Meta-Romane: Die récriture als Reflexion des Romans in Québec (1980-2007) [1. Aufl.] 9783839419526

Dass die récriture, die Rekonstruktion eines fiktionalen Textes in einem neuen, mehr ist als die bloße literarische Anei

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Meta-Romane: Die récriture als Reflexion des Romans in Québec (1980-2007) [1. Aufl.]
 9783839419526

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Siglenverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Gegenstand und Fragestellung
1.2 Aufbau, Methode und Auswahlkriterien
1.3 Forschungsbericht
2. Das Konzept der récriture
2.1 Konzeptuelle Vorüberlegungen
2.2 Systematisierung des Gebrauchs der Begriffe récriture und réécriture
2.2.1 Das Verständnis von récriture und réécriture als Texteigenschaft: Die universelle Intertextualität
2.2.2 Réécriture als Praxis und Produkt des Schreibprozesses: Die dominant textgenerative Dimension
2.2.3 Récriture als textuelle Strategie: Die inszenatorische Dimension
2.3 Récriture als Form der Intertextualität
2.3.1 Ansatzpunkte der Transformation: Der strukturalistische Ansatz Genettes
2.3.2 Merkmale der récriture als tiefenintensive Form der Intertextualität
2.4 Récriture als Wiederaufnahme der Komponenten eines fiktionalen Weltensystems
2.4.1 Die Theorie der möglichen Welten in der Literaturwissenschaft
2.4.2 Der Aufbau fiktionaler Universen
2.4.3 Das Plotmodell der Theorie der möglichen Welten
2.5 Récriture als rezeptionsästhetisches Phänomen: Mentale Modelle literarischer Figuren (und Plots) in der kognitiven Narratologie
2.6 Récriture und andere Spielarten der Literatur zweiten Grades
2.6.1 Das Pastiche
2.6.2 Die Parodie
2.6.3 Die Adaptation
2.6.4 Die Transfiktionalität
2.7 Definitorisches Fazit
2.7.1 Merkmale der récriture
2.7.2 Formen der récriture
3. Vorläufer und Grenzfälle der récriture: Von der Textaneignung über den Conflit des codes bis zur subversiven Wi(e)deraufnahme
3.1 Les anciens Canadiens: Sir Walter Scotts Waverley à la québécoise
3.2 Menaud und Maria: Die récriture eines Québecer Klassikers
3.3 Conflit des codes: Der französische Intertext
3.4 Récriture-réécriture am Beispiel von Jacques Ferron
3.5 Die Avantgarde der récriture: Hubert Aquins Neige noire
3.6 Récriture au féminin am Beispiel von Louky Bersianiks Le pique-nique sur l’Acropole
3.7 Récriture als Literaturkritik: Le semestre und Serge d’entre les morts
3.8 Zwischenfazit
4. Die récriture im Québecer Roman von 1980 bis 2007
4.1 Textexterne récriture: Récriture als virtuelles Mitlesen des Prätextes
4.1.1 Weiterentwicklung eines Erzählstils: Les fous de bassan als feminisierte récriture von The Sound and the Fury
4.1.2 Von Geschichten zur Geschichte: Vers le sud und La chair du maître
4.1.3 Von Frauen und Männern und vice versa: Voyage à Lointainville und Retour à Lointainville
4.1.4 Vom Nonsens zum populären Initiationsroman: Aliss
4.2 Die Verlagerung der Lektüre in das Erzähluniversum: Récriture als fiktionalisierte Rezeption
4.2.1 Copies conformes: Die Unmöglichkeit der femme fatale
4.2.2 Un monde de papier: Faust als Ausweg aus dem „Wunderland“ der Frauenzeitschrift
4.2.3 Das Märchen und der Roman: L’Ogre de Grand Remous als Umkehrung von „Le petit Poucet“
4.2.4 Almazar dans la cité: Ein Québecer Don Quijote
4.3 Die Verlagerung der produktiven Lektüre in das Erzähluniversum: Récriture als fiktionalisierte Verdoppelung des Kreationsprozesses
4.3.1 La source opale: Récriture als Herausschreiben aus der Krise
4.3.2 Quenamican oder Nerval in Mexiko: Das Spiel mit der fiktionalen Alternative
4.3.3 Louise ou La nouvelle Julie: Rousseaus Julie ou La nouvelle Héloïse im Zerrspiegel der récriture
5. Schlussbetrachtung
Literatur

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Marion Kühn Meta-Romane

Lettre

Marion Kühn studierte Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien in Passau und Québec. 2010 schloss sie ihre Promotion in Romanischer Literaturwissenschaft an der Universität Passau ab.

Marion Kühn

Meta-Romane Die récriture als Reflexion des Romans in Québec (1980-2007)

Die Dissertation wurde mit einem Promotionsstipendium der Stiftung für Kanada-Studien, einem Kurzzeit-Doktorandenstipendium des DAAD sowie mit einem Druckkostenzuschuss der Universität Passau gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Ghislain Gagnon, Québec 2011 Satz: Marion Kühn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1952-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 Siglenverzeichnis | 11 1.

Einleitung | 13 1.1 Gegenstand und Fragestellung | 13 1.2 Aufbau, Methode und Auswahlkriterien | 26 1.3 Forschungsbericht | 29 2.

Das Konzept der récriture | 39 2.1 Konzeptuelle Vorüberlegungen | 39 2.2 Systematisierung des Gebrauchs der Begriffe récriture und réécriture | 42 2.2.1 Das Verständnis von récriture und réécriture als Texteigenschaft: Die universelle Intertextualität | 45 2.2.2 Réécriture als Praxis und Produkt des Schreibprozesses: Die dominant textgenerative Dimension | 47 2.2.3 Récriture als textuelle Strategie: Die inszenatorische Dimension | 48 2.3 Récriture als Form der Intertextualität | 53 2.3.1 Ansatzpunkte der Transformation: Der strukturalistische Ansatz Genettes | 53 2.3.2 Merkmale der récriture als tiefenintensive Form der Intertextualität | 59 2.4 Récriture als Wiederaufnahme der Komponenten eines fiktionalen Weltensystems | 64 2.4.1 Die Theorie der möglichen Welten in der Literaturwissenschaft | 64 2.4.2 Der Aufbau fiktionaler Universen | 72 2.4.3 Das Plotmodell der Theorie der möglichen Welten | 75 2.5 Récriture als rezeptionsästhetisches Phänomen: Mentale Modelle literarischer Figuren (und Plots) in der kognitiven Narratologie | 81

2.6 Récriture und andere Spielarten der Literatur zweiten Grades | 89 2.6.1 Das Pastiche | 90 2.6.2 Die Parodie | 91 2.6.3 Die Adaptation | 93 2.6.4 Die Transfiktionalität | 96 2.7 Definitorisches Fazit | 100 2.7.1 Merkmale der récriture | 100 2.7.2 Formen der récriture | 102 3.

Vorläufer und Grenzfälle der récriture: Von der Textaneignung über den Conflit des codes bis zur subversiven Wi(e)deraufnahme | 10 7

3.1 Les anciens Canadiens: Sir Walter Scotts Waverley à la québécoise | 109 3.2 Menaud und Maria: Die récriture eines Québecer Klassikers | 115 3.3 Conflit des codes: Der französische Intertext | 117 3.4 Récriture-réécriture am Beispiel von Jacques Ferron | 122 3.5 Die Avantgarde der récriture: Hubert Aquins Neige noire | 128 3.6 Récriture au féminin am Beispiel von Louky Bersianiks Le pique-nique sur l’Acropole | 135 3.7 Récriture als Literaturkritik: Le semestre und Serge d’entre les morts | 140 3.8 Zwischenfazit | 148 4.

Die récriture im Québecer Roman von 1980 bis 2007 | 151

4.1 Textexterne récriture: Récriture als virtuelles Mitlesen des Prätextes | 151 4.1.1 Weiterentwicklung eines Erzählstils: Les fous de bassan als feminisierte récriture von The Sound and the Fury | 155 4.1.2 Von Geschichten zur Geschichte: Vers le sud und La chair du maître | 161 4.1.3 Von Frauen und Männern und vice versa: Voyage à Lointainville und Retour à Lointainville | 186 4.1.4 Vom Nonsens zum populären Initiationsroman: Aliss | 202

4.2 Die Verlagerung der Lektüre in das Erzähluniversum: Récriture als fiktionalisierte Rezeption | 215 4.2.1 Copies conformes: Die Unmöglichkeit der femme fatale | 218 4.2.2 Un monde de papier: Faust als Ausweg aus dem „Wunderland“ der Frauenzeitschrift | 220 4.2.3 Das Märchen und der Roman: L’Ogre de Grand Remous als Umkehrung von „Le petit Poucet“ | 230 4.2.4 Almazar dans la cité: Ein Québecer Don Quijote | 258 4.3 Die Verlagerung der produktiven Lektüre in das Erzähluniversum: Récriture als fiktionalisierte Verdoppelung des Kreationsprozesses | 281 4.3.1 La source opale: Récriture als Herausschreiben aus der Krise | 285 4.3.2 Quenamican oder Nerval in Mexiko: Das Spiel mit der fiktionalen Alternative | 307 4.3.3 Louise ou La nouvelle Julie: Rousseaus Julie ou La nouvelle Héloïse im Zerrspiegel der récriture | 330 5.

Schlussbetrachtung | 357 Literatur | 371

Vorwort

Reflektionen von traditionellen in zeitgenössischen Bauwerken sind typisch für das Stadtbild von Québec, wo diese Arbeit über die Reflexion von Literatur in der Literatur zum großen Teil entstanden ist, bevor sie im Sommersemester 2010 von der Philosophischen Fakultät der Universität Passau im Fach Romanische Literaturwissenschaft als Dissertation angenommen wurde. Zuerst und mehr als herzlich möchte ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Klaus Peter Walter, danken, der meine Promotion mit einer Stelle an seiner Professur ermöglicht hat. Das große Interesse an meinem Dissertationsprojekt, die fördernden und fordernden Gespräche sowie die Möglichkeit zu ausgedehnten Forschungsreisen nach Québec weiß ich sehr zu schätzen. Meiner Zweitgutachterin, Frau Prof. Dr. Susanne Hartwig, danke ich sehr herzlich für die fachliche Unterstützung und die zahlreichen wertvollen Anregungen aus dem Doktorandenkolloquium. Für ihre bereitwillige und hilfreiche Beratung bin ich auch Prof. Andrée Mercier und Prof. René Audet, vom CRILCQ der Université Laval dankbar, die meine Arbeit in Québec sehr bereichert haben. In diesem Zusammenhang möchte ich auch der Stiftung für Kanada-Studien für die großzügige Förderung meines Projekts in Form eines neunmonatigen Forschungsstipendiums meinen Dank aussprechen. Dem DAAD gilt mein Dank für ein Kurzzeit-Promotionsstipendium, das mir einen Forschungsaufenthalt an der Université Laval im Frühjahr 2007 ermöglichte. Der Universität Passau danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses und dem transcriptVerlag für die Bereitschaft, mein Buch in sein Programm aufzunehmen. Nicht zuletzt gilt mein Dank allen, die meine (ré-)écriture-Arbeit in Diskussionen und/oder als sorgfältige und kritische Korrekturleserinnen sehr erleichtert haben: Verena Schmöller, Dr. Martina Weis und Tonia Yüksel. Für die emotionale Unterstützung gebührt meiner Familie und ganz besonders Ghislain, der mir den Grund gab, meine Doktorarbeit fertigzustellen, ein ganz spezielles, ein abschließendes Dankeschön.

Siglenverzeichnis

Folgende Siglen werden zur Abkürzung der entsprechenden Romantitel benutzt: A AC AW CC CM DT LAC LG MP N NH NJ NN OG QU RL S SM SO VL VS VO W

Patrick Sénécal, Aliss Alain Gagnon, Almazar dans la cité Lewis Carroll, Alice in Wonderland Jacques Ferron, Les confitures de coings (anciennement, la nuit) et autres textes Dany Laferrière, La chair du maître Dino Buzzati, Le désert des Tartares Philippe-Joseph Aubert de Gaspé, père, Les anciens Canadiens Lewis Carroll, Alice Through the Looking-Glass and What Alice Found There François Désalliers, Un monde de papier Jacques Ferron, La nuit Jean-Jacques Rousseau, Julie ou La nouvelle Héloïse Marc Gendron, Louise ou La nouvelle Julie Hubert Aquin, Neige noire Robert Lalonde, L’Ogre de Grand Remous Roger Magini, Quenamican Sylvie Desrosiers, Retour à Lointainville Gérard Bessette, Le semestre Gilbert La Rocque, Serge d’entre les morts Yves Vaillancourt, La source opale Sylvie Desrosiers, Voyage à Lointainville Dany Laferrière, Vers le sud Gérard de Nerval, Voyage en Orient Walter Scott, Waverley

1. Einleitung

1.1 G EGENSTAND

UND

F RAGESTELLUNG

Schon der erste Bestseller der Geschichte des Romans in Québec, PhilippeJoseph Aubert de Gaspés Les anciens Canadiens (1863), kann trotz der Behauptung seines Autors, sein Werk sei „tout canadien par le style“ (Aubert de Gaspé 1994: 27), seine Verwandtschaft zu Walter Scotts Waverley (1814) nicht verleugnen. Als Erfinder der „historical romance“ (Brierley 1996: 13) hat Sir Walter Scott seine Zeitgenossen begeistert, und dies nicht nur in Schottland. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Aubert de Gaspé, dessen Biografie Parallelen mit derjenigen Scotts aufweist, von der Darstellung der schottischen Gesellschaft vor der Krönung des englischen Königs inspiriert wurde. Genau wie Scott entwirft er einen Protagonisten – Archibald Cameron of Locheill, den Sohn eines schottischen Freiheitskämpfers –, der zwischen zwei opponierenden Nationen hin- und hergerissen ist. Insgesamt versetzt Aubert de Gaspé den Grundkonflikt nach Québec und passt ihn der Rivalität zwischen Anglo- und Frankokanadiern an. Dabei nimmt die conquête Neufrankreichs durch die Briten Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Rolle des historischen Hintergrundes ein und bietet mit dem Sieg der protestantischen Briten ein Pendant zum Zweiten Jakobitenaufstand von 1745 in Großbritannien in Waverley. Ganz anders gestaltet sich Hubert Aquins Umgang mit einem anderen britischen Klassiker, Shakespeares Hamlet, in Neige noire (1974). Im Unterschied zu Aubert de Gaspé kommuniziert Aquin den Bezug auf Hamlet in Neige noire durch die mehrfache Nennung innerhalb der erzählten Welt, wobei Sheila Fischman sogar so weit gegangen ist, ihre Übersetzung ins Englische mit Hamlet’s Twin zu betiteln. Das berühmte Theaterstück wird im Roman, der ein fiktives Drehbuch darstellt, bewusst nachgespielt und -gelebt und darüber hinaus vom Protagonisten, der seine Ehefrau umbringt, da sie in einer inzestuösen Beziehung mit ihrem Vater lebt, für seine Zwecke instrumentalisiert.

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| M ETA-ROMANE

Der kurze Blick auf zwei Verarbeitungen kanonisierter Literatur1 innerhalb des Romans der Belle Province zeigt, dass die bewusste Aneignung eines Textes durch einen anderen, die récriture, in der jungen Literatur Québecs eine schon früh nachweisbare Praxis ist. Zudem deutet sich schon an den beiden Eingangsbeispielen ab, dass sich die récriture durch ihre Vielschichtigkeit auszeichnet. Von der kreativen ,Québézisierung‘ eines Klassikers durch Aubert de Gaspé bis zum Missbrauch Hamlets als Legitimation für einen Mord durch Aquins Erzähler in seinem hochgradig selbstreflexiven Roman Neige noire lassen sich in Québec unterschiedliche Ausprägungen und Zielsetzungen im Umgang mit fremden Texten und Werken nachweisen. Die vielfältigen Formen der récriture, die in den zwei Beispielen nur angerissen werden konnten, bilden den Gegenstand der vorliegenden Studie. Der Untersuchungszeitraum umfasst dabei Romanpublikationen zwischen 1980 und 2007. Die récriture ist keinesfalls ein Phänomen, das sich auf das zwanzigste Jahrhundert, eine Nationalliteratur oder eine Gattung beschränkt. Vielmehr handelt es sich – in einer sehr weiten Definition – um eine Schreibpraxis, die in verschiedenen Formen schon immer aufgetreten ist: „La réécriture est une pratique constante de la création littéraire, et plus généralement, culturelle.“ (Bordas 2002: 501)2 Die zu untersuchenden Romane situieren sich darüber hinaus jedoch in einer Epoche des Wiederaufnehmens, Zitierens und Kombinierens von Kunstwerken und -stilen, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts international und kunstübergreifend einsetzt. Diese so genannte ‚Postmoderne‘ (vgl. Hutcheon 1988) wird je nach Standpunkt als eine besonders fruchtbare, aber auch „agonisierende“3 Periode der kreativen Neuverarbeitung von bereits Bestehendem angesehen. Letztere Ansicht vertritt Jean Baudrillard, für den es dabei um eine Ära des „recyclage“ (Baudrillard 1992: 46), der unendlichen und hohlen Wiederaufbereitung handelt, „où tout original est virtuellement dangereux“ (ebd.: 111). Dadurch deutet sich an, dass sich die récriture im Zentrum der Diskussion um Originalität und Einzigartigkeit, um literarischen Einfluss und kreative Ei1

Nicht nur die Prätexte sind als kanonisierte Literatur zu bezeichnen, sondern auch die beiden Romane aus Québec, wie an den umfangreichen Sekundärliteraturangaben im Dictionnaire des œuvres littéraires du Québec und der Tatsache, dass sie in der Reihe Bibliothèque québécoise neu verlegt wurden, abzulesen ist. Neige noire nimmt jedoch im Werk Hubert Aquins in Bezug auf die Rezeption eine vergleichsweise untergeordnete Stellung ein.

2

Die Verwendung der unterschiedlichen Schreibweisen ‚récriture‘ und ‚réécriture‘ wird im Kapitel 2.2 der vorliegenden Arbeit erläutert.

3

Siehe hierzu Baudrillard 1992.

