edition von Ariel in deutscher Sprache erwähnt werden (1994).

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Der "mito pesimista de inferioridad" wird mit Hispanidad gleichgesetzt, weswegen sich der von französischer Seite (Michel Chevalier) gebildete Name Amirica Laiina im 19. Jh. durchsetzt: Tones Caicedo verwendet ihn in seinem Gedicht Las dos Américas, erschienen 1857 in La revista del nuevo mundo (Ardao, 1980:83f.). Diese allgemeine Tendenz, Frankreich gegen Spanien auszutauschen, ist durchaus gebrochen. Für die Literatur Mexikos kann bspw. beobachtet werden, daß sich Autoren wie Altamirano der Schwäche bewußt sind, die aus der Übernahme der

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Aires, in der sich das antispanische Unabhängigkeitsbestreben der criollos entwickelt hatte, scheinen einen Ausweg aus der von der spanischen Rasse zu verantwortenden Barbarei der Landbevölkerung zu bieten, zu der Reste von Inquisition, Sklaverei und Despotismus zählen. Dabei bewirkt die Akzeptanz europäischer Fortschrittsideen, daß die Ideologie des 19. Jhs. in Hispanoamerika allgemein von empiristischen und positivistischen Rassentheorien geprägt ist, unter denen die von Buffon, Pauw und Darwin vorherrschen. Gerade die Opposition von Rückstand und Fortschritt im Rahmen sozialdarwinistischer Positionen löst eine negative Einschätzung der Rassenvielfalt aus. Damit verbunden, wird der Mestize zum Träger der Mischung aller negativen, sowohl biologischen als auch durch das Milieu bestimmten Rassenmerkmale9: "irracionalidad, inmoralidad, servilismo, prejuicios, belicosidad, hipocresía, egocentrismo" etc. Die Mestizennatur des Hispanoamerikaners gilt als krank und wird dafür verantwortlich gemacht, daß keine Demokratie realisiert werden kann10. Gegen eine solche Krankheit sollen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hohe Einwanderungsquoten aus Europa und das damit herbeigeführte, biologische und geistige blanqueamiento der Rasse (Chiampi, 1983:140) Abhilfe leisten. Die Einführung und uneingeschränkte Durchsetzung einer positiven Wissenschaft von Geschichte, Politik, Ökonomie und Soziologie sollten damit gerechtfertigt weiden (Zea, 1943). Aus dem gleichen Bestreben, die "Barbarei auszurotten", entsteht die Forderung nach educación. Dieses Ziel wird als wichtigste Komponente des Kultuimodells auch im 20. Jh. zu finden sein. Im 19. Jahrhundert bedeutet Erziehung zunächst eine nun freiwillig angestrebte Angleichung an die Modemisierungstendenzen europäischer Kultur, und zwar insbesondere an die Frankreichs (Zea, 1976:25), womit das rückständige spanische Erbe11 unterdrückt werden soll. Dies ist eine Forderung nach Erneuerung und eine Bewegung, die Hispanoamerika paradoxerweise mit dem Mutterland teilt (Zea, 1982 [1952]:8). Im gesamt-hispanoamerikanischen Klima der Jahrhundertwende kommt es auch zu einer neuen Entdeckung des indianischen Elements12. Auch die Vermischung der in-

Schreibpraxis aus England und Frankreich resultiert, weshalb auch die Forderung der allgemeinen desewopeizacién, d.h. der Emanzipation der mexikanischen Literatur "de toda oaa" (Hölz, 1985:417), formuliert wird. 9

Der Traktat von Gustave Le Bon Lois psychologiques de l'évolution des peuples (1894), in dem Rassenmischung als stets minderwertig gegenüber der Reinheit ursprünglicher Rassen angesehen wird, wurde breit rezipiert Vgl. Martin Stabb (1969), Kap. U.

10 Ich verweise auf Leopoldo Zea (1976) und auf Kap. 5 der Studie von Chiampi (1983). 11 Die Abkehr von Spanien ist nicht nur als Folge der Independencia zu werten, sondern entspricht auch dem Rückständigkeitsverdacht, der die Identität Spaniens im 19. Jahrhundert belastet hat und von Larras bitterem Saricasmus offengelegt wird (z.B. in "En este pais" vom 30. April 1833 in: La Revista Espanola). 12

Die Idealisierung des Indios durch die sich im Rahmen der Unabhängigkeit entwickelte novela indianista Übernimmt zwar den aufldârerisch-verbrâmtcn und romantischen Exotismus eines Marmontel oder Chateaubriand, arbeitet aber der Con^miia-Ideologie der Unterlegenheit des Indios entgegen (Holz, 1992:502). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts mllndet die Aufwertung des Indios in eine indigenistische Bewegung, die sich um einer anthropologisch gestützte Aufarbeitung der indianischen Traditionen Hispanoamerikas und eine Verbesserung der sozialen Bedingungen be

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dianischen und der weißen Rasse erhält zwar damit einen positiven Wert, doch drückt die Mestizierungsthese zunächst vornehmlich eine ablehnende Reaktion auf die Simplifizierung von Identitätsdiskursen aus, welche biologische Evolution als Wert ansehen. Die "Genealogie des Mestizen" wird zum großen Teil durch ein kolonialistisches Apriori bestimmt. Ein Beispiel aus dieser Literatur verdient, illustriert zu werden. Der Roman des Schriftstellers und Essayisten Eligió Ancona (1836-1893) mit dem Titel La mestiza13 kann zunächst als eine Parabel der Geburt des Mestizen als rechtmäßiger Nachfolger der Kreolen beschrieben werden. Die Fabel des Romans La Mestiza (1927) handelt von der Liebesgeschichte zwischen Pablo, dem jungen Sohn eines Hacendado, und Dolores, einer Mestizin in einem yukatanischen pueblo. Das auch im 20. Jahrhundert zentrale Motiv der bastardía ist hier Thema des Romans, der die Geburt und das Schicksal eines Bastards behandelt, dessen Eltern unterschiedlichen Rassen und sozialen Ständen angehören. Die Fabel präfiguriert eine Annäherung der Rassen und ist auf ein happy end ausgerichtet, das mit der Anerkennung der eigenen Schuld durch Pablo, mit dessen frühem Tod und der Wiedergutmachung durch die Überlassung seines Vermögens an Rafaelito, den bastardischen Sohn, auch verwirklicht wird. Das happy end läßt zwar auf die Geburt einer Mestizenkultur hoffen, die von den Intellektuellen angstrebt wird, verschleiert aber gleichzeitig eine im Hinblick auf die indianische Kultur repressive Ideologie. Betrachtet man die Beschreibung der Figuren, erkennt man, daß es nicht um die Annäherung fremder kultureller Bereiche geht, sondern vielmehr um die Bestätigung der Weitergabe der Rechte der Weißen an den Mestizen. Es ist die Affirmation der Geburt des Mexikaners aus dem spanischen Erbe. Bedeutsam ist indes, daß gleichzeitig eine zweifache Negation des ethnischen Elements des Indianers vollzogen wird: Einmal durch die zerstörerische Rolle indianischer Aufstände14, zum anderen durch die Beschreibung Dolores', die eher dem kreolischen als dem indianischen Typ entspricht: Figúrese el lector una joven de diez y ocho primaveras con esa pequeña estatura y esa complexión delicada que parecen tan esenciales a la belleza de la mujer. El mUhl. Gesamtamerikanisch gilt Rena de bronce (1919) des Bolivianers Alcides Arguedas als erster Roman des Indigenismo, dessen wichtigster Vertreter in Mexiko El Indio (193S) von Gregorio López y Fuentes isL 13 Der Roman erschien erstmalig 1861 bei Imprenta de la Sociedad tipográfica (Mérida). Die Wirkung dieses Textes ist durch die Editionen dokumentiert: 1891 (Impronta editorial, Mérida); 1927 (Biblioteca de la voz popular, Mérida); 1950 (Ed. Yucatense "Gub del Libro", Mérida) mit dem Titel La mestiza, novela yucateca. 14 Die Rebellionen der Indios werden als apokalyptische Visionen von zerstörten Dörfern dargestellt: "Restos informes y negrecidos de innumerables casas reducidas a cenizas que humeaban todavía; grandes manchas de sangre sobre las piedras" (1950[1861]:18). Die indianische Bewegung wird besonders dadurch, daS Dolores' Valer bei der Bekämpfung des Aufstandes im Namen der Regierung stirbt, mit einem ausgeprägt negativen emotionalen Wert aufgeladen, denn mit den Rebellionen und dem Tod des Vaters beginnt Dolores' Leidensweg. Die Indios erscheinen wie dämonische Gestalten "[...] vi un indio sobre un soberbio caballo que parecía aspirar con placer el denso vaho de la pólvora que ya nos ahogaba a nosotros [...] De súbito sentí un dolor agudo (...) Vi sonreír al indio con una alegría infernal" (19). Der Untergang dieser gefallenen "indianischen Engel" wird in die Verantwortung des imperialistischen Spaniens gelegt, wie die Beschreibung der Zerstörung der antiken Kulturen durch die Eroberer im II. Kap. zeigt. Vom spanischen Eroberer setzen sich hingegen die moralisch positiven Figuren des Kreolen Pablo Moneada und dessen Familie ab, die die eigentlichen Helden dieses Romans darstellen.

119 color de su semblante, más claro que el que generalmente tienen las mestizas, adquiría el de la flor del granado cuando una palabra o una mirada de Pablo alarmaba su pudor (11). Die Bezeichnung "Mestizin" wird vom Roman mit einem Referenten verbunden, dessen Merkmale dem Bild der zivilisierten weißen Rasse entsprechen. Die Handlung illustriert zwar die Geburt der Mestizen, diese wollen sich aber durch die rassische Angleichung auch als rechtmäßige Nachfolger der weißen Rasse legitimieren. Der indianische Anteil hat in dieser Allegorie des Mestizen keine Bedeutung. Die Darstellung des Indios ist negativ und dient als Kontrastfigur nur dazu, ein ideologisches blanqueamiento der politisch und sozial an Bedeutung gewinnenden mexikanischen Mestizen unterschwellig zu erzeugen. Inwieweit dieses Apriori in Mexiko durch die Entwicklung des Mestizierungsmodells im 20. Jahrhunderts getilgt wird, bedarf angesichts der Vermischung von rassischen, sozialen und kulturellen Implikationen einer gesonderten Analyse. Zunächst muß im gesamthispanoamerikanischen Kontext festgestellt werden, daß durch das Aufkommen neuer ästhetischer und kulturphilosophischer Paradigmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Prämissen der rassenbezogenen Diskurse sozialdarwinistischer Herkunft in Frage gestellt werden und das rassische Paradigma durch ein ästhetisches und philosophisches ersetzt wird.

2. Die Mestizierung: Ein "avantgardistisches" Kulturmodell 2.1 Kritik der Opposition Criollo vs. Indio: Henriquez Ureña Mit dem Begriff der Mestizierung wirft Pedro Henriquez Ureña 1928" erstmalig die "amerikanische Frage" programmatisch auf, nachdem er die unmittelbar vorangegangenen Identitätsentwürfe des criollo und des Indio einer Kritik unterzogen hat: Die ersten Versuche einer Umkehnmg der pessimistischen Rassentheorien des 19. Jhs. interpretieren das indianische Element als Träger eines paradiesischen Zustandes, dessen Zerstörung die Conquista bewirkt habe. Die Koinzidenz der Idealisierung indianischer Frühkulturen im hispanoamerikanischen Indigenismo mit der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies in den europäischen Avantgarden16 ist augenfällig. So sieht Henriquez Ureña nicht nur in den Emanzipationsformeln des 19. Jhs. die Gefahr der ideologis-

15 Seis ensayos en busca de nuestra expresión (1928) gilt als Antizipation von El laberinto de la soledad von Octavio Paz. Henriquez Urefia wurde zwar in der Dominikanischen Republik geboren, lebte aber nach Aufenthalten in Spanien und den USA seit 1906 in Mexiko, wo er zu einem der maßgeblichen Athenaisten wurde. 16 In diese Richtung gehen RQssners Vergleich europaischer Paradiesprojektionen (Artaud) mit dem Selbstverständnis des indigenen Mexiko in den 20er und 30er Jahren (1988a) sowie seine komparalis tische Untersuchung des Motivs vom verlorenen Paradies (1988b).

120 chen Abhängigkeit von Europa und bezeichnet kreolische Konzepte nationalistischer Lösungen als anachronistisch und autoritär, sondern er erkennt gleichzeitig das Dilemma eines auf der Originalitätsprämisse basierenden Identitätsbildes, das sich einer fremden Sprache bedienen muß. Henríquez Ureña zufolge schlägt sich in Begriffen wie naturaleza, indio, criollo oder in temas costumbristas nicht nur eine in der spanischen Sprache fortdauernde Kolonialisierung nieder; auch in der Suche nach der Identität durch die Übernahme fremder Ideen sei ein grundlegender Widerspruch enthalten, so daß jede aus dem Begehren nach Originalität entstehende Identitätsformel notwendigerweise zu neuen Formen von Kolonialisierung führen müsse. Aufgrund dieser ersten Einsicht in die Schwierigkeit der Formulierung einer hispanoamerikanischen Identität schlägt Henríquez Ureña die Lösung der Mestizierung vor. Nach Auffassung von Henríquez Ureña hat das Modell der Mestizierung den Vorteil, daß es a) weder Position für das autochthone amerikanische, noch für das spanische Element bezieht, sondern das Amerikanische gerade als Erneuerungskraft europäischer Werte betrachtet17, wobei b) der Begriff der Mischung den Akzent auf die Rettung autochthoner, indianischer Traditionen setzt. In Henríquez Ureñas Konzeption der Mestizierung als Konfrontation mit dem Anderen sind die Hauptelemente eines Modells enthalten, dessen Spuren sich bis zu Octavio Paz verfolgen lassen. Demgegenüber ist ein bedeutender Aspekt des Denkens von Henríquez Ureña weniger rezipiert worden. Ich meine die Feststellung der paradoxalen Natur einer Identitätsfrage, die trotz des Begehrens nach einer Selbstdefinition, die sich als Differenz zu Europa versteht, das Selbst durch die Annahme der Prämissen des Anderen definiert. Dies wird im weiteren Verlauf der Argumentation zu zeigen sein. Mit der Kritik an der romantisch inspirierten Identitätssuche legt Henríquez Ureña ein Dilemma der hispanoamerikanischen Identitätsfrage offen, das auch über die kreolische Formel nationaler Identitätsentwürfe hinaus gilt: "Y el siglo del nacionalismo cultivó, paralelamente, el exotismo. Nacionalismo y exotismo: dos caras del individualismo, transportado a los grupos sociales"'8. Identitätsbegehren und Exotismus sind als zwei Seiten einer Medaille zu sehen.

2.2 Die kulturelle Mestizierung als Metapher für Kreativität: Uslar Pietri Uslar Pietri führt die Diskussion der Mestizierung aus dem kulturellen in den literarischen Bereich. In Lo criollo'9 en la literatura charakterisiert Uslar Pietri die litera17 "Tenemos derecho a considerar seguro el porvenir [...] porque para entonces habrá pasado a estas orillas del Atlántico el eje espiritual del mundo español" (1932:253). 18 España en la cultura moderna (in: Hamilton, 1971:130). 19 Uslar Pietri setzt, wie alle Theoretiker des Magischen Realismus nach ihm, den Beginn der literatura criolla bei der conquista an: "América fué, [...] un hecho nuevo para los europeos que la descubrieron [...]. Todo estaba fuera de la proporción en que se había desarrollado históricamente la vida del hombre occidental. El monte era más que un monte [...]. No hallaban nombre apropiado [...]. También hubo de formarse pronto una sociedad nueva. El español,

121 rische mestizaje durch Eigenschaften, die der Ästhetik des Magischen Realismus entsprechen. Die wichtigsten Aspekte der Theorie von Uslar Pietri geben die im vorangehenden Kapitel besprochenen Thesen wieder, etwa: Verfremdung überlieferter Modelle, Übernahme eines mythischen Bewußtseins und indianischer Symbolik, Vorrang der Intuition und der Emotion sowie pathetischer Ton und emotionale Ausdruckskraft. Die Entstehung einer solchen Ästhetik ist nach Uslar Pietri mit der Wahrnehmung der "neuen Welt" verbunden: Als neues Medium erzeugt die hispanoamerikanische Welt notwendigerweise andere literarische Ausdmcksformen als die europäische. Mit dieser These gelingt es Uslar Pietri, die kulturelle Entfremdung gegenüber der ursprünglichen spanischen Kultur als ästhetische Verfremdung umzudeuten und das Phänomen der Mestizierung zu einer hispanoamerikanischen Ausdrucksform zu erklären, die nicht Sprachlosigkeit, sondern Kreativität impliziert: Los peninsulares parecían pensar que todo aquello que era diferente en la expresión literaria americana era simplemente impotencia para la imitación, balbuceo30 o retraso colonial. Algún día superarían esas desventajas y sus obras podrían confundirse enteramente con las de los castellanos. Esas diferencias literarias existieron desde el primer momento. Empezaron a aparecer aun antes de que hubiera criollos. Surgen ya en la expresión literaria de los primeros españoles que llegan a América y la describen. La sola presencia del medio nuevo los había tocado y provocado en ellos modificaciones perceptibles (156). Die These der Sprachlosigkeit wird an die Sicht des Eroberers gebunden und von der weiteren Feststellung entkräftet, das kulturelle Medium habe eine formgebende Funktion21. Durch die Veränderung der europäischen Inhalte entsteht eine andersartige Literatur. Das Medium ist nicht transparentes Mittel für den kulturellen Transfer, sondern erhält eine kreative Funktion dadurch, daß es Widerstand gegen die alten Formen leistet22. Mit seiner These der Neuschöpfung durch Transgression von tradierten Formen ist Uslar Pietri nicht weit entfernt von der Ästhetik der europäischen Avantgarden, die er von 1929 bis 1934 in Paris kennengelernt hat. Die neue Welt deautomatisiert23 herkömmliche Formen und inspiriert poetische Bilder, die neue Wahrnehmungen einel indio y el negro la van a componer en tentativa y tono mestizo. Una sociedad que desde el primer momento comienza a ser distinta de la europea que le da las formas culturales superiores y los ideales, y que tampoco es continuación de las viejas sociedades indígenas.'' (1979[1954]:155). 20 Wie sehr sich mit den Mestizierungstheorien der 30er und 40er Jahre bestimmte Vorannahmen gefestigt haben, zeigt der nicht hinterfragte Gebrauch der estética del balbuceo, etwa bei Pizarra: "Lo que se intenta organizar es la dinámica de una historia literaria constituida por una gran dialéctica de ruptura y continuidad [bezogen auf Paz' Begriff der tradición de la ruptura in "Poesía en movimiento", 1966]. Se desplaza entre mimetismo y creatividad con voz balbuceante - es la gran estética del balbuceo" (Pizarro, 1985:29). 21 Auch Chiampi weist darauf hin, daß das Ideologen) der Mestizierung keine Substanz im Sinne einer extratextuellen Referenz meine, sondern als schöpferische Form zu verstehen sei, womit der Text nicht als Repräsentation, sondern als Prozeß ("como significable, incluso re-significable") zu verstehen sei (1983:178). 22 "Se manifiesta también como resistencia del nuevo medio cultural al trasplante de las formas europeas" (157). 23 Im Sinne der Verfremdungstheorie des Russischen Formalismus, insbesondere der Theorie des poetischen Bildes durch Sklovsüj (1969:4-35).

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leiten. Die Wahrnehmungsbedingungen in der neuen Welt wirken bei dem mit der Kultur der alten Welt durchsetzten hispanoamerikanischen Künstler kreativ. Uslar Pietris Verständnis des criollo als Metapher für ein literarisches Schöpfungsprinzip stellt die Basis der mit dem Magischen Realismus in Zusammenhang gebrachten Kreativitätsthese dar. Bei Uslar Pietri enthält die Idee der Mischimg von kulturellen Phänomenen einige interessante Aspekte: Etwa wenn daraufhingewiesen wird, daß die kulturelle Mestizierung Hispanoamerikas nicht in Opposition zum christlichen Abendland zu sehen sei: La historia del Occidente cristiano es la del más extraordinario y aluvional experimento de mestizaje cultural. Las lenguas modernas son el archivo viviente y el mejor testimonio de esa caótica mezcla (1969:12). Weiterhin ist die Feststellung der Tatsache bemerkenswert, daß Kultur grundsätzlich aus Mischungsprozessen entsteht, was zu einer Absage sowohl an deterministische Vorstellungen als auch an die Defizienzthese der neuen Welt führt. Die These, daß selbst in der natürlichen Welt nicht das Kausalitätsprinzip, sondern paradigmatische Sprünge24 Kreativität auslösen, läßt sich wiederum als eine Übertragung des poetischen Prinzips der metaphorischen Kreativität25 auf kulturelle Phänomene sehen, das in der Mestizierungsidee enthalten ist. Gerade diese Idee, die sich auch als eine wichtige Komponente der Überlegungen Lezama Limas zur kulturellen Bedeutung des Barock erweist26 (vgl. Kap. V), wie auch die Entkräftigung der aus der Sicht der Eroberer stammenden These sprachlicher und kultureller Defizienz scheinen mir einen wichtigen Beitrag zur Mestizierungstheorie zu sein: En cambio la América Hispana es tal vez la única gran zona abierta en el mundo actual al proceso del mestizaje cultural creador. En lugar de mirar esa característica extraordinaria como una marca de atraso o de inferioridad, hay que considerarla como la más afortunada y favorable circunstancia para que se afirme y extienda la vocación del Nuevo Mundo que ha estado asociada desde el inicio al destino americano (1969:25). Die Deutung Uslar Pietris stellt im Prinzip die Grundlage für die Überwindung einer Polarität zwischen der alten und der neuen Welt auch im Bereich der literarischen Mestizierung dar27. Doch wurden solche weiterführenden Thesen bisher von der For24 "Casi podríamos hoy decir, para escándalo de Leibniz, que la naturaleza no procede sino por saltos" (1969:31). Vgl. auch Moreno-Durán (1988:85). 25 Im Sinne der Theorie der poetischen Metapher von Paul Ricoeur (1975) ergibt sich eine Kreativitäts- und Erkenntnisleistung bei der Metapher dadurch, daß beim Zusammentreffen heterogener Begriffe zwar Ähnlichkeit relationen entstehen, daß aber aus der verbleibenden Differenz neue kreative Synthesen geschaffen werden können (Vgl. Vf., 1985:14f.). 26 Zu Lezama Limas Geschichtsbegriff als autonome Serie von KreativiUtssprQngen aus der Begegnung von Kulturen vgl. Berg (1991). 27 Diese Anregung Uslar Pietris wird erst später, durch Moreno-Durán, aufgenommen. "Identität" will der kolumbianische Schriftsteller statt als ontische Kategorie als eine Kategorie der Form (expresión), d.h. als imaginativen Akt, verstehen, der zwar charakteristisch für die escritura hispanoamericana sein kann, jedoch an der Universalkultur

123 schung weniger aufgenommen. Die Bindung einer aus der Mestiziemng entstehenden Kreativität an die hispanoamerikanische Kultur des 20. Jahrhunderts und der Appell zur Überwindung des Minderwertigkeitskomplexes bieten sich für eine apologetische Auslegung und für ideologische Fixierungen an. Auch bei der Studie von Uslar Pietri ist problematisch, daß die Unterstreichung der Differenz zu Europa, vor allem zu Spanien, reduktionistisch gegenüber einem der beiden Pole erfolgt Dies ist ein grundlegendes Problem der Identitätsentwürfe. Im 19. Jahrhundert ging die Differenz zu Lasten Hispanoamerikas selbst Im 20. Jahrhundert geht sie, wie sich in Uslar Pietris Mestiziemngsthese zeigt, zu Lasten des offiziellen Spaniens, etwa wenn der Autor die Vorzüge der literatura criolla und ihre typischen Eigenschaften in Opposition zu den Merkmalen zu bestimmen sucht, die Menéndez Pidal der spanischen Literatur zugeschrieben hatte (1979[1954]:157 und 1 5 9 f . Mit dem Diskurs der Mestizierung sucht Hispanoamerika eine Integration in die Universalgeschichte. Besonders deutlich wird dies, wenn Carlos Fuentes zur Charakterisierung des Universalsymbolismus hispanoamerikanischer Literatur die Formel des bastardismo (1969) anwendet die der Argentiner Ezequiel Martínez Estrada in Analogie zu den kulturellen Mischungsprozessen der hellenistischen und spätrömischen Geschichte gebildet hatte und die Fuentes mit dem Verweis auf die kulturellen Mischungen des mittelalterlichen Spaniens übernimmt Die positive Wirkung des kulturellen Ansatzes der Mestizierung besteht in dem Versuch, dichotomisches Denken von hispanidad gegen indianidad verlassen zu haben. Das Oxymoron heterogener kultureller Elemente wird in der Mestizierungstheorie als Synthese aufgehoben. Diese kulturelle Lösung übernimmt die romantische Sicht von der alternativen Logik poetischer Sprache, in der sich die synthetische Kraft des Geistes niederschlägt29, welche in Hispanoamerika mit José Maití eine unmittelbare kulturelle und politische Relevanz eingenommen hatte. Die avantgardistischen und postavantgardistischen Experimente haben darüberhinaus gelehrt in der (Rassen-)Anomalie30 eine revitalisierende Kraft zu entdecken. Als kulturelles Programm verbindet América mestiza alte europäische Utopien mit einer konkreten historischen Situation, in der - insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg - die Andersartigkeit programmatisch als Trumpf deklariert werden kann. Wie beim Begriff des Magischen Realismus

beteiligt ist (1988[1976]:79-80). Dies stimmt mit der Tendenz der neusten hispanoamerikanischen Idemitttsdiskussion Qberein. VgL Kap. n, besonders den von Yuririevich herausgegebenen Band. 28 Die Opposition zwischen Hispanoamerika und Spanien USt sich in der Weise nicht aufrechterhalten, sobald man konkrete Werke betrachtet An dieser Stelle sei erneut darauf hingewiesen, daß die hier rekonstruierten Thesen Identil&tsdiskursc darstellen, die das Wissen Ober die Identität veifestigea Dabei gilt die Gmndannahme, daß literarische Texte tendenziell im Widerstreit zu den offiziellen Diskursen stehen, ein Widerstreit, den es bei den konkreten Analysen dieser Studie exemplarisch zu rekonstruieren gilt 29 Dies laßt sich besonders bei Carpentier nachweisen (vgL Kap. V). 30 Chiampi weist darauf hin: "deformaciones antes condenadas por la infidelidad al modelo, pasan a ser consideradas como efectos estíticos excelentes; el lujo de la composición" (1983:138).

124 festgestellt, wird seit Uslar Pietri auch die Mestizierung metaphorisch gebraucht. Wenn einerseits die metaphorische Synthese die Überwindung des Gegensatzes zwischen hispanidad und indianidad erlaubt, so bietet andererseits die Metaphorisierung des sozialen und politischen Phänomens des Mestizentums eine versöhnliche Formel, die die Existenz von konkret zu lösenden sozialen Konflikten allzu leicht vergessen läßt31. Dies wird in Mexiko deswegen zum Problem, weil die Kulturtheorie Henríquez Ureñas und des Ateneo bezüglich des Mestizierungsgedankens mit dem nationalen Identitätsdiskurses zusammenfällt. Einige Entwürfe, die sich auf José Vasconcelos und das Ateneo de la Juventud berufen, verdienen bezüglich ihrer philosophischen und sozialen Implikationen eine nähere Betrachtung.

2.3 Die Mestizierung als kulturphilosophisches und soziologisches Programm Mexikos Im Vorfeld der mexikanischen Revolution motiviert das erste hundertjährige Jubiläum der Independencia 1910 neue Ansätze zur Bewußtseinsfindung. Dies fördert zunächst die Entdeckung im gesamten Kontinent eines eigenständigen Wertes als Rasse, eine Entdeckung, die einen inneramerikanischen wie europäischen Bezug hat32. Dies ist ein Prozeß, für den das mexikanische Ateneo de la Juventud auch gesamtamerikanische Perspektiven bietet. Dabei werden Formeln wie die der Raza Cósmica (1925) von Vasconcelos entworfen, in der der Indio als Schönheitsideal gilt, während Alfonso Reyes in Visión de Anáhuac (1915) nach einer historischen Brücke zur präkolumbischen Kultur sucht33. Vor allem in Mexiko entwickelt sich die - gegenüber dem Indigenismo vorherrschende - These der Mestizierung als kulturphilosophisches Modell. In den Weiken Vasconcelos' sind indes nicht die Indios des zeitgenössischen Mexikos gemeint. Vielmehr handelt es sich um eine abstrakte Idee der indianischen Rasse, die mit den Atlantiden gleichgesetzt wird. Der Indio, das Andere, hat vornehmlich eine metaphorische Funktion34. Vasconcelos, Bildungsminister unter dem Präsidenten 31 Es kann nicht genug auf die von Fernández Retamar aus einer grundsätzlichen Kritik des Utopiebegriffs (vgl. auch Kap. II, 4.1.2) gewonnenen Forderung hingewiesen weiden, nach der sublimierende Begriffe verlassen und die Menschen "aus came y hueso" auch in Hispaoamerika emstgenommen weiden sollten (1974:13 und 19). 32 Die Aufwertung der Indianidad ist zunächst eine Reaktion auf die um die Jahrhundertwende wachsende Bedrohung durch den angelsächsischen Imperialismus in Amerika. 33 Im Gegensatz zu herkömmlichen Interpretationen dieses Essays ist hervorzuheben, daß sich Reyes' Fragestellung nicht auf die Wesenheit der präkolumbischen Kultur bezieht, sondern vielmehr auf die Modalitäten des Zugangs zu ihr, zumal es sich um eine Kultur handelt, deren Authentizität nach dem Eingriff der Eroberung verlorengegangen isL Reyes experimentiert sodann mit der Koexistenz heterogener Perspektiven und Texte, die den Blick auf das als Metonymie des prä- und nachkolumbischen Mexikos gewählte Tal von Anáhuac bestimmt haben. Vgl. auch Vf., 1992b. 34 In seinem Vergleich zwischen der kulturellen und ethnischen Mestizierung, die er schon in pfäkolumbischer Zeit ansetzt, stellt der mexikanische Anthropologe León Portilla eine Diskrepanz zwischen einer in Kunst und Literatur der Colonia erfolgten Akkulturation und der soziokulturellen Isolierung des Indios fest Die Akkulturation der Colonia

125 Obregón (1920-24), wirkt mit seinem kulturphilosophischen Werk La Raza cósmica (1925) und Indoiogía - Una interpretación de la cultura ibero-americana (1927) möglicherweise als politischer Vermittler gegenüber der Gefahr des bloßen rhetorischen Interesses an der Integration des Indios seitens der konstitutionallen Regierung35, obwohl sein philosophisches Werk keine unmittelbare kulturpolitische Doktrin ist. Vasconcelos ist im wesentlichen von der Philosophie des Ateneo de la Juventud geprägt36, das er zusammen mit Antonio Caso, Pedro Henríquez Ureña und Alfonso Reyes ins Leben gerufen hatte und dem auch der jüngere Martin Luis Guzmán angehörte. Die Position des Ateneo ist durch die offene Opposition gegen den Positivismus37, die Rückwendung zur klassischen Kultur und Philosophie38 und die Nähe zum Modemismus39 gekennzeichnet; letzteres insbesondere nach dem Ausbruch der Revolution, welche die Gruppe radikal auseinanderreißt. Vasconcelos übernimmt die Aufgabe der Rückführung der Revolution in geordnete kulturelle Bahnen und der Einführung eines buen poder*0. Antonio Caso, von Vasconcelos zum Rektor der Escuela Preparatoria ernannt, wird zum prägenden Lehrer der darauffolgenden kann bis Ende des 18. Jhs., das auch mil der Landesverweisung der die Akkulturation vorantreibenden Jesuiten koinzidien, als im wesentlichen abgeschlossen angesehen werden (1963:193). Aufgrund der Suche nach einem Anschluß des Feudalsystems Neuspaniens an die aufgeklärten europäischen Monarchien vergißt die Monarchie Iturbides in der ersten Phase der Unabhängigkeit die Indios. Ebenso (Ohrt die zweite republikanische Phase mit Juárez im Zuge der Reduzierung kirchlicher Privilegien zur Zerstörung der calpulli, die in den ejidos der Colonia überlebt hatten. Die allgemeine Anerkennung gleicher Menschenrechte durch Juárez wendet sich, mit dem Verbot der indianischen calpulli und der Einführung des Privatbesitzes, paradoxerweise gegen die Indios selbst, die Privatbesitz angeblich nicht zu verwalten wissen und verkaufen müssen, was die Voraussetzungen für die sich unter Porfirio Díaz verfestigenden Latifundien bildet. Unter Díaz verweist man die Indios in den Stand der peones, mit ahnlicher Stellung wie bei den kolonialen encomiendas. 1910 gibt es in Mexiko 8.245 haciendas mit 88 Millionen Hektar Land in Besitz von nur 834 hacendados (vgl. Silva Herzog, 1984[1960]:22ff. und León Portilla, 1963:195). Mit dem Agrargesetz von 1915 verabschieden die Konstitutionalislen eine Agrarreform. Mit Artikel 27 der Konstitution von 1917 von Querétaro wird zwar die Wiedereinführung der ejidos beschlossen, deren Konzeption jedoch führt abermals zur Verschlechterung der Bedingungen der indianischen Bauernstände. Cárdenas' Reformpolitik (1934-1940) schließt auch das Programm einer accuííuración inducida ein (León-Portilla, 1963:196-197), d.h. ein offizielles Integrationsprogramm unter der Verantwortung der Dirección de Antropología, die eine Koordinationsfunktion gegenüber den verschiedenen Institutos Indigenistas übernimmt. Nach der Verfestigung der isolierenden und ausbeutenden Strukturen des 19. Jhs. sind die Bedingungen für die Verwirklichung eines solchen Programms jedoch wenig günstig. Zur Agrarsituation im Vorfeld, während und nach der Revolution vgL Tobler, 1984. 35 Hans Schirf (1974: 63-71). 36 Auch als Bildungsminister 'llevó a la práctica Integramente el programa del Ateneo' (vgl. Enrique Krauze, 1985:106). 37 Der Positivismus wurde in Mexiko insbesondere durch Gabino Barreda, Rektor der Escuela National Preparatoria (1867-1878), im Sinne einer antiklerikalen, geistigen Emanzipation gelehrt (vgl. Lemoine, 1970:83 und 102). Leopoldo Zea, dessen differenzierte Analyse des Positivismus als ein maßgebliches Werk gilt, sieht entgegen der ideologischen Kritik, die von der Revolution eingeleitet wurde, die Rolle des Positivismus nach der Praxis der wechselseitigen matanza durch die Independencia durchaus auch als positiv an, und zwar als Lehre einer sozialen und geistigen Organisation (1965:164, 166). 38 Dies muß als Reaktion gegen die positivistische Orientierung der politischen Institutionen gewertet werden. Gelesen wurden auch die großen modernen Denker u.a. Kant, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, Croce. Vgl. z.B. Delgado González (1975:42), Krauze (1985). 39 Durch die Herausgabe der Zeitschrift Azul. 40 Dies ist im Geist der Escuela Preparatoria zu sehen, welche "tenia como fin exclusivo la formación social de ciudadanos dispuestos a subordinar su comportamiento al interés general de la colectividad" (Arturo Delgado González. 1975:17).

126 Generationen - ein christlich orientierter Philosoph41, der von seinem Schüler Samuel Ramos in einer Predigeipose stilisiert wird42. Vor dem Hintergrund des allgemeinen intellektuellen Heroismus dieser Zeit läßt sich der Messianismus Vasconcelos' 43 sowie dessen kulturanthropologische Philosophie besser verstehen. Auch Vasconcelos' Konzeption der Mestizierung ist ein Versuch, die Kultur Mexi kos in die abendländische Geschichte zu integrieren44. Die Wirkung der Kulturphilosophie dieses Schriftstellers ist als ambivalent zu bezeichnen. Einerseits trug die mit seinen Werken und den Werken des Ateneo erfolgte Rückbesinnung auf die abendländischen Quellen der Kultur45 zu Beginn dieses Jahrhunderts dazu bei, daß die exotische Perspektive eines naiven Indianismus sowie auch eine enge positivistische Sicht von kulturellen Phänomenen überwunden werden konnten. Andererseits aber wurde mit der von Vasconcelos vertretenen Vorstellung vom Mestizen der Weg für eine demagogi-sche Nutzung der Metapher des Mestizentums durch offizielle Diskurse vorbereitet: Das indianische Element wird im Werk Vasconcelos' nicht nur zum bloßen theoreti-schen Konstrukt, sondern die indianische Kultur hat auch keinen Wert an sich46; es bedarf der Einwirkung des Abendlandes, damit sie vom ewigen Schlaf geweckt wird47. Vasconcelos' Position ist ein Symptom für die Konzeption der Mestizierung als des eigentlich Mexikanischen im Rahmen eines sich mit der Revolution verfestigenden Identitätsdiskurses48. Dieser Diskurs ist deswegen als Erneuerer der mexicanidad in die Geschichte eingegangen, weil der Mestize mit der Revolution eine führende politische Rolle erhält. Eine Reihe von Entwürfen einer kulturellen Mestizie-

41 Kränze spricht von der exaltación mística seiner Werke. Seine Philosophie schlagt sich in La existencia economía y caridad (1916) nieder (vgl. Krauze, 1985:59).

como

42 Nach Ramos war Casos philosophische Praxis eher ein blandir als ein enseñar filosofía. Er repräsentiere die caudillos culturales der Revolution durch heroische Philosophie, beotismo de ta cultura und seine charismatische Präsenz, die weniger mit Philosophie im Sinne kritischer Vernunft zu tun habe (Samuel Ramos, ziL nach Kiauze, 1985:72). 43 Raúl Haya de la Tone wird Vasconcelos' titanische Wirkung bestätigen: "El titánico Vasconcelos, el constructor, el fundador, trasmitía el aliento de su obra y movía a emularla [...]. A partir de esa gestión todo intento prometeico resultaría posible" (Krauze, 1985:109). 44 Dieses Ziel wird von Samuel Ramos explizit deklariert. Die mexikanische Kultur sollte wie eine "cultura universal hecha nuestra, que viva con nosotros, que sea capaz de expresar nuestra alma" sein (El perfil del hombre y la cultura en México, 1968[1934]:35). 45 Die Bewertung der Colonia seitens der Athenäisten ist eine Konsequenz dieser Prämisse, die zur intensiven Aufnahme von wertvollen Studien zur Kultur dieser Zeit führt, z.B. von Reyes' Letras de nueva España und von Henríquez Ureñas Historia de la cultura en la América Hispánica (1947), beides wichtige Quellen von Paz' Konzeption des Barock. Gegen die Tendenz des antihispanischen Identitätsdiskurses des 19. Jhs. sucht das Ateneo auch eine historische Aufarbeitung der spanischen Quellen, womit eine bewußte Überwindung des Minderwertigkeitskomplexes der Hispanidad angestrebt wird. 46 Bei dieser These ist die Dominanz des abendländischen Elements Uberdeutlich. Vgl. auch Bieimann, 1988:160. 47 Überdies ändert Vasconcelos seine Position besonders nach 1929, nach dem Scheitern seiner Präsidentschaftskandidatur, und spricht dem terrlgena auch das potentielle kreative Vermögen ab, das in Indoiogía noch zu eikennen war. 48 Biermann zufolge ist auch Ramos' Konzept in El perfil del hombre (1934) als "Konsolidierung des nachrevolutionären bürgerlichen Nationalstaats" zu sehen (1988:163ff.). Die Publikation dieses Werkes koinzidiert zeitlich mit den Nationalisierungstendcnzen des Staates unter der Präsidentschaft von Cárdenas.

127 rung als Lösung aus der kolonialistischen Ideologie des Porfiriats war der Arbeit des Ateneo vorausgegangen: Schon in der Philosophie Justo Sierras, des letzten Bildungsministers von Porfirio Díaz, sowie des Soziologen Andrés Molina Enriquez wird der Mestize als die eigentlich mexikanische und zukunftsweisende kulturelle Instanz gezeigt Justo Sierra spricht von der Aufgabe des neomexicano, den criollo abzulösen. Letzterer gilt in Sierras Denken als Symbol des Konservativismus des 19. Jhs., der das indianische Element zur Unterwerfung erzogen habe, wogegen der neomexicano, der Mestize, die Aufgabe einer Integration des indianischen Elements, des terrigena, zu erfüllen habe49. Das philosophische und soziale Programm Sienas bezieht sich zwar auf eine Erneuerung der liberalen Partei, so daß der Entwurf der Mestizenkultur keinen revolutionären Gedanken impliziert, seine Einsicht in die Notwendigkeit der Bildung50 des Mestizen wird jedoch von Vasconcelos übernommen. Die Selbstkritik des Mestizen, der sich seines kreolischen Erbes bewußt ist, wird hingegen weniger rezipiert. Auf der anderen Seite hebt der Soziologe Molina Enriquez den konkreten Beitrag der indianischen Kultur bei der Erneuerung des Landes hervor. Mit seiner Kritik an der Verantwortung der liberalen Partei für den mexikanischen Konservativismus gilt er als Ideologe der revolutionären Agrarreform31. Der eigentliche Mestize kann, Molina Enriquez zufolge, nur mit der Unterstützung der indianischen Bevölkerung eine erneuernde politische Wirkung erlangen52. Trotz der sozialen und kulturellen Bedeutung der Mestizierungsidee bei diesen Denkern der Jahrhundertwende muß festgestellt werden, daß die Aufwertung und praktische Integration des indianischen Kulturelements nur schleppend stattgefunden hat53. Es besteht eine weiterreichende Diskrepanz zwischen dem Ideal der Rassenmischung in den philosophischen Entwürfen und den konkreten politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten. Dies liegt daran, daß sich in Mexiko die abstrakten, kulturellen Emeuerungsgedanken mit konkreter wachsender Präsenz der Mestizen überschnitten haben, und daß die machtpolitische Interessen der sozialen Klasse der Mestizen seit der Revolution vorherrschen. Trotz der Warnungen Justo Sierras hat die 49 Vgl. Sienas "México social y político" (ziL nach Delgado González, 1975:69). Auch die Eröffnungsrede der Universidad National (1910) weist eindeutig auf die Aufgabe hin, eine Mischung der Kulturen durch die gemeinsame Ausbildung des hispanischen und indianischen Bevölkerungsanteils zu fOrdem (1986 (1958]:62). Darüber hinaus plädiert Siena für eine uneingeschränkte Öffnung der philosophischen und ideologischen Positionen: "Nosotros abriremos allí cursos de historia de la filosofía [...] hasta los días de Berg son y William James" (75). 50 Auch die für die Athenaisten und im Diskurs Vasconcelos' wichtige Aufgabe der Bildung der Indios ist schon im liberalen Denken angelegt Der Essayist Ignacio Ramírez betont diese Notwendigkeit: "La sabiduría nacional debe levantarse sobre una base indígena" (ziL nach Strosetzki, 1988:13). 51 Zu diesem Problemkomplex verweise ich auf das maßgebliche Weit von Luis Villoro (1950: besonders 17-168) sowie auf Tobler (1984). 52 Der Anthropologe Manuel Gamio setzt 1916 die ideologische Arbeit von Molina Enriquez fort Die ethnische Vereinheitlichung des Landes wird als dringende Aufgabe erkannt, wobei die Integration des indianischen Elements dessen Kenntnis voraussetzt. Beide Ideologen beeinflussen den Geist der Konstitution von 1917. 53 Vgl. Abelardo Villegas (1960:164-166).

128 mit der Revolution siegende Klasse der Mestizen die kolonialistische Ideologie des Porfiriats nicht abgelegt54.

3. Mexicanidad als Identitätsdiskurs in den 30er Jahren 3.1 Integration als Ausblendung des indianischen

Anteils

Die Gleichsetzung der indianischen Kultur mit einem fernen Ideal präkolumbischen Ursprungs, wofür die intensive archäologische Aktivität der postrevolutionären Institutionen Zeugnis ablegt, bietet sich für die Mythisiening der konkreten Lebenswelt der indianischen Bevölkerung an55. Das Mestizierungsmodell distanziert sich vom realen indianischen Kulturelement, was auch dadurch gefördert wird, daß eine bemerkbare Präsenz indianischer Kultur lediglich in den südlichen Staaten wie Oaxaca und Chiapas54 anzutreffen ist. In den ideologischen Zentren bedeutet Mestizierung weniger eine Integration im Sinne der Annahme indianischer Werte57 als eine Kolonialisierung des sog. barbarischen Anteils der Bevölkerung. Dies läßt sich nicht nur in der Position Guzmáns, die den Pessimismus Vasconcelos' wiederholt5', sondern auch in einer Reihe von Stellungnahmen in den 30er Jahren zum Thema der Mestizierung, der indigenistischen Politik der Integration und der kulturellen Heterogenität verfolgen5®. Die in der Mestizierungsmetapher Vasconcelos' enthaltene Meta-

54 Eine trotz der Revolution bestehende ideologische Kontinuität, die von den im weiteren untersuchten Romanen kritisch aufgedeckt wird. 55 Die Deklamierung des indianischen Charakters des "neuen" Mexikos nach der Revolution ist nur ein Effekt offizieller Propaganda - so der Anthropologe M. Monzel: "Geld, das der Agrarreform für Indianer vorenthalten blieb, floß in prächtige Museen und Denkmaler der indianischen Vergangenheit" (1978:4). 56 In Chiapas Überdauert der Indigenismo als literarische Bewegung den Magischen Realismus mit dem sog. "Ciclo de Chiapas", d.h. den Romanen der Schriftstellerin Rosario Castellanos. Aus den hier dargestellten Gründen findet der literarische Indigenismo in Mexiko • außer mit den großen Romanen von Rosario Castellanos wie Balín Calán (1957) und Oficio de linieblas (1962) - weniger Niederschlag als in anderen Ländern Lateinamerikas. Zu erwähnen sind u.a. Los hombres verdaderos von Cario Antonio Castro und La culebra tapó el rostro von Maria Lombaro de Caso (vgl. hierzu Castellanos, 1964). 57 Zweifelloses Ergebnis ist die Verfestigung einer indianischen Ideologie der Revolution, die für die Zwecke der Identität der Mestizen funklionalisiert worden ist. Die Re-Interpretation aller Stufen der mexikanischen Geschichte aus dem Blickwinkel der indianischen Frage wird daraufhin zu einer Konstante des mexikanischen Identitätsdiskurses, der eine Allegoiese der Vergangenheit Mexikos im Sinne eines ewigen mexikanischen Kampfes filr die reivindicación des Indios einleitet (vgl. die Analyse Revueltas', Kap. VI). Diesem Diskurs kann sich auch Paz nicht entziehen, wenn er die Revolution als ein Fest, als die Sichtbarmachung des Anderen der Kultur und als eine Rückkehr des Mexikaners in den Mutterschoß (1950) interpretiert Vgl. die Analyse des Romans von Elena Garro in der vorliegenden Studie (Kap. VIII). 58 Die These des Schlafes der indianischen Kultur seit präkolumbischer Zeit, ebenso wie die der Passivität und d a Schwäche des Indios lassen sich bei Guzmán verfolgen (insbes. in La querela de Mixico). 59 Neuere kritische Stellungnahmen mexikanischer Anthropologen gegenüber der indigenistischen Politik der Integration lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Guillermo Banfll setzt sich bspw. wissenschaftskritisch mit der Anthropologie in der Zeitschrift Latinoamérica (1990a) sowie in dem von José Alcina Franch herausgegebenen Band

129 phorisierung des indianischen Elements führt in den sich auf seine Theorie stützenden Diskursen der 30er Jahre zu einer tendenziellen Negation des konkreten Beitrags der indianischen Kultur zum kulturellen Reichtum im modernen Mestizen. Dies soll anhand eines Textes dargestellt werden, der für den Diskurs der Mestizierung, der sich in den 30er Jahren verfestigt, repräsentativ ist: Ein soziologischer Essay von Flavio Aguirre Cárdenas zu "El problema de la heterogeneidad racial de México" aus dem Jahre 1929. Aus diesem wird deutlich, daß die mestizierte Identität unterdessen zu einem metaphysischen Apriori geworden ist, das die Frage nach der konkreten Realität des Indios umgeht und das Verständnis von Mestizierung implizit als Forderung an die indianische Kultur auslegt, sich an den Fortschritt anzupassen. Es handelt sich um einen vom Bildungsministerium mit dem Preis "México" ausgezeichneten Essay60. Der Autor definiert seine Methode als empirisch und sieht das Ziel seines Vorhabens als zivilisatorisch an: Die Feststellung der Heterogenität der Rassen im zeitgenössischen Mexiko sei aus der Notwendigkeit heraus erfolgt, Ordnung in das aus den präkolumbischen Kulturen resultierende kulturelle Chaos (12) zu bringen. Im Sinne dieser Ordnung plädiert der Autor für die Erziehung derjenigen Indios, die vom modernen Denken und vom abendländischen Geist unberührt geblieben sind, so daß sie zum Opfer des Egoismus und der Gleichgültigkeit von Weißen und Mestizen werden konnten61. Eine Kritik am Egoismus der Mestizen ist nichts Außergewöhnliches, sondern sie gehört zum Diskurs des desarrollismo. Dieser hat das Modell von Molina Enriquez, dem Ideologen der revolutionären Agrarpolitik, und dessen Kritik am porñrianischen Mestizen übernommen. Mit der Kritik an den Mestizen wird außerdem nicht etwa die Kultur des Indios aufgewertet. Vielmehr sei diese in einem Zustand uralter Rückständigkeit verlorengegangen ("vida miserable y pretérita", 13). Mit der Anklage gegen den alten Mestizen wird schließlich das Plädoyer zugunsten des tipo mestizo mexicano autónomo, d.h. des idealen Mestizen (14), verknüpft. Statistische Zahlen belegen im ersten Teil des Aufsatzes den Anteil indianischer Bevölkerung, der von 10% im Norzu Indianismo e indigenismo en América (1990) auseinander. In diesem denunziert Bonfil den kolonialistischen Charakter indigenistischer Sozialwissenschaften. Drücke sich der Kolonialismus durch eine "exclusión y negación del otro" aus (191), so bedeute Mestiziening deándiamzaáón des Indios (200). Dein Autor geht es darum, mittels Übernahme einer indianischen Perspektive für das Recht einer "consumación plena del proyecto civilizalorio implícito en toda cultura" (209) zu plädieren. Im gleichen Band zeigt Leonel Durán, daB die Hauptidee der Passivität des Indios eine Kontinuität von der Conquista zu Vasconcelos bis zur Bildungspolitik der postrevolutionären Zeit aufweist (238243). Schließlich weist auch Salomon Nahmad Sitton darauf hin, daß die indigenistische Politik in Mexiko unter dem Auftrag der Integration in ein vermeintliches Modemisierungsprojekt lediglich die Politik früherer kreolischer und imperialistischer Eliten (257) fortfahrt. 60 Der Aufsatz charakterisiert sich folgendermaßen: "Ensayo sociológico premiado en el certamen internacional literario, convocado por la academia 'José Enrique Rodó' de la ciudad de Guadalajara, con motivo del Día de la raza y el cuarto aniversario de la fundación de la universidad de occidente, con la medalla 'México', ortogada por la secretarla de educación pública y la medalla concedida por el gobierno de la república de Cuba". 61 "[...] que se halle alejado del pensamiento y de la acción modernas, extrafio a las funciones del espíritu occidental, transcurriendo su vida miserable y pretérita ante la indiferencia de blancos y mestizos encerrados en el circulo impenetrable de su egoísmo" (13).

130 den (Chihuahua bis Tamaulipas) auf 50% in den Südstaaten (Chiapas, Tabasco etc.) ansteigt. Der zweite Teil des Essays gibt eine metaphysische Begründung für die Notwendigkeit der Integration. Letztere wird als Vollendung christlicher Teleologie und Heilsgeschichte verstanden, worin das Hegeische Eibe des Ateneo und Vasconcelos' ablesbar wird: Dormía la virgen azteca el sueño profundo del Tiempo y la historia ignoraba la más bella prolongación del mundo. Muerta, en Oriente, la última sonrisa de la musa pagana, el genio evolucionaba hacia una nueva era que se avistó en el milagro del genovés que supo ofrendar a España el fuego de su inspiración y encender las alas del pensamiento cristiano (21). Die früheren Probleme der Integration werden mit der Diskrepanz zwischen der Zivilisation Spaniens und dem präkolumbischen Zivilisationsmangel62 begründet. Diese Diskrepanz hat bewirkt, daß die Mexikaner in einem ewig pathologischen Zustand lebten63. Als Teil dieser Krankheit wird bspw. die heidnische Komponente der katholischen Religion der Indios angeführt. Hier zeigt sich die Nähe des Diskurses von Integration und Bildung zur Ideologie der Evangelisierung. Auf Vasconcelos* Kultuiphilosophie bezieht der Autor schließlich sein Konzept der Rasse und zitiert Vasconcelos' berühmten Satz: "por mi raza hablará el espíritu" (2S)64. Die Behandlung der Frage nach der Heterogenität der Kulturen, die am Anfang als ein "transzendentales Problem" bezeichnet wurde (11), nimmt immer mehr metaphysische Konturen an. Im sa/varidn-Diskurs des letzten Teils häufen sich die Spuren des Evangelisierungsgedankens: Obgleich prinzipiell gut, seien die Indios nach der Conquista degeneriert und bedürften einer redención (28). Explizit werden die ruralen Schulen mit den Missionsstationen der Franziskaner verglichen (29). In diese Tradition werden die Arbeit Vasconcelos', der als pensador continental bezeichnet wird, sowie der erste Bilanzbericht von Präsident Calles eingereiht (29). Die Studie schließt mit einer Statistik der eröffneten Schulen zum Stichjahr 1925 und mit einem

62 "Desde el punto de vista de la civilización universal ¿quiín podrá dudar del inmenso bien de la conquista? Esparta [...] trajo a estas tierras vírgenes sumidas en la cisterna de la barbarie, una antorcha que proyectó intensas claridades y soprepuso, a la cultura neolítica, la industria avanzada [...]" (22). Bei dieser These handelt es sich auch um das Hauptargument der aus imperialistischer Perspektive stattfindenden Entkräftigung der spanischen leyenda negra seitens Juderías (1967(1914]). Unter Rückgriff auf López de Gomaras Historia de las Indias (1512-1562) behauptet auch Juderías: "Hanles enseñado latín y ciencias que vale más que cuanta plata y oro les tomamos. Porque con las letras son verdaderamente hombres, y de la plata no se aprovechaban muchos ni todos. Asi que libraron bien en ser conquistados" (1967[1914]:136). Daß dieses Argument in den 30er Jahren in einem preisgekrönten mexikanischen Essay übernommen weiden konnte, zeigt, wie sehr der Versuch des Kolonisierten, sich eine eigenständige Identität zu geben, durch die Sicht des Kolonisators bestimmt gewesen ist 63 Der Autor zitiert dabei Antonio Caso (23). Durch die Metapher der Pathologie übernimmt der Autor den Geist der Jahrhundertwende und sieht eine Losung in dem (von der Revoluti onsprograpanda vertretenen) Ziel der Integration. Man erkennt darin IU. die Kontinuität des Identitätsdiskurses des 19. im 20. Jahrhundert 64 Der Anschluß an die Argumentation Vasconcelos', auf den der Autor eist am Schluß des Essays explizit Bezug nimmt, läßt sich im gesamten Text nachweisen.

131 Hinweis auf die weitere Notwendigkeit der "incorporación del indio a la Civilización" (31)65. Dreifach wird das Ziel einer Einheit der Rassen wiederholt: [...] unidad étnica: el mestizo autóctono. Creemos que la unicidad debe ser la preocupación mayor del sociólogo que ahonde este problema; creemos que lograr lo unitario en la cuestión racial de México, es resolverla de una manera definitiva (33). Dieses Ziel will der Autor im Sinne einer "teoría finalista hacia el mestizo autóctono"66 verstanden wissen. Seine Identität wird im Sinne eines geschichtsphilosophischen Geistes (s.o.) definiert. Die Formel von den "corrientes de pluralismo, de relativismo, de interioridad" des modernen Denkens, die zur Erläuterung der einheitlichen Rasse eines mestizo autóctono angeführt wird, hat keine besondere Bedeutung (34)67. Vielmehr hat Spenglers Theorie des ewigen Werdens der Kultur (34) das Schlußwort. Die Anwendung des Modells der Mestizierung und der Integrationsideologie ist nicht weit davon entfernt, den Zivilisationsauftrag fortzusetzen, der während der Kolonialzeit im Namen der spanischen Krone begann. Es scheint jedenfalls schwierig anzunehmen, daB in einer Argumentation der obigen Alt Integration auch einen etwaigen eigenständigen Wert des indianischen kulturellen Elements meinen kann und daß also mestizaje die Begegnung beider Kulturen, der indianischen und der abendländischen, bedeutet, von der der Autor im Sinne eines u.U. ethisch zu verstehenden acercamiento (33) spricht. Daß die vorangehenden Texte die Integration als politischen Identitätsdiskur3s benutzen, ist offensichtlich. José Revueltas wird in seinem Roman von 1943 die Diskrepanz zwischen dem Identitätsdiskurs der Mestizierung und ihrer kulturellen Konkretisierung zu einem der Hauptthemen machen. Trotz der reivindicación des indianischen Kulturelements im Diskurs der Revolution und trotz der engen Verbindung

65 Dies ist der Titel einer Arbeit von Enrique Corona, Rektor der Escuela del Estudiante Indígena (31). 66 Der mestizo autóctono dürfte begrifflich in etwa mit dem mestizo superior zusammenfallen, den der Kulbnphilosph Ezequziel A. Chávez im Vorfeld des Ateneo zum Ideal der mexicanidad erhebt Im Gegensatz zum mestito vulgar, dem mittelstandischen "Macher", dem caudillo ("fanfaión y valiente") ist der mestizo superior der intellektuelle und emotionelle Trager der mexikanischen Ideale (135). Der Indio ist dagegen prinzipiell gut, aber durch drei negative Emotionen definiert: "amor a la tiena que le da de comer, su aversión idiosi ncrftica y laudable a todo despotismo, su frecuente inclinación a la embriaguez y su indiferencia impávida por la muerte" (133). Schließlich könne er auch keine Freundschaft empfinden, die Gleichwenigkeit voraussetzt (133). Es ist augenfällig, daB der mestizo vulgar noch indianische Zage hat, wie bspw. die Unfähigkeit, in Kategorien von Zukunft zu denken, wahrend der zukunftweisende mestizo superior dem klassischen Ideal der geistigen Elite entspricht ("el mestizo superior en México ha sentido el ideal de la Independencia, de la Reforma, de la democracia, de la instrucción obligatoria, de la civilización profusa y gratuita y los va creando [...] lanzando sobre la República la fulguración de sus principios; deslumhrando con un Sinal de profecías, con un Tabor de decredos [...]", S.135). Die psychophysiologischen Unterschiede zwischen Indio, mestizo vulgar und mestizo superior lassen Spuren einer Evolutionstheorie erkennen. Chavez' "Ensayo sobre los rasgos distintivos de la sensibilidad como factor del carácter mexicano" erschien 1901 in: Revista Positiva. Organo del positivismo en México, hrsg. von Agustín Aragón. Vgl. Delgado González (1975:125-140). 67 Dies ist nach Leonel Durin ein allgeines Übel der integrativen Politik der Revolution: "La Revolución mexicana permitió reconocer la diversidad cultural del país, pero frente a ello se formuló explícitamente una política cultural integiacionista, negadora de esa pluralidad (1990:244). Noch heute sieht der Autor die Neuformulierung der Idee der Nation "como una entidad social pluricultural, abarcante de la diversidad, celosa de sus múltiples rostros" ais Desiderat an (250).

132 zwischen Kultur und Politik in der Persönlichkeit des legendären Bildungsministers und Philosophen Vasconcelos räumt der Mestizierungsdiskurs dem Indio als eigenständigem Kulturträger keinen besonderen Stellenwert ein68. Vielmehr zeigt die symbolische Konfiguration dieses Diskurses, daß sich hinter der emanzipatorischen Rhetorik immer noch jene kolonialistische Sicht verbirgt, die die ersten Emanzipationsversuche des Mestizen durch Aufwertung des indianischen Erbes in der sog. Literatur des Indianismus im Mexiko der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts charakterisiert hatte. Das kolonialistische Apriori ist auch in den 30er Jahren nicht ganz getilgt.

3.2 Eine "kritische Tradition" der mexicanidad Die ästhetische Auslegung der Mestizierang zu Beginn des Jahrhunderts hat zwar den Schritt zur Entdeckung der Kreativität von Kulturmischungen und ihre poetisch-utopische Auslegung ermöglicht, doch täuschte die - sich mit dem ästhetischen Paradigma etablierende - Gleichsetzung der Mestizierang mit Kreativität und kultureller Heterogenität über Schatten und Ambivalenzen des Identitätsdiskurses der 30er Jahre hinweg. Als pragmatische Folge der synthetischen Natur des Begriffs, der auf die Vereinigung von Gegensätzen zu Synthesen abzielt, eignet sich die Formel der Mestizierang für Kompromisse, durch die ihr utopisches Potential von politischen Interessen überlagert wird. Historisch läßt sich in der Tat für Mexiko feststellen, daß das Konzept der Mestizierang den Interessen ideologisch entgegengesetzter Gruppen entsprechen konnte: Die philosophische Reaktion gegen die positivistische Schule des Porfiriats verbindet mit Mestizierang das Programm eines liberalen, konstitutionell gesinnten Bürgertums, das sich mit Francisco I. Madero artikuliert69, während zu Beginn der revolutionären Unruhen das liberale Bürgertum einen Kompromiß mit der auf eine Agrarreform abzielenden zapatistischen Bauernbewegung eingeht, deren Mestizierangskonzept am Begriff von Molina Enriquez orientiert war. Die verschiedenen Stufen der Mestizierang vom mestizo vulgär bis zum mestizo ideal oder autöctono zeugen zwar von der unterschiedlichen Besetzung dieses Begriffs. Die Aufwertung eines in die ferne Metapher des präkolumbischen Indios gerückten kulturellen Elements verbindet jedoch ideologisch diametral entgegengesetzte Positionen und ermöglicht ihr Zusammenwirken. Die Affirmation des Diskurses der Mestizierang in den 20er und 30er Jahren entspricht in 68 Ich verweise auch auf die scharfe Kritik von M. Milnzel am Integrationsgedanken der postrevolutionären Regieningen Mexikos: "Das Interesse filr indianische Tradition der Vergangenheit wird offiziell von eben der Behörde, dem Instituto Nacional Indigenista, gefordert, die gleichzeitig mit der Beendigung der noch lebendigen indianischen Tradition beauftragt ist, nämlich mit der Koordinierung der auf Integration der Indianer in die MestizenbevOlkening abzielenden Indianerpolitik" (1978:4). Monzel steht insgesamt skeptisch gegenüber den indianistisehen und indigenistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, die ihren Anfang in Mexiko nahmen. Es handle sich um eine "mit den Indianern sympathisierende Distanzierung von den Indianern" (1978:4), was sich auch durch das Medium ausdruckt, nämlich die Schrift, die die (analphabetischen) Indianer noch zusätzlich marginalisiert (1978:3). 69 Tobler (1984:15).

133 Mexiko auch der Konsolidierung jener bürgerlichen Mittelklasse, die aus der Revolution bestätigt hervortritt70 und deren ambivalente Rolle dominantes Thema der kritischen Auseinandersetzung in dem zu untersuchenden Roman von José Revueltas ist. Mit der politischen Konsolidierung des Mestizen nach der Revolution verfestigt sich die Mestizierung zu einer einheitlichen Idee, die im wesentlichen nur die Erscheinung der kulturellen Pluralität beinhaltet71. Kulturelle Mestizierung wird seit den 40er Jahren zwar als dynamischer Prozeß des wechselseitigen kulturellen Transfers verstanden72 und mit Identität als Prozeß73 und Kreativität verknüpft; bei der Analyse prägender Identitätsdiskurse stellt man aber fest, daß das prozessuale Element einer integrativen Einheit weicht74, die die Autonomie der einzelnen Elemente als kreatives Prinzip nicht mehr respektiert. Vielmehr verschleiert die Metapher der Mestizierung hierarchische und einheitsstiftende Standpunkte, die sich hinter dem Diskurs von Erneuerung, Kreativität und Synthese heterogener Elemente verschleiern. Freilich entwickelte sich seit den 40er Jahren auch eine kritische Philosophie des Mexikanischen. Diese gehört aber zur Reihe der Anregungen, die vom offiziellen Diskurs sowohl der mexicanidad als auch von einer sich daran orientierenden Literaturwissenschaft vergessen blieben. Ein Beispiel hiervon liefert der Anthropologe und Philosoph Alfonso Caso73. In einem 1956 publizierten Artikel mit dem Titel ¿El indio mexicano es mexicano? deckt Caso die ideologische und politische Färbung der Mestizierangsthese auf: Nach Casos Auffassung sollte es sich nicht um eine Frage von Rassen oder von Rassenmischungen (393), sondern von Kulturen (391, 393), verstanden ab Gemeinschaft von Traditionen und Sitten, handeln, deren konkreter Sinn nicht durch eine abstrakte Idee des Gobierno mexicano (392) erfaßt werden kann. Im Gegensatz zur idealisierenden Perspektive der Integrationsideologie betont Caso die kulturellen 70 Diese Befunde lassen sich auch aus ideologiekritischer Perspektive bestätigen (B¡ermann, 1988:163). 71 Freilich soll nicht außer Acht gelassen werden, dafi das mit der Identit&sphilosophie verbundene Ziel der Volkserziehung konsequent und zunächst teilweise erfolgreich verfolgt wurde. So betont bspw. HOlz, daß das wichtige Element der (von Justo Sierra inspirierten) historischen Kritik des Ateneo gegen den kreolischen Imperialismus vor allem in der BewuBtmachung "jahrhundertelanger Bevormundung der 'conquistadores' und 'caudillos" liege. Bei dem angeschlagenen Selbstbewußtsein des Mexikaners sei auflodern der moralische Impetus der idealistischen Philosophie des Pesimismo alegre seitens Vasconcelos' oder der "Kampf gegen die Demoralisierung der porfiristischen Ara", den Samuel Ramos mit El perfil del hombre ansagt, wichtig (Hölz, 1984:139). Dennoch sind kritische Intellektuelle wie Caitos Monávíis der Meinung, daß erst nach 1968 eine echte "Vulgarisierung" von Kultur eingesetzt habe (Monsiváis, 1988). 72 León Portilla gibt 1963 folgende Definition: "Por mestizaje en su acepción mis ordinaria suele entenderse, tanto el proceso como el resultado de la fusión de razas [...], el concepto de mestizaje cultural, en su carácter dinámico de proceso, puede casi identificarse con la categoría antropológica de 'acculturacidn'" (183). 73 Besonders in der Auslegung im Sinne der kreativ-Ssthetischen Bedeutung des Begriffs, wie er bei Henrfquez Urefta und Uslar Pietri gezeigt worden ist. 74 Wie sehr die Idee einer integrativen Einheit das Erbe der Kolonialideologie übernimmt, hat sich nicht nur bei der Analyse des Essays von Aguirre Cárdenas ergeben, sondern Fernández Retamar hatte dieses Problem bereits in seiner Studie zum Calibán-Modv in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht: "Y es que el colonizador es quien nos unifica, quien hace ver nuestras similitudes profundas más allá de accesorias diferencias" (1974:16). 73 Der jüngere Bruder des bereits erwähnten Athenaisten Antonio Caso, auch Direktor der Escuela Nacional Preparatoria (1928-1929) und Rektor der Universidad Nacional (1944-1945).