E INLEITUNG

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genleistung befindet, die schon in der Antike in Bezug auf den künstlerischen Wert der imitatio debattiert wurde: Die I[imitatio] auctorum bewegt sich ebenfalls zwischen den Polen negativ als unoriginell, sklavisch und epigonal beurteilter Kopie und positiv verstandener schöpferischer Nachahmung, bis hin zum agonalen Prinzip der aemulatio. (Ueding 1992: 236, Hervorhebung im Original)

Julian Barnes fasst diese auch für die zeitgenössische Literatur relevante Debatte über das eigenständige Werk, die der seit dem 18. Jahrhundert etablierten Idee des schöpferisch-produktiven Genies entspricht, das aus dem Nichts ein Meisterwerk schafft, in seinem Roman Flaubert’s Parrot zusammen, indem er seinen Erzähler eine Absage an den Roman über den Roman formulieren lässt: There shall be no more novels which are really about other novels. […] Instead, every writer is to be issued with a sampler in coloured wools to hang over the fireplace. It reads: Knit Your Own Stuff. (Barnes 2001: 113)

Die Wiederaufnahme von literarischen Vorläufern kann sehr verschiedene Ausprägungen annehmen und erweist sich auch in der zeitgenössischen Literatur oft als origineller und kreativer Dialog mit literarischen Modellen und Diskursen – so auch Barnesʼ oben genannter Roman, in dem sich ein englischer Arzt mit Flaubert auseinandersetzt. Dies deutet schon an, dass das obige Zitat, das aus einem imaginären Regelkatalog für Literatur stammt, ironisch zu verstehen ist, denn gerade Barnesʼ Werke entkommen der nachahmerischen Falle und illustrieren das kreative und innovative Potenzial, also den Mehrwert, den derartige Wiederaufnahmen generieren können. Der jegliche Einzigartigkeit unterminierenden Wirkung der Revision und des Recycling, wie sie von Baudrillard angeprangert wird, setzen Kritiker wie David Cowart die Innovationsfähigkeit einer literarischen Symbiose entgegen: „Contemporary writing finds means to make the old new by rewriting it.“ (Cowart 1993: 15) Cowart fasst hier auf ergebnisorientierte Weise einen Mechanismus zusammen, den Harold Bloom in The Anxiety of Influence für die Poesie psychoanalytisch mit dem Vater- beziehungsweise Muttermord in Verbindung gebracht hatte.4 Ein differenzierter Begriff der Originalität steht dagegen in der Argumen4

Jeder aufstrebende Dichter müsse mit der literarischen Tradition kämpfen, um seine eigene Stimme zu finden. Dieser oft unbewusste Kampf äußere sich in einer kreativen Korrektur der Vorläufer: „Poetic Influence – when it involves two strong, authentic

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| M ETA-ROMANE

tation von John Barth in seinem Essay „La littérature du renouvellement“ im Vordergrund: [L]es conventions artistiques peuvent être écartées, subverties, transcendées, transformées ou même retournées contre elles-mêmes pour engendrer de nouvelles œuvres pleines de vie. (Barth 1980: 404)

Die Literatur der Erneuerung funktioniert somit über die Neuinterpretation und Verarbeitung vorheriger Texte, die bis zu ihrer völligen Umkehrung gehen kann. Dass eine Geschichte wiederaufgenommen beziehungsweise noch einmal erzählt wird, kommt dabei keineswegs nur im Roman vor. Vielmehr ist dieses Prinzip auch im Film, in der Malerei und im Design omnipräsent (vgl. Hutcheon 1985: x, Moraru 2001: xi). Im Film ist das Remake eine gängige Praxis, um eine bereits verfilmte Geschichte neuen technischen Gegebenheiten oder einem veränderten Publikumsgeschmack anzupassen. Auch Gattungsüberschreitungen wie eine Literaturverfilmung oder die Adaptation eines Spielfilms als Computerspiel (und andersherum) können hier angeführt werden. Die Malerei bietet vielfältige Formen der reflektierten Wiederaufnahme wie Picassos Dialog mit Velázquez oder Andy Warhols Vervielfältigungsstrategien, um nur zwei zu nennen. In der Literatur ist es vor allem der zeitgenössische Roman, der nach Meinung einiger Kritiker vom Drang nach dem Nacherzählen oder Wiedererzählen (vgl. Schiff 1998: 1, Cowart 1993: 12) geprägt sei und damit ein besonders fruchtbares Analysefeld darstellt. Daher beschränkt sich die vorliegende Studie auf das literarische Genre des Romans. Die kreative Wiederaufnahme von Erzähltexten im neuesten frankophonen Roman ist noch nicht Gegenstand einer eigenständigen Untersuchung geworden. Um diese Forschungslücke zu schließen, konzentriere ich mich auf die récriture in der „Nationalliteratur“ Québecs ab den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Die récriture als produktive Lektüre und damit Weiterentwicklung und potenzieller Dialog der Literatur(en), bietet gerade in Québec ein sehr vielversprechendes Analysefeld, war doch die Literatur in der Belle Province lange mit dem Konzept einer (National-)Identität scheinbar zwangsläufig verbunden. Québec, die sprichwörtliche frankophone Insel im angloamerikanischen Raum, liegt am Kreuzungspunkt verschiedener Literaturen und Sprachen. Die

poets, – always proceeds by a misreading of the prior poet, an act of creative correction that is actually and necessarily a misinterpretation.” (Bloom: 1973: 30)

E INLEITUNG

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Folgen dieser minoritären Stellung werden kontrovers diskutiert. Während die Québecer Sprachpolitik mit der Loi 101 von 1977 eine Politik der Bewahrung durchsetzt, die englische Einflüsse vermeiden will, spricht sich André Belleau für einen dynamischen Kulturbegriff in Bezug auf Québec aus und sieht in dieser Zwischenstellung einen Gewinn, äußert sie sich doch in einem „caractère hétéroglossique de la culture québécoise“ (zitiert nach Simon 1994: 47), der den Kern der kulturellen Kreativität bilde: „[Une] logique du passage interlinguistique est au cœur de la création culturelle: [la] culture [est] à inventer et non pas à trouver.“ (Ebd.) Innerhalb der Literaturkritik herrscht weitgehend Konsens darüber, dass sich die littérature québécoise5 seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in einem Prozess der Dezentrierung und Öffnung befindet, die eine Ära des Pluralismus hervorgebracht hat (vgl. Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 531). Ideologisch-inhaltliche oder diskursive Kriterien, wie sie noch Abbé Henri-Raymond Casgrain oder Camille Roy definierten, sind in Bezug auf die vielfältigen Publikationen Québecs obsolet geworden. Dabei sieht das Projekt der littérature québécoise, das während der Révolution tranquille6, die Québec in einen „état extraordinaire de fièvre collective“ (Dorion 1997: 352) versetzte, zunächst eine enge Verquickung von Literatur und Nation vor. Den Weg im Selbstbild von einem Ast der französischen Literatur zur eigenständigen littérature québécoise beschreitet Québec ähnlich wie andere frankophone Literaturen, die sich von der vormals materiell und ideell beherrschenden ehemaligen Kolonialmacht abnabeln wollten, mit Hilfe subversiver literarischer Strategien. Eine besondere Rolle haben dabei Übersetzungen von französischen und britischen Dramen in den sechziger und siebziger Jahren gespielt. Hier entwirft die Vielzahl von Übersetzungen im Bereich des Theaters einen emanzipatorischen Nationaldiskurs: „La traduction, comme l’écriture théâtrale, devient le

5

Der Begriff der ‚littérature québécoise‘ wurde mit dem Erscheinen des Artikels „Pour une littérature québécoise“ in Parti Pris im Januar 1965 etabliert, bezieht sich jedoch rückwirkend auf die Publikationen seit der Nouvelle-France, die vorher unter der Bezeichnung „littérature canadienne-française“ firmierten (vgl. Biron/Dumont/NardoutLafarge 2007: 14).

6

Der Begriff ‚The Quiet Revolution‘, der als Bezeichnung für den rasanten Übergang Québecs zu einem modernen Wohlfahrtsstaat nach der konservativen Regierung Duplessis’ eingesetzt wird, stammt wahrscheinlich aus einem Artikel des damaligen Québec-Korrespondenten der kanadischen Zeitung Globe and Mail. Seither wird er in der französischen Form auch in Québec gebraucht (vgl. Thomson 1984: 2).

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| M ETA-ROMANE

véhicule de revendications nationalistes et l’expression de la québécité.“ (Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 512)7 Das Theater nimmt jedoch im Vergleich zum Roman eine untergeordnete Stellung im literarischen Feld Québecs ein.8 Pierre Nepveu (1988: 16) argumentiert, dass eine Entwicklung zu einer Fragmentarisierung und Pluralisierung schon in den Texten der sechziger Jahre angelegt gewesen sei und zu einer Literatur geführt habe, die andere Kritiker als Québecer9 Postmoderne bezeichnen. Gerade in der Nachfolge dieser Stoßrichtung situieren sich die hier untersuchten récriture-Romane, die in Québec oft mit den Schlagwörtern „Postmoderne“ und „Barock“ etikettiert werden. Der Postmoderne-Diskurs, der unter anderem durch Jean-François Lyotards La condition postmoderne (1979) in Gang gebracht wurde – ein Auftragswerk für den Conseil des Universités der Québecer Regierung –, ist jedoch nicht unumstritten. Um der begrifflichen Unschärfe dieses viel kritisierten Konzeptes entgegenzuwirken, definiert Janet Paterson in Moments postmodernes dans le 7

Hans-Jürgen Lüsebrink beschreibt diesen Abnabelungsvorgang folgendermaßen: „Des périodes de bouleversement politiques et culturels, telles la Révolution française, la Révolution russe, la Révolution culturelle chinoise, et l’époque de la colonisation en Afrique, en Asie et dans les Caraïbes, et, enfin, dans une certaine mesure également la Révolution tranquille québécoise dans les années 1960 semblent se caractériser par le fait qu’elles rompent – ou tentent de rompre – avec des traditions d’interprétation héritées du passé et les canons culturels et littéraires qu’ils véhiculent.“ (Lüsebrink 1998: 29) Anhand von Stücken wie Réjean Ducharmes Le Cid maghané (1968, nicht publiziert), Antonine Maillets Bourgeois Gentleman (1978) oder Robert Guriks Hamlet, prince du Québec (1968) lässt sich aufzeigen, dass es sich bei der produktiven Lektüre, der récriture, von kanonisierten Dramen während der siebziger Jahre in Québec und Akadien tatsächlich um eine Ersatzstrategie für das Verbrennen von Büchern als materielle Zerstörung der Kulturgüter einer dominanten Macht handelt, wie Lüsebrink angibt (vgl. ebd. und die Studie von Annie Brisset (1990): Sociocritique de la traduction. Théâtre et altérité au Québec [1968 – 1988]).

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Mitte der sechziger Jahre etabliert sich der Roman als dominierende Gattung in Québec und löst damit die Lyrik, genauer, die poésie du pays, ab, deren Themen er zunächst übernimmt (vgl. Nepveu 1988: 102). Pierre Nepveu stellt die These auf, dass die poésie du pays, die Québec besungen hatte, im aufstrebenden Roman immer mehr zum Klischee abgewertet werde (vgl. ebd.: 108).

9

Bei der deutschen Übersetzung des Adjektivs ‚québécois‘ als ‚Québecer‘ wird der Verwendung der Vertretung der Regierung von Québec in Deutschland gefolgt (vgl. http://www.gouv.qc.ca/portail/quebec/international/allemagne/ vom 13.02.2010).

E INLEITUNG

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roman québécois (1993), postmoderne Literatur zeichne sich dadurch aus, dass sie sowohl auf der Vermittlungs- als auch auf der Geschichtsebene die Konzepte der Einheit, der Homogenität und der Harmonie in Frage stelle (ebd.: 2). Auf dieser Grundlage entwirft sie einen Merkmalskatalog des postmodernen Romans in Québec, der sich vor allem auf das Kriterium der Autorepräsentation stützt. Damit meint sie, dass er ständig seine eigene Funktionsweise zur Schau stelle, hochgradig intertextuell und spielerisch sei. Intertextualität oder mit Cowart (1993) gesprochen, die symbiotische Beziehung zwischen zwei Texten, kann dabei eine Ausprägung der Selbstreflexion eines literarischen Textes sein: „Its symbiotic attachment to another text is a typically postmodern convolution of self-referential meaning.“ (Cowart 1993: 12)10 Darauf aufbauend sieht Paterson die postmoderne Literatur durch einen Bruch gekennzeichnet, der sich auf verschiedene Weise äußern kann, als „rupture ontologique (Beckett), rupture politique (Aquin), rupture sociale et féminine (Nicole Brossard), rupture au niveau de la ‚représentation‘ (Robbe-Grillet)“ (ebd.: 20). Neben Romanen von Nicole Brossard und Hubert Aquin untersucht Paterson unter anderem den hochgradig intertextuellen Roman Le semestre (1979)11 von Gérard Bessette, um den „ordre de l’hétérogène“ (vgl. Paterson 1993: 20) als Strukturmerkmal des postmodernen Romans in Québec herauszuarbeiten. Die Heterogenität kann sich dabei in Form einer Pluralität von Perspektiven, die sich von allwissenden Erzählinstanzen abwendet, sowie in fragmentarischem Erzählen, einer Mischung von literarischen Gattungen und einer spielerischen Subversion literarischer Konventionen und Diskurse äußern. Neben dem Postmoderne-Diskurs ist in Bezug auf die neueste Literatur Québecs zudem, wie erwähnt, der Barock-Diskurs zu nennen, der von einem ahistorischen Verständnis des Begriffs ausgeht. Dabei ist die Verwendung bezüglich neuester Publikationen von derjenigen in den fünfziger und sechziger Jahren zu unterscheiden, als ‚barock‘ synonym mit ‚exzessiv‘, ‚ungewöhnlich‘ und

10 Michael Scheffel betont in diesem Zusammenhang, dass „Selbstreflexion ein Phänomen [sei], das markierte intertextuelle Anspielungen einschließen kann“ (Scheffel 1997: 48), insgesamt aber vor allem intratextuell einzuordnen sei. Er versteht Formen der Literatur zweiten Grades nicht per se als selbstreflexiv und geht davon aus, dass diese „jeweils unterschiedliche, für den Einzelfall zu spezifizierende Formen der Selbstreflexion realisieren“ (ebd.). Siehe hierzu Kapitel 1.3 der vorliegenden Untersuchung. Für eine Unterscheidung der Begriffsverwendung im Zusammenhang mit Formen des Selbstbezugs literarischer Texte, siehe Krah 2005: 4ff.. 11 Dieser Roman wird im Kapitel 3.7 der vorliegenden Untersuchung genauer betrachtet.

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‚übertrieben‘ gebraucht wurde (vgl. Moyes 2008).12 Konnotiert mit Ambiguität, Ungewissheit, multipler Perspektivierung, Ausschmückung, Widersprüchlichkeit und Illusion wird der Begriff auch für eine genauer bestimmte Form literarischer Ästhetik gebraucht und findet häufig in der Québecer Literaturkritik Verwendung: The term ‚baroque‘ surfaces, for example, in Louise Dupré’s work on Madeleine Gagnon, 13

Robert Richard’s analysis of Hubert Aquin , Claudine Bertrand’s presentation of new currents in québécois writing, Pierre L’Hérault’s discussion of D’Alfonso, Michel Peterson’s writings on Claude Gauvreau and Lianne Moyes’ work on Nicole Brossard. (Ebd.)

Ausgehend von den Kriterien des literarischen Barock, die Jean Rousset14 definierte, wären Kennzeichen barocker (Erzähl-)Literatur nach einer derart überzeitlichen Definition „un éclatement des structures narratives, une multiplication des instances d’énonciation, un dérèglement de la chronologie, un foisonnement du récit“ (Sarlet 2001: 20). Claudette Sarlet stellt den Zusammenhang zwischen postmoderner und barocker Literatur her, einer postmodernité baroque, foisonnante, faite d’accumulation de choses hétéroclites, d’un mélange de réalisme, de fantasmatique d’une intrication d’architecture moderne et de résidus du passé. (Ebd.: 24)

Ähnlich argumentiert Ursula Mathis-Moser (2003: 230), wenn sie das Konzept des Barock als Metapher für den postmodernen Charakter des Werkes von Dany Laferrière bestimmt.15 Einen Bedeutungsunterschied sieht jedoch Lianne Moyes gerade in Bezug auf die Literatur Québecs. Sie führt aus, dass der Barockbegriff im Gegensatz zur Postmoderne die Emotionen, Wünsche und die Körperlichkeit stärker in den Vordergrund stelle, durch die ein Subjekt Hybridität und Wandel erlebe, und verweist dabei auf die rasanten Veränderungen seit der Révolution 12 http://www.athabascau.ca/writers/barocque.html vom 07.02.2010. 13 Auch André Lamontagne (1992: 249) verwendet den Barock-Begriff im Zusammenhang mit dem Werk Hubert Aquins, der selber Kurse über das literarische Barock gab (vgl. Aquin 1995). 14 In La littérature de l’1’âge baroque en France (1954) definiert Jean Rousset als die vier Kennzeichen eines barocken Werks, die Instabilität, die Mobilität, die Metamorphose eines vielschichtigen Einheit und die Übermacht des Dekors, das heißt ein Spiel mit Illusionen (vgl. Rousset 1954: 181f. zitiert nach Sarlet 2001: 17). 15 Siehe hierzu Kapitel 4.1.2 der vorliegenden Untersuchung.

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tranquille und die aktuellen Debatten über kulturelle und sprachliche Heterogenität. Angeführt wird hier auch die Verbindung zwischen barocker Ästhetik und dem Katholizismus, der in Québec lange gesellschaftsprägend war. Die vorliegende Studie schreibt sich in die oben aufgeführten Diskurse insofern ein, dass récriture-Romane die Merkmale sowohl postmoderner als auch barocker Literatur erfüllen können, zeichnen sie sich doch durch ihre intertextuellen Beziehungen, Fiktionsbrüche und teilweise einen sehr spielerischen Ansatz aus. Auch wenn die beiden Diskurse die übergeordneten Funktionsmechanismen von récriture-Romanen zu fassen erlauben, stellen sie aufgrund ihrer breiten Anlage doch kein ausreichend feines Analyseinstrumentarium bereit, das der hier untersuchten Ausprägung von Romanliteratur gerecht würde. Die Untersuchung der Spielarten der récriture als reflektierte Wiederaufnahme fremder und eigener Kulturerzeugnisse in literarischer Form wird aufzeigen, inwiefern Québecer Schriftsteller16 Ende des zwanzigsten Jahrhunderts einen dynamischen Kulturbegriff internalisiert haben und sich in einem internationalen Feld der Literatur positionieren. Die récriture als möglicher Dialog der Literatur gibt in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zudem Aufschluss über das Selbstverständnis des Romans – auch wenn sich nur ein kleiner Teil der Québecer Romanschriftsteller dieser Praxis widmet, sie also keinesfalls einen repräsentativen Teil, sondern vielmehr eine innovative Stoßrichtung innerhalb des vielfältigen aktuellen Romanschaffens in Québec darstellt. Die Untersuchung setzt sich zum Ziel, die Formen der récriture im zeitgenössischen Roman Québecs zu analysieren und dabei ihr subversives und kritisches Potenzial in den jeweiligen Texten aufzuzeigen. Im Fokus steht der Umgang mit den Prätexten, das heißt der Positionierung, die Texte zweiten Grades zu ihren Vorläufern einnehmen – dies sowohl bezogen auf die Vermittlungs- als auch auf die Geschichtsebene. Relativ leicht zu beantworten ist die Frage, welche Werke wiederaufgenommen werden, also im wörtlichen Sinn scriptibles nach Roland Barthes sind (vgl. Barthes 1976: 10).17 Der Schwerpunkt der Untersuchung bezieht sich auf die Ausgestaltungsformen der Neuverarbeitungen dieser Geschichten. Die vorliegende Arbeit stellt die wichtigsten Techniken der 16 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. 17 „Il y a d’un côté ce qu’il est possible d’écrire et de l’autre ce qu’il n’est plus possible d’écrire: ce qui est dans la pratique de l’écrivain et ce qui en est sorti: quels textes accepterais-je d’écrire (de ré-écrire), de désirer, d’avancer comme une force dans ce monde qui est le mien? Ce que l’évaluation trouve, c’est cette valeur-ci: ce qui peut être aujourd’hui écrit (ré-écrit): le scriptible.“ (Barthes 1970: 10)

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récriture dar und veranschaulicht ihre Anwendung am Beispiel der Literatur Québecs von 1980 bis 2007. Dabei muss auch der Frage nachgegangen werden, was der Antrieb für narratives Wiederschreiben ist. Auch wenn die sogenannte „intentional fallacy“ (Hutcheon 2006: 170) durch (post-)strukturalistische Proklamationen vom Tod des Autors (vgl. Barthes 2000: 101) verpönt ist, kann man in Bezug auf die kreative und interpretative Verarbeitung von Primärwerken Linda Hutcheon zustimmen, die in ihrer Studie zur Adaptation (Hutcheon 2006) die politischen, ästhetischen und autobiografischen Intentionen der jeweiligen Verarbeiter einer Geschichte für durchaus relevant hält.18 Somit erfolgt ausgehend vom Roman eine Systematisierung der verschiedenen récriture-Formen, die auch auf andere Literaturen und Gattungen übertragbar sein wird. Die récriture wird als ein dynamisches Konzept verstanden, das eine Verbindung zwischen Texten herstellt, so dass ergründet werden muss, was mit einer noch einmal geschriebenen Geschichte passiert. Es geht demnach darum, „die semantische Explosion, die in der Berührung der Texte geschieht, […] die Erzeugung einer ästhetischen und semantischen Differenz“ (Lachmann 1990: 57) sichtbar zu machen, die sich oft in einem Bedeutungszuwachs des récritureRomans sowie in einer Rückwirkung auch auf den Primärtext, also die „Originalversion“ einer Geschichte, äußern kann. Da es sich bei den ausgewählten Texten zweiten Grades oft um weniger bekannte Romane handelt, die außerhalb Québecs so gut wie keine Verbreitung finden, setzt sich die Studie außerdem zum Ziel, anhand des international verbreiteten Phänomens der récriture eine Erstinterpretation einiger von der deutschsprachigen Kritik nicht oder nur wenig beachteter Werke dieser kleinen Literatur zu liefern. Der vorliegenden Arbeit liegt die These zugrunde, dass sich die Wiederaufnahme von bereits erzählten Geschichten im Québecer Roman ab den achtziger Jahren durch eine hohe Komplexität auszeichnet, die sich der Dichotomie einer Be18 Als Kompromisslösung zwischen einer Nichtbeachtung des Autors und der Suche nach der Absicht des realen Autors wird heute der so genannte ‚hypothetische Intentionalismus‘ praktiziert, dem hier gefolgt wird. Die Aussage des Textes wird dabei unter Zuhilfenahme der sprachlichen Konventionen, künstlerischen Praktiken und dem allgemeinen historischen Kontext rekonstruiert: „A narrative’s meaning is established by hypothesising intentions authors might have had, given the context of creation, rather than relying on, or trying to seek out, the author’s subjective intentions.“ (Gibbs 2005: 248)

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stätigung beziehungsweise Ablehnung der im Primärtext vertretenen Diskurse entzieht und sich vielmehr einer Reflexion und Betrachtung fiktionalen Erzählens19 widmet. Anders als die von einem emanzipatorischen Nationaldiskurs geprägten kritischen Übersetzungen von kanonisierten Dramen der ehemaligen Kolonialmächte stellt die récriture am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts somit eine Ausdrucksform post-nationaler Literatur dar und zeugt von der internationalen Öffnung des literarischen Québecs. Indem récriture-Romane bereits bestehende Texte wiederaufgreifen, haben sie metatextuelles Potenzial, stellen sie doch im weitesten Sinne Texte über Texte dar, so dass „ein Element des Systems [der récriture-Text, MK] auf ein anderes (ähnliches oder identisches) desselben Systems [den Prätext, MK] rekurriert“ (Wolf 2007: 31). Dadurch verfügt eine récriture „über eine höhere textlogische Ebene, eine kognitive Reflexionsebene […], von der aus Phänomene der Objektebene kommentiert und/oder beschrieben werden“ (Hauthal/Nadj/Nünning et al. 2007a: 4). Diese Rückbezüglichkeit ist in engem Zusammenhang zur literarischen Selbstreflexivität zu sehen (vgl. Scheffel 1997), wobei Selbstreflexivität, wie bereits erwähnt, im Folgenden in Anlehnung an Wolf (2007: 33) „durch das Anregen einer kognitiven Aktivität“ beim Leseprozess charakterisiert wird, die eine Aussage hervorbringt.20 In seiner vornehmlich produktionsästhetisch ausgelegten Studie zum selbstreflexiven Erzählen unterscheidet Michael Scheffel als Gegenstände der Selbstreflexion das Erzählte, die Erzählung sowie das poetolo19 Martínez und Scheffel unterscheiden die „Form der authentischen Erzählung von historischen Ereignissen und Personen […] als faktuale Erzählung“ (Martínez/Scheffel 2005: 10, Hervorhebung im Original) von fiktionalen Formen der Erzählung die „grundsätzlich keinen Anspruch auf unmittelbare Referenzialisierbarkeit, d.h. Verwurzelung in einem empirisch-wirklichen Geschehen erheben“ (ebd.: 13). Die vorliegende Untersuchung folgt dieser Begriffsunterscheidung auch hinsichtlich der Verwendung des Adjektivs ‚fiktiv‘, das im Folgenden für den Seinsstatus des in einem fiktionalen Text Ausgesagten (vgl. ebd.) reserviert wird. 20 Werner Wolf (2010: 28) konkretisiert diese kognitive Aktivität als ein Bewusstsein der Medialität und unterscheidet eine pragmatische Zone von einer metareflexiven Zone. Erstere zeichnet sich dadurch aus, dass Metareferenzen nur latent und nicht als Bruch der ästhetischen Illusion gewertet werden wie dies beispielsweise bei der Konvention des allwissenden Erzählers der Fall sein kann. Die zweite Art löst eine Betrachtung von einer Meta-Ebene: „In this zone the recipient’s cognitive attention focus is centred on the second-order system and its conditions (including possible consequences of mediality, an extreme case being him or her becoming aware of the ‚framedness‘ of all perception, cognition and reception.“ (Ebd.)