134 Nachteile der Unterordnung unter die mexikanische Regierung (395). Dadurch, daß die traditionelle Vorstellung der Mestizierung auf der Idee der Rasse basiert, verschließt sie sich vor der eigentlichen kulturellen Aufgabe, nämlich der Öffnung gegenüber der Pluralität von Kulturen auch innerhalb der Nation: [...] conservar lo que las comunidades indígenas tienen de positivo y útil; su sentido de comunidad y de ayuda mutua, sus artes populares, sus folklores. No tenemos derecho a destruir estas formas de su cultura, si somos hombres con sensibilidad, si creemos que el mundo no debe estar poblado por individuos sometidos a un régimen estándard, sino que dentro de la cultura mundial, como dentro de la cultura nacional, la variedad es necesaria para enriquecer las formas más altas de la cultura (396/397). Gegen die Abstraktion von vereinheitlichenden Identitätsformeln hat sich der Philosoph Leopoldo Zea in seiner Einführung zu der 1952 erschienenen Studie Conciencia y posibilidad del mexicano gewandt. Unter Berufung auf die Subjekt- und Metaphysikkritik in der Philosophie des 20. Jhs. schlägt er vor, von essentialistischen Kategorien zugunsten des konkreten Menschen Abstand zu nehmen (1982:10). Er sieht in der Unterordnung der praktischen Ziele und der lokalen Partikularismen unter abstrakte Diskurse den Grund für das Scheitern der institutionalisierten Revolution (22) und unternimmt eine Bilanz der jüngeren Geschichte Mexikos, die im Gegensatz zu den bisher betrachteten Identitätsdiskursen Mythisierungen vermeidet. Diese Stimmen und auch die kritische Perspektive, die die Werke von José Revueltas nahelegen, haben bei der Rezeption der Mestizierungsthese im Diskurs der mexicanidad weniger Resonanz als die poetisch-utopischen Entwürfe gefunden. Dies ist zu einem nicht geringen Teil auf die kanonische Wirkung des essayistischen Werkes von Octavio Paz insoweit zurückzuführen, als dieser zur Verfestigung und Fortsetzung des romantischen Eibes der coincidencia oppositorum beigetragen hat, welches an der Basis der Mestizierung und der mexicanidad steht.

33. Die Otredad von Octavio Paz und der offizielle Diskurs Im Zusammenhang mit der Dichterin Sor Juana Inés de la Cruz und der Kultur Neuspaniens kommt Octavio Paz 1982 auf das Thema der mexicanidad zurück. Auch von Paz76 wird Sor Juana als herausragende Persönlichkeit angesehen, in der sich das kulturelle Potential der Mestizierung während der colonia ausdrückt. Für Paz ist sie Sym-

76 Ich verweise auf die Studien zur Colonia von Pedro Henriquez Urefla (1928) bzw. Alfonso Reyes (1946) und auf Lezama Lima (vgl. Kap. V).

135 bol der mexicanidad, deren Ursprung der Autor in der conquista sucht77. Durch die conquista wird weiterhin eine essentielle Bestimmung der mexicanidad erklärt78. Obwohl Kulturmischungen schon ein präkolumbisches Phänomen seien, erhielten sie mit der conquista durch den Verrat der Malinche und deren Vereinigung mit Cortés eine andere Qualität, nämlich einen illegitimen, ambivalenten Charakter, der den modernen mexikanischen Mestizen präge und dessen bunte Aufstiegskarriere erkläre: "bandido, policía, soldado, guerrillero, caudillo, líder político, universitario, jefe de Estado" (54). Die politischen Folgen und die Manipulationskraft der sich auf Legitimationsanspriiche berufenden revolutionären Mestizen werden zwar verurteilt, jedoch entwickelt sich diese im Ansatz kritische Sicht zur Apologie des Mestizen. Auch hier geschieht die Tilgung der Kritik durch die Metaphorisierung der konkreten historischen Instanz des Mestizen. Gewissermaßen auf der Basis der Opposition zwischen Politik und Kultur79 teilt Paz die Verantwortung für das Mestizentum auf manichäische Art zwischen (auch) präkolumbischem Imperialismus und den seit der conquista einsetzenden kulturellen Spannungen sauber auf. Letzteren wird eine schöpferische Wirkung zugeschrieben, wie in der folgenden Passage deutlich wird: El ascenso de los mestizos se debe no sólo a razones de orden demográfico aunque son ya la mayoría de la población mexicana - sino a su capacidad para vivir y sobrevivir en las circunstancias más adversas: arrojo, fortaleza, habilidad, aguante, ingenio, soltura, industria, inventiva. Además hay otra razón de orden existencial: entre todos los grupos que componían la población de Nueva España, los mestizos eran los únicos que realmente encarnaban aquella sociedad, sus verdaderos hijos. No eran, como los criollos, unos europeos que deseaban arraigarse 77 Schon die äußern undurchsichtige Biographie gilt als Symbol: Als uneheliche Tochter eines spanischen Edelmannes und einer nicht naher bekannten Mutter, wahrscheinlich einer Kreolin namens Isabel Ramtrez de Santillana, erreicht es Sor Juana schon zu Lebzeiten, zu den angesehensten Gestalten des 17. Jhs. zu zahlen. 78 Die Thesen sind bekannt. Sie werden hier nur zusammengefaßt: Die in der diskontinuierlichen und gewaltsamen Geschichte der prikotumbischen Zeit an Wechsel gewohnten Indios adaptieren auch die neue Zivilisation, ohne einen Adaptationsprozeß zu vollziehen. Fremdes und Eigenes werden gleichwertig behandelt Kult- und Kulturobjekte sind Symbole für dieses Verhalten: Wie die aztekischen Tempel auf denen der Olmeken und Tolteken gebaut wurden, so erwuchsen auf ihnen wiederum nach den 16. Jh. christliche Kathedralen. Die indianischen Volker bestanden sowohl aus seßhaften als auch aus Nomaden-Stämmen und hatten eine Vielfalt von Sprachen und von Stadtstaaten, wofür die große Maya-Kultur Beispiel war (24). Paz zufolge sind die Indios aus diesen Gründen gleichgültig gegenüber Differenzen. Diese Eigenschaft macht die politische Landschaft des Vizekönigtums aus, in das von der iberischen Monarchie ein extrem ausgeprägter Zentralismus und handfeste Gruppeninteressen eingeführt werden, die sich in der Provinz von Neuspanien vervielfachen: Auf der einen Seite ist die AuäUncia als Sprachrohr der spanischen Krone vertreten. Sie soll eventuellen Unabhängigkeitsambitionen des VizekOnigs vorbeugen und operiert an der Seite der Inquisition und neben der neutralen Politik der Franziskaner. Auf der anderen Seite haben die Jesuiten eigene Herrschaftsinteressen. Ihre synkretistische Politik stützt die Unabhängigkeitsambitionen der Kreolen. Schließlich bestehen nur am Rande die anonymen Massen der Mestizen und der Indios. Von der iberischen Halbinsel geht die Verschlossenheit gegenüber philosophischen und politischen Impulsen der Moderne und von den Indios die passive Akzeptanz auf Neuspanien über. Daraus ergibt sich die Haltung, die bis zum 20. Jh. charakteristisch bleibt: philosophische und politische Ideen wie Positivismus und Marxismus werden im 20. Jahrhundert als ready made Übernommen und bestimmen die Geschichte mit einer Doppelmoral, wie sie für die revolutionären Kaziken sprichwörtlich wird. 79 Vgl. auch Vf., 1992c.

136 en una tierra nueva; tampoco, como los indios, una realidad dada, confundida con el paisaje y el pasado prehispánico. Era la verdadera novedad de la Nueva España. Y más: eran aquello que la hacía no sólo nueva sino otra (54). Die Positionen werden hier entsprechend dem bisher untersuchten Identitätsdiskurs klar verteilt. Sowohl das Kriterium des Ursprungs der Rassen als auch die Ambivalenz zwischen rassischem und kulturellem Verständnis des Mestizen werden übernommen. Der fehlende Ursprung, d.h. die orfandad (Paz, 1950), entscheidet über die wahrhaftige Zugehörigkeit zum Wesen der mexikanischen Kultur, die Paz statt Mestizierung otredad nennt. Die Wende vom kritischen zum apologetischen Diskurs über den Mestizen erfolgt durch den Wechsel vom politischen zum ästhetischen Paradigma, das sich in der folgenden Passage durch den Hinweis auf Melancholie, lyrischen Aufschwung und stoische Kraft der Mestizen andeutet: Los mestizos duplicaban la ambigüedad criolla: no eran ni criollos ni indios. Rechazados por ambos grupos, no tenían lugar ni en la estructura social ni en el orden moral. Frente a las dos morales tradicionales - la hispana fundada en la honra y la india fundada en el carácter sacrosanto de la familia - el mestizo era la imagen viva de la ilegitimidad. Del sentimiento de ilegitimidad brotaban su inseguridad, su perpetua inestabilidad, su ir y venir de un extremo al otro, [...] Caín y Abel80 en una misma alma, el resentimiento del mestizo lo llevaba al nihilismo moral y a la abnegación, a burlarse de todo y al fatalismo, al chiste y la melancolía, al lirismo y al estoicismo (53). Der im obigen Zitat erwähnte Mythos der Ursünde einer illegitimen Geburt sowie die Anspielung auf die konfliktuelle Identität des Mexikaners sind Bausteine des Identitätsdiskurses von Octavio Paz seit dem Laberinto de la Soledad und sollen als Beschreibung der Manifestationsform des Bewußtseins der Mexikaner verstanden werden. Auf diese aus der Publikation von 1982 stammenden Passage von Octavio Paz wird im Zusammenhang mit dem Roman von Revueltas zurückzukommen sein, der den Mythos der Ursünde des Mexikaners sowie des Urkonfliktes von Kulturen durch das Bild von Kain und Abel 1943 nicht nur bereits ironisch behandelt, sondern auch zum Hauptthema seiner dekonstruktiven Arbeit an Identitätsdiskursen gemacht hat. Im Gegensatz zur kritischen Arbeit von Revueltas sublimiert Octavio Paz das Phänomen der Mestizierung, dessen rassen- und kulturbezogene Ambivalenz er als Symbol eines schöpferischen Prozesses faßt und ungeklärt läßt. Besonders der hohe Grad an Akkulturation und Mestizierung schriftlicher Texte wird hervorgehoben, weil dieser einen unmittelbaren wechselseitigen Kulturtransfer und eine literatura transplantada

80 Es sind die Paradigmen Huitzilopochtli gegen Quetzalcóaü: der erste der rein aztekische Gott des Krieges, der zweite der allen präkolumbischen Volkern Mesoamerikas gemeinsame, sich für die Menschheit opfernde Gott der Weisheit und der Kunst Auch auf diese manichäistische Trennung zwischen der "schlechten" und der "guten" Politik (bspw. Villa vs. Zapata, wobei der zweite für die "Politik der Rechtmäßigkeit" steht) laßt sich Paz gerne ein (z.B. erneut in Pasión crítica, Barcelona: Sei* Banal, 1985:143fT.)

137 ermögliche (1,4, 68ff.)81. Neben der Kontamination von Texten wirke in Mexiko als entscheidender Mestizierungsfaktor die rapide Evangelisierung der Indios, die die neue Religion annahmen, während ihre eigene noch lebt82: el bautismo abría las puertas de ingreso a la nueva sociedad y, al mismo tiempo, las del regreso al antiguo mundo de lo sagrado. Los indios se volvieron cristianos; la divinidad cristiana y sus vírgenes y santos se indianizaron (32). Zur Erklärung der Kreativität der mestizierten Kultur wird eine historische Begründung bemüht: Der unmittelbar einsetzende sincretismo popular e instintivo (52) erfordere vom überstarken Klerus die Akzeptanz individueller und spezieller Ausdnicksformen trotz einer gleichzeitig wirksamen, extremen Durchsetzung der Inquisition zur Bekämpfung der Häresie. Aus dieser kulturellen Spannung zwischen Inquisition und Pluralität von kulturellen Manifestationen erklärt Paz auch das zum Symbol der kulturellen Kreativität erhobene einzigartige Phänomen von Sor Juana Inés de la Cruz. Sor Juana schreibt unter dem Einfluß extremer Spannungen: Sie wird von der herrschenden klerikalen Kulturwelt wegen ihres unersättlichen Wissensdurstes als Persönlichkeit gefeiert und bekämpft und von der Inquisition zur Suche nach einem poetisch verschleierten, indirektem Ausdruck gezwungen. Die Vielfalt der sie bestimmenden biographischen und ideologischen Faktoren befähige sie zur poetischen Aussage. Die zu Beginn der Argumentation durchaus kritisch gesehene Ambivalenz des Mestizen wird durch ein ästhetisches Paradigma überlagert, in dem Ambivalenz Vielstimmigkeit der poetischen Sprache bedeutet. Die Begegnung des Anderen im poetischen Wort ermöglicht es, die Koexistenz des Gegensätzlichen im Diskurs der Mestizierung als otredad auszulegen. Mit dem Begriff der otredad sucht Paz, die Heterogenität Mexikos statt der Rassensynthese hervorzuheben. Es handelt sich um ein Leitmotiv seines Denkens, mit dem er bereits in El laberinto von der synthetischen Repräsentation der Rassenvielfalt im Modell Vasconcelos' explizit Abstand nimmt83. Mexikanische Identität kann damit nur als nicht aufhebbare Differenz zwischen heterogenen kulturellen Elementen und als Erfahrung des Fremden im Eigenen verstanden werden. Die Betonung der Differenz in der Identitätserfahrung ist surrealistisch inspiriert und wird romantisch ausgelegt Paz kehrt immer wieder zur romantischen coincidencia oppositorum zurück und

81 Die Informanten von Sahagiin schreiben eine Historia universal der aztekischen Mythen, Gebräuche, sozialen und kulturellen Traditionen ftlr die Spanier, wahrend gleichzeitig grundlegende Texte der abendländischen Theologie, Philosophie und Geschichte ins Náhuatl übersetzt werden: Die Bibel und Ovid, Augustinus und Cicero, Santa Calerina und die erithraische Sibylle sowie Äsop stellen unterschiedslos die abendlandische Basis Nuespaniens dar. 82 Dieser Gedanke aus El laberinto kehrt auch bei Carlos Fuentes regelmäßig wieder, besonders in Cambio de piel (1967). Vgl. Vf., 1990a. 83 Paz distanziert sich zwar vom kreolischen Begriff der raza cósmica Vasconcelos' schon in El laberinto de la soledad (1985[1950]:136-138), doch hat die Verabsolutierung der Otredad als Referenzmerkmal der hispanoamerikanischen Welt - trotz Betonung der Differenz statt der Ähnlichkeit der heterogenen Komponenten • ahnliche Wirkungen: Das "Andere" wird in den Bereich des Abstrakten ebenso verlegt, wie in Raza cósmica der Indio der Ferne der prakolumbischen Kultur zugeordnet wird.

138 schließt damit an jene apologetischen Diskurse an, die die kulturellen Differenzen weniger als eine abstrakte Formel von dynamischer Identität hervorheben. Diese Tendenz zeigt sich generell in seinen Essays: Trotz kultureller Heterogenität wird eine einheitliche Seinserfahmng an den Ursprung gebunden, dessen Suche zum roten Faden der Pazschen Essays wird84. Die ursprüngliche Einheit des Seins - so Paz in El laberinto de la soledad (1950) -ist für den Mexikaner mit der Conquista verlorengegangen, weswegen die Malinche, in Anlehnung an die christliche Genesis, zum Griindungsmythos der otredad wird. Während Independencia und Revolution 1950 noch als Suche nach dem Ursprung interpretiert und positiv ausgelegt werden, wird ab 1968, d.h. nach dem nunmehr offiziellen Scheitern der Institutionalisierten Revolutionspartei (PRI), die mythische Ureinheit zu einem Desiderat, das nur noch durch die dichterische Erfahrung erreicht werden kann. Es ist eine romantische Sicht der reconciliación de los contrarios im analogen Denken der Poesie, das Paz mit der Kritik an der logozentrischen Struktur von Sprachsystem und Vernunft verbindet85. Mit einer nicht immer glücklichen Vermischung von Symboldenken und historischer Hermeneutik geht Paz auf die Gründungsmythen der mexikanischen Kultur zurück und prägt die poetisierende Vision der otredad als tragische Essenz des Mexikaners86. Der Tradition der mexicanidad treten die hier untersuchten literarischen Texte kritisch gegenüber21: Revueltas kritisiert den offiziellen Diskurs der Mestizierung und den Ursprungsmythos (1943). Elena Garro dekonstruiert 1963 die romantisch-mythisierende Perspektive von El laberinto de la soledad und erkennt die dort bestehende Gefahr der diskursiven Ambivalenz von Politik und Ästhetik, die das Labyrinth durch die euphorische Auslegung der Revolution als einer Kollektiverfahrung des Festrausches suggeriert und die Octavio Paz erst mit Posdata (1970) dadurch korrigiert, daß die mit dem Fest verbundene politische Utopie nur noch in den Bereich der Kunst verlegt wird. Besonders im deutschsprachigen Raum galt indes die Konzeption der Otredad lange Zeit als unbestrittene Grundlage für das Verstehen mexikanischer Texte. Nicht so in der internen mexikanischen Kritik. Carlos Monsiváis hatte bspw. die mythische Suggestion von Paz schon länger konstatiert und 1977 ironisch El laberinto de la soledad "ese hermoso tratado de mitificación" genannt (1986[1977]:338). Es gehört zum Ziel der vorliegenden Studie, eine solche Perspektive, die José Revueltas in 84 Vgl. auch Lelia Madrid. 1989:40f. 85 Diese Tendenz kulminiert in Los hijos del limo (1974). 86 Ein Beispiel filr eine ontologische Deutung der tragischen Bestimmung der mexicanidad liefert die Studie von Valenzuela (1988). 87 Kritische Stimmen werden laut. Z.B. untersucht Lelia Madrid die Problematik des Ursprungs im essayistischen Werk von Paz: "Las preguntas que puede hacerse el lector sobre el pensamiento de Octavio Paz tienen que ver, en gran parte, con el paisaje utópico que dibuja su romanticismo. [...] Si bien que quiere ofrecer por medio de la imaginación y del deseo una apertura a las fisuras (y estrecheces) de la razón (occidental), las nociones que claramente se privilegian son las consagradas por el pensamiento occidental más decantado: unidad, origen, verdad, significado". Auch die Untersuchung der Pazschen Kritik am Surrealismus durch Schulz-Buschhaus (1988) dekuvriert den sakralisiercnden Diskurs der Romantik in Paz' Denken der poética del instante.

139 seinen Ensayos sobre México ("Posibilitades y limitaciones del mexicano") bereits angeregt hatte88, stärker in den Vordergrund zu stellen und vom Diskurs der mexicanidad Abstand zu nehmen. Die vorangehenden kritischen Bemerkungen, die sich auf die kulturhistorischen und kulturtheoretischen Essays von Octavio Paz beziehen, berühren weder sein poetologisches Programm noch seine Dichtung89. Gerade bei einem Schriftsteller wie Octavio Paz macht sich die Diskrepanz zwischen poetischen Werken und historischen bzw. politischen Essays bemerkbar. In letzteren spielt zwar Octavio Paz auf dem Klavier der poetischen, besonders der metaphorischen Variationen, doch mit einer unterschwellig demagogischen Rhetorik. Dies im Gegensatz zu manchen kunst- bzw. literaturkritischen Essays von Paz selbst, wo der Dichter in der Konfrontation mit anderen Dichtem andere Saiten seines essayistischen Instruments zu spielen fähig ist. Etwa zeigen die sich mit den literarischen Werken der Dichterin befassenden Kapitel im Buch über Sor Juana Akzente, auf die in Zusammenhang mit dem Barock im nächsten Kapitel einzugehen sein wird. Damit wird keineswegs allgemein eine Diskrepanz zwischen Essays und anderen literarischen Gattungen behauptet. Einer der großen Athenäisten, Alfonso Reyes, dessen kulturhistorisches Werk Letras de la Nueva España (1946) Octavio Paz inspiriert hat, liefert u.a. ein Beispiel für einen poetischen Essay, Visión de Anáhuac (1915), der entfernt von den weiter oben beobachteten apologetischen Tendenzen ist. Dieses frühe Weik von Reyes, das sich mit der ersten Begegnung der Eroberer mit México-Tenochtitlán auseinandersetzt, kulminieit in der Darstellung einer Gemeinschaft von Gefühlen und Wahrnehmungen (alma común) der präkolumbischen Kulturen und des modernen Bewohners der Hochebene, d.h. des mexikanischen Mestizen (1983[1915]:30). Dieser poetische Essay erzeugt durch die Wiedergabe der Spiegelungen in der klaren Luft jener región más transparente, der Hochebene von Anáhuac, eine lebhafte Erfahrung der phantastisch anmutenden Bilder, mit denen die Kultur von México-Tenochtitlán dem ersten Blick der Eroberer die Vielfalt ihrer Märkte und den Prunk ihrer Paläste enthüllt haben muß; ein vivides und melancholisches Bild, das sich zugleich von jeglicher Definition, Beschreibung oder gar Beurteilung des Indios oder des Mestizen distanziert. Verfolgt man mit einer durch die Perspektive der poetischen Möglichkeiten des Essays veränderten Fragestellung die spezifische Aussage einzelner Texte jenseits des offiziellen Diskurses, so entdeckt man auch im Bereich der Essayistik zahlreiche Beispiele jenes "anderen" Denkens, das nicht genug in die Geschichtsschreibung einge88 Zu Recht weist Revueltas kritisch auf die von den Studien zum "Mexikaner" stillschweigend übernommene Prämisse hin, nämlich auf die Annahme, daß es "den Mexikaner" gebe (1985:41). Auch seine Überlegungen richten sich gegen die Gleichsetzung der kulturellen Vielfalt mit der historischen Abstraktion einer einheitlichen mexikanischen Nation. Vgl. auch Kap. VI. 89 Zur Dichtung von O. Paz (Piedras sueltas, 1955, und Ladern Este, 1962-68) habe ich mich anderenorts geäußert (1991a). Zum poeiologischen Programm und zur poetischen Praxis bei Octavio Paz vgl. H. Wentzlaff-Eggebert (1983).

140 gangen ist90. Auf einige dieser Schriftsteller wird im Laufe der vorliegenden Studie hingewiesen. Die Poetik mancher von ihnen, wie die von Alfonso Reyes in Visión de Anáhuac kann mit dem Begriff des Barock angemessen erfaßt werden91. Auf die Perspektive des Barock soll im nächsten Kapitel eingegangen werden.

90 Dies betrifft nicht nur das 20. Jahrhundert Vgl. für das 19. Jahrhundert z.B. die Bekämpfung einer eurozentristischen Perspektive im essayistischen W e i t von Altamirano (Hölz, 1990:374). 91 Vgl. Vf., 1992b.

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V. Barock und Americanidad Algún día, cuando los estudios literarios superen su etapa de catálogo y se estudien ¡os poemas como cuerpos vivientes, o como dimensiones alcanzadas, se precisará la cercanía de la ganancia del sueño en sor Juana [...] (Lezama Lima)

In seinem Vorwort zu Historia Universal de la Infamia (Ed. von 1954) sieht Jorge Luis Borges im Barock einen Stil, der den Höhepunkt der Literatur darstellt1. Borges geht zwar vom Barock des 17. Jahihunderts aus, um dann aber darin eine Schreibweise der Moderne zu sehen, in die er auch seine eigene Historia Universal einordnet. Diese These, die seit den 50er Jahren mit Bezug auf die Texte der Colonia, besonders der mexikanischen Dichterin Sor Juana Inés de la Cruz, durch Alejo Carpentier und José Lezama Lima vertreten wurde, gewinnt in der aktuellen Forschung zunehmend an Relevanz. Saverio Sarduy formuliert auf der Grundlage der Definition Lezama Limas sowie des "barocken" Stils seiner Werke2 eine Theorie des zeitgenössischen hispanoamerikanischen Romans, die mit dem neobarroco nicht mehr den Akzent auf kulturelle Synthesen, sondern auf die heterogene Koexistenz gleichwertiger kultureller Traditionen und Texte legt. Nicht nur in der internationalen Hispanoamerikanistik, sondern auch für die europäische Literatur3 hat sich inzwischen die Bezeichnung Neobarock für eine intensive Form von Intertextualität im Bereich jener Erzählliteratur etabliert, die zu sog. postmodernen Schreibformen gerechnet wird. Die Literatur des Magischen Realismus gilt als der Beginn einer solchen Schreibpraxis, die sowohl prämodeme als auch postmoderne Elemente verbindet - ersteres mit der Aufhebung

1 "Yo diría que barroco es aquel estilo que deliberadamente agola (o quiere agolar) sus posibilidades y que linda con su propia caricatura [...]. Barroco (Baroco) es el nombre de uno de los modos del silogismo; el siglo XVm lo aplicó a determinados abusos de la arquitectura y de la pintura del XVIII; yo diría que es barroca la etapa final de todo arte, cuando éste exhibe y dilapida sus medios. El barroquismo es intelectual y Bemard Shaw ha declarado que toda labor intelectual es humorística. Este humorismo es involuntario en la obra de Baltasar Gracián; voluntario o consentido, en la de John Donne (Borges, 1980[1954J:243). 2 In Barroco (1974). Zum Barock von Severo Sarduy vgl. u.a. E. Rodríguez Monegal (1979:405 und 409). 3 Es wirf etwa in bezug auf die Romane des französischen Schriftstellers Dominique Fernandez (z.B. Le banquet des anges, Paris: Plön, 19S4) von einer Wiederkehr des Barock gesprochen. Zu Barock und Allegorie im modernen Text vgl. bspw. Christine Buci-Gliicksmann, 1984; Antoine Compagnon, 1990.

142 der Polarität vom magischen und realistischen Denken4, das zweite durch die intertextuelle und autoreferentielle Komposition der Romane5. Das vorliegende, die Besprechung der theoretischen Diskurse abschließende Kapitel soll durch die Auseinandersetzung mit dem Problembereich des Barock den engeren Rahmen der Theorie des Magischen Realismus um ästhetische Perspektiven erweitern, die besonders durch die poetisch-kritische Schreibweise von Lezama Lima vermittelt werden. Die Gegenüberstellung der Auffassungen Carpentiers und Lezama Limas soll den Unterschied zwischen dem auf Kultursynthesen im Sinne der Mestizierung basierenden Identitätsdiskurs, in dessen Rahmen sich Caipentier bewegt, und einem um Kulturheterogenität bemühten Denken und Schreiben (wie bei Lezama Lima) deutlicher machen. Auf Octavio Paz wird nur soweit Bezug genommen, als im Zusammenhang mit der Dichtung Sor Juanas und dem Barock interessante Aspekte seiner Studien zur mexicanidad zum Ausdruck kommen.

1. Carpentiers barroco americano Daß Alejo Caipentier den barroco americano unter der Perspektive eines Identitätsdiskurses sieht, zeigt sich schon in der Bezeichnung "legitim amerikanisch", die er auf den sog. barocken Stil des hispanoamerikanischen Romans bezieht6. Mit einem herkömmlichen Verständnis des Stilbegriffs als Träger des individuellen Geistes eines Werkes, eines Autors oder, wie hier, einer Kultur7, begründet Caipentier die Legitimität des amerikanischen barocken Stils mit zwei Argumenten: einem strukturellen und einem ontologischen. Letzteres ergänzt die bereits aus der Diskussion des real maravilloso bekannten Argumente durch den Hinweis auf die Existenz eines barocken Geistes vor der conquista: Nuestro aite siempre fué barroco: desde la espléndida escultura precolombina y el de los códices, hasta la mejor novelística actual de América, pasándose por las catedrales y monasterios coloniales de nuestro continente. Hasta el amor físico se hace barroco en la encrespada obscenidad del 'guaco* peruano. No temamos, pues, el barroquismo en el estilo, en la visión de los contextos, en la visión de la figura

4 Zu den Bedingungen der prämodemen Episieme vgl. Foucault, 1966, Kap. D und ni. 5 Zur barocken Textstmktur und zur Verbindung von prt- und postmodemen Elementen im Roman des Magischen Realismus vgl. bspw. Volek, 1990: l l f . 6 "El legítimo estilo del novelista latinoamericano actual es el barroco" (1976[ 1967]:36). Die Ausführungen Carpentieris zum barroco americano stammen aus "La problemática de la actual novela latinoamericana", in: Tientos y diferencias (1967). 7 Schon im ersten Beispiel der Diversifizierung der lateinamerikanischen Küche spielt Carpentier auf die Opposition Abendland vs. Laleinamerika an, symbolisiert durch die Texte der Genesis: Im Popol-Vuh stehe, im Gegensatz zur Bibel, Mais zusammen mit Olivenöl und Weizen am Ursprung (33).

143 humana enlazada por las enredaderas del verbo y de lo ctónico, metida en el increíble concierto angélico de una capilla (blanco, oro, vegetación, ravesados, contrapuntos inauditos, derrota de lo pitagórico) (36). Der Stilbegriff wird nicht historisch, sondern als ontologische Kategorie verstanden. Der barocke Stil entspreche der Wesenheit der lateinamerikanischen Kultur in allen Aspekten und allen Zeiten des lateinamerikanischen Kontinents. Als barock gilt schon die manieristische Wucherung der natürlichen Welt, die den Sprachstil, d.h. das Medium menschlicher Äußerungen, notwendigerweise formt ("enredaderas del verbo y de lo ctónico"). Übersetzt in die Bedingungen der neuen Welt, hat die paradoxale, groteske8 Vermischung des Heterogenen im barocken Stil eine der europäischen Kunstform des Barock entgegengesetzte Wirkung. Während der Letztere als eine desviación, ein Delirium, ein wahnsinniges Spiel, eine manieristische Rhetorik ohne Beziehung zur Welt und als eine unethische Verwendung der Mittel der Kunst® beurteilt und mit Verwirrung in Beziehung gebracht wird, sei der barroco americano der genuine Ausdruck einer Welt, deren Natur nicht mit Kategorien der Harmonie, sondern der Disharmonie und Heterogenität benannt werden muß. Insofern bedeute die groteske Verbindung von Kontexten und die barocke Metaphorik einen Widerspruch zur Mathesis, d.h. zur Proportionslehre der Grammatiken, worauf Carpentier mit Bezug auf Pythagoras anspielt10. Während dies aber im Abendland als Entfernung von einer die Harmonie natürlicher Ordnung voraussetzenden Repräsentation eingeschätzt werde11, soll der barroco americano die amerikanische Welt näherbringen und die Repräsentation vollenden, in dem er sie "ästhetisch"12 darstellt. Durch die manieristische Wucherung verselbständigt sich die Sprache im amerikanischen Barock nicht von der Repräsentation, wie dies im europäischen Barock geschieht13, sondern das Zeichen wird zu einem transparenten Medium, auf das die formende Natur den Stil prägt. Das Schöpfungsprinzip liegt in der Natur insoweit, als diese eine formende Kraft ist. Die epistemologische Position Carpentiers ist als romantisch zu bezeichnen; einmal weil sie sich als reine Opposition zum klassizistischen Ordnungprinzip versteht; zum anderen wegen der Verlegung des Formprinzips in den Bereich der natura naturans.

8

Der Aspekt des Grotesken wird bei der Behandlung des Barock u.a. durch Jean Franco (1979) und Juan Goytisolo (1979) hervorgehoben.

9

Entsprechend der Einschätzung der Romantik (Conte, 1972:29).

10 Carpentier vergleicht offensichtlich die europäische Episteme des 17. Jhs. (Foucault, 1966:70f.) mit einem vermeintlich ontologischen Zustand Hispanoamerikas und vermischt damit historisierende mit ontologische Argumente. 11 Conte (1972:207fT.). Foucault spricht von einem Beginn der "imagination de la ressemblance" im Barock (1966:81ff.). 12 Carpentier meint anschaulich, im Sinne ästhetischer Wahrnehmung. 13 Diese mit Foucault [1966] oder Conte [1972]) abereinstimmende These legt Carpentier anders aus, und zwar im Sinne einer klassischen Abwertung dieses sich von der Mimesis entfernenden Stils.

144 Dabei wird ein ungebrochenes Verhältnis des Formprinzips von Natur zur Sprache vorausgesetzt, das seit Rousseau'4 und Novalis nicht mehr angenommen werden kann. Das ästhetisch-strukturelle Argument hat eine ontologische Fundierung: Die amerikanische Welt erzwingt die manieristisch-barocke Form, weil die "Dinge" der neuen Welt nicht Teil von bekannten kulturellen Intertexten sind und die referentiellen Kontexte erst benennen müssen15. Das Zeichen kann nicht in absentia evozieren, weil der Referent nicht bekannt ist. Dies sei aber das Prinzip der Ästhetik des amerikanischen Barock, nämlich die textuelle und prozessuale Erzeugung von Präsenz der Welt in den Strukturen der Sprache16. Carpentier kehrt somit eine Mangelsituation um, d.h. die Notwendigkeit de nombrar las cosas (36), in eine Quelle von Kunst, womit die Fähigkeit gemeint wird, die Dinge in die Sprache hineinzunehmen, während umgekehrt der hohe Grad an Intellektualisierung der europäischen Welt durch die Existenz von abstrakten, intertexuellen Interpretanten zu einer Entfernung von den Dingen führe. Semiotisch gesprochen, sieht Carpentier im Mangel eines logischen Interpretanten die Notwendigkeit, die Zeichen mit Wahrnehmungsqualitäten17 auszustatten, um das Unbekannte zu präsentieren. Gerade aber diese "Qualität" des barocken Zeichens entlarvt die problematischen Prämissen im Sprachbegriff Carpentiers. Diese sind: a) die Sprache ist transparentes Medium zur Repräsentation von Welt; b) die Repräsentation einer sich als authentisch gebenden Welt wird aus europäischer Sicht beurteilt; c) die europäische Perspektive ist die von Spenglers Dekadenz des Abendlandes18, wobei Carpentier mit der "formenden Natur" der amerikanischen Welt Exotik als Heilung anbietet19. Nicht nur weil das Denken Carpentiers die Diskurse des Magischen Realis-

14 Vgl. Foucaull (1966:122ff.) und de Man (1979). 15 "La palabra 'pino' basta para mostramos el pino [...]; Pero la palabra 'ceiba' - nombre de un árbol americano al que los negros cubanos llaman 'la madre de los arboles' - no basta para que las gentes de otras latitudes vean el aspecto de columna rostral de este árbol gigantesco [..." (33). 16 "Pero la prosa que le da vida y consistencia, peso y medida, es una prosa barroca, forzosamente barroca, como toda prosa que cine el detalle, lo menudea, lo colorea, lo destaca, para darle relieve y definirlo" (35). Zur Untermauenmg seiner These des Barock als Erzeugung von Präsenz im Medium der Sprache verweist der Autor auf den manieristisehen Detailreichtum des "Nashorns" bei Dürer, was im generell sparsamen Zeichnungsstil dieses Malers eine Ausnahme darstelle. 17 Der von Carpentier gemeinte Zeichentyp entspricht dem "deautomalisieiten" Zeichen, und damit einem mit Wahrnehmungsqualitüten ausgestatteten Bild, wie es Sklovskij für die moderne (symbolistische) Kunst fordert (in: Striedtcr, 1969). 18 Zur Rolle der Philosophie Spenglers für die Idee der Americanidad bei Carpentier und Lezama Lima vgl. E. Bejel (1981:75-89). 19 Die neue Welt als Natur ist die Inspiration für den neuen Stil des amerikanischen Barock, wohingegen die alte Welt des Nouveau Roman nur noch die Kultur denunzieren kann, die die Perspektive auf Objekte reduziert Das Beispiel des nouveau roman • técnica en boga - soll belegen, daß die Perspektive des Abendlandes sich immer mehr auf die funktionalisierten Objekte der Alltagswelt verengt (36), womit ein Gegensatz zwischen "cosas" und "objetos" bzw. zwischen der in der Sprache aufgehobenen Natur des lateinamerikanischen Barock und der von der Natur entfernten abstrakten Sprache einer funktionalisierten Welt in Europa geschaffen wird.

145 mus wesentlich bestimmt hat, sondern auch, weil die impliziten Prämissen nicht genug erforscht wurden, lohnt es sich, auf diese einzugehen: Daß Carpentier seine Argumentation in Opposition zu einem "dekadenten" Abendland aufbaut, ist evident. Abgesehen von existentialistischen Themen20, ist mit einer Ästhetik der "Präsentation der Dinge" der Widerspruch gegen ein Abendland intendiert, auf dem seit dem 18. Jahrhundert das Verdikt der "Entfernung von der Natur"21 lastet. Es ist ein Diskurs, der nach dem Ästhetizismus des fin de siècle in die in Lateinamerika breit rezipierte These der Deshumanización del arte von Ortega y Gasset mündet. Dabei ist der Adressat dieses die Eigenständigkeit behauptenden Identitätsdiskurses das europäische Abendland22. Dies zeigt sich, wenn Carpentier die Obsession zu benennen seitens des barroco americano vom Standpunkt fremder Kulturen, d.h. als Ergänzung einer referentiellen Lücke von gente de otras latitudes (33) erklärt. Caipentiers wichtiges Anliegen ist es zu unterstreichen, daß das "Neue" bzw. das "Andere" des lateinamerikanischen Barock in der Verschiedenheit der Welt liege. Diese sei wildes Chaos statt Ordnung, ein Chaos, das sich in den amerikanischen barocken Stil einschreibe und eine neue Ästhetik generiere. Der amerikanische Barock ist somit - der Logik Caipentiers zufolge - nicht auf den Eingriff des Künstlers zurückzuführen, der das klassische Harmonie-Ideal zerstört, sondern als Niederschlag der Bedingungen der Welt in die Kunst zu sehen. Carpentier vertritt eine Art Sprachrealismus, der nicht das Abbild einer harmonischen Realität, sondern die Widerspiegelung einer der Sprache vorausgehenden, verzerrten Natur ist23. Carpentier sucht die abendländischen Hierarchien auf den Kopf zu stellen und die ästhetischen Normen sowohl der Kunstinstitution (Verschiebung des Zentrums von Europa auf Lateinamerika) als auch der Poetiken zu dezentrieren: Die Wahl der Gattung, die im Zentrum dieses neuen Stils stehen soll, der Roman, drückt den alternativen Willen der Lateinamerikaner gegen die Dominanz des lyrischen Genres in den avantgardistischen Poetiken aus. Die Affirmation des Romans impliziert Leben, Realität, Kollektivität gegen Melancholie und Solipsismus der Lyrik in der europäischen Moderne. Der ästhetische Unterschied zum europäischen Barock wird quantitativ (kulturelle Kumulation24) wie auch qualitativ (Neukomposition bzw. Deformation des Alten25)

20 Vgl. z.B. den Verweis auf Ionesco (36) und auf die entfremdete, absurde Lebenssituation Europas. 21 Vgl. Bätschmann (1989). 22 Die These der "Distanzierung der Dinge durch die Kunst", die Georg Simmel in seiner soziologischen Ästhetik vertreten hat, repräsentiert das europäische Klima des fin de siiclt, gegen das die Lebendigkeit der amerikanischen Natur behauptet wird (vgl. auch Bätschmann, 1989:336f.). 23 In Spanien wurde zunächst die barocke Kunst mit Chaos, und damit abwertend, assoziiert. Daran erinnert Juan Goytisolos mit Bezug auf das Urteil des Humanisten Francisco Cascales bzgl. der Soledades von Góngora (Goytisolo, 1979:133). In Lateinamerika werde die Bewertung des Chaos auf den Kopf gestellt, worüber Carpentier wie auch Lezama Lima einen gewissen Stolz nicht verbergen können. 24 Bspw. der Zeiten. Die lateinamerikanische Kultur sei ein medioevo americanizado (22).

146 begründet. Beide Prozesse, die Akkumulation und die Deformation, führen zur Veränderung des Originals als Produkt einer Transkulturation: Espíritu barroco, legítimamente antillano, mestizo en cuanto se tansculturizó en estas islas del Mediterráneo americano, que se tradujo en un irreverente y descompasado rejuego de entablamientos clásicos, para crear ciudades aparentemente ordenadas y serenas donde los vientos de ciclones estaban siempre al acecho del mucho orden para desordenar el orden apenas los veranos, pasados a octubres, empezaran a bajar sus nubes sobre las azoteas y tejados. Las columnatas de La Habana, escoltando sus Carlos i n de mármol, sus leones de delfines griegos, me hacen pensar -troncos de selvas posibles, fustes de columnas rostrales, foros inimaginables - en los versos de Baudelaire que se refieren al "Temple oü de vivants piliers laissaient entendre parfois des confuses paroles (69). In ihrer mestizierten Qualität von mundo transladado (Mediterráneo americano) gilt der Geist der lateinamerikanischen Kultur als barock, weil er eine naturbedingte, respektlose Verzerrung der klassischen Harmonie sei24. Die kulturelle Symbolik des klassischen Abendlandes wird von der Form einer Natur überwuchert, die, wie grotesk auch immer, aus dem Bereich des Möglichen stammt. Die grotesken Verbindungen einer analogía universalis, die Baudelaire, auf den der Autor hinweist, im Reich der Phantasie suchte, sind bei Carpentier das "Abbild" einer genuinen Natur hinter den Zeichen der kulturellen Traditionen27. Natur und Originalität sind die Prämissen dieser Kultur, die sich in einem ursprünglichen, "natürlichen", noch nicht beschriebenen Zustand befindet und zur Erscheinung gebracht werden soll: Difícil es revelar algo que no ofrece información libresca preliminar, un archivo de sensaciones, de contactos, de admiraciones epistolarias, de imágenes y enfoques personales; difícil es ver, definir, sopesar, algo como fue La Habana (17). Carpentiers Definition des eigentlich Amerikanischen28 in Opposition zum Abendland nimmt nicht nur die Perspektive des Abendlandes ein, sondern eine auf die klassizistischen Episteme sowie den Realismus-Begriffs des 19. Jhs. zurückgehende Perspektive, 25 Es ist eine ästhetische Qualität, die ebenfalls auf dem Hintergrund avantgardistischer Kunst und im Sinne der Ästhetik des Russischen Formalismus zu verstehen ist. Gemeint ist Aisthesis im Sinne einer neuen Art des Wahmehmens. Eine ästhetische Wahrnehmung sei nicht nur durch die referentielle Präzision der Zeichen erzeugt (s.o.), sondern entstehe auch aus der Deautomatisierang bekannter Bilder mittels perspektivischer Brechungen. Dies geschehe schon in den Crónicas, in denen der Blick mit den mirabilia, mit den Dingen der neuen Welt, konfrontiert ist. 26 Vgl. bspw. den Hinweis auf die ciclones im obigen Zitat. 27 Mit dieser Art Naturmetaphysik scheint Carpentier Baudelaires Correspondances romantisch zu interpretieren. Mehr als Baudelaire hat Carpentier Victor Hugo im Blick, aus dem Baudelaire zwar den Analogiebegriff gewonnen hatte (Sur mes contemporains: Victor Hugo), um jedoch die romantische Analogie als allegorisches Zitat zu benutzen (vgl. de Man, 1988). 28 Zur romantischen Fundicmng einer esencia auténtica des real maravilloso, der mythisch-ahistorischen Perspektive des barroco als auch der ontologischen Auslegung der Mestizierung und des Barockbegriffs bei Carpentier, vgl. W. Matzat (1988:343).

147 die in der Durchbrechung rationaler und realistischer Ordnungsprinzipien die Schöpfung eines neuen Stils und die Modellierung einer anderen Welt sieht29. Die Affirmation der Dichotomie zwischen einer ursprünglichen (natürlichen) Kultur in Lateinamerika und der dekadenten, überästhetisierten Kultur des Abendlandes sowie die Kategorie des Neuen als Qualitätskriterium haben zu einer Verstärkung der Vorurteile im Hinblick auf die angeblich mangelnde Literatur dieses Kontinents geführt. Dieses Vorurteil hat bis in die jüngere Vergangenheit30 hinein dominiert, wie die Identitätsdiskussion (Kap. II) und die Darstellung der Erforschung des Magischen Realismus (Kap. III) gezeigt haben. Mit der Nachzeichnung der Argumentation Carpentiers wird die Logik offensichtlich, die zur mehr oder weniger unterschwelligen Annahme geführt hat, der prometheussche Kreationsakt der sog. Literatur des Booms, die u.a. mit Carpentier beginnt, habe wundersamerweise ex nihilo entstehen können. Abgesehen von dem daraus resultierenden exotischen und diskriminierenden Blick einer primär auf die "Wunder" der Neuen Welt bezogenen Literatur, bleibt beim Standpunkt Carpentiers, der, wie in Kap. HI gezeigt, von einem breiten Teil der Forschung vertreten wird, eine wichtige Komponente dieser Literatur unbeachtet: Mit der Bewertung des europäischen Barock auf der Grundlage der klassischen Episteme entgeht Carpentier die Bedeutsamkeit dieses europäischen Stils als Bruch. Insbesondere im manieristischen Gebrauch der Metaphern und in der Radikalisierung der Analogie, die in der Renaissance durchsichtiges Ausdrucksmedium der Dinge war, 29 Nur in neuerer Zeit ist die Cmpenüer-Forschung auf den Widerspruch zwischen dem identitätsstiftenden Standpunkt des theoretischen Werkes und der ästhetischen Arbeit seiner literarischen Texte eingegangen. Wolfgang Matzat analysiert z.B. die zunehmende Entfernung der u.a. durch die Spannung zwischen Makro- und Diskursstruktur (Geschieh ts- und Erzahlebene, S. 358) entstehenden ästhetischen Arbeit der Romane vom Projekt der Identitätsbegrtindung (1988:354) und weist nach, daß die labile Identität (1988:340) und die ahistorische Perspektive des "real maravilloso" angesichts der zwiespaltigen Sicht der lateinamerikanischen Geschichte in Carpentiers Romanen zusammenbrechen. Nur einige der Befunde Matzats seien angeführt, die zeigen, daB das literarische Werk dieses Schriftstellers eine Kritik am Begriff des real maravilloso zu leisten vermag: In El reino de este mundo zeigt sich, daß das Konzept des real maravilloso auf der perspektivischen Bedingtheit des europäischen Touristen gründet (344), wobei die der amerikanischen Identitatssuche innewohnende Aporie "zwischen der negativen Erfahrungswiiklichkeit und der fremden idealisierenden Sicht" dem Begriff selbst den Boden entzieht (346); in El recurso del método werden nicht nur "europaische Bestrebungen, wie sie durch Sannen los Gegenüberstellung von civilización und barbarie oder das Konzept der Laiinitat repräsentiert werden, sondern auch die Gegenrichtung des Indigenismus oder das Konzept des mestizaje ironisch zitiert" (347). In diesem Roman erscheinen die Diskurse zur Überwindung der Uneigentlichkeit Lateinamerikas "nun selbst als ein Teil der Geschichte lateinamerikanischer Fremdbestimmtheit" (351), die die Diktatur verantwortet Zu Recht weist Matzat darauf hin, daß die dem real maravilloso zugrundeliegende romantisch anmutende Suche nach dem Ursprung und die Annahme der Geschichte als universaler Sinnzusammenhang im Widerspruch zu einer radikal modernen Erfahrung von Geschichte als Diskontinuität stehen, so daß schließlich in La consagración de la primavera, Carpentiers zweitletztem Roman, diese Erfahrung die intendierte totalisieiende Sicht von Geschichte definitiv unmöglich! macht(359). 30 1979 (Yale-Kolloquium) nimmt Carpentier diese These wieder auf: "Hay en esas novelas una suerte de voluntad de hacer borrón y cuenta nueva y ponemos en punto cero. Yo diría que hay una especie de añoranza del estado fetal del hombre americano" (1984:26). Die Opposition zum Surrealismus steht weiterhin auf der Basis dieser Idee: "Luego, lo real maravilloso americano sigue en nuestras ciudades: lo sorprendente, el surrealismo al estado bruto, eso que hizo decir a Breton cuando se encontró por priirera vez con México: 'México, país electo del surrealismo'. Ese surrealismo al estado bruto y no fabricado (porque en efecto llegó un momento en que el surrealismo, en que ya los surrealistas fabricaban cuadros surrealistas, poemas surrealistas, de acuerdo con recetas), se sigue produciendo al estado bruto" (39).

148 macht sich der Eingriff der Sprache als Konstrukt bemerkbar31. Die Vorliebe für die Allegorie im Barock ist Ausdruck einer Selbstbezüglichkeit der Zeichen, durch die die Sprache zur Bühne von Dlusionsspielen32 wird und ein Schreiben inauguriert, das sich selbst in Szene setzt33. Es ist eine Vorstufe der modernen Selbstbezüglichkeit einer Kunst, die - statt Nachahmung zu sein - mit der Artifizialität und der Produktion des Wundeibaren34 den Repräsentationsakt zwischen die Dinge und die Sprache setzt. Giuseppe Conte führt diesen Bruch35 auf die ideologische Übergangssituation des europäischen Barock zurück: ein Übergang zwischen den Mythen des Mittelalters36 und deren Erosion durch die Renaissance einerseits, sowie dem Beginn der modernen Philosophie andererseits, die ihre ideologische Position noch nicht gefestigt hat (207); aber auch ein Übergang zwischen Hofdichtung und modemer Kulturindustrie, in dem Kultur schon als Material für intertextuelle Spiele mit der Repräsentation benutzt werden kann. Auf Lateinamerika angewendet, ist diese Bewertung des Barock nicht unfruchtbar. Im Gegensatz zu Carpentiers These des Literaturmangels läßt sich aus dieser Perspektive erkennen, daß der allegorische Text auch im barroco americano auf eine intertextuell reiche Kultur rekurriert. Vor dem Hintergrund einer solchen Feststellung wird deutlich, daß die auch von Carpentier vertretene These der Sprachlosigkeit der hispanoamerikanischen Welt ein Relikt des Authentizitätsdenkens und des Identitätsbegehrens ist, die nach der Unabhängigkeit bzw. auf der Grundlage positivistischer und sozialdarwinistischer Philosophie aufkommen. In der Tat erklärt diese Konzeption des Barock die Dichte des Sprachmaterials - anders als Carpentier es tut - im Sinne

31 Auch hier muß eine Diskrepanz zwischen den theoretischen Essays zur Identität und den Romanen Carpentiere hervorgehoben werden. Roloff hat in Los pasos perdidos Kamevalisierungseffekte feststellen können, die den Urwald als eine "Welt von Tauschungen" (97) offenlegen, womit Carpentier bei einer "Mythisierung des Mittelalters" - so die These Roloffs - zugleich auch den grotesken Vermittlungsakt der im Urwald verborgenen phantastischen Bilder des Mittelalters als Museumsbilder (1985:93) transparent macht Darin ist ein ironisch-gebrochener Umgang mit den romantischen Mythen des Mittelalters zu sehen, der eher einer barocken Allegorisierung als einer romantisch poetischen Überhöhung des Mythos gleichkommt 32 Vgl. S. Neumeisters Ausfuhrungen zum europaischen Barock: "Ihren Scheitelpunkt erreicht die Bahn dieser neuerlichen Weltentwertung durch extreme Ilhisionstechnik in der spanischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Zwei Autoren des spanischen Goldenen Zeitalters sind es vor allem, die den unerbittlichen Wechsel von schönem Wahn und Ent-Tüuschung, von 'engallo' und 'desengaño', vorführen: Baltasar Gradan und Pedro Calderón de la Barca. Beide erreichen ihre größte Aussagekraft in der Allegorie" (1988:24). 33 Ein Merkmal, das - Conte zufolge - den Barock im modernen Sinne von écriture interpretierbar macht "Naturalmente gli 'scrittori', a differenza degli 'scriventi', tea tralizzano la metafora, non si limitano a servirsene come strumento, ma riflettono sullo strumento stesso, deputano una attenzione alla sua presenza intransitiva di 'spettacolo verbale" (1972:39). Vgl. auch bei Foucault "On trouve déjà chez Bacon, une critique de la ressemblance [...]. Les similitudes. Bacon ne les dissipe pas par l'évidence et ses règles. Il les montre qui scintillent devant les yeux, s'évanouissent quant on approche, mais se recomposent à l'instant, un peu plus loin. Ce sont des 'idoles'. Les 'idoles de la cáveme' el celles du 'théâtre'" (65). 34 Etwa bei Emanuele Tesauro (vgl. Conte, 1972:44-45). Die ingegnosità der konzeptistischen Metaphern in Tesauros Cannochiale Aristotelico lassen sich als poetica del prestigiatore bezeichnen. 35 Contes Darstellung hat deutliche Obereinstimmungen mit Foucaults Les mots et les choses. U.a. versteht auch Conte "Bruch" im Sinne einer "episodischen" Durchbrechung der Episteme der Klassik (1972:220) und nicht einer historischen Phase in einem Kontinuitatsdenken. 36 Vgl. Foucaults Ausführungen zur ressenmblence als Operation, die bis zum 16. Jahrhundert dominiert (1966:33-45).

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jener "Anthropophagie", die Lezama Lima als das Merkmal des barroco americano kennzeichnet: eine obsessive Assimilation aller Kulturtraditionen, gleichgültig welchen Ursprungs, und deren wechselseitige Durchbrechung sowie eine Dichte des Sprachmaterials, die zugleich Präsenz und Distanz erzeugt. Diese Denkfigur, die den barroco americano weniger mit der bei Carpentier zugrundeliegenden Kategorie des Goetheschen Symbols37 als mit der Benjaminschen Allegorie38 erklärt, braucht keine dichotomische Argumentation im Verhältnis zum Abendland, um die Bedeutung des Barock für die lateinamerikanische Kunst zu erklären. Die Praxis des Schreibens als desengaño, als Aufdeckung der illusionären Natur39 der Repräsentation steht vielmehr in der Tradition des spanischen Barock40, in die sich Lezama Lima in Paradiso auch ausdrücklich stellt41. Im Gegensatz zur Auslegung des Barock im Sinne einer Thea-

37 Eine Symbolhaft, die im Sinne Carpentiers im modernen Text die Korrespondenz des Barock-Stils mit der Welt Lateinamerikas erreichen kann. In Goethes Aufsatz Ober "Einfache Nachahmung der Natur. Manier und Stil" (erschienen 1789 in Der Ttutsche Merkur)findensich m der Opposition zwischen Manier und Stil Parallelen zur Argumentation Carpentiers: "Wie die einfache Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebvoUen Gegenwart beruhet, die Manier eine Erscheinung mit einem leichten. fähigen Gemüt ergreift, so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen" (1967:34). Zum Symbol im Zeitalter Goethes vgl. Titzmann (1979). 38 Der von Walter Benjamin in Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) entwickelte Begriff der Allegorie umschreibt Distanzierungsschritle von einer Ästhetik der Mimesis. Diese Funktion der Allegorie stimmt mit Foucaults Darstellung der barocken Literatur am Beispiel von Don Quijote Oberem. Quijote stelle den Obergang zwischen der Renaissance (Repräsentation als Mimesis) und den Barock (als Theatralisierung der Mimeais): "C'est la marque d'une nouvelle expérience du langage et des choses. [...]. n rassemble tous les signes, et les comble d'une ressemblance qui ne cesse de proliférer. Le poète assume la fonction inverse; il tient le rftle inverse; il tient le rtle 'allégorique'" (1966:63). Bei der Darstellung barocker Prinzipien durch Gilles Deleuze im Rahmen seiner Studie zu Leibniz bezieht sich der Autor auf die barocke Architektur als Bruch zwischen Repräsentation und Welt, d.h. als "scission de la façade et du dedan" (1988:40). 39 Baudelaire laßt sich nicht notwendigerweise in Sinne einer "Mimesis dea Wunderbaren" verstehen, wie Carpentier mit Bezug auf Correspondances zu um beabsichtigt. Die Beschreibung der "Fliantasielandschaft" im Sahn de 1846 und das Plädoyer gegen die moralisierende historische Landschaft sieht im allegorischen Paradigma: "Was die Phantasielandschaft anbelangt, [...] in diesem seltsamen Genre [._], das im Kleinen den schonen Opemdekorationen entspricht, kommt das natOrliche Bedürfnis nach dem Windeibaren zur Geltung. Hier bemächtigt sich die zeichnerische Phantasie der Landschaft wunderbare Garten, unendliche Horizonte, Wassellaufe von mehr als naturlicher Klarheit, die Gesetze der Topographie mißachten, nach idealen Proportionen aufgetürmte gigantische Felsen, traumhaft schwebende Nebel", ziL nach Batschmann (1989:319). Baudelaires Kritik an den realistischen Landschaftsmalern, die er als "historische Maler" bezeichnet, weil sie weiterhin nach Ordnungsprinzipien abbilden, gipfelt in der ironischen Bemerkung, daß sie auch die Hölle "wie eine wirkliche Landschaft mit einem klaren Himmel und einer freien reichen Natur etwa eine Savanne oder ein Urwald" darstellen worden (320) - eine ironische Vorwegnahme der Argumentation Carpentiers! 40 Bekanntlich stammen Benjamins Einsichten bzgl. des Allegorie-Begriffs u.a. aus dem spanischen Barock-Theater, vor allem von Calderón de la Barca. Calderón stehe außerhalb des Harmonie- und mythischen Ganzheitsdenkens und realisiere Brüche sowie Fragmentarisches sowohl thematisch als auch in der formalen Struktur "Allegorie - so darf man das Verhältnis dieser beiden [Allegorie und Symbol] formulieren - führt in ihrer ausgebildeten Form, der barocken, einen Hof mit sich; ums figúrale Zentrum, das den eigentlichen Allegorien im Gegensatze zu Begriffsumschreibungen nicht fehlt, gruppiert die Falle der Embleme sich. Sie scheinen willkürlich angeordnet: 'Der verwirrte ' H o f - der spanische Trauerspieltitel - ließe als Schema der Allegorie sich ansprechen. 'Zerstreuung' und 'Sammlung' heißt das Gesetz dieses Hofes" (1974[1928]:210). Im Zentrum des Begriffs Benjamins und dessen Absetzung vom Symbolbegriff steht die Hervorhebung der Zeitlichkeit bzw. Historizitat: "Aus dem mystischen 'Nu' wird das aktuelle 'Jetzt'; das Symbolische wird ins Allegorische verzerrt" (203). 41 "Sierpe de don Luis de Göngora" (1966). Siehe auch die vergleichende Analyse von Severo Sarduy (1968) und Juan Goytisolo (1976).

150 tralisierung der Mimesis, auf die im folgenden mit Lezama Lima eingegangen wird, stellt Carpentier die manieristisch wuchernde Repräsentation der amerikanischen Welt in Beziehung zur mimetischen Funktion der Sprache. Dabei übernimmt er die Episteme der klassischen Harmonie sowie der Dekadenztheorien über das moderne Abendland, kehrt ihre Bewertung um und sieht die vermeintliche Abbildung eines wesensbedingten Chaos durch den "amerikanischen Barock" als Differenzqualität gegenüber der europäischen Literatur. Bei der Hervorhebung der amerikanischen Natur als Formprinzip des Barock bleibt ein wesentlicher Teil der hispanoamerikanischen Literatur ausgeschlossen, die sich als Manifestation des freien Umgangs mit der Pluralität von Texten einer Kultur ohne Anspruch auf Ursprung und Authentizität artikuliert. Gerade in die letztere Perspektive stellt sich gerade Lezama Limas Verständnis des Barock.

2. José Lezama Limas Curiosidad barroca42: Kulturelle Assimilation statt Authentizität Bei Lezama Lima ist die Enge des Authentizitätsdiskurses schon durch die poetische Struktur seines Essays aufgebrochen. Die Idee der schöpferischen Kraft des Barock bezieht sich zunächst auf einen Epochen-Begriff13. Für die colonia gilt bei Lezama Lima, ebenso wie im Barock-Begriff Carpentiers, das Merkmal der Akkumulation der Zeiten (Mittelalter, Renaissance und Aufklärung sowie präkolumbische und moderne Zeiten) wie auch der Kontinente. Daraus ergibt sich eine Deformation der Stile. Statt aber mit dem Begriff der Kultursynthese zu operieren und die Differenz des Barock in Bezug auf das Abendland zu bestimmen, hebt Lezama Lima ein anderes Merkmal hervor: die Fähigkeit der colonia, die bunte Vielfalt kultureller Elemente, gleichgültig welchen Ursprungs, zu assimilieren. Die Metapher der Assimilation führt zu einer anderen Betrachtung des Verhältnisses zwischen der alten und der neuen Welt als bei den bisherigen Autoren, die eine als Differenz zum Anderen verstandende, authentische Identität angestrebt haben. Während die Kultursynthese noch auf Hierarchien von kulturellen Werten44 gründet und bei der These des wechselseitigen kulturellen Austauschs mit dem Konzept von Ursprung, Fortschritt und Emanzipation operiert, meint die Assimilationsmetapher eine Form des Umgangs mit Kultur, in dem die Aufnahme kultureller Elemente als ein vom Ursprungsdenken unabhängiger, freier Prozeß vollzogen wird, der auch die Freiheit 42 Teil einer Essaysammlung mit dem Titel La expresión Americana. Havanna: Instituto Nacional de Cultura, Ministerio de Educación, 19S7. Für die der vorliegenden Analyse zugrundegelegte Ausgabe: Obras completas (1977). 43 Lezama Lima (1972) sieht im sog. neobanoco von Sarmiento, José Martí und kubanischen Autoren nach 1939 eine Wiederbelebung des Barock. 44 Die Rollen des Spenders und Empfängers, der dominanten und dominierten Kultur, sind zwar im standigen Auslausch und können sich verschieben. Dennoch lassen sie sich in diesem Modell nicht ausblenden.

151 des Anderen respektiert45. Dies zu präzisieren ist Aufgabe der nachfolgenden Analyse des Essays Lezama Limas.

2.1 Indiatide im hispanoamerikanischen Barock: Widerstand des Anderen statt Synthese Lezama Lima vergleicht den hispanoamerikanischen mit dem spanischen Barock. Wie in der spanischen und europäischen barocken Dichtung sind die Kühnheit der konzeptistischen Metaphern bzw. der Uberraschenden Bildverbindung sowie die allegorische Besessenheit ein Kennzeichen auch des amerikanischen Barock. Für letzteren stellt Lezama jedoch fest, daß dieser aus einem noch stärkeren Kontrast zwischen der Freiheit in der poetischen Sprache bzw. der ästhetischen Schöpfung46 und der verschlossenen Welt einer gegenreformatorisch verengten mittelalterlichen Theologie entstanden sei (305). Die Unmöglichkeit, die heterogenen Elemente zu einer Synthese zu führen, wirkt wie eine Provokation, eine temeridad, die gegen die Ordnung der spanischen Krone potentiell subversiv47 ist: En un mundo teológico cerrado, con mucho aún del temor a lo divino tan medieval, aquella figura, aquella temeridad de la piedra obligada a escoger símbolos, ha hecho arder todos los elementos para que la princesa india pueda desfilar en el cortejo de las alabanzas y las reverencias (305). Die Dynamik des barroco bedeutet, daß das Andere Widerstand dagegen leistet, sich in ein einheitliches Bild einzufügen, so daß - Lezamas Argumentation zufolge - im Portal der Kathedrale von San Lorenzo in Potosí neben den katholischen Engeln eine indianische Prinzessin ihre Präsenz behaupten kann. Die Darstellung Lezamas zielt darauf ab, die im hispanoamerikanischen Barock deutliche Präsenz des indianischen Kulturelements, der indiatide, nicht als Negationsgeste einer sich konstituierenden Identität, sondern als Zeichen der kulturellen Öffnung nach außen zu verstehen. Als Zeichen dieser Öffnung gilt die intellektuelle Neugierde des barocken Dichters, die Lezama Lima unmittelbar mit Genuß von Speisen in Zusammenhang bringt. Es ist eine golosina intelectual (309), die nach der Weltliteratur begierig ist. Diese Metapher drückt das zentrale Moment des Essays aus: Ein intellektuelles Begehren, wofür die zehnte Muse Mexikos, die Dichterin Sor Juana Inés de la Cruz, zum Symbol48 erho45 "Orden pero sin rechazo, una imposible victoria donde todos los vencidos pudieran mantener las exigencias de su orgullo y de su despilfarro* (305). 46 Es handelt sich um das Beispiel des vom Indio Kondori gestalteten Ponáis von San Lorenzo in Potosí (305). 47 Damit setzt der barroco americano, Lezama Lima zufolge, den im spanischen Mittelalter bestehenden Widerspruch zwischen lateinischer Grammatik und einem rebellischen keltischen Kulturelement fort (in César Fernández Moreno, 1972:462-468). 48 Auch Carpentier verweist auf die symbolhafte Figur von Sor Juana in Zusammenhang mit dem Synkretismus des amerikanischen Barock (vgl. Márquez Rodríguez, 1982:40 und 166).

152 ben wird, und ein Wissensdurst, der diese Gestalt des mexikanischen Barock in die Nähe der Aufklärung bringt (306). Die barocke Verknüpfung der assimilierten Kulturelemente ist derart heterogen, daß sich diese dem unmittelbaren Zugriff entziehen. Die Metapher der Assimilation als begierige Aufnahme kultureller Vielfalt erlaubt es Lezama Lima, die Reflexion auf eine erkenntnistheoretische Ebene zu stellen. Dies ist für den Zugang zum kulturellen Problem von Bedeutung: Während es in den bisher behandelten Ansätzen tendenziell darum ging, distinktive Merkmale zur Modellierung einer postulierten Differenz der amerikanischen Welt zu finden, zeigt die Tendenz der Argumentation von Lezama, daß er mit Barock nicht ein in der Welt angelegtes kulturelles Objekt zu definieren sucht, sondern vielmehr eine vom Kunstgegenstand angeregte Umgangsform mit Kultur anvisiert. Dies ist ein grundlegender Aspekt der curiosidad barroca, der in der weiteren Analyse vertieft werden soll. Die Heterogenität des kulturellen Gegenstands des Barock erzeugt im Erkenntnissubjekt konträre Bewegungen gleichzeitig: Naivität und "afán de conocimiento universal, científico"4®. Es ist ein conocimiento físico, wobei der Akzent auf der Physis etwas Anderes meint, als die sensualistische Auslegung des Erkenntnisbegriffs in der Aufklärung: La inovación en el verbo poético y el afán del conocimiento físico, de las leyes de la naturaleza, que van más allá de la naturaleza como tentación para dominarla como el Doctor Fausto (306). Der im obigen Zitat gemeinte Eikenntnisakt gibt der Physis einen hervorgehobenen Stellenwert. Zunächst bedeutet conocimiento físico nicht die Reduktion der Welt auf die Natur50 im Sinne eines geordneten Objekts der Erkenntnis, eine Reduktion, die aus einem als Wille zur Beherrschung geltenden Eikenntnisakt herrührt. Die Eigenart des conocimiento físico liegt darin, die Gesetze der physischen Welt als uneinholbare Provokation anzueikennen und zu respektieren. Gerade die Beibehaltung des Widerstandes des Anderen - hier durch die Indiatide dargestellt - kennzeichnet den von Lezama gemeinten eigentlichen Erkenntnisakt, nämlich die Erfahrung eines von der Erkenntnis nicht einholbaren, in Kunst und Poesie aufgehobenen Anderen51, das Achtung verlangt. Es ist bezeichnend, daß erst bei diesem Ansatz von Lezama Lima der in allen bisher analysierten Positionen sowenig bedeutsame - indianische Beitrag ins Spiel kommt. Die Indiatide, das Element der indianisierten, mestizierten Kunst, übernimmt die Rolle jener uneinholbaren Provokation, jenes Anderen, das zugleich Wissensdurst und Respekt der Welt anregt.

49 Lezama bezieht diese Eigenschaft auch auf Sigüenza y Góngora (305). 50 Im Sinne der Kritik Lévinas' am Natur-Begriff ist mit Physis die vom Geist noch ungeformte Materie, d.h. das Andere, das das Subjekt transzendiert, gemeint (vgl. II, 2.2.1). 51 Vgl. die Überlegungen zur Andersheit des Anderen in Zusammenhang mit Lévinas (Kap.II) und weiter unten, Abschn. 2.3.

153 2.2 Assimilation als Abbau von Differenz- und Identitätsansprüchen Die kulinarische und erotische Metaphorik52 durchzieht den gesamten Essay und führt das bei dem hispanoamerikanischen Barock zugeordnete Merkmal der Erneuerung ein53. Die Eßmetapher - "apetencia de frenesí innovador" - (307) legt jedoch den Akzent nicht auf die Innovation, sondern auf Begehren und voluptuosidad (306, 307). Intellektuelles Begehren gilt als das wichtigste Merkmal. Es ist eine Lust, die sich in der Aufzählung eines langen Banketts klassischer Dichter der Weltliteratur auch im poetischen Diskurs Lezama Limas materialisiert: El banquete literario, la prolífica descripción de frutas y mariscos, es de jubilosa raíz barroca. Intentemos reconstruir, con platerescos asistentes de uno y otro mundo, una de esas fiestas regidas por el afán, tan dionisíaco como dialéctico, de incorporar el mundo, de hacer suyo el mundo exterior, a través del homo trasmutativo de la asimilación (310). Lezamas Bankett paßt sich den auf die colonia bezogenen Merkmalen des Barock an und führt vor, was "barockes Schreiben" unter der Perspektive der Assimilation bedeutet. Sein Essay will eine literarische Antwort auf Piatons Symposion sein, insoweit dieser den ritualen Akt des Festes, die Zelebrierung der Lust am philosophischen Gespräch und die Verwirklichung des platonischen Eros als Drang nach philosophischer Erkenntnis darstellt. Der Schreibprozeß Lezamas ersetzt die philosophische Spekulation des platonischen Symposiums, ohne darauf zu verzichten, auch ein philosophischer Akt zu sein. Streben und Begehren (afán) nach Dialektik ebenso wie nach dem dionysischen Rausch erotischer Liebe54 sind die Triebkräfte dieses Festes, in dem der Eros nicht zu Eikenntnis transformiert wird, sondern als glühende Energie wirkt, und die Ökonomie des Festes bestimmt. Der afán, der Wunsch, die äußere Welt zu besitzen, bleibt eine die Welt begehrende Geste und wird nicht zum besitzergreifenden Resultat, weil der Akzent auf den Prozeß der Transformation gelegt wird55. Es ist lohnenswert, auf die Metapher der Assimilation einzugehen: Als philosophischer und religiöser Begriff bezeichnet Assimilation die Gegenbewegung zur Identifizierung des Selbst und eine Haltung, die bei der Religion den Verlust der subjektiven Differenz

52 Zur erotischen Metaphorik in Paradiso im Verhältnis zu Góngora vgl. Goytisolo (1979). 53 Im europäischen Barock ein mit ingenium und Artifizium verbundener Begriff. Im lateinamerikanischen Barock darüber hinaus eine Quelle für linguistische Neubildung auf allen Ebenen der Sprache. Vgl. auch Márquez Rodríguez (1982:218 [zum Lexikon]; 226 und 240 [zur Syntax]). 54 Dionysos ist nicht nur das Prinzip des Enthusiasmus und der irrationalen, chthonischen Kunst gegen die apollinische Verbindung von Kunst und Vernunft, wie Nietzsche es auslegt, sondern auch der ungezügelte, gewaltige Eros, wie im dionysischen Kult, zugleich irdisches Begehren und Suche nach der Transzendenz. 55 Moreno-Duráns Behandlung des Barock kommt dieser Auffassung nahe. Trasmutation durch die Assimilationsprozesse im linguistischen Transfer sind Merkmale des Barock. Dies betrifft nicht nur den Transfer zwischen den Kontinenten, sondern auch innerhalb einer Kultur selbst "El homo viator - el peregrino, típica figura de la iconografía barroca -, se reconoce como uno solo en ambos lados del Océano" (1988:176).

154 gegenüber Gott bedeutet56. Assimilation tritt in Lezamas Text in kulinarischem und erotischem Umfeld auf, obwohl die zitierten Intertexte durchaus auch die religiöse Konnotation mit einbeziehen. Im Zusammenhang mit der physiologischen Metapher der Umwandlung von Nahrung legt Assimilation den Akzent auf einen organischen Prozeß, in dem die einzelnen Elemente einen festen Bezug zum Ursprung verlieren, um in einen anderen Kreislauf einzugehen, der energetisch, aktiv und kreativ ist57 und bei dem das Produzieren, nicht das Endprodukt wichtig ist. Als Metapher für den Umgang mit kulturellen Formen wäre Assimilation als ein Gegenmodell zur Differenzierung der Kulturen durch Identitätsvorstellungen zu verstehen. In diesem Sinne bedeutet Koexistenz von Kulturen mehr als nur Synthese und Akkulturation: Kulturelle Assimilation impliziert einen aktiven, energetischen Umwandlungsprozeß, bei dem weder Arché noch Telos des kulturellen Austauschs und damit Identitäten wichtig sind. Im Vordergrund steht vielmehr das reine Umwandeln, Verarbeiten und Produzieren im wechselseitigen Anziehen kultureller Kräfte. Bedenkt man die Schwierigkeit der in der Forschung vorherrschenden Ansätze, die Kategorien von kultureller Differenz und Identität zu verlassen, erscheint das vom Barock ausgehende Verständnis von Kulturpluralität durch Lezama von besonderem Gewicht. Doch gehen die Einsichten Lezama Limas bezüglich des Barock als Stil weiter.

23 Die Allegorie: "Poetische Methodik" Aus dem spanischen Barock übernimmt der amerikanische die Thematisierung des illusionären Charakters irdischen Lebens und die Theatermetaphorik. Der im amerikanischen Barock verlangsamte Rhythmus58 unterstützt - so Lezama Lima - die theatralische Repräsentation und intensiviert den Illusionscharakter durch eine Serie von Spiegelungen in den Repräsentationssälen des Señor barroco59. Es ist ein verlangsamtes staunendes Schauen und Geschautwerden, gleichsam Fremd- und Selbstsicht im verfremdeten Ebenbild des Spiegels. Es ist die Entlarvung der illusionären Gestalten von Realität und Selbstbildnis:

56 Der Begriff der Assimilation tritt bereits bei Thomas von Aquin auf: "Omnia intendunt assimilari Deo" (in: Somma contra Gentiles, DI, 19,21, zit. nach Ricocur, 1975:351). Als Applikation der analogía enlis wird Assimilation als eine mimetische Anpassung an Gott verstanden, was gleichzeitig die Bedingung der Erkennbarkeit von Welt darstellt 57 In diese Richtung geht die Interpretation der thomistischen assimilatio durch den franzosischen Philosophen Maurice Blondel (besonders in La Pensée, 1934), wobei Solidarität und Aktivität wichtige Komponenten seiner Religionsphilosophie sind. 58 Im Rhythmus sieht Lezama Lima den Unterschied zwischen Góngora und Sor Juana Inés de la Cruz: "Aun el rodar, el recorrido del poema lleva un 'tempo lento' muy distante del 'vivace e maestoso' de las 'Soledades'. Parece como si remedase la lenta corriente de un rio sumergido, mientras la sustancia del sueflo va horadando y penetrando aquellos parajes" (314). 59 "Ese señor (barroco) exige una dimensión: la de su gran sala" (304). Der große Festsaal wird verstanden als Darstcllungsraum und Zurschaustellung - Selbstironie und Ironisicrung der narzißtischen Tätigkeit der Identitätssuche.

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Y ya entrado en la cóncava butaca del oidor, ve el devenir de los sans-coulottes en oleadas lentas, grises, verídicas y eternas (303). Es el hombre que viene al mirador, que separa lentamente la arenisca frente al espejo devorador, que se instala cerca de la cascada lunar que se construye en el sueño de propria pertenencia (304). Das Selbstbild, über das Lezama Lima in diesem Essay nachdenkt, ist ein Werden, das der Provokation des fremden Elements in den heterogenen Gestalten ausgesetzt ist. Eine Spannung tritt zur Welt auf, die sich nicht zum Bild, zum Symbol versteinert. Es ist das Begehren nach einer Form, ohne greifbare Bedeutungen in präsentischen Bildern, in Repräsentationen zu finden: Percibimos que el esfuerzo por alcanzar una forma unitiva, sufre una tensión, una impulsión si no de verticalidad como en el gótico, sí un impulso hacia la forma en busca de la finalidad de su símbolo (304). Die Wirkung der auch im spanischen Barock herrschenden Spiegel- und Repräsentationsmetaphern verstärkt sich zusätzlich durch die karikierende Hypostasierung der Größe der Neuen Welt. Durch den langsamen Blick, den der barroco americano abverlangt, wird es bewußt, daß mit der Fixierung auf ein Bild - auf eine Identität -eine Erstarrung eintreten würde. Auch in dieser Hinsicht paßt sich der Rhythmus des Essays an den Gegenstand seiner Lektüre an. Lezamas Blick ist durch die ausgedehnte Reihung von kulinarischen Künsten und Genüssen verlangsamt. Als eine Antwort auf Sor Juanas afán de conocimiento físico sucht Lezamas langer Augen-Blick auf die kulinarische und intellektuelle Kultur beider Welten, eine Entzerrung von Eros und Eikenntnis herbeizufuhren. Statt auf voracidad (schnelles Tempo des Verschlingens) den Akzent zu legen, verweilt der Text auf voluptuosidad. Intellektuelle Assimilation bleibt erotische Spannung und Begehren. Es kommt nicht zur Verarbeitung, zur digestión des Anderen. Im Verwandlungsofen der Assimilation verlieren das Subjekt und das Andere ihre Differenzierung und werden zu Elementen eines allgemeinen, kontinuierlichen Schöpfungsprozesses. Mit Sor Juana Inés de la Cruz und ihrem berühmten Primero Sueño präzisiert Lezama die Art des erotischen Erlebnisses in der curiosidad barroca: Es lo más opuesto a un poema de los sentidos, está hecho enfrentándose con la primera retirada de la naturaleza en la noche, y con el viaje secreto de nuestras comunicaciones con el mundo exterior por las moradas subterráneas (314). An dem Vergleich zwischen Sor Juana und dem Jesuiten und großen Gelehrten Sigüenza y Góngora, dessen Gestaltungswillen noch die scholastische Lehre erfüllt60 60 Sigttenza y Góngora dient als Beispiel fttr den spirituellen Voluntarismus der Jesuiten; ein auf die Erscheinungen bezogener spiritueller Voluntarismus, den Lezama als Zeichen einer "confianza, quizás, en que la forma comprenderá a la esencia" (310) interpretiert. Der Akzent liegt auf der Präsenz der Form, des Sichtbaren, wobei das metaphysische Ziel in die Zukunft projiziert wird. Die Substanz, das Wesenhafte, ist zwar im scholastischen Weltbild des Jesuiten hierarchisch übergeordnet, doch in Abhängigkeit des Formungswillens, der Gestaltung, des Prozesses, der erstmalig ein sinnlicher ist: "pués ¿en qué forma la voluntad iba a actuar sino sobre la visibilidad?" (310).

156 und dessen Obsession für Form und Visualität die Sinnlichkeit im Augustinischen Sinne realisiert, zeigt Lezama Lima, wie die Dichterin die scholastisch-jesuitisch aufklärerische Lehre assimiliert und damit zugleich verwirklicht und verändert61. Die Quelle ihrer Dichtung ist die Phantasie, jene Einbildungskraft, die auch die Romantik in die Nacht verlegen wird. Doch weist das Sehen des Sueño nicht auf den Aufschwung in sublimierte Höhen einer metaphysischen Erleuchtung62 hin, sondern mit dem Chthonischen sind vielmehr Dunkelheit und unterirdische Wege an der Suche nach Erkenntnis beteiligt. Die scholastische Säftelehre wird zur Metapher unterirdischer Flüsse. Lezama beschreibt damit die curiosidad Sor Juanas als ein Vorstoßen in Bereiche des Schattens63 und in die Koexistenz von Leben und Tod. Es ist ein Vorstoßen in ein Wissen64, das auch inocencia, d.h. Nicht-Wissen impliziert, während in unterirdischen Mäandern und Gewässern auch Oppositionen und Hierarchien verloren gehen: Cuando habla del 'húmedo radical', término de la medicina escolástica, parece como si aludiese a nuestros propios bosques animados con la profundidad maternal de la noche [...]. Su oscuridad desciende a nuestras profundidades, para fundirse con lo inexpresado, impediendo que la luz, al invitarlo, lo ahuyente, y favorecer su desprendimiento por el descenso a las profundidades que siempre regala la oscuridad (314/315). Traum ist Realität65. Im obigen Zitat wird "amerikanische Natur" - anders als die Exotismus-Vision des real maravilloso - mit der Tiefe der Nacht und des Traums, mit dem Verschwommenen und Unbestimmten sowie dem Verlust rationaler, analytischer Erkenntnis an den Grenzen der Sagbaikeit in Verbindung gebracht. Es handelt sich um Metaphern mystischer Erfahrung, allerdings mit dem Unterschied, daß das Ziel des mystischen Weges, das Licht der unio mystica, nicht erreicht wird: In Sor Juanas Dichtung realisiert sich eine "Scholastik des Körpers"66. Der scholastische Wissensdurst ist bei der Dichterin kein Aufstieg in die Spiritualität, sondern eine caída, ein Fall in die tiefsten Strömungen des irdischen Prinzips - zugleich himmlischer Bereich des Eros, des Begehrens und eine andere Form des Wissens. Die Verknüpfung von Traum und Tod durch das Einsinken in die mythologische Welt von Proserpina macht 61 Das Barocke an diesem Dichter ist aber, daß er sich darin verliert' "Ni aun en la Espada de sus días, puede encontrarse quien le supere en el arte de disfrutar un paisaje y llenarlo de utensilios artificiales, métricos y voluptuosos" (309/310). 62 Mit Licht ist das metaphorische Paradigma für Erkenntnis in der abendlandischen Philosophie (Blumenberg, 1957) gemeint. 63 Vgl. "alusiones a Proserpina y Ascálafo" (314). 64 "Parece como si remedase la lenta comente de un río submergido, mientras la sustancia del suefto va horadando y penetrando aquellos parajes" (314). 65 Auch dies steht im Gegensatz zu Caipcntier. Mit der Ablehnung der Realität des Traums und mit einer ontologischen Verankerung des real maravilloso an der amerikanischen Realität setzt sich letzterer vom Surrealismus ab, dessen Orientierung am Traum er als artifiziell ablehnt. 66 "Es la escolástica del cuerpo la que pasa integra a su poema" (314).

157 - Lezama Lima zufolge - den Primero Sueño mit der Dichtung des mexikanischen Dichters Gorostiza67 (Muerte sin Fin) vergleichbar. Mit Sor Juana kommt Lezama Lima zu einer Auffassung des Barock, die der These Carpentiers, Hispanoamerika sei eine "unbeschriebene Kultur", entgegengesetzt ist. Sor Juanas inocencia, ihr Nicht-Wissen, ist keine epistemologische Unschuld, sondern Zeichen eines nicht abschließbaren Prozesses der begierigen Suche und einer fortdauernden kulturellen Assimilation - ein Begehren nach Wissen, das die Welt nicht zu Wissensobjekten transfomiiert bzw. in ihrer Unabhängigkeit zerstört Inocencia ist für Lezama keineswegs Symbol eines ursprünglichen Status von Kultur, ebensowenig wie die lateinamerikanische escritura eine inventio ex novo ist, wie Caipentier es behauptet hatte. Diese barocke Schriftstellerin beherrscht vielmehr die Bibliotheken beider Welten und vereint in sich eine obsessive Neugierde und die kindlich-naive Scheu vor dem Übermaß des eigenen Tuns: No ese diletantismo61 de las viejas culturas, que es una forma de la ornamentación doméstica, sino una sana pasión de aficionado, una curiosidad complaciente por el terror y que después, con aniñado gesto, mide la desproporción y se esconde quejumbroso (316). Der auf sich selbst gerichtete Blick des Narziß69 ist bei Sor Juana das melancholische Zeichen der Scheu, die Dinge zu benennen70. Unsagbaikeit zeigt sich somit als die andere Seite jener barocken Besessenheit und jenes Ausdruckswillens, der mit der Perfektion auch das Unsagbare sucht: "Ahí resplandece la gravedad, la inocencia majestuosa, la perfección inapelable" (318). Diese Mischung von Wissen und Nicht-Wissen wird von Lezama Lima als poetischer Eikenntnisakt verstanden, der nicht zur Dechiffrierung der Natur, sondern zur Entdeckung ihrer unüberwindbaren Rätselhaftigkeit führt. In einem Interview mit Armando Alvarez Bravo von 1971 spricht Lezama von "poetischer Methodologie" (1979:167) und meint unter Bezug auf Blaise Pascal das Erkennen der "ewig änigmatischen Kehrseite sowohl des Dunklen oder Femen wie des Hellen oder Nahen" (160), eine Tendenz zur Dunkelheit, die, so Lezama, der Menschheit so eigentümlich ist wie Spiegeleffekte der Meeresoberfläche71. Diese Form von Erkenntnis der Welt als Änigma72 wird der Eigenheit der Dichtung zugeschrieben, insbesondere der "resistenten Substanz" ihrer fortschreitenden, unendliche Verbindungen herstellenden Metaphorik (1979:161). Nach Lezama Lima ist der hispanoame67 Zur Beziehung zwischen Gorostiza, Villaurutia und Paz vgl. die klassische Studie von Ramón Xirau (19SS). 68 Diletantismo intuitivo ist eine von Vossler übernommene Charakterisierung von Sor Juana durch Lezama (316). 69 "Hay en su intimidad mis secreta como una relación no mencionable con el narcisismo mexicano" (317). 70 Konträrer könnten die Position von Caipentier und Lezama Lima nicht sein. 71 "Die Tendenz zum Dunklen, zum Rätselhaften, zum Kreuzworträtsel ist der Menschheit so eigentümlich wie dem Meer das auf seiner klaren Oberflache gespiegelte Bild, das uns mit egoistischer Wollust zu einem letzten Schlag, zum Tod fahren kann" (1979:160). 72 Benjamin setzt das aus der unüberwindbaren Spaltung zwischen Bewußtsein und Dingen resultierende allegorische Änigma vom romantischen und mystischen Mysterium ab, das symbolisch enthüllt werden kann (1928).

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rikanische Barock die Radikalisierung der spanischen Tendenz, mit der Wucherung konzeptualistischer Metaphern und allegorischer Figuren bzw. mit Theater- und Spiegeleffekten die Arbitrarität kultureller Formen zur Schau zu stellen. Eine solche Nachahmungsmethode der "Natur" erzeugt eine allegorische Beziehung zwischen Zeichen und Welt im Sinne W. Benjamins73. Die unüberbrückbare Differenz zwischen kulturellen Formen und Welt ist im hispanoamerikanischen Barock extrem - wie Lezama Lima bei Sor Juana zeigt. Dies hat nicht nur stilistische, sondern auch erkenntnistheoretische Folgen: Die Dichte des ästhetischen Mediums entfernt die Welt vom Zugriff der Erkenntnis; dies ist die Lehre, die von der "unterirdischen" Metaphorik von Sor Juana gezogen werden kann. Es ist ein Nicht-Wissen über ein Anderes, dessen Präsenz in der allegorischen Dichte des Zeichens unmittelbar erfahren wird. Bei der Lektüre von Sor Juana durch Octavio Paz steht nun dessen Verständnis des Barock im Bereich der mexikanischen Kultur zur Diskussion. Mit der Dichterin als Symbol der mexicanidad hat Paz in seiner Monographie auch die Analyse von Mestizierungsprozessen in der colonia verbunden - ein Aspekt, der in Kapitel IV behandelt worden ist. Die Monographie von Paz zeigt unterschiedliche Diskurstypen: Die eher großzügig gespannten Bögen zwischen Abendland und Lateinamerika bei der Einführung in die kulturellen Bedingungen Mexikos einerseits und die vorsichtige, respekvolle und zuweilen liebende Suche nach den Spuren des biographischen und literarischen Textes der Dichterin andererseits; letztere in manchen Punkten kongenial mit der Lektüre von Sor Juana durch Lezama Lima.

3. Mexicanidad im Barock - Die Provokation von Octavio Paz durch Sor Juana Auch in Zusammenhang mit Sor Juana verläßt zwar Octavio Paz den Rahmen seines Denkens nicht: Synkretismus, Mestizentum und otredad, Begriffe, deren Implikationen im Verlauf der Analyse von Lezama Lima in Frage gestellt worden sind, bleiben die Grundlage seines Diskurses. Doch ist eine Beschäftigung mit Paz' Lektüre von Sor Juana lohnenswert, weil damit deutlich wird, wie die Konfrontation mit der barocken Dichtung die Kategorie der otredad selbst in ein kritisches Licht stellt.

73 W.B. Berg zeigt an den Strukturen der Traum-Deutung bei Francisco de Quevedo, daß die Allegorie im Sinne Walter Benjamins die Gnmdüberzeugung des Zeitalters, von Quevedo aber Calderón bis zu Gracfan, angemessen erfaßt: "Nur unter den - geschichtsphilosophisch • 'falschen' Prämissen einer klassizistischen Ästhetik erscheint, wie Walter Benjamin gezeigt hat, die Allegorie als Defizienz-Form des Symbolischen. Im Siglo de Oro dagegen ist sie die adäquate Form der Verbildlichung des Absoluten, so jedoch [...], daß die Differenz zwischen "repraesentamen" und "repraesentandum", zwischen Vorstellung und Vorgestelltem, zwischen Zeichenkörper und Inhalt, zwischen dem Prozeß ästhetischer Signifikation und moralisch-religiöser Bedeutung unüberbrückbar gewahrt bleibt" (1990:41).

159 Der Synkretismus von religiöser und höfischer Sprache, von Eikenntniswunsch und religiöser Hingabe, von Lebenslust und Todeswunsch mache Sor Juana zum Symbol für die mexikanische Kultur, weil jede kulturelle Sphäre und jede Textsorte, in der sie schreibt, stets die Präsenz des Anderen, des Fremden sichtbar macht. Desde su nacimiento la literatura novohispana tuvo conciencia de su dualidad. La sombra del otro, verdadero lenguaje de fantasmas, hecho no de palabras sino de murmullos y silencios, aparece ya en los poemas de los poetas del siglo XVI. En el siglo siguiente [...] se enfrenta al otro y lo interroga pero con propósitos de integración y absorción. En el siglo XIX el fantasma se vuelve idea y sólo hasta el siglo XX encama y habla con voz propia74 (71). Sor Juana und Sigüenza y Góngora sollen in der Argumentation von Octavio Paz den Übergang vom Synkretismus kreolischer Prägung73 zur Präfigurierung des Mestizentums des 20. Jhs, eines autoreflexiven und der Erfahrung des Anderen bewußtgewordenen Mestizentums, illustrieren, das er otredad nennt. Während der Synkretismus jesuitischer Prägung die Kompatibilität zwischen den Kulturen zu etablieren sucht, ist im Konzept der otredad die Dissonanz der kulturellen Pluralität als ein nicht aufzuhebendes Merkmal zu verstehen. Sor Juanas barroquicismo soll beispielhafte Momente hierfür bieten. Diese beziehen sich, wie bei Lezama Lima, auf den Primero sueño sowie auch auf Neptuno alegórico (1680 oder 1681), einen aus Lyrik und Prosa bestehenden Text, in dem Sor Juana einen allegorischen Bogen beschreibt, der gegenüber dem Westtor der Kathedrale unter ihrer Leitung erbaut wurde: El 'Neptuno alégorico' es un perfecto ejemplo de la admirable y execrable prosa barroca, prosopopéyica, cruzada de ecos, laberintos, emblemas, paradojas, agudezas, antítesis, coruscante de citas latinas y nombres griegos y egipcios, que en frases interminables y sinuosas, lenta pero no agobiada por sus arreos, avanza por la página con cierta majestad elefantina" (215). Durch eine Quellenstudie versucht Octavio Paz die Transformationsprozesse76 der Allegorien zu rekonstruieren. Die wichtigste These Paz' bezieht sich darauf, daß die Transformationen weder logisch begründet sind noch ein Gesetz erkennen lassen

74 Dieses Zitat ist illustrativ filr Paz' Methode in diesem Buch und in seinem Essaywerk, zwischen historischem Empirismus und philosophischer Spekulation große Thesen zur lateinamerikanischen und europaischen Kultur zu entwerfen, die sowohl historisch unpräzise als auch philosophisch spekulativ und unkritisch vorgehen. 75 "La actitud de Sigüenza se inserta en el movimiento general del sentimiento criollo, tal como habla sido formulado y modelado por la Compañía de Jesús. Este sentimiento coincidía en parte con los designios de la política ideológica de los jesuítas en América y en China. El universalismo jesuíta se fundaba en un sincretismo peculiar que trataba de hacer compatibles las antiguas religiones mesoamericanas y, en el caso de China, el confucianismo con la religión católica" (209). Die präkolumbische Geschichte wird durch eine von der Bibel und der klassischen (insbesondere der romischen) Geschichte diktierte Allegorese interpretiert (209/210). Die Haltung von Sigüenza y Góngora, den Paz ideólogo jesuíta nennt, hat noch nicht die separatistischen Ambitionen des Kreolen, die die gleichen metáforas históricas - allerdings gegen Spanien - benutzen weiden (210). 76 Die Referenzen auf klassische Motive sollen fast ausschließlich aus dem Teatro de los dioses de la gentilidad von Baltasar de Vitoria (Madrid, 1620, Bd. 1; 1623, Bd. 2) stammen.

160 (218), mit Ausnahme des Zwanges, mit Allegorien frei umzugehen77. Auch in der Sicht von Paz führen allegorische Beziehungen bei Sor Juana nicht zur Exegese der Welt, sondern zu deren Verschleierung hinter einem Netz von Spiegelungen - "El mundo era un tejido de reflejos, ecos y correspondencias" (221)7': El arco del 'Neptuno alegórico' fue efectivamente un jeroglífico. Más exactamente: un emblema, un enigma. Adivinanza compuesta de tres términos que, como las ilustraciones de las láminas del libro de Cartario, eran figuras dobles: Neptuno y el virrey; Anfitrite y la virreina; Isis y, escondida, la madre Juana Inés de la Cruz. El centro de ese enigma hecho de conceptos y entretejido de alusiones eruditas -invisible pero presente como los misterioros espíritus que movían a las estatuas de Hermes - era ella misma (240/241). Bei Primero Sueño präfiguriert der Text die moderne Dichtung in der radikalsten Form, und zwar als ein der Divina Commedia entgegengesetzter Pol (500). Poema barroco que niega al barroco [als Epoche der spanischen Kunst], obra tardía que prefigura a la modernidad más moderna, 'Primero sueño' es un obelisco verbal que emerge en una zona indecisa de neblina, precipicios y geometría vertiginosas (500). Der Befund von Paz koinzidiert mit den Argumenten von Lezama Lima: Erotik und beunruhigendes Begehren nach Erkenntnis seien die wichtigen Bewegungen des Textes, wobei mit dem Phaeton-Mythos der Wissensdurst Sor Juanas als transgressiver Akt in der radikalsten Form eines Todeswunsches inszeniert wird (504)79. Paz' Analyse von Primero Sueño schließt mit Feststellungen, die ebenfalls auf die Funktionsweise der barocken Allegorie als Erkenntnismethode eingehen: Der Text Sor Juanas nehme die moderne Sensibilität vorweg, wobei das Moderne in der Akzeptanz der Tatsache liege, daß der Erkenntnisakt ein (Sünden-)Fall aus dem Paradies der Gewißheit

77 Die fehlende logische Motivation fllr den Gebrauch der Allegonen ist ein wichtiges Element des allegorischen Prinzips, das sich durch Verzerrung steigert. Einer der Glanzpunkte in der Analyse von Octavio Paz ist die Behandlung der Verzerrung mythologischer Genealogien von Isis (229IT.). Paz zeigt ein herausragendes Beispiel für jene Form von Assimilation, in der der Ursprung des kulturellen Elements nur schwer erkennbar ist und lediglich als Bezugspunkt für die Umwandlungsprozesse der Mythologien durch die Dichterin von Interesse sein kann. Durch den freien Umgang mit der Mythologie von Isis und Osiris schaffe die Dichterin den Ausdruck einer "decidida exaltación de la condición femenina y, simultáneamente, expresa una no menos decidida voluntad de transcender esa condición" (232). Paz spricht von einer "contradictoria intimidad" (232), einer ambivalenten Suche nach einer Gleichzeitigkeit des Symbolischen und Imaginären ("sabiduría varonil y magna maler") (231/232) sowie der Überwindung des Oedipus-Komplexes durch den Mythos von Isis und Osiris (232/224). 7g Paz sieht im Ersatz des scholastischen Denkens in der Renaissance durch den Neoplatonismus die Vorbedingung für eine Verabsolutierung der Zeichenwclt Dies wird durch die Verbindung mit der Kabbala, Astronomie und Alchimie sowie den ägyptischen Wurzeln des Neoplatonismus mit einer hermetischen Komponente verstärkt (223). Von einer solchen (europaischen) Basis ausgehend mische Sor Juana die ägyptischen und biblischen Quellen (231) noch zusatzlich. 79 Paz sieht darin die Überwindung des scholastischen Weltbildes; eine Überwindung, die sich nicht durch etwaige Kenntnis der neuen Physik und Kosmographie, sondern durch die inneren Spannungen in der Persönlichkeit der Dichterin erklären läßt. Gerade bspw. der Abbau der Antinomie zwischen Endlichem und Unendlichem durch die coincidencia oppositorum in der Paradox« des Kreises von Cusanus sei eine Sor Juana nicht bekannte, aber ihrer Sensibilität nahe Einsicht (S01).

161 sein kann, wenn der Ericenntnisprozeß in das Bewußtsein der Nicht-Erkenntnis mündet80, die die Melancholie des "modernen" Künstlers vorwegnimmt (505). Die Verknüpfung der Frage nach der mexicanidad mit der Literatur des Barock bei Sor Juana Inés de la Cruz ermöglicht Paz, seinen Begriff der otredad klarer von synkretistischen Mestizierungsthesen abzusetzen. Paz sucht zwar noch wesenhafte Kategorien, um die Spezifik der mexikanischen Identität zu benennen - etwa wenn er statt der bei der Mestizierung behaupteten Angleichung der Unterschiede in der Synthese im Begriff der otredad die Differenzierung des Heterogenen hervoxhebt. Bei der Analyse der poetischen Prozesse kommt jedoch der Autor zur Betrachtung der Differenz nicht als referentielle Wesenheit einer "heterogenen" mexikanischen Welt, sondern als perspektivische Ambivalenz des Mexikaners. Otredad ist in der Dichtung Sor Juanas eine durch fremde Sichtweisen durchbrochene Perspektive - ein die allegorische Kunst des Barock bestimmendes Prinzip. Natürlich verzichtet Paz auch hier nicht auf die ihm eigene Mischung von historischen und mythischen Erklärungen81. "Mexikanisch" sei eine besonders ambivalente Form kulturellen Transfers, der sich aus der unmittelbar nach der Eroberung einsetzenden, überaus ausgeprägten Assimilation von religiösen, philosophischen und literarischen Texten82 ergab. Die außerordentlich kreative Energie dieser Zeit hat eine hegemoniale Durchsetzung abendländischer Diskurse als Pendant, deren Wirkung sich nahtlos bis zum 20. Jahrhundert verfolgen läßt. Kulturelles Transfer wurde somit auch von konkreter Unterdrückung begleitet83. Die Entwicklung einer unterschwellig ambivalenten Dimension der Zeichenwelt war die Folge. Die Schichtungen84 koexistierender kultureller Manifestationen und Texte üben eine ver-

so Die durch Lezama Lima bereits hervorgehobene Nahe zwischen Sor Juana und Gorostiza wird um Parallelen zu Huidobro (Altator) und Mallarmé (Un coup de dís) ergänzt Maliarmés Einsicht, daß sich Negation und Affirmation im Zufall neutralisieren, ist auch für Sor Juanas Koinzidenz des Gegensatzlichen zutreffend (SOS). 81 Paz gibt ein Beispiel fttr eine doppeltkodierte Interpretation aus der Präsenz zweier Diskurssphären, und zwar im Bereich christlicher Mysterien und aztekischer Riten: Die Azteken gebrauchten den Mais für die Verkörperung des Gottes Huilzilopochtli, wie die chrisdiche Religion mit der Hostie den Körper Christi repräsentiert: Der Huitzilopochtli darstellende Körper aus einer Maispaste wird in Blut eingetaucht und verzehrt Der magische Ritus steht in Widerspruch zum sublimierten Akt der Eucharistie. Der Unterschied ist gravierend und muß der christlichkatholischen Theologie skandalös erscheinen. Octavio Paz zufolge soll die Erfahrung einer solchen Zeremonie, der Sor Juana als Kind im Templo Mayor beiwohnte, für sie unvergeßlich geblieben sein. Die Differenz in der Analogie enthalte f(lr den Christen ein dämonisches Element Mit dem Hinweis auf die "Reimung der Welt" (1983:611 ff.) begründet Paz solche Phänomene weniger durch eine historische, als durch eine mythisierende Argumentation. 82 Alfonso Reyes gibt in Letras de la Nueva España einen klaren Eindruck von der Sprach- und Kulturvielfalt Mexikos wahrend der colonia. Nur einige Daten zur Orientierung: Die Universität von México Stadt wurde bereits 1SS3 eröffnet; die ersten Druckereien entstanden 1536 und traten bereits in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in Konkurrenz mit dem Mutterland (Reyes, 1984[1946]:30-31). Auch Pedro Henriquez Urefla gibt ein beeindruckendes Bild von der Blüte von Kunst, Literatur, Theater, Philosophie und Theologie in dieser Zeit (1984[1947]). 83 Nur als Beispiel: Die Übersetzung ins Spanische der in Náhuatl verfaßten Historia general de las cosas de Nueva España mit der durch Sahagün angeregten Niederschrift der religiösen, moralischen und symbolischen Tradition der Azteken wurde durch die spanische Zensur verboten. Das Manuskript tauchte erst 1793 in Florenz wieder auf, und erst Anfang des 20. Jhs. konnte das Weit ins Spanische übertragen werden. 84 Es liegen psychoanalytische Interpretationen des kulturell Verdrängten vor, die sich auf rassenbezogene Definitionen stützen: "Lo indígena fue destruido y quedó convertido en meras 'memorias nebulosas, instintos, deseos y anhelos'

162 zerrende Wirkung auf die herrschenden Formen aus, eine Wirkung, die indes durch die kreative Energie auch das System zu provozieren weiß85. Daraus ließe sich die enigmatische, ambivalente Natur des Mexikaners erklären. Es ist ein sich in zwei Richtungen auswirkendes Änigma: einerseits die energetische Dichte von Zeichen, die auf die rätselhafte andere Seite des Palimpsestes86 im Sinne Lezama Limas verweisen; andererseits eine unauflösbare Ambiguität in allen Kommunikationsprozessen, für die zu Recht die Maske zum Symbol des Mexikaners erhoben wurde87. Mit der allegorischen Seite des Barock, die den Illusionscharakter der Repräsentation betont, macht die Kulturheterogenität Lateinamerikas einen "qualitativen" Sprung allerdings nicht in Form von neuen Bildern88, in denen Carpentier die amerikanische Wirklichkeit des real maravilloso zu erkennen glaubt. Die intertextuelle Übernahme des Wunderbaren, das im barocken Labor von Schriftstellern entstand, zerstört vielmehr die Naivität und bewirkt, daß die "Wunder jener Welt" als Konstruktionsspiel erscheinen. Dies spricht Lezama Lima deutlich an: "Aquellas "Maravillas del mundo", en el conquistador, reaparecen como el sorprendente "gabinete de física", de estos barrocos de la Ilustración" (306).

[José López Portillo]. La cultura indígena desapareció, pero lo indígena, convertido en algo subconsciente, deja su huella en la circunstancia mexicana" (Frost, 1972:118). 85 Sor Juana liefert Beispiele fílr ihre provokative Wirkung auf ihre Zeilgenossen. In ihrer vom Bischof von Puebla. Manuel Fernández de Santa Cruz, unter der Bezeichnung Carla alenagórica veröffentlichten Schrift setzt sich Sor Juana theologisch mit dem einflußreichen portugiesischen Jesuitenprediger Antonio Viera auseinander. Sie widerspricht dem Pater bzgl. der Einschränkung intellektueller Tätigkeiten der Frau und der Pflicht der Geistlichen, irdische Themen sowie philosophische Texte und Lyrik nur als vorbereitende Studien zu sakralen Schriften zu behandeln. Der Bischof von Puebla sieht sich durch die scharfen Argumente von Sor Juana intellektuell provoziert und antwortet ihr Öffentlich unter dem Pseudonym von Sor Filotea de la Cruz. Der Schriftwechsel von Sor Juana und dem Bischof gehört zur bedeutenden Literatur der colonia. Beachtenswert ist, daß die Provokation Sor Juanas zugleich den hierarchischen Rahmen gesprengt und den Theologen gereizt hat, der durch die Übernahme eines im Hinblick auf seine Würde als Bischof niederstehenden Grades und Namens, das System offenlegt. Sor Juanas Assimilation jeder Art abendländischer Texte ist eine Provokation für die Forschung. Octavio Paz nimmt diese Provokation auf. Sein Rekonstmktionsversuch der labyrinthischen Lektürewege der Dichterin gehört zu den brillanten Momenten seiner Studie. 86 Auf das Palimpsest weist José Revueltas hin, ohne jedoch die problematischen Folgen politischer Ambiguität auszulassen: "La política mexicana es algo muy semejante a un palimsesto tras de cuyos dibujos o caracteres de superficie se ocultan otros más y, por debajo de éstos, otras nuevas - o antiguas - texturas, de contenido y aspecto muy diferentes a los que se aprecian por encima" (198511969): 145). 87 Die Maske ist eine gängige Metapher für die Kommunikationsformen des Mexikaners. Der aus dem Kreis der Contemporáneos hervorgehende Dramaturg Rodolfo Usigli weist 1947 auf die ästhetische und politische Ambivalenz der mexikanischen Zeichensysteme hin: "La verdad de México es una larga obra de las mentiras mexicanas". Dies wirkt sich politisch als demagogische Lüge aus (ziL nach Zea, 1982[1952]:35-36). Eine deutliche Kritik der Funktion der Maske in der politischen Geschichte Mexikos fehlt im mythopoe tischen Ansatz der Pazschen Maskentheorie (1930). Darauf wird in Kap. VIII eingegangen. 88 Die Position der Forschung zum barroco americano tendiert, ähnlich wie beim Problemkomplex des Magischen Realismus, zur These der Schöpfung im Sinne von Carpentier. Márquez Rodríguez versucht in seinem bereits besprochenen Buch Uber Lo barroco y lo real-maravilloso en la obra de Alejo Carpentier (vgl. Kap. II) die Neuschöpfungen auch linguistisch zu dokumentieren (1982:181-240), und Chiampi berücksichtigt zwar die vom efecto ilusorio (1983:100) bewirkte kritische Perspektive, betont aber gleichermaßen die - Carpentier nahe schöpferische Seite (105). Demgegenüber ist für Severo Sarduy die von der Autorefercntialität bewirkte erotischludische und subversive Praxis wichtiger (1972, 133-170). Auch der brasilianische Autor Alfonso Avila interpretiert die Wirkung des amerikanischen Barock im Sinne einer ludischcn Rebellion (1971).

163 Die allegorische Ästhetik des Barock bietet sich nicht dafür an, von Identitätsdiskursen vereinnahmt zu werden, wie dies bei der Authentizitätskomponente des sog. Magischen Realismus oder der synkretistischen Neigung der Diskurse zur Mestizierung geschieht. Der Verfestigung in Bildern und diskursiven Konfigurationen widersetzt sich der poetische Prozeß des allegorischen Textes. Diese Wirkung barocker Kunst auf den Interpreten läßt sich auch in der Studie von Octavio Paz nachweisen. Während er im einführenden, allgemeinen Teil seiner Monographie, der in Kapitel IV behandelt wurde, eher zur Instrumentalisierung der Figur von Sor Juana im Dienste einer Definition der otredad als referentielles Meikmal der mexikanischen Welt tendiert, läßt sich Paz von der Dichtung Sor Juanas dazu inspirieren, von einer Verabsolutierung des Begriffs im Sinne einer ontologisch bestehenden mexicanidad Abstand zu nehmen und sich dem anderen Text, dem Text von Sor Juana, hinzugeben. Als literarische Erfahrung lädt der Text Sor Juanas auch Paz dazu ein, die kulturelle Erscheinung nicht einem Identitätsbild unterzuordnen, sondern sie in ihrer Unabhängigkeit und Lebendigkeit zu belassen.

4. Barock und Allegorie als Methode Infolge der Aibitrarität des Zeichengebrauchs, die dem allegorischen Prinzip entspricht, sieht Lezama Lima die Dichtung Sor Juanas in der Nähe moderner Texte (315)®9. Als Symptom gilt auch die Tatsache, daß der Signifikant durch persönliche, arbiträre Signifikate90 und einen persönlichen referentiellen Rahmen überflutet wird9'. Der Verweis auf die moderne Dichtung impliziert bei Lezama Lima nicht die Auslegung des Begriffs des Barock als essentielle Eigenschaft der lateinamerikanischen Kultur. Barock wird zunächst als historisches Phänomen behandelt, das gewisse Erkenntnisse auch in Bezug auf die Gegenwart vermittelt92 und darüber hinaus eine 89 Für Lezama Lima ist ihre Dichtung mit der Oipheusdichtung von Rilke oder dem "Narcisse" von Valéry vergleichbar. In dieses Paradigma stellt der kubanische Schriftsteller auch sein eigenes Werk Mutrie de Narciso. 90 Das zweite Beispiel aus dem Werte der mexikanischen Dichterin, El divino Narciso, ein Sakramentspiel, ist Anlaß, den Unterschied zum mythologischen Intertext CaklenSns zu definieren, bei dem die Mythologie der Theologie untergeordnet ist. Bei Sor Juana produziere die Integration der piSkolumbianischen Mythen mit den abendlandischen eine theologisch unzulässige Verbindung. Die wiedertiolte Äußerung "|Y en pompa festiva, celebrad al gran Dios de las Semillas!" (317) ist weniger das Zeichen eines akkulturierten Objektes als des Begehrens nach Transformation: "Como si esa misma calda grave del sueflo fuese transformando las divinidades de la sangre y la ira en los nuevos dioses del óleo y la reconciliación" (317). Außerdem ist die Unterwerfung alter Traditionen unter die spanische Kultur, als ein "rendimiento de las antiguas deidades" (314), so stilisiert, dafi der Akt des Unterwerfens als ideologischer Akt entlarvt wird. 91 "Ahondada por referencias personales disimuladas" (315). 92 Momente einer mit dem Barock vergleichbaren Kunst sind neben den kolonialbarocken Skupturen von Kondori und dem brasilianischen Architekten Aleijandinhno (322) die Dichtung von José Marti (323) und die kubanische Kunst und Literatur nach der Revolution. Als weitere Beispiele einer "differentiellen" Praxis (Haroldo de Campos, 1987:46)

164 Kongenialität mit der Moderne in der poetischen Erkenntnismethode konstatieren läßt. Im neuen Kontext ist auch der historische hispanoamerikanische Barock nicht die einfache Übertragung oder Nachahmung eines Stils, sondern wird zu einem Prozeß der Über-setzung im Sinne einer schöpferischen Praxis93. Die Intertexte der alten und neuen Welt, die gleichermaßen assimiliert werden, wirken als Quelle von kulturproduktiven Differenzen. Der hispanoamerikanische Barock inszeniert einen Kulturdialog auf mehreren Ebenen und durchbricht ihn. Dies wirkt sich auf die Modalitäten der Lektüre aus. Der Text macht seine allegorische Vorgehensweise transparent und schafft einen Raum zwischen Konstruktion und Zerstörung, zwischen zitierter Vergangenheit und dem Jetzt als Erfahrung des Vergänglichen, zwischen extremer Konkretion des poetischen Zeichens und Abstraktion des historischen Zitats. Die Erfahrung des Jetzt geschieht als Rückblick in die Vergangenheit wie, umgekehrt, Geschichte als Zitat vergangener Erzählungen erscheint. Die Konsequenzen sind beachtlich und erlauben, die von der Literatur des Magischen Realismus gestellten Fragen unter einer anderen Perspektive zu behandeln: a) auf Objektebene (Text und Kultur) Die Pluralität des kulturellen Eibes bedeutet keine Synthese94, sondern ein Koexistieren der Kulturen als Nebeneinander ohne Hierarchien. Dies führt zum Abbau der Prämisse bisher behandelter Ansätze, die im Sinne der Identität argumentieren, welche sich nur als Differenz zu jeweils anderen Kulturen bestimmen läßt. Die Koexistenz verschiedener Modalitäten, der realistischen und der magischen, ist dann nicht als Verschmelzung entgegengesetzter Weltsichten zu verstehen. Vielmehr wird der dichotomische Standpunkt von Identität und Differenz in Frage gestellt. Dies trifft auch für die Koexistenz von Zeiten (Mythos und Chronologie bzw. Geschichte) zu, die, statt Modell einer mestizierten Zeiterfahrung zu sein, die Bedingungen der Erfahrung von Zeit und Geschichte im oben erwähnten Sinne befragt. b) auf erkenntnistheoretischer Ebene Als Erkenntnismethode erzeugt die allegorische Wucherung poetischer Prozesse nicht eine Evidenz von Welt, der man sich mit touristischem Blick bemächtigen kann, wofür sich hingegen das Verständnis Carpentiers anbietet. Die allegorische Dichte der Zei-

in der barocken Literatur der Colonia sind der Peruaner Caviedes, der Kolumbianer Hernando Domínguez Camargo und der Brasilianer Gregorio de Matos zu erwähnen. 93 Auch der Brasilianer Haroldo de Campos erklärt das Kulturmodell der Assimilation von Lezama Lima durch Benjamins geschichtsphilosophische Auslegung des Ursprungs als "Sprung" (statt Genesis) und der Allegorie als differenzbetonte Figur. Der Assimilationsprozeß des amerikanischen Barock sei eine Form von hibridismo und eine traducción creativa, die einen dezentrierten kulturellen Zustand par excellencc darstelle (1987:47). 94 Zu diesem Ergebnis kommt auch Adriana Méndez Rodenas bei ihrer Analyse des von Lezama Lima ausgehenden "Neoharroco" von Severo Sarduy: "el proceso de conformación de la cultura cubana no se explica en términos de un proceso sincrético de fusión de razas y elementos culturales, como postulan Airom, Ortiz y Carpentier. En directo contraste a esta teoría, Sarduy propone que 'Cuba no es una síntesis, una cultura sincrética, sino una superposición" (IOS). Geschichte als Summe der Momente einer Kultur kann dabei nur als paradoxale Bewegung zwischen Bestätigung und Verneinung bzw. Rekonstruktion und Destruktion stattfinden (1983:105).

165 chen distanziert vielmehr die Welt vom Zugriff und baut Widerstände auf, die ebenso stark sind wie die Erfahrbaikeit ihrer Faszination. Aus dieser Perspektive betrachtet sind Texte nicht nur das Medium für die Modellierung von Welt, sondern zugleich Vermittler von Wissen und von Resistenzen gegenüber dem Wissen über die Welt. Jene Mischung aus inocencia und Wissen, Begehren und Distanz, Lebens- und Todeswunsch, Aufschwung und Fall, für die Sor Juana repräsentativ ist, mag in der amerikanischen Kultur radikal durchlebt worden sein, und der amerikanische Barock jenen Augenblick der Entstehung einer Kunst besonders intensiv verwirklichen, die den höchsten Grad an Illusion mit dem höchsten Grad an desengaño zu verbinden wußte. Es ist eine der modernen Welt kongeniale Sensibilität, in der Mythen und Allegorien eine bedeutende Anziehungskraft behalten, selbst wenn die Pluralität der kulturellen Anspielungen und der ästhetischen Prozesse die Aufmerksamkeit auf das Artifizium lenkt. Darin begründet sich die Brauchbarkeit des Barock im Sinne der allegorischen Interpretation von Lezama Lima und Octavio Paz auch für die Untersuchung des poetischen und zugleich kritischen Potentials der hier zur Diskussion stehenden Texte. Mit der Betrachtung der barocken Theatralisierung und der Allegorie als Erkenntnismethode soll nicht die Möglichkeit behauptet weiden, prä- und postmoderne Epistemen auf der Ebene des Gegenstandes gleichzusetzen. Im Gegensatz zum prämodemen Barock ist die allegorische Lektüre zeitgenössischer Literatur vielmehr als Teil der tendentiellen Selbstbezüglichkeit der Texte zu sehen, die sich infolge der Mimesiskritik der Moderne durchgesetzt hat. Im Verhältnis zu herkömmlichen Vorgehensweisen im Bereich der magisch realistischen Literatur bedeutet eine solche Lektüre eine Akzentenverschiebung in der Analyse. Die Erfassung der Texte unter der Perspektive der vom Barock suggerierten allegorischen Lektüre entspricht mithin der methodischen Schlußfolgerung in Kapitel I, nach der die literarischen Texte nicht als Modell einer kulturellen Synthese, sondern diskursanalytisch zu behandeln sind - letzteres in der zweifachen Auslegung des Diskursbegriffs als Offenlegung bestehender diskursiver Konfigurationen auf Objektebene (Text und Kultur) und als kritische Reflexion über ihre epistemologischen Grundsätze. Eine allegorische Lektüre ermöglicht, gleichzeitig an den Manifestationen von Kultur und an den Werkzeugen ihres Verstehens zu arbeiten. Diese betreffen bei den hier zu untersuchenden Romanen den Bereich von Geschichte und Identität, die am Spiel des assimilierenden Sogs der Texte beteiligt werden. Der Stützpunkt der Operabilität des Identitätsbegriffs, nämlich dichotomisches Denken, gerät in Bewegung.

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5. Kritik der Diskurse und methodische Schlußfolgerungen Die Konzeption einer mestizierten Kultur, ebenso wie einer mestizierten Literatur im Sinne des realismo màgico, beinhaltet im Prinzip eine offene Frage nach der kulturellen Alterität - eine Offenheit, die von Identitätsdiskursen überlagert und zerstört wird. Mit dem Argument, daß der kulturelle Dialog Synthesen erbringt, hat die Theorie der Mestizierung Mythisierungen95 eines nationalen Einheitsdiskurses gewisser politischer und intellektueller Eliten unterstützt, die mit dem Diskurs der Einheit indianischer und abendländischer Traditionen kulturelle Partikularismen verdrängen. Im Rahmen solcher Diskursstrategien hat der Rückgriff auf Ursprungsmythen eine suggestive Wirkung. Die Bilanz der Erforschung des Magischen Realismus hat gezeigt, daß diese Kategorie eine Antwort auf die Identitätsdiskurse des 19. Jahrhunderts ist und an diese anschließt, soweit sie im Rahmen von reivindicación-Strategìen operiert. Die unkritische Übernahme dieses Begriffs durch die literaturwissenschaftliche Forschung hat dazu geführt, den Identitätsdiskurs zu vertiefen. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung, die sich auf einen als Identitätsformel ausgelegten Begriff des Magischen Realismus stützt, führt nicht nur an den kulturellen und literarischen Phänomenen vorbei, sondern trägt zur Ausblendung von Schriftstellern bei, die sich nicht der Strategien des offiziellen Diskurses bedienen. Aus der potentiellen Zweideutigkeit des Begriffs des Magischen Realismus und des Mythos können auf der anderen Seite sinnvolle Anregungen gewonnen werden. Die Einsicht in die kulturell ambivalente Wirkung mythischer Strukturen, die unter der Erscheinung der Evidenz regressive Bewegungen verschleiern, eröffnet die Möglichkeit einer kulturkritischen Arbeit der Texte, die von Identitätsdiskursen wegführt. Der interdisziplinäre Zugang zum Begriff des Mythos zeigt zwar auf der anderen Seite, daß dieser Begriff auf der Grundlage der abendländischen Philosophie und im Verhältnis zu den Wissenssystemen des Abendlandes operiert, doch ist ein wesentliches Ergebnis der Auseinandersetzung mit den theoretischen Diskursen die Einsicht in die Notwendigkeit, Dichotomien abzubauen, auf denen das Denken in Kategorien der Identität basiert. Jenseits der Identität erscheint der kulturelle Ursprung nicht von Bedeutung. Für Hispanoamerika sind europäische Quellen nicht nur wichtig, sondern die europäische Tradition stellt, wie Lezama Limas Metapher der Assimilation für die barocke Kunst zeigt, ein zum kreativen Prozeß transformiertes kulturelles Eibe dar. In Zusammenhang mit dem Mythos kann in einem solchen Rahmen das sog. mythische Erlebnis als eine fundamentale kulturelle Erfahrung gesehen werden, die die Frage nach der Alterität anders als mit Ansätzen stellt, die auf die Erkenntnis des Anderen ausgerichtet sind. Mit der Kategorie der Offenbarung des Anderen (Jolles) und der Verletzlichkeit durch den Anderen (Lévinas) wird es möglich, die mythische 95 Im Sinne des in Kap. II dargestellten manipulativen Aspektes des Mythos.

167 Erfahrung als die poetische Darstellung einer Berührung zu verstehen, die nicht anders erklärt werden kann als durch die Evidenz der Erscheinung selbst - eine Erscheinung, der man epistemologisch nicht habbar werden kann. Die Andersheit wird damit zu einer ethischen Kategorie, die zur Revision der Positionen des Selben und des Anderen führen kann. Bei den folgenden Analysen strebe ich nun keine Definition von distinktiven Phänomenen von Kultur oder Literatur, etwa von Genre oder Textsorte im Sinne des Magischen Realismus, an. Freilich trägt das Genre des sog. magisch realistischen Romans zu bestimmten intertextuellen Vorgaben bei, deren Behandlung relevant ist; doch ist der Akzent der nachfolgenden Untersuchung darauf gerichtet, auch jenseits der Vorgaben der Gattungsdiskussion einer bestimmten Form des Dialogs der Kulturen nachzugehen, durch den Fragen an das etablierte Verständnis von Erinnerung und Geschichte - besonders der mexikanischen Revolution - gestellt werden.

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VI. José Revueltas: El luto humano1 José Revueltas. Ein Grenzgänger Erst in den letzten Jahren sind monographische Studien zum literarischen Werk von José Revueltas entstanden2, nachdem er jahrelang als auteur mineur lediglich in Übersichtswerken Beachtung gefunden hatte3. Ein breiteres Interesse kam erstmals auf, als Revueltas zum Symbol der studentischen Bewegung von 1968 wurde und die Generación de la Onda ihn ideologisch, ethisch und zum Teil wegen der Interpretation seines Werkes im Sinne eines radikalen Realismus zum Vorläufer und Vorbild deklarierte4. Die Bedeutung von Revueltas für die mexikanische Literatur ist indes - besonders in Europa - noch nicht in vollem Maße erkannt5. Nachdem Octavio Paz 1979 sein negatives Urteil von 1943 über den im gleichen Jahr erschienen ersten Roman Revueltas' El luto humano revidiert und diesen Text als den Beginn des modernen mexikanischen Romans ansieht, der das Enstehen von bspw. Yáñez' El filo del agua erst möglich machte (1987[1979]:575), wurde auch dieser Roman in das Pantheon der kanonischen Kritik aufgenommen. So erklärt Arturo Melgoza Revueltas zum Erneuerer der Literatur Mexikos - in einer Reihe mit Yáñez und Rulfo (1984). Im Gegensatz zur mexikanischen Kritik tut sich die internationale Literaturwissenschaft mit diesem Autor noch schwer, wie Evodio Escalante 1979 feststellt. Dies mag daran liegen, daß Revueltas sowohl nach ästhetischen als auch nach ideologischen Kriterien schwer einzuordnen ist. Sucht man nach Erklärungen in Übersichtswerken, so trifft man immer wieder auf die Argumente der ersten Ablehnung von El luto humano durch Paz. Revueltas' Doppelrolle als Schriftsteller und politischer Kämpfer lenkt den Blick der Interpreten meist auf dessen politische Meinung, die für interessanter gehalten wird als die ästhetische Qualität seiner Romane. Bestenfalls wird noch der Akzent auf die philosophische Botschaft und die Essayistik dieses Autors gelegt6. Sein provo1

Eine Kurzfassung dieses Kapitels ist in Rolofl/WentzlafT-Eggebert (Hrgs.), 1992, erschienen.

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Evodio Escalante führt das Schweigen um Revueltas auf dessen offene Kritik an dem Paiteidogmatismus zurück, der in der postcardenistischen Phase von 1943 und auch bei der Publikation des zweiten Romans Los dias terrenales (1949) der Regierung äußerst unwillkommen sein muSte (1979:13f.).

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Zum Felde, 1964; Anderson Imbert, 1966; Dessau, 1967. Rufflnelli widmet Revueltas 1977 die erste Monographie.

4

Gustavo Sainz y otros (1977:38). Nicht nur die literarische Jugend, sondern auch die '68er Studentenbewegung machte Revueltas zur politischen Leitfigur.

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Zur Stellung Revueltas' innerhalb des zeitgenössischen mexikanischen Romans vgl. Vf., 1992d.

6

Seine Behauptung, El luto humano (1943) sei kein Roman, weil der Autor die Ökonomie des ästhetischen Ausdrucks nicht beherrsche, nimmt Paz zwar 1979 zurück, die Wiederaufwertung bezieht sich aber auf die philosophische Botschaft, die Paz dann im Sinne eines den Ostlichen Religionen nahen christlichen Atheismus interpretiert (1987:577).

169 zierender Stil wird als morbide abqualifiziert, ein von allen, auch noch so verschiedenen Interpreten festgestelltes Merkmal. Die Diskussion zieht sich, vielleicht aus diesem Grunde, in das sichere Feld der formalen "Fehler" des literarischen Werkes Revueltas zurück (Evodio Escalante (1979:15f.). Diese sollen bspw. darin liegen, daß seine Romane die Regeln von keinem der Genres, an denen sie beteiligt sind, sinnvoll erfüllen, wobei dieser Mangel auch nicht als avantgardistische, transgressive Schreibpraxis anerkannt wird7. Ganz besonders werden Revueltas' Romane gegen seine Intention, realistisch zu schreiben*, ausgespielt, und es wird die mangelnde Beherrschung des Kanons kritisiert, was sich schon darin zeige, daß die Psychologie der Figuren nicht genug charakterisiert und die Geschichte zu stilisiert sei9, wodurch die Brücke zur realistischen Lektüre unterbrochen würde. Auf der anderen Seite wird auch die rhetorische Ebene als ebenso wenig überzeugend beurteilt (Ruffinelli), so daß die Literaturwissenschaft zu dem Urteil neigt, daß Revueltas das Handwerk des Romanciers nicht richtig beherrsche. Revueltas bietet kein ideologisches Modell für Revolution oder Reform an. Auch in seinen politischen Überzeugungen wirkt der engagierte Kommunist, der einen Teil seines Lebens im Gefängnis verbrachte10, beunruhigend und wird nicht nur vom PRI, sondern auch z.T. von der kommunistischen Partei (PCM), die ihn zwei Mal ausgeschlossen hat, als enfant terrible angesehen. Im Rahmen der nachfolgenden Analyse behandle ich nun Revueltas in gewisser Hinsicht als Vorläufer von Juan Rulfos Pedro Páramo und reihe damit seinen Roman in die Serie von Texten ein, die die Kritik als magisch realistisch bezeichnet hat. Im Rahmen neuerer Studien häufen sich Indizien der Verwandtschaft beider Autoren, so daß inzwischen ein Konsens über den Vorbildcharakter von El luto humano für Juan Rulfo vorliegt. Mit meiner Absicht, den Text von Revueltas im Sinne einer bestimmten Schreibpraxis11 zu untersuchen, die bisher dem Begriff des Magischen Realismus zugeordnet wurde, beabsichtige ich auch, Aspekte sichtbar zu machen, die mit dem bisherigen thematischen Akzent des Revolutionsromans oder mit der Perspektive des magisch-mythischen Denkens übersehen worden sind. Dies betrifft insbesondere die Gestaltung der Zeit im Zusammenhang mit dem Prozeß der Erinnerung.

7 Dessau versteht den Roman als Niederschrift der nihilistischen Position des Autors. Er gehöre nicht zu diejenigen Texten, die als Antwort auf die Revolution eine revolutionäre Schreibpraxis gefunden haben sollen (1967). Ruffinelli ist der erste, der gegen das Urteil der stilistischen Schwache die realistische Intention als weniger wichtig als die rhetorische Ebene (Reichtum an Metaphern und Symbolen) einstuft (1977). 8 In seinen Essays versteht Revueltas seinen realismo crítico im marxistischen, gesellschafts- bzw. ideologiekritischen Sinne. Vgl. Pkt. 7. 9 Für Paz ist 1943 dies ein Signal, daß Revueltas eher Philosoph als Literat ist (1987:573). 10 Wahrend der gesamten Präsidentschaft von Rodríguez (1932-34). 11 Bei der Behandlung von Revueltas und Rulfo als kongenialen Autoren stütze ich mich außerdem auf die Analyse des mexikanischen Schriftstellers Juan Garcia Ponce (1971). Darauf wird noch einzugehen sein.

170 José Revueltas wurde von der Forschung zum Magischen Realismus vernachlässigt, obwohl unter diesem Begriff die unterschiedlichsten Werke kategorisiert worden sind, in welchen sich eine wie auch immer geartete Verflechtung der magischen bzw. mythischen Sicht mit einem realistischen Erzählstil feststellen läßt12.

1. Stilisierung der Makrostruktur. Ein Baustein der Kritik mythischer Diskurse Der Text präsentiert sich als Thesenroman, mit dem der Autor seine philosophische Position eines "christlichen Marxismus"13 und seine Kritik an Revolution, CristeroKriegen sowie an der Institution der Regierungspartei (PRI) an exemplarischen Figuren illustrieren möchte - soweit auch das traditionelle Forschungsurteil. Die neueren Monographien haben jedoch gezeigt, daß sich bei der Analyse der Makrostruktur dieses Romans entgegengesetzte Interpretationen und ideologische Positionen vertreten lassen, wie z.B. die des marxistischen Kritikers und Schülers von Lucien Goldmann, Antoine Rabatin (1985), auf der einen Seite und die des katholischen Priesters Pedro Trigo (1987) auf der anderen. Während ersterer die Moral des Romans in dem Vorschlag eines christlichen Kommunismus sieht und anhand einer strukturalistischen Analyse nach dem Goldmannschen Modell die Grundthese des Pazschen Essays von 1979 entwickelt, ist die Untersuchung des letzteren einer Darstellung der Kritik an der Institution der katholischen Kirche durch Revueltas gewidmet, welcher in der evangelización eine Zerstörung der eigentlichen Kultur Mexikos sehe. Trigos Interpretation betont das Thema der desposesión, d.h. der Enteignung der präkolumbischen Kultur durch die Kirche; eine These, die Trigo anhand von entsprechenden Studien zu widerlegen versucht. Derartig unterschiedliche Befunde zeigen, daß die Makrostruktur dieses Romans, auf die sich die Analysen ausschließlich beziehen, nur ein Baustein der Textarbeit ist, die die philosophischen oder ideologiekritischen Thesen als Material benutzt. Es ist auffallend, daß der wegen der realistischen Absicht dieses Romans als Fehler gewertete Mangel an Kohärenz und Motivation der Handlung und an psychologischem Reichtum der Figuren bis hin zu fehlender psychologischer Konsistenz14 keinesfalls

12 Eine solche Verflechtung wäre indes auch in El luto humano zu beobachten. Besonders der Auftakt des Romans versetzt den Leser in eine sog. magische Welt, in der der Tod - auf einem Stuhl sitzend - auf die sterbende kleine Chonita, Tochter von Ursulo und Cecilia, wartet 13 Paz (1987[1979]:578); "nihilistischer Pessimismus" für Dessau (1967:234f.); "biblischer Fatalismus" für RufTutelli (1977:33). 14 Im ersten seiner Essays wirft Octavio Paz dem Werk fehlende psychologische Kohärenz und die Unterbrechung der Geschichte durch eingeschobene Exkurse oder Episoden, die nicht motiviert sind, vor. Auch innere Monologe

171 unbeabsichtigt sein kann. Die Beschreibungen von Fakten und Phänomenen der Vergangenheit vernachlässigen jeglichen Wahrscheinlichkeitseffekt; die Figuren haben die deutliche Funktion, eine These vorzuführen. Die Abstraktion der Makrostruktur, in der die Figuren auf einzelne moralische und ethnische Merkmale reduziert sind, wobei der Chronotopos13 sowie die Handlung als Versatzstücke archetypischer Motive erscheinen, zeigt eine andere Art von Kohärenz: Die Makrostruktur konstruiert Diskurse über die mexikanische Wirklichkeit, ohne diese im Sinne des traditionellen Realismus mit Wahrscheinlichkeitseffekten auszustatten. Im Lichte dieser Beobachtung ist dann verständlich, daß eine reine makrostrukturelle Analyse sowohl zu einem negativen Urteil über die ästhetische Leistung des Romans als auch zu beliebigen Befunden bzgl. der nun vom Revueltas angeblich eingenommenen ideologischen Position führen muß. Ein weiteres Problem der Analyse, zugleich ein weiteres Indiz für die Tatsache, daß die Makrostruktur in diesem Roman als Material für die Diskursstruktur fungiert, ist, daß an sich zwei unterschiedliche Fabeln erzählt werden: Die eigentliche Handlung des Romans besteht allein in der Flucht einer Gruppe von drei in einem verlassenen Dorf zurückgebliebenen Familien, die von einem sintflutartigen Regen, der mit dem Tod der kleinen Tochter begann und alles zu überschwemmen droht, Rettung suchen. Zeit- und Ortsangaben fehlen. Man weiß nur, daß die Flucht einige Tage dauert, bevor die Protagonisten bemerken, daß sie sich nicht von der Stelle bewegt haben und auf dem Dach des Hauses Rettung suchen, wo sie aber zu Grunde gehen und von Aasgeiern zerfleischt werden. Diese erste rudimentäre Geschichte wird von den Erinnerungen der Figuren unterbrochen, indem sie kurz vor ihrem Tod ihre jeweilige Vergangenheit aufarbeiten. Erst diese zweite Geschichte ordnet die Rahmenhandlung zeitlich, und zwar der Zeit nach den Cmfero-Kriegen zu und führt das Thema der Revolution und der Agrarreform in die Binnengeschichte ein. Die Motive der archetypischen16 Handlungen stammen aus verschiedenen Intertexten, z.B. Mythen aus der aztekischen und der Maya-Tradition (Shaldon, 1983) sowie vor allem der Bibel und dem Neuen Testament17: In der Rahmengeschichte wiederholt ein von den Göttern verlassenes, verelendetes Mestizenvolk den jüdischen Exodus. Das Volk wird durch die Strafe der Sintflut verdammt, aber ohne Ausweg und ohne Heil. Die Binnenhandlung beschreibt, wie ein mexikanischer Messias - der moderate Reformer Natividad -

entsprechen nicht dem wahrscheinlichen Bewußtsein der Protagonisten, allesamt gente humilde. Zum Felde spricht deswegen auch von einer fehlenden soziologischen Botschaft (1964:366). 15 Zum Begriff des Chronotopos vgl. Bachtin, 1970. Zur Anwendung dieses Begriffs im Sinne einer narrativischen Subdimension der Makrostruktur vgl. Vf., 1985. 16 Archetype wird hier im Sinne von Frye, als ein durch die Rekurrenz in kulturellen Texten abrufbares kulturelles Motiv (1957:365) und nicht im Jungschen Sinne verwendet 17 Dieser Roman von Revueltas zahlt zweifellos zu den hispanoamerikanischen Romanen, deren ausgedehnter Umgang mit biblischen Motiven zunächst auf die literarische Erzeugung eines "biblischen Fluidums" abzielt (W. Lustig, 1989:103 und 115, zit nach Janik, 1989:579). Wie in anderen hispanoamerikanischen Romanen, haben auch in diesem Text Revueltas' die Genesis und das Kain-Motiv eine hermeneutische Schiasselfunktion (Janik, 1989:578 und 580).