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gische Prinzip (vgl. Scheffel 1997: 55), wobei letzteres sehr weit gefasst ist, beinhaltet es doch Gattungsfragen, die Stellung zur Realität oder die Anlehnung eines Romans an bestimmte Diskurse.21 Angeregt werden kann die kognitive Aktivität entweder explizit oder implizit.22 Dabei kann einerseits in Form einer Fremdmetafiktion Bezug auf andere Texte genommen werden (vgl. Wolf 1997: 35), wie dies bei der récriture der Fall ist. Die angestoßene kognitive Aktivität kann sich andererseits aber auch als Eigenmetafiktion auf den vorliegenden Text beziehen (vgl. ebd.). Im Zentrum um die Debatte der Metaisierung im Roman steht dieses Verständnis von Metafiktion als „Erzählliteratur, die ihre Fiktionalität gezielt und grundsätzlich offenlegt“ (Burdorf/Fasbender/Schweikle 2007: 493). Von dieser Metafiktion im engeren Sinne kann die Metanarration als „Thematisierung des Erzählens“ (Nünning 2001: 129f. zitiert nach Rennhak 2007: 210) abgegrenzt werden. Mark Currie, der Romane als Metafiktionen einstuft, wenn sie die Grenze zwischen Fiktion und Kritik durchbrechen, sieht insgesamt die erstgenannte Fremdmetafiktion, wie sie bei intertextuellen Referenzen vorliegt, als Randphänomen der Metafiktion an, da die Metaisierung implizit bleibe (vgl. Currie 1995: 4f.). Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, neben dem ihr inhärenten impliziten auch das explizite metatextuelle Potenzial der récriture aufzuzeigen und dessen Funktionalisierung zu veranschaulichen. These ist, dass die récritureRomane als Meta-Romane eine Diversifizierung metatextueller Verfahren über metafiktionale und metanarrative Strategien hinaus durchführen, so dass sie als metaisierende Romane im übergeordneten Sinn verstanden werden können. Inwiefern récriture-Romane als Meta-Romane gesehen werden können, wird in den Analysen herausgearbeitet, die den komplexen Zusammenhang zwischen Text und erzählter Welt, zwischen Medium und Inhalt, verdeutlichen, der gerade im Vergleich offenbart wird. Die Untersuchung der récriture als Fokussierung auf die Wiederaufnahme bereits erzählter Geschichten wird auch als Analyse des Umgangs mit Kulturprodukten verstanden, das heißt als eine Reflexion über den kulturellen und sozialen Kontext dessen, was gemeinhin als Postmoderne bezeichnet wird. Ohne weiter auf den schillernden Begriff der Postmoderne einzugehen, soll an dieser Stelle Linda Hutcheons These erwähnt werden, dass postmoderne Literatur die gegenwärtige Kultur als Produkt früherer Repräsentatio21 In Bezug auf die Reflexion des poetologischen Prinzips, das auf einen wissenschaftlichen Diskurs verweist, nennt Scheffel (1997: 62f.) beispielsweise Balzacs auf einem naturwissenschaftlichen Programm basierende Comédie Humaine. 22 Wolf (2007: 42) unterscheidet explizite von impliziten Metareferenzen durch ihre Zitierbarkeit.

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nen versteht (vgl. Hutcheon 1989: 58). Récriture wird nach dieser Definition zum postmodernen Lesen und Schreiben schlechthin. Zwar erschafft die récriture selbst eine Repräsentation einer Geschichte, präsentiert sich jedoch offen als solche und stellt sich der Herausforderung der Tradition, indem bestehende Wirklichkeitskonstruktionen, das heißt in diesem Fall literarische Werke, kritisch hinterfragt, kommentiert, neu kontextualisiert und verwertet werden. Sie tragen somit auf sehr offenkundige Weise zur Erneuerung der Literatur durch sich selbst bei. Diese erfolgt auf selbstbetrachtende Art, wobei die récriture nicht nur einen allgemeinen Diskurs über Literatur generiert, sondern eine Auseinandersetzung mit einem bestimmten Erzähltext in Form eines Romans und somit eine fiktionalisierte „critique en acte“ (vgl. Genette 1982: 450) darstellen kann. Die Wiederaufnahme einer Geschichte in veränderter Form kann rückwirkend das Bedeutungsangebot der „Originalversion“, das heißt des Prätextes, einschränken oder kommentieren. Bei der Lektüre eines récriture-Romans wird somit eine Art „Rückkopplungseffekt“ ausgelöst, denn der Leser kann die Reflexion über den Prätext, welche der récriture-Text zumindest implizit suggeriert, wieder auf den Eingang des Systems, den Prätext selbst, anwenden. Betont wird in diesem dynamischen Prozess zudem die kommunikative Komponente des Romans als Medium, das auf verschiedenen Ebenen Lektüre- und Interpretationspisten anbietet. Die récriture schreibt sich somit auch dahingehend in die postmoderne „incrédulité à l’égard des métarécits“ (Lyotard 1979: 7) ein, als sie Erzählungen, die als kanonisierte Klassiker gelten, von ihrem Podest holen kann, um ihre Funktionsmechanismen und Entstehungshintergründe zu hinterfragen. Dabei werden nicht nur Werkgrenzen durchbrochen, indem ein publizierter Text in einem anderen aufgeht, sondern auch Gattungsgrenzen überschritten. Die Wiederaufnahme kann einen Gattungsübergang markieren, so dass die Untersuchung der récriture darüber hinaus Erkenntnisse über Gattungsformen generieren kann, welche die Lektüre eines Textes entscheidend lenken können, ihn gewissermaßen zum Werk werden lassen. Gerade die Analyse der Grenzüberschreitungen, die récriture-Romane oft absolvieren – hinsichtlich der Gattungszuweisung oder anderer Elemente des Prätextes, die transformiert werden – kann Rückschlüsse über die Interaktion zwischen Erscheinungsform und Lektüre eines Textes bieten. Darüber hinaus bietet das Nebeneinanderlesen von Prätext und Text zweiten Grades an den Konfliktflächen, wie sie bei mehr oder weniger eklatanten Abweichungen hinsichtlich der aufgenommenen Geschichts- oder Vermittlungebene auftreten, die Möglichkeit, die Bedeutung einzelner Elemente für die beiden Texte und die Architektur der erzählten Welten sowie die Entwicklung der Ereignisfolge(n) im Roman sichtbar zu machen.

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1.2 AUFBAU , M ETHODE

UND

AUSWAHLKRITERIEN

Die Studie gliedert sich in drei Teile: Auf ein literaturtheoretisches Kapitel, das eine Unterscheidung von drei Formen der récriture erarbeitet, folgt ein literaturgeschichtliches Kapitel zur récriture in Québec vor 1980, bevor im dritten Teil anhand vertiefter Romananalysen die wichtigsten Ausprägungen der récriture in Québec zwischen 1980 und 2007 dargestellt werden. Im Fokus des literaturtheoretischen Kapitels (Kap. 2) steht der Begriff récriture, der ein Konzept beschreibt, das als Unterart der Intertextualität zu sehen ist. Wie viele literarische Forschungsrichtungen krankt die Intertextualitätsdebatte an ihrer verwirrenden Begriffsvielfalt. Im Zentrum des zweiten Kapitels steht daher ein Resümee der verschiedenen Ansätze der Intertextalitätstheorie, die zum Ausgangspunkt für die definitorische Annäherung an die intertextuelle Sonderform der récriture wird. Gérard Genettes Verwendung des Begriffs récriture als Synonym für eine seriöse Neuverarbeitung eines Textes ist der Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit, die zunächst einen systematischen Überblick über den unterschiedlichen Einsatz des Terminus récriture gibt, bevor eine Abgrenzung des Konzepts der récriture von demjenigen der Intertextualität im Mittelpunkt steht, um ihn in einem dritten Schritt als Analysewerkzeug anzuwenden. Um den Begriff operationalisierbar zu machen und Untersuchungsvariablen zu definieren, wird die Possible Worlds-Theory (Theorie der möglichen Welten) herangezogen, die es erlaubt, einen Plot als ein aus mehreren interagierenden fiktionalen Welten bestehendes Erzähluniversum zu verstehen. Wie zu zeigen sein wird, bietet sie damit ein im Vergleich zu bisherigen Intertextualitätsansätzen deutlich präziseres Analyseinstrumentarium, um ein Erzähluniversum mit einem anderen zu vergleichen, um also den Umgang eines Textes mit seinem Prätext exakt zu erfassen. Damit der Grundmechanismus der Rezeption eines récritureTextes nachvollzogen werden kann, ist zudem ein kurzer Einblick in das Forschungsfeld der kognitiven Narratologie nötig, der erhellt, wie der Prozess einer Lektüre zweiten Grades funktionieren kann. Den Abschluss des Theorie-Kapitels bildet ein Systematisierungsmodell von drei verschiedenen Formen der récriture. Der zweite Teil der Arbeit (Kap. 3) befasst sich mit dem Auftreten der récriture in Québec vor dem Untersuchungszeitraum. Das Kapitel versteht sich weniger als ein literaturgeschichtlicher Abriss über die récriture in der Provinz Québecs, denn als ein Überblick über die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten dieser literarischen Strategie anhand der wichtigsten, bereits teilweise unter anderen Gesichtspunkten untersuchten Werke. Selbst eine Beschränkung der Bestandsaufnahme auf die Gattung des Romans kann jedoch keine vollständige Geschichte der récriture in Québec schreiben. Vielmehr geht es darum, die bisher in der

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Sekundärliteratur untersuchten Werke vor dem Hintergrund der theoretischen Erkenntnisse neu zu präsentieren. Dadurch wird eine Vergleichsbasis für die Romananalysen des Untersuchungszeitraums geschaffen, so dass sichtbar wird, welche Formen die récriture vor 1980 bevorzugt und wie sie funktionalisiert wurde. Dieses Kapitel bietet somit die Grundlage für die Antwort auf die Frage, ob sich der literaturgeschichtliche Einschnitt in Québec ab den achtziger Jahren auch an einem veränderten Umgang mit Prätexten nachweisen lässt. Zur Veranschaulichung und Diskussion der theoretischen Ausführungen werden die ausgewählten Werke zudem dazu genutzt, die Grenzen und Konturen der récriture, wie sie im zweiten Kapitel theoretisch dargestellt wurden, zu problematisieren und schärfer zu erfassen. Den dritten Teil der Studie (Kap. 4) bieten exemplarische Analysen von zehn récriture-Romanen. Für den Zeitraum von 1980 bis 2007 wurden Romane ausgewählt, die besonders geeignet sind, den Umgang mit Prätexten zu veranschaulichen. Es besteht daher kein Anspruch auf Vollständigkeit. Insgesamt wird jedoch versucht, die Strategie der récriture anhand eines möglichst vielgestaltigen Korpus aus Québec in ihren verschiedenen Facetten zu beleuchten, um eine Grundlage für ergänzende Studien zu schaffen, die weitere Romanpaare anhand des vorgestellten Modells analysieren könnten. Um die prägnantesten und innovativsten Ausprägungen der récriture ausfindig zu machen, wurden vor allem zwei Medien genutzt. Für den Beginn des Untersuchungszeitraums bis 1985 konnten der sechste und der siebte Band des Dictionnaire des œuvres littéraires du Québec (DOLQ) gesichtet werden.23 Die Herausgeber haben sich zum Ziel gesetzt, ein möglichst umfassendes Kompendium der Québecer Literatur zu liefern, so dass dieses Lexikon als Referenzwerk für literarische Veröffentlichungen in Québec gelten darf. In Bezug auf die Romanpublikationen listet der Index des siebten Bandes 400 Titel auf, von denen 300 in Einträgen näher betrachtet werden. Die vorliegende Studie stützt sich zunächst auf die vom DOLQ definierten vier Auswahlkriterien für eine „littérature québécoise“: […] avoir été éditée par une maison québécoise; avoir été écrite par un Québécois/une Québécoise ou par une personne ayant décidé de vivre au Québec; viser le Québec comme premier lieu de consécration; relever, en tout ou en partie, de l’imaginaire ou du réel québécois. (Dorion 1994: XLI)

23 Der achte Band, der den Zeitraum von 1986 bis 1990 umfassen wird, ist zum Zeitpunkt der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit noch in Planung gewesen.

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Damit ein Werk berücksichtigt wird, muss es mindestens zwei dieser Anforderungen erfüllen.24 Für den Zeitraum von 1985 bis 2007 wurde die seit 1976 vierteljährlich erscheinende Literaturzeitschrift Lettres québécoises. La Revue de l’actualité littéraire gesichtet, die Interviews und Rezensionen zu Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt veröffentlicht. Ergänzend wurde die Zeitschrift Le Libraire hinzugezogen, eine sechs Mal im Jahr erscheinende Publikation der unabhängigen Buchhandlungen Québecs, die unter anderem Neuerscheinungen aus dem französischsprachigen Kanada präsentiert. Auf der Basis der Rezensionen und Kurzpräsentationen wurde eine Auswahl an Romanen festgehalten, die im genannten Untersuchungszeitraum entstanden sind und sich deutlich als Literatur zweiten Grades zu erkennen geben. Damit die Interaktion innerhalb des Textpaares adäquat untersucht werden kann, sind ausschließlich Texte ausgewählt worden, die einen klar zu definierenden, narrativen Prätext ausweisen, der publiziert wurde und somit als Vergleichselement herangezogen werden kann.25 Bei der Auswahl der Texte wurde zudem Kinder- und Jugendliteratur26 ausgeschlossen, um von einem vergleichbaren Lesepublikum der untersuchten Romane auszugehen. Romane aus verschiedenen Subgattungen wie Brief- oder Kriminalroman wurden dagegen berücksichtigt.

24 Auch wenn in diesem Rahmen nicht eingehend auf das problematische Konzept einer Nationalliteratur Québecs eingegangen werden kann, soll stellvertretend Bernard Andrès’ Kritik an den oben genannten Selektionskriterien angesprochen werden, die besonders auf die schwer nachprüfbare Intentionalität bei der Wahl des Wohnorts beziehungsweise Bezugsraums abzielt (vgl. Andrès 1990: 33). Die vorliegende Studie untersucht Texte, die unter Anlegung der oben genannten Kriterien im öffentlichen oder wissenschaftlichen Diskurs in die Kategorie ‚Québécois‘ eingeordnet wurden, unabhängig von der Frage, ob es tatsächlich eine thematisch oder stilistisch von anderen Literaturen abgrenzbare littérature québécoise gibt (siehe hierzu beispielsweise Gruber 2004). 25 Die Wiederaufnahme von Mythen oder Legenden ohne Angabe auf eine veschriftliche Form wurde daher ausgeschlossen genauso wie Werke, die nur über einen fiktiven Prätext verfügen wie beispielsweise Madeleine Monettes Le double suspect (1980), in dem die Protagonistin das nur in der erzählten Welt vorhandene Tagebuch ihrer verstorbenen Freundin noch einmal schreibt. 26 Victor-Lévy Beaulieus Verarbeitung von Schneewittchen in Neigenoire et les sept chiens (2007) könnte beispielsweise im Bereich der Kinderliteratur untersucht werden.

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Im Einzelnen werden im Rahmen der vorliegenden Studie die Romane Les fous de bassan (1982) von Anne Hébert, Vers le sud (2006) von Dany Laferrière, Retour à Lointainville (2005) von Sylvie Desrosiers, Aliss (2000) von Patrick Sénécal, Un monde de papier (2007) von François Désalliers, L’Ogre de Grand Remous (1992) von Robert Lalonde, Almazar dans la cité (1999) von Alain Gagnon, La source opale (2005) von Yves Vaillancourt, Quenamican (2005) von Roger Magini sowie Louise ou La nouvelle Julie (1981) von Marc Gendron genauer im Vergleich zu ihren Prätexten untersucht.27 Eingeflochten werden weitere Beispiele oder ähnliche Ausprägungen in Texten, die am Grenzbereich der récriture anzusiedeln sind und daher als weniger „prototypisch“ gelten müssen.

1.3 F ORSCHUNGSBERICHT Die récriture ist, wie bereits angedeutet, in literaturtheoretischer Hinsicht dem Überbegriff der Intertextualität zuzuordnen und wird daher im Rahmen der Intertextualitätstheorie betrachtet. Die Intertextualität ist Gegenstand zahlreicher Einführungs- und Überblickswerke, seit Julia Kristeva Ende der sechziger Jahre in ihrem Aufsatz „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“ den Begriff geprägt hat. Dabei lässt sich aus der Vielzahl der Publikationen eine Unterscheidung in verschiedene Ansätze der Intertextualitätstheorie herausfiltern. Insgesamt bewegen sich die Theorien zur Intertextualität im Spannungsfeld zwischen poststrukturalistischer Textentgrenzung und einer dem Werkbegriff die Treue haltenden Hermeneutik. Im deutschen Sprachraum ist eine Systematisierung beziehungsweise Operationalisierung des Begriffs dem Sammelband von Manfred Pfister und Ulrich Broich, Intertextualität (1985), geschuldet, während in der frankophonen Literaturwissenschaft Gérard Genettes Palimpsestes. La littérature au second degré (1982) das Standardwerk bildet – auf beide Studien wird im zweiten Kapitel genauer eingegangen. In diesem Zusammenhang werden auch die Monographien von Anne Claire Gignoux, La récriture (2003), Michel Lafon, Borges ou La réécriture (1990), und Sammelwerke wie das von Claudette OriolBoyer, La réécriture (1990), die jeweils unterschiedliche Definitionen des Begriffs der récriture anlegen, behandelt und systematisiert. 27 In Bezug auf die Primärtexte wurde versucht, die Ausgabe zu berücksichtigen, welche die Folie für den Text zweiten Grades bildet. Wo sich Korpus-Romane explizit auf eine Übersetzung beziehen, wurde diese als Grundlage für die Vergleichsanalyse herangezogen.