172 die Heilsgeschichte Mexikos und den Weg in die Zukunft eröffnet, von der Regierung aber durch die Hand eines Ex-Revolutionärs geopfert wird, und seine christlichrevolutionäre Lehre ohne Folge bleibt. Ein weiteres Element, das von Makrostruktur-Analysen nicht erfaßt wird, aber als Spannungspol gegen die Abstraktion der Fabel wirkt, ist eine bestimmte Art radikaler Konkretion der Beschreibungen. Die Bildlichkeit, mit der Situationen und Ideen dargestellt werden, vermittelt starke Eindrücke von extremer menschlicher Regression, meist begleitet von einer allgegenwärtigen Gewaltgeste. El luto, die Trauer, die im Titel hervorgehoben wird, ist die Bedingung des Daseins und die einzige wahrnehmbare Qualität der Existenz. Die Qualität "menschlich" wird in diesem Roman frei von transzendentalen Werten gestaltet. Sie meint vielmehr eine materielle, weltimmanente und irdische Erfahrung, die fähig ist, beunruhigende, verschollene Bewegungen und dunkle Kräfte an die Oberfläche zu bringen. Der Text regt zwei zueinander in Kontrast stehende Lektürearten an: Eine radikale Konfrontation mit der allgegenwärtig erfahrenen Trauer und einen abstrakt-kritischen sowie distanzierenden, philosophisch-theologischen Diskurs. Die spezielle Art von Konkretion der Gewalt, die in die archetypische Geschichte einbricht, die wie ein der "Natur der Dinge" innnewohnendes, gleichsam unheimliches Ereignis wirkt, trifft den sich in der Ordnung der archetypischen Welt wiegenden Leser und desorientiert ihn. Dabei geraten die von der Fabel evozierten Archetypen in das Spiel der Erzählform des Romans, welche verschiedene Zeiten miteinander verflicht: Der Exodus der Figuren in der Gegenwart wechselt sich ab mit unmotivierten, in der Erzählordnung arbiträren Erinnerungen an Vergangenes. Alle Erinnerungen gehen zum Ursprung der Rassen zurück. Die mythische Zeit der evozierten Ursprungsmythen wird der fragmentierten Zeit der Erinnerung gegenübergestellt, und im Zeitpendel zwischen dem Jetzt einer Zerstörungsgeschichte und der Suche nach einem Sinn im Vergangenen zerbröckeln schließlich die Diskurse und geraten in den Strudel einer von der Identität wegführenden Bewegung18. 1.1 Die mexikanische Geschichte. Zwischen Genesis und Apokalypse Die Komposition begründet die literarhistorische These, dieser Text sei als einer der Initiatoren des modernen mexikanischen Romans zu sehen. Die stilisierte Makrostruktur ist ein Zitat von Identitätsdiskursen: Die Archetypen von Konstellation und Handlung sind Bausteine der Identitätsbildung der mexikanischen Kultur unter der Perspektive der Rassenvielfalt, des Ursprungs und der Transformation, die mit der Eroberung 18 Die Sekundärliteratur versteht auch dies thematisch, und zwar als die Realisierung eines in allen Werken grundlegenden, biblischen Motivs der Flucht (Shaldon und Rabadán). Nur Escalante sieht darin mehr als ein Thema und versucht, in Anwendung des Modells von Gilles Deleuze (Proust et les Signes, 1964) die existentielle Situation der Flucht und der Negativität im Sinne der Freilegung von Triebenergien zu analysieren. Die Texte Revueltas' seien als das gelungene Experiment des energetischen Transfers in die escritura zu sehen.

173 eingesetzt hat. Die Makrostruktur, die in der Erinnerung die Zeit des Mythos, die des Fortschrittes und die des Regresses miteinander verbindet und einen uneingeschränkten Sieg eben jenes Regresses darstellt, hat die Gestalt eines Kampfes: der Zeiten untereinander, der Rassen, der Gruppen, der Individuen und schließlich des Menschen gegen die Natur in einer Art zum Chaos hin riickwärtsgewandter Genesis, wo die Natur schließlich wieder zur Materie wird. Die Geschichte des Rahmens ist wie eine Nahaufnahme der psychischen Anpassungsstufen dieser Menschen an die mit der Flut ansteigende Entropie des Chronotopos, der im Rahmen längst den Zustand der Natur, d.h. der in Kategorien der Form erfaßbaren Materie verlassen hat Zwischen Rahmen und Binnengeschichte besteht ein Chiasmus. In der - erinnerten - Binnengeschichte gilt die Umwelt noch als Natur, die eine Steigerung zur Zivilisation erfährt: Zunächst erscheint sie im Zustand der Wildnis, in Form von brachliegenden Latifundien'9, dann aber nach dem Eingriff des zivilisierten homo faber, der Bewässerungsanlagen einführt, als "kultivierte Natur". Während die Veränderung des Rahmens die graduelle Zerstörung des Lebens vorführt, gleicht die Binnengeschichte einer Kreation: Das Dorf wird durch das Bewässerungsexperiment in Sistema de Riego umgenannt und damit neugeschaffen. Die vom Reformisten Natividad geförderten Streiks der Landarbeiter verbessern dann kurzfristig deren Situation. Die Handlungsstruktur ist eine ironische Anspielung auf den erwünschten Aufstieg Mexikos in den Zustand der Zivilisation: Rahmen und Binnengeschichte sind durch die Erinnerungen verschränkt Beide Geschichten werden damit aufeinander bezogen. Aus der Sicht der rückwärtsgewandten Genesis des Rahmens wird eine Schöpfung dargestellt, bei der die im vorrevolutionären Latifundium verlassene und ungebändigte Natur erst mit dem nachrevolutionären wissenschaftlich-reformistischen Agrarexperiment (Sistema de Riego)20 zu einer die Wildnis beherrschenden Ordnung21 fand. Die 19 "Muchos artos antes el Sistema no era tal, sino un yermo deshabitado, solitario. La tiara, caliza e inútil, pertenecía a un extenso latifundio. Al cumplir veinte o veintidós artos la revolución se fijó en esas tierras. Sobre ellas realizarla su obraJJunto al rio habla un puebleciio, con su iglesia. Un pueblo de los más miserables [...] Por la madrugada desfilaban los hombres, como fantasmas, con dirección al monte, lejano en más de cincuenta kilómetros. Eso eran los cien, los doscientos seres que habitaban el pueblo: huizaches cubiertos por el polvo, pequefios ya, alentando apenas un gemido breve entre sus ramas abatidas" (162f.). 20 Es handelt sich um eine Anspielung auf Bewässerungsanlagen in Yucatán und La Laguna de Torreón unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934-1940), in denen Revueltas potentiell die Verwirklichung des Revolutionsgeistes sah: "La aplicación de la reforma agraria conforme a los postulados implícitos en 1910, planteaba en consecuencia, no sólo la lucha contra el feudalismo, sino algo más, la lucha contra la burguesía reaccionaria. De aquí el carácter extraonünario avanzado de la reforma en Yucatán y La Laguna, hecho atribuible no al 'izquieidismo' de Cárdenas, sino a la dinámica de la revolución mexicana que habla hecho ascender considerablemente sus posibilidades revolucionarias" (1938). Die Kritik gegen Cárdenas sieht Revueltas in der kapitalistischen Umsetzung der Agrarreform begründet (auch Dessau, 1967:247), die zwar die Latifundien zerstört, aber an deren Stelle die Banken (Banco Agrícola) setzt Die Lage der campesinos, die zur Bezahlung der Kredite ihre Ernte abgeben mußten, ist nicht viel anders als bei den kolonialen encomiendas (Rabadán, 1985:34). Dies begründet die Streiks, womit man auch auf Sistema de Riego unter der Führung Natividads gegen diesen Zustand rebelliert. Die Streiks realisieren die eigentliche revolutionäre Solidarität, die aber dem arribismo (Rabadán, 1985:24) der sich fortsetzenden vorrevolutionären Infrastruktur weichen mußte (Córdoba, 1978:31). Ahnliche Feststellungen begründen Rabadán zufolge die HaupUhese seiner Analyse, Revueltas zeige, daS das Scheitern der Revolution nur historisch sei und vom Fortschritt der Geschichte überwunden werden könne (36f.).

174 Binnengeschichte regrediert dann zur Zerstörung des Rahmens, nachdem der "zivilisatorische Aufstieg" durch den Tod Natividads unterbrochen wird. Die archetypische Handlung des Mordes an dem rettenden Messias Natividad beruft sich auf das Neue Testament, um dessen Heilserwartungen umzukehren. Es ist Adán, der erste Mensch, der durch den Mord am Zivilisationsbringenden Natividad die regressive Bewegung von der Schöpfung zur Materie einleitet. Das Dorf wird verlassen, degradiert zur Nicht-Natur des Rahmens. Dieser post Christum und gegen den neuen Messias begangene erneute Sündenfall hat die Zerstörung der Schöpfung, der Natur selbst zur Folge: Die Apokalypse wird am Schluß des Romans vom aztekischen Tier, dem zopilote, dem Aasgeier, angekündigt. Die Hand des ex-revolutionären Adán, der nun auf Befehl der Revolutionsregierung tötet, leitet in der Binnengeschichte die absteigende Kurve jener Parabel ein, die den Zusammenbruch jeglicher Hoffnung auf Heil darstellt. Die Revolution hat sich als neuer Schöpfer konstituiert, um dann aber wie Chronos die eigenen Kinder (Natividad) zu vernichten. Der Rahmen handelt von den letzten Phasen des qualvollen Todes dieser zur Hölle auf Erden verdammten Menschheit. Die Regressionsgeschichte stellt damit die globale, dominante Gestalt des Romans dar und die aufsteigende Kurve der Erneuerung - durch das Bewässerungsexperiment, aber vor allem durch den von Natividad geleiteten Streik der Landarbeiter22 repräsentiert - wirkt wie eine kleine, irreale Pause im ewigen Zustand der Dunkelheit und des Chaos23. Für die von der Makrostruktur als Gesamtzeichen konstruierte Gestalt wiederholen sich die vorangehenden Beobachtungen im Hinblick auf einzelne Elemente der Handlung: Die extreme Geste der Regression wirkt archetypisch und wie die Stilisierung einer elementaren Situation, in der Ende und Anfang im ewigen Chaos koinzidieren. Sie ist die "einfache Form"24 des Mythos der Apokalypse, die einerseits extrem stilisiert ist, und andererseits durch die radikale Kohärenz der Bewegung auf die materia bruta hin den Leser nicht unberührt läßt. Der Mythos der Apokalypse, den die Zeitgenossen von Revueltas, die sog. zweite Generation von Autoren des Revolutionsromans, benutzen, um die Revolution zu kritisieren und der mit La región más transparente (1958) von Carlos Fuentes eine Reihe von apokalyptischen Visionen einleitet, wird in diesem Roman zu einem in der Konfiguration eines archäologischen Diskurses erstarrten Archetypus stilisiert. Es zeigt sich, daß das Funktionsprinzip dieses Textes nicht

21 "El río maldito, inconstante, fue hecho prisionero. Sus aguas fueron encerradas, y calculando aun la misma irregularidad, según declan los ingenieros, el depósito tenia una capacidad para cinco aflos de riego" (168). 22 Zu der unter Cárdenas vorangetriebenen Agrarreform mit direkter Beteiligung der campesinos vgl. Bathaniel u. Sylvia Weyl. La reconquista de México, PAIM, vol. VII, Niim. 4, zitiert nach Aguilar Mora, 1978:93. 23 Die Erzählung der Geschichte der Revolution vom Standpunkt der Erinnerung eines Sterbenden wird dann von Carlos Fuentes in La muerte de Artemio Cruz (1962) übernommen. Dort hat die fragmentarische, mit der progressiven Zerstörung des psychophysischen Zustandes des Protagonisten gekoppelte Rückgewinnung der Phasen der Revolution die Funktion einer Modellierung der apokalyptischen Verarbeitung der Vergangenheit im postrevolutionären Mexiko. 24 Im Sinne von Jolles, definiert entspr. Kap. n.

175 etwa die Modellierung einer apokalyptischen Zerstörung des Revolutionsideales ist, sondern vielmehr die Rekonstruktion der archetypischen Vorstellungen von Genesis und Apokalypse, die im Roman als die impliziten Bausteine einer teleologischen Auffassung der Revolution erscheinen. Dabei zerstört die aufklärerische, abstrakte Ausrichtung dieser stilisierten "einfachen Formen", die Paz im späteren Kommentar (1979) als "kristallklar" bezeichnet, nichts von der radikalen Direktheit der Mikro- und Makrostrukturen. Die anfangs erwähnte doppelte Lektüre des Romans, nämlich einerseits die Aufdeckung der in dieser Schöpfüngs- und Antischöpfungsgeschichte agierenden Diskurse, andererseits die durchgehende Erfahrung ihres Druckes, bleibt bestehen. Im Zeichen dieser Aufklärungsarbeit bemüht sich zunächst die folgende Analyse der Makrostruktur, dem Zusammenhang von Kultur und Diskurs in der Geschichte Mexikos nachzugehen. Der Angelpunkt dieser Aufklärung liegt, entsprechend den Diskursen der mexikanischen Identitätsbildung in der ersten Hälfte des 20. Jhs., im Thema der Revolution. 1.2 Eine Gesellschaft von Außenseitern Zwei Außenseiter gegenüber der Gruppe von Aussiedlem sind an der Regressionsgeschichte des Rahmens beteiligt: Adán, ein ehemaliger Revolutionär, Mestize und schließlich Berufskiller im Auftrag der Regierung, sowie der Pfarrer und ehemalige Cm/ero-Anführer. Zu Beginn des Romans, in der Nacht von Chonitas' Tod, hilft Adán seinem Erzfeind Ursulo bei der nahezu heroischen Überquerung der monströsen Wassermassen des angestiegenen Flusses, welcher die drei Aussiedlerfamilien von Dorf und Dorfkirche trennt. Der Pfarrer, den Ursulo und Adán an Chonitas Sterbebett führen, wird bei dieser letzten Reise in die Unterwelt seiner Hoffnungs- und Sinnlosigkeit gewahr und ermordet Adán mit einem Messerstich - ein sinnloser Racheakt in dieser apokalyptischen Situation, in der das Opfer keine reinigende Wirkung mehr haben kann. Die Hoffnungslosigkeit der Situation wiederholt sich durch die Unmöglichkeit, der bei der Ankunft bereits toten Chonita mit dem Sterbesakrament zu helfen, und mündet schließlich in den Verlust jeglicher Kontrolle gegenüber sich selbst und der Gruppe während des Exodus, der unmittelbar danach einsetzt. Die Sintflutsituation des Rahmens ist durch die Erinnerung jedes Einzelnen der Gruppe an die eigene Vergangenheit, vom Ursprung an, rhythmisch unterbrochen. Als Zeichen des Kampfes gegen den nahenden Tod, der die Lebenszeichen zu überschwemmen droht, stellen die Erinnerungen an die Vergangenheit die innere Handlung dieser der Zerstörung entfliehenden Menschheit dar. Sie beginnen bei der in der Gruppe am klarsten sehenden Cecilia im IV. Kap. (48) und dauern bis zu dem Augenblick, in dem das Bewußtsein der sich erinnernden Figuren durch die Gedanken des

176 zum ersten Schnabelhieb ansetzenden Aasgeiers am Schluß des Romans ersetzt wird25. Zeitbezüge sind dabei nur rudimentär. Die fragmentarischen Erinnerungen vermischen sich mit einer Wirklichkeit, die verwirrend ist - eine uniforme und bedrohliche Materie aus Wasser, die einfängt, festhält und zum Opfer menschenfressender Vögel macht. Die Außenseiter - Adán und der Pfarrer - repräsentieren die sich seit Präsident Calles (1924-1928) als Gegner gegenüberstehenden Instanzen: das Revolutionsregime und die Institution der Kirche. Neben dieser metonymischen Funktion sind sie, wie alle anderen Figuren, die Verkörperung von moralischen Eigenschaften. Die männlichen Figuren, und zwar auf der einen Seite der Aussiedler Ursulo und dessen Doppelgänger Calixto und Jerónimo, sowie der Berufskiller Adán auf der anderen Seite, sind, gemessen an den traditionellen moralischen Erwartungen an den Helden, extrem negativ: Ursulo zeichnet sich durch politische, soziale und kommunikative Impotenz aus26, sein Handeln ist von einem stumpfsinnigen Egoismus27 gesteuert. Adán verkörpert die blinde Gewalt, die Hand, mit der die Brutalität der Revolution in der Regierungspartei fortgesetzt wird; Calixto, der revolutionäre Plünderer, der während der Revolution einen compañero indio tötet, nur aus Angst, er könne sich für die von ihm erbeuteten Juwelen interessieren, der sich nach der Revolution und nach dem schließlich eintretenden Verlust seiner Beute in den armseligen Privatbesitz eines kleinen unfruchtbaren Grundstückes zurückzieht und nur noch den Besitz von Cecilia ersehnt; Jerónimo, der sich in der Sintflut-Nacht aus reiner Einfältigkeit zu Tode betrinkt und nach einem grotesken Versuch der ohnmächtigen Wiederauferstehung zur mit Tequila getränkten Wasserleiche wird, um die sich seine Frau Marcela in obsessivem Rhythmus sorgt - ein Leitmotiv der Geschichte. Natividad, der reformistische Messias, vollzieht das Wunder, durch seine charismatische Figur alle Mitmenschen zu vereinen und zum Streik anzuregen, der die Situation der Landarbeiter in Sistema de Riego verbessern soll. Er verwirklicht damit den reformatorischen Anspruch der Agrarrevolution. Natividad ist die einzige moralisch positiv markierte Figur, eine kommunistische Inkarnation Christi. Wie der Nazarener wird er

25 "Sobre el cuerpo de Adán descendió el primer zopilote, uno de cuello atroz y alas ruidosas, como las de una cucaracha gigante. Miró en todas direcciones, a Cecilia, a Calixto, a Marcela, a Ursulo, los que aún estaban vivos, detenidamente, sin temor, juzgándolos con resuelta frialdad. 'En cuanto mueran - pensaría -, o en cuanto no puedan defenderse...'. Después, inclinando la calva testa, púsose a observar a ese cuerpo increíble sobre el que estaba posado. Veíalo con conocimiento profundo y tal vez principaría por devorarle los ojos, que son duros, consistentes y como condensación absoluta de las fuerzas del ser. Los ojos y en seguida el saqueo general, el banquete" (181f.). 26 Die Frucht seiner "Inbesitznahme" von Cecilia, die Tochter Concepción (Chonila), stirbt, was den Auftakt zum Roman darstellt 27 Darin gleichen sich Machthaber und Volk: Beide beharren auf dem Privateigentum, gleichgültig wie groß dieses ist Für Ursulo ist der Besitz seiner IS Hektar großen Parzelle sein wichtigstes Streben, was sich auch im Besitz seiner Frau Cecilia, der Ex-Frau Natividads wiederholt, als konnte sich Ursulo damit auch die Macht über die Massen erkaufen, die Natividad "gehörten". Revueltas macht schon 1943 klar, wie mit der Revolution auch ein kapitalistischer Geist in die Feudalstniktur Einzug hält (Dessau, 1967).

177 von der politischen Gewalt geopfert28, wobei das Opfer durch die Hand des Judas Adán, Natividads Freund und Verräter, ausgeführt wird. Entgegen dem christlichen Vorbild verflüchtigt sich das Werk des Cristo-Natividad ebenso definitiv, wie der mit roten Fahnen geschmückte Sarg mit einer nebensächlichen Erwähnung in das Grab verschwindet (166). Für Natividad gibt es, anders als im Neuen Testament, keine Wiederauferstehung. In der Erinnerung der Leute von Sistema de Riego, die daraufhin das Dorf verlassen, geht die Lehre Natividads verloren. Ursulo, Calixto und Jerónimo, die Jünger dieses Cristo-Natividad, haben die Segnung des heiligen Geistes nicht empfangen. Ihre Handlungen - die stumpfsinnigen Kämpfe zwischen Ursulo und Calixto um den Besitz von Cecilia oder der Leiche Chonitas sowie das Hin- und Herreichen der schweren Leiche Jerónimos oder der unsinnige Marsch um das Haus, ohne zu merken, daß sie auf der Stelle treten, - sind eher Indiz einer dumpfen, düsteren Vernebelung der Geister. Natividad, die moralisch einwandfreie Persönlichkeit, ist keine der Gegenwart Mexikos angehörende Figur. Er ist vielmehr ein Ideal, eine Möglichkeit, die nicht Teil der Geschichte Mexikos geworden ist, was durch die Tatsache deutlich gemacht wird, daß er niemals vor dem Augen des Lesers erscheint, sondern immer nur durch die Erinnerungen anderer, vor allem die Erinnerung von Adán, seinem Mörder, dargestellt wird (S.135-180). Die Figur Natividads ist eine Leerstelle im Roman. Sie dient dazu, die alleinige Herrschaft von "Untugenden" in der Landschaft des (post)revolutionären29 Mexiko hervorzuheben. Dies wird besonders deutlich im Verhältnis zu Ursulo, dem männlichen Protagonisten des Rahmens und der letzten Kreatur dieser revolutionären Schöpfung in der neueren Geschichte Mexikos. Wenn Ursulo beim Versuch, nach dem Tod Natividads dessen Frau Cecilia und die Führung der Masse zu übernehmen, ohne Erfolg bleibt, dann deshalb, weil er nur die Formen des Ritus30 ohne den mythischen Impetus der (religiösen) Erscheinung Nativitads beherrscht. Die Figuren sind, ähnlich wie in den biblischen Parabeln, allegorische Personifikationen31 bestimmter Untugenden des Mexikaners, welche für das historische Scheitern

28 "Empoo, Nadividad moriria, atravesado. crucificado" (164). 29 Gemeint ist die sog. zweite Phase (nach 1917), in der sich die Militarisierung und Zentralisierung der bürgerlichen Revoiutionsregierung konsolidiert, gegen die sich wiedeium die kritische Retrospektive der sog. Revolutionsromane der dritten Phase wendet, die Paz mit El luto himano eingeleitet sieht (1979). Die traditionelle Forschung zum Revolutionsroman verbindet den Beginn dieser Phase vor allem mit dem Namen von Ylflez (Valadis/Leal, 1960; Dessau, 1967; Luis Arturo Castellano, 1968; Max Aub, 1969; Marta Portal, 1977; Antonio Castro Leal, 1963). 30 Ursulos Versuch, Natividads magische Anziehung nachzuahmen, indem er der Masse einen magischen Zeichengebrauch vorfahrt - das tatsachliche Schlucken einer Handvoll Erde, um seine Bereitschaft kundzutun, sich von der Erde ernähren zu lassen, auf der er geboren ist macht keinen Eindruck auf die Bevölkerung von Sistema de Riego. Dir Exodus findet trotzdem statt 31 In dieser Hinsicht stimmt mein Befund mit der Sekundärliteratur aberein, die, wie auch Paz zuvor, den Figuren jede Form physischer Konkretion abspricht Einerseits sind die Beschreibungen ein Katalog von allegorischen Attributen, die die Figuren zur Verkörperung abstrakter Ideen machen, wahrend andererseits die inneren Monologe nicht dem zu erwartenden psychischen und intellektuellen Rahmen der Figuren entsprechen. Dennoch gilt auch hier das für die Makrostruktur allgemein Gesagte. Nur im Hinblick auf thematische Analysen und/oder auf die Folie des klassischen

178 der Revolution und deren politischen Reformen ursächlich zu sein scheinen. Auch der sintflutartige Chronotopos des Rahmens32 hat den Charakter einer Parabel. In der dramatischen Szenerie einer verwüsteten Landschaft, in der der turbulente und bedrohliche Fluß - gleich einem rachesüchtigen Gott herrschend - das Feld zwischen Barbarei der Siedler und Zivilisation des verlassenen Dorfes trennt, gibt es kein Zentrum, sondern Inseln von Außenseitern und Opponenten: Adán und der Pfarrer sind Außenseiter gegenüber der Gruppe der drei campesino-Familien. Aber auch die Gruppe der drei befreundeten Aussiedler ist durch innere Kämpfe belastetet und steht gleichzeitig vom Dorf isoliert, auf der anderen Seite des unbändigen Flusses und fem von einer nach dem Exodus der Einwohner sinnlosen Kirche. Der Chronotopos unterstreicht die Isolation, in die sich der Volksvertreter und Führer Ursulo begeben hat, nachdem mit Natividad ein mögliches Zentrum verlorengegangen ist. Die Gruppe erstarrt in der funktionslosen Geste einer vergangenen Revolte. Es gibt in diesem Chronotopos nicht nur kein Zentrum, sondern auch keinen für das Leben bedeutsamen Ort. Die menschlichen "Untugenden" des Rahmens wiederholen sich in der Binnengeschichte. Das Zeichen jedes Einzelnen ist ein Negativ-Zeichen im Hinblick auf Kommunikation, Vernunft, Familie, Gesellschaft. Über allen droht die Hand der Regierung in Gestalt der Waffe Adáns33. Auch in der Binnengeschichte der Neuschöpfung sind die Figuren zerstörerische Inseln von Egoismus und Agression. Das positive Zentrum, die politisch und sozial zentripetale Figur von Natividad, dessen (mythisches) Erscheinen dem Schicksal von Sistema de Riego eine vitale Wende geben soll, ist auch in der Binnengeschichte eine Leerstelle34. Auf der Seite der weiblichen Figuren inkamiert Cecilia die Unschuld35, die Treue (gegenüber Natividad) und das Opfer jener machistischen Gewalt, die die sozialen, ebenso wie die politischen Beziehungen regelt. Komplementär zu Natividad, dem ihre Liebe und Treue ewig gilt, ist sie, gleich der

Realismus des 19. Jhs. fehlt es den Figuren an Konkretion. Die in diesem Roman hergestellte Konkretion ist anderer Art. Vgl. Analyse der Beschreibungen in Abschnitt 2. 32 Dies betrifft aber auch die Binncngeschichte, wie auch der Name Sistema de Riego zeigt; ein gcnus proamum, der auf jeden Realitätseffekt verzichtet. 33 Die hier im Zentrum stehende Zeit der Präsidentschaft von Plutarco Ellas Calles (1924-1928) bestimm: durch die Zentralisierung der Macht unter dem Ideologem der Nation auch die spätere Politik (Gründung einer Einheitspartei, des Partido Nacional Revolucionario, 1946 in die heutige PRI umbenannt). Das Scheitern dieser zweitei Phase der Revolution sieht Revueltas u.a. in der Schwächung der mexikanischen Arbeiterbewegung dadurch, daS der Führer der 1918 gegründeten Gewerkschaft "Confederación Regional Obrera" (CROM) als Minister in die Regiering Calles' geht und die Geweikschaft somit als oppositionelle Institution neutralisiert wird. 34 In ähnliche Richtung geht Shaldon, wenn sie Natividad im Sinne von Fryes Konzept des mythischen Hilden eines romance (im Gegensatz zum realen Helden des Romans) als Teil der Konstellation sieht (1985:65). Auch O'Neill: "The extreme idealization of Natividad inherently marks his characterization [...] So obvious is Revuelas' attempt to portray Natividad as the Marxist savior of the masses" (ziL nach Shaldon, 1985:65). Rabadins rein smikturale Analyse der Fabel (1985:17-68), beachtet weitergehende nairaiologische Gesichtspunkte nicht 35 Die Analogie zur Heiligen Cecilia ist explizit. Cecilia muß Ursulo gegen ihren Willen heiraten und ciesem eine Tochter gebaren. Sie wird auch das Objekt der Begierde Calixtos und der Kämpfe zwischen den riännlichen Kontrahenten der Dreiecksbeziehung. Diese An des Opfers erscheint als das Resultat einer machistisclen Struktur in allen institutionellen Bereichen der mexikanischen Kultur.

179 Heiligen Cecilia, die "Sehende" in der Gruppe. Ihre Hoffnungslosigkeit stellt auch den Auftakt zum Ende dar. Cecilia wird vom Kontext kontaminiert und verliert ihre moralische Überlegenheit. Als komplementäre Figur zu Natividad, dem das Prinzip der Fruchtbarkeit verkörpernden Messias, wird sie nach dessen Tod von der mater magna zur mater terribilis (Sheldon, 1985:95), indem sie den Tod ihrer Tochter herbeiwünscht, um die Zeichen ihrer caída, ihres Sündenfalls aus der Geschichte zu löschen. Sie wird "befleckt", wenn sie sich mit dem Geschlecht der Schuldigen, dem Mestizen Ursulo, vereint. Die Regression Cecilias ist abhängig von der Negativität ihres Kontextes; sie macht dessen Schuld sichtbar. Die Makrostruktur scheint eine Momentaufnahme der sozialen Struktur Mexikos und eine Bilanz der postrevolutionären Zeit zu liefern. Im Folgenden ist jedoch nach der Rolle der Überzeichnung aller Strukturen zu fragen, nämlich der archetypischen Handlung zwischen Genesis und Apokalypse, der allegorischen Figuren und der Sinflut-Parabel des Rahmens.

2. Der Diskurs des Ursprungs. Figuren als Allegorien des Mestizierungsdiskurses Die Sintflut dieses Romans geht anders aus, als die des Alten Testaments. Die Menschen von El luto humano fliehen, verstoßen aus einem Paradies, das nicht das ihrige war36, irren kreisförmig in einer verwüsteten Landschaft, warten auf den Tod, der ihnen vom Tier mit dem aztekischen Namen zopilotes zugefügt werden soll (182); ein schwarzer Vogel, ein Henker, statt der Rettungsbotschaft der Taube an Noah. Sie warten und erinnern sich. Die Erinnerungen sind eine Rückkehr zum Ursprung als Ursprung einer Rasse: Ursulo besinnt sich, von der Indianerin Antonia und einem Hacendado37 geboren worden zu sein - eine plakative Wiederholung jener Geburt des Mestizen aus der Liebschaft zwischen Malinche und Cortés, die im Bewußtsein der Mexikaner am Anfang ihrer Neuzeit steht. Es ist eine Genesis der Neuen Welt, die Genesis der Mestizenhaut, el génesis oscuro (64). Die Erinnerungen markieren die relevanten Stellen der "Geschichte" Mexikos: Am Anfang steht die Erinnerung Ursulos an seine Geburt, stellvertretend für den Ursprung einer Rasse; ein Ursprung, der mit Gewalt, Zerstörung und mit Entstehung eines Identitätsverlustes direkt verbunden ist; zunächst ein Verlust der Sprache:

36 Sistema de Riego wird nach der Ankunft Natividads in eine Art Paradies umgewandelt, wobei die Beschreibung explizite Bezüge zu dem Modell des Paradieses herstellt 37 Wiederkehrendes Motiv des Bastardentums (Fuentes, 1969).

180 La existencia de Antonia38 estaba rodeada por la muerte, hecha por la muerte. ¿Era preciso vivir, o acabarse, mejor, en definitiva, sin huella alguna, para siempre? No encontró idioma alguno para pedir pan a los blancos (63), dann der Götter ("Resignadamente recibió Antonia la semilla con la cual morían sus dioses", 64). Es ist ein Verlust, dessen unmittelbare Folge das Einsetzen einer Identitätssuche in Form der Rache, der reivindicación ist: Catorce años más tarde Ursulo veía a don Vincente pendiendo de un árbol, descompuesto, mientras la noche se iba dejando caer sobre La Abeja. Aquél era su padre, pero una emoción dura le dominó el pecho: 'Está muy bien', dijo, sintiendo su corazón como un cuchillo inamoroso, él, hijo del cuchillo primero (64). Dieses Ursprungsmodell wirkt als Generator einer Serie (cuchillo primero), die unmittelbar zur großen Stunde des modernen Mexikos - so scheint die Reihenfolge der Erinnerungen nahezulegen -, zur Revolution führt. Die Serie konstruiert den Sinn der Revolution als reivindicación des indianischen Ursprungs und als (scheinbar) definitiven Bruch mit Latifundismus und Klerus, jenen Institutionen, die in verschiedenen Gestalten die Zeichen des Eroberers bis ins 20. Jahrhundert getragen haben. In die Kette der Motivationen, die ursächlich auf den Mythos des Ursprungs als Ursprang einer desposesión39 zurückgehen, wird schließlich auch der Aufstand der Cristeros40 eingereiht, wobei letzterer eine reivindicación gegen den sich wiederholenden Entzug des Rechtes auf religiöse Identität durch die revolutionären caudillos darstellt, die damit Formen und Funktion des Eroberers angenommen haben41. Es ist eine 38 Ursulos Mutter, eine Indianerin, deren Stamm ausgerottet wurde, wobei sie auch ihre Eltern verlor, findet Arbeit auf der Hacienda von Don Vincente, der sie - wie sollte es auch anders sein - schwängert. 39 Die durchaus adäquate Interpretation durch Trigo hinsichtlich der Kritik an der Revolution als "actuacidn de la desposesiön" (1987:109-132), die mit der Evangelisation begann, ist indes einseitig, weil sie das kritische Potential des Romans auf eine ideologiekritische Perspektive reduziert (als Kritik einer "verräterischen Revolution"). 40 Calles' Versuch, der katholischen Kirche den Status als juristische Person abzuerkennen und die Ausübung kirchlicher Ämler zu untersagen, mündet 1926 in einen bürgerkriegsähnlichen Aufstand und Krieg zwischen regierungstreuen Agraristas und den Cristeros. Der Yaki-Aufstand im Staat Sonora gibt den Auftakt Jean Meyer zufolge war das Religionsverbot nur der Funken (Jean Meyer, 1977, Bd.II: 193), der die steigende Unzufriedenheit der campesinos zum Aufstand (def. als eine ziellose, bewaffnete Rebellion gegen 'tyranische Verhaltnisse' [nach Brunner, 1984:634]) hatte explodieren lassen, die aus der Wiederherstellung der ejidos, trotz Schwächung der feudalen Latifundienstmktur, nur noch höhere Belastungen zu tragen hatten (zu klein, schlechte Qualität, zuwenig Bildung der campesinos, Umfunktionierung der ejidos in polizeiliche und politische Einheiten, die sich wechselseitig bekämpfen [Meyer, 1977, Bd. III:61f.]). Die Belastung der Cristero-Kricge für die Regierung machte aus diesen eine von den USA und dem Vatikan unterstützte Gegenrevolution - mit einer Restauraüonskomponente (Brunner, 1984:760) in der die Bauern zum Kriegsmaterial einer Interessenkollision zwischen Staat und Kirche wurden, die 1929 mit einem die Interessen der Bauern mißachtendem Kompromiß endet Die Opfermassen der campesinos waren der Preis dafür, daß die postrevolutionäre Bourgeoisie aus den Cristero- Kriegen und den gleichzeitigen Verteidigungsmaßnahmen gegen den Imperialismus der USA geschwächt heraustrat Als Erfolg kann gewertet werden, daß die campesinos Bewußtsein darüber gewannen, daß sich der Staat der Revolution bemächtigt hatte. 41 Don Porfirio, et mestiio de Oaxaca ist Beispiel für die lange Reihe derjenigen, die der dunklen Haut die weiße Kleidung Ubergezogen haben - jener perverse Brauch, der während der Eroberung durch Anziehen der Indios mit der spanischen, dem tropischen Klima unangemessenen Kleidung das Siegel erfolgreicher Kolonisation aufprägte. Mit der Revolution werden die Zeichen umgekehrt, jedoch die Täuschungsfunktion der "äußeren Haut" beibehalten: Die Zeichen der indianischen Zugehörigkeit weiden dazu benutzt, die Gewalt gegen die Indios noch erfolgreicher durchzusetzen. Das nachfolgende Zitat entlarvt den zynischen Gebrauch indianischer Zeichen, zuallererst der

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Geschichte, die mythisch fundiert ist, wobei die "bezogenen Formen"42 des Mythos die Gestalt von Besitzverlust aufweisen: Besitz von Land und Besitz von Göttern. Der Mythos des durch äußere Gewalt verlorenen Paradieses43 wird als Generator eines Identitätsmodells enthüllt, das auf Gegengewalt (reivindicación) basiert. Rückblickend rollt Revueltas die Geschichte Mexikos auf. Die durch die Struktur der Erinnerungen aufgebaute Kausalität läßt erkennen, daß ein Mythos an den Ursprung der mexikanischen Geschichte gesetzt worden ist, der die Geschichte ursächlich bestimmt. Der Mythos wirkt nicht nur dadurch, daß er eine historische Kausalitätskette generiert, sondern auch Wertesysteme verfügbar macht, die die großen Gestalten der Geschichte Mexikos zu einer Oppositionsreihe von rechtmäßigen und unrechtmäßigen Vertretern der legitimen Wiederfindung ursprünglicher Identität gerinnen lassen44. Die unter dem Aspekt der psychologischen Charakterisierung unmotivierte Makrostruktur rückt unter der Perspektive einer Genealogie der Mestizenrasse in ein präzises Gefüge von ethnischen und politischen Beziehungen sowie von Typen kultureller und sozialer Verhaltensformen. Dem Ursprung am nächsten und am niedrigsten in der Stufe des Entwicklungsprozesses, der mit Zivilisation gleichgestellt wird, steht Adán, der dem Indio nahestehende Mestize mit dem Aussehen eines präkolumbischen Tiers: Adán debía descender de los animales. De los animales mexicanos. Del coyote. De aquel parto ixcuintle sin pelos y sin voz, con cuerpo de sombra, de humo; de la serpiente, de la culebra; de las iguanas tristísimas y pétreas (20). Interessanterweise stammt diese Beobachtung aus der Perspektive Ursulos, der die nächste Entwicklungstufe in der "Darwinschen Skala" des Mestizen darstellt. In der Tat werden mit diesen zwei gleichzeitig ähnlichen und unterschiedlichen Mestizengestalten zwei Haltungen des Mexikaners zu Wirklichkeit und Geschichte repräsentiert: Als Verkörperung der irrationalen Gewalt ist Adán dem Ursprung näher als Ursulo.

indianischen Sprache, durch die revolutionären Truppen: "-Si no salen - gritó Adán - quemamos el pueblo.../ Y en seguida repitió la frase en lengua indígena donde, tal vez por la melodía silbante y quebrada del idioma, no se transparentaba cólera alguna. Las vocales, como sin esqueleto cuando van solas, en esta lengua cobraban un ritmo lleno de proporción y gracia, merced a las consonantes, tes, eles y equis, puestas ahí con empeño de música" (121f.). Schon hier ist mit Revueltas eine mylhopoetische Interpretation des Ursprungsmythos der Revolution nicht mehr möglich. 42 Mit Bezug auf Jolles ist damit die Form gemeint, die den Schein der natürlichen Wahrheit des Mythos lediglich vortäuscht und manipulativ wirkt (Vgl. Kap. II. 2.1.2). 43 Diese Motivationskette offenbart auch die Gefahr eines solchen Modells, welches den Verlust des Paradieses nicht durch eigene Kollektivschuld, sondern durch fremde Schuld motiviert. Daraus leitet sich nicht nur der von Samuel Ramos kritisierte Minderwertigkeitskomplex des Mexikaners (vgl. Kap. IV und Vf., 1992b), sondern auch die Möglichkeit, die Verantwortung für den Verlauf der Geschichte jenseits des eigenen historischen Handelns zu legen. Diese Verdrängungsgeste der eigenen Schuld verstärkt sich durch die Koppelung dieser "bezogenen Foim" des Mythos des SUndenfalls mit dem im Zusammenhang mit der Revolution zur Identitätsbildung wieder aufgewerteten Mythos des Quetzalcóatl, dessen calda del paraíso ebenfalls auf die Schuld fremder Götter zurückgeführt wird. Durch den Legitimationsmythos von Quctzacóatl identifizieren sich die Revolutionscaudillos mit dem paradiesischen Zustand der Schuldfreiheit. 44 Vgl. hierzu meine kritischen Ausführungen zu den Pazschen Mythen der mejdcanidad (8.2).

182 Ersterer versteht die Revolution nicht als historischen Sinnprozeß; Adán ist die Verabsolutierung von Gewalt als mythischer Negationsgeste: [Su revolución] era correr por el monte sin sentido. Era pisotear un sembrado. Exactamente pisotear un sembrado. Los surcos están ahí, paralelos, con su geometría sabia y graciosa. Son rectos y obedecen a esa disciplina profunda de la tierra que les exige derechura, honradez, legitimidad. Se mira su extensión como una malla sobre el humus y la vida que late, ordenando el crecimiento. Obedecen a un designio, a una voz plena y poblada de materias, que desde abajo decreta el milagro de la comunión con las cosas del aire, para que el pan se dé entonces como un hijo y encuentre casa la espiga y el sudor levante su estatua. Pero el odio demanda también su establecimiento y pisar un surco se convierte en una negación fortalecedora. Entonces se desata el hombre como un animal oscuro cuyo goce simple se compone de la desolación y del caos. Tiene el alma un poder furioso y una impureza avasalladora que se desencadenan libres y sin freno. La destrucción erige su voluntad y adelante no hay nada, pues la ceguera lo ocupa todo y hay un insensato placer en que el sembrado se convierta en pavesas y la semilla se calcine. La revolución era eso: muerte y sangre. Sangre y muerte estériles; lujo de no luchar por nada sino a lo más por que las puertas subterráneas del alma se abriesen de par en par dejando salir, como un alarido infinito, descorazonador, amargo, la tremenda soledad de bestia que el hombre lleva consigo (154/155). Adáns Identität ist die Inkarnation des revolutionären Chaos, jener irrationalen Triebe, die mit dem revolutionären Impuls der Rückkehr zur Erde auch einen Regreß in den Zustand der Antinatur herbeigeführt haben. Die vom Schöpfungsprinzip der Natur hergestellte Ordnung und die Apokalypse stehen sich hier gegenüber, letztere angekündigt durch die Erscheinung des biblischen Tiers, das die Herrschaft der zerstörerischen Gewalt einer von der Hoffnung auf göttliches Heil verlassenen Erde prophezeit. Statt Gemeinschaftssinn im Geiste des (der Natur angemessenen revolutionären) Schöpfungsmythos 4 ', treten Einsamkeit und Schmerz einer "transzendentalen Obdachlosigkeit"46 ein, wobei die mythische Natur der Negationsgeste, wenngleich isolierend, stärkende Energien zutage fördert. Als Verkörperung des Antimythos von natürlicher Ordnung und Fortschritt obliegt es Adán, Natividad zu töten. Adán ist das Prinzip des Chaos vor der Genesis, vor der Schöpfung, und wird auch das erste Opfer der Aasgeier sein, als würde Adán damit von seiner eigenen apokalyptischen Botschaft eingeholt und zerstört. Die Charakterisierung Adáns findet aus der mit dem revolutionären Messianismus gekoppelten Perspektive der christlichen Genesis und Heilsge-

45 Im Rahmen der Interpretation Rabadins wäre dieses Zitat ein Beleg filr die Utopie eines von der militanten mexikanischen Revolution nicht realisierten christlichen Kommunismus mit Anklangen an Sorels politisch-sozialen Mythos einer urchristlichen Solidarität. 46 Dieser Zustand ist hier mythisch, nicht als geistesgeschichtliche Kategorie verstanden, wie bei Lukics.

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schichte statt: Adán, der unter den Mestizen am nächsten dem indianischen Urprung steht, nimmt die Stelle des Bösen im Zustand des Chaos und der Wildheit ein, die nach der conquista durch die Evangelisierung in die eigentliche Geschichte der Erlösung Christi einzubinden war - eine Mission, die sich die (revolutionäre) Integrationspolitik (nunmehr in säkularisierter Form) erneut zum Ziel gemacht hatte, wobei der revolutionäre Fortschrittsgeist mit gleicher metaphysischer Prädestination an die Stelle des Religiösen tritt. Ursulo ist der historische Mestize, der das Modell des Fortschrittes akzeptiert (als Nachfolger von Natividad). Ursulo hat indes nur die Formen des Modells angenommen, es jedoch für den eigenen Profit zweckentfremdet. Ein solchermaßen mißbrauchtes Fortschrittmodell führt ebenfalls zum Regreß. Ursulo ist repräsentativ für ein breites Spektrum der Mestizen, für jene machistische Art, die im Namen der reivindicación die Politik des arribismo betreibt, weil er Identität begehrt, die ihm den Aufstieg in die "zivilisierte Rasse" sichern soll: Comprendía hoy, frente a su propia muerte, que en verdad no era éste su reino. Que estaba muy lejos del mundo de los hombres: apartado, extraterrenal, hijo de diosa. Su reino se mostraba vacío, vencido. Ruinas a uno y otro lado y una sed: la piedra que aspira a vértebra imponderable, pez, reptil, pájaro, áibol (64). Bei diesem Weg der Identitätsflndung ist Ursulo, der übriggebliebene Protagonist des Rahmens, auch Stellvertreter des Aufstiegswunsches des Durchschnittsmexikaners. An Calixto, seiner Parallelfigur, zeigt sich die politische Entartung eines solchen Modells von Identität. War Revolution für Adán die mythische Geste der Negation ohne partikuläre, historische Sinnbesetzung, ist für Calixto - und Ursulo -die Revolution eine historisch bezogene Form der Anpassung an den Fortschritt: Die Pistole. Se encontraban desconcertados. [...] Ellos huebiesen querido que continuara [...] con la sensualidad ruda y estremecedora de la muerte. Un poder como abismo se les había relevado, grandioso e inalienable. Era un poder tentador y primitivo que de pronto estaba en la sangre, girando con su veneno. Lo había perdido en los oscuros tiempos de la persecución y la paz porñrianas para ganarlo hoy nuevamente en la sangrienta lucha. Sólo dioses lo poseían, pues era el divino y demoníaco de arrebatar la vida, y si los antepasados lo practicaban con tal solemnidad y tal unción, era, justamente, porque aspiraban a compartir los atributos de la divinidad. He aquí que aquello mecánico e inteligente, tan parecido a un sexo, la pistola, se les había incorporado al organismo, al corazón. Después de esto resultaba imposible que se considerasen inferiores, capaces ya, como eran, de matar. Como un sexo que eyaculase muerte (100f.). Die symbolische Ambivalenz der Feuerwaffe als Analogon von Sexualität und Technik wird insoweit zum ausgesprochenen Symbol dieser Revolution, als sie in den Schein von Fortschritt und rechtmäßigem Handel auch regressive Kräfte kanalisieren kann. Dabei ist die Verknüpfung des entfesselten revolutionären Rausches mit dem Identi-

184 tätsproblem besonders enthüllend im Hinblick auf die Suggestionskraft einer Revolution, die die Energie des Sakralen und des Erotischen nicht an den kollektiven Akt des Festes, sondern an die Gewalt des sich in der Zerstörung des Anderen gleichsam sexuell befriedigenden und konstituierenden Subjektes bindet. Das urtümliche Ritual des Opfers zur Schaffung einer Einheit mit den Göttern wird zum narzißtischen Kompensationsakt47 angesichts der Ähnlichkeit mit den Göttern in der magisch-mythischen Wirkung des Tötens. Mit der Rekonstruktion der Geschichte, ausgehend vom Ursprungsmythos, vollzieht Revueltas eine radikale Kritik der Diskurse einer Identität, die ihre Formen von der Negation oder Annahme eines als Ursprung gesetzten Prinzips bezieht. Eine der Folgen der Negationsgeste ist der Verrat am eigenen Volk, wie dies bei Adán geschieht, der in Bezug auf Natividad explizit als Caín bezeichnet wird. Tritt die Geste bei Adán noch in einer ursprünglich-mythischen Gestalt auf, ist Calixtos miserabler Mord am compañero indio nur noch eine automatische Zerstörung und der Schutz reiner Habgier, weit entfernt von jeglicher mythischen Aura. Es scheint, als läge die Formel eines erfolgreichen historischen Fortschrittes in Natividads Hand. Natividad ist eine cno/Zo-Figur par excellence. Sie wird mit rein christlicher Symbolik definiert, ebenso wie Cecilia - solange sie an Natividads Seite steht. Natividad weckt das im mythischen Schlaf versunkene indianische Temperament der Einwohner von Sistema de Riego, die daraufhin auch reformierende Schritte durchführen. In einer (groteskerweise in Adáns Gedächtnis aufbewahrten) Erzählung Natividads über eine Episode der Revolution, in der Natividad die Hauptfigur ist, wird die ethnische Skala der Möglichkeiten in der Landschaft Mexikos vervollständigt. Der aufgeklärte criollo Natividad ist in dieser Episode der Gegner eines weißen Hauptmanns, eines Aristokraten aus der Kadettenschule von Chapultepec, der Bildungsstätte der spanischstämmigen Elite (148). Natividad entlarvt den Hauptmann als Spion, überwältigt ihn heroisch im Zweikampf und rettet die revolutionären Truppen. Anders als der spätere Verrat Adáns an Natividad, der in Form einer, wenn auch negativen, doch menschlichen Schwäche erfolgt (Adán erschlägt Natividad hinterrücks), ist der Verrat des Spions der Bundestruppen die kaltblütige Falle eines Kodierungssystems, das die revolutionären Truppen mit Fata Morgana-ähnlichen Erscheinungen an die Grenzen des Wahnsinns48 treibt. Durch die hier vorgestellten vier ethnischen und kulturellen Typen hat der Erzähler den diskursiven Zusammenhang aufgedeckt, der die Bildung der mexikanischen Identi47 Anspielung auf Samuel Ramos' psychologisches Modell von Identität, in dem machismo als die Kompensation des lateinamerikanischen Minderwertigkeitskomplexes anzusehen sei. 48 Die ganze Episode mutet phantastisch an (146f.): Der weißhäutige Hauptmann, Spion der Bundestruppen Huenas', verrät jeweils die geplanten Bewegungen seiner Truppe, so daß diese den Eindruck hat, gegen den sich jeweils zeigenden und verflüchtigenden Gegner wie gegen ein Phantasma zu kämpfen. Der Hauptmann hat darüber hinaus die mysteriöse Erscheinung eines seelen- und leblosen Automaten. Erst Natividad deckt den Verrat auf und nimmt den Spion in heldenhaftem Kampf fest

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tat in den 30er Jahren bestimmt. Die Stilisierung der internen Widersprüche und des verschleiernden Gebrauchs der Diskurse hat nicht nur die Verzerrungen und den Mißbrauch des Identitätsdiskurses freigelegt, den Paz sieben Jahre später zu einer der Hauptthesen seiner "ontologischen" Bestimmung des Mexikaners machen wird, sondern eine radikalere Aufklärungsarbeit geleistet: Die vom Rhythmus der Erinnerungen rekonstruierte Genealogie zeigt die Gefahr eines Denkens in Kategorien von mythisch begründetem Ursprung und von dessen legitimer Verwirklichung, aus der sich notwendigerweise eine Geschichte von nicht mehr hinterfragten, weil mythisch begründeten Unrechtmäßigkeiten ergibt. Unter den Modellen von Identität stehen sich Adán und Natividad als konträre Pole gegenüben Das Mythisch-Apokalyptische gegen eine historisch aufgeklärte Heilsgeschichte; die isolierende Negativgeste gegen die solidarisierende Gemeinschaftserfahrung. Die durch Adán repräsentierte "einfache Form" der Negativität generiert historische Objektivationen, deren Degradation bis hin zum automatischen Töten als notwendige Folge gezeigt wird. Die messianische Form des Mythos hat dagegen keine Objektivationen in der Geschichte Mexikos. Noch mehr: Natividads Story wird in absentia erzählt. Er erscheint nie vor den Augen des Lesers, d.h. der Text berwahrheitet seine (mythische) Erscheinung nicht durch direkte Präsentation, sondern es ist gerade in Adáns Gedächtnis, wo die Lebensgeschichte des "Messias" aufbewahrt wird. Adán ist die noch nicht von der Zivilisation berührte, präkolumbische Barbarei49, die am Anfang und am Ende des mythischen Zyklus steht. Beide sind sich einander ausschließende Archetypen, zwischen denen das Bewußtsein des Mexikaners schwankt: eine negierte Vergangenheit, die als unbewältigter Mythos unter den Gestalten von "bezogenen Formen" wiederkehren kann, oder eine synkretistische, in die Zukunft projizierte Utopie. Natividad besteht nur im Bewußtsein des Mexikaners der 30er Jahre als Archetype der idealen Identität, jenes mestizo superior (Chávez), mestizo autóctono (Aguirre Cárdenas) bzw. jener raza cósmica, deren kreolische Seele bereits in der Mestizierungsdiskussion (Kap. IV) festgestellt wurde. Dieses politische Ideal zeigt im Kontrast um so deutlicher die Tragik einer Gesellschaft, die von der befehlenden Stimme eines Funktionärs gesteuert wird - der Stimme, die Adán mit den jeweiligen Morden beauftragt. Es handelt sich um eine Art mexikanischer Inkarnation des Dieu caché in der Gestalt des Mythos des Gottes

49 Die Metaphorik von Vasconcelos' Ulises Criollo fixiert ebenfalls das indianische Element auf eine mythische Prähistorie, die die Revolution entfesselt habe: "Cada revolución ha sido desencadenamiento salvaje que arrasa el trasplante europeo penosamente cultivado por mestizos y criollos. Así nuestras ciudades son islotes de un mar de incultura. Desde la época de las Misiones, la dificultad de penetración en la masa indígena explica el constante peligro de la idea cristiana, diseminada en un ambiente que sigue siendo azteca en su capa profunda [...]. El viejo instinto que pide sangre no estaba vencido" (1963:3 llf.).

186 Huitzilopochtli50, der erneut den Gang der Geschichte im Namen des revolutionären Fortschritts zum Stillstand bringt, Opfer abverlangt und Repräsentationen des Todes als Identität anbietet. Im Namen des Fortschrittes nutzt und fördert die Regierung die regressiven Triebe jener, die zu erziehen sie sich zur Aufgabe gemacht hat. Das Dorf regrediert, kommt zum Ursprung zurück, zum Stein. Es ist eine Sintflut ohne Reinigung; eine Fahrt mit dem Endziel basura, Abfall, begehrter Fraß der aztekischen zopilotes. Es ist die andere Seite des Ursprungsmythos des verlorenen Paradieses Quetzalcóatls; die Erscheinung der Utopie mit mythischer Regressivität. Diese luzide Analyse der Ambivalenz des revolutionären Messianismus wird noch deutlicher, wenn man im obigen Zitat Adáns die revolutionäre Metaphorik von Ordnung, Fruchtbarkeit und Wachstum (von unten nach oben) in Betracht zieht: Die Ambivalenz des revolutionären Mythos ist in dessen Erscheinung inhärent: Die zur Bebauung der Erde benötigte Handlung des Festtretens der Saat kann ebenso (aufklärerische) Ordnung wie Chaos der entfesselten Triebe schaffen. Der Aufstieg von Los de abajo ist ein potentieller arribismo. Diese Kritik an der Revolution ist nicht ideologiekritisch und ersetzt nicht eine historische (vergegenwärtigte) Form durch eine andere51, sondern ist diskursanalytisch. Sie zeigt, wie die im Mythos enthaltene Ambivalenz durch die historischen Diskurse zur Metasprache wird, was auf zweifache Weise geschieht: In der messianischen Gestalt der Diskurse (Vasconcelos) wird das ambivalente Erbe der Tradition eines Denkens in Zivilisation und Barbarei (Evangelisierung) übernommen; die Zerstörung des Anderen ist eine im säkularisierten Messianismus implizierte Geste dieses Erbes, sei dies in Form eines christlichen oder der Revolution zugrundeliegenden aufgeklärten Diskurses. Die Negationsgeste Adáns ist eine diffuse, ziellose Energie, die erst in der historischen Vergegenwärtigung zur Zerstörung des Anderen führt. Die Zielrichtung von Adáns Hand aber wird von der Regierung, vom mexikanischen Dieu Caché, der Revolutionspartei, bestimmt. Revueltas verwirklicht einen radikalen Realismus, der die historischen Wirkungen von mythischen Identitätsdiskursen entlarvt, und gerade wegen dieser Desakralisierungsgeste hat die Generación de la Onda, die letzte während der Studentenrevolte von 1968 engagierte Schriftstellergeneration, in Revueltas ein nachahmenswertes Vorbild gesehen52.

50 Symbolisiert durch den FIuB, der vor der Eindämmung im Sistema de Riego - und nach dem Scheitern des Bewüsserongsexperiments - wie das Ursymbol einer mythischen Schlange Ober Leben und Tod herrscht. Mit Kaktus, Adler und Schlange gab Huitzilopochtli das Zeichen zur Aufnahme der KriegszQge der Azteken. Diese Symbole stellen heute das Wappen des mexikanischen Staates dar. 51 Dies ist die Richtung der Analyse Rabadins und der meisten Interpreten, die versuchen, Revueltas "Meinung" bezüglich der "wahren" Revolution auf der Grundlage des Romans zu bestimmen. 52 Die Anziehungskraft von Revueltas' Negationsgeste auf die jungen Schriftsteller hinderte diese nicht daran, zunächst durch die Zerstörung alter Mythen neue Utopien gesellschaftlicher Regeneration aufzustellen. Nach dem Schock von Tlalelolco ist allerdings ein Wechsel in der Haltung der Onda festzustellen, und zwar im Sinne eines parodi stischen und ironischen Umgangs mit den eigenen neuen Mythen (vgl. meine Analyse der Erzählung José Augustins ¿Cudl es la onda? in 1991b).

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3. Der Cristero-Aufstand und die Rolle der Religion Die Figur des Pfarrers verkörpert die Institution der Kirche und - durch den Mord an Adán - ihr Versagen im mexikanischen soziopolitischen Kontext des 20. Jahrhunderts. Anders als in anderen hispanoamerikanischen Ländern, in denen die ursprüngliche Idee der salvación keine historische Realisierung erfahren hat und als Utopie, z.B. in der heutigen Theologie der Befreiung33, wirksam ist, hat der Erlösungsgedanke in Mexiko eine konkrete historische Gestalt in den Cräfero-Kriegen (1926-1929) gefunden54. Es ist ein pervertiertes Bild: Im wesentlichen den machtpolitischen und ökonomischen Interessen der Kontrahenten - der Institutionen von Staat und Kirche dienlich, in die sich der Imperialismus der USA gegen die Nationalisierungsversuche von Präsident Calles einmischt, opferte auch diese im Namen der campesinos entstandene "Gegenrevolution" das Volk mit der gleichen brutalen Gewalt, wie die Kämpfe der militanten Phase der Revolution es getan hatten. Auf der Vergleichbaikeit der Brutalität beider Revolutionsphasen insistiert der Text durch die Parallelisierung identischer Geschehnisse bei umgekehrtem politischem Lager95. Auch der Cristero -Aufstand fällt in die Reihe der historischen Phänomene, die sich durch die Wiedergewinnung verlorener Rechte legitimieren. Cristo Rey war der Schlachtruf, mit dem die von den aufständischen Pfarrern gegen die Konföderierten gehetzten Truppen von campesinos jenen Teil der Geschichte Mexikos geschrieben haben, in dem die Revolution mit der Drohung eines brutalen Bürgerkriegs in ihre Schlußphase getreten ist. Nach den Maßnahmen von Präsident Calles suchte die ausgeschlossene Kirche eine neue Identität als religiöse Institution, um sich im Kontext des Nationalisierungssogs eine mitbestimmende Rolle zu erkämpfen. Das Modell einer mestizierten Religion, über deren Bestand seit der Evangelisierung keine Zweifel existierten, bietet sich als Programm an, um im Namen einer autochthonen, mestizierten Identität in den Kampf zu ziehen: Sobre el tablero de la iglesia, en el atrio, donde fijábanse avisos religiosos, hoy un mensaje iracundo, con sus carácteres negros, con su negra cruz a cuyo pie podía leerse el nombre del obispo de Huejutla. Se trataba del célebre "Tercer mensaje al mundo civilizado", en que el audaz obispo llamaba a la rebelión (168).

53 Zu Engagement und politischer Rolle der Kirche in Lateinamerika vgl. bspw. Läwy, 1987 bzw. Cabestrero, 1981 und 1985. Zum politisch-religiösen Diskurs vgl. Vevia Romero, 1990. 54 Das Kreuz wird in der Oiiifro-Bewegung geradezu ein Symbol der Teología de la Liberación gegen die Teología de la Secularización, die von der Revolution betrieben wurde. Vgl. hieizu Nebel (1988a). 55 Bspw. Episode des Lehrers, dessen Zunge die Cristeios abschneiden, wobei sie ihn während ihm das Blut in Strömen aus dem Mund Läuft zwingen, Tequila zu trinken (vgl. parallele Episode in Guzmins La sombra deI caudillo) oder Adáns Brutalität während der Revolution und später die Gewalt der Konföderierten gegen die Cristeros: "No era distintiva la muerte de Valentín" (176).

188 Die Crijfero-Anführer nutzen den Identitätsdiskurs der Revolution bei Umkehrung ihrer Werte56. Die Kampfsolidarität der campesinos konstituiert sich durch die gleiche identitätsstiftende Geste der Negation gegen die "zivilisierte Welt", wie der ehemalige Aufstand der revolutionären Bauern gegen das Porfiriat. Letzteres galt als Symbol einer ökonomischen wie auch intellektuellen Entfremdung der Nation. Die Negativitätssgeste wird hier in der Gestalt einer doppelten Negation aktiviert: Bei den CristeroKriegen bezieht sich die erste Negation auf das Verbot der Idolatrie, d.h. der Götzenanbetung durch die römisch-katholische Kirche; die zweite ist die Negation dieser ersten Negation durch die Cristeros. Auch hier liegt eine mißverstandene Interessenkoinzidenz zwischen Anführern und Bauern vor: Letzteren sind die Dogmen, mit denen der weitentfernte Bischof von Huejutla wirbt, ebenso unbekannt und unbedeutend wie der Bischof selbst (168). Nur das Symbol des Cristo-Rey, jene von den Patres der Evangelisation bekämpften blutigen Idolfiguren, mobilisierten die Massen durch den Mythos der Rückkehr zum eigenen religiösen Ursprung: Sobre el desaliento del pueblo fincóse la sangre y se empezó a luchar sin sentido, al parecer únicamente con el sentido de acabar, de perderse. La cruz crecía. La cruz del milagro, empapada de sangre, como una planta, cruz monstruosa creciendo [...] (172). Auch der Cristero-Aufstand schreibt sich, wie die Revolution, in den Diskurs des Verlustes eines ursprünglichen Paradieses ein, dessen "bezogene Form" dem Verlust von Besitztum entspricht: Sólo podía explicarse por la desposesión radical y terminante de que había sido objeto el hombre, que si defendía a Dios era porque en él defendía la vaga, temblorosa, empavorecida noción de sentirse dueño de algo, dueño de Dios, dueño de la Iglesia, dueño de las piedras, de algo que jamás había poseído, la tierra, la verdad, la luz o quién sabe qué, magnifico y poderoso (172). Obwohl Agraristen und Cristeros gegeneinander kämpften, tun sie es im Namen des gleichen Mythos der Rückgewinnung ursprünglicher Besitzrechte: Die Agraristen in Form der das präkolumbische calpulli wiederherstellenden ejidos, die Cristeros in der Gestalt des Rechtes auf den Besitz Gottes. Auch die Cristeros benutzen den Diskurs der Enteignung urtümlicher Rechte auf eigene Götter. Der Roman von Revueltas zeigt die Konsequenzen solcher Diskurse: Erst der missionarische Diskurs der "wahren" Religion produziert in einem an kulturelle Wechsel gewöhnten Volk die Idee des Identitätsverlustes mit dem Verlust eigener Götter (vgl. Ursulo). Erst mit der Idee der Enteignung, d.h. des Verlustes einer eigenen Identität durch den Verlust der Götter wird auch das Bedürfnis nach einer Religionsmetaphysik geweckt. Die Objekte der

56 Die Kritik Revueltas' an der Cnjiiro-Ideologie. die im folgenden entwickelt wird, richtet sich gegen IdentiUUsdiskurse, die heute noch gelten (vgl. die Bewertung der Kreuz-Symbolik in der Teología de la Salvación durch Nebel und seine abschließenden Bemerkungen zu "hacia una cristología autóctona mexicana", 1988:185 [meine Hvhbg.)).

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diffusen Nostalgie können untereinander austauschbare Formen des Mythos übernehmen: Die alten Götter, Christus, oder der Besitz der Erde: Algo quedó faltándole al pueblo desde entonces. La tierra, el dios, Tláloc, Cristo, la tierra, sí. ¿Qué podía esperar ya? Los mismos hombres que construyeron teocalis macizos e incomprensibles, sangrientos tal vez, bárbaros, más tarde realizaron el prodigio de los soberanos, lineales, profundos templos católicos. Pero obsérvense en cualquier sitio, en Tlatelolco, en Puebla, en Guadalajara, en Oaxaca y hay ahí, entre sus piedras, trepando con lentitud extática, con ojos, una serpiente tristísima de nostalgia, que deja su interrogación, el aire imposible que se pregunta dónde y en qué sitio (171f.). Die Nostalgie des Ursprungs ist abrufbar als Movens für mythisch fundierte reivindicación-Modeüe. Der nostalgische Blick auf ein verlorengegangenes Anderes ohne Ort und ohne Zeit ist zwar auch das energetische Moment utopischen Begehrens und Quelle einer kulturellen Kreativität, als deren Zeichen der auch hier anklingende Barock57 zu werten ist und die das poetische Moment dieser Passage bestimmt. Mit der Ambivalenz der nostalgischen Schlange wird aber auch auf die verführerische Suggestion des Mythos hingewiesen, wenn er in der "bezogenen Form" auftritt, um nicht hinterfragbare Legitimationen zu generieren.

4. Eine Besonderheit der Identität des Mexikaners: Die Mutter als Hure Octavio Paz weist u.a. auf einen mexikanischen Gemeinplatz hin, nämlich auf den ambivalenten Charakter des Ausdruckes: hijo de la chingcuLf*. Die Beschuldigung der Mutter als Urheberin eines illegitimen Ursprungs bedeutet für die mexikanische Psyche, so Octavio Paz, sich für den aufgeklärten Fortschritt zu entscheiden, sich von der Last jenes Gründungsmythos der bastardía zu befreien, der trotz der positiven Bewertung der Mestizierung immer noch Grund für ein unterschwelliges Minderwertigkeitsgefühl ist, das den Mexikaner unbeweglich und rückständig macht. Die Beschuldigung der Mutter ist die machistische Lösung des Problems der bastardía,

57 Die Beschreibung der Kathedralen erinnert an Lczama Limas Darstellung des barocken Stils am Beispiel des Rhythmus in der escritura von Sor Juana Inés de la Cruz (vgl. Kap. V). 58 Vgl. den entsprechenden Abschnitt von El laberinto de la soledad. Carlos Monsiviis ironisiert die mythopoetische Interpretation durch Paz: "El primero que se acerca al tema desde las posiciones de la alta cultura y en plena reivindicación teórica es Octavio Paz, quien agrede a la materia prima de la poesía y en ese hermoso tratado de miüficación, El laberinto de la soledad (1950)..." (338); aber auch durch Fuentes: "En seguimiento de Paz, Fuentes le dedica una nemdiana letanía a la Chingada, la bautiza centro y esencia del lenguaje que es la nacionalidad, la conviene en orígenes, presente y futuro, 'chingada, pirámide de negaciones, teocalli del espanto" (1986[1977]:339).

190 während Paz und später Fuentes eine mythopoetische Lösung anbieten, indem sie die soledad bzw. orfandad (Paz, 1950) und bastardía (Fuentes, 1969) zum universellen Symbol der modernen Existenz erheben. Revueltas zeigt an verschiedenen Formen der Unfruchtbarkeit bei allen weiblichen Gestalten des Romans die zwei Seiten des Mythos: die Ablehnung der Mutterschaft und damit auch die Ablehnung zukünftiger Entwicklung und Geschichte oder Fortsetzung der Geschichte als Fortsetzung der Serie von Racheakten gegen die Urschuld. Cecilia ist die christlich-kreolische Gestalt, die ihre Verbindung mit dem Mestizen Ursulo als eine Schande empfindet. Die Folge ihres Schuldgefühls ist der Wunsch nach Zerstörung des Anderen, wobei sich hier in bitterem Sarkasmus der Todeswunsch auf die eigene mit Ursulo gezeugte Frucht, die Tochter Chonita, richtet, in der Cecilia die referencia de ambos, el lugar de cita (84) sieht. Das Modell des Ursprungs aus der Vergewaltigung durch den Eroberer wird hier fortgeführt: Cecilia, eine christliche Heilige, die criollo-Frau, wird durch den Mestizen vergewaltigt, der mit diesem neuen Verschulden die Schuld des weißen Großgrundbesitzers an seiner eigenen Mutter rächt. Die mythisch interpretierte Schuld Cortés' produziert eine historische Serie von schuldhaften Rachakten. Fortpflanzung und historische Entwicklung nehmen damit notwendigerweise die "bezogene Form" der Rache, für die der Sexus und/oder die Pistole zur Verfügung stehen - beides in der Hand von Ursulo und Calixto. Calixto schlägt bspw. seine Frau, eine ehemalige, nach Beendigung der Revolution gleichsam erbeutete Prostituierte, weil sie trotz eingebildeter Schwangerschaften unfruchtbar ist: "Nunca había tenido hijos y su marido le golpeaba el vientre abultado, para que pariera" (36). Ablehnung der Mutterschaft ist der konsequente Schutz gegen solche Repräsentationen von Identität und die andere, die feminine Seite des (sterilen) Negativitätsdiskurses. Die Negation des Ursprungs, der Malinche und ihres Geschlechtes, kommt der Negation des Lebens gleich. Adáns Frau, die Borrada, hat die Aufgabe auf sich genommen, die Schöpfung des mexikanischen Geschlechtes zum Stillstand zu bringen: Die Beziehung Borrada-Adán ist ein Zitat der Geschichte von Malinche und Cortés. Die Analogie ist weitreichend und präzise. Adán schlüpft exakt in Cortés Rolle, nicht nur indem er die Indio-Dörfer ausnutzt, als er von der Regierung mit den Belangen der indianischen Bevölkerung betraut wird, sondern weil er sich mit einer Indianerin, Borrada, die ihm der Dorfkazike zum Geschenk macht, vermählt. Die Analogie mit der Gründungsgeschichte von Malinche-Cortés schließt auch die Übersetzungs- und Beraterfunktion der Frau59 ein, mit dem Unterschied, daß Borrada, die Seherin mit schamanischen Fähigkeiten, es ablehnt, das Schicksal der Malinche zu wiederholen und das Mestizengeschlecht fortzupflanzen. In Umkehrung der

59 Borrada warnt Adán; sie muß Kontakt mit den Helfern Adáns unterhalten usw. (165f.).

191 Namensymbolik, läßt sich Borrada von der bruja Demetria60 unfruchtbar machen. La Borrada, die Adán bis zur Selbstauslöschung "gehört"61, die Magdalena Adáns62, will die Geschichte zur Erstarrung bringen; sie will den Tod der Rasse, um nicht das Gift der reivindicación fortzupflanzen. Letzteres war der Wunsch des Dorfkaziken: Temeroso y lleno de presentimientos oscuros, Gregorio había pronunciado estas palabras en las que se encerraban sus más ardientes deseos. De tener un hijo la Borrada ese hijo se volvería la tierra misma resurrecta en lobo y otra vez con la serpiente viva, con la serpiente emperatriz y la sangre renovada con otro, singular veneno (126). In diesem mexikanischen Genesismythos fehlt das Totem des keimenden Schoßes der Mutter, die den von der Apokalypse erlösenden Gott gebiert. Der ursprüngliche Mord an den Göttern der Mutter, an deren Sprache und an deren Kultur löscht die Möglichkeit der Geburt eines aus der Kette von Vatermorden erlösenden Sohnes. Das Geschlecht des Mestizen ist zum Vatermord verdammt. Es ist eine Folge der auf dem Ursprungsmythos der desposesión basierenden Identität, die eine unkontrollierte Serie von Emanzipationsversuchen der Söhne auslöst, die auf der einen Seite (Mutter) durch die Schuld und auf der anderen Seite durch einen unüberwindbaren Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem neuen Gott, dem Eroberer, dem Vater, bestimmt sind. Die "Schuld" ist an der Basis des Bewußtseins des mexikanischen Volkes. Es ist die Schuld der Mutter, der Identifikationsfigur gegen den unterdrückenden Vater. Das Schicksal des Mestizen hat unter dieser Perspektive keine Aussicht auf Erlösung. Zwischen Gewalt und Schuld ist das aus diesem Eltempaar geborene Geschlecht zum Tode prädestiniert - als Opfer oder Henker, ein Geschlecht von Kain, von durch die Schuld der Mutter gebrandmarkten, sich gegenseitig zerfleischenden Kindern: Era una diosa que iba a parir su cuchillo de obsidiana, negro y brillante. Llegaba ahí, callada, cumpliendo su destino. ¿No debía ir hacia ellos para que todo se cumpliera? Estaba hecha por la muerte: la muerte de los suyos, la muerte de su tiempo, y algo fatal y resignado la hacía esperar (63). Das Alte Testament legt den Sündenfall in die Verantwortung der Frau. Christus, der Gottessohn, opfert sich als Mensch und erlöst Eva von ihrer Schuld. Die christlichkatholische Heilsgeschichte hat ihren Ursprung im Namen der Mutter, der Heiligen Maria. Die Identitätsgeschichte des Mexikaners hat zwar auch eine eigene Virgen mit der dunklen Haut, die Virgen de Guadalupe, kreiert, doch wirkt der Urspmngsmythos der Malinche weiter: Das "zivilisierte" Subjekt muß in sich den Mythos der Urmutter

60 Demeter ist die FruchtbarlceitsgOttin des griechischen Panlheons. 61 "La Borrada no existía de tan rotunda como era su presencia, su abandono. Malintzin de tierra, otra vez en la tierra" (128).

62 "Luego por las tardes, mientras el sol cala de un lado, por otro la Borrada inclinábase para lavar los pies de su marido [...] Era entonces como un pediluvio litúrgico en que, acaríciadoramente, la mujer sentía en sus manos aquellas extremidades duras y calientes de Adán" (127).

192 töten, muß Muttermord begehen. Die Folgen des Mythos sind entsprechend der Darstellung Revueltas' anders, als sie Octavio Paz und, mit ihm, Fuentes sehen möchten: Anstelle einer poetisierenden Metaphysik der tragischen orfandad, zeigt dieser Text eine auf Negation basierende Identität ohne Hoffnung auf Erlösung in einer auf Opfer gründenden Gesellschaft ohne Totem. Es handelt sich um ein generalisiertes Töten oder um den Selbstmord der Rasse. Borrada tötet das Geschlecht im Keim. Sie ist subversiv, wie ihr Name: La Borrada, die Ausgelöschte. Dieser durch die Eheschließung mit Adán angenommene Name legt das Gesetz offen: Der Name, der sie identifiziert, löscht sie gleichzeitig aus. Es ist ein in der Verweigerungsgeste subversiver Name, der das Dilemma der Identitätsproblematik des Mexikaners dekuvriert; eine Identität, die weil sie durch die Negation des Anderen bestimmt ist, auch die Auslöschung des Selbst zur Folge hat63. Bereits in einer Zeit, in der der Mythos des verlorenen Paradieses und die damit zusammenhängende Idealisierung des Indios und der mestizierten Identität zu einem wichtigen Teil des offiziellen politischen Diskurses gehören, zeigt dieser Text die zerstörerische Rolle dieses mythischen Ansatzes. Borrada "löscht" sich selbst und ihre Rasse aus. Als rein indianisches Wesen bleiben im Roman nur die Aasgeier, ein, wie der Erzähler kommentiert, rein indianischer Name. Der letzte Blick des Romans ist der kalte Blick des Aasgeiers auf der Suche nach der charogne (181). Es ist ein Schicksal, das die hijos de la chingada einholt, wenn sie sich zwar auf den Fortschritt einlassen, aber auf den Ursprung als Identitätszeichen fixiert bleiben: El mexicano tiene un sentido muy devoto, muy hondo y respetuoso, de su origen. Hay en esto algo de oscuro atavismo inconsciente. Como ignora su referencia primera y tan sólo de ella guarda un presentimiento confuso, padece siempre de incurable y pertinaz nostalgia (143). Diese bei Paz' El laberinto für die Bestimmung der mexicanidad ontologisch ausgelegte These wird von Revueltas' sarkastischer Kritik in allen Implikationen für die Geschichte Mexikos im voraus widerlegt. Die Fixierung auf den präkolumbischen Ursprung wird in die physische Konsequenz des lebendig Zerfleischtwerdens durch die mexikanischen Vögel mit aztekischem Namen münden, auf die die Mexikaner schon immer den Blick richten, gebannt wie vom Blick der Medusa64: El hombre va hacia ellos (zopilotes) y se defiende con la tierra o el fuego, al morir: Ellos esperan. Su turno está escrito (186).

63 Bei der Symbolik des Namens Borrada sieben jene resistenten Kräfte der Sprache gegen die Vereinnahmung durch Diskurse, deren Besprechung Denida gerade an der Metapher des Namen entwickelt (vgl. Forget, 1988:317f.). 64 Rabadán interpretiert die Kritik am Indio, die er ausschließlich unter dem soziopolitischen Aspekt sieht, ebenfalls als eine ideologische Stellungnahme von Revueltas zugunsten der Befreiung von Atavismen, die gegen den Fortschritt wirken, d.h. zugunsten einer aufgeklarten Fortschrittsphilosophie, wie sie schon in Vasconcelos' Ulises criollo enthalten sei und durch einen religiös verstandenen Marxismus ermöglichen würde).

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5. Kulturelle Mestizierung 5.1 Ambiguität der mestizierten Symbolik Die Radikalisierung des Identitätsmodells der Negation aus der Perspektive des adamitischen Paares Adán-Borrada fördert die Kehrseite der Identitätsdiskurse zutage. Borrada umgeht den Ursprungsmythos - die Inbesitznahme der Malinche durch Cortés - durch Umkehrung der Namen, d.h. durch Umkehning der Symbolik (z.B. der Demeter als Fruchtbarkeitsgöttin). Die außerordentlich reiche Symbolik des Textes hat ähnliche Wirkung, und zwar besonders auf dem Bereich der für die Kultur Mexikos wesentlichen christlichen Archetypen65 und Symbole66, deren Ambiguität radikal offengelegt wird. Die positive Charakterisierung Natividads erfolgt bspw. durch direkte Anspielung auf das Neue Testament, wie auch Cecilia eindeutig durch Merkmale der Heiligen Cecilia kennzeichnet ist. Dies scheint zunächst die messianische Komponente des Mestizierungsmodells und damit einen wichtigen Teil des Selbstverständnisses des Mexikaners zu bestätigen, doch wird in diesem Roman der Wert der messianischen Symbolik schon durch den Platz dieser Figuren in der Konstellation fraglich (Vgl. 1.2). Im Zusammenhang mit den Crisfero-Kriegen wird schließlich die kulturelle Ambivalenz der christlichen Symbolik im mexikanischen Identitätsdiskurs mit der Episode des "mexikanischen Kreuzes" zur Schau gestellt: Valentin, ein Cmrero-Anführer, selbst ein sadistischer Mörder, wird an den kreuzförmigen Verzweigungen eines Kaktusstrunkes festgebunden und durch Adán gefoltert, bis er an den Verletzungen, die Adán an seinem gematteten Fuß zugefügt hat, qualvoll verblutet. Erst kurz vor Valentins Tod, als das Opfer schon ohnmächtig ist, erschießt ihn der die qualvolle Agonie aus kurzer Entfernung sadistisch beobachtende Adán. Nachdem der Körper entfernt worden ist, bleibt als Reliquie des Opfers ein großer Blutfleck auf dem Kaktus sowie das blutbefleckte Seil zurück. Am Fuße dieses Kaktus liegen drei indianische Klageweiber. Die Szene ist eine Verzerrung der Totenwache am Heiligem Kreuz durch Maria, Martha und Magdalena: ¿Por qué aquellas sombras sobre el entendimiento del hombre? He aqui que Valentín - un oscuro, fanático crimimal - habíase convertido en mártir, y en mártir de la religión. Con riesgo de su vida, los habitantes del pueblo peregrinaban en secreto, hurtándose a los federales, hasta el cacto, hasta la monstruosa y verdadera cruz mexicana, para orar bajo los tres o cuatro brazos siniestros de la planta.

65 Hier gemeint als abgerufenes kulturelles Motiv im Sinne Fryes. 66 Die christliche Symbolik spielt bei Objektivationen des Glaubenslebens sowie in der institutionellen Machtstruktur der geistlichen Hierarchie Mittelamerikas eine ausgeprägte Rolle (Janik, 1989:578 und Lustig, 1989).

194 El cura encontró ahí a tres mujeres, como si se repitiera, en verdad, el pasaje evangélico (177). Die Kontamination der Symbolik67 ist vielfältig: Einmal wiederholt sich die Szene des Todes Christi, wobei der Akteur hier ein im Namen des Cristo Rey handelnder Verbrecher ist. Das Kreuz, das nicht nur für das Christentum heilig ist, sondern auch in der Kultur der Maya68 eine magische Funktion hatte, wird durch den kreuzähnlichen, aber verzerrenden Stamm eines ausgedörrten Kaktus ersetzt. Die aztekische Symbolik des Kaktus ist andererseits ebenso grundlegend wie das Kreuz. Der Kaktus, auf dem sich ein Adler zusammen mit der Schlange niederläßt, war für die Azteken das Zeichen Huitzlipochtlis für den Beginn der Eroberungskriege; der Kaktus wird sodann besonders in der aztekischen Kultur mit dem Ursprung assoziiert. Dieses Bildes, dessen Symbolik sich auf eine Kultur mit ethnischen Differenzen und konkurrierenden Identitätsdiskursen69 bezieht, ist ambivalent und schwer verständlich. Die Erscheinung des Kreuz-Kaktus ist für den Pfarrer, von dem im nächsten Abschnitt die Rede sein wird, eine Blasphemie, denn er interpretiert den Kaktus als eine Mystifikation des heiligen Kreuzes - eine niedere, ausgedörrte Pflanze anstelle des Kreuzes aus Zedern- und Olivenholz; ein Verbrecher anstelle des Gottessohnes, wobei die Schockwirkung durch die Ähnlichkeit der Szene (die drei Frauen) verstärkt wird. Entsetzt veijagt der Pfarrer die Frauen, die verängstigt das Weite suchen. Den indianischen Frauen ist dieses Opfer, in dem sie die eigene Mythologie wiedereikennen, näher als die Dogmen der zum Krieg auffordernden Bischöfe. Die materielle Präsenz des angetrockneten Blutes, das groteske, stachlige Kreuz sind Zeichenkörper für die Repräsentation einer Realität aus Leiden jenseits jeglichen Identitätsdiskurses. Die schlichte Präsentation des Elendes ist für die Leidenden ein unmittelbarer Spiegel. Die campesinos erkennen sich in den Darstellungen des als Symbol für die CristeroKämpfe fungierenden blutbefleckten Cristo Rey ebenso wieder, wie im oben kommentierten mestizierten Kreuz. Die Ähnlichkeit des blasphemischen Kaktus-Kreuzes mit dem Kruzifix, das wichtige Symbol des Cristero-Krieges und ein Symbol, das mit realistischen Details den Gottessohn ebenso wie der ausgedörrte Kaktusstrunk grotesk verzerrt, zeigt die ambivalente Rolle der mestizierten christlichen Symbolik der Cristeros: Das Kruzifix des Cristo Rey erlaubte den Cn'siero-Anführem unter Rekurs auf den Mythos der

67 Im Sinne des Zusammentreffens heterogener Bildfelder bzw. heterogener Bereiche der Kollektivsymbolik im Sinne Jürgen Links (vgl. Vf.. 1985:31). 68 Mit seinen Untersuchungen bestreitet der Anthropologe Werner Müller gängige Theorien, nach denen der Kreuzkult des modernen Mexiko auf die Übernahme der Symbolik von der christlichen Religion durch die Maya zurückzuführen ist Zahlreiche Anwendungen des Kreuzkultes im Mayalande erleichterten zwar die Einführung der Katholischen Religion, doch beschrankte sich die Annahme der fremden Religion - so Müller - auf den bereits bekannten Kreuzkult (1964:342f.). 69 Eine solche Ambiguität kristallisiert sich bspw. im Kreuz, das die Zapatisten am Hals trugen.

195 desposesión, in demagogischer Ausnutzung der Erfahrung des Leidens70, den campesinos zu suggerieren, daß sie mit dem Kampf für den Cristo Rey die alten Religionen zurückgewinnen würden. Mit der Anspielung auf den vor dem Sündenfall der conquista existierenden paradiesischen Zustand versprachen sie auch das Ende des Elends. Im mestizierten Kreuz der Cristeros liegt jene eigenartige Verschränkung des auf die Zukunft gerichteten christlichen Heilsversprechens mit einem riickwärtsgewandten mythischen Blick vor, die der Roman, entgegen den Mythisierungen kultureller Mestizierung, auf allen Ebenen kritisch dekuvriert71. Die Mestizierung von Cristeround Revolutionssymbolik verläuft zwar in entgegengesetzter Richtung, doch mit gleicher Wirkung: Einerseits verschleiern die Cristeros hinter der Gestalt des Sakralen auch konservative, auf materielle Vorteile zielende Argumente (Rückkehr zum ursprünglichen Besitzrecht), andererseits hat die Mestizierung des aufgeklärten Fortschrittsgedankens mit christlicher Symbolik zwar eine revolutionäre, desakralisierende Absicht, doch läßt sie damit auch mythisch-regressive Impulse in das Bewußtsein einfließen. Die appellative Kraft von Revolution und Cristero-Krieg erklärt sich u.a. aus der mächtigen Präsenz der Diskurse über Ursprung, Enteignung und Rückgewinnung im Modell der Mestizierung und im Bewußtsein des Mexikaners, jenes Mestizen, dessen Vertreter in diesem Roman Ursulo ist. In Ursulos scheinbarem inneren Monolog auf dem Weg zum Pfarrer in der Nacht des Todes von Chonita wird die Präsenz solcher Mestizierungsdiskurse dargestellt. Am Beginn der langen Sintflut, schon mitten in der apokalyptischen Anblick der Wassermasse, hält sich Ursulo an den ihm verfügbaren Identitätsbildem fest: Siempre un cura a la hora de la muerte. Un cura que extrae el corazón del pecho con ese puñal de piedra de la penitencia, para ofrecerlo, como antes los viejos sacerdotes en la piedra de los sacrificios, a Dios, a Dios en cuyo seno se pulverizaron los ídolos esparciendo su tierra, impalpable ahora en el cuerpo blanco de la divinidad (12). Daß der Text nicht das Bewußtsein der Figur realistisch modelliert, sondern einen Diskurs überzeichnet, wird durch diese Passage deutlich72. Aus einem übergeordneten Standpunkt, der an den chirurgischen Blick Flauberts auf Madame Bovary erinnert, beschwört der Erzähler auch hier die das Bewußtsein der Figur bestimmenden Diskurs70 Die Tendenz des Mexikaners zur idolatrischen Auslegung des Christentums wird - so die Interpretation Revueltas'von den Cristero-Anführern systematisch benutzt: "A todos los rincones llegó Cristo Rey y se le vela en las casas, en las habitaciones, en las vecindaces, en los miseros talleres de artesanos, y como Sagrado Corazón de Jesús, rojo, sangriento [Anspielung auf das aztekische Herzopfer], con llamas en el pecho y una herida entre los ventrículos de la ardiente viscera, o ya como Cristo del Veneno, ennegrecido, lleno de humo, madera sin luz, o en las imágenes locas, con llagas en las rodillas, con sangre en la comisura de los labios y una mirada de extravio" (170). 71 Vgl. meine Kritik an Paz' und Fuentes' mythopoetischer Auslegung der Kulturmischung in 8.2. 72 Die Mikrostnikiur dieser Passage Obersteigt Ursulos Wissen und sprachliche Fertigkeit Auf derartige, die Wahrscheinlichkeit durchbrechende Formen eines inneren Monologs bezieht sich das Urteil der Kritik über das Unvermögen Revueltas', realistisch zu schreiben.

196 konfigurationen an die Oberfläche. Es sind Diskurse, die als gängige Thesen für die kulturelle Selbstinteipretation der mexikanischen Kultur noch eine lange Wirkungsgeschichte auf essayistischer und wissenschaftlicher Ebene haben werden. Im Gegensatz dazu geht dieser Roman von Revueltas mit solchen Diskursen subversiv um; nicht etwa, weil die Darstellung Werte umkehrt, sondern weil die überaus stilisierte Kohärenz der Diskurse ihre Logik ins Gegenteil umkippen läßt und ihre Kehrseite zutage fördert.

5.2 Die Kehrseite der Symbolik Mit dem Ansteigen des Wassers wird der Verweis auf den Fluß, der das Dorf von den Aussiedlern und somit vom Zentrum der Handlung trennt, zu einem obsessiv wiederkehrenden Gedanken der Rahmengeschichte. Die Überflutung und Überschwemmung des Flusses73 symbolisiert eine Metamorphose von lebensspendenden in -tötende Kräfte und bezieht sich auf die mythische Transformation der gefiederten Schlange Quetzalcöatl, Symbol für Fruchtbarkeit, in die Giftschlange, in den Gott HuitzilopochÜi. Wasser ist Ursprung. Als fons und origo trägt es in sich die Dualität "Tod-Wiedergeburt" der Natur, wobei sowohl in der Genesis als auch in der Sintflut der Naturmythos Reinigungs- und Schöpfungsmotiv ist. Im Gegensatz dazu repräsentiert die Geschichte dieses Romans die Wiederentstehung des Chaos, und zwar im sozialen und politischen Bereich: Die Wasserschlange verliert die positiven Konnotationen des Schöpfungsgottes Quetzalcöatl und der biblischen Repräsentation und wird zum Zerstörer, zum Träger des Giftes eines blinden Hasses, der das Land in einem gewaltsamen Bürgerkrieg teilt: Un terrible rfo fue establecido a la mitad del pais entero. Rio sucio, con sangre, con ojos ciegos, con dientes apretados (170). Wasser ist auch das sakrale Element, in das Borrada die Füße Adäns liturgisch eintaucht (S. 24) - eine der wenigen positiven Stellen des Romans; eine isolierte Stelle, ohne kohärente Erklärung in der Ursprungsthematik. Dieser Bruch - gleichsam die diskursive Freiheit, auch dem Antichrist eine Idylle zuzugestehen -, steht im Zusammenhang mit einer anderen Perspektive des Romans, die sich beim Pfarrer entwickelt. Der Pfarrer ist die Figur mit der aus der Sicht orthodoxer Moral negativsten Transformation: vom Theologen zum blinden Mörder Adäns und dessengleichen. Mit dieser Transformation ergibt sich im Zusammenspiel mit den Erinnerungen des Pfarrers auch 73 Die Einwohner sind resigniert gegenüber der mythischen Macht des Flusses: "Es nuestra madre y nuestro padre. A veces nos da y a veces nos niega. Entre sus manos moriremos. Río turbio, jamás de agua clara. De ahí los cuerpos cenizos, la ropa percudida" (166f.). Die gleiche resignierte Haltung ist charakteristisch für El llano en Ilamas von Juan Rulfo.

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eine Seite der Symbolik, die sich anders als die bisher aus der Kohärenz der Identitätsdiskurse gewonnenen Konfigurationen stellt. Während der Erinnerungsstrom der übrigen Figuren im Kontext der Handlung unmotiviert ist und keinen individualpsychischjn Prozeß modelliert, sondern Versatzstücke von Diskursen, gleichsam die Archetypen74 der kollektiven Identität des Mexikaners an die Oberfläche fördert, durchläuft der Pfarrer einen Bewußtseinsprozeß. Während die Erinnerungen der anderen unkoordiniert hochgespült werden, wie die Leiche des ermordeten Adán immer wieder im Wasser erscheint, haben die Erinnerungen des Pfarrers eine innere Kohärenz. Dies ist die konstruktive Seite der bisher beobachteten kritischen Geste des Romans.

6. Eine andere Form von Genesis Die Institution der Kirche hat in Mexiko versagt73. Die Cristero-Kriege haben eine Wiederholung der mit der Evangelisierung begonnenen Ausbeutung des mexikanischen Volkes herbeigeführt. Eine solche Botschaft scheint zunächst die kreolische Figur des ehemaligen aufständischen Cris/ero-Pfarrers ausdrücken zu wollen. Über die gängigen Interpretationen hinaus, die den Pfarrer als Opponenten des vermeintlichen Protagonisten Natividad (Rabadán) oder als Hauptfigur einer kritischen Auseinandersetzung mit der mexikanischen Kirche (Trigo) ansehen, gibt Revueltas dem Pfarrer einen der zentralen Rolle der Kirche in der mexikanischen - und lateinamerikanischen -Kultur angemessenen Stellenwert, und zwar als Kristallisationspunkt von kulturellen Fragen und Fragen der Kommunikation. Mit der Figur des Pfarrers differenziert sich die Analyse der Bedeutung von Kultur für den Menschen. Der letzte Weg der Bewußtwerdung des Pfarrers geht in eine andere Richtung als der Wunsch des Mestizen Ursulo nach Identitätsbildern, welche die Genesis seiner dunklen Rasse in Form einer Transformation vom Stein zum Lebewesen bzw. zum Menschen ermöglichen. Die Genesis des Pfarrers - génesis oscuro • wird durch eine Metaphorik76 gezeichnet, die diese Figur vom theologisch Fragenden zum Tier bzw. Stein macht, wodurch jene von Ursulo sehnsüchtig erwünschte Identität, die Identität 74 In diesem Zusammenhang wird der Begriff im Jungschen Sinne verwendet. "Archetypus" meint den Inhalt des kollektiven Unbewußten. Diese gestalten, wie die mythischen Paradigmen Eliades, das historische Bewußtsein. 75 Dies ist eine allgemeine Beobachtung der Sekundärliteratur. Entsprechende Indizien werden darin gesehen, daß der Pfaner sein Amt nicht ausfuhren kann: Seine Kirche ist durch den Fluß von der verbliebenen Gemeinde getrennt Er fahrt nicht, sondern laßt sich führen, spendet nicht Trost, sondern verbreitet Hoffnungslosigkeit; schließlich verläßt er als Kapitän des Rettungsschiffes in der Sintflut das Schiff. Derartige Befunde dienen als Stütze der jeweiligen auf die Makrostruktur bezogenen Interpretationen: Rabadán sieht in der Koinzidenz der christlichen Symbolik bei Natividad und dem Scheitern des Pfarrers die These bestätigt, daß der Roman einem leninistischen, gemäßigten und christlichen Kommunismus die Führungsrolle geben mochte. Trigo sieht darin die Kritik an der Institution der Kirche, die er zu entkräften versucht. 76 Es ist eine fortschreitende Tierwerdung (68) und Versteinerung (70f.), was von der Kritik allein als Zeichen progressiven Scheiterns des Pfarrers angesehen wird.

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der zivilisierten Welt, verlorengeht. Gerade durch den Identitätsverlust erreicht der Pfarrer es aber, die Sinnfrage nach der menschlichen Existenz anders zu stellen. Das Schicksal des Geistlichen führt zur Negation der Legitimität eines Denkens in Kategorien der Identität und zur vorsichtigen Formulierung einer anderen Frage: Der Frage nach der humanidad, erstmalig gestellt als eine Frage nach dem Nächsten. Der Bewußtseinsprozeß des Pfarrers läßt sich als ein progressives Lernen, den anderen Menschen zu verstehen, kohärent beschreiben: Am Anfang identifiziert der Pfarrer Ursulo und Adán aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit und verspürt Angst und Abneigung gegenüber der ethnischen und religiösen Fremdheit dieser Gestalten. Sein Blick erinnert an Kulturtourismus. Aus der Perspektive des Pfarrers erscheinen Ursulo und Adán wie die Illustration von Rassentheorien und vom Glauben an die Minderwertigkeit des Indios (vgl. IV); ein ethnologischer Blick ergänzt außerdem die MayaMeikmale mit malerischen Details: Pequeño, ligeramente desconfiando, el cura miraba con atención a los dos hombres, sin comprenderlos, tan iguales y diferentes a la vez. Adán sin ojos, el rostro feo, huidiza la frente, el pelo duro y brutal. Ursulo impenetrable, recogido. Los labios tenían en ambos una manera de no expresar nada, carentes de sensualidad, pero simultáneamente gruesos y bellos. Tan sólo bocas fuertes, esculpidas, cubriendo la apretada dentadura de elote. Sin ojos. No se les veían, en efecto, hundidos, y espesos: piedras ágiles, secas vivas y afiladas: piedras que podrían cortar y también ver en la noche, pues en ella estaba su origen y más que ojos eran una sombra helada (22). Die Exotik des Blickes steigert sich bei der Beobachtung des dem Tierreich noch ganz nahestehenden Adán, eines mysteriösen, ambivalenten Wesens, das nur mythisch interpretiert werden kann - gleichsam die Verkörperung des Blutopfer fordernden Gottes Huitzilopochtli: El cura lo miró profundamente. Hombre extraño éste que se le presentaba con su simplicidad, su dureza suave, su exactitud. Era imposible conocerlo - y hasta de oídas resultaba irreal, mitólogico -, fuera de cierta cosa vaga y siniestra. Sin embargo era dulce. Tal vez matase con ternura, cariñosamente, porque el homicidio parecía serle sensual y cálido, y la tibieza de la sangre necesaria como necesario el sobrecogedor poder de arrebatar la vida (22). Die Reaktion des Pfarrers gegenüber den Fremden ist eine Mischung aus Angst vor der Andersartigkeit dieser Wilden und christlichem Mitleid: Una angustia desprovista de fuerza, cual si estuviera rendido de cansancio, se apoderó del cura y de su pobre alma llena de vaga piedad. Juzgó preciso negarse (22). Erst im Kapitel VI vollzieht sich die Metamorphose des Pfarrers. Er gibt die oben beobachtete Unfähigkeit, zu verstehen und zu kommunizieren, allmählich ab und kommt dem Anderen näher. Letzteres koinzidiert aber paradoxerweise mit einer

199 progressiven Tier- und Steinwerdung. Die Öffnung des Pfarrers zum Nächsten fällt mit seiner Akzeptanz der eigenen Ohnmacht zusammen, die er durchlebt, bis er durch den Mord an Adán diesem gleich wird. Nur unter der Bedingung eines physischen und psychischen Degradadierens und eines progressiven Verlustes der Sicherheit über die eigenen hermeneutischen Grundlagen gewinnt er an Menschlichkeit. Am Schluß kann er mit anderen Menschen kommunizieren, wenn auch nur durch den Mord.

6.1 Génesis oscuro Die sintflutartige Situation ist eine Genesis - sagt der Erzähler durch Ursulos Stimme un génesis oscuro (64). Genesis, ebenso wie Exodus und Sintflut sind als Archetypen mit anderen Vorzeichen als die biblischen Vorlagen realisiert. Die Sintflut bringt keine Reinigung, sondern Tod als basura, als Abfall: "TzotT, basura. 'Pilotl', acto de levantar o recoger. Basura, basura infinita" (182). Der Exodus gelingt nicht. Die Flüchtlinge bewegen sich nicht von der Stelle. Genesis wird schließlich die Geburt zum Tode. Die Regression des Pfarrers ist zugleich die äußere Versteinerung im Sinne der physischen Erstarrung beim eintretenden Tod und eine innere Menschwerdung, die sich mit dem allmählichen Verlassen seiner theologischen und philosophischen Identitätsbilder vollzieht, bis eine einzige Evidenz übrigbleibt: die des Todes, der Vergänglichkeit und Zeitlichkeit: Se abandona la vida y un sentimiento indefinible de resignación ansiosa impulsa a mirar todo con ojos detenidos y fervientes, y cobran las cosas su humanidad y un calor de pasos, de huellas habitadas. No está solo el mundo, sino que lo ocupa el hombre. [...] Existo y me lo comunican mi cuerpo y mi espíritu, que van a dejar de existir, he participado del milagro indecible, he pertenecido (91). Die Geburt des Pfarrers zum Menschen koinzidiert mit seinem Tod als Subjekt sowie mit der Aufgabe des von seiner Identität bestimmten Alteritätssystems: Der Pfarrer erinnert sich an die Kardinalmomente seiner theologischen Laufbahn. Auf der Suche nach der Definition des Guten und auf der Suche nach Gott ("¿Qué era el bien [...] ¿Eran el bien los Mandamientos? [...] ¿Amar a Dios sobre todas las cosas? ¿Y dónde Dios?" [68]) bleibt ihm das Gebet eines Indios im Kloster von Santo Domingo in Oaxaca 77 in Erinnerung. In dieser Erinnerung kehrt der touristische Blick, der zu Beginn der Handlung auch der auf Adán und Ursulo gerichtete Blick des Pfarrers war, jetzt bei kunstinteressierten fremden Besuchern der Kirche wieder:

77 Revueltas beschreibt diese älteste Kirche Oaxacas (S. 69), eines der herausragendsten Beispiele des banoco americano als eine Art Indianisierung der Architektur durch die Wucherung des barocken Details (vgl. Kap. V, den Begriff der indiatide von Lezama Lima). Diese These illustriert auch der Kunsthistoriker François Cali bei entsprechenden Kathedralen und Kirchen von Mexiko und Peru, u.a. die von Revueltas hier gemeinte Kirche von Santo Domingo in Oaxaca (1960).

200 Unos extranjeros que admiraban el sitio detuviéronse para mirar al indígena, y en sus rostros se dibujó un asco y una satisfacción. 'Pobre -pensaron quizá-, muy pobre. Pero esto es una actitud típica, genuina'. Y apuntarían: "[...] en México los indios lloran frente a las imágenes blancas, lamentándose en su idioma. Creen que Dios es Quetzalcóatl, que vendrá a redimirlos"78 (70). Die Stilisierung ironisiert die stereotype79 Wahrnehmung der Touristen, die zwar das Gebet eines Indios nicht verstehen, aber die Szene durch eine automatische Zuordnung zu kulturellen Stereotypen übersetzen80. Diese Übertragung dient der Selbstbefriedigung bzw. der Bestätigung der eigenen Identität, die damit das ekelerregende Andere beherrschen und verstehen kann. Hier ist es der retrospektive Blick des Pfarrers, dessen Metamorphose nach dem Zusammentreffen mit Adán und Ursulo begonnen hat81, welcher die Szene stilisierend bzw. kritisch komponiert. Mit dem touristischen Blick kontrastiert nun in der Erinnerung des Pfarres auch sein auf die Situation bezogener, emphatischer Blick. Entgegen der Haltung der Touristen, die das sprachlich unverständliche Gebet des Indios mit dem Rekurs auf den Quetzalcóatl-Mythos rationalisieren, versucht der Pfarrer, sich der Sicht des Anderen anzupassen und die Heiligenstatuen mit den Augen des Indios zu betrachten, während gleichzeitig das unverständliche Gebet nicht inhaltlich, sondern als ästhetisches Medium und als Träger kultureller Traditionen beeindruckt, die hier einfach konstatiert werden, ohne sie in eigene Verstehenssysteme zu übersetzen: No habían muerto aquellos mártires llenos de súplicas terribles, a pesar de la decapitación. Ojos abiertos, los suyos, con espanto tranquilo para mirarse cómo le brotaba del cuello la sangre y una vena perpetua. [...] De aquel hombre partía la voz desafmada y monorrítmica, triste como el silabar de una flauta de barro [...] Lloraba en su lengua zapoteca lágrimas viejísimas. 'Patroncito' decía en español, y después las voces de su pueblo (70). In der zweiten Episode ist es ein nachts dringend die Beichte suchender Bauer, der dem Pfarrer eine mögliche Antwort auf die Frage nach der Präsenz Gottes liefert: Nicht im moralisch höherstehenden Menschen ist Gott zu suchen, sondern eher im Tier, das mehr humanidad zeigt (71 f.). Der Bauer, der sich in Todsünde glaubt, weil

78 An dieser Stelle ist hervorzugeheben, daß der Mythos des kommenden Gottes Quetzalcóatl, der in den Essays von Octavio Paz und Carlos Fuentes (Tiempo mexicano) wesentlicher Teil der kulturellen Symbolik ist, bei Revueltas als touristisches Klischée erwähnt wird. 79 Stereotype verstanden als "représentation collective [...] constituée par l'image simplifiée d'individus, d'institutions ou de groupes (Willems, 1970:277) bzw. "idée préconçue, non acquise par l'expérience" (Sillamy, 1980); beides zitiert nach Amossy, 1989:33. 80 Eine vage Anspielung auf die Wissenschaft (Schreiben von Notizen) laßt auch an die Haltung jener Forschung denken, die eine etwaige genuin-authentische Kultur mythisch interpretieren will (Quetzalcóatl). 81 "Senda cómo, poco a poco, se iba conviniendo en piedra y la sensación lo conmovía hasta lo más profundo porque era cierta. La planta de los pies, primero, como una lámina, en piedra, como un catafalco./ ¿Qué era el bien?, meditó. El bien consistía en que los hombres llorasen, estremecidos de su propio corazón. Que lo tomaran para ver cómo era, de animal, de furia, desconsolado" (68).

201 er seinen Hund zu Tode geschlagen hat, rüttelt an den festen Wertesystemen des Pfarrers. Die dritte Episode konfrontiert diesen mit seiner eigenen "Animalität", d.h. seiner fehlenden Menschlichkeit: Als eine sterbende Frau sich ihm gegenüber entblößt und seine Hand auf ihre Brust legt, flieht der Pfarrer, ohne der Pflicht zur Abnahme der Beichte nachzukommen, unfähig, Erbarmen für diese Kreatur zu empfinden, die sein Selbstverständnis als Priester in Gefahr bringt. In der vierten Episode ist der Pfarrer schließlich fähig, eine Prostituierte freiwillig zu lieben, nachdem sie ihn respektiert und ihr eigenes Bett als Herberge angeboten hat. Im Erinnerungsprozeß wächst das Vermögen des Pfarrers, retrospektiv jenen Anderen zu verstehen, den er zunächst touristisch aus der Ferne gesehen hatte. Durch die Konfrontation mit der Erinnerung aus der Perspektive des Verlustes von Identitätswerten lernt der Pfarrer eine hermeneutische Kompetenz anderer Art, zu der auch die Annahme der eigenen Misere gehört. Dies geschieht ebenfalls in der retrospektiven Schau der CristeroKriege, in der letzten Phase der bereits besprochenen Hinrichtung Valentins am Kaktus. Beim Anblick des Kaktus mit der Form eines Kreuzes, auf dem das Menschenopfer dargebracht wurde, - ein Anblick, auf den der ehemalige Priester mit heftiger Ablehnung reagierte, entdeckt er aus der Perspektive der Erinnerung die Zeichen einer Erfahrung des Leidens und lernt gleichsam den blasphemisehen Blick der Frauen am Fuße dieses Kreuzes anzunehmen. Mit dem Sinnbild der Perversion der Cristero-Kñege akzeptiert der Pfarrer immer mehr, daß das einzig authentisch Menschliche die Annahme des Leidens und nicht dessen Überwindung durch eine metaphysische Sinnsuche ist: ¿Por qué aquellas sombras sobre el entendimiento del hombre? He aquí que Valentín -un oscuro, fanático criminal- habíase convertido en mártir, y en mártir de la religión. Con riesgo de su vida, los habitantes del pueblo peregrinaban en secreto, hurtándose a los federales, hasta el cacto, hasta la monstruosa y verdadera cruz mexicana, para orar bajo los tres o cuatro brazos siniestros de la planta [...] entonces el cura se sentó sobre una piedra, con la cabeza entre las manos, y se puso a llorar. Él tampoco tenía Iglesia. Tampoco tenía fe. Ni Dios. (177). Während der Pfarrer eine Regression in niedere Existenzstufen durchlebt, entledigt er sich seines diskriminierenden Blickes. Die im Schiffbruch seines Lebens • eine wiederkehrende Metapher - gewonnene neue menschliche Qualität ist nicht mit dem Ziel einer Wiedergeburt gekoppelt. Umgekehrt: Die Regression im Sinne der Annullierung von Subjektkategorien, insbesondere des Eikenntnissubjekts, ist die Endstation der Odyssee des Paters: Detúvose desprendiendo suavemente la soga que lo ataba a los demás y con la cual pretendían no perderse unos de otros. Sintió sin ver nada, rodeado por las nubes de la tormenta, náufrago celeste, cómo todos desaparecían sin advertir su ausencia. [...] No era un capitán de navio el que se abandonaba a la muerte, de

202 rodillas sobre la cubierta sin tiempo. Era un pecador humano, antiheroico, transido por el mal, derrotado para siempre, caída la cabeza hasta lo más profundo del desconsuelo y la pena (67).

6.2 Revueltas' Antiheld: Eine síntesis negativa Im Prozeß der Reduktion des metaphysischen Begriffs von Mensch-Sein zur Evidenz elementarster Erfahrung des Leidens wird der Pfarrer zum eigentlichen Protagonisten des luto humano. Diesem aus theologischer Höhe in die Hölle irdischen Leidens gefallenen Engel wird die Moral des Romans anvertraut; eine Moral indes, die darin besteht, metaphysische oder ethische Identitätsmodelle des Subjektes zugunsten der Annahme der Verantwortung des Einzelnen in einer Existenz von Schuld und Leiden aufzugeben. Der Regressionsprozeß des Pfarrers steht außerhalb eines zeitlichen Zusammenhanges und jenseits der Opposition von Fort- oder Rückschritt82. Regression erweist sich bei dieser Figur weder als psychologische noch als temporale Kategorie, sondern als ein Zurücktreten von den Vorstellung der Identität als Mensch. Dieser Prozeß verlagert die Sinnfrage weg von der zeitlichen Kategorie eines mythischen Ursprungs, wie dies bei allen übrigen Figuren des Rahmens geschieht, aber auch weg vom Gegenteil, d.h. von der Foitschrittsgeschichte innerhalb der Binnenhandlung. Durch die Figur des Pfarrers geht die Leistung des Romans über die destruktive Arbeit an den Diskursen hinaus und entfaltet die konstruktive Seite der Diskursanalyse: Die Befreiung von einer Perspektive, die Kultur unter der Kategorie der Identität fassen läßt. Die Regression des Pfarrers steht jenseits der Verschränkung zwischen historischem Fortschritt und mythischem Regreß, für die das "mestizierte Kreuz" symbolisch ist, jenes Werkzeug demagogischer Praxis von Revolution und Gegenrevolution im Schein der mythischen Utopie mestizierter Symbolik. Der menschliche Weg des Pfarrers ist eine Teilhabe am Leiden, eine Menschlichkeit jenseits vom Ideal des Menschen. Daß Revueltas damit eine Kritik am zivilisatorischen Fortschrittsgedanken einer Revolution intendierte, die sich auf die Aufhebung kultureller Spannungen durch die Integration in die Synthese des Mestizen beruft, ist ein Ergebnis der hier vorliegenden Analyse. Die Globalgestalt des Romans ist die der Entpersonalisierung, d.h. die progressive Abnahme der Identität des Menschen, die mit der im Text wiederholt auftretenden Metapher der desaparición erfaßt wird. Dieser Entpersonalisierungsprozeß, der

82 Eine Opposition, auf der bspw. Rabadäns Analyse stehenbleibt, wodurch dem Roman eine bewerte nie Maral unterschoben wird: Vergangenheit und Gegenwart würden vom Erzähler kritisiert während zukünftiger Fortschritt mit dem reformistischen Modell Natividads als Utopie bejaht sei.

203 hier mit der Frage der mexikanischen Identitätsbildung eng verknüpft wird, tritt in allen Texten Revueltas'83 auf. Die doppelte Perspektive des Pfarrers im Hinblick auf das "mexikanische Kreuz", das aus der Sicht der katholischen Theologie und Moral als blasphemisch erscheint, während es in den Augen der indianischen Bevölkerung als Indiz für konkretes Leiden erfahren wird, führt zur Einsicht in die Ambiguität des symbolischen Gebäudes der mexikanischen Gesellschaft. Es wird klar, daß auch das sich in der Figurenkonstellation abzeichnende Wertesystem - etwa Adáns unterste Position in der Skala des Mensch-Seins, respektive des Pfarrers nach dem Mord an Adán - nicht nur ein arbiträr entstehender, Gewalt heraufbeschwörender Mythos ist, sondern auch zu einer Unterdrückung des "nächsten Menschen" führt. Mit dem Gewinn dieser Perspektive erhalten manche Details des Textes eine besondere Bedeutung. Darauf soll abschließend eingegangen werden.

63 Der Existentialismus einer síntesis negativa In die Höhe der philosophischen und theologischen Frage nach Kultur und nach Identitätsmodellen schiebt sich im unmenschlichen Augenblick apokalyptischer Visionen das elementar menschliche Detail der einfachen, nackten Füße der Indianer, bekleidet mit den huarachesM. Diese Metonymie des indianischen campesino, die auch in der Umgangsprache geradezu symbolisch für die einfache soziale Klasse der indianischen Bevölkerung ist, verliert in diesem Roman die Funktion der Bestimmung sozialer oder ethnischer Identität83 und wird zur Metapher eines existentiellen Zustandes der Erd-

83 Escalante geht dieser Bewegung in verschiedenen Romanen nach. Durch die Entpersonalisienjng im Sinne der abnehmenden Geltung von Kategorien, die die Identität des Subjektes definieren, werden Triebenergien beigesetzt so Escalantes These auf der Grundlage der Theorie von Deleuze, bspw. bezogen auf den zweiten Roman Revueltas' Los días terrenales (1949): "A través de la renuncia, de la Keptación consciente del sufrimiento y de la muerte, Gregario no está trabajando a favor de una resignación de tipo cristiano [...], ni tampoco a favor de [...] la aceptación de entidades metafísicas como el Dolor, el Destino, la Muerte. Sólo renunciando a esta mecanicidad interpretativa, y reconociendo que el núcleo de las actitudes de Gregorio se encuentra no en un derrotismo de raices masoquistas sino en un impulso positivo de despersoiuliiación, de olvido de sí mismo [...] es posible comprender el movimiento propio de los personajes de Revueltas' (1979:50f.). 84 Filr den Pfaner hat die menschliche Trauer einen konkreten Kristallisationspunkt: Den verletzten Fuß, der Christus dadurch zum Menschen machte, daß er ans Kreuz genagelt starb. Durchgehend stellt der Fuß die Materialisienmg irdischen Leidens dar. Auch bei Calixto erzeugt der Anblick des Fußes des Indios einen kurzen Augenblick Mitleid, bevor er ihn dann erschießt: "Quien sabe por qué Calixto dirigió sus miradas a los pies del hombre. Iba con huaraches y se le velan conmovedores, humildísimos, deformes como eran, ligados a la tierra" (100). 85 Daß in der Vorstellung Revueltas* die huaraches ein zu respektierendes Symbol des einfachen Menschen sind, deren folkloristische Seite von der PRI demagogisch ausgenutzt wird, zeigt ein kurzer ironischer Essay, den Revueltas Uber 20 Jahre später, im Juni 1969, wahrend der Untersuchungshaft nach seiner Beteiligung an der Studentenrevolte von 1968, schreibt "Los que 'no bailan sin huarache' en la política oficial" ist der Titel dieser scharfen Kritik an der Institutionalisierung der Partei, filr die nur Programme zur Erhaltung ihrer gottlichen Macht, nicht die Menschen selbst zählen (1983:147), während zynischerweise das Folkloristische als Alibi dient: "El saber 'no bailarla sin huarache' parecía un don del cielo, a tal grado se lereverenciay estima como elemento sagrado en el medio político mexicano

204 Verbundenheit und des Fremdseins auf der Erde84. Der wiederkehrende nackte Fuß ist auch Signal der "Entblößung des Diskurses selbst", jenes Prozesses der Reduktion metaphysischer Definitionen des Menschlichen, der mit der síntesis negativa gemeint war87. In einer solchen Sphäre entsteht im Roman auch die einzige Idylle der adamitischen Partner eines Paradieses des Bösen - Adán und Borrada: Extraño que siendo tan interior, tan callada, tan asombrosamente sobria en sus manifestaciones exteriores, llorase hoy la mujer y con aquellos ojos color de luna, color de lago, lágrimas intensas, verdes, entrañables. Y que hoy evidenciara cierto lazo profundo, cierta comunidad de sangres. 'Entonces me quiere', pensó Adán como si un cuchillo de luz le hubiese herido el alma. 'Me quiere'. Nunca se le había ocurrido averiguar esto, comprobarlo, y ahora su primera impresión era como si le hubiesen extraído una poca de sangre, debilitándolo dulcemente, maravillosamente. Por primera vez en su vida sintió ternura, felicidad, un abandono confiado. 'Es que yo también la quiero', se preguntó, y al advertir que sí, se dio cuenta también de que todo había acabado para él, que a partir de ese instante empezaría a pagar sus culpas, a estar solo, solo con ella, perseguido sin descanso, por los siglos de los siglos, como Caín. No tenía armas. Era bueno (178f.). Nach dem Mord an Natividad wird Adán zu Kain, aber er wird auch "gut". Zwei sich ergänzende Interpretationen bieten sich an: Mit der Zerstörung Natividads, des guten metaphysischen Prinzips, hört das Prinzip des Bösen auf, als solches zu bestehen und zu wirken. Nur in einem Oppositionsdenken kann die Negativität des Lebens mit dem bösen Prinzip gleichgesetzt werden. Und nur vor dem Hintergrund der synkretischen Perfektion Natividads wirkt Adán als der dämonische Wilde, Gegner von Fortschritt und Zivilisation. Adán ist zunächst die eine Seite des zwiespältigen Phänomens der Kultivierung, die potentiell auch Zerstörung impliziert, die aber erst dann zur zielgerichteten Zerstörung wird, wenn sich demagogische Stimmen im Namen positiver Synthesen des Fortschritts erheben. Adán ist der "erste Mensch" dieses Romans, welcher mit der Übernahme der Rolle Kains auch die Verantwortung für Sünde und Tod auf sich nimmt88. Kain ist das [...] infunde una stierte de ancestral y misterioso pavor zookigico a duras pcnas conlenido entre quienes lo rodean" (146). Hier wird die Kritik am Mythos deutlich, der als Ersatz für politisches Handeln fungiert 86 Die obsessive Notwendigkeit bezieht sich auf die Geschichte des judischen, aber auch des aztekischen Volkes, das vor der Eroberung Teotihuacins ein Nomadenvolk war. 87 Dies ist die Interpretation des Romans durch Juan Garcia Ponce, der mit Rulfo und Aneola zu den wichtigsten Autoren der Schriftstellergeneration nach Revueltas zahlt (1971:297). 88 Kain begeht als erster in der Geschichte der Menschheit einen Mord und nimmt freiwillig das Schicksal an, das von den Eltern herbeigeführt worden war, er Übernimmt somit die Verantwortung fUr die Schuld der Vater (Estang, 1967). Nach Ansicht von D. Janik führt auch die Verarbeitung des Kain-Motivs durch Revueltas' Kurzroman Los motivos de Cain aus dem Jahre 19S7 zur Darstellung einer grundsatzlichen Schuldhaftigkeit des Menschen - ohne gottliches Schutzversprechen (S83) - sowie zum mexikanischen Bewußtseins der Schuld (S8S), die Janik zu Recht historisch und nicht mythisch auslegt Der Mensch existiert zwar als verfolgtes Geschlecht, doch wandelt Revueltas auch hier die Schuld in menschliche Energie um: "Dem geschärften Bewußtsein der Schuld, die Menschen auf sich laden, wenn

205 Symbol der menschlichen Verantwortung angesichts des göttlichen Willens, der aktiven Azeptanz des leidvollen Schicksals, des Verbannt-Seins auf Erden. Es ist auch die Annahme des Erbes der vergangenen Schuld (der Väter) ohne Verdrängung durch die Erwartung eines Heils, das die Rückkehr zum schuldlosen Zustand des verlorengegangenen Paradieses garantiert. Revueltas' Existentialmaterialismus in der Nähe von Kierkegaards Existentialismus entdeckt den einzelnen Menschen über den Weg einer ethischen Frage, die an den Willen des Einzelnen gestellt wird89, und nicht in abstrakten Kategorien wie Epoche, Geschichte und Menschlichkeit aufgehoben ist; eine Frage, in der die Pluralität des Seins durch die Beteiligung an der existentiellen Situation der Schuld akzeptiert und ausgehalten wird; eine Pluralität, in der das indianische Elend nicht nur das Zeichen eines zu überwindenden Regresses ist. Die Akzeptanz der existentiellen Schuld und nicht die Wahl des Guten als Gegenprinzips zum Bösen90 ist vielleicht der von Revueltas vorgeschlagene Weg der kulturellen Emanzipation jenseits der Negation oder der Annahme des Zivilisationsmodells der Väter. Die Negativitätsgeste von El luto humano vollzieht eine solche Form emanzipierender Bewußtwerdung der eigenen kulturellen Verantwortung91 und schlägt eine andere Revolution als die dialektische vor, in der die Negationsgeste nicht zur zielgerichteten Umwälzung von historischen Objekten führt, die es im Namen einer Fortschrittsformel zu überwinden gilt. Mit der Dekuvrierung der Zwiespältigkeit des revolutionären Diskurses wird vielmehr auch die in der Zerstörungsgeste der Umwälzung verschüttete Menschlichkeit zutage gefördert. Revueltas' pisotear auf dem bestellten Feld der jüngeren mexikanischen Geschichte behält die Ambivalenz der "einfachen Form" der revolutionären Negativität; eine Ambivalenz von Liebe und Haß, die diskriminierende Hierarchien von jeweils konstituierten neuen Ordnungen zu sprengen wünscht92.

sie zum Kain des Nächsten weiden, steht keine andere Hoffhuig gegenüber als die auf die wachsende Solidan tat unier den Menschen" (Janflc, 1989:586). 89 Vgl. den Begriff der existentiellen Wahrheit in den Tagebüchern. 90 Ich beziehe mich auf Kierkegaards ethisches Prinzip, nicht zwischen dem Giaen und dem Bosen zu wählen, sondern beides auf sich zu nehmen (Entweder/Oder, 1956); ein Aspekt, der ia diesem Roman auch den Beginn des "Reduktions'-Prozesses des Pfarrers darstellt. 91 Auch Revueltas' Überlegungen zur Rolle der Negativität in der Dialektik des Bewußtseins (bei Marx' Rezeption von Hegels Phänomenologie des Geistes) fahren zu ähnlichen Ergebnissen: Das Bewußtsein bleibe solange ein Prozeß (conscienäa in actu), wie es von den Bewußtseinsinhalten der Anderen negiert wird: "La conciencia de m(, entonces, entra en contradicción con el conocimiento de esta conciencia de sí exteriorizada, donde la conciencia de mí, perteneciente a sí misma, es negada como tal y arrebatada de mi pertenencia" (21979:115). Revueltas folgert, daß die einzige Gewißheit die Existenz des Bewußtseins, jedoch nicht dessen Wahrheit sei: "La contradicción dialéctica entre conciencia y conocimiento constituye la base del desarrollo del pensamiento discursivo" (115). 92 Im Kommentar zu dem von ihnen herausgegebenen El apando y otros relatos beurteilen Andrea Revueltas und Philippe Chcron das vielseitige Werk dieses Schriftstellers folgendermaßen: "Por lo demás, Revueltas es quizá el único marxista mexicano de su generación que se negó a cerrar los ojos frente a la realidad y que, lejos de abandonar la lucha, emprendió la tarea de denunciar, desde posiciones revolucionarias, la triste realización del socialismo en nuestro siglo" (1985:174).

206 In diesem Sinne spricht der Schriftsteller Juan Garcia Ponce93 bei Revueltas* Erzählung El Apando (1969) von einer Negation als instrumento ordenador des Unmöglichen: En toda su inhumanidad, nos muestra al hombre. Esa zona está fuera de la moral, fuera de la civilización, de cualquier moral, de cualquier civilización. Es una pura desnudez [...] cuando busca mencionarla, sólo puede hacerlo recurriendo a su negación como instrumento ordenador, echando mano del insulto, de la mera imprecación [...] que quiere ser un alarido y crean un vacío a su alrededor, abriendo una tierra de nadie anterior a todo lenguaje, las palabras malditas, las que no deberían tener entrada en el campo del saber (1971:297).

7. Die "negative Dialektik" als Prinzip von El luto humano 7.1 Ästhetische Prozesse des Romans und das essayistische Werk von José Revueltas Eine explizite Kritik an der hegelianischen Basis des Geschichtsbegriffs im marxistischen Konzept von Fortschrittssynthesen bringt der Autor in einer späten Phase seinens Denkens zum Ausdruck: Los marxistas vulgares consideran que la dialéctica es progresiva, que va de lo menos a lo más, de lo atrasado a lo avanzado. Eso es falso, porque la síntesis puede ser absolutamente negativa. [...] La síntesis dialéctica que sigue a la interpenetración de los contrarios no da un más o un avance, nos da 'una cosa sombría y totalmente negadora' del ser humano, y 'afirmativa dentro de la negación'94. Revueltas verdeutlicht in diesem Zitat die direkte Abhängigkeit von Fortschrittsdialektik und Diskriminierung der - aus der Perspektive der westlichen Zivilisation - zurückgebliebenen95 Kultur. Kritisch ist die Annahme vereinheitlichender Synthesen, weil sie das Heterogene einem hierarchischen Verhältnis von Entwicklung und Rückstand unterordnet. Vor dem Hintergrund dieser Position ist der Roman nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit dem Marximus - und mit der progressiven Auslegung des Partido Comunista Mexicano -, sondern auch eine radikale Absage an das revolutionäre Modell des mexikanischen Fortschritts insoweit als dieser ein Prinzip darstellt,

93 Als Teil einer Analyse verwandter Schriftsteller wie Villaurutia, Rulfo, Revueltas und Vicente Melo (1971:278-306). 94 In einem Femseh-Interview mit Gustavo Sainz, das nach dem Tod Revueltas' veröffentlicht wurde (1977:38). 95 Revueltas' Kritik an Hegel zeigt in diesem Roman die Konsequenzen einer Diskriminierung der Neuen Welt aus der Hegelianischen Perspektive eines historischen Universalgeistes heraus, in deren Rahmen die neue Welt vor einer zivilisatorischen Angleichung keinen Platz finden kann (Philosophie der Geschichte). Vgl. auch Kap. II.l.

207 unter dem rassische und kulturelle Partikularismen untergeordnet werden, damit die Kultursynthese einer "kosmischen Rasse" in die Universalgeschichte eintreten kann. Im obigen Zitat argumentiert Revueltas in Richtung der Ergebnisse der vorliegenden Analyse: Der Mestizierungsbegriff unterliegt der Dialektik zwischen Zivilisation und Barbarei und übernimmt eine kolonisierende Haltung innerhalb der eigenen Kultur. Obige Äußerung stammt aus einer späteren Phase des Denkens Revueltas', das explizit von einem orthodoxen Marxismus und von dessen hegelianischer Basis abweicht. Seine Erzählwerke zeigen diese Perspektive schon seit El luto humano und gehen teilweise darüber hinaus96. Revueltas* essayistisches Werk oszilliert zwischen luziden Einsichten und einem dem Ideal einer marxistischen Revolution unterworfenen Denken, obgleich es gegenüber der offiziellen Politik stets provokativ ist. So findet sich in seinem 1946 erschienen El realismo en el arte*7, eine Auffassung der "negativen Dialektik", die sowohl Kritik als auch Selbstkritik" (1956:14) impliziert. Der Realismus, der diese doppelte Bewegung von Gesellschaft und Geschichte erfassen soll (1956:28), hat als Werkzeug die Negationsgeste: al negar incluso al proletariado como tal, lo afirma definitivamente como hombre, como ser humano libre y ya no alienado por la explotación y por la lucha del hombre contra el hombre (1956:15). Während sich aus der negativen Dialektik die literaturwissenschaftlich interessante These ergibt, nach der ein "realistischer" Roman nur durch formale Revolution eine im Revolutionsprozeß befindliche Gesellschaft angemessen darstellen kann99, entwik-

96 Insofern stützt sich Evodio Escalante bei der Erarbeitung des Verhältnisses Revueltas' zum Gedächtnis zu Recht auf Deleuze (Proust et les signes, 1964). F«r»i«nt» kämmt zur Auflassung, daß der Rhythmus der Erinnerungen, der in der vorliegenden Studie auch bei El bao Alimono beobachtet werden konnte, nicht aufeinandeibauende BewuBtseinphasen zum Austkuck bringt Letzteies ist bei Kegel der Fall. Für Hegel gilt Erinnerung als das Vermögen, das das "Ganze der Bewegung" des Bewußtseins als Wissen von sich 9elbst aufzubewahren vermag (Phänomenologie des Geistes, Vorrede, 1982[1807]:46f.). Bei Revueltas bedeutet der ErinnerungsprozeB eher den Verlust des Gedächtnisses: "No hay pues, en la concepción de Revueltas, ningún capital acumulado: se trata mis bien [...] de empobrecerse, y de conquistar en el empobrecimiento una absoluta libertad radical" (Escalante, 1979:97). Auch im Zusammenhang mit der Erinnerung handelt es sich dennoch um eine aus den Textprozessen erarbeitete Einsicht, die nur der sptte Revueltas (Interview mit Sainz) explizit vertritt: "Yo creo que el hombre no tiene otro fin último que el de su propia desaparición. La historia de la humanidad no es sino la historia de Datar de sobrevivirse, sino que es una linea abrupta, con retrocesos, con avances y retrocesos, impredecible. El hombre no llega entonces a convertirse sino en su propia memoria, es decir, la historia-signo. Esta historia-signo no nos permite trazar parámetros hacia el porvenir sino, en una escala muy lenta" (1977:12). 97 Zuerst in La novela, tarea de México (1946) erschienen. Der vorliegenden Analyse wird die Ausgabe von 1956 zugrundegelegt. 98 Revueltas spricht von "A-una afirmación, B-negackSn de la afirmación anterior, C-negación de la negación" (1956:24). 99 Nicht die Inhalte, sondern eine revolutionäre Form garantiert, daS der Text realistisch funktioniert "Si [el novelista] ha sabido usar larealidaden una formarevolucionaria- esto es,realista,sin prejuicios" (1984:235). Mit seiner Definition von Realismus als Verfahren zur Erkenntnis des dialektischen Prinzips der Wirklichkeit (1956:16f.) und der Forderung eines revolutionären Verfahrens für den mexikanischen Roman gibt Revueltas eine theoretische Grundlage für die zweite Generation des Revolutionsromans, der nicht nur inhaltlich, sondern auch formalrevolutionärist Dies läßt sich auf die Grundidee Roman Jakobsons bezuglich der als dritte Möglichkeit des Realismus gekennzeichneten antizipatorischen Darstellung von Wirklichkeit durch Desautomatisationsprozesse zurückfuhren (Jakobson, 1979).