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Intertextuelle Bezüge waren schon mehrfach Gegenstand von Forschungsliteratur über den Québecer Roman. Eine systematische Aufarbeitung einer speziellen Form der Intertextualität, wie sie die récriture darstellt, stand jedoch noch nicht im Fokus einer Untersuchung. Vielmehr beschäftigen sich Arbeiten wie André Belleaus Studie Surprendre les voix (1986) vornehmlich mit der Stellung von Literatur in der Gesellschaft oder treffen auf der Basis der Analyse intertextueller Bezüge Aussagen über das Selbstbild von Québecer Schriftstellern im internationalen Literaturbetrieb. Belleau geht dabei von einer Unterscheidung in eine diskursive, also vornehmlich ausschmückende Funktion und eine diegetische Performanz von Intertexten aus, wobei letzteres Intertexte betrifft, die eine Rolle innerhalb der Diegese spielen, weil sie beispielsweise von Figuren gelesen oder kommentiert werden (vgl. Belleau 1986: 187). Dazu vergleicht er den Gebrauch intertextueller Referenzen in französischen und Québecer Romanen der vierziger und fünfziger Jahre und kommt zu dem Schluss, dass der französische Intertext in Werken von Jean Simard, Jacques Godbout oder Réjean Ducharme aufgerufen wird, um die literarische Legitimität des Romandiskurses anzuzeigen, für die erzählte Welt jedoch nicht von Bedeutung ist, wie Lamontagne zusammenfasst: [I]l est le modèle producteur de textes qui, paradoxalement, s’éloignent de la littérature française en se repliant sur un code national caractérisé par l’inné, l’authenticité et une méfiance à l’égard de la culture. (Lamontagne 2004: 11f.)

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Im Gegensatz dazu bauten französische Werke Intertexte in die erzählte Welt ein. Während beispielsweise der Québecer Autor Jean Simard in Mon fils pour28 Der französische Einfluss, den Belleau beschreibt, betrifft jedoch nicht nur die literarischen Werke selbst, sondern den gesamten Literaturbetrieb, wie sich an den heftigen Streitigkeiten ablesen lässt, die ein Leserbrief Aragons entfachte, als er die Québecer Verlage kritisierte, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Werke von Kollaborationsautoren veröffentlichten. Auch wenn Robert Charbonneau, der in dieser Auseinandersetzung, die als Querelle La France et nous in die Literaturgeschichte eingegangen ist, aktivste Vertreter einer Gleichwertigkeit von französischer und Québecer Literatur, zunächst keine Autonomiebewegung des Québecer Literaturbetriebs anfachen konnte, ist dieser Streit mit Paris doch ein Meilenstein auf dem Weg zur Anerkennung einer littérature québécoise (vgl. Nardout-Lafarge 1993b: 26). Die Unabhängigkeitsbestrebungen des Québecer Literaturbetriebs lassen sich zudem schon an der Gründung der Académie canadienne-française im Jahre 1944 ablesen, an der Charbonneau beteiligt war (vgl. ebd.: 13).

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tant heureux (1956) zahlreiche intertextuelle Verweise einspiele, die eher ornamentalen Charakter haben, werde Sartre im Roman der in Frankreich sozialisierten Schriftstellerin Monique Bosco, Un amour maladroit (1961), in die Erzählung integriert, bekomme somit eine Funktion innerhalb der erzählten Welt, die einen Prozess intellektueller Entwicklung nachzeichne (vgl. Belleau 1986: 186f.). Belleau schließt nun von der Art der Ausgestaltung intertextueller Verweise auf die Stellung der Literatur in der Gesellschaft und kommt zu dem Ergebnis, dass der Umgang mit literarischen Referenzen auf ein Misstrauen gegenüber höherer Bildung und Kulturerzeugnissen schließen lasse, was er provokativ auf die Formel, „chez nous, c’est la culture qui est obscène“ (ebd.: 188), bringt. Anhand des Analysekorpus wird zu zeigen sein, dass diese Aussage für die Romanliteratur nach 1980 nicht zutreffend ist. Die kreative Wiederaufnahme eines Prätextes in einem Roman setzt per se eine diegetische Funktionalisierung voraus, deren Implikationen zudem zu verfeinern sind. André Lamontagne konstatiert nun in seiner bereits erwähnten Studie Le roman québécois contemporain. Les voix sous les mots (2004) eine Abwendung von der vorherigen Verwendung des französischen Intertextes als eher textexternem Katalysator, der sich nicht in die erzählte Welt integriere, indem er das Aufnehmen fremder Intertexte und ihr Wirksamwerden auf der Geschichtsebene festhält (vgl. ebd. 12f.).29 In Le roman québécois contemporain arbeitet er verschiedene Ausprägungen des Text-Text-Bezugs im Québecer Roman zwischen 1970 und 1993 heraus. Der Fokus liegt dabei auf der Vielfalt der intertextuellen Bezüge – sowohl hinsichtlich der Ausgestaltung als auch der Herkunft des Intertexts. In seinen Analysen von Romanen von Jacques Ferron, Victor-Lévy Beaulieu, Francine Noël, Dany Laferrière, Régine Robin, Louis Hamelin und Jacques Poulin stellt er gerade für die Romanproduktion ab den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts fest, dass sich die Ausprägung der Intertextualität entscheidend verändert habe: On constate cependant […] la présence plus marquée d’intertextes jouant le rôle de performants diégétiques, c’est-à-dire exerçant une influence déterminante sur les lignes pragmatiques et actorielles du récit. (Lamontagne 2004: 12f.)

29 Eine Ausnahme machte schon Belleau für Hubert Aquin, dessen Romanschaffen im Kapitel 3.5 untersucht wird. Zur Intertextualität in Aquins Werk, siehe André Lamontagnes 1992 veröffentlichte Dissertation Les mots des autres. La poétique intertextuelle des oeuvres romanesques de Hubert Aquin (Lamontagne 1992).

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Darüber hinaus arbeitet Lamontagne eine internationale Diversifizierung der Bezüge heraus, indem er zum Beispiel den US-amerikanischen Intertext bei Jacques Poulin analysiert. Zudem erkennt er, dass die Literatur Québecs nicht nur zitier-, sondern wiederaufnahmefähig wird, wie er am Beispiel von Lise Tremblays Roman L’Hiver de pluie (1990) nachweist, in dem sich die Protagonistin mit Jacques Poulins Erzähler Noël aus Le cœur de la baleine bleue (1970) identifiziert (vgl. Lamontagne 2004: 251). Für Lamontagne ist dies Zeichen einer Öffnung und eines neuen Selbstbewusstseins der Literatur Québecs (vgl. ebd.: 15). These der Studie ist eine Differenzqualität der Intertextualität in der Literatur Québecs, die weiterhin von der Identitätsfrage überdeterminiert sei (vgl. ebd.: 14). Die Ausprägungen der Intertextualität, die er in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts festmacht, interpretiert er als Spiegel einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung, in der Lektüre und Bildung nicht mehr als „affectation étrangère“ (ebd.: 15) wahrgenommen werden, wie Belleau konstatiert hatte. Die Integration fremder Texte in das eigene Werk ist somit für den Untersuchungszeitraum ein Phänomen, das nicht nur récriture-Romane betrifft. Der Umgang mit den jeweiligen Prätexten kann dabei Aufschluss darüber geben, in welchem Maße das Untersuchungskorpus von der Identitätsfrage bestimmt ist. Mit Hilfe der Metapher der ‚imaginären Bibliothek‘ nähert sich eine von Élisabeth Nardout-Lafarge editierte Ausgabe der Zeitschrift Études françaises (Nardout-Lafarge 1993) den verschiedenen Ausprägungen des Text-Text-Bezugs in der Québecer Literatur an. Berücksichtigt werden somit wiederum verschiedenste Arten der Intertextualität, wobei im Unterschied zu den bisher präsentierten Studien eine diachrone Perspektive gewählt wird. Trotzdem warnt die Herausgeberin deutlich vor einer vereinfachenden Sichtweise der Entwicklung der Intertextualität in Québec von einer „schwierigen Imitation zu einer gelassenen Integration“, die den Anschein eines Reifeprozesses mache: S’il est possible, comme le font les collaborateurs de ce numéro, d’identifier des moments dans ce qu’on pourrait appeler l’usage intertextuel dans les textes québécois, il n’est pas pertinent, pour autant de lire le rapport à la littérature selon une courbe diachronique simple, qui irait de l’imitation difficile à l’intégration sereine, du repli sur les sources françaises à l’ouverture au monde, de ‚l’immaturité‘ à ‚la maturité‘. (Nardout-Lafarge 1993a: 9f.)

Ähnlich wie dieser diachrone Überblick in Études françaises legt die vorliegende Studie im dritten Kapitel einige Meilensteine der récriture in der Literaturgeschichte Québecs dar, ohne simplifizierende qualitative Aussagen zu treffen. Vielmehr soll die Bandbreite der Text-Text-Bezüge auch in Romanen, die einen

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dominanten Prätext verarbeiten, hervorgehoben und systematisiert werden, um auf dieser Basis im vierten Kapitel eine methodische Darstellung nach funktionalen Gliederungspunkten ausführen zu können, die zudem Rückschlüsse auf die Formen der récriture vor dem Untersuchungszeitraum erlaubt. Im Kapitel 4.2 wird die einzige Analyse zu der hier behandelten Form der récriture, Karen Goulds sehr luzide Untersuchung von Monique LaRues Copies conformes (Gould 1993) aufgegriffen. Indem die vorliegende Studie diese bisher nur marginal behandelte Form der Intertextualität im Québecer Roman fokussiert, wird eine Einordnung und Gegenüberstellung von LaRues 1989 erschienenem Roman, der die Problematisierung des Originalstatus geradezu mustergültig beschreibt, innerhalb eines Modells verschiedener Spielarten der récriture möglich. Im Bereich der Intertextualitätsforschung in Québec sind zudem Einzelstudien zu nennen, deren Methodik teilweise für die vorliegende Studie fruchtbar gemacht werden konnte. Sehr ertragreich ist dabei vor allem Rolf Lohses Lektüre von Anne Héberts Les fous de bassan (1982) als „künstlerische Antwort“ (Lohse 2005: 199) auf das Werk William Faulkners. Im zweiten Teil seiner Studie Postkoloniale Traditionsbildung. Der frankokanadische Roman zwischen Autonomie und Bezugnahme auf die Literatur Frankreichs und der USA analysiert er Anne Héberts Weiterentwicklung von Erzählstrategien aus Faulkners The Sound and the Fury (1929), auf die im Kapitel 4.1.1 zurückzukommen sein wird. Marie-Andrée Beaudets Analyse L’ironie de la forme. Essai sur l’Élan d’Amérique d’André Langevin (1985) untersucht verschiedene Modi der Intertextualität dieses 1972 erschienen Romans. In Anlehnung an Jean Ricardous Studie Pour une théorie du nouveau roman (1971) unterscheidet Beaudet dabei externe und interne Referenzen, bezieht somit auch Bezüge zwischen Werken ein- und desselben Autors ein. Die Berücksichtigung derartiger makrotextueller Bezüge erweist sich gerade für die Untersuchung der récriture als sehr sinnvoll und wird in der vorliegenden Studie übernommen. Es ist bisher ein Sammelwerk zur récriture im zeitgenössischen Roman Québecs erschienen: Die zweite Ausgabe der Romanica Silesiana (2007)30 bietet eine Reihe von Einzelanalysen der „phenomena of réécriture“ im Québecer Roman des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese unterliegen jedoch keiner einheitlichen Definition des Begriffs. So behandeln die Aufsätze der Zeitschrift als „Phänomene der réécriture“ einerseits explizit markierte Verweise auf einen beziehungsweise wenige dominierende Prätexte, wie dies beispielsweise in Krzysztof

30 http://www.ceeol.com/aspx/publicationdetails.aspx?publicationid=95250940-5a77-c7a -a381-13ee4f65fb63 vom 15.01.2010.

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Jarosz’ Beitrag zu Robert Lalondes L’Ogre de Grand Remous der Fall ist, dessen Interpretation Eingang in Kapitel 4.2.2 finden wird. Andererseits wird auch das Erweitern eines Prätextes, wie dies in Joanna Warmuzińska-Rogóż’ (2007) Beitrag, „Maria Chapdelaine ou le Paradis retrouvé31 de Gabrielle Gourdeau – analyse de l’hypertexte“, im Vordergrund steht, berücksichtigt. Diese Form des Bezugs auf einen Prätext entspricht nicht dem Konzept der récriture, das die vorliegende Untersuchung anlegt, in der récriture als wiederholende, nicht als erweiternde Aufnahme eines Prätextes gesehen wird. Daneben werden auch implizite und nicht intendierte Formen der Wiederaufnahme von Textelementen aufgenommen. So nähert Patricia Smart (Smart 2007) Bianca Zagolins Roman Une femme à la fenêtre (1988) an Louis Hémons Maria Chapdelaine an und argumentiert mit gemeinsamen Bildern, Themen, Figuren und dem ähnlichen Aufbau der Romane. Der Begriff ‚réécriture‘ wird zudem im Sinne eines entgrenzten Textbegriffs für andere Kunstformen gebraucht.32 Die récriture als Unterart der Intertextualität ist in Bezug auf den zeitgenössischen Roman Québecs somit zwar in Einzelstudien untersucht worden, doch die in sich geschlossenen Einzelinterpretationen bieten keine Querverweise auf eine Tendenz. Darüber hinaus fehlt bisher ein Analyseinstrumentarium, das es erlaubt, die récriture von anderen Formen intertextueller Bezüge zu unterscheiden. Ein weiteres Forschungsdesiderat, das hat die Gegenüberstellung der bisherigen, wenig systematischen Verwendung des Begriffs ergeben, besteht in der Differenzierung unterschiedlicher Arten der récriture. In der Anglistik und Amerikanistik wurde bereits versucht, diese Forschungslücke zu schließen. Hier gibt es Beispiele für die systematische Untersuchung des Phänomens in Romanen aus anderen Ländern beziehungsweise als in31 Gabrielle Gourdeaus Roman ist eine Fortsetzung der berühmten Geschichte von Maria Chapdelaine (Hémon 1980 [1914]), die Anfang der siebziger Jahre angesiedelt ist und nur in kurzen analeptischen Tagebuchsequenzen auf die Vergangenheit eingeht. 32 Dieses Verständnis liegt Petr Vurms Aufsatz „L’amour éclaté et recomposé. Sur quelques particularités de la réécriture de Réjean Ducharme“ (Vurm 2007) zugrunde, der sich mit einem Vergleich der malerischen beziehungsweise bildhauerischen Erzeugnisse des Autors mit seinen schriftlichen Werken befasst. Noch entfernter von der Wiederaufnahme und Neuverarbeitung einer Geschichte angesiedelt ist Józef Kwaterkós Beitrag „Réécriture de Montréal dans La brûlerie d’Émile Ollivier“ (Kwaterkó 2007), denn dieser gebraucht den Begriff der „réécriture“ metaphorisch für wiederkehrende textuelle Strategien zur Verbildlichung Montréals.

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ternationale Erscheinung, deren Ergebnisse für die vorliegende Studie funktionalisiert werden können, gerade wenn die Rückwirkung der récriture auf die Rezeption des Prätextes im Fokus steht. So analysiert Christian Moraru (2001) in seiner Studie Rewriting. Postmodern Narrative and Cultural Critique in the Age of Cloning die récriture für den zeitgenössischen US-amerikanischen Roman, während David Cowart das verwandte Konzept der „literarischen Symbiose“ (Cowart 1993) anhand von internationalen Romanbeispielen, also losgelöst von einer Nationalliteratur, umschreibt. Christian Moraru legt den Fokus dabei auf die kreative und kritischdistanzierte Form der Neuverarbeitung eines Textes, die er mit dem Begriff der ‚extensity‘ beschreibt: I turn primarily to extensive rewrites, which make a more conspicuous and directly ‚critical‘ (‚revisionist‘ or radical) impact on certain notions and representations. In sum, the intensive-extensive rewriting sort I discuss designates a postmodern narrative that […] (a) reworks in detail one or a few narratives and (b) while doing so, puts forth a critical commentary on the sociohistorical ambiance – values, ideas, formations, cultural mythologies – within which rewriting is undertaken or within which the reworked text was produced. (Moraru 2001: xii, Hervorhebung im Original)

Moraru betont die intentionale Komponente dieser Textstrategie, die er als hybride Praxis (vgl. ebd. 19), nicht als literarische Gattung sieht, und ordnet sein Untersuchungskorpus konsequenterweise nach den Diskursen, die durch die Texte zweiten Grades kritisch aufgenommen werden.33 Von der Kritik gelobt (vgl. López 2007), geht es Moraru vor allem um eine Apologie der als unpolitisch gebrandmarkten Postmoderne, weniger um eine Bestandsaufnahme der Schreibtechnik in der neuesten Literatur der USA. Sehr entschieden widerspricht er mit Bezug auf Linda Hutcheons Arbeiten zum metahistorischen postmodernen Roman Kritikern wie Terry Eagleton und Fredric Jameson, die der Literatur der Postmoderne kulturellen Relativismus, moralischen Konventionalismus und eine Ablehnung des Konzepts der Solidarität vorwerfen (vgl. Moraru 2001: 168) und bekräftigt für sein Untersuchungskorpus Philippe Sollers’ Behauptung: „[…] [R]ewriting is the continuation of politics by other means.“ (Ebd.)34 33 So stellt der dritte Teil seiner Studie mehrere rewrites von Romanen vor, die den Diskurs eines American Dream transportieren, der vierte Teil fokussiert den Umgang afro-amerikanischer Autoren mit amerikanischen Klassikern. 34 Moraru übersetzt Sollers’ Aussage jedoch hier nicht wie angegeben wörtlich, sondern passt sie seinen Bedürfnissen an, denn in Theorie d’ensemble (1980) bezieht sich

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Der Fokus auf Formen der récriture, die sich durch eine kritische Distanz zum Prätext beziehungsweise den im Prätext vertretenen Diskursen auszeichnen, ist bei der bereits erwähnten Studie von David Cowart (1993) nicht gegeben. Dennoch verarbeitet auch er abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Tourniers Vendredi, ou les limbes du Pacifique (1967) ein dominant anglophones Textkorpus, um sein Konzept der literarischen Symbiose vorzustellen. Sein Ansatz will den vagen Begriff des Einflusses ersetzen und spaltet sich in Anlehnung an die biologische Symbiose in drei Kategorien auf. Bei der Form des Kommensalismus profitiert der Parasit, gleichzeitig erleidet der Wirt keinen Schaden. Beim Mutualismus profitieren beide Parteien, während beim Parasitismus der Parasit auf Kosten des Wirts profitiert (vgl. Cowart 1993: 4). Cowart verweist selbst auf die nicht hundertprozentige Übertragbarkeit der biologischen Termini, zeigt jedoch sehr eindringlich in seiner auf die semantische Komponente fokussierten Studie die Spannbreite auf, welche die Relation des Prätextes zum Text zweiten Grades auch in Form einer Rückwirkung einnehmen kann. Zudem gelingt es ihm, ein Merkmal der Intertextualität in Romanen des zwanzigsten Jahrhunderts zu definieren, wie Robert Kiely treffend bemerkt: A particularly important part of Cowart’s thesis that distinguishes postmodern intextextuality [sic] from earlier versions emphasizes its self-critical character. Unlike simpler forms of parody, the symbiosis to which his book points often displays the contemporary structure dismantling itself at the same time it dismantles its ‚host‘. (Kiely 1994: 917)

Cowart macht somit sehr wertvolle Ausführungen zur selbstbetrachtenden Vorgehensweise der untersuchten Werke. Jedoch ist bezüglich seiner Studie kritisch anzumerken, dass sein Konzept der literarischen Symbiose vom Begriff der Intertextualität relativ unscharf unterschieden wird. Sein „symbiotic spectrum“ ist nach dem Grad der Abhängigkeit von Textsorten gegliedert, wobei vollkommen unabhängige Textsorten als rein theoretisches Konstrukt dargestellt werden. Trotzdem werden sie der Vollständigkeit halber als ein Extrem in der Skala aufgeführt. In der entgegengesetzten Hälfte der eher eigenständigen Textsorten werden dabei Texte, die weite Teile anderer Texte inkorporieren, von solchen, die mit Anspielungen arbeiten, sowie von der gewöhnlichen Intertextualität („Ordinary intertextuality“, Cowart 1993: 6) abgegrenzt, ohne zu definieren, was

Sollers auf die subversive Funktion des Schreibens allgemein: „Toute écriture, qu’elle le veuille ou non, est politique. L’écriture est la continuation de la politique par d’autres moyens.“ (Sollers 1980: 80)

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unter dieser als „routine intertextuality“ (ebd.: 7) bezeichneten Textsorte zu verstehen ist. Augenscheinlich handelt es sich hier entweder um eine dominant rezeptionsästhetische Form der Intertextualität, bei der ein erfahrener Leser auch ohne explizite Markierungen Verbindungen zu bereits gelesenen Werke herstellen kann, oder um die Wiederaufnahme von typischen Merkmalen einer Gattung. Insgesamt situiert sich die vorliegende Untersuchung im Gegensatz zu Cowart und Moraru jedoch weniger im diskurskritischen als im erzähltheoretischen Bereich und nähert sich aufgrund der Schwerpunktsetzung auf der semantischen Ebene einem weiteren, der récriture verwandten Forschungsfeld an, dem von Richard Saint-Gelais eingeführten Konzept der Transfiktionalität (vgl. SaintGelais 2001) das Überschneidungen zur récriture aufweist und im Kapitel 2.6.4 näher abgegrenzt und beleuchtet wird. Récriture wird zudem als produktive Lektüre beziehungsweise fiktionalisierte Auseinandersetzung mit früheren Texten verstanden und folgt damit Robert Dions Le Moment critique de la fiction. Les interprétations de la littérature que proposent les fictions québécoises contemporaines (1997). Dion untersucht in seiner Studie Texte verschiedener Gattungen, die innerhalb der erzählten oder gezeigten Welt die Lektüre und Interpretation eines oder mehrerer anderer zum Teil fiktiver Texte integrieren. Sein hermeneutischer Ansatz, der sowohl auf produktionsästhetischen als auch auf strukturanalytischen und rezeptionsästhetischen Fragestellungen beruht, zielt darauf ab, verschiedene Lektüretechniken und konventionelle Repräsentationen des Lektüreaktes zu hinterfragen. Dabei deuten die sehr kursorische Abgrenzung des Textkorpus von anderen Formen der Intertextualität und Autorepräsentativität und das äußerst heterogene Textkorpus darauf hin, dass es sich um eine vornehmlich thematisch orientierte Studie handelt, die darüber hinaus aufgrund des diversifizierten Textkorpus Gattungsgrenzen und -durchlässigkeiten gerade im Hinblick auf den literarischen Essay beleuchten kann. Für die vorliegende Untersuchung haben sich vor allem die Ausführungen zu Gérard Bessettes Le semestre als wertvoll erwiesen. Die Erforschung der Intertextualität im Québecer Roman zeichnet sich bisher somit durch ihre Vielgestaltigkeit und ein unterschiedliches Verständnis der Wiederaufnahmestrategien von Texten aus. Die Sichtung bisheriger Arbeiten hat somit die Notwendigkeit einer scharfen Abgrenzung der Terminologie verdeutlicht, um das Konzept der récriture operationalisierbar zu gestalten. Im Gegensatz zu Studien, die anhand der Untersuchung intertextueller Bezüge Aussagen über die Merkmale einer Québecer (National-)Literatur treffen, konzentriert sich die vorliegende Studie ausschließlich auf einen expliziten Text-Text-Bezug auf der Mikroebene und greift auf bisherige Einzelstudien zurück, um sie in das vor-

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geschlagene Modell der récriture einzuordnen und Analyseergebnisse auf der Basis des im folgenden Theorie-Kapitel vorgestellten Untersuchungsinstrumentariums gegebenenfalls zu ergänzen. Ausgangspunkt der vorliegenden Studie ist einerseits die von André Lamontagne nach André Belleaus Arbeiten festgestellte Internationalisierung der Primärtexte, andererseits die verstärkte Integration des Intertexts in die erzählte Welt, die Belleau als diegetische Performanz bezeichnet hatte. Um dieser Entwicklung gerecht zu werden, wird im Folgenden gerade das fiktionale Universum, das ein narrativer Text entwirft, in den Fokus gestellt. Zudem wird durch die vergleichende Analyse von Textpaaren der Interaktion zwischen den Texten bei der Lektüre Rechnung getragen. Diese durch die transformierende Wiederaufnahme eines Prätextes hervorgebrachte Rückwirkung macht die récritureTexte zu Meta-Romanen, das heißt zur kritischen Auseinandersetzung mit einem narrativen Text in fiktionaler Form.

2. Das Konzept der récriture

2.1 K ONZEPTUELLE V ORÜBERLEGUNGEN Die Wiederaufnahme einer Geschichte in einem neuen Roman ist ein Phänomen der Intertextualität. Der Terminus ‚Intertextualität‘, der alle wie auch immer gearteten Bezugsformen zwischen Texten umfasst, ist, wie Manfred Pfister treffend bemerkt, ein „schillernder“ (1985: IX) Begriff, der aufgrund seiner vielfältigen Verwendung einer genaueren Definition bedarf. Geprägt wurde der Begriff ‚Intertextualität‘ zuerst von Julia Kristeva, die ihn im Zuge ihrer Interpretation der Bachtin’schen Dialogizität benutzte: [J]eder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen. (Kristeva 2003: 337, Hervorhebung im Original)

Kristeva versteht Intertextualität somit als Textdynamik und entgrenzt dabei Bachtins Textbegriff radikal, so dass er „jede kulturelle Struktur“ (Pfister 1985: 7) umfasst und zum Synonym für ‚Zeichensystem‘ wird. Die Intertextualität wird zur Verortung des Textes in der Geschichte, „l’intertextualité est une notion qui sera l’indice de la façon dont un texte lit l’histoire et s’insère en elle“ (Kristeva 2003: 335 zitiert nach Gignoux 2005: 19) und damit zur Eigenschaft aller Texte. Pfister (1985: 10) merkt an, dass Kristeva später „angesichts einer grassierenden Degenerierung der Intertextualitätstheorie zur recht traditionellen Quellen- und Einflußforschung, die sich nur mit einem modischen Etikett schmückt“ von ihrer Begriffsschöpfung Abstand genommen und ihn durch den Terminus der Transposition ersetzt habe (vgl. ebd.). Problematisch erscheint nicht nur der Gebrauch des Wortes als modernisierendes Etikett für bereits bestehende Praktiken durch Nachfolger Kristevas, son-

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dern sein uneinheitlicher Einsatz, denn je nach Autor wurde er zu einer allgemeinen Beschreibung für kulturelle Austauschprozesse, manifeste oder implizite Verweise auf andere Texte in einem Schrifttext oder die tatsächliche Integration durch die Wiederaufnahme in Form von Zitaten oder Plagiaten. Ende des zwanzigstens Jahrhunderts konnte in Bezug auf die Intertextualitätsforschung durchaus von einem terminologischen Dschungel gesprochen werden. So verweist Renate Lachmann (1990: 56) darauf, dass „der Begriff […] vorerst nicht disziplinierbar, seine Polyvalenz irreduzibel“ sei. Um einen Einblick in die Versuche zur Systematisierung der verschiedenen Intertextualitätsbegriffe zu gewähren, bieten sich die Ansätze von Renate Lachmann und Richard Aczel an, deren Ergebnisse im Kapitel 2.2 auf die récriture übertragen werden können. In Grundbegriffe der Literaturtheorie (Nünning 2004) definiert Richard Aczel (2004: 110) Intertextualität zunächst allgemein als „die Eigenschaft von insbesondere literarischen Texten, auf andere Texte bezogen zu sein“. Anschließend unterscheidet er zwei Stoßrichtungen der Intertextualität: Grundsätzlich sind zwei Kategorien von Intertextualitätstheorien zu unterscheiden. In der einen wird Intertextualität als deskriptiver Oberbegriff für herkömmliche Bezugsformen von Texten verstanden, in der anderen in einem umfassenderen ontologischen Sinn zur qualitativen Bezugnahme auf sämtliche Arten von bedeutungstragenden Äußerungen verwendet. (Ebd.)

Lachmann unterscheidet dagegen drei Perspektiven des Begriffsgebrauchs der Intertextualität in ihrer Beschreibung des „Text-Text-Kontaktes“ (Lachmann 1990: 56), die sich jedoch mit Aczels späteren Ergebnissen in Einklang bringen lassen. Ihr texttheoretisches Konzept der Intertextualität, das diese als allgemeines Merkmal von Texten versteht, ist Aczels zweiter, ontologischer Definition zuzuordnen. Die textdeskriptive Dimension des Intertextualitätsbegriffs als „Beschreibungskategorie für Texte, deren Struktur durch die Interferenz von Texten oder Textelementen organisiert ist“ (Lachmann 1990: 55) lässt sich dagegen Aczels erster Definition zurechnen. Das literaturkritische Potenzial des Intertextualitätsbegriffs, der laut Lachmann gebraucht wird, um existierende Beschreibungskategorien zur Literatur wie beispielsweise die Einmaligkeit und Abgeschlossenheit eines Werkes zu hinterfragen (vgl. ebd.), zielt somit einerseits auf das „allumfassende Konzept unendlicher intertextueller Bezüge“ (Aczel 2004: 112) ab, argumentiert jedoch anhand textdeskriptiver Methoden, so dass dieses Verständnis von Intertextualität auf den beiden anderen basiert. Im Kapitel 2.2 wird auf der Basis dieser Unterscheidung eine Typologie der verschiedenen

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Verwendungen der nur teilweise synonym gebrauchten Begriffe récriture beziehungsweise réécriture unternommen. Essentiell ist zudem Lachmanns Differenzierung in eine Produktions- und Rezeptionsintertextualität (vgl. Lachmann 1990: 57), wobei erstere intendiert und an der Textoberfläche wirksam, letztere dagegen unterschwellig vorhanden sei, das heißt die Sinnkonstitution beeinflusse, ohne an der Textoberfläche sichtbar zu sein. Diese Trennung nähert sich derjenigen Karlheinz Stierles in „Werk und Intertextualität“ (Stierle 2003) an, in der die produktionsästhetische Intertextualität mit dem Prozess der Textkonstitution, einschließlich des Überarbeitens mehrerer Fassungen, gleichgesetzt wird. Die rezeptionsästhetische Intertextualität greift als zweite Dimension den Sachverhalt auf, dass der Leser prinzipiell alle literarischen Texte miteinander in Verbindung bringen kann, umgekehrt jedoch einige produktionsästhetisch angelegte Intertextualitätsformen eventuell nicht aktualisieren kann. Im französischen Sprachraum wurde diese Unterscheidung in ähnlicher Weise von Mikaël Riffaterre eingeführt, der ein bidirektionales Konzept der Intertextualität vertritt. Intertextualität gilt als „perception par le lecteur de rapports entre une œuvre et d’autres, qui l’ont précédée ou suivie. Ces autres œuvres constituent l’intertexte de la première“ (Riffaterre 1980: 4). Er unterscheidet eine aleatorische Form der Intertextualität, die nicht unbedingt intersubjektiv nachprüfbar ist, von einer obligatorischen Ausprägung, bei der die Spuren des Intertextes eine Inkompatibilität hervorrufen. Diese intertextualité obligatoire werde daher zwangsläufig erkannt, da der Rückgriff auf den Intertext zur Bedeutungsermittlung nötig sei (vgl. Riffaterre 1980: 5 und Lamontagne 2004: 29). Zwar muss das Konzept der obligatorischen Intertextualität insgesamt relativiert werden, da das Auffinden der Spuren des Intertextes, die zur Entschlüsselung der Bedeutung notwendig sind, von der Lesekompetenz abhängig ist. Dennoch kann die récriture eindeutig in diesem Bereich angesiedelt werden, basiert sie doch auf der deutlich gemachten Beziehung zwischen einem dominierenden Prätext und einem Text zweiten Grades. Dieses Merkmal teilt sie mit anderen Formen der littérature au second degré. Variante, Parodie, Adaptation und Übersetzung scheinen auf den ersten Blick dem gleichen Funktionsmechanismus zu folgen, denn sie beruhen jeweils auf der produktiven Lektüre eines Prätextes, seiner Interpretation und der (Re-)Materialisierung dieser in einem – wie auch immer gearteten – neuen Text. Gemeinsam ist der récriture mit anderen Formen der Literatur zweiten Grades zudem die mangelnde Begriffsschärfe. Um eine saubere Begriffsbestimmung zu erreichen, wird zunächst ausgehend von der Wortgeschichte eine Systematisierung der Bedeutungsdimensionen der

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oft synonym gebrauchten Begriffe récriture und réécriture durchgeführt (Kapitel 2.2). Anschließend erfolgt eine Einordnung in zwei maßgebliche Intertextualitätsansätze. Gleichzeitig wird gezeigt, auf welche Weise die récriture ausgestaltet sein kann, und welche strukturellen Merkmale sie zu einer nicht zu übersehenden Form der Intertextualität machen (Kapitel 2.3). Dabei wird ein besonderer Schwerpunkt auf die in der bisherigen Intertextualitätsforschung weitgehend vernachlässigte Geschichtsebene fiktionaler Texte gelegt (Kapitel 2.4). Mit dem rezeptionsästhetischen Aspekt der récriture, der die Rolle des Lesers meint, der bei der Lektüre des Textes zweiten Grades eine Zusatzbedeutung generiert, befasst sich das Kapitel 2.5. Auf dieser Grundlage kann die récriture schließlich in Kapitel 2.6 in Bezug zu anderen Formen der Literatur zweiten Grades gesetzt werden, bevor in Kapitel 2.7. eine Zusammenfassung der definitorischen Merkmale und eine Systematisierung verschiedener Ausprägungen der récriture erfolgt.

2.2 S YSTEMATISIERUNG DES G EBRAUCHS DER B EGRIFFE RÉCRITURE UND RÉÉCRITURE In den literaturtheoretischen Diskurs fand das Konzept der récriture in den achtziger Jahren Eingang, wobei jedoch auch hier weder eine einheitliche Schreibweise noch eine übereinstimmende Abgrenzung zu konstatieren sind. In der Literatur wird der Terminus ‚récriture‘ auch in der Variante ‚réécriture‘ gebraucht. Zwar werden die Begriffe je nach Autor teilweise leicht unterschiedlich eingesetzt, doch beziehen sie sich meist sowohl auf den Prozess des noch einmal Schreibens als auch auf das Produkt, den entstandenen Text selbst. Sehr treffend bemerkt Michel Lafon, dass die Auflistung der Hauptformen der „pratiques de ‚seconde main‘“ (Lafon 1990: 11) in Bernard Dupriez’ Gradus: Dictionnaire des procédés littéraires und Claudette Oriol-Boyers Sammelband La réécriture keinerlei Überschneidung aufweisen. Ersterer definiert die „RÉÉCRITURE“ folgendermaßen: Le lecteur a droit à plusieurs états successifs du même texte, états qui se distinguent non seulement par quelques variantes, mais par des différences parfois considérables dans le contenu, la forme, voire l’intention et les dimensions. (Dupriez 1984: 389)

Der Hinweis auf den gleichen Text scheint darauf abzuzielen, dass es sich um verschiedene Varianten eines Werkes handelt, die ein Autor nacheinander publiziert. Zur Veranschaulichung erläutert er die Praktiken „surcharge“, „repentir“,

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„interpolation“, „exponction/exponctuation“, „vulgarisation“ sowie „version abrégée“ (ebd.: 390. Zu Beginn ihres Beitrags, in dem sie das didaktische Potenzial dieser Praxis vor allem in Bezug auf Textproduktion aufzeigen will, nennt Claudette OriolBoyer die ihrer Ansicht nach wichtigsten Formen der „réécriture“, die nur eine kleine Schnittmenge zu Dupriez’ Katalog aufweisen, „[c]opie, citation, allusion, plagiat, parodie, pastiche, imitation, transposition, traduction, résumé, commentaire, explication, correction“ (vgl. Oriol-Boyer 1990a: 9). Auch Éric Bordas bemerkt völlig zu Recht, dass der Begriff der récriture beziehungsweise das oft synonym gebrauchte réécriture, wie sie heute in der theoretischen Diskussion angewendet werden, unscharf und wenig operationalisierbar sei. Er deutet eine Unterscheidung der beiden Varianten in seinem Eintrag zur „Récriture, Réécriture“ im Dictionnaire du littéraire an: La réécriture est l’action par laquelle un auteur écrit une nouvelle version d’un de ses textes, et, par métonymie, cette version elle-même. Mais la réécriture désigne aussi, de façon générale, et plus vague, plus instable, toute reprise d’une œuvre antérieure, quelle qu’elle soit, par un texte qui l’imite, la transforme, s’y réfère, explicitement ou implicitement (dans ce cas, certains critiques proposent d’employer le terme de ‚récriture‘, pour spécifier un usage de création littéraire par re-travail d’un énoncé masqué). (Bordas 2004: 501)

Bordas verweist auf die beiden genannten Dimensionen des Konzepts, das sowohl einen Prozess als auch – in metonymischer Beziehung – dessen Resultat bezeichnet. Die Definition spricht außerdem die Möglichkeit an, die beiden Schreibweisen récriture und réécriture semantisch voneinander abzugrenzen. Dieser Vorgehensweise, die réécriture als Oberbegriff für das Schreiben einer neuen Version und récriture als zu definierenden Sonderfall zu sehen, wird hier in leicht präzisierter Weise gefolgt, genauso wie ihrer Charakterisierung als Form literarischer Kreation. Allerdings scheint es nicht zweckmäßig, explizite beziehungsweise offenkundige Formen der Wiederaufnahme von der récriture auszuschließen, wie Bordas vorschlägt, da dies die récriture in den Bereich einer aleatorischen Intertextualität rücken würde. Um das vage, instabile Element aus dieser Definition zu vermeiden, den „flou théorique“ (ebd.), der nach Bordas das Konzept umgibt, lohnt ein Blick auf die Etymologie des Wortes. Der Neologismus récriture geht auf das Verb récrire zurück, das im Trésor de la langue française mit den Bedeutungen „[é]crire une nouvelle fois (une

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deuxième, une troisième... fois) un texte à quelqu'un“1 und umgangssprachlich als „[r]éinventer, donner une nouvelle vision de quelque chose“ (ebd.) aufgeführt ist. Etymologisch gesehen stammen sowohl récrire als auch réécrire2 vom lateinischen rescribere ab und sind ab circa 1165 transitiv als „écrire à son tour“, um 1265 als „répondre par écrit“, anschließend 1269 bis 1278 mit der Zusatzbedeutung des Kopierens unter „écrire de nouveau, copier“, 1680 als „écrire de nouveau à quelqu'un (qui n'a pas répondu)“ und schließlich 1770 in der Bedeutung „rédiger d'une nouvelle manière, recomposer (une œuvre écrite)“ (ebd.) zu finden. Die Wortneuschöpfung récriture ist in den meisten gängigen Wörterbüchern nicht aufgeführt. Eine Ausnahme bildet der Grand Robert de la langue française (Rey/Robert 2001: 1766), in dem récriture als Synonym für réécriture aufgenommen ist. Das Substantiv réécriture ist ab 1892 als „action, fait de réécrire“ im Trésor de la langue française belegt und taucht ab den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts im Bereich der Informatik und Sprachwissenschaft in der Bedeutung der Termersetzung auf („règles de réécriture).3 Zudem wird es als Übernahme des englischen rewriting4 aufgeführt, das einerseits der journalistischen Praxis des Zusammenschreibens eines Artikels aus erhobenem Material und der verlegerischen Tätigkeit des stilistischen oder formalen Anpassens eines Textes an ein Publikum beziehungsweise Format entspricht, andererseits aber auch für das Überarbeiten eines noch nicht veröffentlichten Manuskripts im Allgemeinen gebraucht wird.5 1

http://atilf.atilf.fr/dendien/scripts/tlfiv5/advanced.exe?8;s=4027562565 vom 15.01.

2

Im Dictionnaire culturel en langue française wird darauf verwiesen, dass die Form

2010). réécrire immer geläufiger werde (vgl. Rey/Morvan 2005: 47). 3

So findet sich im Larousse de la langue française: en sept volumes im sechsten Band der Eintrag „Règles de réécriture“ (Guilbert/Lagane/Niobey 1989: 4971).

4

Siehe dazu den Eintrag im Webster’s Third New International Dictionary of the English Language Unabridged:„Rewrite: 1: to write in reply: answer in writing[;] 2: to make a revision or a recast of (as a paragraph, story or article[;] to put (material supplied to a newspaper or periodical by a collector or contributor) into form for publication[;] to alter (previously published material) for use in another publication[;] to revise or recast sth previously written: An author usually spends a good deal of time rewriting.” (Webster 1981: 1945)

5

Siehe zum Beispiel Grand usuel Larousse. Dictionnaire encyclopédique 1997 (O. A: 1997: 6224), Le grand Robert de la langue française (Rey/Morvan 2001: 1766), Dictionnaire culturel en langue française 2005, Bd. 4 (Rey/Robert 2005: 59f.).