208 kelt sich der weitere Aufsatz zum Realismus in der Kunst entlang der Hegeischen Dialektik und verläßt den Rahmen orthodoxer marxistischer Argumentationen nicht100. Die eigentliche Diskursanalyse mexikanischer Kultur und Identität erfolgt als ästhetischer Prozeß in den Romanen101. Sie ist das Ergebnis einer als Prinzip des Schreibens vollbrachten radikalen Kritik und Selbstkritik, die die Konfigurationen mythischer Ursprungsdiskurse auf allen Ebenen des Romans verwirklicht und gleichzeitig gegen sich selbst richten läßt. Die nahezu obsessive Bildlichkeit, die sich aller Formen der Symbolik - von den archetypischen Handlungen zur Allegorisierung der Figuren und umgekehrt zur Vergegenwärtigung des symbolischen Gehalts grundlegender Bilder und Phantasmen der mexicanidad102 - bedient, führt zu einem nahezu gigantischen, agonistischen Kampf zwischen verschiedenen kulturellen Implikationen des Diskurses der mexicanidad, ein Diskurs, der in El luto humano Bewußtsein, Psyche und Erinnerung der einzelnen Figuren restlos beherrscht. Entgegen seinem theoretischen Rahmen besteht Revueltas' realismo critico nicht in einem ideologiekritischen Bild der Gesellschaft Mexikos, das mit der Kritik auch ein verbessertes soziales Modell implizieren würde103. Vielmehr verbindet sich mit der Repräsentation der Diskurskonfigurationen zur mexicanidad die ästhetische Umsetzung ihrer Konflikte in überdimensionale Bilder. Die Prinzipien des Funktionierens von Diskursen werden offengelegt. Die scheinbare Kohärenz ihrer Logik wird als arbiträr entlarvt, während sich andererseits an der Figur des Pfarrers die konstruktive Seite der radikalen Negativität zeigt, nämlich die Findung einer im Elend erfahrenen Menschlichkeit jenseits der Abstraktion der "Idee vom Menschen"104. 100 Dies gilt bspw., wenn Revueltas von Geschichte als "proceso siempre en ascenso" (1956:16) spricht und im Sinne des Fortschrittes die zoologische Metapher zur Kritik der regressiven Kräfte des Nazismus benutzt: "una marcha atrás del desarrollo histórico, y de ahí su indecible agresividad, su violencia sádica, su furia zoológica. [...] Es muy probable que la última lucha que, en efecto, el hombre haya sostenido para superarse definitivamente de su condición zoológica, sea la que libró contra la bestia nazi. Lo que salta a la vista es que la realidad del hombre y la naturaleza se va integrando en una linea sucesiva de etapas ascendentes" (1956:23). 101 Zum SpannungsVerhältnis zwischen literarischen Paradoxien Revueltas' und seinem dialektischen Denken vgl. auch Negrin (1991). 102 In einem 1950 publizierten Vortrag an der UNAM mit dem Titel Posibilidades y limitaciones del mexicano äußert sich Revueltas kritisch Uber die Studien zur Philosophie des Mexikaners, die mexicanidad mythisch erklären, wie dies Paz in El laberinto de ta soledad (1950) tut, z.B. durch den Mythos des Todes: "Cuando los intelectuales y profesores pretenden definir al mexicano por su sentido de la muerte, por su resentimiento, por su propensión a la paradoja y por sus inhibiciones y elusiones seculares, no están haciendo otra cosa que literatura barata de salón" (1985:45). Obwohl Revueltas in diesem Essay die Grundprämissen der offiziellen Mestizieiungsthesen übernimmt, wie etwa die des Ursprungs des eigentlichen Mexikaners zum Zeitpunkt der conquista (46f.), der sich mit der Revolution von 1910 insbesondere durch die Agrarreform verwirklicht habe (56), mythisieit er, entsprechend seiner im vorangehenden erwähnten Kritik, den Ursprungsgedanken nicht, sondern sieht das Aufkommen einer nationalen Identitätssuche durch reine Ökonomische Faktoren, und zwar durch die Enteignung des Indios, begründet, eine Enteignung, die aus der Vielfalt von Klassen und Kulturen eine einzige Klasse von Parias gemacht habe (47). 103 In diese Richtung geht bspw. die Analyse des Romans durch Rabadán. 104 Der Gestus des Romans Revueltas' zeigt auf mehreren Ebenen Parallelen zur Malerei von José Gemente Orozco. Einmal die monumentale Dynamik der Bilder, die als Gesamtzeichen die agonistische Bestimmung des Menschen ikonisieren, was auch einen thematischen Niederschlag findet (Z.B. Orozcos Gemälde Combate, 1920 bzw. La trinchera, Entwurf zum Wandbild in der Escuela Nacional Preparatoria, 1923-24); weiterhin die atmosphärische

209 7.2 Die Aktualität Revueltas' Die obsessive Neigung von El luto humano, Archetypen zu stilisieren, zeigt eine Praxis mit Kultur, die im Sinne der in Kap. V erarbeiteten Begriffsbedeutung als allegorisch bezeichnet werden kann. Die freie Verfügung über die Zeichen und ihre Stilisierung radikalisiert die Neigung des Barock, die Arbitran tat der Kulturzeichen sichtbar zu machen. Dies mag auf eine grundlegende Skepsis Revueltas' bezüglich jeder Form kultureller Utopie, auch der des Kultursynkretismus105, zurückzuführen sein. Diese desakralisierende Geste erklärt auch Revueltas* Kongenialität mit dem Anspruch auf Befreiung vom Kanon nationaler und internationaler Kultur seitens der jungen Schriftsteller-Generation von '68106. Bereits in dem hier besprochenen Roman von 1943 praktiziert Revueltas die Freiheit, die großen Mythen der Revolution, welche bis zum letzten brutalen Beweis ihres Scheitern in der matanza de Tlatelolco107 noch als unantastbar gelten, als Diskurse zu behandeln. Er geht damit über die reine Geste der Entmythisierung hinaus. Revueltas' Analyse betrachtet die Identitätsmythen der mexicanidad nicht vor dem Hintergrund eines Realitätsbegriffes, der die Unwahrheit der Mythen im Verhältnis zu einerrealistischenBetrachtung der empirischen Fakten offenlegt, wie dies der traditionelle realismo crítico des Revolutionsromans tut (Dessau, 1967 und Portal, 1981), sondern er stilisiert sie, zeigt ihre bewußtseins- und geschichtsbildende Wirkung. Dabei führt sein pensamiento discursivo (1979:115) eine distanzierende Bewegung in Bezug auf alle Modelle ein: Die Geschichte von ChristusPräsentatkn zwischen Metaphysik und Skepsis (was besonders in Paisaje mttaflsico mit einer sintflutartigen Landschaft verbunden ist [1948]) und «rhlHUirh die kritische Haltung gegenüber der Kultur statt der Übernahme der ideologisch gefärbten offiziellen Linie der Gesellschaftskritik durch die Rcvolmionspattei. die hingegen durch Diego Rivera vertreten wird. Die Kulturkritik zur Findung einer tiefen Menschlichkeit lufierst sich UJL im berühmten Gemälde Orozcos Christus tersOrt sein Kreut (Escuela Nacional Preparatoria, Mexiko, 1923). Dies ist weniger als Bruch mit dem Christentum bzw. als Kritik an der Institution der Kirche als Enteigner ursprünglicher Rechte zu interpretieren, wie dies der offizielle Diskurs tut. Es handelt sich vielmehr um eine Kritik an der Menschheit selbst, die das Opfer Christus' nicht zu verstehen wufite, wobei die Menschlichkeit des Messias, der sein Scheitern anzuerkennen bereit ist, im Vordergrund steht. Frost, die Orozco als den Wandmaler beurteilt, der am wenigsten die orthodoxe Ideologie der Revolution vertreten hat (1972:186), weist auf eine entsprechende Tradition religiösen Denkens, etwa bei Juan de Valdis, hin (1972:189). Die Idee der Regression und der Akzeptanz des Scheiterns als Zeichen tiefer Menschlichkeit liegt auch der Figur des Pfarrers in El luto humano zugrunde. 105 Ähnlich charakterisiert auch Carlos Monsiváis den Schriftsteller f José Revueltas. El camarada sol, antiguo y vil*, in: 1986): "Ha vivido todas las frustraciones políticas, no se ha dejado limitar por ellas, y, rehusándose a distintas coronas de martirologio, aún preserva sus confianzas inexorables que alternan con visiones desesperanzadas y agónicas del hombre, 'ese ser erróneo'. No hay contradicción desde su punto de vista: el porvenir será justicia social pero el presente hereda y perfecciona un cúmulo de caos, ira, dolor, injusticia, corrupciones interiores, la impotencia política como forma de maldad" (1986:121f.). 106 Die Provokanonskraft Revueltas' fllr die Mitte der 60er Jahre entstehende Literatura de la ondú laßt sich nicht nur durch die Teilnahme Revueltas' an den Studentenbewegungen, sondan auch stilistich erklären. Die Onda sucht einen neuen Realismus in der Mischung aller Typen von Diskursen - von Literatur zum sogenannten albur, der Lumpensprache. Die Stilisierung der Übermächtigen Kraft der Diskurse wird von der desakral isierenden Geste einer Jugend begleitet, die gleichzeitig ihren eigenen Rhythmus, den des Rock, zur Maßgabe der neuen Mimesis und einer neuen Identität macht (Vgl. Vf., 1991b). 107 Eine scharfe Anklage gegen das Massaker schreibt Revueltas noch zwei Jahre später, am 2. Oktober 1970 (Aniversario de Tlatelolco, erschienen in Revueltas, 1979).

210 Natividad ist eine märchenhafte Liebes-jrory, die zugleich die Rettung der neuen Welt (bspw. S. 136) idealisiert, wie auch der überzeichnete Mythos des indianischen Ursprungs und der Entstehung der Rasse aus der Verbindung von Malinche und Cortés zur sentimentalen Exotik-Idylle wird108. Schließlich mutet der werbetechnische Stil der Beschreibung von Sistema de Riego ironisch an (133). Diese Diskurse lassen sich nicht an Gesetze der Wahrscheinlichkeit binden, sondern zeigen eine andere Konsistenzbildung: Revueltas hat den paradoxen und obsessiven Willen, die Stilisierung von Symbolik und Wirklichkeitsmodellen so ins Extreme zu führen, daß die Figuren wie Stimmen einer diffusen Gedankenmaschine109 erscheinen. Dabei hat der Erzähler, anders als im klassischen auktorialen Roman, keine übergeordnete Funktion, auch fingiert er keine personale Perspektive. Die perspektivische Instanz verzichtet auf die Inszenierung von Spannungen, wie Nähe bzw. Entfernung von Figuren und Ereignissen. Der Erzähler täuscht keine Neutralität vor, sondern mischt sich mit Kommentaren, vereinzelt in der ersten Person, in die üblichen Darstellungen in der dritten Person ein. Die Kohärenz des Romans liegt in der Inszenierung einer generalisierten Präsenz von Diskursen, die bestimmte Situationen der Geschichte Mexikos bewirkt haben. Gegen diese Diskursivität verläuft der Versuch einer authentischen Freilegung von energetischen Spannungen in einer extrem existentiellen Situation sowie im Regressionsprozeß des Pfarrers oder Adins. Hier wirkt der Diskurs authentisch, wenngleich sich die erzeugte Evidenzerfahmng auf eine Reduktionsbewegung bezieht, nämlich die Reduktion der Ordnung der Schöpfung und die konsequente Rückkehr zum Chaos. Ein Teil dieser Erfahrung betrifft eine uniforme und bedrohliche Wasserlandschaft, die lediglich durch angeschwemmte Kadaver unterbrochen wird sowie den Erinnerungsstrom, in dem Geschichten wie tief eingedrungene Gewaltzeichen auftauchen, wie das rhythmisch auftretende Bild des Messers im Hals von Adán. Während die Kohärenz der Diskurse zerbröckelt, wird eine kompromißlose Form von existentiellem Leiden zur Erfahrung angeboten, das als authentische Form von Menschlichkeit wiikt, während eine extreme Metaphorik der Regression zunehmend Bilder aus dem Bereich der Materie aneinanderreiht. Die Exposition führt medias in res in eine absurde Situation ein, in der sich das Leben auf des Messers Schneide bewegt. Die intensiven Eindrücke, die in der Exposition wie starke Lichtblitze in einer dunklen Nacht evoziert werden, sensitivieren das Ohr für die Stille und für die Erinnerungen, während die Äußerungen in der präsentischen Situation der Erzählung auf einen Hauch oder auf kurze

108 Die märchenhaften Züge der Szene haben natürlich eine ironische Nuancierung: "Después, ambos, Gregorio el cacique y Adán, se encaminaron a lo largo del arroyo. Se bailaba ahí una mujer desnuda, inclinando la negra cabellera sobre las aguas. Al oír los pasos levantó el rostro sin el menor asombro, fijando la mirada de sus ojos verdeazules sobre el rostro de Adán. Éste se estremeció involuntariamente" (125). 109 Seine auf Deleuze (1964) basierende Analyse des Oeuvres Revueltas' leitet Escalante mit der Metapher der máquina revueltiana als Produktionsquelle energetischer Ströme ein, die der Autor zu erfassen wünscht (1979:12).

211 gewalttätige Sätze reduziert sind: "Y como hablaban era sólo un modo de silencio, empequeñeciendo las voces hasta hacerlas un monótono transcurrir" (35). Diese elementare, gewaltsame Welt wird gleichsam mit einem voyeuristischen Blick dargestellt, der ebensowenig an Konventionen gebunden ist wie die sonstigen Instanzen des Romans. Der Blick sucht sich frei seine Opfer. Die Regression der Figuren ist dementsprechend brutal, direkt, wie die Verstümmelung der Opfer durch den Schnabel der Vögel. Dies fällt besonders bei der Reduktion des Menschen auf Tier oder Ding auf, wobei die Metaphorik weder eine Disphorisierung des Menschen noch eine Euphorisierung des Tiers oder des Dings intendiert. Die Inszenierung des "Bösen" durch eine negative Metaphorik gerät in das Spiel der Diskurse, so daß es aufhört, in Opposition zum gutem Prinzip zu stehen, um schließlich das Unvorstellbare, d.h. die formlose Materie als Ergebnis der rückgewandten Genesis restituiert110. Había cesado el aguacero y una lluvia fría restaba tan sólo sobre aquella inmensidad informe, que no podría ser nada, campo o pueblo o tierra o lugar humano. Un sol irremediable, espectro apenas, como ojo ciego meciéndose de derecha a izquierda dentro del cielo proceloso. La lluvia tiraba a cordel sus rayas verticales y no era lluvia sino manto de palabras repetidas. Un ojo viudo para contemplar la soledad, el martirio, y que a uno y otro lado, cual campana lívida, golpeaba cardinalmente al tocar sin sonido, la lana negra, verde, gris torva, de las nubes (81).

Mit der Metapher des Auges in diesem poetischen Zitat, am Schluß des Romans, setzt sich der Blick des Erzählers selbst in Szene: Auf den zwei letzten Seiten vermischt sich die Darstellung der das Opfer erblickenden Aasgeier mit der Erinnerung Marcelas an einen Zeitungsbericht. In diesem hatte ein Reporter seine Erfahrungen wiedergegeben, als er einer Hinrichtung durch den elektischen Stuhl beiwohnte. Verschiedene Diskursebenen vermischen sich dabei: Der von Marcela erinnerte Bericht über das voyeuristische Erlebnis des Reporters und dessen Ekel beim Geruch von verbranntem Menschenfleisch wechselt sich mit der Darstellung des kalten Blickes der ihrem Opfer langsam näherkommenden Aasgeier ab. Der sadistische Blick des Reporters, an dessen Reportage über das Opfer sich Marcela in der ersten Person erinnert, wird zum Blick des Erzählers und des Lesers, der, zwischen die sado-masochistischen Rollen von Opfer und Henker gespannt, gleichzeitig die Direktheit der Situation ebenso wie die distanzierende Thematisierung des Auges verspürt. Revueltas erreicht es, die für den Roman charakteristische Spannung der "negativen Dialektik" in dieser Szene zu konzentrieren: jene paradoxale Gleichzeitigkeit von kritischer Distanz gegenüber mythischer sowie realistischer Repräsentation von Wirklichkeit und tiefer Erfahrung der eigenen verantwortlichen Teilhabe an einer Welt von Henkern und Opfern.

110 Vgl. im folgenden Zitat masa als gleichwertige Kategorie wie Mensch.

212

8. Kulturanalyse von El luto humano Die Arbeit des Textes zeigt ein kritisches Verhältnis zu denjenigen Diskursen der mexicanidad seitens offizieller politischer Institutionen wie auch Intellektueller, die Identitätsbilder mythisieren und eine Vertiefung des Grabens zwischen freier Vielfalt kultureller Manifestationen und hegemonialen Diskursen herbeiführen. Mit der vorangehenden Analyse steht die vorliegende Studie im Widerspruch zu literatur- und kulturwissenschaftlichen Positionen, die diesen Roman als handwerklich nicht besonders gelungenes Beispiel des realismo crítico in der zweiten Phase des Revolutionsromans ansehen. Einige zusammenfassende Überlegungen sollen diese These vertiefen. 8.1 Literarischer Text und Kulturanalyse Das Urteil der unter dem Eindruck der Kritik durch O. Paz (1943) stehenden Forschung, der Roman sei wegen mangelhafter psychologischer und handlungslogischer Wahrscheinlichkeit der Figuren ästhetisch nicht gelungen, stellt sich hier als nicht haltbar dar. Dieser frühe Roman Revueltas' zeigt vielmehr Prozesse, die weitgehend auch postmodernen Kriterien entsprechen. Revueltas ersetzt die Wahrscheinlichkeit der Makrostruktur durch die Logik der Diskurse über die mexikanische Kultur. Die Makrostruktur verliert die im traditionellen Realismus primäre Funktion der Mimesis von Welt und öffnet sich mit einer Vielfalt diachroner und synchroner Mythen und Archetypen zu einem freien Umgang mit der Vielfalt des kulturellen Gedächtnisses, mit dem Ziel, durch eine kritische Analyse der Vergangenheit die Geschichtsidentität des revolutionären Mexikos zu dekonstruieren. Neben der Überzeichnung der Makrostrukturen durch archetypische Visionen von Handlung und Chronotopos sowie Allegorisierung der Figuren ist die Behandlung der Erzählform, d.h. des Verhältnisses zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, ein wichtiges Prinzip des Textes. Die durch die Verschränkung von Rahmen- und Binnenerzählung mittels des Einbruchs von Erinnerungsfragmenten verdoppelte Zeit der Handlung bezieht die Zerstörung und desaparición der Figuren in der Gegenwart (Rahmen) auf die Erfolge der vergangenen Revolution (Binnengeschichte). Dies durchsetzt den Text der revolutionären Erfolge mit der gleichzeitig ablaufenden Erfahrung ihrer endgültigen Zerrüttung. Das historische Faktum wird in seiner Vergänglichkeit gezeigt und die ewige Zeit des Mythos der Revolution als Schein entlarvt. Keine andere Zeit wird indes alternativ als feste Kategorie angeboten. Lediglich die Erinnerung bleibt die Spur einer gewesenen Geschichte und selbst ein Prozeß, der beim Pfarrer das Erinnern mit der Erkenntnis des Verlustes verknüpft. Es ist eine Arbeit, bei der Literatur eine andere Perspektive gewinnt als die faktenbezogene Kausalität des historiographischen Diskurses.

213 Die vom Rhythmus der Erinnerungen konstruierte Kausalität historischer Fakten zeigt die Verantwortung mythisierender Urspmngsdiskurse insoweit, als sie am Anfang einer Kette blutiger Handlungen in der Historie Mexikos stehen. Dabei entwickelt die überaus präzise Symbolik den Zusammenhang zentraler Bausteine von Identitätsdiskursen der mexicanidad, die seit der Verfestigung der revolutionären Ideologie in den 30er Jahren das Bewußtsein des Mexikaners bestimmen: die Feuerwaffe, die Mutter und das mestizierte Kreuz: Als Kristallisation der suggestiven Kraft revolutionären Rausches verbindet die Feuerwaffe die Energie des sakralen Rituals und des erotischen Festes, ohne als kollektiver Akt solidarisch zu sein. Im Gegenteil. Die narzißtische Handlung der Zerstörung richtet sich gegen den Anderen als Akt einer Befriedigung, die das Subjekt durch die Macht des Tötens in der Einheit mit den Göttern findet" 1 . Mit Calixto, einer Nebenfigur, die den Durchschnittmestizen repräsentiert, wird dargestellt, wie das Töten als "einfache Form" der Negation zu einer "bezogenen Form"112 wird, die unter dem Schein des Mythos der Revolution einen automatisierten, sinnlosen und brutalen Zerstörungsakt verschleiert. Die Kehrseite des Mythos der Revolution ist der Mythos der Mutter als Hure. Es handelt sich um eine spezifisch mexikanische Objektivation des Sündenfalls und des Ursprungs, die den Gedanken der Emanzipation mit einer Abwendung von der Mutter verknüpft, was sich in der Redewendung hijo de la chingada ausdrückt. Der Roman zeigt, wie die orfandad"3, die auf den Mythos der ursprünglichen Vereinigung Malinche-Cortés zurückgeht, woraus der Grundkonflikt zwischen dem Verrat der Mutter und der Unterdrückung durch den Vater im Bewußtsein des Mexikaners entstanden sein soll, als Motor einer Reihe von Rachemorden im Namen der reivindicación ursprünglicher Rechte wirkt, ohne weitere Hoffnung auf Heil als die Gewalt selbst. Der Roman macht klar, daß solange das Selbstverständnis des Mexikaners und dessen Zukunftsutopien auf Ursprungsmythen griinden, die wie die regressive Form einer unhinterfragbaren Ur-Geschichte"4 wirken, die Gewaltspirale der Geschichte kein Ende nehmen wird. Der zwischen dem Mythos einer Urzeit und der Utopie der Zukunft gespannte Mexikaner wendet sich von einer kritischen Analyse der Gegenwart ab. Dies ist eine der wichtigsten Botschaften des Romans Revueltas*. Dessen apokalyptisches Bild des Aasgeiers, der auf die Opfer wartet, ist weniger eine gesellschaftskritische Warnung, als die Aufdeckung der Kehrseite eines auf die Genesis fixierten Identitätsdiskurses. Das mestizierte Kreuz ist durch die synkretische Verbindung des indianischen Substrats mit der Heilserwartung des Christentums die Kristallisation einer solchen Vertu

Die konkrete Textanalyse zeigt, daß Revueltas auf den Minderwertigkeitskomplex anspielt, den Samuel Ramos (£/ perfil del hombre) bereits als Konsequenz der Identitätsformel denunziert hatte (Vgl. 1.2).

112 Im Sinne von Jolles, vgl. Kap. II.2.1.2 und Analyse in Abschnitt 1.2. 113 Vgl. Abschnitt zu "Orfandad y legitimidad* in Octavio Paz (19S0). 114 Im Sinne der manipulativen Kraft einer "mythischen Utopie", wie in Kap. II.2.1.4. dargestellt.

214 schränkung von Vergangenheit und Zukunft. Im Roman zeigt sich, daß unabhängig vom Lager - ob es sich um die revolutionären Truppen der militanten Revolution oder um die Antirevolution der Cristeros handelt - das Kreuz beiderseitig als Waffe wirken kann. Das mexikanische Kreuz deckt die grundsätzliche Parallele zweier konkurrierender Bewegungen, die indes die Rückkehr zum Ursprung und die zukünftige Heilserwartung in gleicher Weise als demagogisches Mittel verwenden. Die Ambiguität der Zeichen in einer vielfach kodierten Gesellschaft wie der mexikanischen ist präzise dargestellt. Dabei scheint mir die Arbeit des Textes insoweit wichtig, als sie klarstellt, daß die Suggestionskraft mythopoetischer Interpretationen die Möglichkeit der demagogischen Nutzung einer solchen Ambiguität verstärkt. Dieses Problem läßt sich am Beispiel der Mythen der Revolution im Denken von Octavio Paz illustrieren. Eine Gegenüberstellung der Aufklärungsarbeit Revueltas' und der mythisierenden Diskursstrategie von Octavio Paz scheint mir angesichts der ironisch-kritischen Vorwegnahme der Mythen des El Laberinto de la soledad durch El luto humano notwendig. Dies um so mehr, als einerseits Paz solche Mythen in veränderter Form weiteihin vertritt und andererseits sein Denken im Ausland, besonders im deutschsprachigen Raum, zusammen mit dem ebenfalls immer noch zur hermeneutischen Basis der Mexikanistik erhobenen Carlos Fuentes115 Schule gemacht hat.

8.2 Kritik der Revolutionsmythen im offiziellen Diskurs der mexicanidad Eine der Konsequenzen des Ursprungsmythos und des darauf basierenden Denkens in Kategorien der reivindicación ist es, daß es dichotomische Paradigmen auch im Bereich der historischen Identitätsbildung generiert. Die offizielle Geschichte Mexikos wird dadurch als eine Reihung großer Persönlichkeiten bzw. caudillos gelesen, die im Namen der rechtmäßigen Ansprüche des Mexikaners gekämpft haben. Ganz besonders bei Paz kann eine teilweise nach der jeweiligen politischen Auffassung veränderliche Konfiguration dichotomischer Paradigmen von rechtmäßigen und unrechtmäßigen Vertretern der "wahren", auf den Ursprung des Mexikaners gerichteten Revolution beobachtet werden. Bewertet bspw. Paz 1950 die Revolution als einen wahren (evolutionären) Wechsel vom liberalen, aufgeklärten Reformismus des Porfiriats zur verdadera revelación de nuestro ser (122), muß er nach den Ereignisssen von Tlatelolco 1968 115 Zusatzlich zu den im Laufe dieser Studie angefahrten Beispielen der Verwandtschaft dieser Autoren laßt sich im Beieich der im Zusammenhang mit diesem Roman besprochenen Motive auf folgendes hinweisen: Paz' Darstellung der Indianisiening der katholischen Religion als kulturhistorisches Beispiel des Phänomens der Mestizierung (vgl. Kap. IV) wird von Fuentes in dessen Roman Cambio de pitl (1967) übernommen (Vgl. Vf., 1990a). Das Motiv des Götzenbildes des mexikanischen christlichen Kreuzes, auf das sich Paz' Metaphysik des Todes als Essenz Mexikos bereits 1950 bezieht, thematisiert auch Fuentes in der zweiten Erzählung aus Agua Quemada. Dort ist das magische Verhältnis von Dofia Manuelita (einer alten criada und einer Art mexikanischem Heiligen Franziskus für die streunenden Hunde von Mixico DJ7.) zum blutigen Kreuz der Kathedrale pathetisch und poetisierend dargestellt, wobei Manuelita als Symbol des "wahren" Mexiko der Armen eine zentrale Figur ist.

215 das historische Faktum kritisieren und behält seit Posdata (1970) die positive Bewertung der Revolution der Zapatistischen Linie116 vor, d.h. der Revolte aus dem Süden mit dem Anspruch der de-volución und damit der vuelta al origen (1987: 235)'17. Die Rechtfertigung des Anspruchs findet sich im Quetzalcóatl-Mythos, der wiederum erlaubt, die mythischen caudillos als die Helden der Independencia und der militanten Revolution zu identifizieren (233) und von der despotischen Inkarnation des Machismus (232) abzusetzen, für die Figuren der Kaziken bzw. Präsidenten der institutionalisierten Phase (233) beispielhaft sind. Die bereits bei der Besprechung der Essays Paz* in Kap. IV und V festgestellte Tendenz der Verschränkung zwischen historischer Hermeneutik und mythopoetischer Argumentation ist auch hier wirksam. Die zu Recht bestehende Meinung der Historiker11', der Geist der zapatistischen Agrarrevolution gelte als der revolutionäre Impetus der mexikanischen Reformen im 20. Jh. wird mit dem Quetzalcóatl-Mythos metaphysisch ausgelegt (Interview mit Fell). Paz* dichotomische Verteilung von Bewertungen zwischen historisch rechtmäßiger bzw. unrechtmäßiger Realisierung der Ansprüche auf eine Rückkehr zum mythischen Ursprung unterstützt die offizielle Ideologie des Partido Revolucionario Institucionalizado1,9 und trägt zur Vemebelung der Zusammenhänge bei, die eine vom offiziellen Diskurs befreite Lektüre des Romans von Revueltas offenlegen, nämlich daß der Motor für die Serie von demagogischen Akten der legitimen historischen reivindicación im mythischen Ursprungsdenken liegt. Daß die Vertiefung dieses Diskurses durch kanonische Intellektuelle an einer poetisch-kritischen Botschaft des Textes vorbeifuhrt, ist in der Besprechung der theoretischen Diskurse zum Problemkomplex des Magischen Realismus ausführlich gezeigt worden. José Revueltas und nicht den offiziellen Diskursen sollte hier das letzte Wort gegeben werden. Sein intensives Engagement für eine negative Dialektik und seine agonistische Konzeption von Existenz sind eine Provokation gegen die sich in der postcardenistischen Zeit einstellende Ernüchterung über die Bedeutung der "wahren" Revolution im Bewußtsein des Mexikaners, eine Ernüchterung, die Mythen um so mehr braucht, wenn sie die historische Identität des revolutionären Mexiko aufrechterhalten

116 Dies bringt Paz in einer Anmerkung zum Laberinto in der 1987 erschienen Sammlung seiner Werke mit dem Titel México en la obra de Octavio Paz explizit zum Ausdruck (1987:218). 117 Damit meint Octavio Paz die Rückgabe des ursprünglichen Rechtes auf Landbesitz in Form von Kommunalegidien. Vgl. Interview mit Claude Fell, erstmals im Plural 50 (Nov. 1975) erschienen. Zum Begriff der Kommunalegidien verweise ich auf Kap. IV. 118 Für den durch Paz zitierten Historiker John Wotnack gilt der Zapatismus als revolutionäres, dialektisches Prinzip zur Überwindung der bürgerlichen Revolution, die ihre Ziele in einer administrativen Reform als erreicht angesehen hatte (1978). Auch A. Córdoba zufolge ist der Zapatismus für die Transformation der bürgerlichen Revolution in eine revolución populista (1978:22f.) verantwortlich. 119 Etwa folgende Interpretation der Revolution (1950): "El radicalismo de la Revolución mexicana consiste en su originalidad, esto es, en volver a nuestra raíz, único fundamento de nuestras instituciones [...]: el pasado indígena" (130) entspricht auch nach Meinung der Historiker (Mols, 1983:23) dem offiziellen Diskurs des Staatsapparates.

216 will120. Revolution ist zu diesem Zeitpunkt schon eine institutionalisierte Formel, an deren Basis Revueltas zu rütteln versucht121. Seine Kritik an dem Mythos des verlorenen Paradieses sowie an dessen Kehrseite, nämlich dem "genetischen" Schuldgefühl, steht zwar noch vor dem Hintergrund der Hoffnung auf Regeneration der Revolutionskräfte; die sich in der obsessiven Bildlichkeit niederschlagende Leidenschaft für Negativität, die kompromißlos den Text beherrscht, bewirkt aber, daß es nicht zur Bildung eines alternativen Revolutionsmodells kommt. Dementsprechend bietet sich Revueltas nicht dazu an, durch politische Diskurse vereinnahmt zu werden. Revueltas' Wahl des Chronotopos, nämlich vor der endgültigen Verwandlung der Protagonisten zum Fraß für die zopilotesm, impliziert vielmehr den Appell, nach der individuellen Annahme der kollektiven Schuld am Scheitern der Revolution die Regeneration und den Neubeginn zu versuchen. Nicht nur nationale, sondern auch persönliche Identität gerät durch den Rhythmus der Erinnerung in die zersetzende Dynamik des Textes, der einen Angriff an die Kohärenz symbolischer Bilder von Identität und Alterität darstellt. Aus der Erinnerung gewinnt die Figur des Pfarrers von El luto humano die Erkenntnis der Zerstörungskraft eines wie auch immer gearteten ideologischen - ob theologisch oder politisch begründeten - Selbstverständnisses gegenüber dem "nächsten Menschen". Es ist eine Erkenntnis, die bei dieser Figur den Verlust an Identität mit dem Gewinn an Menschlichkeit koinzidieren läßt. Mit einer existentialistischen Umkehrung der Teleologie (dem Regreß vom Menschen zum Stein) wird aber keine neue Definition von Identität angeboten. Im Gegenteil. Die Aufgabe der Identität in der Akzeptanz der eigenen Verantwortlichkeit für die kollektive Schuld ist der Regenerationsvorschlag von Revueltas. Die Erinnerung ist bei diesem Autor Werkzeug zur kritischen Auseinandersetzung mit einer im Namen von Identitätsdiskursen mythisch erlebten Vergangenheit. Revueltas dringt in das individuelle Gedächtnis ein, um zu zeigen, daß dieses von mythisch begründeten Identitätsdiskursen durchsetzt ist, welche die grausamen historischen Ereignisse einer "heroischen Revolutionsgeschichte" generiert haben.

120 Die mexikanische Öffentlichkeit schätzt heute die offizielle Historiographie zur Revolution eher kritisch ein. Florescano zeigt bspw., daß die Diskurse, die in den verschiedenen historischen Phasen den Mythos der Revolution aufrechterhalten haben, nach der Krise von 1968 zusammengebrochen sind und heute definitiv an Glaubwürdigkeit verloren haben (1990:23-31). 121 Revueltas* Botschaft ist eine enttauschte Kritik an der zunehmenden Zentralisierung und Erstarrung des Staatsapparates, an der Einverleibung der Kommunistischen Partei und an der Schwache der Regierung unter dem nordamerikanischen Druck infolge der Nationalisierung des Erdöls. Es ist aber auch das leidenschaftliche Plädoyer für einen radikal revolutionären Geist, den Revueltas bis zuletzt vertreten wird. 122 Ein häufiges Motiv der spateren sog. Revolutionsromane - z.B. Fernando del Pasos Jost Trigo (1966) und Elena Poniatowskas Hasta no veru Jesus m!o (1969).

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VII. Juan Rulfo: Pedro Páramo

Pedro Páramo gehört zu den meistzitierten und -interpretierten Romanen Hispanoamerikas, obwohl es sich nur um einen kleinen Band von ca. 150 Seiten handelt. Der Roman wird als hervorragendes Beispiel für das Genre des Magischen Realismus1 angesehen bzw. aufgrund der Dominanz mythischer Strukturen2 dem "mythischen Realismus" (Schräder, 1978:168 und Pollmann, 1984) zugeordnet. Die Fabel von Pedro Páramo ist einfach: In Erfüllung des letzten Wunsches seiner Mutter kehrt Juan Preciado nach Cómala zurück, dem Dorf seines Ursprungs, auf der Suche nach dem Vater, um von diesem den Landbesitz seiner Mutter zurückzufordern. In Cómala, wo alle Einwohner (mit Ausnahme eines unter dem Druck von Schuldgefühlen sich quälenden, inzestuösen Geschwisteipaares) tot sind, wird auch er sterben. Aus murmelnden Echos erfährt Juan die Geschichte des Dorfes, zugleich die Geschichte seines Vaters, eines tyrannischen Kaziken, der sich durch Gewalt oder List (etwa Heirat mit Dolores Preciado, der Mutter Juans) der umliegenden Ländereien bemächtigt hatte. Die Sekundärliteratur ist sich darüber einig, daß es sich bei diesem Roman um zwei in ihrer Relevanz ausgewogene Geschichten handelt, und zwar die Geschichte der Suche nach dem Vater durch Juan Preciado, dessen Wiederkehr zum Ort seiner Geburt sowie sein Tod unter unklaren Umständen auf der einen Seite und die des Aufstiegs Pedro Páramos zum Großgrundbesitzer und Kaziken und schließlich zum Drahtzieher der Revolution, seiner unglücklichen Liebe und seines Tods auf der anderen Seite. Ein Indiz für die makrostrukturelle Ausgewogenheit ist die Tatsache, daß die erste Geschichte der Suche bis zum Tod des Sohnes genau die Hälfte des Romans ausmacht, nämlich 32 der insgesamt 64 Fragmente3. Pedro Páramo ist eine Art Fortsetzung der Erzählung "Luvina" aus El llano en llamas*-. Erscheinen die Einwohner Luvinas, eines in mythisch personifizierter Land-

1 Claudia Passafari (1968); Martha Gallo (1975); Antonio Sacolo Salamea (1974:391 ff). Rose S. Mine (1977) und Jorge Ruffinelli sprechen eher von phantastischem Realismus (1980). 2 Etwa in der Interpretation von Fuentes (1969). Auch Sommers (1974). 3 Zur Problematik der Hinteilung des Romans, der eine Anzahl von typographisch abgesetzten Textstellen aneinanderreiht, haben etwa Schräder (1978) und Portal (1981) Stellung genommen. Mit Bezug auf die Tatsache, daß die Fragmentierung zugleich ein wichtiges Textprinzip ist (Jiménez de Báez, 1990:96), wird die Bezeichnung der Einzelteile als Fragmente statt Kapitel vorgezogen. 4 Vgl. auch Silvia Lorente-Murphy: "Los cuentos analizados en 'El Uano en llamas' tienen todos líneas de irrefutable conexión con 'Pedro Páramo'. Sin embargo, puede afirmarse que 'Luvina' es el que nos da, entre todos, una evidencia mayor de la gestación de la novela." (1988:87). Vgl. auch den analytischen Beleg für diese These durch Yvette Jiménez de Báez (1990:96-116). Auf die Genese von Pedro Páramo aus Lovina hatte der Autor im Interview

218 schaft eingetauchten Dorfes, "wie" gestorben, sind in Pedro Páramos Cómala, einer verlassenen ghost town, die Menschen tatsächlich tot. Cómala ist bevölkert von Echos und murmelnden Geräuschen - Stimmen von Toten, die naturalistisch charakterisiert werden, als wäre deren Verweilen im Reich der Lebenden ein "natürliches" Phänomen. Die Einbettung des "Unnatürlichen" in einen natürlich-realistischen Kontext hat die Zuordnung dieses Romans zum Magischen Realismus begründet. Die Vermischung von im sog. realistischen Denken sich ausschließenden Wirklichkeitsbereichen (Tod/Leben) und Bewußtseinsformen (Mythos, Magie und rationallogisches Denken) ist als Modellierung der kulturellen Mestizierung 5 sowie stilistisch als eine alternative Ästhetik zum realismo documenta f gesehen worden, während die Verbindung abendländischer und indianischer Mythen die Zuordnung Rulfos jeweils zu "regionalistischen" oder "kosmopolitischen" Schriftstellern 7 bewirkt hat. Die thematischen Auslegungen sind bei einer übereinstimmenden Interpretation der magisch realistischen Elemente sehr unterschiedlich. Dies deutet zwar auf die ästhetische Komplexität dieses Romans hin, was sich in poetischer Hinsicht auf die als paradoxale complejidad sencilla8 bezeichnete Sprache Rulfos auswirkt. Die sowohl thematische als auch stilistische Komplexität wird indes auf die vereinfachende Frage der Identität Hispanoamerikas bzw. Mexikos zurückgeführt. Damit läßt sich trotz der umfangreichen Forschungen zu diesem Roman die Mehrzahl der Interpretationen auf die Implikationen der Theorie des Magischen Realismus zurückführen, die die Stereotypen der Forschung zur mexicanidad wiederholen, und zwar: a) alternative Logik zum rationallogischen Denken und Vermittlung des Anderen, der fremden Welt; b) eine alternative Form der reivindicación des Ursprungs nach dem Scheitern der Revolution; c) eine authentische amerikanische Geschichtsschreibung durch die mythische Wiederkehr von Zyklen. Nur die wichtigsten Autoren möchte ich als Beleg der Wirkung anführen, die die Theorie auf die Lektüre ausübt. Dabei zeigt sich als zusätzliches Problem, daß dieses Interpretationsparadigma vornehmlich thematische Phänomene behandelt, ohne die experimentelle narrative Struktur, die das Urteil veranlaßt hat, der Roman gelte als Begründer der nueva novela (Ruffïnelli, 1980:125), als sinntragende Dimension zu betrachten:

von Juan E. González (Sobado, suplemento cultural de Uno más Uno, núm 98,1979) selbst hingewiesen (zit. nach Jimínez de Báez, 1990:96). 5

Rosario Castellanos (1964); Domingo Miliani (1968): Lucila Inés Mena (1978).

6

Ludwig Schräder (1978:177) spricht von einem Gegenstück zum realistischen Roman im Sinne von Siebenmanns Untersuchung des zeitgenossischen lateinamerikanischen Romans als reflejo de la situación social.

7

Etwa im Sinne der Teilhabe an einer "Poesie der universalen Symbole und an den alten Mythen" nach Pupo-Walker (1969) oder der Bildung einer Universalsymbolik der bastardía nach Fuentes (1969).

8

Durch dieses Paradoxon beschreibt D.K. Gordon den Stil von Rulfo in den Cuentos (1967:203), ein Stil, der im Roman um so deutlichere Konturen erhält.

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Die Tatsache, daß das Fremde, das Andere in der Gestalt des Todes in Pedro Páramo zugleich unheimlich erscheint und durch den lakonischen Stil heimisch wirkt, wird als Beleg für den Versuch gewertet, den Leser mit einer anderen Welt vertraut zu machen: Mit der Welt lateinamerikanischer Kulturpluralität (Brotherston, 1979). In dieser modelliere die Verwischung der Grenzen zwischen Leben und Tod das zugleich von Mythos und Fortschritt bestimmte Bewußtsein der Mexikaner. Kulturhistorisch verkörpere die Isolation des Juan Preciado im gespenstischen Dorf Cómala die mexicanidad, wie sie Octavio Paz als ontologische Einsamkeit und Erfahrung des Todes (1950) definiert9. Das mythische Substrat des akkulturierten10 Bewußtseins (Angel Rama, 1982:224ff) sei im Roman zutage gefördert. Die stilistisch auffallende polyvalente Erzählperspektive und Vielstimmigkeit des Erzählverhaltens lasse die orale Tradition zur Sprache kommen: Mit den Stimmen der Toten werde in Pedro Páramo die vergangene Geschichte des verschollenen Dorfes erzählt und damit das Dorf wieder ins Leben gerufen. Das Stimmenkonzert verrate die historischen und kulturintemen Konflikte, während die Revitalisierung des indianischen Erbes die aktuelle Geschichte als Utopie entwerfe. Die Vielstimmigkeit entfalte mit dem Rekurs auf mündliche Erzählstrukturen11 das für Kultur und Geschichte Mexikos wichtige Spannungsverhältnis zwischen koexistierender mündlicher und schriftlicher Tradition. zu b Die Thematik um die zentrale Figur des Kaziken und dessen Beziehung zum verwirrenden Figurennetz um ihn12 sowie die Situierung der Geschichte zwischen 1910 und 1930 haben Interpretationen von Pedro Páramo auch als Revolutionsroman13 oder

9

Vgl. Silvia Lorente-Murphy: "El tona de la muerte está ya presente en casi lodos los cuentos de 'El llano en llamas', pero en 'Pedro Páramo' ya no será solamente un lema sino [...] la perspectiva total y determinante del método rulfiano de narración" (1988:69). DaB der Tod grundlegender Bestandteil der Perspektive dieses Romans ist, fuhrt die Autorin auf Paz' Hauptihese der Bestimmung der modernidad durch die Erfahrung des Todes in El laberinto de la soledad zurllck; eine Bestimmung, die in der präkolumbischen Tradition wie auch in der Erfahrung der Wertlosigkeit des Lebens begründet sei (1988:70ff).

10 Zum Begriff vgl. Kap. m . 1.3. 11 Durch die Einbeziehung von testimonialen Erzählern bzw. berichtenden Figuren. Dies gilt als Stilmericmal von Rulfo, auch in El llano en lamas: "Se podrían ofrecer muchísimos ejemplos para ilustrar esa fina sensibilidad estítica que Rulfo presta a personajes que, al encargarse de la narración, tienen responsabilidad directa de producir efectos poéticos en el lector u oyente" (H. Rodríguez-Alcalá, (1965:102). Auch Femando Moreno (1987:18411). 12 Ein Netz, aus dem Gestalten herausstreten, wenn seine Stimme es befiehlt - so O'Neills Interpretation der Übermächtigen Figur des Kaziken (1974:289). 13 Bspw. Domingo Miliani (1968). Nach Silvia Lorente-Muiphys Monographie zu Juan Rulfo. Realidad y mito de la revolución mexicana (1988) kann Pedro Páramo zugleich als Höhepunkt, aber auch als die Überwindung des Revolutionsromans angesehen werden. Mit der für seinen Stil typischen dramatischen Wortkargheit (86) denunziert Rulfo nicht nur die Revolution, sondern das Thema der Revolution wird ein zwar im Hinblick auf die Zerstörung des Landes zentrales, aber bezüglich der Struktur des Romans sekundäres Phänomen. Dies erklärt auch, daß Maria Portal trotz ihrer Studie zum Proceso narrativo de la revolución mexicana (1980), dann in der Pedro Páramo gewidmeten Monographie (1981) das Thema der Revolution verhältnismäßig wenig einbezieht. Rulfo gilt als radikal revolutionärer Schriftsteller und Erneuerer des Genres auch Uber den orthodoxen Revolutionsroman der sog. dritten Generation hinaus (Fuentes' La muerte de Artemio Crui, 1962), der noch einen thematischen Akzent auf die Revolution legt

220 als Diktatorenroman14 veranlaßt. Auf spezifische Aspekte der Revolutionsthematik wird im Laufe der vorliegenden Analyse einzugehen sein. Zunächst sei erwähnt, daß die Motive der Vatersuche, des verlorenen Paradieses und der Reise in die Unterwelt Cómalas in dieser Interpretationsrichtung sowohl die kritische Antwort der jungen Generation auf das Scheitern der Revolution nach der Institutionalisierung als auch eine mexikanische Antwort auf klassische Mythen des Abendlandes symbolisieren. Beide Formen kultureller reivindicación berufen sich auf Fuentes' La nueva novela hispanoamericana (1969). Nach dieser gilt das Thema der Vatersuche in Pedro Páramo als der Versuch, mit einer mexikanischen Telemachie (Fuentes) die Frage nach der Identität des mexikanischen Volkes gegenüber einer dominierenden abendländischen Tradition zu stellen. Eine solche Interpretation hat auch suggeriert, Pedro Páramo sei das Pendant zu Paz' El laberinto de la soledad}5. Die Vatersuche des Juan Preciado gilt dabei als Symbol jener orfandad des Mexikaners, die Fuentes (mit Paz) zum modernen Universalmythos erhebt (1969). Gleichzeitig handele es sich um das realistische Detail eines ausgesprochen mexikanischen Schicksals, das Juan Preciado mit den zahlreichen unehelichen Söhnen des Kaziken teilt, wie dem Maultiertreiber Abundio, dem Führer Juans in die Hölle Cómalas. Im Zusammenhang mit der Identitätssuche wird das Motiv des Sohnes als Hauptthema geltend gemacht. Die Verknüpfung dieses Motivs mit präkolumbischen Mythen suggeriert besonders problematische Auslegungen der Suche des Sohnes als reivindicación der autochthonen Identität gegenüber dem tyrannischen Vater als Symbol des Eroberers, wobei die mythisierte Begegnung der Malinche mit Cortés die implizite Grundlage darstellt. Dies ist etwa der Fall, wenn die Wiederbelebung der Geschichte im ausgestorbenen Dorf des Kaziken als gelungener Akt des Sohnes interpretiert wird, anstatt falscher verlorener Paradiese (Shaw, 1981) den echten Ursprung der präkolumbischen Mythen und der mündlichen Tradition zu finden. Die unhinterfragte Gleichsetzung der Mündlichkeit mit eigentlicher Tradition16 ist ebenso problematisch wie die Auslegung, der literarische Text sei der Niederschlag von Ursprungsmythen. Die Verknüpfung beider Positionen liegt etwa bei der Interpretation des Romans durch Lienhard vor. Diesem Autor zufolge ermögliche der Text durch Wiederbelebung alter Mythen die Wiederkehr des Quetzacóatl für die Zeit der Lektüre (1983). Es sei kritisch angemerkt, daß der Ersatz eines usurpierten Revolutionsmythos des Vaters durch einen alternativen Mythos der Regeneration mittels Wiederfindung des

14 Gilt als Vorläufer von Caipentiers Recurso del método (1974), Roa Bastos' Yo El Supremo (1974) und García Márquez' El otoño del Patriarca (1975). 15 Manuel Ferrer Chivite (1972). Von der in der deutschsprachigen Forschung im Sinne von Schräder (1978) und Pollman (1984) noch bestehenden Neigung, Parallelen zu Octavio Paz zu suchen, nimmt die internationale Forschung Abstand. Z.B. macht Brotherston auf den bescheidenen Stil und auf die präzise Analyse Rulfos aufmerksam (1979:78). 16 Vgl. zur Diskussion Kap. II. 1.2.

221 eigentlichen Ursprungs, wie schon bei Revueltas beobachtet, auch als Grundlage für demagogische Diskurse dienen kann. zu c Das Thema der Erinnerung, der Zeit und der Gewinnung eines historischen Bewußtseins bietet sich zunächst zur mythischen Interpretation mit folgenden Befunden an: Geschichte als Wiederkehr des Todes in zyklischem Rhythmus entspreche einerseits dem Zeitbegriff der aztekischen Kultur17, andererseits sei auch eine universalmythische Lektüre im Sinne von Mircea Eliades These der Bildung historischen Bewußtseins durch den Mythos der Wiederkehr möglich1*. Eine Diskussion der vorangehenden Interpretationen dieses Romans, die bekannte Thesen der Forschung zur magisch realistischen Literatur wiederholen, dürfte sich nach der Besprechung dieser Theorie in Kapitel m sowie der Kulturmestizierung in Kap. IV erübrigen. Statt dessen möchte ich im Folgenden diejenigen Thesen der Sekundärliteratur vorstellen, die als anregende Impulse für eine Lektüre dieses Romans betrachtet werden können. Diese behandeln den Text nicht als ein paradigmatisches Beispiel für eine bestimmte Manifestation des Revolutionsromans oder der magisch realistischen Literatur bzw. als Niederschlag bestimmter Identitätsmodelle, sondern gehen auf das Konstmktionsprinzip des Romans und auf dessen spezifische Prozesse ein: In Pedro Páramo hat besonders die Zeit über die thematische Dimension hinaus eine strukturelle Funktion. Die Aufmerksamkeit der Forschung ist durch die Eigenart des Romans darauf gelenkt worden: Die Vergangenheit wird über die Stimmen aus dem Gedächtnis der Toten wiedergewonnen. Fragmentarische Sequenzen, Pausen und Sprünge ergeben sich nicht nur in der Zeit der Geschichte, sondern auch in der Zeit des Erzählens, was eine Orientierung des Lektüreprozesses erschwert. Im Erinnerungsfluß dieses Romans sind Löcher, Leerstellen, Pausen und Stille bedeutsamer als die erinnerten Inhalte. Die Vatersuche, die das Erinnern auslöst, erscheint in diesem Licht als Kondensation und Verschiebung eines tieferen Textes von konfliktreichen Beziehungen. Aus diesen ergeben sich kultuikritische Befunde im Hinblick auf einen das Bewußtsein des Mexikaners bestimmenden Generationskonflikt19 und die Ursprungsproblematik20. Mariana Frenk21 und Jorge Ruffinelli22 legen den Akzent auf die Negation nicht nur der chronologischen Zeit, sondern auch des mythischen Zyklus, und vertreten die These, daß die Zeitlücken auch Spuren von unauffiillbaren Lücken in der Bedeutungs17 Violeta Peralu y Liliana Befumo Boschi (1975:24). 18 Donald Freemai) (1974:281). Dieser Autor versucht, eine zyklische Zeitstruktur im Roman nachzuweisen; so auch Suzanne Jill Levine (1970) anhand eines Vergleiches mit Garcia Mlrquez' Cien aüot de soledaä. 19 Walter B. Berg (1979). 20 Donald Shaw (1981:133). 21 Die mexikanische Übersetzerin des Werkes Juan Rulfos in die deutsche Sprache. 22 Herausgeber und Kritiker von Rulfos Werken.

222 struktur sind. Ariel Dorfman macht darauf aufmerksam, daß sich der Erzählmodus der erinnernden Toten auf die Perspektive und das Bewußtsein von Zeit auswirkt. Beide Thesen der strukturellen Funktion der Totengespräche im Hinblick auf Sein und Bewußtsein verdienen Beachtung im gesamten Zusammenhang des Romans23 und im Rahmen von dessen virtuoser Konstruktion. Das Unheimliche der Totendialoge24 wirkt sich mit der Erzählung des Todes von Juan Preciado und mit dem Verschwinden des autobiographischen Erzählers im ersten Teil des Romans verunsichernd auf die Erzählinstanz aus25. Das Totengespräch bleibt dabei ein erzähllogisch nicht auflösbares Paradoxon, das über die thematische Dimension hinausgeht und zum Prinzip des Textes wird. Eine Analyse dieses letzten Aspektes, das in der umfangreichen Rulfo-Forschung weniger beachtet worden ist, ist vielversprechend26, weil es auf die Spur jener provokativen Modalität des Textes führt, die kritische Ausblicke auch über die bisherigen Ergebnisse im Sinne des magischen oder mythischen Realismus hinaus eröffnet. Im Hinblick auf das Problem der Erinnerung und der Zeit setzt Rulfo die bereits bei Revueltas beobachtete Fragmentierung der Erinnerung fort27. Diese geht bei Pedro Páramo auch auf die Instanz des Erzählers28 über - eines Erzählers, der bei Revueltas' Manipulation der Diskurse noch Spuren einer aufklärerischen Hand verrät

1. Orientierungsverlust - Initiation in die Welt Cómalas Anders als bei El luto humano, in dem die Stilisierung der intertextuellen Bezüge diese als Element einer offenkundigen Diskursanalyse hatte eikennen lassen, verstrickt sich hier der autobiographische Erzähler Juan im Wirrwarr der Stimmen von Toten. Der Ich-Erzähler von Pedro Páramo, der in Cómala fremde Juan Preciado, rekonstruiert die Erlebnisse seiner letzten Stunden vor seinem Tod in Cómala. Das Bewußtsein der Figur wird allmählich durch die Stimmen der Toten und durch den Chronotopos des toten Dorfes beherrscht. Dieser Prozeß bezieht den Erzähler ein: Ordnungsstrukturen und evaluative Signale werden durch die fragmentarischen und labyrinthisch 23 Das Ergebnis dieser Beobachtung ist allerdings relativ allgemein und vage. Bei Dorfman bspw.: "La forma en que ocunen los fenómenos en 'Pedro Páramo', ese extraflo marasmo temporal de acciones entrecruzadas, es la única manera posible en que pudieran haber ocurrido. Es decir, es la única manera en que están ocurriendo, ahora mismo, para siempre" (1974:153). 24 Vgl. Schräder (1978). 25 Lida Aronne-Amestoy (1986:54ff). 26 Ursula Link-Heer macht sich das Paradoxon der Erzahlmodi zum Thema: "In Wirklichkeit setzt Rulfo all diese erzählerischen Mittel nicht gemäß einer solchen erwartbaren Logik der signifikanzstiftenden Disonktion ein, sondern vielmehr fast simultan, alternierend und gemischt Dadurch werden sowohl Desintegnuions- auch auch IntegrationsefTekte produziert (1992:273). 27 Zu El luto humano als Vorlaufer von Pedro Páramo vgl. auch Lorente-Murphy (1988:72); Portal (1981:158). 28 Es handelt sich um einen autobiographischen Erzähler im ersten Teil und einen neutralen (heterodiegeli sehen) Erzähler im zweiten Teil (vgl. weiter unten), wobei direkte Gespräche von Toten aus den Gräbern dazwischengeschaltet sind.

223 vermischten Bruchstücke von Handlung in einem zeitlichen Chaos gleichsam aufgelöst. Der autobiographische Erzähler ist insoweit als "gestört" zu bezeichnen, als er gemeinsam mit der Figur - von den Ereignissen überwältigt wird. Als homodiegetischer Erzähler verschwindet er in der Mitte des Romans und seine Stimme vermischt sich danach mit den Stimmen der Toten des Dorfes, die aus den Löchern der Wände hervorklingen, ohne daß man ihre Position lokalisieren könnte29. Der erste Teil des Romans rekonstruiert die Erfahrung von Juan Preciadlo, der zunächst die fremde Welt zu interpretieren versucht, um sich dann der Erfahrung des Fremden hinzugeben: Yo creí que aquella mujer [Eduviges] estaba loca. Luego yo no creí nada. Me sentí en un mundo ajeno y me dejé arrastrar (17). Die Stufen dieser Hingabe gehen von einem ersten Unverständnis aus, über die Annahme der Erscheinungen jener Welt als natürlich bis hin zur Vermischung mit ihr, was für Juan den physischen Tod bedeutet. Dementsprechend verfährt auch der Erzähler, der von einer rationalen Feme gegenüber dieser von Toten bevölkerten Welt ausgeht, um schließlich zusammen mit der Figur in das Grab hineinzugleiten, nämlich dann, wenn die Fiktion der autobiographischen Erzählung aufgegeben und der autobiographische Erzähler durch die direkt sprechende Stimme eines Toten ersetzt wird, wodurch auch die autobiographische Erzählung des ersten Teils als die paradoxale Erinnerung eines Todes entlarvt wird. Die Fiktion der autobiographischen Erinnerung dient dazu, die Erfahrung der Initiation zum Tode zu vermitteln. Der Text bedient sich zunächst des Eizählmodus des Phantastischen, um mit Hilfe dieses kodifizierten Mediums die Begegnung mit der anderen Welt einzuleiten. Tatsächlich erscheint die erste Begegnung unheimlich und phantastisch: Ahora estaba aquí, en este pueblo sin ruidos. Oía caer mis pisadas sobre las piedras redondas con que estaban empedradas las calles. Mis pisadas huecas, repitiendo su sonido en el eco de las paredes teñidas por el sol del atardecer [...] Al cruzar una bocacalle vi una señora envuelta en su rebozo que desapareció como si no existiera (12/13)30. Der für die phantastische Lektüre typische Zweifel an der Natur der Ereignisse, die abwechselnd unheimlich und rational erklärbar erscheinen, wird bei dieser ersten Begegnung nur indirekt angesprochen. Die Angst vor dem Sondeibaren wirkt damit stärker und suggestiver:

29 Die Orientierungslosigkeit der Perspektive wird durch einen Vergleich zur Vorläufer-Erzählung Lovina deutlich: In Luvina entspricht die harmonische Einheit verwüsteter Menschen und kultureller Objekte mit der rauhen Natur noch einer mythischen Ordnung. Mit einem mythenkritischen Ziel vermittelt die Erzählung eines Zeugen, eines von auBen kommenden und mit doppelter Sicht ausgestatteten Lehreis, die Differenz zwischen Luvina und der Außenwell, während ein neutraler Erzähler den Kontrast zwischen der verschlossenen Welt Luvinas und dem offenen Ort des Rahmens unterstreicht 30 Eine deutliche Parallele zur Beschreibung der Frauen in Luvina.

224 Me di cuenta que su voz estaba hecha de hebras humanas, que su boca tena dientes y una lengua que se trababa y destrababa al hablar, y que sus ojos erai como todos los ojos de la gente que vive sobre la tierra (13). Mit der allmählichen Gewöhnung an die Erscheinungen des Dorfes akzeptiert dei Erzähler die fremde Logik, nach der Tote leben. Dies führt in einer zweiten Phase zur Akzeptanz der Ortsbedingungen, ohne den Versuch, diese in eine rationale Sich zu integrieren. Der Prozeß dieses Hineingleitens in die Bedingungen des Orts zeicinet sich deutlich ab. War die Diskrepanz zwischen den Erwartungen eines normalen Lebens und der verfremdeten Wahrnehmung bei der ersten Begegnung der mit ehem Tuch verhüllten Frau deutlich, so wird später nichts mehr als fremd beschrieben, luch nicht das Skelett von Eduviges Dyada, das vom Ich-Erzähler Juan Preciado nur als der erschöpfte Körper einer alten Frau wahrgenommen wird, obwohl sich die Indizien für die Erscheinung eines Phantasmas häufen 3 ': Sin dejar de oírla, me puse a mirar a la mujer que tenía frente a mí. Pensé qie debía haber pasado por años difíciles. Su cara se transparentaba como si no tiviera sangre, y sus manos estaban marchitas; marchitas y apretadas de arrugas. No se le veían los ojos. Llevaba un vestido blanco muy antiguo recargado de olines, y del cuello enhilada en un cordón, le colgaba una María Santísima del Refugio con un letrero que decía: "Refugio de pecadores" (23). Der autobiographische Erzähler macht klar, daß Juan an dieser Stelle konzenxiert wahrnimmt und in voller Beherrschung seiner Sinne ist. Seine Wahrnehmungssctärfe ist optisch kodiert. Der optische Kanal ist in der realistischen Literatur besonder) bedeutsam und dient zur Untermauerung der Wahrscheinlichkeit des Dargestellte!. In Übereinstimmung damit bleibt der Ton des Erzählers sachlich; auch verändert siel der Artikulationsmodus im Verlauf der Beschreibung nicht. Er bleibt heimisch und familiär32. Im Gegensatz dazu konkretisiert sich auf semantischer Ebene eine zunehnend unnatürlich wirkende Erscheinung. Die insgesamt realistisch wirkende Beschreibmg33 vermittelt nun parallel (und im Kontrast zur natürlichen Akzeptanz des Erzählers) klare Indizien des Unnatürlichen, die den Erzähler, der in vorangehenden Textscllen durch äquivalente Wahrnehmungen verstört erschien, nun offensichtlich unbeeindruckt lassen. Beispielsweise stellt er eine Korrelation zwischen dem blutleeren Gesielt der Erscheinung und den eben erfahrenen harten Lebensbedingungen im verlassenen Dorf

31 Für den Leser, der nun im Desorientienmgsspiel der natürlichen Präsentation des Unnatürlichen gefanpn ist, funktionieren alle Erscheinungen wie ein Vexierbild: Wahrend die Mehrfachkodierung der Indizien den Leser uf die sichcre Spur führen, daS es sich um Tote handelt, suggeriert andererseits der autobiographische Erzghler, daß:s sich um eine alte, "ausgetrocknete" Dorffrau handelt 32 Besondere durch die Diminutivform, ein bei Rulfo beliebtes Indiz der mexikanischen Kolloquialsprache, die in der Tat einen auffälligen Gebrauch von dieser Form macht 33 Die Beschreibung ist kolloquial und familiär in Lexikon, Morphologie und Syntax, präzise auf der semanischen Ebene sowie appellativ durch die Thematisierung einer konzentrierten Wahrnehmung des autobiograplischen Erzählers. Sie verwirklicht somit mehrere Register des realistischen Diskurses.

225 her und interpretiert die Blässe als Zeichen der Erschöpfung. Die Diskrepanz zwischen dieser Rationalisierung und der Erscheinung wird dabei durch die mikrostmkturellen Details wiederum auf allen Zeichenebenen konkretisiert: Der durative Aspekt des Imperfekts von trasparentaba unterstreicht etwa die sich präzisierende Wahrnehmung des Verblassens, wobei der Hintergrundcharakter des Imperfekts34 selbst die Bedeutung dieser Wahrnehmung für den Erzähler relativiert. Auch der konkrete Hinweis auf die Blutleere als mögliche Begründung für die Blässe wird mit dem Vergleich (como) relativiert. Im Gegensatz dazu präzisieren sich die weiteren Formen als eine Bestätigung der in der Blutleere implizierten, im Leser progressiv aufkommenden Annahme, mit einer Toten konfrontiert zu werden. Verfaulende Hände und Löcher anstelle der Augen sind klare Hinweise dafür. Demgegenüber verweigert es der Artikulationsmodus, wiederum im Konstrast zu den immer konkreter werdenden Anspielungen, die Erscheinung der Toten direkt anzusprechen ("no se le veian los ojos"). Die Anspielungsstmktur im Hinblick auf die sonderbare Erscheinung verstärkt sich durch die weiße, alte Kleidung, wobei der Hinweis auf die Inschrift Refugio de pecadores des um ihren Hals hängenden Medaillons an eine warnende Gestalt aus dem Reich des Fegefeuers denken läßt. Diese Diskrepanz zwischen der als natürlich erfahrenen, sinnlichen Wahrnehmung und der unnatürlichen Erscheinung desorientiert den Leser. Die realistischen Details haben hier, anders als im realistischen Roman35, die Funktion der Verunsicherung im Hinblick auf die Erzählinstanz. Aber auch von der klassischen phantastischen Literatur, in der der Erzähler selbst nicht desavouiert wird, weicht dieser Text ab. Im phantastischen Erzählmodus durchläuft zwar der Erzähler widersprüchliche und kontrapunktisch aufgebaute Phasen von Rationalisierung und Wahrnehmung unnatürlicher Vorkommnisse; mit dem Zweifel über die Natur der Dinge liefert jedoch der Erzähler klassischer Texte der phantastischen Literatur den Beweis, in vollem Besitz seiner rationalen Fähigkeiten zu sein. Dagegen wird der autobiographische Erzähler in diesem Roman zunehmend von den Ereignissen überwältigt. Dies verschiebt den im klassischen phantastischen Roman auf die erzählte Wirklichkeit bezogenen Zweifel nun auf die Glaubwürdigkeit des Erzählers selbst36. In der realistischen Literatur hat der auch hier vorhandene sachliche Ton die Funktion, mit einer wahrscheinlichen Darstellung die Annahme des Lesers zu bestätigen, daß die vorgestellte Welt ein Korrelat in der Wirklichkeit hat. Im vor 34 Nach Weinrichs Ergänzung der Aspekt- und Aktionslinguistik (1971) durch den Relief-Charakter der Tempora handelt es sich beim Imperfekt um eine im Hinblick auf die Wahrnehmung des Erzählers hintergründige Handlung. 35 Entsprechend Barthes' Theorie zum Effet de riel (1968) bilden konkrete Details einen kodifizierten Diskurs der Wahrscheinlichkeit von Beschreibungen. 36 Im phantastischen Roman des 19. Jahrhunderts bleibt der LektOrepakt ungebrochen. Bei der sog. "Neophantastik" wird nicht das Urteil Uber die Referenz seitens einer sicheren Erzählinstanz verunsichert, sondern die Erzahlinstanz selbst gerät ins Schwanken. Diese These wurde besonders auf Cortázar (Alazraki und Sánchez) und Borges bezogen. Vgl. auch die theoretische Diskussion unter dem Begriff des neoftvuäsäco in Kap. III .3.

226 liegenden Text verwirrt dieser Ton, weil er in umgekehrter Weise auf unnatürliche Erscheinungen bezogen ist.

1.1 Tod des autobiographischen Erzählers: Der Bruch in der Beziehung zwischen Sprache und Dingen Den diskursstrukturellen Verfahren des Realismus wird nicht nur mikrostnikturell entsprochen. Diskursstrukturell bspw. wirkt Juan Preciado als der typische voyageur der Romanexpositionen37, als reisender Begleiter des Lesers für die schwierige Initiation ins Reich der Toten. Die Szene im Haus des inzestuösen Geschwisterpaares stellt die letzte Station Juan Preciados vor seinem Tod dar; sie ist besonders bedeutsam. Der realistische Ton verstärkt sich hier und verläßt die phantastischen Anspielungen. Es handelt sich auch um eine Begegnung, die mit Merkmalen aus dem Reich der Lebenden deutlich markiert ist. Realistisch wirken sowohl die Präzision der Details als auch die in szenischer Führung dargestellten Dialoge innerhalb der Dreieckskonstellation von Juan, Denis und dessen Schwester. Das Geschwisterpaar treibt Inzest, seitdem das Dorf nahezu entvölkert ist. Der Erzähler weist sich wiederum zunächst als rational und wahmehmungsfähig aus, etwa, wenn er gewahr wird, daß er es bei dem Geschwisterpaar mit Lebenden zu tun hat38. Dabei versucht er angesichts der Tatsache, daß das Geschwister-Ehepaar ihn in sein ärmliches Haus aufgenommen hat, besonders kommunikativ zu sein39 und beschreibt genau die eigenartige Erscheinung und das Verhalten einer vorsichtig40 ins Haus eindringenden alten Frau, wobei sich die wundersame Wahrnehmung im darauffolgenden Gespräch mit Denis' Schwester als ein ganz normales Vorkommnis erweist. Die von Juan beobachtete alte Frau war nur eine weitere Schwester Denis'. Sie holte Bettücher, die sie gegen Nahrung, die für den "Gast" Juan bestimmt war, eintauschte (71). Erzählperspektive und die häufigen Dialoge in dem für die einfachen Figuren Comalas41 typischen, einfachen Umgangston, charakterisieren den Erzähler als zwar lakonisch und müde,

37 Philippe Hamon (1973). Vgl. auch meine Analyse der Expositionen von Balzacs Lt pire Goriot und Zolas Germinal (1985). 38 "Ola de vez en cuando el sonido de la palabras, y notaba la diferencia. Porque las palabras que habla oído hasta entonces [...] no tenían ningún sonido" (61). 39 Allerdings mit MiSerfolg, z.B. wenn Juan als Übersprungshandlung den zurückgekehrten Denis gerade mit einem im sog. Nonnalfall unbedeutenden FUllsatz begegnet, er habe eben gehört, daß beide Geschwister seien, ein Satz, der allerdings angesichts des Inzestes gerade die ungeeigneste Äußerung ist. Der den Lauf der Kommunikation klar verfolgende Juan kommentiert dann: "-Yo lo decía en un plan de entendimiento. No por otra cosa" (67). 40 "Entró y paseó sus ojos redondos por el curato. Tal vez hasta me vio. Tal vez creyó que dormía [...] se fue andando de pumitas como para no despertarme" (68-69). 41 Und der Erzählungen von El llano en llamas.