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Beide Begriffe werden im Bereich der Intertextualitätsforschung benutzt. Somit untermauert die Sichtung der einschlägigen Wörterbücher die von Bordas angedeutete Unterscheidung in réécriture als Überbegriff für eine textgenerative Praxis des Verlagswesens beziehungsweise des Überarbeitens von (eigenen) Texten. Mit Verweis auf die kreative Komponente von récrire scheint es angemessen, den Neologismus récriture als Produkt der kreativen und interpretatorischen Verarbeitung eigener und fremder Texte im Kontext des literarischen Schöpfungsprozesses zu verwenden. Da die Variante réécriture sowohl im Bereich der Informatik und Linguistik als auch im Verlagswesen schon belegt scheint, wird im Folgenden – im Bewusstsein der terminologischen Uneinigkeit – der Terminus récriture für eine Form des literarischen Schaffens verwendet, die sich grob gesehen zwischen den Polen einer exakten Kopie eines Originaltextes und dem theoretischen Konstrukt eines vollkommen eigenständigen Werks bewegt, also zwischen den Extremen einer besonders abhängigen und einer fiktiven selbständigen Textsorte anzusiedeln ist. Auf der Basis dieser Überlegungen und mit Rückgriff auf die Differenzierung von Intertextualitätstheorien lässt sich eine Unterscheidung von récriture und réécriture nach den verschiedenen Anwendungsdimensionen durchführen, die dem sehr uneinheitlichen Einsatz der Begriffe entgegenwirkt. Dazu bietet es sich an, in den nächsten Kapiteln eine ontologische und eine textgenerative Dimension des Wiederschreibens zu unterscheiden, bevor ausführlicher auf die in der vorliegenden Arbeit untersuchte inszenatorische Form der récriture eingegangen wird. 2.2.1 Das Verständnis von récriture und réécriture als Texteigenschaft: Die universelle Intertextualität In Anlehnung an den universellen Intertextualitätsbegriff nach Kristeva definieren einige Autoren récriture beziehungsweise réécriture6 als Seinsmerkmal aller Texte. In einem derartigen ontologischen Sinn definiert Antoine Compagnon in La seconde main ou le travail de la citation die récriture folgendermaßen: Car si l’écriture est toujours une récriture, de subtils mécanismes de régulation, variables selon les époques, œuvrent pour qu’elle ne soit pas simplement un recopiage, mais une traduction, une citation. (Compagnon 1979: 35)

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Im Folgenden wird in Kenntnis der vorangegangenen Unterscheidung der Präferenz der herangezogenen Autoren in Bezug auf die Schreibweise réécriture beziehungsweise récriture gefolgt.

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Compagnon sieht somit jedes Schreiben als Wiederschreiben und setzt hier das Verständnis des Textes als „Mosaik von Zitaten“ (Kristeva 2003: 337) an, wie es Kristevas Gebrauch entspricht: „Écrire, car c’est toujours récrire, ne diffère pas de citer“ (Compagnon 1979: 34). Auch Maurice Domino gebraucht den von ihm favorisierten Begriff der réécriture in diesem Sinne und konstatiert: „Soit à exprimer la chose brutalement, l’écriture est toujours déjà réécriture.“ (Domino 1987: 19) Er setzt ein sehr weites Konzept des Textes als ein offenes „objet multiple“ (ebd.: 25) an, wenn er bemerkt, „[l]e texte écrit reprend un texte premier, écrit ou non“ (ebd.: 19). Er begrenzt sein Konzept der réécriture zwar insofern, als er Elemente aufzählt, die durch den Akt des (Wieder-)Schreibens in einem vorliegenden Text sichtbar würden, spezifiziert diese „avant-textes, […] intertextes, ou […] transtextes, […] son, ou ses contextes […] les post-textes“ (ebd.: 27) jedoch nicht eingehend. In die Kritik geraten sind Intertextualitätskonzepte, die Intertextualität als Texteigenschaft sehen und wie Roland Barthes einen sehr weiten Textbegriff anlegen, der den Intertext als „souvenir circulaire“ (Barthes 2000: 107, Hervorhebung im Original) definiert. Ansätze, die von einer „impossibilité de vivre hors du texte infini“ (ebd.) ausgehen, müssen sich den Vorwurf einer unmöglichen Operationalisierbarkeit vorwerfen lassen. Aczel (2004: 12) fragt beispielsweise, inwiefern man „von einzeln auffindbaren und abgrenzbaren Prätexten sprechen“ könne, wenn diese jeweils einen allumfassenden aber nur virtuell bestehenden Intertext bildeten. Lubomír Doležel urteilt ähnlich kritisch: „But this conception is so broad as to be theoretically vacuous and analytically useless.“ (Doležel 1998: 199) Gérard Genette spricht zwar in Palimpsestes. La littérature au second degré dem weiter gefassten Intertextualitätsbegriff seine Fundierung nicht ab, bemängelt jedoch auch die schwierige Anwendbarkeit: Je puis également traquer dans n’importe quelle œuvre les échos partiels, localisés et fugitifs de n’importe quel autre, antérieure ou postérieure. Une telle attitude aurait pour effet 7

de verser la totalité de la littérature universelle dans le champ de l’hypertextualité ce qui en rendrait l’étude peu maîtrisable. (Genette 1982: 16)

Insgesamt beinhaltet dieser von einem sehr weiten Textbegriff geprägte Gebrauch des Konzeptes als Praxis des Schreibens an sich die Erkenntnis, dass ein Text nicht aus dem Nichts entsteht, sondern unter anderem ein Ergebnis der kreativen Rezeptionen des Autors oder der Autorin und damit eine produktive Lek7

Siehe zum Begriff der ‚Hypertextualität‘ bei Genette Kapitel 2.3.1 der vorliegenden Untersuchung.

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türe darstellt. In diesem Sinn argumentiert Claudette Oriol-Boyer, indem sie darauf verweist, dass jedem Text eine Dimension der „réécriture“ inhärent sei. Literatur sei immer eine „pratique transformatrice d’un matériau, le déjà-dit“ (Oriol-Boyer: 1990: 9). Für das oben beschriebene ontologische Verständnis der récriture/réécriture reserviert die vorliegende Untersuchung den Begriff der ‚universellen Intertextualität‘. 2.2.2 Réécriture als Praxis und Produkt des Schreibprozesses: Die dominant textgenerative Dimension Die zweite Dimension, die sich aus der Verwendung der Begriffe réécriture und récriture erschließen lässt, betrifft, wie bereits erwähnt, die Texterstellung im engeren Sinne. Diese rein textgenerative Dimension befasst sich mit den praktischen Gegebenheiten der Prozesse des Schreibens und Veröffentlichens eines Textes, bezieht sich somit vornehmlich auf die Phasen der Texterstellung vor dem Kontakt mit dem Leser. Anne-Claire Gignoux definiert in ihrer Studie La récriture. Formes, enjeux, valeurs autour du nouveau roman die „réécriture“ als „somme de préparations, de correction et de ratures, de variantes successives d’un même texte que l’auteur écrit – et qu’il ne montre pas au lecteur la plupart du temps“ (Gignoux 2003:16). In der Schreibweise réécriture wird der Begriff hier zum Synonym für die Überarbeitung von Manuskripten bis zur Veröffentlichung eines Werkes. Einige Autoren gebrauchen in Abweichung dazu den englischen Begriff rewriting, um diese textgenerative Dimension des Begriffs von seinen anderen Bedeutungseinheiten abzugrenzen (vgl. Genette 1982: 257). Maurice Domino betont dabei den Wiederholungsaspekt und die Tendenz dieser Form der réécriture, dem Prätext möglichst treu zu bleiben: „Du copiste, du rewriter on attend la fidélité, au texte premier ou au modèle préexistant, compétence d’écrivant qui relève de la répétition aussi fidèle qu’il est possible: ils figurent ce qui, en réécrire, tend vers l’identité“ (Domino: 1987: 15). Dennoch wird im Larousse pratique (vgl. Lambrechts 2003: 1254) für den französischen Sprachgebrauch von diesem Anglizismus abgeraten. Problematisch ist daneben die Multidimensionalität, die auch den Begriff rewriting auszeichnet. Genauso wie seine französischen Pendants récriture beziehungsweise réécriture wird er alltagssprachlich für alle Arten des Überarbeitens von Texten gebraucht, im wissenschaftlichen Diskurs jedoch auch für verschiedene Formen des Text-Text-Bezuges benutzt. So fasst André Lefevere unter „rewriting – translation, anthologization, historiography, criticism, editing“

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(Lefevere 1992: iii) und erlegt dem Begriff damit eine Mehrdeutigkeit auf, die ihn als Analyseinstrument unbrauchbar macht. Im Folgenden wird – in Anlehnung an die Unterscheidung in den untersuchten Wörterbüchern und mangels eines pertinenten deutschen Ausdrucks – für die textgenerative Dimension als die Praxis des Umarbeitens und Korrigierens beziehungsweise formalen Anpassens von Texten vor ihrer Veröffentlichung die französische Variante réécriture bevorzugt. 2.2.3 Récriture als textuelle Strategie: Die inszenatorische Dimension Die dritte Dimension des récriture-Begriffs ist analog zu Lachmanns textdeskriptivem Intertextualitätskonzept8 zu verstehen. In dieser Ausprägung wird nicht mehr von einem weit gefassten bis unendlichen Textbegriff ausgegangen, sondern von eingrenzbaren literarischen Werken, die auf verschiedenen Ebenen zueinander in mehr oder weniger starken Beziehungen stehen können. Ausgehend von der kreativen Dimension des Verbs récrire als „neu erfinden“ oder „eine neue Version schaffen“, gebraucht Genette den Begriff in seinem bereits erwähnten Standardwerk Palimpsestes. La littérature au second degré (1982), wenn er Giraudoux’ Suzanne et le Pacifique als récriture von Robinson Crusoe (vgl. ebd.: 346) bezeichnet und eine hypothetische Wiederaufnahme von Madame Bovary, welche die Fokalisierung des ersten Kapitels über Charles weiterführen würde, eine „récriture transfocalisante“ (ebd.: 333) nennt. Nach einer Abgrenzung des hier verwendeten Konzepts der récriture von der réécriture wird daher Genettes Ansatz näher beleuchtet. Gemeinsam ist den oben angeführten Beispielen der Aspekt der Inszenierung, verstanden als das In-Szene-Setzen des Prätextes in einem neuen Text. Damit kann die Rolle des Autors des Textes zweiten Grades erfasst werden, der wie ein Regisseur eines Theaterstückes alle Teile […] einer Aufführung einer einheitlichen Konzeption und Interpretation unterordnet und damit zu einer I[nszenierung, MK] im Sinne eines eigenständigen Kunstwerkes macht. (Burdorf/Fasbender/Schweikle 2007: 351)

Das entstehende eigenständige Kunstwerk, der récriture-Roman, beruht dabei auf einer „spezifische[n] Auswahl und Strukturierung“ (ebd.) der Elemente aus dem Prätext, um „etwas in Erscheinung“ (ebd.) zu bringen. Die inszenatorische 8

Siehe hierzu Kapitel 2.1 der vorliegenden Untersuchung.

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Dimension der récriture beruht auf einer kreativen Auseinandersetzung mit dem Prätext, der in modifizierter Form in einen neuen Erzähltext überführt wird. Die Beziehung zwischen Text und Prätext unterscheidet sich maßgeblich von derjenigen zwischen réécriture-Texten, die verschiedene Etappen im Schreibprozess markieren. Dennoch gestaltet sich die Abgrenzung der dominant textgenerativen Dimension, die hier als réécriture bezeichnet wird, zur récriture als kreative Wiederaufnahme und inszenierte Auseinandersetzung mit einem Prätext in der Praxis manchmal schwierig. Ausgehend von seinem ontologischen Konzept der récriture schlägt Domino eine Differenzierung nach der semantischen Beziehung zum Prätext vor, und setzt Formen, die eher nach Identität streben, solchen entgegen, die vor allem eine Alterität hervorbringen und eine semantische Verschiebung intendieren (vgl. Domino 1987: 16).9 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang vor allem der Sonderfall einer im Folgenden als ‚récritureréécriture‘ bezeichneten Form, bei der ein Autor mehrere Versionen eines Textes publiziert und somit dem Publikum einen Vergleich beziehungsweise eine Teilhabe am Überarbeitungs- und am neuen Kreationsprozess ermöglicht.10 Auch wenn Jacques Morel die Schreibweise in genau entgegengesetzter Weise zur vorliegenden Untersuchung verwendet, legt er die gleiche Differenzierung an: Die „expression admise de ‚récriture‘, qui ne pouvait concerner que les transformations d’un texte dans la carrière d’un auteur“ (Morel 1988: 176) bezieht sich auf die Ersetzung eines Textes durch eine implizit als besser oder moderner angesehene Version durch den gleichen Autor. In seiner Definition der „réécriture“ betont er die Beziehung zwischen dem vorliegenden Text und dem oder den aufgenommenen Text/en: Il y a réécriture quand une relation peut se discerner entre un texte donné et un ou plusieurs textes antérieurs, celui ou ceux-ci se trouvant, à des niveaux et selon des proportions variables, repris et transformé(s) dans celui-là […]. (Morel 1988: 176)

Selbst wenn eine Lektüre des Textes zweiten Grades auf der Folie des Prätextes bei derartigen récriture-réécriture-Texten möglich ist, präsentiert sich der nachgeordnete Text meist nicht als Antwort auf einen Vorgängertext, sondern als definitive oder vollständig überarbeitete und verbesserte Version eines Prätextes. Wichtigstes Unterscheidungskriterium scheint somit, dass bei der réécriture der neu entstandene Text den ersteren verdrängt oder sogar ersetzt, wohingegen sich die récriture, wie sie hier verstanden wird, dadurch auszeichnet, dass der Ver9

Siehe hierzu Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Untersuchung.

10 Siehe hierzu Kapitel 3.4 der vorliegenden Untersuchung.

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gleich mit dem Prätext herausgefordert wird, indem dieser über Intertextualitätssignale ins Gedächtnis zurückgerufen wird. Nicole und Daniel Bilous drücken diese zwei möglichen Bezugsformen zum Prätext folgendermaßen aus: „Se substituer purement et simplement à lui (et le faire oublier, comme par exemple, un résumé), ou le rappeler par un certain mode de représentation, afin de susciter la comparaison“ (Bilous/Bilous 1990: 125).11 Um die Beziehung zwischen Prätext und Text zu veranschaulichen, übernimmt Genette (1982: 452) die Metapher des Palimpsestes von Philippe Lejeune für den Titel seiner Studie Palimpsestes und bezieht sich dabei auf die Beschriftungstechnik von Papyrus-Rollen: „[U]n texte se superpose à un autre qu’il ne dissimule pas tout à fait, mais qu’il laisse voir par transparence.“ (Ebd.: 451) In seiner Studie gebraucht Genette den Begriff récriture für eine Form der Hypertextualität, die er als Beziehung eines Textes zweiten Grades (Hypertext) zu einem Prätext (Hypotext) definiert12 und die sich vor allem dadurch auszeichne, dass „ein Text den anderen zur Folie mach[e]“ (Pfister 1985: 17). Die récriture als textuelle Strategie bringt somit eine Literatur zweiten Grades hervor, die sich auf einen vorangegangenen Prä- oder Primärtext bezieht, der bei der Lektüre des Textes zweiten Grades „durchschimmert“. Diesen Sekundärcharakter der récriture bringt Lafon mit den verschiedenen Bedeutungseinheiten des Lexems in Zusammenhang:

11 Mit Wolfgang Isers phänomenologischer Betrachtung des Vorgangs der Lektüre könnte man darüber hinaus eine Unterscheidung nach der Verwirklichung der beiden Pole des literarischen Werkes ansetzen. Während bei der réécriture im Normalfall für den Prätext nur der „künstlerische Pol“ (Iser 1975: 253) verwirklicht wird und der „ästhetische[…] Pol […], […] die vom Leser geleistete Konkretisation“ (ebd.), dem Text zweiten Grades vorbehalten ist, sind bei der récriture, bei der beide Texte dem Leser zugänglich sind, jeweils beide Pole vorhanden. Dadurch, dass der Roman zweiten Grades den „Akt[…] seiner Erfassung“ (ebd.) ermöglicht, wird die récriture erst zu einem vollständigen literarischen Verfahren. 12 Die Bezeichnung für den zuerst bestehenden „Originaltext“ und den Text, der ihn kreativ verarbeitet, variieren bei unterschiedlichen Literaturtheoretikern. Genettes Abgrenzung eines ‚Hypo-‘ von einem ‚Hypertext‘ wird hier nur in Bezug auf seine Theorie gebraucht, da der Terminus ‚Hypertext‘ sich inzwischen als Begriff für die vernetzte und fragmentarisierte Form der Textpräsentation im Internet etabliert hat. Im Folgenden werden die bereits eingeführten Begriffspaare, ‚Prätext‘ und ‚Text (zweiten Grades)‘ sowie ‚Primär-‘ und ‚Sekundärtext‘ synonym gebraucht.

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[R]écrire, ce serait ainsi opérer le retour du même et opérer le jaillissement de l’autre. […] [C’]est une pratique seconde, que ce soit par rapport à un acte antérieur (‚écrire de nouveau‘), par rapport à un premier texte (‚écrire de nouveau – et en modifiant‘) ou par rapport à un autre écrivant (‚écrire en retour‘, ‚faire réponse par lettre‘). (Lafon 1990: 11, Hervorhebung im Original)

Dennoch herrscht auch bei der Verwendung von récriture in der textdeskriptiven Dimension keine Einigkeit. Gignoux definiert für die „récriture [die Voraussetzung einer, MK]: volonté manifeste d’un auteur de récrire le livre d’autrui ou de récrire un de ses propres livres déjà publiés, ou un de ses propres textes […]“ (Gignoux 2003: 16), legt also ein enges Verständnis des Textbegriffs an, indem sie sich auf Bücher einzelner Autoren bezieht, und führt darüber hinaus die Autorintention zumindest implizit als Kriterium ein. Im Gegensatz zu Linda Hutcheon, die, wie bereits erwähnt, offen gegen die Annahme vom Tod des Autors argumentiert und kontextuelle Elemente explizit in ihre Analyse integriert (vgl. Hutcheon 2006: 170), beschränkt sich Gignoux jedoch auf eine textimmanente Analyse und akzeptiert als einziges pragmatisches Anzeichen die Chronologie der Entstehung: Der Text zweiten Grades kann nicht vor dem Prätext entstanden sein (vgl. Gignoux 2003: 18). Zudem präzisiert Gignoux, dass die récriture sowohl auf intertextueller Ebene zwischen Werken verschiedener Autoren als auch als intratextuelle récriture innerhalb eines Werkes eines Autors und auf makrotextueller Ebene zwischen verschiedenen Publikationen eines Autors vorzufinden sei. Gignoux wendet das Konzept somit explizit auch auf textinterne Beziehungen an, berücksichtigt genau wie Ricardou in seiner bereits angeführten Studie Pour une théorie du nouveau roman (1971) Verfahren wie die Wiederaufnahme eines Refrains innerhalb eines Romans. Dies ist ihrer semiostilistischen Herangehensweise geschuldet, die sich vor allem mit der Vermittlungsebene von Texten befasst – konsequenterweise untersucht sie ein Korpus aus Nouveau Roman-Texten und versucht, die récriture als Merkmal der Literarizität und als Differenzqualität dieser Strömung herauszuarbeiten. Ausgehend von einem ontologischen Verständnis der récriture als „stylème de littéralité générale“ (Gignoux 2003: 19), also als Eigenschaft literarischer Texte, definiert sie zur besseren Operationalisierbarkeit des Konzepts quantitative Kritierien, welche die récriture als intensive Form der Intertextualität ausweisen: „Critère problématique par la difficulté de sa mesure, la taille ou la fréquence du phénomène est primordiale pour distinguer entre l’intertextualité et la récriture.“ (Ebd.: 17) Besonders wichtig ist für die vorliegende Studie in Bezug auf Gignouxʼ Definition der Wiederholungsaspekt, der die récriture auszeichnet, und den bei-

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spielsweise auch René Audet unterstreicht, wenn er die „réécriture/reprise“ als Form der Wiederaufnahme eines Textes mit Wiederholungscharakter sieht (vgl. Audet 2007: 342). Ähnlich gebraucht Doležel, ein Vertreter der Possible Worlds-Theory, das englische rewriting in Heterocosmica (Doležel 1998). Entscheidender Unterschied zu Gignoux’ Analyse ist jedoch, dass sich die Wiederholung bei Audet und Doležel auf die Geschichtsebene bezieht, denn sie unterscheiden jeweils Formen der Wiederholung oder der Weiterführung eines Erzähluniversums. Damit nehmen diese beiden Forscher konsequenterweise Abstand von intratextuellen Formen der récriture, die Gignoux zulässt. Die vorliegende Studie orientiert sich an Genette und an den die Geschichtsebene fokussierenden Ansätzen von Audet und Doležel, um die Wiederaufnahme der erzählten Welt eines Romans in ihrer Gänze erfassen zu können. Dabei wird die récriture auf zwischentextliche Phänomene eingegrenzt, um den Umgang eines Romans mit seinem Prätext beziehungsweise die Inszenierung des Prätextes im Text zweiten Grades in seiner Gesamtheit untersuchen zu können. Die dominant textgenerative Dimension der Wiederaufnahme von (Einzel-) Texten, die im Folgenden als réécriture bezeichnet wird, spielt vor allem in ihrer Sonderform der récriture-réécriture eine Rolle, da nur diese Ausprägung einen Vergleich der Textwelten erlaubt. Der Fokus liegt somit auf der récriture in ihrer inszenatorischen Dimension, die als ein Spezialfall der Intertextualität angesehen wird, so dass der Begriff récriture im Folgenden dieser Bedeutung als Textstrategie vorbehalten ist, während das zuerst betrachtete ontologische Verständnis, wie angekündigt, in das Phänomen der universellen Intertextualität eingeordnet wird. Die verschiedenen Definitionsansätze für die récriture als inszenatorische Textstrategie haben darüber hinaus sichtbar gemacht, dass es unabdingbar ist, die unterschiedlichen Formen der récriture zu systematisieren, um präzise auf die Frage antworten zu können, auf welche Weise sich ein Text einen anderen „zur Folie mach[en]“ (Pfister 1985: 17) kann. Den ausführlichsten Ansatz zur Definition und Typologisierung der littérature au second degré hat ohne Zweifel Gérard Genette verfasst. Palimpsestes wird bis heute kritisch rezipiert und fruchtbar angewendet.13 Auch für die vorliegende Studie wird Genettes Standardwerk in einer kritischen Würdigung zum Ausgangspunkt für eine erste Definition der récriture als Transformation eines Prätextes durch einen anderen Text herangezogen (vgl. Kapitel 2.3.1).

13 Siehe zum Beispiel Beaudet 1985, Hellégouarc’h 2001, Wagner 2002.

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Die Aufzählung quantitativer Kriterien zur Definition von récriture bei Gignoux hat zudem bestätigt, dass sich die récriture in Bezug auf Ausmaß, Häufigkeit und Intention von anderen Formen des Text-Text-Bezugs, die unter dem Oberbegriff Intertextualität subsumiert werden, als Unterform unterscheiden lässt. Um ein operationalisierbares Konzept der récriture als Wiederaufnahme eines gesamten Erzähluniversums und nicht nur von Diskursteilen oder -fragmenten zu erhalten, wird in einem zweiten Schritt auf Pfisters Merkmalskatalog für eine intensive Intertextualität zurückgegriffen (vgl. Kapitel 2.3.2), der durch Erkenntnisse aus der Possible Worlds-Theory ergänzt wird (vgl. Kapitel 2.4).

2.3 R ÉCRITURE

ALS

F ORM

DER I NTERTEXTUALITÄT

2.3.1 Ansatzpunkte der Transformation: Der strukturalistische Ansatz Genettes In Palimpsestes unterscheidet Genette fünf Arten der sogenannten ‚Transtextualität‘, die als Oberbegriff für alle Arten von impliziten und expliziten Relationen zwischen Texten zu verstehen ist: Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Architextualität und Hypertextualität (vgl. Genette 1982: 7). Ausgehend von einem mit Lachmann als textdeskriptiv zu bezeichnenden Konzept des Text-Text-Kontakts sieht Genette die verschiedenen Formen der Transtextualität nicht etwa als Gattungen, sondern als Textstrategien oder Methoden, die in einem Text jeweils zusammenwirken können. Genettes Begriff der Intertextualität, der in der Forschungsdebatte heute den Terminus der Transtextualität als Oberbegriff ersetzt, umfasst nur die tatsächliche Präsenz eines Textes in einem anderen, wie sie bei Zitaten oder Plagiaten festzustellen ist (vgl. ebd.: 8). Als Paratextualität bezeichnet er die Beziehungen eines Textes zu einem Paratext, befasst sich also unter anderem mit Buchbestandteilen wie Titelseite mit Titel, Untertitel, Vorwort, Nachwort und Fußnoten, die ein Manuskript zu einem Buch werden lassen (vgl. ebd.: 9). Unter Metatextualität versteht er eine kommentierende Auseinandersetzung mit einem Text, vor allem in Form von Literaturkritiken (vgl. ebd.: 10). Genettes Metatextualitätsbegriff bezieht sich dabei auf Literaturkritik im Allgemeinen, erweitert somit den in der Einleitung aufgeführten Oberbegriff für metafiktionale und metanarrative Strategien, ohne jedoch fiktionale Texte explizit einzubeziehen. Anhand seines Beispiels, Hegels Phänomenologie des Geistes, zeigt er, dass diese Kommentar-Beziehung auch „still-

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schweigend“, das heißt nicht markiert, gestaltet sein kann (vgl. ebd.).14 Die Architextualität – seiner Meinung nach die abstrakteste und impliziteste Form des Text-Text-Kontaktes – bezeichnet die Beziehung von Gattungsangaben und -konventionen zum Text (vgl. ebd.: 11). Die Hypertextualität stellt für Genette schließlich die dominierende Form des Text-Text-Bezugs in einem récritureText dar. Zur Definition der Hypertextualität bemüht Genette die Metapher der Transplantation: J’entends par là toute relation unissant un texte B (que j’appellerai hypertexte) à un texte antérieur A (que j’appelerai, bien sûr hypotexte) sur lequel il se greffe d’une manière qui n’est pas celle du commentaire. (Ebd.)

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Um die Vielfalt der Bezüge zu illustrieren, erstellt Genette eine Kategorisierung hypertextueller Verfahren. Auch wenn die präsentierten Unterkategorien nicht einer Typologie genügen, da es durchaus zu Überschneidungen kommen kann (vgl. Holthuis 1993: 46), wird hier versucht, der Komplexität dieser Form des Text-Text-Bezugs Rechnung zu tragen. Genettes sehr weite Definition veranlasst Bordas zu der Bemerkung: „Les modalités de cette greffe sont innombrables, et, sans doute, impossibles à organiser rationnellement ou structuralement, tant les glissements sont nombreux et les situations d’énonciations, diverses.“ (Bordas 2002: 501) Zur Klassifizierung unterscheidet Genette Texte zunächst nach dem Vorliegen einer Transformation eines (Einzel-)Textes beziehungsweise der Imitation eines Stils. Diese Abgrenzung bringt er auf die Formel: „dire la même chose au14 Dieses Verständnis der Metatextualität als Literatur über Literatur ist nicht mit dem Meta-Begriff Genettes aus Figures III (Genette 1972) zu verwechseln. Dort wird er zur Benennung von Textebenen in der Steigerung von intradiegetisch zu metadiegetisch (vgl. ebd.: 238f.), das heißt in einer Logik der Verschachtelung von Erzählebenen gebraucht. Im Folgenden wird der Begriff der Metatextualität ausschließlich auf Erzähltexte angewandt, die einen Verweisungsbezug zu sich selbst oder anderen Texten herstellen, nicht aber auf die Textsorte Rezension oder Textanalyse oder auf die Verschachtelung von Erzählebenen. 15 Ausgehend von Genette unterscheidet Pascale Hellégouarc’h die Praktiken der Hypertextualität von der Intertextualität beziehungsweise Genettes Oberbegriff Transtextualität, indem sie auf das Abhängigkeitsverhältnis abzielt und den Status als Text zweiten Grades betont: „Ils se différencient du concept général de l’intertextualité par la tonalité singulière qu’ils donnent à la réénonciation d’un texte, faisant de celle-ci leur principe d’existence.“ (Hellégouarc’h 2001: 100)

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trement [transformation, MK]/dire autre chose semblablement [imitation, MK]“ (Genette 1982: 13). Darüber hinaus teilt er sie nach ihrer jeweils dominanten Funktion (spielerisch, satirisch, ernst), das heißt nach ihrem Umgang mit dem Prätext, ein (vgl. ebd.: 37). Auch wenn dieser Ansatz es zum ersten Mal erlaubte, verschiedene Spielarten des Text-Text-Bezugs voneinander zu unterscheiden, wird an Genettes Dreiteilung häufig kritisiert, dass sich die verschiedenen Register in der Praxis nur unscharf abgrenzen ließen. Zudem wurde angemerkt, dass die metatextuelle Funktion derartiger Praktiken vernachlässig werde, die in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt steht. In Bezug auf den ersten Kritikpunkt schlägt Frank Wagner vor, die Beziehung zwischen Modell und Verarbeitung nicht nach dominanter Funktion einzuteilen, sondern nach Distanz, um verschiedene Formen der Transposition zu unterscheiden, ohne auf die schwer intersubjektiv überprüfbaren und zeitlich schwankenden Charakterisierungen einer spielerischen oder satirischen Funktion einzugehen.16 Die Transposition als ernsthafte Transformation eines Prätextes, die Genette als die wichtigste hypertextuelle Ausprägung bezeichnet und der er auch als einziger die Möglichkeit zuspricht, längere Texte zu produzieren (vgl. ebd.: 237), kann verschiedene Textebenen betreffen. Genettes Ansatz beruht auf der Unterscheidung zwischen rein formalen und thematischen Transpositionen, les transpositions en principe (et en intention) purement formelles, et qui ne touchent au sens que par accident ou par une conséquence perverse et non recherchée, comme chacun le sait pour la traduction (qui est une transposition linguistique), et les transpositions ouvertement et délibérément thématiques, où la transformation du sens fait manifestement voire officiellement partie du propos. (Ebd.: 238)

So kann beispielsweise die formale Transposition nicht nur in Form einer Übersetzung, sondern auch als Versifikation (vgl. ebd.: 244) beziehungsweise Prosifikation (vgl. ebd.: 246) auftreten oder auch als „transstylisation“ (ebd.: 257). Als Beispiel nennt Genette das unter Kapitel 2.2.2 angeführte journalistische „rewriting“, bei dem es darum gehe, wie er polemisch formuliert, einen guten Stil durch einen weniger guten zu ersetzen (vgl. ebd.). Somit ist die textgenerati16 „[M]esurer ces mêmes variations en termes d’écarts permet, me semble-t-il, d’ajouter aux analyses genettiennes le complément indispensable d’une prise en compte du versant ‚symétrique inverse‘ que constitue(nt) le(s) protocole(s) de réception. […] [C]ette distance plus ou moins importante (c’est-à-dire cet écart d’amplitude variable) sera définie par l’intersection de paramètres stylistiques, structurels, mais aussi thématiques et axiologiques.“ (Wagner 2002: 301, Hervorhebung im Original)

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ve réécriture als formale Transposition nach Genette eine Form der Hypertextualität. Eine Transposition kann auch die Länge eines Textes beeinflussen, ein Phänomen, das Genette als quantitative Transposition bezeichnet, wobei er darauf hinweist, dass eine derartige Transposition immer gleichzeitig Struktur und Gehalt eines Textes betreffen müsse (vgl. ebd.: 264). Eine formale Art der Transposition ist nach Genette auch die Transmodalisation, das heißt jegliche Veränderung des für den Hypotext charakteristischen Repräsentationsmodus, nicht jedoch der Gattung (vgl. ebd.: 323). Dabei unterscheidet er intermodale von intramodalen Wechseln, je nachdem, ob der Übergang von einem Modus (dramatisch, narrativ)17 in den anderen erfolgt, oder ob innerhalb eines Modus Variationen auftreten. Im Hinblick auf intramodale Modifikationen hebt Genette die Vielfalt der Transformationsmöglichkeiten im narrativen Modus hervor, die sich auf den Umgang mit der Zeit in einer Erzählung (ordre temporel, durée, fréquence), die Unmittelbarkeit des Erzählten (mode-distance), die Perspektive (mode-perspective: transfocalisation) und die Wahl der Erzählinstanz selbst (voix: transvocalisation) beziehen kann (vgl. ebd.: 332-337).18 Gerade die Modifikationen von Perspektive und Erzählinstanz sind für Genette jedoch nicht mehr rein formale Transpositionen. Vielmehr sind sie schon zum Teil den thematischen Transpositionen zuzuordnen (vgl. ebd.: 341), welche explizit die Bedeutung des Hypotextes ändern und dabei eine semantische Transformation mit sich bringen. In engem Zusammenhang damit stehen die diegetische und die pragmatische Transposition, die sowohl als Mittel für semantische Modifikationen als auch als Konsequenz dieser gesehen werden können. Genette grenzt hier ausdrücklich die Diegese als raum-zeitliches Universum einer Erzählung von der sich in dieser abspielenden Handlungskette (histoire) ab. Dieser Definition nach19 betreffen

17 Siehe zum narrativen Modus Genette 1972: 183ff. sowie Martínez/Scheffel 2005: 49. 18 Im Folgenden wird bei der Analyse der Perspektive von Erzähltexten auf Genettes (1972: 206-211) Unterscheidung in eine „focalisation zéro“, eine „focalisation interne“ und eine „focalisation externe“ zurückgegriffen, die als Null-, interne und externe Fokalisierung ins Deutsche übertragen werden. Um die Beteilung der Erzählinstanzen am Erzählten zu bestimmen, wird auf Genettes Einteilung in auto- beziehungsweise homo- und heterodiegetische Erzähler rekurriert (vgl. ebd. 251-259). 19 Der Begriff ‚Diegese‘, den ursprünglich Étienne Souriau geprägt hatte, um das fiktionale Universum eines Films zu bezeichnen (vgl. Souriau 1947: 7), wird bei Genette in Bezug auf Erzähltexte sehr unterschiedlich verwendet. Genette verweist selbst darauf,

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diegetische Transpositionen somit den räumlichen und zeitlichen Rahmen der Handlung, pragmatische dagegen die Ereignisse beziehungsweise Handlungskonstituenten selbst (vgl. ebd.: 341f.).20 Dabei bringe eine diegetische Transposition immer zumindest leichte pragmatische Transpositionen mit sich, da Aktanten und Handlung an die neuen Gegebenheiten angepasst werden müssen.21 Die Unterscheidung in formale und thematische Formen der seriösen Transposition ist der strukturalistischen Grundunterscheidung zwischen Vermittlungsund Geschichtsebene geschuldet. Genette baut ein Modell der seriösen Transposition auf, das über die Veränderung der Variablen Zeit/Raum des Geschehens (Ebene der Diegese), Verlauf und Aktanten des Geschehens (Ebene der histoire), Präsentation des Geschehens (Fokalisation und Stimme) und ihre jeweiligen Unterpunkte Modifikationen auf den verschiedenen Textebenen erlaubt. Die Modifikationen können eine semantische Transformation mit sich bringen, „une transformation thématique qui touche à la signification même de l’hypotexte“ (ebd.: 341). Genette erwähnt somit das mögliche Zusammenspiel der verschiedenen Transpositionsarten, analysiert es aber nicht näher, geht es ihm doch vor allem darum, ein Inventar der möglichen Formen der Wiederaufnahme zu erstellen, ohne sie in einzelnen Werken in Bezug zu einander zu setzen. Ein Beispiel für eine rein semantische Transformation ohne Zuhilfenahme der pragmatischen oder diegetischen Transposition ist für Genette im Projekt des Protagonisten aus Borges’ „Pierre Menard, Autor des Quijote“ (Borges 1988) gegeben (vgl. Genette 1982: 365). Darüber hinaus kann sich eine Veränderung im Ablauf der Handlungskette auch auf die Motive beziehen, die im Ursprung der Handlung lagen (vgl. ebd.: 372ff.: motivation simple, démotivation und transmotivation) und daher einen Bedeutungswandel im Vergleich zum Prätext herbeiführen. Zudem können Protagonisten gegenüber ihren Modellen auf- oder abgewertet werden (vgl. ebd.: 400ff.: valorisation beziehungsweise ebd.: 404ff.: dévalorisation).

dass er im Glossar von Figures III noch ‚Diegese‘ mit ‚Handlung‘ gleichgesetzt hatte (vgl. Genette 1982: 341). 20 Diese Unterscheidung wurde in abgewandelter Form von den Plot-Theoretikern der Possible Worlds-Theory aufgenommen (siehe Kapitel 2.4.2 der vorliegenden Arbeit). 21 Eine diegetische Transposition kann sich zum Beispiel als „Proximisation“ äußern, wenn ein Prätext in eine dem Leser nähere Zeit überführt, also modernisiert wird (vgl. Genette 1982: Kapitel LXII) oder durch die Alters- und/oder Geschlechtsänderung von Protagonisten mit einer pragmatischen Transposition kombiniert werden (vgl. ebd.: 345).

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Insgesamt lässt sich festhalten, dass Genettes Ansatz erlaubt, die verschiedenen Textebenen zu verorten, auf denen eine récriture basieren kann. Dabei bleibt zu klären, inwiefern die einzelnen Transpositionsarten miteinander zusammenspielen können. Zudem beinhaltet Genettes Katalog einige Unschärfen. Bereits erwähnt wurde die Kritik an der Einteilung in verschiedene Register, die den Umgang mit dem Prätext charakterisieren sollen. Im Zusammenhang damit bleibt die Definition einer semantischen Transposition als Bedeutungsänderung des Hypotextes, das heißt des Prätextes, vage. Dies lässt sich mit Wagner darauf zurückführen, dass Genette die metatextuelle Funktion zu strikt von der hypertextuellen trennt, weil er fiktionalen Texten (fast) keine metatextuelle Funktion zuspricht (vgl. Wagner 2002: 450). Zwar verweist Genette (1982: 14) darauf, dass der Text zweiten Grades eine Kommentarfunktion innehaben könne, „l’hypertexte, lui aussi, a souvent valeur de commentaire“, schneidet das subversive Potenzial der unterschiedlichen Formen der Hypertextualität jedoch nur an. Genette betont an mehreren Stellen die Tatsache, dass es keine unschuldigen Transpositionen gäbe (vgl. 1982: 340), dass also jede Transposition eine „critique en acte“ (ebd.: 450) sei, doch verfolgt er die Einladung zu einer „lecture palimpsestueuse“ oder „lecture relationnelle (lire deux ou plusieurs textes en fonction l’un de l’autre“ (ebd.: 452, Hervorhebung jeweils im Original), die seiner Meinung nach jeder Text zweiten Grades ausspricht, nicht weiter, was vor allem seiner dominant werkimmanenten Herangehensweise geschuldet ist. Die Vorteile von Genettes auf die Produktionsseite beschränkter Studie liegen darin, eine sehr ausführliche Kategorisierung der vielfältigen Praxis der „Texttransplantation“ erstellt zu haben. Ausgehend von Genettes Definition wird im Dictionnaire du littéraire das Begriffspaar récriture/réécriture in der Ausprägung als Schreibpraxis mit Hypertextualität gleichgesetzt: [U]ne relation unissant un texte B (hypertexte) à un texte antérieur A (hypotexte) sur lequel il se greffe d’une manière qui n’est pas un simple commentaire ou une copie, mais une appropriation et un détournement. (Bordas 2002: 501)

Zwar ließe sich diese Gleichsetzung damit begründen, dass Genette den Begriff récriture nicht definitorisch einführt, sondern eher alltagssprachlich gebraucht, doch ist festzustellen, dass er récriture fast ausschließlich im Zusammenhang mit Formen der seriösen Transformation verwendet, zum Beispiel wird die ‚transstylisation‘ auch als „récriture stylistique“ (1982: 257) bezeichnet, die Transposition mit anderer Fokalisierung als „récriture transfocalisante“ (ebd.: 333). Es scheint daher angebracht, die récriture als Unterart der Hypertextualität

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zu sehen und in Anlehnung an Genette sorgfältig zwischen Formen der récriture als Synonym zu Transformationspraktiken eines Textes und anderen Arten der Hypertextualität, wie dem aus Imitationsvorgängen hervorgegangenen Pastiche, zu unterscheiden.22 In diesem Sinne ist auch Bordas’ oben aufgeführte Ergänzung von Genettes Hypertextualitäts-Definition für die Beschreibung der récriture im Dictionnaire du littéraire zu verstehen, die von einer Textaneignung und -umlenkung als Distinktionsmerkmale der récriture ausgeht, und damit eher den Umgang mit dem Prätext in den Vordergrund stellt als den Ansatzpunkt der Verarbeitung. Die „Literatur auf der zweiten Stufe“ ist für Genette zusammenfassend rein produktionsästhetisch zu verstehen, denn er schneidet die Stellung vom Text zum Prätext nur an und macht keine Unterscheidung zwischen Texten, die an die Stelle ihres Prätextes treten wollen, und solchen, die neben ihm stehen und durch den Leser interagieren. Um die récriture als besondere Form der littérature au second degré genauer zu definieren, bietet sich eine Kombination verschiedener Merkmale an, die auf der Basis genau definierter Kriterien den Umgang mit dem Prätext beschreibt. 2.3.2 Merkmale der récriture als tiefenintensive Form der Intertextualität Ansätze zur Abgrenzung der récriture als Unterart der Intertextualität haben bereits Jacques Morel und Anne-Claire Gignoux formuliert. Ersterer setzt dabei die folgenden drei Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit im Unterschied zu allgemeinen Text-Text-Bezügen von einer récriture gesprochen werden kann: „Analogie de thème ou de sujet; parenté entre les deux pensées exprimées […]; reprise textuelle, dans le vocabulaire, la syntaxe, les tropes ou les figures.“ (Morel 1988: 179) Morels relativ offene Definition führt dazu, dass so unterschiedliche Textsorten wie die Übersetzung, das Plagiat und Rezensionen als récriture gelten. Hier wird récriture zum Synonym für Hypertextualität nach Genette und kann eher als Oberbegriff für einen Schreibmodus denn als Analyseinstrument dienen. Den Versuch einer quantitativen Differenzierung im Vergleich zur Intertextualtität stellt Gignoux (2003) in den Fokus. Sie sieht die Dichte beziehungsweise Frequenz intertextueller Bezüge als wichtiges Definitionsmerkmal der récriture. Sie wird als Sonderfall der Intertextualität definiert, die sich durch ihr massives Auftreten und die Autorintention, sowie durch die Möglichkeit von Wie22 Siehe dazu auch Kapitel 2.6.1 des vorliegenden Bandes.