227 doch mit angemessenen Reaktionen42 gegenüber der von einem obsessiven Schuldgefühl besessenen Schwester Denis'. Ihre Obsession ist mit Hinweis auf das freigewählte, angsterfüllte Gefängnis, das sie aus ihrer Wohnung gemacht hat, sowie auf ihre Vorstellung, im Dorf seien noch andere, ebenfalls in Angst lebende Einwohner (6566), so präzise dargestellt, daß der Erzähler sich hier als scharfer Beobachter ausweist. Daß auf dieser letzten Station im Reich der Lebenden der realistische Ton keinen Zweifel an der Normalität der Situation, bis hin zur Möglichkeit, bei der Frau einen relativ eindeutigen Verfolgungswahn, ausgelöst von Schuldgefühlen, diagnostizieren zu können, ist wichtig. Dies wiegt den Leser vor der letzten großen Probe des Initiationstodes in Sicherheit. Um Initiation geht es in der ganzen Episode. Die Details von Ort und Figuren wirken nicht nur als Indiz der Armut43, sondern bilden auch eine klare Anspielungsstruktur auf den Initiationstod, u.a. durch folgende Elemente: Beim Haus von Denis' Schwester fühlt die Reise Juans zum "Nabel der Welt"44, an einer jener Vertiefungen, die den Abstieg in den Mutterschoß der Erde signalisieren, um mit dem Ritual des Inzestes mit der Mutter eine andere Art Geburt zu vollziehen, die Geburt zum Wissen. Der "Scheintod", d.h. die Vereinigung mit der Erde45, Göttin des Lebens und des Todes, soll den Initiierten ins Geheimnis des Lebens einweihen, das er durch die Konfrontation mit Wahnsinn46 und dem Scheintod47 erlangen soll. Ziel ist die Rückkehr zum Reich der Lebenden nach Erkenntnis des Kreislaufes von Tod und Leben4*. Der Initiationstod läßt niemanden unverändert, sei es als Zurückkehrenden oder als Toten. In beiden Fällen ist die Begegnung mit dem Tod nicht darstellbar. Zurückkehrende berichten nur von Höllenqualen, ohne Einzelheiten

42 Auf die Aufforderung der Schwester Denis', ihr i n Gesicht zu schalen, um die Spuren ihrer Inzestsflnde zu sehen, reagiert Juan angemessen. Seine Antwort ist ebenso durchschnittlich wie das unaufQllige Gesicht der Frau: "Era una cara común y corriente. - Qué es k> que quiere que le mire? (...] - Y quito la puede ver si aquí no hay nadie? He recorrido el pueblo y no he visto a nadie" (65). 43 Für den südlichen Teil von Jalisco, der Region Rulfos, die seine Erzählungen und den Roman inspiriert hat, sind derartige Dörfer charakteristisch. Rulfos Photosammlungen zeigen zahlreiche Ansichten dieser Art 44 HJ>. Duexr (1983:2931). Die nachfolgende Darstellung des Initiationslodes faßt die Aspekte des ethnologischen Berichtes des Autors zusammen (27-42), die hier von Interesse sind. 45 H.P. Duerr verfolgt den Prototyp der Artemis, der ungebundenen Vegetationsgöttin, in Frauenstauetten, die sich bis in die letzte Eiszeit verfolgen lassen und in Herdgniben sowie in den Tiefen der Kulthohlen gefunden wurden. Duerr stellt die These auf, daß diese Figuren VegetationsmOner und damit Herrinnen des Lebens und des Todes darstellen (1983:27). Diese Dualität der VegetationsgOttin findet sich auch in Persephone (lau Proserpina), Tochter der Vegetations- und Fruchtbarkeitsgöttin Demeter und selbst VegetationsgOttin. Als Ganin des Hades verweilte Persephone in ihrer Eigenschaft als Herrscherin der Frauen einen Teil des Jahres im Olymp. 46 Als ekstatischer und erotischer Wahn (1983:36). 47 Dieser liegt darin, daS bspw. der Initiand, wie bei den Seri-Indianem, vier Tage und vier Nächte ohne zu essen oder zu trinken in der Finsternis einer Höhle verbringen muß, um dem dort lebenden Geist zu begegnen (Duerr, 1983:29/30). 48 Bei Kalypso in einer Höhle initiiert, lehnte Odysseus die Unsterblichkeit ab, (Lh. er wählte den Tod als Teil des Lebens, um in das Reich der Lebenden zurückzukommen. Er wühlte damit auch die Erkenntnis und die Erinnerung, denn die Unsterblichkeit wäre mit dem Lethetrank des Vergessens verbunden.

228 präzisieren zu können. Die Begegnung mit dem Anderen, dem Tod oder dem Unbekannten, ist nicht übersetzbar49. Die Rekonstruktion der Bedingungen eines solchen Initiationstodes ist die Funktion der Episode mit Denis' Schwester. Abgesehen vom dominierenden Inzest-Thema, das sich mit Juan insoweit wiederholt, als er in Comala nicht nur zur Mutter zurückkehrt, sondern sich erstmalig im Hause von Denis' auch im Schoß seiner Mutter fühlt50, sind die Anspielungen evident: Juans Weg führte zu einer "herida abierta entre la negrura de los cerros" (60) 5 \ das Haus des adamitischen Geschwister-Ehepaars ist als "Nabel der Welt" markiert52, die Unruhe Juans und seine physischen Schmerzen erinnern Denis' Schwester an ihre eigene Defloration am gleichen Ort (62); der Rückweg zur Außenwelt ist versperrt (42), er brauchte einen Führer, um ihn zu finden (68). In Comala begegnete Juan Frauen (Eduviges und Damiana), die ihn auf den letzten Schritt vorbereiten. Er erhält Nahrung von der Schwester Denis'53. Juans Verhalten entspricht den Berichten über die "Eingeweihten", die in Krankheitszustand verfallen (hohes Fieber und Zittern, S. 69), so daß die Frau ihn mlstico und adivino nennt54. Schließlich wird der Beischlaf mit Denis' Schwester so erfahren, daß der Körper der Frau aus Erde und mit Erdveiknistungen überzogen erscheint (72). In dieser letzten Episode sind mehrere Rationalisierungsmöglichkeiten möglich: Die Anspielungsstmktur des Initiationstodes verweist auf einen ethnologischen Diskurs. Ebenso sind die Details der extremen Lebensbedingungen im verwüsteten Dorf Indiz eines Wirklichkeitszustandes, der im Sinne eines realistischen Diskurses interpretiert werden könnte. In dieser Szene wiegt die "Normalität" des Erzählmodus den Leser in einer gewissen Sicherheit. Bereit für die Einführung in eine fremde Welt mit dem Ziel, Wissen über sie zu erlangen, läßt sich der Leser auf die Initiation ein und gleitet, vom

49 H.P. Duerr verweist ironisch immer wieder darauf, daß sich das Wissen Ober solche Erfahrungen nur in Bibliotheken findet (vgl. Vorwort). Darin besteht die Hauptkritik am Verfahren Castañedas, die Übersetzbarkeit einer Erfahrung des Anderen vorzutäuschen (129ff). Duerre Haupohese, daß das Andere, das Unbekannte, nicht Ubeisetztbar ist, entspricht der Hauptthese dieser Studie (vgl. Kap. I). Rulfo erprobt ähnliche Bedingungen. 50 Juan kann dies nicht interpretieren, versprachtlichi aber deutlich die Erfahrung, von der Stimme der Mutler restlos erfaßt und umfaßt zu sein: "-¿No me oyes? -pregunté en voz baja./ Y su voz me respondió: - Dónde estás?/ -Estoy aquí, en tu pueblo. )unto a tu gente. No me ves?y -No. hijo, no te veo. /Su voz parecía abarcarlo todo. Se perdía más allá de la tierral-No te veo" (71-72). 51 Im Kapitel "Die Vagina der Erde und der Venusberg" berichtet HP. DuerT davon, daß sich solche Initiationsriten an und in Höhlen abspielten, deren Eingang sowie innere Grotten an Vagina und Uterus denken ließen. Die an solchen Hohlen gefundenen Venusstatuen unterstatzen diese Annahme (1983:32-33). 52 Dieser Ort wurde schon Öfter von Reisenden aufgesucht, die Los Confines suchten - daran erinnert Denis' Schwester "Acuérdate cuando cayeron por aquí aquellos que dijeron andar perdidos. Buscaban un lugar llamado Los Confines y tú les dijiste que no sabias dónde quedaba eso" (61). 53 Die Erdgöttin Gaia ernährt Zeus, den sie in die Höhle des Aigaion mitnahm, mit Ziegenmilch aus der Höhle. Duerr sieht in verschiedenen Versionen den Ursprung der Nahrung in der Höhle. Im Roman Rulfos kommt die Nahrung auch aus der "Höhle" von Denis' Schwester, d.h. aus ihrem(n) Bett(tflchem). 54 Die "einfache" Logik der Frau hat einen ironischen Eflekt, etwa, wenn sie mit dem adivino jemanden meint, der letztlich seinen Tod nicht voraussehen konnte. Letzterer trat als Strafe für seine schlecht verrichtete Arbeit ein, was wiederum von seinem patrón ebenso divinatorisch erkannt wurde.

229 sanften und "natürlichen" Ton des Aitikulationsmodus geleitet, in die Bedingungen dieser Welt, um schließlich in einem Höllenkessel ohne Luft gefangen zu werden. Beklemmend wiikt auf den Leser, ebenso wie auf den Ich-Erzähler und Protagonisten, der Schweiß aus dem Körper der Frau, der zu einer Masse aus Schlamm wird; desgleichen die plötzlich auftretende, stickige Luft dieser Hölle, aus der kein Entrinnen mehr möglich ist: Y es que no había aire; sólo la noche entorpecida y quieta, acalorada por la canícula de agosto. No había aire. Tuve que sorber el mismo aire que salía de mi boca, deteniéndolo con las manos antes de que se fuera. Lo sentía ir y venir, cada vez menos; hasta que se hizo tan delgado que se filtró entre mis dedos para siempre. Digo para siempre. (73) Der Sauerstoff fehlt mehr und mehr, im Wirbel von aus den Wänden kriechenden, sprechenden Winden ringt der Ich-Erzähler nach Luft. Rationalisierungsformen bieten sich zwar für den Leser an: durch die Interpretation der Beschreibung als Wahrnehmung eines Wahnsinnigen51. Doch erscheint die Erfahrung eines tatsächlich eingetretenen Erstickungs- und/oder Erschreckungstodes56 durch den gleichbleibend realistischen Ton als ein emstzunehmender Bericht, der auch die bisherige ethnologische Lektüre der Szene in Denis' Haus im Sinne eines Scheintodes bei der Initiation in Frage stellt. Vielmehr entdeckt man neben den kodifizierten Anspielungen eine Vermehrung der Indizien für den Tod und das Chaos37. Bleiben alle weiteren Deutungsmuster im Widerstreit, so ist der Tod des Erzählers unmißverständlich. Danach wird Juan nicht als Erzähler des Romans (das hieße als Wiederkehrender aus der Unterwelt, der mit den Mitteln der poetischen Sprache seine Erfahrungen des Anderen übersetzt), sondern direkt aus der Unterwelt, aus seinem Grab sprechen. Die ethnologische Lektüre, soweit sie als Vermittlung eines Wissens über die Erfahrung des Initiationsritus verstanden wird, erweist sich als Irrweg. Der ethnologische Intertext dient vielmehr dazu, den Leser zum Ethnologen zu machen, der der Initiation des Erzählers beiwohnt, um dann durch dessen tatsächlichen Tod selbst vor die Frage nach der Darstellbaikeit der Erfahrung des Todes gestellt zu werden. Der Lektüreprozeß wird mit dem eigentlichen Rätsel der Initiation konfrontiert, nämlich dem Rätsel des Todes. Mit dem Tod der Figur durchbricht der Erzähler die Wand zum Anderen. Danach wird auch er als eine weitere Stimme unter den Stimmen der Toten sprechen. Mit dem Tod des Erzählers endet seine Aufgabe als Vermittler zwischen der Sprache des Romans und der dargestellten Welt. Der hetero-

55 Die Sterbeszene ist eine gelungene Darstellung klaustrophobischer Angst Im ganzen Textzusammenhang kann man darin die Modellierung einer kommunikativen und existentiellen Situation sehen (Lorente-Muiphy, 1988:83). 56 Vgl. das unmittelbar danach einsetzende neue Fragment mit dem Dialog zwischen der toten Dorotea und dem toten Juan im Grab. 57 Etwa der Urin auf dem Boden des Zimmers.

230 diegetische (neutrale) Erzähler der Geschichte von Pedro Páramo, wird rhythmisch durch die Stimmen von Toten oder durch die autistische Stimme der Leidenschaft von Susana San Juan unterbrochen. Überdies durchkreuzt die Leidenschaft der Stimmen die Darstellung der Macht des Kaziken. Der Widerstreit zwischen Erzähler und Stimmen kann weder makro- noch diskursstrukturell aufgehoben werden. Diesem Prozeß gilt im folgenden nachzugehen. 1.2 Tote als Gesprächspartner: Der Orientierungsverlust im Lektüreprozeß Während das Paradoxon der sprechenden Toten auf der Ebene der Makrostruktur58 durch entsprechende Interpretationsmodelle auflösbar wäre, vertieft die Erzählsituation in diesem Roman den paradoxalen Modus des Erzählens und macht ihn zum diskursstrukturellen Prinzip. Dabei stehen der erste und der zweite Teil des Romans in Kontrast zueinander59: Im ersten Teil erzählen ánimas en pena, d.h. ruhelos umherirrende Seelen (Damiana Cisneros) oder Phantasmen (Eduviges Dyada60) dem noch lebenden Juan die Geschichte der Vergangenheit. Diese Stimmen haben eine andere Qualität als die Stimmen der einzigen Überlebenden in Cómala, des inzestuösen (adamitischen) Geschwisterpaars, wie Juan im Vergleich feststellt: "Las palabras [...] no tenían ningún sonido" (61). Nachdem der Sohn, dessen autbiographische Perspektive im ersten Teil durchgehend61 als Begleiter des Lesers fungiert, stirbt und sich als Ich-Erzähler auslöscht62, wird die Geschichte des Vaters, des Kaziken, in der dritten Person erzählt. Sie wird von Fragmenten unterbrochen, in denen sich Stimmen von Toten in Form von Monolog oder Dialog an ihre Vergangenheit erinnern. Darunter befindet sich auch die Stimme Juans. Ist der Erzähler in der ersten Hälfte des Romans noch bemüht, die "aus den Wänden kriechenden Stimmen" zu rationalisieren und somit für den Leser als hermeneutische Stütze zu fungieren, so begegnet der Leser danach direkt den Stimmen der Toten, von denen der ehemalige Erzähler nun selbst eine ist.

58 Ein Beispiel hierfür ist der die Reise in die Unterwelt ebenfalls inszenierende Roman Hombres de maiz von Miguel Angel Asturias. In diesem Roman stellen die Mythen vornehmlich eine "andere" Bewußtseinsform dar, von deren Koexistenz mit der rationalistischen Weltsicht im wirklichen Leben die Vielstimmigkeit und Polyperspektivik des Romans Beweis liefern sollen (ROssner, 1988b). Das Verstehen der Mythen wird zwar thematisiert, aber nicht in Frage gestellt Die Unterweltszene liefert vielmehr den hermeneutischen Schlüssel für die mythische Interpretation der vorangegangenen unverständlichen Ereignisse. 59 Schräder stellt ahnliche Variationen des Diskursvertialtens fest (1978:173). 60 Deutlich als Phantasma markiert (vgl. oben); Selbstmörderin und die erste, die Juan in Comala empfängt 61 Die kurzen Unterbrechungen der Erinnerung Pedros an seine frühe Liebe für Susana sind zunächst nicht direkt einzuordnen. 62 In Fr. 33, dem ersten der zweiten, nach dem Tod Juans beginnenden Erzählung, berichtet Juan Uber seinen Tod immer noch in der ersten Person, doch diesmal nicht als Erzähler, sondern als direkt sprechende Figur - markiert als direkter Dialog, gleichberechtigt mit den anderen Stimmen aus den Grabem.

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Weitere Varianten des Erzählverhaltens sind festzustellen, die simultan, alternierend und gemischt auftreten63: a) Zwischen den Echos bzw. den Dialogen mit ánimas en pena des ersten Teils und einmal zwischen den Grabesstimmen des zweiten Teils trifft man auf Dialoge, die weder im Hinblick auf die Gestalten noch im Hinblick auf Erzählmotivation und Ursprung der Stimme lokalisierbar sind. Es sind Stimmen, die das ihnen durch die Tyrannei des Kaziken Páramo zugefügte Leid zum Ausdruck bringen. Weil ihr Ursprung nicht feststellbar ist, wiiken sie wie Echos, worauf der Erzähler im ersten Teil direkt anspielt (55). b) In den im mittleren Teil gehäuften Fragmenten befindet sich Juan im gemeinsamen Grab mit Dorotea, einer Randgestalt der Gesellschaft, einer Wahnsinnigen64, Kupplerin im Dienste der machistischen Ausschweifungen Miguels, dem bastardischen Lieblingssohn Pedro Páramos. Vom Standort des Grabes aus hören beide "Figuren" den Stimmen aus den anderen Gräbern zu, vernehmen aber im wesentlichen nur die Stimme der zweiten Frau Pedro Páramos, Susana San Juan, die sich an ihre unerfüllte Leidenschaft für ihren verlorenen ersten Mann, Florencio, erinnert c) Susana tritt einmal als Stimme aus ihrem Grab, einmal als eine in autistische Traumerinnerung versunkene Lebende auf. Beides stellt ein quantitativ und qualitativ wichtiges Moment des zweiten Teils dar. d) Parallel dazu nimmt die eigentliche Geschichte des Kaziken Pedro Páramo einen wesentlichen Raum im zweiten Teil ein, wobei sich die Sequenzen dieser Geschichte entsprechend den Indizien des Textes, losgelöst von den Zeugen aus den Gräbern und im Modus der szenischen Repräsentation bzw. mit einer dem Anschein nach neutralen, z. T. personalisierten Erzählperspektive abspielen. Der Hauptteil der Geschichte des Kaziken gibt sich als das Werte eines neutralen Erzählers aus, der den Herrscher Cómalas auch mit den Augen des Verwalters Fulgor darstellt65. Wohl beginnt die Geschichte Pedros schon im ersten Teil (Fr. 5). Doch handelt es sich um den Beginn einer anderen Geschichte als die des Kaziken, nämlich jene Geschichte der Erinnerung an die Leidenschaft für Susana, die den alten Herrscher zerstören wird (vgl. weiter unten). Abgesehen vom neutralen Erzähler, der Uber die Geschichte des Kaziken und von dessen Arrangement mit der Revolution berichtet, herrscht im Roman eine vielfache Verwirrung, die das Verhältnis der Stimmen zur Erzähllogik schwer bestimmbar macht, wobei der Unterschied zwischen der Sprache der Toten und der Traume rinne-

63 Vgl. auch Link-Heer, 1992:273. 64 Dorotea, die sich ihre Mutterschaft einbildet und mit einem Lumpensack im Arm vortauscht, daß es ihr Kind sei 65 Auch Schräder (1978:173).

232 rung der lebenden Susana San Juan nicht markiert ist66. Die Funktion dieses Widerstreits der Stimmen und der Erzählmodi in bezug auf die Makrostruktur ist nicht erkennbar®7. Außerdem haben die Äußerungen, die Juan als Zeuge in der "Unterwelt" vernimmt, eine schwache Beziehung zur Logik der Handlung. Sie lassen sich unter folgenden Typen zusammenfassen: a) Angst vor der Gewalt Pedros (99-100); b) Susanas Erinnerungen an den Tod ihrer Mutter (95-98) und c) an die erotischen Momente mit ihrem verstorbenen Mann, Florencio (125)68. Was die Vatersuche betrifft, erfährt der Sohn in der "Unterwelt" nichts Wesentliches. Doroteas grobe Zusammenfassung, die Juan den Schlüssel für die phantastischen Ereignisse bei seiner Ankunft in Cómala liefert (p. 100-102), nämlich, daß Pedro Páramo Dorf und Dorfbewohner aus Rache zerstört habe, weil niemand Mitleid beim Tode Susanas gezeigt habe, enthält nichts Neues69 im Vergleich zu den Informationen durch Abundio im 2. Fragment. Dort hatte dieser70 Pedro Páramo als urt rencor vivo (10) bezeichnet. Die Kausalität des Wechsels zwischen den verschiedenen Erzählmodi entzieht sich einer Stnikturierung, und der Standort des Erzählens71 läßt sich schließlich nur noch lückenhaft feststellen72. Daß sich die Erzählerinstanz in schwer lokalisierbare Stimmen fragmentiert, wird in der Forschung zwar als die Modellierung einer Identität interpretiert, die eher dem kollektiven als dem individuellen Bewußtsein entspricht, was wiederum auf die präkolumbische Tradition zurückgehen soll73, doch bleibt das Rät-

66 Die Übersetzerin, Mariana Frenk, hat wohl diese Schwierigkeit ericannt und durch Einschöbe von Sprecherangaben versucht, Orientieningshilfe zu geben (vgl. auch Schräder, 1978:172). Es zeigt sich allerdings, daß die Übersetzung des Spiels zwischen Vagheit und Anspielung Schwierigkeiten bereitet So bemüht sich Marta Portal, fttr jedes Fragment Sprecherpositionen ausfindig zu machen, was aber die Komplexität des Textes im wesentlichen zerstört (1981:26-108). Ihre Numerierung der Fragmente stimmt Übrigens nicht mit meiner Uberein, da sie die spatere Ausgabe von Planeta (1969) zugnmdelegt 67 In ihrer Analyse des Romans sieht U. Link-Heer das Besondere am Roman Rulfos zu Recht darin, daß dieser Text das Verhältnis von Oberflächen- und Tiefenstruktur umkehrt (1992:269f.). Es handle sich um eine "Oberfläche ohne Tiefe" (1992:273f.) insoweit, als der Text selbst die Kohärenz der zahlreichen hermeneutischen Anspielungen durchkreuzt 68 Hinzu kommt nur, daß Dorotea von ihrem Wahnsinn erzählt und die Umstände von Juans eigenem Tod im ersten Fragment beschreibt 69 Bei Dorotea ergibt sich ebenso wie bei Abundio, daß Gewalt und Rache die Komponenten des Lebens Pedros waren (Rache nach dem Mord an seinem eigenen Vater). Das Thema der Rache der Söhne ist auch in diesem Roman bedeutend (vgl. Rodríguez-Alcalá, 1965:103f.) und knüpft an die bei Revueltas angestellten Überlegungen zur Rolle der reivindicación in der mexikanischen Geschichte an. Dorotea ergänzt das Bild der Rache lediglich durch Hinzufügung des Motivs einer unerwiderten großen Leidenschaft für Susana San Juan - insgesamt ein stereotypes Bild für den mexikanischen Machismo. 70 Der Ton ist emotional und evaluativ gefärbt, obwohl Abundio schon tot ist, wie der Leser spater erfahren wird. 71 Vgl. auch Maria Portal: "El origen de la enunciación es casi irreparable en el texto" (1981:21). 72 Auch die Zeugen Juan und Dorotea können die Stimmen, mit Ausnahme der Susanas, nicht lokalisieren. Die Frage nach dem Ursprung der Stimme ist ein häufiges Gesprächsthema (z.B. 98). 73 Vgl. Diskussion zu Identität und Mündlichkeit in n.1.1 und den Förschungsbericht zu diesem Roman.

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sel der labyrinthischen Wechsel der Erzählmodi sowie der paradoxalen Verquickung von Leben und Tod bei einer solchen These ungelöst74. Dem Widerstreit der Stimmen im Erzählverhalten entspricht auch ein nicht auflösbarer Konflikt zwischen den verschiedenen Teilen des Romans. Der zweite Teil wird quantitativ durch die Figur des Pedro Páramo beherrscht. Während der erste Teil, entgegen dem klassischen Text des Realismus, der durch die Exposition den Lektürepakt mit dem Leser konsolidiert, eine systematische Verunsicherung kodifizierter Lektüremöglichkeiten herbeiführt, die sich mit der Verwirrung des Diskursverhaltens des Romans als übergreifendes Prinzip erweist, scheint im zweiten Teil die Geschichte des Kaziken durch den neutralen Erzähler eine gewisse Ordnung wiederherzustellen. Andererseits wird jedoch die Erzählung des Aufstiegs von Pedro Páramo zum Kaziken des Landes um Cómala durch die Erinnerung der Toten und seine eigene Erinnerung an Susana San Juan durchkreuzt. Der Widerstreit, die Unmöglichkeit gelungener Kommunikation jenseits des politischen Diskurses wird auf jeder Ebene des Romans verwirklicht und gibt diesem eine Kohärenz, die paradoxerweise eine desintegrierende Wirkung sowohl auf die makro- als auch diskursstiukturellen Einheiten ausübt.

2. Traumerinnerung vs. Kommunikation: Die Geschichte des Pedro Páramo Im zweiten Teil des Romans stehen sich zwei Gestalten gegenüber: Susana und Pedro Páramo. Susana San Juan erinnert sich zum einem aus dem Grab heraus, zum anderen als Lebende, die sich in einem gleichbleibenden Zustand von Tagtraum befindet, an ihre Leidenschaft für Florencio; eine Leidenschaft, die bewirkt, daß sie sich Pedro gegenüber verschließt73. In Opposition dazu handelt der Kazike und bewegt sich in blitzschnellem Tempo hin zur Apotheose eines allmächtigen Aufstiegs. Sein erfolgreiches Leben hat nur eine Lücke, einen wiederkehrenden, ihn schließlich resdos erfassenden Schmerz: Die unerwiderte Leidenschaft für Susana San Juan. Beide Hauptfiguren des zweiten Teils führen Sprachhandlungen aus. Die Sprachhandlung Susanas ist autistisch; eine im Modus des Traums76 fließende Sprache, die 74 Julio Ortega sieht bspw. in der Tatsache, daB es ein strukturelles Paradoxon wäre, wem der Erzähler in der Mitte des Romans sterben würde, den Grund für die Annahme, daB Juan Preciado nicht tot sein kann: "Si el héroe fuera un muerto la novela tendría una falla estructural en la división espectral que su muerte opera como eje, entre la desaparición del hijo y la presencia plena del padre" (1974:86). Gerade dieses strukturelles Paradoxon sollte aber nicht aus der Perspektive einer idealtypischen nanatologischen Position verneint werden. 75 Die Symptome können als die einer autistischen Psychopathin gelesen werden, (vgl. Berg, 1979:304-307 und 316). 76 Der Modus des Traums von Susana San Juan laßt sich mit der Charakterisierung von Roger Caillois (1956), insbesondere bezuglich der Opposition zwischen Erinnerung und Traum, beschreiben; letzterer beinhaltet im Wachzustand das Verschwinden der Trauminhalte aus dem Gedächtnis: "toute cette saison de félicité, qui avait peutStre duré des années entières, s'abîmait dans d'impitoyables ténèbres qui n'en restitueraient rien" (37). Auch bei

234 Pausen in der Kommunikation produziert. Pedros Sprachhandlungen dagegen sind im zweiten Teil - lediglich performative Sprechakte77, die stets von Erfolg gekrönt sind. Die Fragmente, die den aktiven Pedro Páramo repräsentieren, sind kontrastiv zu den Totengesprächen und den Erinnerungsträumen7® Susanas geführt. Diese Fragmente stellen aufeinander aufgebaute Sequenzen dar, die auch eine chronologische Zeit erkennen lassen, eine Zeit, die zu Recht dynamisch79 genannt wird, weil die erfolgreichen Ereignisse rasch und präzise aufeinanderfolgen. Auch die Motivationslogik wird hier bewahrt. Sie läßt erkennen, daß Pedros Handlungen, die meistens aus Befehlen bestehen, auch den Verlauf der Ereignisse bestimmen. Durch den kontrapunktischen Aufbau der Fragmente des zweiten Teils werden zwei Formen sprachlicher Performanz voneinander abgesetzt: Während die erstere ohne zeitliches Gefüge ist, ist die andere in einen chronologischen Zusammenhang eingebettet, während die Gesprächspartner in eine Interessenkonstellation eingebunden sind und eine präzise Struktur von Intentionen und Interessen zeigen. Letztere Sequenzen konstruieren Machtverhältnisse, denen sich auch die Revolution unterwirft, so daß die Realität, das Leben oder der Tod von Cómala gänzlich von ihnen bestimmt sind. Die Sprache wird durch die Kontrastierung von autistischem Traum und kommunikativem Erfolg als Thema hervorgehoben. Der Beginn dieses Textabschnittes koinzidiert mit dem Einbruch der Revolution. Das Thema der Kommunikation wird am Anfang markiert: F r . 47: El Tartamudo, ein Stotterer, teilt P.P. mit, daß der Gutsverwalter Fulgor von den Revolutionstruppen hinterrücks80 erschossen wurde, nachdem man ihm befohlen hatte, zur Media Luna zu reiten. P.P. befiehlt dem Tartamudo, den Truppen mitzuteilen, daß er sie auf seinem Gut erwarte. Trotz der Sprachschwierigkeiten, die im Text mimetisch dargestellt werden, funktioniert die Kommunikation vorbildlich: -¿Y qué esperas? ¿Por qué no te mueves? Anda y díles a ésos que aquí estoy para lo que se les ofrezca [...] ¿Conoces al 'Tilcuate'? Allí estará. Dfle que necesito verlo. Y a esos fulanos avísales que los espero en cuanto tengan un tiempo disponible. ¿Qué jaiz de revolucionarios son? -No lolo sé. Ellos ansí se nonombran" -Dfle al 'Tilcuate* que lo necesito más que de prisa. -Así lo haré, papatrón (118).

Caillois, wie bei Halbwachs für die Vergangenheit, kann die Erinnerung an den Trauminhalt nur eine nachträgliche Konstruktion "du point de vue de la veüle" sein (44). 77 Nur als Kind (im ersten Teil des Romans) und am Ende seines Lebens, d.h. als Teil einer anderen Geschichte als die des Kaziken, hat Pedro Erinnerungen. 78 D.h. Erinnerungen im Modus des Traums. Dieser Modus wird durch zusätzliche Anführungsstriche besonders hervorgehoben. 79 Z.B. Portal (1981:158-159). 80 Eine gangige An der Revolutionare, Justiz zu auszuüben (vgl. auch Revueltas).

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Fr. 48: Pedro Páramo denkt über das Leiden Susanas und über seine Unfähigkeit nach, sie zu verstehen: Si al menos hubiera sabido qué era aquello que la maltrataba por dentro, que la hacía revolcarse en el desvelo, como si la despedazaran hasta inutilizarla. Él creía conocerla. Y aun cuando no hubiera sido así, ¿acaso no era suficiente saber que era la criatura más querida para él sobre la tierra? [...] ¿Pero cuál era el mundo de Susana San Juan? Ésa fue una de las cosas que Pedro Páramo nunca llegó a saber (119/120)". Fr. 49: Susana erinnert sich an einen erotischen Augenblick am Strand und an das Unverständnis Florencios bezüglich ihrer Leidenschaft für das Baden. Die Anspielung auf die fehlende Kommunikation ist mit dem autistischen Genuß Susanas im Meerwasser kontrastiert: 82 "Mi cuerpo se sentía a gusto sobre el calor de la arena. Tenía los ojos cerrados, los brazos abiertos, desdobladas las piernas a la brisa del mar. Y el mar allí enfrente, lejano, dejando apenas restos de espuma en mis pies al subir de su marea [...]" [...] "-Me gusta bañarme en el mar- le dije. "Pero él no lo comprende. "Y al otro día estaba otra vez en el mar, purificándome. Entregándome a sus olas" (121). Der Text bezieht die Darstellung des Arrangements zwischen Pedro Páramo und dem Revolutionär mit der Darsstellung von Susanas langer Agonie konsequent aufeinander. Ihre Agonie ist von einer sie orgiastisch bewegenden Sehnsucht nach dem verlorenen Florencio gezeichnet, während gleichzeitig ihre sehnsuchtvolle Erinnerung als Tote im benachbarten Grab durch die Zeugen Juan und Dorotea vernommen wird. Die in realistisch-neutraler Perspektive szenisch geführten Dialoge Pedro Páramos mit seinem früheren Mitarbeiter Damasio, der jetzt als Revolutionär agiert und die übrigen revolutionären Truppen von der Medialuna, dem Besitztum Pedro Páramos, ablenken soll, alternieren mit den Szenen der Agonie Susanas und den Klagen der Toten im Grab vor den ebenfalls toten Zeugen Juan und Dorotea: Fr. 50: Erfolgreiche Korruption: Pedro Páramo lädt die Führer von 300 Rebellen, u.a. seinen früheren Mitarbeiter Damasio (El Tilcuate) zum Abendessen ein, mit dem Ziel einer Vereinbarung monetärer (100.000 Pesos) und praktischer Unterstützung (300 Männer) durch Pedro Páramo, um von den sich formierenden revolutionären Truppen verschont zu bleiben. Eine Privatvereinbarung zwischen P.P. und dem caudillo Dama-

s i Es handelt sich um eine beispielhafte Stelle für den neutralen Erzähler, der sich in diesem zweiten Teil des Romans mit den Toten als Zeuge abwechselt 82 Anführungszeichen im Text (vgl. Anm. 116).

236 sio mit Schenkung von "el ranchito de la Puerta de Piedra" als Belohnung - ohne das Wissen der Männer (124)83. Auch im Reich der Toten übersteigen manche Äußerungen der Leidenschaft die Möglichkeiten des Verstehens: Im Fragment 51 gibt Juan Preciado Dorotea die eben gehörten Sehnsüchte Susanas wieder sowie ihre schmerzhafte Erinnerung an den Augenblick, als Florencio durch einen Unfall ums Leben kam (125). Die Erinnerung drückt Susanas Verwirrung beim Gefühl der Leere an ihrer Seite aus, das entstanden war, nachdem sich der (verunglückte) Florencio übermäßig verspätet hatte. Juan und Dorotea wissen die Äußerungen nicht zu dekodieren. Sie scheitern als Übersetzer und Interpreten und nehmen lediglich das akustische Geräusch einer "Explosion" im benachbarten Grab von Susana wahr: -Se ha de haber roto el cajón donde la enterraron, porque se oye como un crujir de tablas. -Sí, yo también lo oigo. (126) Der pragmatische Erfolg im Kommunikationsakt gehört offensichtlich nur dem Kaziken und nur in den politischen Bereich. Auch die weiteren Fragmente kontrastieren systematisch das Mißlingen von Pedros Innenleben (Fr. 50 und 52)®4 und die autistischen Sprachhandlungen Susanas mit dem kommunikativen Erfolg des Kaziken, als er sich mit der Revolution arrangiert, letzteres selbst auf der Basis der Mißachtung der Intentionen anderer: Im Fr. 53 und 54 gelingt es Pedro Páramo, die Passivität und Persönlichkeitsschwäche seines Rechtsanwaltes zu nutzen, um diesen trotz dessen Wunsch, der Revolution zu entfliehen, zum Verbleib in seinen Diensten zu bewegen. Eine Steigerung des Kontrastes ergibt sich, wenn Pedros psychischer Verfall85 und sein Aufstieg zum indirekten Drahtzieher der Revolution in demselben Fragment (56)

83 In diesem kurzen Fragment sind in prägnanten Sprechakten die politischen Funktionen des Kaziken in der HerrschaftsstruVtur Mexikos dargestellt: Der Kazike, der seit der colonia durchgehend eine Vermittlerrolle zwischen der aztekischen Hegemon ialstruktiir und der spanischen Herrschaft Übernommen und es strukturell ermöglicht hat, daß zur Jahrhundertwende eine kapitalistische Gesellschaft in das noch bestehende Feudalsystem Einzug halt, erhalt nun auch während der Revolution eine indirekte Macht. Verbale Oberzeugungskraft und politische Intrige (Schenkung an Damasio) als Alternative zu der ansonsten praktizierten Aneignungspolitik durch Gewalt werden zu Werkzeugen im Augenblick der eindringenden Gefahr der Revolution. Im weiteren Text wird die Charakterisierung ergänzt: Die strukturelle Position des Kaziken in der zentralisierten Machtpolitik Mexikos wahrend und nach der Revolution beruht ebenfalls auf seiner - wieder durch erfolgreiche Sprechakte dokumentierten - Vermittlerstellung. In dieser verfilgt er arbiträr Uber das Land und die Bauern (Fr. 60), was verhindert, daß sich eine selbstständige Landbevölkerung entwickelt, die am politischen Leben aktiv teilnehmen kann. Der eigentliche Gewinner der Revolution ist der Kazike (Joseph, 1980). Auch in der Stabilisierungsphase nach der Verfassung von 1917 kehrt der Kazike zur Alternative der Gewalt zurück; eine Phase, die bei Elena Garro vertieft wird. 84 Dies betrifft auch das Verhältnis Pedros zu Damiana und umgekehrt Im Fr. SS dekodiert Damiana Pedro Páramos Klopfen an ihrer SchlafzimmertUr falsch und versäumt für immer die Erfüllung ihres jahrelangen Wunsches nach seiner (sexuellen) Gunst. 85 Pedro fühlt sich wie ein alter Baumstamm, der anfängt, innen "morsch zu werden", und erinnert sich daran, als er in seiner Vorstellung das Leib eines ihm gefügig gewesenen jungen Mädchens in Susana verwandelt hatte: "Una mujer que no era de este mundo". (136)

237 verknüpft werden86. Während Susanas Agonie ist ihr Bewußtsein von den ekstatischen Erinnerungen an die erotischen Augenblicke mit Florencio beherrscht, die wiederum als Schmerzensschrei (miß-)verstanden werden. Diese Agonie (Fr. 57-59) wird durch die kostumbristische Szene zweier vom Adventgebet aus der Kirche kommenden alten Frauen unterbrochen. Ist der Zustand Susanas für Pedro auch unverständlich, so dekodieren dagegen die zwei Frauen das Ausgehen des Lichtes in Susanas Zimmer richtig als Zeichen eines tragischen Ereignisses, nämlich ihres tatsächlich gerade eingetretenen Todes*7. In Frag. 60 ergibt sich eine karnevaleske Umkehrung der Zeichen, als das Volk die Intention des Trauerglockenläutens mißversteht und als Ankündigung eines Festes interpretiert. Eine solche Umkehrung der Zeichen wird bei der Sterbeszene Susanas (Fr. 59) in einem Augenblick höchster Spannung vorweggenommen. Susana, von der der Pfarrer erwartet, daß sie die Worte der Reue wiederholt, hält an der nun obsessiven Erinnerung an ihre körperliche Liebe mit Florencio fest. Das Mißverständnis oder Unverständnis zwischen dem Pfarrer und Susana wird deutlich hervorgehoben: -Tengo la boca llena de tierra. -Sí, padre. -No digas: "Sí padre." Repite conmigo lo que yo vaya diciendo. [...] "Tengo la boca llena de ti, de tu boca. Tus labios apretados, duros como si mordieran oprimiendo mis labios [...]" (141/142). Der mißlungenen Kommunikation im Bereich der Trauer entspricht auf der anderen Seite der Erfolg von Pedro Páramo, der von diesem Augenblick an ein Einsiedlerleben führt, mit der kommunikativen Intention, das Dorf aus Rache zu ruinieren; eine einzige, auf Jahre hin wirkende, erfolgreiche Sprachhandlung: -Me cruzaré de brazos y Cómala se morirá de hambre. Y así lo hizo (147). Mit diesem Fragment beginnt der letzte Teil des Romans, in dem die Untätigkeit von Pedro Páramo dominiert. Der Verfall seines Reiches, das von der Bevölkerung verlassen wird, fallt mit der Tatsache zusammen, daß sich seine träumerische Natur, die sich schon in der Kindheit angekündigt hatte, uneingeschränkt durchsetzt. Infolge der nun obsessiven und ausschließlichen Konzentration auf die Erinnerung an Susana beherrscht diese das Bewußtsein Pedros. Susana bezwingt auch die Landschaft Cómalas,

86 Auch dies durch einfache Sprachakte: PP. lehnt Geldfordcningen von Damasio ab, empfiehlt ihm aber, sich das Geld bei den Reichen im benachbarten Contla zu holen, worauf Damasios Antwort den Erfolg Pedros bestätigt: " - Loque sea, patrdn. De usted siempre saco algo de provecho." (136). 87 Das Ideine Fragment einer Skizze der Provinz Mexikos, die außerdem das unterwürfige Verhalten der Glaubigen gegenüber dem Seiior illustriert, ist ein Beispiel für die vorwiegend neutrale Perspektive dieses zweiten Teils, verknüpft mit der szenischen Unmittelbarkeit von Dialogen.

238 die sich nur noch als Wiederspiegelung des sehnsüchtigen Blickes Pedros zeigt und von jenem glanzlosen Licht88 umhüllt ist, in dem ihre Erscheinung verschwand: Y siguió: "Hace mucho tiempo que te fuiste, Susana. La luz era igual entonces que ahora, no tan bermeja; pero era la misma pobre luz sin lumbre, envuelta en el paño blanco de la neblina que hay ahora. Era el mismo momento. Yo aquí, junto a la puerta mirando el amanecer y mirando cuando te ibas, siguiendo el camino del cielo; por donde el cielo comenzaba a abrirse en luces, alejándote, cada vez más desteñida entre las sombras de la tierra (148). Die Erinnerung bestimmt das Erzählverhalten, das bis zum Tode Pedros den Modus des Traums beibehält. Entgegen den weiter oben kommentierten Sequenzen des Erfolgs Pedro Páramos sind hier die Fakten nur noch undurchsichtig. Pedros Sehnsucht bestimmt den Standpunkt der Perspektive. In ihrem Spiel von Schatten und nebelhaftem Licht geht der zeitliche Zusammenhang verloren. In chiastischer Bewegung zum pragmatischen und politischen Zerfall gewinnt nun der Träumende zunehmend an innerer Luzidität, die ihn seinen eigenen Tod voraussehen läßt. Dieser Vorsehung folgt jedoch eine restlose Amnesie: Das letzte Bild des Romans ist der Zusammenbruch von Pedro zu einem montón de piedras, einem Steinhaufen, der alle Erinnerungen überschüttet. Die Repräsentation der Erfolge des Kaziken, zu der auch der kommunikative Erfolg Pedros im Rahmen des Arrangements mit der Revolution gehört, beachtet die Regeln der realistischen Mimesis (Fr. 50,53,54 bzw. 58), wobei den Handlungen durch die vorwiegend szenische Führung Evidenz und Unmittelbarkeit verliehen wird. Dazu gehören die Fragmente, in denen die Geschichte der Revolution geschrieben wird; ein für die Akteure des revolutionären (Schau-)Spiels erfolgreiches und wirksames kommunikatives Handeln, das der Text sowohl handlungslogisch als auch strukturell verknüpft. Die Unmittelbarkeit und zugleich die Dichte der Darstellung wird in dem einen Minifragment besonders deutlich, in dem die Phasen der Revolution von etwa 1916 bis 1925 auf das essentielle Element der Sprechakte reduziert sind, die an die Didaskalien und Dialoge einer Theaterszene erinnern: El Ticuate siguió viniendo: -Ahora somos carrancistas. -Está bien. -Andamos con mi general Obregón. -Está bien.

88 Es ist das ewig fahle Licht Cómalas, das zuweilen schwarz-weiB wird (71). Die erste Wahrnehmung eines solchen Lichtes geht auf die Figur der trauenden Mutter Pedros zurück, deren weinende, schwarze Gestalt auf der TUischwelle verhindert, daß das Morgenlicht sich ungehindert ausbreiten kann: "Y aquf, aquella mujer, de pie en el umbral; su cuerpo impidiendo la llegada de día; dejando asomar, a través de sus brazos, retazos de cielo, y debajo de sus pies regueros de luz: una luz asperjada como si el suelo debajo de ella estuviera anegando en lágrimas. Y después el sollozo. Otra vez el llanto suave pero agudo, y la pena haciendo retorcer su cuerpo. -Han matado a tu padre. -¿Y a ti quién te mató, madre?" (33).

239 -Allá se ha hecho la paz. Andamos sueltos. -Espera. No desarmes a tu gente. Esto no puede durar mucho. -Se ha levantado en armas el padre Rentería. ¿Nos vamos con él, o contra él? -Eso ni se discute. Ponte del lado del gobierno. -Pero si somos irregulares. Nos consideran rebeldes. -Entonces vete a descansar. -¿Con el vuelo que llevo? -Haz lo que quieras, entonces. -Me iré a reforzar al padrecito. Me gusta cómo gritan. Además lleva uno ganada la salvación. -Haz lo que quieras (147). Mit poetischen Verfahren modelliert dieses Fragment die rasche Abfolge der Handlungen, die wie Rollenwechsel auf der Bühne stattfinden, während die Schauspieler mit einem automatisierten Impetus wie Marionetten zur Pistole greifen*9. Der LitaneiCharakter ist nur noch eine ironische Wiedergabe der rituellen Handlung des Revolutionsmythos. Mit der unprätentiösen Erscheinung einfacher Dialoge werden zentrale Momente der revolutionären Geschichte Mexikos dramatisch und mit vernichtender Kritik ins Leben gerufen. Die Abhängigkeit der revolutionären Kräfte von den etablierten und aus einem Feudalsystem erwachsenen Machtinteressen des Kaziken wird denunziert und die zerstörerische Mischung von umwälzender Geste und regressivem Glauben ("ganar la salvación") offengelegt. Die Ambivalenz von ganar (finanzielle Bereicherung und moralische Belohnung) im Zusammenhang mit salvación stellt in prägnanter Weise die Verknüpfung opportunistischer Ziele unter der geschichtlichen Perspektive eines Heils dar. Eine zynische und bittere Verurteilung der Geschichte der Revolution liegt auch mit der Ambivalenz des caudillo und des Kaziken in der Figur Pedros vor. Als Dorfkazike und damit als rückständige Herrschaftsinstanz nimmt gerade Pedro die Geste der Revolution, die Umwälzung, in die Hand. Er interpretiert die Bedeutung der revolutionären Geste "richtig", wenn er den um finanzielle Hilfe bettelnden Revolutionär Damasio an seine Verantwortung für den Forschritt (Plünderung der Reichen) als Kampf gegen den Regreß (betteln) erinnert: ¿Para qué crees que andas en la revolución? Si vas a pedir limosna estás atrasado [...] Échate sobre algún pueblo! [...] Hazles ver que no andas jugando ni divirtiéndote. Dales un pegue y ya verás como sales con centavos de este mitote (135136). Mit der Geschichte eines Kaziken wird die Kontinuität von Machtverhältnissen in Mexiko illustriert; die Kontinuität einer auf Enteignung und Brutalität gründenden Macht, die fähig ist, auch die Revolution zu vereinnahmen. Nur die Pedro Páramo-Sequenzen des zweiten Teils des Romans lassen eine (wenn auch rudimentäre) Chronolo89 Auf die Automatisierung des Gebrauchs der Pistole bezieht sich ein wesentlicher Teil von Revueltas' Kritik an der Mythisienmg der Revolution (vgL VI, 1.1.).

240 gie erkennen. In diesen ist die erzählte Zeit nicht von der Arbitrarität des Erinnems beherrscht. Nach der Analyse des zweiten Teils des Romans lassen sich folgende Beobachtungen zur Spannung der Erzahlmodi anstellen: Die Ereignisse des Aufstiegs Pedro Páramos zum Kaziken und sein Arrangement mit der Revolution werden mit einer realistisch kodierten, neutralen Perspektive erzählt. Dabei wird die kausallogische Abfolge respektiert, so daß die Geschichte der Machtaneignung des Kaziken nach der desorientierenden Lektüre des ersten Teils eine neue Ordnung zu bringen scheint. Im kleinen Raum eines Minifragments modellieren die szenische Führung und die poetische Struktur der Dialoge das Umwälzungsprinzip der Revolution. Die syntagmatische Abfolge der Ereignisse deckt außerdem die fortbestehenden Erfolge der porfirianischen Latifundisten auch in der Revolution auf, während die poetische Struktur des Revolutionsfragments eine scharfe Kritik an der Verselbständigung des Revolutionsprinzips ausübt, das nur noch automatisierte Gewaltakte produziert. Diese Fragmente mit historischer Thematik stellen die im ersten Teil gestörte diskursstrukturelle Ordnung wieder her. Die Geschichte des Kaziken und der Revolution garantiert somit auch einen unmittelbaren Erfolg in der Lektürekommunikation. Gegen die kommunikative Unmittelbarkeit dieser "historischen" Fragmente heben sich die Fragmente der Träume und der Nostalgie nach einem verlorenen Paradies ab. Der Text konstruiert einen deutlichen Kontrast zwischen der Ordnung eines als historisch konnotierten Ereignisses (Pedro Páramo und die Revolution) und der Erzählung von Geschichtsfragmenten, deren Herkunft sich im Traum und im labyrinthischen Erzählverhalten verliert. Gelungene Kommunikationsakte betreffen unterschiedslos restaurative (bigotte beatas und Pedro Páramo als Metonymie des Porfiriats), unterdrückende (Kaziken) sowie gewaltsame Akte (Revolution), während ein divergenter Kommunikationsverlauf (Susanas Wunsch in bezug auf Florencio vs. Pedros Wunsch in bezug auf sie) die Fragmente der Liebessehnsucht kennzeichnet. Erfolgreiche Kommunikation koinzidiert mit zerstörerischen Akten, während die Unmöglichkeit einer Erfüllung ihres Begehrens jenseits ihrer Träume die zwei Figuren von Susana und Pedro verbindet. Die Sehnsucht, die in den inneren Monologen oder Dialogen in bezug auf die Traumerinnerung des unerfüllten Wunsches zum Ausdruck kommt (von Susana, Pedro und als Nebenfigur Damiana), hat zwar eine unmittelbare Berührungskraft; die Ursache dieser Sehnsüchte ist jedoch in den Mäandern der Erinnerung verborgen. Asymmetrie des Dialogs und Fehlleistung der Bedeutungsstruktur machen den Text der Geschichte Susanas und Pedros auf einer anderen Ebene bedeutsam. Der unversöhnliche Kontrast zwischen sehnsuchtvoller Traumerinnerung und pragmatischer Kommunikation in diesem zweiten Teil des Romans führt eine Sprach- und Kommunikationskritik durch. Vor dem Hintergrund der Fehldeutungen des Begehrens wird evident, daß sich andererseits unter den scheinbaren Verständigungsleistungen hegemoniale, von

241 Machtinteressen geleitete Handlungen verbergen, die auf einen rationallogisch nicht dekodierbaren Subtext hinweisen: Pedros unerfüllte Leidenschaft. Der Kontrapunkt zwischen Traumerinnerung und Kommunikation läßt die kommunikative Verständigungsleistung des Kaziken zu einer leeren Formel gerinnen90, die Gewaltakte gegenüber den anderen Menschen austrägt, während sich das erfüllte Begehren der Traumerinnerung als die eigentliche parole pleine behauptet91. Die letzte Entwicklung des Romans ist nicht die Wiederfindung der Ordnung und des kommunikativen Erfolgs, sondern das Beherrschtsein des Kaziken durch Trauer, Erinnerung und durch das Abgleiten in eine Traumwelt, die (analog zu Susana) die Kommunikation mit seiner Umwelt autistisch unterbricht. Das letzte Wort des Romans hat in der Tat der stumme Tod Pedro Páramos: Después de unos cuantos pasos cayó, suplicando por dentro; pero sin decir una sola palabra. Dio un golpe seco contra la tierra y se fue desmoronando como si fuera un montón de piedras (156). Diese thematisch ausgeführte Kommunikationskritik bezieht sich auch auf die Komposition: Obwohl in den historischen und politischen Fragmente narrative Kohärenzen erzeugt werden, brechen psychische, erotische und sentimentale Momente ungeordnet und fragmentarisch in das Erzählen ein. Die romaneske Rekonstruktion von Geschichte steht im Konflikt mit der fragmentierenden Tendenz von Erinnerung und Sehnsucht. Dieser Dissenz wird inszeniert, um schließlich die historische Ordnung durch den Rhythmus der Erinnerungen wieder zum Zusammenbruch zu führen - etwa in den letzten Fragmenten des Romans, in denen Pedro am Ende seines Lebens dem Rhythmus fragmentarischer Erinnerungen unterliegt. Die Bedingungen des Erzählens als Rekonstruktion historischer Fakten werden zum Thema gemacht. Damit differenziert und vertieft sich die Frage nach der Darstellbarkeit von Welt, die im ersten Teil mit dem Tod des autobiographischen Erzählers gestellt worden ist. Dabei ist festzustellen, daß die Interferenzen gegen die Ordnung der historischen Fakten von den Stimmen der Toten aus den Gräbern bzw. von ihrer Präsenz (Susana) in der Erinnerung Pedros stammen.

90 Die Dialoge Pedro Páramos werden als Scheindialoge und sein Wort als parole vide entlarvt (Lacan; vgl. Kap. II, A. 148). 91 Ich verweise auf die Analyse der Figur von Susana San Juan (und Dorotea) durch Jímenez de Báez. Susana stellt den Übergang von der criatura deseante (etwa Macario) zur criatura plena dar. Im Kontrapunkt zwischen Susanas Erfüllung und Pedros Zerstörung sieht die Autorin den Angelpunkt fttr die vom Text ausgeführte Transformation der praxis histórica des Kaziken (1990:197ff). Dies in Obereinstimmung mit der vorliegenden Analyse (vgl. 5.2).

242

3. Totengespräche: Geschichte und Erinnerung im Chronotopos des unterirdischen "Paradieses" Juan Preciado und die Fiktion eines autobiographischen Erzählers sind zunächst ein Verbindungsglied zwischen den Bereichen von Leben und Tod. Der erste Teil des Romans hat sich nicht nur durch Handlungen und Wahmehmungsprozesse des autobiographischen Erzählers als Initiationstod identifizieren lassen, sondern auch durch die chronotopischen Bedingungen, die den Archetypus der Reise in die Unterwelt wiederholen, wie sie in der Literatur vielfach kodifiziert ist. Der Weg nach Comala ist der Weg zu einer Hölle, die den Intertext von Dantes Divina Commedia erkennen läßt: Der Weg ist so abschüssig, daß Juan einen Führer (Abundio) braucht92; weitere Merkmale sind die labyrinthische Struktur der Bewegung - wie in der Dantesken selva oscura -, die Schwellen, die es zu überwinden gilt, die Unmöglichkeit, einen Weg zurück zur Außenwelt zu finden und schließlich die absolute Abgeschiedenheit des Ortes, in dem auch nur die Vorstellung, daß in der Nähe Leben überhaupt existieren könnte, fremd ist93. Damit realisiert der Text nicht nur einen für die Lektüreerfahrung wichtigen Initiationsprozeß zum Tode, sondern auch die thematische Relevanz des archetypischen descensus ad inferos macht auch die Dialoge der Toten bedeutsam. Der im descensus ad inferos implizierte Erkenntniswunsch94 steht thematisch im Zusammenhang mit der Suche des Sohns nach dem Vater und damit nach seinem Ursprung. Diese spezifische Form der Suche hat berühmte Vorbilder, unter denen Vergils Aeneis eine besondere Rolle spielt95. Die Suche nach der Begegnung mit den Ahnen hat die Funktion, nach der historischen Identität96 zu fragen, eine Identität, die mit

92 Dies ist auch ein chronoiopisches Merkmal der Unterweh in der präkolumbischen Mythologie, in der sich Mictlán, das Reich der Toten, tief im Zentrum der Erde befindet: "Todos los difuntos iban a Mictlán, considerado como mundo inferior. Sin embargo, con objeto de alcanzar esta motada definitiva debían vencer trances difíciles" (Julián Santo Sainz, 1974, zit. nach Portal: 1981:126). 93 Der Vergleich mit der "AuBenwelt" ist ein rhythmisches Verfahren von Luvina, das die doppelte Perspektive (außeninnen) herstellen soll. In Pedro Páramo ist nach dieser einzigen Erwähnung der Abstieg endgültig vollzogen. Die Perspektive ist "aus dem Grab". 94 Mircea Eliade hat diesen Archetypus mit besonderem Bezug auf den Orpheus-Mythos bei Nerval untersucht und im Sinne eines Prozesses geistiger Regeneration und Verwandlung interpretiert, mit der Erkenntnisproblematik verknüpft und im descensus ad inferos eine symbolische Darstellung "der phänomenologischen Reduktion des Subjekts-alscogito" zur Erlangung der Erkenntnis der Wirklichkeit gesehen (1981:166-171); hier 170. 95 Vgl. auch Fuentes (1969). 96 Ausgehend vom Mythos der Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides und dessen Verarbeitung in Quintilians Rhetorik stellt S. Goldmann in einer diachronischen Untersuchung der Beziehungen der Gedächtniskunst zu dem Toten- und Ahnenkult (Genealogie) fest, daß die gleichsam schäm an istischen Riten des Totenkultes die Funktion hauen, die Memorisierung vergangener Bilder in Uberlieferbare Geschichte zu transformieren, die im Hades, dem "Thesaurus nationaler Erinnerung, [...] sich der kartographischen Bestimmung und dem kraftvollen Zugriff wie ein flüchtiges Traumbild entziehen" (1989:63(1). Der Hades gilt als kollektives Reservoir des Gedächtnisses, und die Begegnung mit dem Hades (in der Phantasie oder im Ahnenkult) repräsentiert die Suche nach historischer Festschreibung.

243 der Suche des Erzählers nach dem Vater in der Krypta von Cómala zunächst als Niederschrift einer dem Gedächtnis aufgegebenen Genealogie vorgestellt wird.

3.1 Die Lehre des Juan in der Unterwelt Vor dem Hintergrund des descensus ad inferos als literarischem Archetypus erinnert Cómala an eine Familienkrypta. Tatsächlich trifft Juan dort bei der Begegnung mit den Geistern von Eduviges und Damiana die ersten Spuren seiner Familie: Eduviges als "quasi"-Muttei97 und Damiana als engste Vertraute des Vaters. Danach steigt er selbst in den Hades. Die Äußerungen der Toten, besonders die der im benachbarten Grab liegenden Susana San Juan, schildern keine Ereignisse, sondern sind vielmehr Ausdruck von Leiden, das mit Abwesenheit und Mangel verbunden ist. Die Stimmen kriechen in fragmentarischer und unmotivierter Weise aus den Gräbern heraus wie die Winde und die Echos in Juans "irdischer" Wahrnehmung der Situation Cómalas. Zwischen irdischer und "unterirdischer" Erfahrung Juans besteht eine Korrespondenz in der Feststellung des Leidens als durchgängigem Existenzprinzip. Doch während die durch das Bewußtsein der Sünde kategorisch bestimmten almas en pena ruhelos durch Cómala wandern und die Dialoge der wenigen Lebenden wie die Antwort auf die Echos und das Murmeln der umherirrenden Geister anmuten9*, sind die Stimmen aus dem Hades mit der Fähigkeit ausgestattet, den Mangel in lyrische Aufschwünge zu transformieren (Susana) oder in humoreske Energie umzusetzen (Dorotea). Dieser Wechsel zwischen "oben" und "unten" ist auffällig. Was für eine Lehre zieht nun Juan angesichts solcher akustischen Zeugnisse? Juan gibt im ersten Dialog mit Dorotea selbst zu, daß es sich bei seiner Suche nach dem Vater um eine Illusion gehandelt habe - eine Illusion, deren Entstehung von den paradiesischen Erinnerungen der Mutter verantwortet wird99: 1C0 Allá hallarás mi querencia. El lugar que yo quise. Donde los sueños me enflaquecieron. Mi pueblo, levantado sobre la llanura. Lleno de árboles y de hojas, como una alcancía donde hemos guardado nuestros recuerdos. Sentirás que allí uno quisiera vivir para la eternidad (74). Mit solchen Erkenntnissen Juans in der Unterwelt wird auf die spanische Tradition des desengaño im Siglo de Oro angespielt, für die "Erkenntnis" mit der Einsicht in den

97 Als Freundin der Mutter erzählt Eduviges Juan, daB sie Dolores in d a ersten Nacht mit Pedro vertreten hatte, so daß sie beinahe seine Mutter hatte werden können: "-Pues si, yo estuve a punto de ser tu madre" (22). 98 Vgl. Episode mit dem adamitischen Paar, Denis und seiner Schwester in 1.1. 99 Solche Passagen symbolisieren das Leben Juans im Imaginären und Juans Ablehnung des Vaters, des Gesetzes, des Realitätsprinzips (Berg, 1979:307fl). 100 Anführungszeichen im Original (Vgl. Anm. 116).

244 illusionären Charakter des Glaubens an die Bedeutsamkeit der irdischen Erscheinung gleichzusetzen ist. Die Lehre Juans ist zunächst durchaus in diesem Sinne zu verstehen. Er wird darüber aufgeklärt, daß das irdische Paradies der sueños der Mutter nicht existiert; ebenso wie Dorotea bereits zu Lebzeiten durch den "gesegneten" Traum ihrer Himmelsreise101 die "Wahrheit" erfahren hatte, nämlich, daß ihr Mutterschaftstraum eine Illusion war. Entsprechend dem literarischen Topos der Reise in die Unterwelt wird der Mythos des irdischen Paradieses durch den Kontakt mit der Unterwelt als Illusion entlarvt: -Mejor no hubieras salido de tu tierra (Dorotea). ¿Qué veniste a hacer aquí? -Ya te lo dije en un principio. Vine a buscar a Pedro Páramo, que según parece fue mi padre. Me trajo la ilusión (76). Die aufklärerische Funktion des desengaño, nämlich die Erkenntnis Juans, daß es sich beim paradiesischen Traum der Mutter um eine Illusion gehandelt hat, ist indes nicht die alleinige Botschaft der Erfahrung in der Unterwelt. Das Wissen, daß es sich um eine Illusion gehandelt hat, vermindert nicht die Faszination der sueños, die in den poetischen Momenten der Sehnsucht Susanas sowie Pedros wiederkehren werden. Das Gleiche trifft für Dorotea zu: Zieht sie im Grab die Bilanz ihres Lebens mit dem Satz "-¿La ilusión? Eso cuesta caro. A mí me costó vivir más de lo debido. Pagué con eso la deuda de encontrar a mi hijo, que no fue, por decirlo así, sino una ilusión más" (76), findet sie dennoch im gemeinsamen Grab mit Juan den ersehnten "Sohn" und realisiert damit ihren obsessiven Wunsch in einer Unzeit des Jenseits. Nicht nur wiederholen sich für Juan die gleichen Stimmen der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies - jene Illusion, die ihn zur Reise angetrieben hatte (z.B. die Stimme seiner Mutter, p. 74) -, sondern auch für Dorotea bestätigt sich im Grab gleichsam die Wahrheit ihrer Einbildung, die den "gesegneten" Traum wiederum als engaño entlarvt: "Me enterraron en tu misma sepultura y cupe muy bien en el hueco de tus brazos. Aquí en este rincón donde me tienes ahora. Sólo se me ocurre que debería ser yo la que te tuviera abrazado a ti" (78). Was bedeutet Illusion unter diesen Umständen? Nur im Hinblick auf ein Realitätsprinzip, verkörpert durch Pedro Páramo, dessen Kennenlernen Juans Reiseziel war, behält dieser Begriff einen Sinn. Bezogen auf die imaginäre Energie der Mutter, auf jene sueños, die Juans Antriebskraft zur Reise darstellten, verliert nicht nur der Begriff des Illusionären jede Bedeutung, sondern Juan findet auch die Träume102 wieder. Die Illusion stellt sich als eine nur auf die Realität des Inhaltes des Traums bezogene Wertung dar, die indes für das Träumen selbst keine Geltung hat. Dementsprechend wird

101 Im "gesegneten Traum" wird Dorotea durch einen Heiligen darüber aufgeklärt, daß sie nur eine eingebildete Mutter sei. Als Beweis zieht er eine Nußschale aus ihrem Bauch heraus. Spatestens mit diesem Traum wird deutlich, daß das Verhältnis von Traum und Erkenntnis humoristisch ist. Ein Heiliger enthüllt ihr das "Heiz" der Wahrheit, wie dies in Pannenides' Lehrgedicht eine Göttin tut 102 Die Traume der Susana oder die Träume Doroteas von ihrer Mutterschaft

245 nur im Hinblick auf die reale Existenz eines irdischen Paradieses in Cómala die Illusion - ganz im Sinne des desengaño - als solche dekuvriert. Juan wird endgültig gewahr, daß er sich irrte, als er einen mythischen Raum auf einen realen Ort projizierte ("te equivocaste de dirección"). Um das von der Dichtung schon immer thematisierte alte Verhältnis zwischen Illusion und Realität geht es für Juan auch in dieser Begegnung mit den Stimmen der Toten, eine Begegnung indes, die weiter als die Umkehning der Opposition zwischen Traum und Realität geht. Mit Juans Tod öffnet sich zwar in der Mitte des Romans jene Tür zur Wahrheit der Welt, deren konfuse Reflexion im irdischen Leben die Wahrnehmung und die Erkenntnis der Wahrheit versperrt hatte. Dennoch weicht die Eikenntnisart von den Vorbildern ab. In der "Unterwelt" von Cómala erfährt Juan keine neue Information103 im Hinblick auf die Geschichte seiner Ahnen und auch keine Antwort auf die Frage nach seiner Identität, sondern er wird mit dem gleichen akustischen Zeichen von leidenden Stimmen konfrontiert und dem gleichen Wissen des "irdischen" Aufenthaltes ausgestattet Nach Durchdringung der Schwelle zur "Unterwelt" kommt nicht eine metaphysische Erkenntnis104 über die "authentische Wahrheit" zum Vorschein, sondern es wird eine Art Teilhabe an negativen Ereignissen wie Ungerechtigkeit (pp.lOOff), Schmerz und Mangel, aber auch an energetischen Momenten von Sehnsucht und Begehren erfahibar, die die Erinnerung an vergangenes Glück ermöglichen. Entsprechend dem Topos hat Juan eine Begleiterin, in diesem Roman die Kupplerin Dorotea.

3.2 Das "irdische" Prinzip der Unterwelt: Begehren als Antriebskraft Dorotea ist eine Schlüsselfigur. Sie erzählt davon, zwei Träume gehabt zu haben: Einen "falschen" und einen "gesegneten" Traum. Unter dem ersten versteht sie ihre eingebildete Mutterschaft: Im Leben trug sie ein Bündel von Tüchern in ihrem Arm, als wäre es ein Kind, weswegen sie für wahnsinnig gehalten wurde. Dem zweiten Traum obliegt es, die philosophische Frage nach der Wahrheit zu stellen, die mit der

103 Dabei ist ein erneuter Vergleich mit Hombres de malz weiterführend: Bei dem Roman Asturias' scheint die Dichtung die traditionelle Funktion der Offenbarung einer höheren Wahrheit mittels einer Traumerfahrung der Unterwelt zu Übernehmen, im Falle Asturias' die mythische Wahrheit des Popul Vuh, der Maya-Bibel. In der Unterwelt erhalten alle mestizierten, ambivalenten und fabelhaften Gestalten die wahre Identität des Naguals. Die Suche, die auch im Roman Asturias' die abergeordnete Struktur ist, scheint im vorletzten Kapitel, in der Unterwelt, eine aus den präkolumbischen Quellen gespeiste metaphysische Antwort zu erhalten. Auch Asturias bleibt jedoch nicht bei diesem Ergebnis stehen. Dadurch, daB der Traum der Unterwelt als isoliertes Zwischenerlebnis ohne Uberdeterminierende Wirkung auf die Struktur des Romans inszeniert wird, bleibt die Findung des Wahren an die Tätigkeit des Traumens innerhalb der Grenzen dieses Kapitels gebunden. 104 Sommers spricht nicht von einem (metaphysischen) Spiegel für die Erkenntnis der Welt, sondern von "Fenster", durch das die Toten aus den Gräbern schauen ("A travis de la ventana de la sepultura: Juan Rulfo", 1974).

246 Allegorie der Nußschale auf die Scholastik zurückgeht: Ein Heiliger zieht eine Nußschale aus ihrem Bauch, um ihr zu zeigen, daß sie kein Kind darin trägt: Tú sabes cómo hablan raro allá arriba; pero se les entiende. Les quise decir que aquello (nuez) era sólo mi estómago engarruñado por las hambres y por el poco comer; pero otro de aquellos santos me empujó por los hombros y me enseñó la puerta de salida: 'Vé a descansar un poco más a la tierra, hija, y procura ser buena para que tu purgatorio sea menos largo'(77). Das Gespräch mit dem Heiligen in ihrem "gesegneten" Traum hat in Doroteas Augen keinen höheren Stellenwert als der "böse" Traum ihrer Illusion einer Mutterschaft. Aus der Perspektive der Unterwelt ist der erste ebensowenig wahr wie der zweite Traum soweit die besprochene Illusionsproblematik. In karnevalesker Umkehrung metaphysischen Denkens legt Dorotea die "wahre Seite des Spiegels", die Quelle des desengaño, nicht in den Himmel, sondern in das unterirdische Grab. Hier liege der Chronotopos des "Philosophierens" (76). Es ist eine Philosophie des irdischen Prinzips aus dem Munde eines toten Körpers. War der Blick dieser Bettlerin zu Lebzeiten aus Erschöpfung und Demütigimg vom Himmel abgewandt und auf die Erde gerichtet105, lehnt sie nun den Himmel als religiöses Symbol und als Symbol des Paradieses ab: Hacía tantos años que no alzaba la cara que me olvidé del cielo. Y aunque lo hubiera hecho, ¿qué me habría ganado? El cielo está tan alto, y mis ojos tan sin mirada, que vivía contenta con saber dónde quedaba la tierra [...] Además, le perdí todo mi interés desde que el padre Rentería me aseguró que jamás conocería el cielo. Que ni siquiera de lejos lo vería...Fue cosa de mis pecados; pero él no debía habérmelo dicho (83). Ihr "unterirdisches Dasein" ist der Körper ohne Seele, ist reine Materie, die sich mit dem Tod willentlich von der Seele getrennt hat: Aquí se acaba el camino -le dije- (al alma). Ya no me quedan fuerzas para más." Y abrí la boca para que se fuera. Y se fue. Sentí cuando cayó en mis manos el hilito de sangre con que estaba amarrada a mi corazón (84). Dorotea vertritt eine "sensualistische" Position, ohne diese mit der Erkenntnisfrage zu verknüpfen106. Es geht um den Körper ohne Seele, möchte Dorotea sagen, wenn sie mit der "Geburt" einer Nußschale aus ihrem Leib die scholastische Symbolik der Nuß umdeutet. Der "Kern" ihres Körpers ist reine Schale, d.h. reiner Zeichen-Körper. Diese

105 "Sólo esa larga vida arrastrada que tuve, llevando de aquf para allá mis ojos tristes que siempre miraron de reojo, como buscando detrás de la gente, sospechando que alguien me hubiera escondido a mi niflo." (76); etwa auch: "Ya de por sí la vida se lleva con trabajos. Lo único que la hace a una mover los pies es la esperanza de que al morir la lleven a una de un lugar a otro; pero cuando a una le cierran una puerta y la que queda abierta es nomás la del infierno, más vale no haber nacido [...] El cielo para mf, Juan Preciado, está aquí donde estoy ahora." (83/84). 106 Monsiváis spricht von einer Religiosität ohne die Idee des Jenseits: "Un eje del mundo rulfiano es la religiosidad. Pero la idea determinante no es el más allá sino el aquí para siempre. La experiencia secular hace que una colectividad sólo sea capaz de concebir cielo e infierno dentro de los límites de su vida diaria, nunca como los paisajes seráficos o satánicos de la imaginería tradicional. Los vocablos teológicos son los mismos pero el significado es muy distinto". (Inframundo, 1983:31).

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Allegorìe hat zugleich mehrfache, sich ausschließende Bedeutungen: Die Wahrheit des theologischen Diskurses wird zugleich bestätigt (Doroteas Mutterschaft ist eingebildet) und als "unwahr" dargestellt (Dorotea ist doch die Adoptivmutter des toten Juan); in der Verbindung mit dem ersehnten seelenlosen Zustand des Körpers nach dem Tod (vgl. das vorangehende Zitat) ist die "leere Nußschale" eine Abkehr von der Frage nach der Transzendenz, was dadurch bekräftigt wird, daß Dorotea die materielle Erscheinung der Schale für ihren zusammengeschrumpften Magen hält und damit als Metonymie für ihre elementare Situation der Privation und des Leidens, als Indiz des So-Seins einer existentiellen Not interpretiert. Doroteas Konzentration gilt dem Diesseits, wenn sie etwa - in Abweichung vom eigentlichen Verständnis der anima als spirituellem Prinzip par excellence - in der Erscheinung der Seele lediglich das Indiz der physikalischen Bindung an den Körper sieht, von der nach dem Tod nur noch ein abgebrochener, blutiger kleiner Faden zurückbleibt107. Der Tod, aus dessen Bereich Dorotea spricht, wird ausdrücklich nicht metaphysisch verstanden, sondern im Hinblick auf eine sinngebende Tiefenstruktur als leer gekennzeichnet. Die Perspektive aus dem Jenseits klärt weder über eine etwaige metaphysische Wahrheit auf, noch führt sie zu einer Umkehrung von Werten. Zu beobachten ist vielmehr eine ironische Distanzierung von beidem. Die Frage nach dem Verhältnis von Text und Wirklichkeit, die der Tod des autobiographischen Erzählers ausgelöst hatte, findet hier eine Antwort: Das in leicht humoristischem Ton geführte konzeptistische Spiel Doroteas mit der Interpretation ist ein Wegweiser für eine allegorische Lektüre10*, die Distanz zu den jeweiligen inhaltlichen Interpretationen schafft, während gleichzeitig der humoristische Ton dieser einfachen Gestalt sowie die Elementarität ihrer Situation Sympathie für das irdische Prinzip erwecken, das sie vertritt. Die Lehre des Dialogs Juans mit seiner "Adoptivmutter" liegt in der Feststellung, daß die Frage nach der Wahrheit der Geschichte der Eltern - des exotischen Paradieses der Mutter und der Gewalt des Vaters - falsch gestellt wurde. Unter der Anleitung Doroteas wird Juan an einer anderen Wahrheit beteiligt, die die desengano-Stmktui des Traums offenlegt: a) Nicht die Erfüllung von Paradiesutopien oder Lebensträumen, sondern die Entwicklung kreativer Energien aus dem Träumen selbst ist wichtig. Jene Antriebskraft, die sich aus Dolores' Sehnsucht nach Cornala oder Juans Begehren nach der Mutter ergibt und ihn zur Reise inspiriert hat, ist bedeutsamer als der erfolgreiche Abschluß durch die Findung eines Ortes des Ursprungs, b) Diese Energie befreit von der Angst und vom Gefühl der Schuld, die sich der Lebenden in Cornala bemächtigt

107 Vgl. auch U. Link-Heers Lektüre einer "OberfUfche ohne Tiefe" (bes. 1992:292f.) 108 Allegorie wird hier im Sinne Benjamins verstanden. VgL Ausführungen zur Barock-Ästhetik und zu Lezama Lima (Kap. V).

248 hatte109. Diese Einsicht fühlt zu einem von Dorotea explizit genannten Angstverlust, wobei der lakonische Diskurs sowie der humoristische Schluß des Dialogs eine emotive Entspannung herbeiführen110: -Ya déjate de miedos. Nadie te puede dar ya miedo. Haz por pensar en cosas agradables porque vamos a estar mucho tiempo enterrados (78). Diese Lehre ist bedeutsam: Im Zusammenhang mit der Identitätssuche Juans impliziert sie eine deutliche Kritik an der teleologischen Basis von Identitätsentwürfen, die einen - autochthonen - Ort der Kultur auf den Ursprung und/oder auf ein zukünftiges Ziel beziehen, welches sich durch Kategorien von Fortschritt und Erfolg definiert. Darüber hinaus macht der Text klar, daß die Verknüpfung der Frage des Ursprungs mit der Identitätsuche auch den Mythos des schuldhaften Verlustes eines ursprünglichen Paradieses ohne Hoffnung auf Erlösung erzeugt. Auch die Frage nach der durch Juan erstrebten historischen Identität111 findet eine Antwort in der "Unterwelt" Cómalas. Vor der Behandlung der historischen Dimension der Identitätssuche soll aber ein letzter Aspekt der Dorotea-Fragmente diskutiert werden, nämlich die von dieser Figur geleistete allegorische Interpretation ihrer Träume.

33 Doroteas allegorische Lektüre Die konzeptistischen Deutungen der Träume durch Dorotea, die Sibylle des Pantheons Cómalas, sind für die Interpretation des Romans selbst vorbildlich. Sie zeigen die Brüchigkeit einer etwaigen allegoretischen112 Relation zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten in Pedro Páramo. Im Gegensatz zur allegoretischen Tradition sind die Prätexte der allegorischen Interpretation Doroteas nicht autoritativ113, sondern werden mit einer humoristischen Geste desakralisiert. Ihr allegorischer Traum hat in der Erinnerung eine karnevaleske Vieldeutigkeit. Dorotea ist befähigt, die Arbitrarität 109 Der Appell Doroteas, sich von der Determiniertheit der Existenz durch die Sünde zu befreien, wird als bitteres Zeugnis mexikanischer Mentalität besonders deutlich, wenn man sich die Wirkungskraft der Diskurse der Schuld im Bewußtsein der Menschen Cómalas vergegenwärtigt. Das adamitische Paar (Denis und Schwester) ist besonders illustrativ. Es wird vom Tabu des Inszestes auch dann geplagt, wenn dieses Tabu zum sinnlosenen Totem einer inexistierenden Gesellschaft geworden ist Denis' Schwester berichtet über Namen von weiteren Lebenden oder imaginiert sie (Filomeno, Dorotea [die später mit Juan im gleichen Grab begraben wird], Milquíades, Prudencio el viejo, Sóstenes); ihre Existenz ist ein Gefängnis aus Angst: "Lo que acontece es que se la pasan encorados. De día no sé qué haián; pero las noches se las pasan en su encierro. Aquí esas horas están llenas de espantos. Si usted viera el gentío de ánimas que andan sueltas por la calle" (66). 110 Wichtiges Thema auch bei Elena Garro, vgl. Kap.vm. 111 Bezüglich der Frage nach historischer Identität wird von der Sekundärliteratur zu Recht behauptet, daß sie stellvertretend für Hispanoamerika gestellt wird. 112 Allegoretisch gemeint als hermeneutische Methode der Auslegung etwa von Träumen und Visionen im Mittelalter, deren Geschehen die "verborgene Wahrheit" offenbart (Kurz, 1982:44ff). 113 Definiert nach G. Kurz (1982:41), meint Prälexte, die als Vorgabe für die Inteipretation unhinterfragbar sind.

249 von Wahrheiten zu sehen, da sie zugleich ihre Einbildung einer Mutterschaft im gesegneten Traum und umgekehrt die Wahrheit der Einbildung angesichts der Traumerfüllung im Grab erkennt. Während der "gesegnete" Traum eine ironische Distanz zu den eigenen Inhalten zeigt, wird die Gültigkeit und das Existenzrecht des Wunschtraums entschieden behauptet114. Aus dem vierfachen Schriftsinn der Allegorie wählt Dorotea den moralischen113 und bezieht ihren allegorischen Traum darauf. Der moralische Sinn schließt aber zugleich etwaige anagogische Deutungen, die sich auf das Jenseits beziehen, aus. Wie der Erzähler der Divina Commedia verirrt sich zwar Juan in die fremde Welt der Toten, doch ist seine Reise ohne Rückkehr. Die Zeit der Toten wird nicht in Beziehung zur Zeit der Lebenden gesetzt. Am Ende des Romans herrscht vielmehr die ewige Immobilität, von der Dorotea spricht. Entgegen dem Archetypus des descensus ad inferos, der der Regeneration, d.h. Veränderung dient und damit dem Telos einer Heilsgeschichte unterliegt, wird dieses Ziel nach dem Abstieg in die Gräber endgültig außer Kraft gesetzt. Statt einer metaphysischen Ordnung des Jenseits, die der Neuordnung des Diesseits dient, findet der Suchende in der Unterwelt von Cómala die irdischen Sehnsüchte und Leidenschaften von toten Körpern welche, getrennt von der Seele, aus der Tiefe ihrer Gräber erinnerte Fragmente ihrer Lebensgeschichte wiedererleben. Dorotea lehrt, die Traumerinnerung an etwas unwiderruflich Verlorenes als Augenblicksfragment und Spur einer Gegenwartserfahrung zu sehen und von einem ganzheitlichen Zeitzusammenhang zu lösen. Die Funktion einer solchen Botschaft aus den Gräbern ist die Bejahung der Erfahrung des Augenblicks als Vergänglichkeit. Bei dieser Einweihung in die Welt der Gräber behauptet sich der Augenblick als das Hier und Jetzt des Begehrens nach dem Leben, wenn auch in Form von Vergehen, Abwesenheit und Verlust. Mit der Akzeptanz des Leidens dieser Welt als einziger Evidenz und als Lebensantrieb koinzidiert die Einsicht Doroteas mit der von Revueltas' Pfarrer in El luto humano. Die im Roman von Revueltas zentrale Gestalt der desaparición, d.h. die Aushöhlung der abstrakten Idee des Mensch-Seins und der metaphysischen Bestimmung des Menschen ist auch hier der modellierende und evaluative Gestus, der schon durch die Auslöschung des autobiographischen Erzählers einsetzt. Doch ist diese Botschaft nicht allein ein referentielles Phänomen, das auf die dargestellte Welt und Unterwelt Cómalas bezogen ist, sondern die "Auslöschung" des archimedischen Punktes von Erzählen und Erinnern wird zum Erzählprinzip des Textes.

114 Auch die Allegorien der Divina Commedia können unter dieser Perspektive gesehen werden: "As in the Divine Comedy, where the last stage in this process, man, returns to its starting point in God, the same basic questions or question - are posed continuously, at new levels of intensity. [...] If, with its double edge, allegory openly exposes those deficiencies, by the same token it displays the other side, as well, the yearning for fulfillment" (Jon Whitmann, 1981:86). 1 IS Auch sensus mystic us oder, im aristotelischen Ursacheschema, der sensus efficient.

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4. Allegorie als Prinzip des Diskurses Die Stimmen dieser Unterwelt haben kein Korrelat in einem zeitlich situierbaren Bewußtsein. Sie sind Zeichen, deren Beziehung zur Welt und zur Vergangenheit durch lückenhafte Erinnerung, durch blancos, vermittelt ist. Weil der Prozeß des Erinnerns und nicht die gelungene Wiederfindung der Vergangenheit im Vordergrund steht, sind sowohl der Gegenstand als auch die Ursache der Erinnerungen unwichtig. Dies betrifft auch die Diskursstruktur. Das "Urwort" des Textes ist in den Abgründen einer Intertextualität verschüttet, die die "Stimme" als Zitat116 abruft. Die Urheberschaft der Stimme ist nicht von Bedeutung. Wichtig ist die kreative Energie, die ihr Begehren ausstrahlt. Betrachtet man die Sehnsucht Susanas und die Stimmen der Unterwelt Cómalas, dann hat man den Eindruck, daß diese keine Phänomene der Realität vermitteln, die als solche eine unmittelbare Bedeutungsevidenz hätten. Die distanzierende Bewegung des Textes von einer mimetischen Evidenz geschieht in allen Dimensionen: Durch die Orientierungslosigkeit nach dem Tod des Ich-Erzählers; durch die Verwirrung des Ursprungs der Stimme bei manchen Dialogen, die auch für den Leser zu murmullos werden; durch die Ablagerung von Trauminhalten in den labyrinthischen Aushöhlungen des Gedächtnisses, durch die distanzierende Wirkung der Erinnerung (der Stimme Dolores), die bei Juan die Reise und damit den Roman ausgelöst hat.

4.1 Traum als Konstituent allegorischer Arbitrarität Der Text insistiert auf der traumähnlichen Gestalt der Stimmen schon zu Beginn des Romans, als der verwirrte Juan ihre Konsistenz mit den Träumen vergleicht: Oía de vez en cuando el sonido de las palabras, y notaba la diferencia. Porque las palabras que había oído hasta entonces, hasta entonces lo supe, no tenían ningún sonido, no sonaban; se sentían; pero sin sonido, como las que se oyen durante los sueños" (61). Das Entweichen sinnlicher Konsistenz bei gleichzeitiger Intensität des Eindrucks ist die Eigenschaft dieser Stimmen, die eher dem Murmeln des Windes ähneln, wenn er in nichtexistierenden oder unsichtbaren Blättern rauscht117. Die Abnahme von Tönen und Lauten, das Mitteilen in sordina sensitiviert den Leser für einen minimalen Impuls

116 In der dieser Analyse zugrandelegten Ausgabe des Romans gebraucht Rulfo das typographische Mittel der Anführungszeichen. Es kann vermutet werden, da£ damit Passagen, die als Dialoge oder innere Monologe gekennzeichnet sind, noch zusätzlich als Zitat einer Erinnerung gekennzeichnet werden sollen. In der deutschen Ausgabe hat die Übersetzerin Mariana Frenk solche Passagen mit Kursivdmck abgesetzt, was aber den Intentionen Rulfos nicht ganz entspricht In der hier zugrundcgelegten Ausgabe sind nur die Erinnerungen Dolores' an Cómala im Gedächtnis von Juan Preciado kursiv markiert 117

"Un rumor parejo, sin ton ni son, parecido al que hace el viento contra las ramas de un árbol en la noche, cuando no se ven si el árbol ni las ramas, pero se oye el murmurar" (71).

251 bei der gleichzeitigen Erfahrung des Vakuums, der Blässe eines immerwährenden "armen, glanzlosen Lichtes, und desselben weißen Nebeltuchs"118, das alles umhüllt. Die Atmosphäre Cómalas ist im Ganzen wie jenes Weinen... Un llanto suave, delgado, que quizá por delgado pudo traspasar la maraña del sueño, llegando hasta el lugar donde anidan los sobresaltos (32). Der Klang dieser Stimme, der dünne Faden des llanto ist das Echo des Traumes - des Alptraums - und der intensive Eindruck einer Wirklichkeit, die sich in die Wirren des Traums verflüchtigt. Die filigrane Erscheinung der Lautebene bspw. im obigen Zitat, die durch die Liquiden und Labialen besonders fließend ist, gestützt von einer leichten Syntax, gepaart mit einer präzisen Semantik {maraña) kreiert das intensive Bild einer gewichtslosen Körperlichkeit, gleich der des Traums, von dem hier auch die Rede ist. Die Stimme der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, nach dem Abwesenden, ist von der auratischen Präsenz der Feme umgeben, die durch die leidenschaftlichen Stimmen der Toten Cómalas wie leise Klänge, vermittelt wird. Diese Distanzierung und das Entweichen der sinnlichen Präsenz wird allerdings als intensiver und bewegender Eindruck erfahren. Es ist eine Distanzierung von einer unmittelbaren mimetischen Darstellung119, die bspw. durch das plötzliches Auftreten des Zitatzeichens bei den erinnerten Dialogen oder bei der intensiven Erinnerung an die Leidenschaft im inneren Monolog bekundet wird. Auch die Wahrnehmungen haben die fahle Konsistenz der Träume, welche zugleich nahe und fem sind; Bilder und akustische Reize werden durch das ewig neblige Licht gebrochen, ein Licht, das Widerspiegelungen und verschwommene Konturen erzeugt. Das Spiel mit den Indizien, die eine präzise Struktur erzeugen und sich gleichzeitig entziehen, vermittelt den Eindruck sowohl der Präsenz der dargebotenen Welt als auch ihrer Distanzierung durch die labyrinthischen Überlagerungen und Anspielungen. Nähe und Distanz sowie ironische Brechung sind die Lehre aus Doroteas allegorischem Traum. Die Fragmente, die die Traumerinnerung Susanas wiedergeben, sind ohne eine weitere offensichtliche Motivation als das Träumen selbst miteinander verknüpft. Ihre Aneinanderreihung bewirkt das Gleiten der erinnerten Wahrnehmungen ineinander und in die realen Abläufe. Im Strom der Bilder verschmelzen einzelne Handlungssequenzen und damit verschiedene Schichten von Zeiten und Orten miteinander, die einmal auf die Erinnerung(en), ein anderes Mal auf den reellen Ablauf der Handlung bezogenen sind. Dieses Verfahren verstärkt sich etwa in der Agonie Susanas, von der in bezug auf Fragment 59 (141ff.) im Abschnitt 2. die Rede war. Der Bezug der Fragmente aufeinander wird nicht durch die Kohärenz der erzählten Inhalte, sondern vielmehr durch den jeweiligen Augenblick des Begehrens geleistet, das sich in einem

118 Es ist die Stimme von Pedro in der letzten Traumphase seines Lebens (Deutsche Ausgabe, Manchen: Hanser, 1964[1958]:144). 119 Juan Rulfo teilt die allegorische Figur des Entweichens mit anderen klassischen Autoren seiner Generation, besonders Juan Garcia Ponce und Juan José Aneola (Glantz, 1971:37-38, und Monsiväis, 1988:60).

252 Erinnerungsfragment äußert. Die Bildung sekundärer Motivationen im Fluß des Traums ist eine Lektürearbeit, die mit der Traumdeutung auch ihre Mehrdeutigkeit und ihre Brüche zutage fördert120. Die überraschende Verbindung der Bereiche ist humoristisch. Beides führt zur Hervorhebung der Aibitrarität der Beziehung zwischen Zeichen und Welt 121 , die im Roman schon von Anfang an als Lektüreerfahrung bei der Initiation und als strukturelle Gestalt auf das Erzählen selbst bezogen wurde.

4.2 Allegorische Lektüre als Distanzierung von Interpretationsmodellen Der Vorgang der Interpretation des Romans als Initiation in eine "andere Welt", die zugleich die Welt der Vergangenheit ist, wird von einem besonderen Fragment (45; p. 113-115) aufgenommen. Es handelt sich um eine losgelöste Kindheitserinnerung Susanas in der Gestalt eines Tagtraums; eine scheinbar isolierte Erinnerung, deren Kohärenz in der übergreifenden Frage nach den Bedingungen der Interpretation zu suchen ist: Bartolomé, Susanas Vater, zwingt die kleine Tochter dazu, in eine dünne Erdspalte bzw. in den Schacht eines Bergwerkes hineinzukriechen, um etwaige Schätze zu Tage zu fördern. Beleuchtet durch die weiträumiges Licht streuende Lampe des Vaters und an einer von ihm gehaltenen Schnur hängend, findet Susana schließlich nur ein Skelett. Nachdem der Vater sie zwingt, dieses anzufassen, fällt das Skelett in einzelne Stücke zusammen, die Susana bergen muß, indem sie Stück für Stück - analytisch - dem Vater übergibt. Beim Berühren des Totenschädels zerfällt dieser zu Staub. Susana fällt in Ohnmacht und sieht nur die kühlen Augen des Vaters, als sie wieder zu Bewußtsein kommt122. Der unmittelbare Kontext dieses Fragments (Fr. 38-46) bezieht sich auf die Geschichte Susanas: Ihre Kindheit (Abhängigkeit von der Mutter und Ablehnung des Vaters), die Konzeption und die Ausführung des Mordes an dem Vater Bartolomé durch Pedro Páramo und Susanas übersinnliche Wahrnehmung des Todes ihres Vaters im Tagtraum. Außerdem handelt es sich um das einzige Fragment, das zwar vage, aber dennoch chronologische Zeitangaben gibt: Mit "Muchos años antes" beginnt die Erinnerung an das Erlebnis mit dem Skelett. Dieses Indiz für eine einsetzende historische Rekonstruktion der Vergangenheit wird durch den Einschub eines Fragments über die 120 Elisabeth Lenk beschreibt in ahnlicher Weise die Reihenbildung von Traumen, etwa nach dem Gesetz der episodischen Aneinanderreihung in "Fortsetzungs'-Technik, "wobei die Fortsetzung fast immer überraschend, die Verknüpfung oftmals gefahrvoll ist" (1983:375). Ebenso gilt die Komposition ineinandergreifender Ringe, so daß nebensächliche Details einer vorangehenden Szene in der darauffolgenden eingearbeitet werden. 121 Vgl. Auseinandersetzung mit dem Barock und dem Allegorie-Begriff Benjamins in Kap. V. 122 Diese Szene ist auch ein Beleg fllr die psychoanalytische Interpretation im Sinne der IdenliUUsproblematik (vgl. Berg, 1979:305 ff.).

253 Indios mit dem indianischen Ursprung'23 verknüpft (43). Die Ursprungsproblematik ist in einen Kontext eingebettet, der mit der Problematik des Vaters auch einen Höhepunkt der symbolischen'24 bzw. tiefenpsychologischen Interpretation darstellt123. Mit dem Hineingleiten Susanas durch einen schmalen, tiefen Schacht in eine Grotte nimmt dieses Fragment den zu Beginn thematisierten Initiationsritus sowie das Thema der Suche nach der Vergangenheit wieder auf. Hier werden diese thematischen Momente eindeutig mit dem Vater verknüpft, in dessen Namen und unter dessen Zwang Susanas Expedition erfolgt. Außerdem bewegt den Vater auch die Hoffnung auf ökonomischen Erfolg. Dieses Fragment veranschaulicht nicht nur die karnevaleske Reihung der Bilder durch das plötzliche, groteske Erscheinen des Skeletts (ein präzises Bild, das aus dem Fluß verschwommener Erinnerungen hervortritt), sondern auch das Struktuiprinzip des Diskurses selbst'26. Es geht um das Entgleiten der Interpretation infolge der allegorischen und distanzierenden Bewegung des Diskurses127: In dem Augenblick, in dem Susana die Geschichte an den Vater, das Gesetz, den Au(k)tor,2$ restituieren muß, zerfällt die Gestalt durch die Berührung ihrer Hände. Das Objekt, das verschüttete Andere, wird zerstört, sobald es (analytisch zerlegt) ans Licht (der Erkenntnis) gebracht werden soll. Susana fügt sich dem Willen des Vaters, das unter Steinen verschüttete Geheimnis zutage zu fördern und zum sichtbaren Bild zu machen. Die Vertextung dieser Episode durch Susanas Erinnerung ist indes entlarvend und damit subversiv: Im Traum ist es der Transfer des Gesetzes durch ihren Körper, der die zerstörerische Kraft des Willens des Vaters sichtbar macht. Als Allegorie der

123 Indianisch ist auch der Ursprung von Susana, die durch Dorotea als indita bezeichnet wird: "se acorderf de eso la indita" (99). 124 Bspw. im Sinne Broiherstons als symbolische Darstellung des Falles der präkolumbischen Kulturen nach der Eroberung. Der Mord an dem Vater durch den Tyrann Pedro wäre mit dem Mord an Montezuma gleichzusetzen. 125 Vgl. Berg (1979:305ff.). 126 Das Verfahren erinnert an die surrealistische Verfilmung von Traumen, etwa von Bufiuel und Dali (vgl. Roloff 1990). 127 Der Begriff der allegorischen Lektüre, wie er im Zusammenhang mit dem Barock entwickelt wurde, bietet sich für die Darstellung der Erinnerungen ebenso an wie fllr die Suehos, die am Beispiel Doroteas kommentiert worden sind. Mariana Frenk bezieht ausdrücklich das Verfahren der unerwarteten Verbindung von Fragmenten und Details auf die barocke Malerei: "Este procedimiento nos hace pensar en la acusada tendencia de la pintura de) barroco de colocar a la figura principal no en ei centro, o en el lugar m4s visible del cuadro, sino de ocultarla, de casi hacerla desparecer [...] iste no es el ünico punto de contacto entre la novela modema y el barroco: [...] viindolos [los elementos del cuadro] en detalles parecen absurdos, no dan ninguna idea del conjunto [...]" (1974:34). 128 Der Spannungsbogen dieses Textes läßt sich an der Gleichzeitigkeit der möglichen Lektüren erkennen. Wahrend eine innerkulturelle Auseinandersetzung gefuhrt wild, bei der die kulUirkritische Perspektive und die direkte Auseinandersetzung mit Mexiko zugleich tiefe Augenblicke elementarer Menschlichkeit restituiert, präfiguriert sich auch eine Diskussion Uber die Autorschaft eines Textes, die sich in Frankreich erst 1968 entzündet (Derrida The End of Man (1968); Barthes La mort de l'auieur (1968) Foucauh Que'esi-ce qtt'un outeur? (1969).. [vgl. auch Frank, 1988 und Japp, 1988). Auch Juan Garcia Ponce (1971) sieht eine wichtige Dimension des Romans Rulfos in der Tatsache, daß der "Autor" zum Verschwinden gebracht wird (desaparece in der doppellen Bedeutung von verschwinden und steiben), daß er sich entpersönlicht ("se hace nadie, ninguno" [1971:280]) - eine Garcia Ponce zufolge unabdingbare Bedingung für den modernen Roman (Vgl. auch Pkt S).

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Lektüre bezieht sich dieses Fragment kritisch auf diejenigen Interpretationsansätze, die die tote Vergangenheit Comalas zur Geschichte zu transferieren und die verschollene Bedeutung als ganze Struktur an die Oberfläche zu bringen versuchen. Das verschollene Material der Vergangenheit wird zerstört, wenn man es - als Objekt des Wissens'29- versteinernden Katalogisierungen zurückzugeben versucht. Zusammenfassend läßt sich folgendes feststellen: a) Hatte der Tod des autobiographischen Erzählers am Ende der Initiationsphase die Angemessenheit eines ethnologischen Diskurses bezüglich des Anderen, d.h. der Wirklichkeit, in Frage gestellt, wobei die Möglichkeit, die Welt darzustellen mit dem Entweichen des Erzählers als kodifizierter Vermittlerinstanz zwischen Romansprache und Romanwelt zum Thema geworden war, so wiederholt dieses Fragment die gleiche distanzierende und problematisierende Bewegung im Hinblick auf die Möglichkeiten des historischen Diskurses, das Andere im Sinne der Vergangenheit zu bergen und dem Wissen130 zu restituieren. b) Den Stimmen der Toten ist die Aufgabe anvertraut, jenen Zugriff als zerstörerisch zu dekuvrieren, der darauf abzielt, die tote Vergangenheit in eine andere Ökonomie als die des Traums, nämlich in die Tauschökonomie von Wissensobjekten (Gold), zu überfuhren. Dies verbindet die Boschaft von Juan Preciados Initiationstod und von dessen Hinabsteigen zur Hölle mit Susanas Hineingleiten in den Schacht. Bei beiden Figuren wird die übergeordnete Thematik des Romans sichtbar, nämlich die Frage nach den Bedingungen von Darstellung und Interpretation der Vergangenheit. Beide verzichten auf den kommunikativen Transfer. Sie verstummen nach außen. Als Erzähler eines Romans stirbt Juan, während Susana schon zu Lebzeiten autistisch ist. Mit ihrem Schweigen lassen sie aber den Weg frei dafür, daß die murmullosm, die Echos sowie die Sehnsuchtstimmen der Toten in die Geschichte des Kaziken eingreifen. Dieser Eingriff bleibt nicht ohne Folge. Der Text setzt sich mit den Bedingungen der Erinnerung und (in Zusammenhang mit der Geschichte des Kaziken und der Revolution) auch mit den Bedingungen von Geschichtsschreibung auseinander. Dies wird im nächsten Abschnitt zur Diskussion gestellt.

129 Wissen ist durch die Lichtmetapher thematisiert und mit Gold (!) gekoppelt, denn Bartolomé will sich um evtl. verborgene Schatze bereichern. 130 Dem Licht der Taschenlampe Bartolomés bzw. dem Tageslicht 131 Ursprünglich sollte der Titel des Romans Los murmullos lauten (Juan García Ponce, 1971:289).

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5. Historischer Diskurs, Gedächtnis und Erinnerung Über die wichtigsten Ereignisse der Geschichte Mexikos wird man als Leser eines Textes informiert, der sich mit der realistisch dargestellten Geschichte des Kaziken in die geschriebene, romaneske Tradition einreiht. Das Verstehen dieser Sequenzen ist am diskursiven Rahmen historischer und literarischer Texte zur vorrevolutionären und revolutionären Phase der Geschichte und damit am historischen Gedächtnis Mexikos beteiligt Der Text ermöglicht an diesen Stellen eine von der Indizienstruktur gestützte Objektivierung der historischen Figur132. Andererseits wird der LektUrefluß dieser Sequenzen durch interferierende Stimmen unterbrochen, die eine Erinnerung mit Lücken versprachlichen, die sich der Rekonstruktion von Kausalität entzieht; eine Erinnerung, die den vergangenen Augenblick des Begehrens als isolierte Erfahrung ohne Integration in eine teleologische Folge von Zeitsegmenten wiedergibt. Zu diesen zwei Formen von Vergangenheitsverarbeitung im Roman läßt sich folgendes feststellen: a) das historische Gedächtnis und die Erinnerung als individualpsychischer Prozeß verlaufen divergent133. Ersteres zeigt die Tendenz zu einer integralen Ordnung auf der Zeitachse. Dabei werden auch Anomalien im Hinblick auf die Norm gerade dadurch bedeutsam, daß sie bei der Lektüre im Verhältnis zum historischen Gedächtnis beurteilt werden, wobei die Veränderung der Norm die eigentliche Botschaft erkennbar macht. Dies ist etwa der Fall, wenn im "Revolutionsfragment" ca. 15 Jahre militanter Revolutionsgeschichte auf eine undifferenzierte Reihung von Sätzen reduziert wird, womit die Automatisierung des revolutionären Prinzips des Aufstandes modelliert wird. Demgegenüber widersetzt sich die Erinnerung als individualpsychischer Prozeß dem Versuch, eine Bedeutungstotalität von aufeinander bezogenen Momenten herzustellen, die das Gedächtnis als integrale Instanz des Bewußtseins rekonstruieren würden. Diese Erinnerungsform impliziert auch den Verlust des Gedächtnisses sowie unauffüllbare Lücken der Vergangenheit als Bestandteil des Prozesses134. b) Beiden Formen wird ein bestimmtes Diskursverhalten zugeordnet, dessen Unterschied strikt eingehalten wird: Das historische Gedächtnis artikuliert sich in Entsprechung zur Norm romanesker Erzählung, während die individualpsychische Erinnerung (der Toten, Susanas und Pedros) isolierten Traumstimmen anvertraut ist, die in der Sekundärliteratur Anlaß gegeben haben, bei diesem Roman von der Revitalisierung der oralen Tradition zu sprechen. Während diese These135, zu der weiter unten Stellung genommen wird, bereits im Ansatz unhaltbar ist, ist es unzweideutig, daß sich 132 Z.B. als Symbol von Porfirio D u z , wobei es sich jedoch n i r um eine der Funktionen dieser Figur handelt (vgl. M.Portal, 1981; L. Poilmaim, 1984; S. Lorente-Murphy, 1988). 133 Vgl. auch die Diskussion von historischem Gedächtnis und Erinnerung in Kap. II. 1.1 und 12. 134 Vgl. Diskussion der individualpsychischen Erinnerung als Verlust des Gedächtnisses in Kap. II.1J2. 135 Vgl. Kap. n.1.1.

256 die Darstellung der historischen Fakten betreffend Aufstieg und Arrangement des Kaziken mit der Revolution auf den diskursiven Rahmen von Geschichtsschreibung stützt. Die Geschichte des Kaziken Pedro Páramo, die den zweiten Romanteil beherrscht, endet mit seinem Tod. Der Zusammenfall Pedro Páramos, der wie eine von innen heraus zerschlagene Steinfigur zu einem Steinhaufen wird, hat das letzte Wort. Eine Steinwüste ist auch der Endzustand Cómalas. Die Welt ist bei der Ankunft des Sohnes ein páramo, eine ausgestorbene Wüste, die insoweit das letzte Wort in der Geschichte des Kaziken darstellt, als in dieser auch Juan, der Sohn und zugleich autobiographischer Erzähler, stirbt. Zwar wird im zweiten Teil des Romans die Geschichte des Großgrundbesitzers und Kaziken in einer neutralen, historische Objektivität signalisierenden Perspektive erzählt; im Erzählfluß jedoch findet dies statt, nachdem nicht nur aller Einwohner Cómalas auf (der Ebene der histoire), sondern auch der autobiographische Erzähler (auf der Ebene des discours) "gestorben" sind. Diese Repräsentation von Geschichte post mortem ist erzähllogisch paradoxal und stellt eine Anomalie der Erzählform dar, die die Aufmerksamkeit auf die Frage nach Geschichtsschreibung lenkt. Diese Frage stellt bereits der Roman von José Revueltas. In El luto humano deckt die fragmentierte Erinnerung der Figuren, die die chronologische Folge der historischen Fakten manipuliert, die Funktionsweise von historischen Diskursen auf. Es wird deutlich, daß das kollektive Bewußtsein die individuellen Lücken des Gedächtnisses durch Ursprungsmythen füllt134 und daß letztere einen bestimmten Ablauf der Geschichte ursächlich bestimmen137. Bei Revueltas liegt der archimedische Punkt des Erzählens historischer Ereignisse eindeutig in der Erinnerung der Figuren des Rahmens. Dagegen läßt sich nach dem Tod des autobiographischen Erzählers im ersten Teil der neutrale Erzähler der Geschichte Pedro Páramos als isolierte Instanz mitten im Gewirr anderer, vom Erzähler unabhängig und autonom sprechender Stimmen erzähllogisch nicht lokalisieren. Aus welchem archimedischen Punkt des Bewußtseins heraus wird dann die Geschichte des Kaziken rekonstruiert? Der Text scheint zwei Wege für die Interpretation bereitzustellen: einen mythischen und einen historischen.

5.1 Die Provokation mythischer Modelle von Geschichte durch die Erinnerung Im Text ist eine Häufung von mythischen Anspielungen und Motiven festzustellen, die die mythische Rekonstruktion der statuarischen Gestalt des Pedro zu suggerieren

136 Vgl. bspw. die Geburtsmythen des Mestizen in der Erinnerung von Ursulo in Kap. VI. 1.2. 137 Es ist eine Mircea Eliade nahe These, zu der Revueltas kritisch Stellung nimmt (vgl. Kap. ID. 2.1.3).

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scheinen. Darauf hat die Sekundärliteratur zu Recht hingewiesen. Nach der Auslöschung des autobiographischen Erzählers scheint der Mythos des Kaziken es dem Leser zu ermöglichen, die Ordnung mythisch wiederherzustellen. Das Herausragen der allmächtigen Figur des Kaziken, der im zweiten Teil des Romans das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv bestimmt13*, führt auf den mythischen Archetypus der Figur des Tyrannen139 zurück, wobei der Kazike die Ordnung der Welt Cómalas regelt, ebenso wie die Erfolgssequenzen der Geschichte von Pedro Páramo eine Ordnung im Lektüreprozeß herbeiführen. Die mythische Interpretation des Kaziken scheint es zu gestatten, den Konflikt der Orientierungslosigkeit durch die allmächtige Figur zu verarbeiten. Mit dem Thema der Erinnerung an eine durch die Revolution für Mexiko wichtige historische Phase scheint sich der Mythos als eine Form historischer Identitätsfindung anzubieten. Darauf beziehen sich die bei der Darstellung der Forschung vorgestellten mythischen Interpretationen des Romans. Im Gegensatz zu diesen Argumentationen ist im Rahmen der Analyse vielfach festgestellt werden, daß im Roman antagonistische Diskurse vertreten sind. Dies trifft auch für eine mythische Interpretation der Figur von Pedro Páramo zu. Auch diese ist gegenläufigen Bewegungen ausgesetzt: einerseits die Rationalisierung der Ambivalenz des Tyrannen durch die mythische Einheit, die den Urkonflikt zwischen Leben und Tod zu verarbeiten ermöglicht, andererseits die psychologische Differenzierung und Fragmentierung des Menschen Pedro Páramo. Ein fein analysierter individualpsychologischer Bereich der Persönlichkeit des Diktators erzeugt Brüche in der mythischen Auslegung. Das irrationale Prinzip ist im Roman Rulfos die Leidenschaft, die wie eine ihn deszendierende Kraft auf Pedro einwirkt und ihn vom Henker zum Opfer macht, weil er die Erfüllung der absoluten Liebe nicht erreichen kann: Es ist die über dreißig Jahre unerwidert gebliebene Leidenschaft für Susana, seiner zweiten Frau, und der Affekt für den im Alter von 17 Jahren gestorbenen Sohn Miguel. Eine direkte psychologische Motivation ist dabei nur schwer rekonstruieibar - Susana ist in den Augen der Umwelt lediglich eine "Wahnsinnige" (Dialog mit dem Vater, p.104-106), und die Akzeptanz des kleinen Bastarden Miguel als Sohn durch Pedro Páramo ist ebensowenig verständlich wie die radikale Ablehnung der anderen Söhne (Kommentar des Padre Rentería, p.87). Darüber hinaus treten die Erinnerungen von Pedro im Modus des Traums auf wie unmotivierte Spuren der Kindheit, deren Urszene nicht mehrrekonstruierbarist. Die Kindheitsszenen belegen dies vielfach: Die Erzählstruktur parallelisiert die Träume des kleinen Pedro und die Sehnsucht nach der kleinen Susana

138 Die unter Pia. 2. analysierten, zielgerichteten Sprechakte wirken außerdem magisch, weil sie Wirklichkeit - Leben oder Tod - schaffen. Der Kazike kann sich mit der Revolution arrangieren. Sowohl vor der Revolution, als auch nach dem Arrangement mir ihr (vgl. Pkt. 2.) wirkt der Kazike mit derselben mythischen, göttlichen Macht, Dinge durch das Wort zu schaffen oder zu zerstören ("està gente no existe" [82] bzw. "me cnizarf de bcazos" [145]). 139 Die tyrannische Gestalt des Kaziken ist eine wichtige Konstituten te von dessen Herrschaftsmythos (Goldkind, 1966). Zur Aufdeckung des Zusammenhangs von Hollenvision und Mythisierung des Kaziken führt auch die Rcmananalyse von Marta Portal (1981:89).

258 wie auch den Schock beim Tod seines Vaters Don Lucas (pp. 17-22) mit der Erinnerung Juan Preciados an die Mutter und an ihre Sehnsucht nach Cómala. Der Tod des Vaters ist für die Psyche des kleinen Pedro genauso ursächlich, wie die Sehnsucht und der Tod der Mutter für Juan Preciado140. Mit dem Traum des kleinen Jungen wird eine tiefe, das Bewußtsein des Kindes übersteigende Sehnsucht artikuliert, deren Ursache ebensowenig greifbar ist wie die ursprünglichen Erfahrungen, die Dolores' Sehnsucht nach Cómala auslösen: "Pensaba en ti, Susana. En las lomas verdes. Cuando volábamos 'papalotes* en la época del aire. Oíamos allá abajo el rumor viviente del pueblo mientras estábamos encima de él, arriba de la loma, en tanto se nos iba el hilo de cáñamo arrastrado por el viento. 'Ayúdame, Susana'. Y unas manos suaves se apretaban a nuestras manos. 'Suelta más hilo.' [...] "Tus labios estaban mojados como si los hubiera besado el rocío" (Fr.5, p.18)'41. Die mythische Auslegung der Figur des Pedro Páramos wird durch die Struktur der Erinnerungen durchbrochen142. Die individualpsychologische Gestaltung der Figur Pedros divergiert vom Kaziken ebenso stark, wie dies die übrigen Traum- und Erinnerungsstimmen tun. Während die politische Allmacht Pedros durch den Mythos von der ewigen Wiederkehr des Kaziken verstehbar wäre, bleiben die psychischen Brüche der Erinnerung ungelöste Rätsel. Der Mythos des Übermächtigen stürtzt ein. Die wesentlichen Momente in der Psyche des Protagonisten werden verschüttet, als Pedro unter dem Steinhaufen seines toten Körpers für immer verstummt: "cayó [...] sin decir una palabra" (156). Der Mythos von Pedro Páramo zerfallt unter der aushöhlenden Arbeit der Erinnerung wie eine Marmorstatue, die ohne Fundament zusammenfällt: "Pedro Páramo es [una] estatua que se desmorona" l43 . Nachdem mit dem Tod Juan Preciados auch der autobiographische Erzähler verschwindet und der Leser mit der Stimme von Toten direkt konfrontiert wird, bietet sich zunächst der Mythos als heimeneutisches Modell für das Verstehen der fremden Welt an. Doch zersetzt die Diskrepanz zwischen der ganzheitlichen Gestalt der mythischen Auslegung und der Zerrissenheit der Zeitfragmente die statuarische Einheit 140 Diese Parallelisierung hat auch eine symbolische Funktion im Hinblick auf eine fUr Juan Preciado und Pedro Páramo chias tisch verlaufende ödipale Beziehung. Zur detaillierten Analyse des Motivs der Vatersuche unter psychoanalytischer Perspektive vgl. Berg (1979). 141 Abgesehen vom aberdeutlich freudianischen Hintergrund der Szene hat das Fragment keine kausallogische Struktur Es zeigt einen Jungen, der von der Mutter beschimpft wird, weil er zu lange auf der Toilette verweilt Nicht nur, daß es keinen Hinweis auf das Alter gibt; sondern es besteht auch eine Diskrepanz zwischen der Behandlung der Mutter (Pedro erscheint sehr klein oder geistig gestört) und den psychisch reifen Traumen Pedros. Diese Diskrepanz nimmt das Motiv der locura von Macario in der gleichnamigen Erzählung aus El llano en Ilamas wieder auf. 142 Darauf weist auch Nilda Rosales in ihrer Analyse des "Tema del caudillismo in Pedro Páramo" hin: "Los recuerdos de Páramo son tales que lo eximen de culpa, [...] bonan, desdibujan al caudillo". (1978:290). 143 Laguerre, 1974:370.

259 des Mythos und gewährt dadurch den zeitlich und räumlich lückenhaften Stimmen freie Entfaltung. Diese Stimmen der Toten drücken Begehren und Sehnsucht aus, die aus den Mäandern der Erinnerung entspringen. Im Zeitlabyrinth dieses Romans komponiert sich der Mythos des Kaziken nicht zur Statue. Auch dessen Kehrseite, der Mythos des verlorenen Paradieses, wird nicht zur identitätsstiftenden Gestalt eines originären kulturellen Ursprungs. Stattdessen zerfällt das mythische Monument in der Erinnerung an das Begehren und bricht in tote Steine zusammen. Mit ihm bricht auch eine mögliche Handlungs- und konstellative Struktur des Romans auseinander, die als eine auf ein Telos hin gerichtete Geschichte mit mythisch-archaischen Strukturen erklärbar wäre. Die bei der Analyse von Juans Abstieg zur Unterwelt gestellte Frage nach der Art historischer Identität, die Juan in der Unterwelt findet, kann nun wiederaufgegriffen werden. Die Gestaltung dieser Welt der Toten gibt eine mögliche Antwort.

5.2 Die Provokation des historischen Gedächtnisses durch Erinnerung und Imagination Die "Unterwelt" von Comala, in der sich die Inhalte der Erinnerungen wie Schatten verflüchtigen, suggeriert Reminiszensen an den Hades, der in der Antike als Symbol des imaginären Raums des Gedächtnisses gilt. Die Beziehung der memnotechnischen Kunst zum Totenkult läßt sich durchgängig nachweisen. Das Gedächtnis wird dabei an drei Orte mit verschiedenen Funktionen zurückgeführt: den Hades, dem der Totenkult zugeordnet wird und der ein imaginiertes Gedächtnis darstellt; das Lararium (Krypta) mit dem Abbild (Monument) der Vorfahren; das Gedächtnis als schamanistisch-mythische Praxis der Niederschrift von Geschichte (Goldmann: 1989:64). Bei der Analyse der weiteren Implikationen dieses mit Vergils Aeneis144 bereits erwähnten Archetypus des descensus ad inferos (vgl. 3.) und seines Verhältnisses zum Gedächtnis öffnet sich bei der Erinnerung der Toten von Comala eine weitere Perspektive. Die Ober- und die Unterwelt Comalas repräsentieren zwei verschiedene Bereiche des Gedächtnisses: Das verwüstete Dorf ist die Totenstätte, also die Krypta mit der in Stein gemeißelten Genealogie der Toten, die zur Grundlage für das historische Gedächtnis werden kann143, während die Unterwelt, der Hades, dem imaginierten Gedächtnis entspricht, das sich, wie ein flüchtiger Traum, dem Zugriff entzieht146.

144 Vergils Aeneü, der eine solche dreiteilige Struktur des Gedächtnisses aufweist (Goldmann, 1989:63), stellt einen deutlichen Intcrtext von Rulfos Pedro Páramo besonders in bezug auf das Motiv der Vatersuche, des Abstiegs in den Hades und der Rekonstruktion der Genealogie mit Hilfe des Vaters dar. 143 Oder durch m/thische (schamanistische) Handlungen (Goldmann, 1989:62). 146 Diese Funktion ist Teil des Archetypus des descensus ad iiferor, bspw. der dreimalige vergebliche Versuch Aineias', Anchises' imago zu umarmen.

260 Juan kommt nach Cómala auf der Suche nach seiner historischen Identität. In der Krypta (im verlassenen Dorf) findet er die Spuren der Unterdrückungsgeschichte seines Vaters. In der Unterwelt der Gräber hört er dagegen poetische Stimmen des Leidens und der unerfüllten Leidenschaft, deren Inhalte sich wie im Hades verflüchtigen. Die Traumstimmen des Hades Cómalas, zugleich die Inhalte dieses imaginären Gedächtnisses, haben eine besondere Botschaft, die die Antwort auf die Frage nach der historischen Identität geben: Diese Stimmen lassen sich von dem historischen Monument - von der Geschichte des Kaziken - nicht vereinnahmen. Sie widersetzen sich vielmehr der Geschichte des páramo (im Sinne des Pedro Páramo und der Verwüstung, d.h. der Konsequenzen von Pedros Gewalt). Die ästhetische Komposition dieses Textes zerstört die als "historischen Text" konnotierte Geschichte des Aufstiegs des Kaziken und die Geschichte des Revolutionsgeschehens: a) Die Zeit bewegt sich erzähllogisch auf den Tod des autobiographischen Erzählers in der Mitte des Romans hin. Die individualpsychische Erinnerung überdauert im imaginierten Gedächtnis des Hades durch die poetische Stimme der Träume der Toten, nicht aber die memoria des Kaziken, die unter dem Steinhaufen begraben ist. Pedro selbst wird zum Steinhaufen. Die deutliche Konnotation des Neuen Testaments und die Anspielung auf die Vita des Heiligen Petrus, der die historische Aufgabe erhielt, den ersten Stein der Geschichte der Kirche Christus' zu legen, zeigt im Kontrast zu Pedros Leben, daß nach dem Zusammenfall seiner Statue zu toten Steinen auch die Geschichte des Kaziken stirbt. b) Mit dem erzähllogischen Ende in der Mitte des Romans wird die Aibitrarität der danach unmotiviert auftretenden neutralen Perspektive, die die Geschichte des Kaziken erzählt, hervorgehoben. Die Erzählzeit dieser Sequenzen hat kein logisches Fundament und muß arbiträr gesetzt werden: entweder vom telos her oder von der arché. Ersteres trifft für die als historisch konnotierte Geschichte des Kaziken zu, die vom gescheiterten telos der Revolution her kritisch dargestellt wird; im zweiten Fall sind der archimedische Punkt des Erzählens Ursprungsmythen, so daß die Geschichte als Niederschlag archaischer Bewußtseinsformen interpretiert wird. Beide Interpretationsrichtungen lassen sich in der Forschung nachweisen. Die Arbitrarität der Erzählzeit macht indes auch die Bedingtheit der Standpunkte deutlich, die Geschichtsschreibung und/oder mythische Inteipretation von Geschichte einnehmen. Dies wird thematisch hervorgehoben: Der Kazike hinterläßt keine memoria; er bildet selbsttätig kein Monument. Pedro Páramo ist die einzige Figur, die im Hades von Cómala keine Stimme hat. Sie erlöscht mit dem Zerfall seiner Statue. Damit seine Geschichte einen "Sinn" erhält, muß der von ihm hinterlassene Steinhaufen nachträglich, d.h. vom Standpunkt der Zukunft aus, wieder zu einer Gestalt historisch komponiert bzw. zur statuarischen Form des Mythos zurückgeführt werden. c) Bei beiden Interpretationen historischer Vergangenheit ist der Kult um die Person des Kaziken vorherrschend. Ob affirmativ oder negativ: Er lebt mit der gleichen

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Intensität weiter, mit der sein Name in der Krypta des páramo eingeprägt ist, jener verwüsteten Landschaft Cómalas, zugleich der Landschaft der Geschichte Mexikos. Deswegen gibt Pedro Páramo der Geschichte seinen Namen. Gegen die Beherrschung des Chronotopos durch Pedro Páramo leisten indes die Stimmen der Toten, insbesondere Susanas, Widerstand. Gerade Susana ruft im Kaziken jenen Traumzustand hervor, der ihn schließlich beherrscht; einen Traum, der am Ende seine statuarische Gestalt zerbricht147. Die Aufdeckung der Arbitrarität eines archimedischen Punktes historischer Interpretationen hat ein konstruktives Pendant im poetischen Widerstand der erinnernden Stimmen der Toten (Juan, Dorotea und Susana), unter denen Pedro Páramo keinen Platz hat. Im Wechsel vom ersten zum zweiten Teil reduziert sich die Präsenz der memoria des Kaziken in den Totenstimmen: Treten im ersten Teil, d.h. in der Krypta, noch Klagen im Gedächtnis von Unterdrückten auf (bspw. Fr. 17,S. 4243; Fr. 25, S.54-SS), weichen diese Susanas Erinnerungen und Sehnsucht im zweiten Teil14*. Letztere beherrscht schließlich die Welt der Gräber, jene Welt, der sich Juan mit dem Abstieg zur Unterwelt endgültig hingegeben hat Es ist die Welt des Hades und damit die Welt des poetisch imaginierten Gedächtnisses. Bezieht man diese Befunde auf die Suche nach der historischen Identität, dann stellt man fest, daß der Text das lineare Gedächtnis der Historiographie modelliert und dieses zugleich durch die Resistenz der "toten" Vergangenheit durchbricht. Als energetischer Fluß derTraumerinnerung stellt die Vergangenheit gleichsam die Quelle lebendiger und kreativer kultureller Manifestationen jenseits hierarchischer Systeme historischer Diskurse dar. Die Resistenz dieser Traumstimmen gibt den Impuls, über eine "andere" Geschichte als die der institutionellen Geschichtsschreibung nachzudenken149. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt der Konflikt von Geschichte und Poesie der Stimmen des oberen und des unteren páramo von Cómala eine Anspielung auf die von den caciques geschriebene Geschichte150 und auf den Widerstand gegen sie durch vielfache Manifestationen von Kultur dar, ein Widerstand, der keine Niederschrift in der Historie erfahren hat. Diese Form von Auseinandersetzung mit dem Diskurs der Historiographie modelliert mit dem Gedächtnis der Toten keine alternative (autochthone), mythisch begründete Geschichte, sondern bewirkt vielmehr, daß die

147 Mit dem Gebrauch seines Namens dekonstniieit der Text die Figur des Kaziken und zeigt damit auch die Brüche eines unter der Herrschaft des Namens - und des Gesetzes - stehenden Diskurses. Pedro Páramo steht in "größter Gegnerschaft zu seinem eigenen Namen und größter Nahe gleichzeitig"; eine Formel, mit der Folget die Stellung des Namens im Denken Derridas kennzeichnet (1988:317). 148 Als einzige Ausnahme beklagt sich eine nicht näher bestimmte Stimme aus einem benachbarten Grab Ober Erpressungen und Drohungen seitens Pedro Páramos (99-100). 149 Foucault (1969:16). Vgl. auch Forget (1988:313). 150 Oder caudillos, deren Ambivalenz Pedro Páramo verkörpert (vgl. auch Rosales Argüello, 1978).

262 Arbitrarität der Bedingungen für das Entstehen von Geschichte durch die Prozesse des Textes offengelegt wird. In dem bereits im Zusammenhang mit Revueltas erwähnten Essay "Las huellas de la voz" (1971) analysiert Juan Garcia Ponce Pedro Páramo bezüglich der hier ebenfalls leitenden Frage nach der Funktion der Stimmen von Toten. Die Unterstreichung der Neutralisierung des Erzählers bis zur Konstruktion einer unpersönlichen, unmenschlichen und intemporalen Natürlichkeit (282) sei eine notwendige Voraussetzung, damit sich das Unmögliche des Lebens im Begehren der Sprache ausdrücken kann. Der Erzähler muß sterben, damit die Sprache allen und niemandem gehört151. Diese poetische Sprache macht den Kaziken wirkungslos (294)152. Es ist eine Energie, die sich entzieht (Susanas Verweigerung), weswegen die Macht des Pedro Páramo ihr gegenüber scheitert. Es ist etwas, was das Realitätsprinzip des Lebens transzendiert und im Roman eine Stimme erhält: es la vida la que [...] surge des esas páginas mágicas en las que Juan Rulfo hace que la muerte hable de la vida para mostrar la grandeza de su imposibilidad y hacer vivir ese imposible en el lenguaje capaz de expresarlo (1971:298).

5.3 Die Poetik der oralen Kultur - Plädoyer für einen freien Umgang mit Kulturpluralität Mit den Stimmen von Cómala scheint ein sich auf mündliche Traditionen stützendes Kollektivgedächtnis153 mit der Aufbewahrung der memoria beauftragt worden zu sein; solchermaßen lautet die Interpretationsrichtung des Romans, die die Stimmen der Toten in Pedro Páramo als Träger autochthoner Werte der Kultur verstanden hat154. Demgegenüber muß festgestellt werden: Der mit den Stimmen im Text zitierte Bereich von Oralität155 (Diskursverhalten) und Volkskultur (Mikrostruktur156) wird durch die Verknüpfung mit dem Bereich der Toten durchbrochen. Die Toten übernehmen es hier, über die Vergangenheit zu berichten. Dabei ist ihr Sprachveihalten durch sinnliche Intensität, Mehrdeutigkeit und Undursichtigkeit der sprachlichen Äußerungen

151 Mit den Worten von Garcia Ponce: "una neutralidad que no pertenece a nadie (la voz de los muertos), sin dueño ni localización determinada" (1971:296). 152 In diesem Sinne argumentiert auch Nilda Rosales, wenn sie davon spricht, daß die Erinnerungen Pedros den Kaziken ausradieren (1978:290). 153 Im Sinne Maurice Halbwachs' (1985:57ff und 73H). In Anlehnung an Halbwachs definiert Assmann das Kollektivgedächtnis als "Gegenstand der Oral History". Vom Kollektivgedächtnis ist besonders das sog. kommunikative Gedächtnis durch ein "hohes Maß an Unspczialisiertheit, Rollenreziprozität, thematische Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit" charakterisiert (Assmann, 1988:10). Letzere Eigenschaften, treffen hier zu. 154 Etwa Rama (1982:214) und Russotto (1986:93). 155 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung Kap. n, 1.1. 156 Vgl. González Boixo (1980:291-293).

263 markiert. Die scheinbare Einfachheit der Dialoge stellt sich als ein komplexes Gewebe von Intertexten heraus. Diese Stimmen verfügen frei über die abendländische Tradition schriftlicher Texte und konstituieren dadurch einen wesentlichen Teil der poiesis des Romans. Die Toten sprechen in konzeptistischen und allegorischen Figuren in humoristischer Mischung mit Bereichen der Alltagssprache (Dorotea). Die Stimmen von Cornala konnotieren zwar das orale Medium, zerstören aber zugleich die Vorannahme von dessen Opposition zur Schrift. Ihre Erscheinung ist ebenso medialisiert und hermetisch wie komplexe Modi der Schriftkultur, etwa der barocken Literatur des Goldenen Zeitalters, auf dessen konzeptistische und kulteranistische Praxis spielerisch Bezug genommen wird. Die orale Tradition ist zwar im Roman als unmittelbare Präsenz erfahrbar, sie entzieht sich jedoch der Vereinnahmung durch einheitliche Formen des kulturellen Gedächtnisses hinsichtlich eines wie auch immer gearteten (authentischen) Ursprungs. Vielmehr koexistieren prähispanische und europäische, schriftliche und mündliche Traditionen im ludischem Zusammenspiel. Gerade im freiem Umgang mit Kultur, gleichgültig welchen Ursprungs, liegt die Lehre dieser Stimmen aus der Unterwelt - eine schon von Lezama Lima aus der Lektüre der großen Dichterin des mexikanischen Barock, Sor Juana Inés de la Cruz, gezogene Lehre, die Lezama mit der Metapher der kulturellen Assimilation zu erfassen sucht157. Die leidenschaftlichen Äußerungen der Stimmen sind nicht eine Tätigkeit des Gedächtnisses, sondern vielmehr eine der Erinnerung, die durch ihre Lücken die Bedingtheit von ganzheitlichen Vergangenheitsbildern zum Ausdruck bringt. Die Erinnerung dieser Toten ist die Erinnerung an die Vergänglichkeit. Ihren Stimmen fehlt die Evidenz eines im Gedächtnis festgeschriebenen, integralen Sinnes. Der Text lädt dazu ein, die zahlreichen Spuren auf dem Weg der Lektüre aufzunehmen158 und Gestalten zu bilden, die gleichzeitig im Netz der distanzierenden Effekte eingefangen werden. In der fragmentarischen Struktur des Romans behaupten einzelne Textpassagen ihre Unabhängigkeit vom Ganzen, so daß isolierte Szenen wie plötzliche, scharfe Momentaufnahmen aus einem verschwommenen Bilderfluß'59 heraustreten. Die Unterschiedlichkeit der Motive und der narrativen Mittel macht aus den einzelnen Fragmenten unabhängige Keime thematischer Elemente, die im Spiel zwischen Leerstellen und intertextuellen Allusionen einer Vielfalt kultureller Dimensionen freien Lauf geben. Aus der Spannung zwischen Nähe und Ferne, Schriftkultur und oraler Tradition, Anspielung und Schweigsamkeit gewinnt der Text von Rulfo die beschwörende Kraft 157 Vgl. Kap. V., 2. 158 Der poetische Aufbau des Romans Rulfo realisiert als nanativer Text das Prinzip des Fragments, wie dies die Dichtung von Paz ab Blanco und Piedras Sueltas zum Prinzip macht (vgl. Vf., 1990b). 159 Nach Pedro Páramo hat Rulfo nur noch Filmtexte geschrieben, die in El gallo de oro y otros textos para cine gesammelt worden sind (Presentación y notas de Jorge Ayala Blanco. México: Era, 1980). Das Verhältnis der Sprache seiner Erzählliteratur und der teilweise durch ihn geleiteten filmischen Umsetzungen wäre gesondert zu untersuchen.

264 seiner Sprache. Der weitgespannte Bogen zwischen intertextueller Dichte und einfacher, direkter kultureller Denotation erklärt die Intensität des Wortes. José María Arguedas hat dieses Wort als "palabra cargada [...] de todo el peso de padeceres, de conciencias, de santa lujuria, de hombría"160 bezeichnet. Die Worte des Romans, die trotz der überaus komplexen ästhetischen Komposition eine direkte und elementare Ausdruckskraft besitzen, vermitteln ebenso stark die Sehnsucht nach der "anderen Seite" der Kultur wie auch die Last der allgegenwärtigen Präsenz einer übermächtigen politischen Gewalt. Gegen diese gewaltsame Herrschaft des Todes im páramo von Cómala entwickelt sich im Text ein Widerstand aus den Stimmen der Opfer selbst. Es ist ein Widerstand, dessen Intensität betroffen macht161, um so mehr, als er den Wunsch nach Leben vom Standpunkt des Todes aus artikuliert. Bei aller konzeptualistischen Dichte des Romans hinterläßt die Lektüre des Textes zugleich intensive Eindrücke, die sinnlich, erotisch und sentimental berühren, anziehen und beunruhigen, so daß mit der intellektuellen Distanziemng von gewohnten Erkenntnismodellen auch die Betroffenheit verspürt wird, etwas zu begegnen, das erscheint und sich entzieht, etwas, das zugleich eine bekannte und gänzlich andere Welt aufscheinen läßt. Deise ist für sich selbst sprechend und verhüllt sich zugleich eine Erscheinung, die zum Respektieren des Anderen bereit macht162. Dies zu erfahren, ist ein kostbares Ergebnis der distanzierenden Bewegung und der komplexen Wege der Reflexion über die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Erkennbarkeit des Anderen.

6. Juan Rulfos Vorsicht im Umgang mit dem "Anderen" Das Prinzip der Komposition dieses Textes liegt in der Geste der Autonomie und Vielfalt, die sich vereinheitlichenden Diskursen widersetzt. Als Teil dieser Bewegung kommen auch die Indios in einem schlichten Fragment ins Spiel: Im Roman des Kaziken Pedro Páramo behauptet eine unscheinbare, den Indios gewidmete Passage im zweiten Teil des Romans (pp.197-109) eben diese Autonomie. Unvermittelt treten Indios aus Apango, einem pueblo in den Bergen um Cómala, in der Atmosphäre eines verregneten Sonntagsmarktes auf. Der regnerische Chronotopos

160 Im Zusammenhang mit der von Arguedas aufgestellten Opposition zwischen Regionali sten und Kosmopoliten im "Diario de 11 de mayo" aus El zorro de arriba y et zorro de abajo (1971:15). Rullo bezeichnet er all einen der überzeugenderen Autoren, die von "innen", d.h. von einer der Kultur internen Perspektive, sprechen. 161 Ich verweise auf Lévinas' Begriffe der "Öffnung" und der "Vulnerabilität" (vgl. Kap. II). Lévinas' Worte erinnern an den Erzählmodus des Textes von Rulfo: "Réduit au silence, il [l'autre homme] donne encore réponse d'en deçà du logos, comme si sa voix disposait d'un registre de graves ou d'aigus par-delà les graves et les aigus" (1972:82). 162 Vgl. die Diskussion des Mythos als Offenbarung im Zusammenhang mit Lévinas' Kritik am Begriff