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derholungsbeziehungen innerhalb eines Textes eines Autors („récriture intratextuelle“, ebd.: 23 und 53ff.) vom breiter gefassten Konzept der Intertextualität unterscheide. Mit Bezug auf Laurent Jennys Distinktion zwischen einer „intertextualité faible“ (Jenny 1976: 261f.) und einer „intertextualité proprement dite“ (ebd.), setzt Gignoux als Kriterium, dass ein Text-Text-Bezug auf struktureller Ebene nachweisbar und durch eine Vielzahl von Markierungen deutlich werden muss (vgl. Gignoux: 17). Sie sieht die récriture somit als Form der intertextualité obligatoire nach Riffaterre23, die zudem eine gewisse Autorintention beinhalte. Um die récriture als textuelle Strategie zu beschreiben, ist es demnach vonnöten, entgegen der (post-)strukturalistischen Ansätze in Form der bereits erwähnten hypothetischen Intentionalität24 auf den Werk- und Autorbegriff zurückzugreifen, die sich in einer gewissen Intention beziehungsweise Motivation äußern, eine schon geschriebene Geschichte noch einmal zu erzählen. Gignoux’ Kriterien stellen eine Teilmenge des von Manfred Pfister formulierten Kriterienkatalogs zur „Skalierung der Intertextualität“ (Pfister 1985: 25-30) dar. Letzterer sieht sein Variablenraster als Vermittlungsversuch zwischen einem Modell alles umfassender Intertextualität und strukturalistisch-hermeneutischen Modellen. Sein besonderer Gewinn für die vorliegende Studie besteht darin, dass mit Hilfe der im Folgenden erläuterten Variablen ein Merkmalsbündel zur Definition der récriture als besonders intensive Form des Text-Text-Bezugs herangezogen werden kann. Als qualitative Kriterien führt Pfister zunächst die Referentialität auf, die sich auf die linguistische Unterscheidung zwischen use und mention25 bezieht, um zu unterscheiden, ob auf einen vorhergegangenen Text verwiesen wird, oder ob er im vorliegenden Werk verwendet wird, ohne dass der Zitatcharakter bloßgelegt wird. Während im zweiten Fall die Thematisierung des Prätextes nur implizit erfolgt, wird im ersten eine Metatextualität im Vergleich zum Prätext erzeugt. Das zweite Merkmal, das der Kommunikativität, bezieht sich auf die Deutlichkeit der intertextuellen Markierung, ein Element, das Genette weitgehend vernachlässigt. Ein Plagiat ist beispielsweise möglichst schwach markiert, um dem Rezipienten die intertextuellen Bezüge zu verheimlichen, wobei sich dies gerade in Bezug auf kanonisierte Texte der Weltliteratur sehr schwierig ge23 Siehe hierzu Kapitel 2.1 der vorliegenden Studie. 24 Siehe zu diesem Konzept die Einleitung der vorliegenden Studie. 25 Damit ist die Unterscheidung gemeint, ob ein Text Elemente eines anderen Textes nur gebraucht (use) oder aber auf diesen verweist (mention), ob also eine reine Aneignung oder eine Referenzbildung erfolgt (vgl. Pfister 1985: 26).

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staltet. Das dritte Kriterium, die Autoreflexivität, bezieht sich auf eine eventuelle Thematisierung beziehungsweise Problematisierung der zwischentextlichen Bezüge und bezeichnet als „metakommunikative[r] Aspekt“ (ebd.: 28) der Intertextualität somit eine Intensitätssteigerung im Vergleich zu den ersten beiden Kategorien. Als Strukturalität definiert Pfister die „syntagmatische Integration der Prätexte in den Text“ (ebd.). Ein hoher Grad an Intensität werde erreicht, wenn „ein Prätext zur strukturellen Folie eines ganzen Textes“ (ebd.) werde, wie dies beispielsweise bei Übersetzungen, Parodien und Adaptionen der Fall sei.26 Allerdings bezieht sich Pfister hier ausschließlich auf die häufige Verwendung von Zitaten und Anspielungen, „punktuelle[n] Verfahren […], die als strukturelle Folie größere Textteile oder schließlich den Ganztext integrieren“ (ebd.), nicht etwa auf Elemente der Geschichtsebene, wie sie Genette mit seinen Konzepten der Diegese und der Handlung als mögliche Orte der Transformation anschneidet. Mit „syntagmatischer Integration“ meint Pfister an dieser Stelle jedoch nicht nur die wörtliche Übernahme und Einbettung von Textteilen des Prätextes in den manifesten Text, sondern auch Anspielungen, bei denen der Prätext nur virtuell präsent ist. Das anschließende Kriterium der Selektivität umschließt zwei Aspekte. Einerseits wird analysiert, ob der Prätext implizit oder explizit im Text zweiten Grades auftaucht. So schreibt Pfister einem wörtlichen Zitat einen höheren Grad an intertextueller Intensität zu als beispielsweise einer Anspielung auf eine Figur des Prätextes. Andererseits betrifft die Selektivität auch die Auswahl des Prätextes: Analog ist der Verweis auf einen individuellen Prätext prägnanter und damit intensiver intertextuell als der Bezug auf Normen und Konventionen einer Gattung, auf bestimmte Topoi und Mythen oder auf noch abstrakter definierte textkonstituierende Systeme. (Pfister 1985: 28)

Das letzte Kriterium aus Pfisters „Skalierung der Intertextualität“ basiert auf Bachtins Konzept der Dialogizität und meint unter derselben Bezeichnung eine Relation „semantischer und ideologischer Spannung“ (ebd.: 29) zwischen Text und Prätext, die sich durch eine „differenzierte Dialektik von Anknüpfen und Distanznahme“ (ebd.) äußert. Somit sieht Pfister in Genettes formalen Transpositionen eine eher geringe intertextuelle Intensität, während ironische Distanzierungen höher eingestuft werden. Den höchsten Grad an Intertextualität haben 26 Siehe zur Abgrenzung verschiedener Adaptations- und Parodie-Begriffe Kapitel 2.6 der vorliegenden Untersuchung.

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deshalb Texte inne, die zwischen Identität und Alterität oszillieren, nicht etwa solche, die eine „totale Wiederholung“ beziehungsweise eine „reine Negation“ (ebd.) eines Prätextes darstellen. Das Kriterium der Dialogizität verdient besondere Aufmerksamkeit, da es als einziges die semantische Ebene des Text-Text-Bezugs beschreibt. Pfister stimmt mit Genette überein, dass das wörtliche Wiederschreiben eines Textes keineswegs die intensivste Form der Intertextualität darstellt, auch wenn hier die Fremdbestimmtheit eines Textes den Höhepunkt erreicht zu haben scheint. Eine semantische Verschiebung tritt jedoch trotzdem ein. Selbst die wörtliche Wiederholung unterminiert den Originalstatus eines Werkes (vgl. Genette 1985: 11). Alfred Gall bezieht sich auf Gilles Deleuzes Studie Différence et répétition, wenn er erläutert, dass bei Wiederholungen Verdopplungsstrukturen freigesetzt werden: „Die Logik der Repräsentation, die Wiederholung als Aktualisierung eines transzendentalen Ursprungstextes begreift, zerfällt in der Fokussierung auf die Wiederholung als solche.“ (Gall 2003: 79) Zu differenzieren ist demnach zwischen einer notwendig auftretenden semantischen Verschiebung bei jeder Wiederholung27 und (intentional angewandten) Strategien, die eine kritische Distanznahme bei der Wiederaufnahme eines Prätextes herbeiführen und herausfordern. Récriture lässt sich mit Domino (1987: 38) in diesem Zusammenhang in einem Spannungsfeld zwischen Identität und Alterität ansiedeln. Domino geht davon aus, dass die dominante Stoßrichtung von der Autorintention abhängig ist, wobei diese, wie erwähnt, in der vorliegenden Untersuchung nur in ihrer intersubjektiv überprüfbaren Form berücksichtigt wird, das heißt als hypothetische Rekonstruktion des Kontextes der Veröffentlichung und nicht etwa in Form von Spekulationen über die persönlichen Motive des Autors, einen Prätext aufzugreifen. Das Kriterium der Dialogizität scheint auch Karlheinz Stierle als besonders ergiebig anzusehen, denn es findet sich implizit in seinem Konzept der „privilegierte[n] Intertextualität“ (Stierle 2003: 352). Damit meint er eine Form des Bezugs zwischen Texten, die sich dadurch auszeichnet, daß der Text selbst eine oder mehrere intertextuelle Relationen anzeigt. Der Text hat die Möglichkeit, ein Reflexionsmedium zu setzen, indem er sich als eine differenzierende Dis27 Genette fasst diese zwangläufige semantische Verschiebung bei der Wiederholung folgendermaßen: „On peut, sans trop risquer l'absurde, poser en principe que toute répétition est déjà variation: variation, si l'on veut, au degré zéro – un degré qui, on le sait, n'est jamais nul, puisque, dans un système quelconque, une absence s'oppose à telle présence aussi efficacement que telle autre.“ (Genette 1985: 11)

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tanznahme zu einem oder mehreren Texten präsentiert und diese Distanznahme in die Konkretheit des Werks einschreibt. (Ebd. 352f.)

Der Text wird so zu einem Kreuzungspunkt und einer materialisierten Reflexion über andere Texte. Die récriture als Form der Intertextualität, die sich auf einen dominerenden Prätext bezieht, ermöglicht die direkte Auseinandersetzung mit einem Werk auf mehreren Textebenen. Neben den qualitativen Kriterien beinhaltet Pfisters Modell auch quantitative Unterscheidungsmerkmale. Diese betreffen zum einen die „Dichte und Häufigkeit der intertextuellen Bezüge, zum anderen die Zahl und Streubreite der ins Spiel gebrachten Prätexte“ (Pfister 1985: 30). Letzteres scheint gerade den qualitativen Kriterien der Strukturalität und der Selektivität zu widersprechen, deren Intensitätspotenzial gerade nicht auf einer hohen Anzahl von intertextuellen Verweisen beruht. Deutlich wird an dieser Stelle einerseits, dass die Interaktion der Einzelkriterien für Pfister nicht maßgeblich ist, und andererseits, dass der Kriterienkatalog nur ansatzweise zwischen verschiedenen Textebenen unterscheidet. Die Vermittlungsebene scheint bevorzugt zu werden, indem das Zusammenspiel der intertextuellen Komponenten – abgesehen von einem Verweis auf ihre Anordnung in „strukturelle Muster“ (ebd.: 29) – im Rahmen einer Erzählung wenig beachtet wird. Die Plotdynamik beziehungsweise die Veränderung von Zuständen auf der Geschichtsebene, die als Minimalvoraussetzung für einen narrativen Text gelten kann, wird vernachlässigt. Vielfalt gilt gerade in Bezug auf die quantitativen Komponenten als notwendiges Kriterium für Intensität der intertextuellen Beziehung. Problematisch ist dabei, dass beispielsweise einer Sammlung von wörtlichen Zitaten aus verschiedenen Quellen ein ähnlicher Grad an intertextueller Intensität zugesprochen würde, wie der Wiedererschaffung einer erzählten Welt in ihrer Gesamtheit beziehungsweise einer Wiederaufnahme von entscheidenden Komponenten der Geschichtsebene eines Textes. Intensität, wie sie Pfister postuliert, kann somit auch als breite Vernetzung intertextueller Bezüge bei gleichzeitiger Distanznahme aufgefasst werden, wobei sich dies auch punktuell im Laufe der Entfaltung des Textes abspielen kann. Die récriture, wie sie hier verstanden wird, bezeichnet dagegen eine Form der Intertextualität, die sich weniger breit als vielmehr tief in die bisherige Textproduktion einschreibt, indem sich ein Text auf multiple Weise auf einen Prätext bezieht, der dadurch mehrere Ebenen des Textes berührt. Die récriture, die somit als tiefenintensive Form der Intertextualität zu bezeichnen ist, beruht auf einem Zusammenspiel verschiedener intertextueller Verweise auf einen dominanten Prätext.

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Auf dieser Basis lässt sich die récriture als eine Form der Intertextualität definieren, die eine hohe Strukturalität – hier verstanden als Nachbildung der Strukturen einer erzählten Welt in ihren verschiedenen Komponenten – aufweist. Gleichzeitig sind die Bezüge zum Prätext deutlich markiert, das heißt es sind eine hohe Kommunikativität (zum Teil durch Referentialität) und eine eindeutige Selektivität in Bezug auf die Auswahl des Prätextes festzustellen. Theoretisch können sich Ausprägungen der récriture im Grad ihrer Autoreflexivität und in ihrer Dialogizität unterscheiden. In Bezug auf die quantitativen Kriterien ist als Voraussetzung eine hohe Dichte der intertextuellen Bezüge nötig – dies sowohl auf der Vermittlungs- als auch auf der Geschichtsebene in den verschiedenen von Genette definierten Formen.28 Die hohe Selektivität in Bezug auf die Auswahl des Prätextes schließt eine Öffnung auf mehrere Prätexte nicht aus, doch für eine stark ausgeprägte Strukturalität ist eine Beschränkung auf einen oder wenige dominierende Prätexte Voraussetzung. Die Aufnahme und Verarbeitung des oder der Prätexte in Form eines Romans, das heißt eines fiktionalen Textes, bedeutet die Erschaffung einer sekundären fiktionalen Welt. Um diesen Mechanismus adäquat beschreiben zu können, wird im Folgenden auf das Plotmodell der Possible Worlds-Theory zurückgegriffen.

2.4 R ÉCRITURE ALS W IEDERAUFNAHME K OMPONENTEN EINES FIKTIONALEN W ELTENSYSTEMS

DER

2.4.1 Die Theorie der möglichen Welten in der Literaturwissenschaft Vorteil der literaturtheoretischen Ausprägung der Possible Worlds-Theory (PWT) beziehungsweise der Theorie der möglichen Welten ist ihr Verständnis des Plots als Zusammenspiel verschiedener Welten innerhalb eines Erzähluniversums, denn dieser Ansatz ermöglicht es, relativ präzise die Unterschiede zwischen Prätext und Text in einer récriture-Beziehung zu bestimmen. Ausgehend von Gottfried Wilhelm Leibniz’ Metapher der möglichen Welten sehen die Vertreter der Possible Worlds-Theory fiktionale Texte als „semiotische Mechanismen für die Konstruktion alternativer Welten“ (Surkamp 2002: 153):

28 Siehe hierzu Kapitel 2.3.1 der vorliegenden Untersuchung.

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„Possible worlds’ notions thus allow us to see the fictional world as a universe of discourse constructing its own world references“ (Ronen 1994: 28).29 Vorteil dieses erzähltheoretischen Ansatzes ist nach Andrea Gutenberg, dass sie „sowohl der strukturalistischen Antireferentialität als auch der ihr eigenen Mißachtung von semantischen Plotphänomenen zu entgehen [vermag]“ (Gutenberg 2000: 42), indem sie die Geschichtsebene in den Vordergrund stellt. Gleichzeitig wird der Beitrag der Rezipienten bei der Lektüre mit einbezogen, was für die Untersuchung der récriture, die sich im Leseprozess realisiert, unabdingbar ist. Insgesamt beruht Gutenbergs Ansatz, dem hier gefolgt wird, auf einem moderaten Konstruktivismus, der Plot als „Zusammenspiel zwischen textuellen Strukturen und der (Re-)Konstruktionsfähigkeit der LeserInnen“ sieht (ebd.: 107). Die Possible Worlds-Theory stammt aus der Modallogik, ist also ein philosophischer Ansatz, der an die Bedürfnisse der Literaturwissenschaft angepasst wurde. In der Ursprungsform geht sie davon aus, dass neben der tatsächlichen Welt eine Vielzahl virtueller Welten bestehen, die mögliche Alternativen darstellen. Diese möglichen Welten müssen in einer bestimmten Zugangsbeziehung zu einer realen Welt stehen, um als mögliche Welten zu gelten, das heißt sie dürfen keine Widersprüche beinhalten (eine Aussage kann nicht gleichzeitig wahr und falsch sein) und müssen dem Grundsatz des ausgeschlossenen Dritten gehorchen (von zwei einander widersprechenden Aussagen muss mindestens eine zutreffen) (vgl. Ryan 1991: 31 und Ronen 1994: 54). Der privilegierte Status einer aktualisierten beziehungsweise realen Welt ist dabei jedoch nicht unumstritten.30 Gemeinsam ist den Ansätzen jedoch, dass sie 29 Zu den Anfängen und Grundprinzipien der Possible Worlds-Theory, siehe Surkamp 2002: 154-156 und Ronen 1994: 21-24. 30 Carola Surkamp (2002: 156) führt hier die Unterscheidung in Modalrealismus und moderaten Realismus auf, die bei Ruth Ronen (1994: 21-24) und Andrea Gutenberg (2000: 43) um die Kategorie des Anti-Realismus ergänzt wird. Für die Vertreter des Modalrealismus, besonders David Lewis, ist die actual world nicht privilegiert, da actual als indexalisches Zeichen aufgefasst wird und somit vom Standpunkt des Betrachters abhängt, wodurch jede Welt zur actual world werden kann (vgl. Ronen 1994: 22). Diese Annahme findet gerade in Bezug auf literarische Figuren Anhänger, wie Ronen am Beispiel von Anna Karenina aufzeigt, die Lesern genauso vertraut werden könne wie eine echte Freundin (vgl. ebd.: 24). Die Anhänger des moderaten Realismus gehen dagegen davon aus, dass sich die actual world – verstanden als tatsächlich aktualisierte und realisierte Welt – ontologisch von anderen möglichen Welten, die im virtuellen Status verharren, unterscheidet und damit eine übergeordnetete hierarchische Stellung als Referenzwelt in einem Welten-

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jeweils davon ausgehen, dass nicht aktualisierte Möglichkeiten kohärente Systeme bilden, die erdacht und beabsichtigt sind, die beschrieben und charakterisiert werden können und auf die Bezug genommen werden kann (vgl. Ronen 1994: 25). Zudem besteht weitgehend Konsens darüber, dass mögliche Welten neben dem tatsächlichen Seins-Zustand in eine Ontologie mit eingeschlossen sind (vgl. ebd.: 50). Auch wenn sie nicht aktualisiert sind, existieren sie demnach, wenn auch nur als virtuelle Möglichkeiten. Sehr sorgfältig muss in diesem Zusammenhang zwischen möglichen Welten und fiktionalen Welten unterschieden werden. In der Übertragung auf fiktionale Welten ist zunächst zu beachten, dass mögliche Welten von den meisten Theoretikern als ‚intensional‘ gesehen werden, das heißt sie bilden ein eigenes Diskursuniversum und Referenzsystem, das nicht unbedingt mit demjenigen der außersprachlichen Wirklichkeit übereinstimmen muss (vgl. Ronen 1994: 28). Mögliche Welten werden als nicht aktualisierte, aber aktualisierbare Alternativen zu einer actual world gesehen, beziehungsweise als mögliche Situationen, die nicht stattgefunden haben. Somit können beispielsweise fiktionale Werke in Bezug auf die außertextuelle Referenzwelt als mögliche Welten erfasst werden, deren Weltgestaltung derjenigen der außertextuellen Wirklichkeit widerspricht.31 Für Literaturtheoretiker, die fiktionale Welten an sich als aktualisierte beziehungsweise in einem fiktionalen Rahmen, das heißt unter anderen Vorzeichen

system einnimmt. Mögliche Welten werden als nicht aktualisierte „Produkt[e] mentaler Aktivitäten (also Träume, Wünsche, Hypothesen, Fiktionen usw.) und somit virtuelle, mögliche Konstrukte“ (Surkamp 2002: 156) beschrieben. Anhänger des Anti-Realismus gehen davon aus, dass mögliche Welten keinerlei Erkenntnisgewinn erlauben. Sie argumentieren im Rahmen eines radikalen Relativismus, dass es unmöglich sei, die Realität einer actual world von anderen Welten abzugrenzen und verneinen damit, dass eine real existierenden Referenzwelt besteht (vgl. Ronen 1994: 23). Somit heben sie die in der Literaturwissenschaft vorherrschende Annahme einer Trennung von Fiktion und Realität auf (vgl. ebd.: 25). 31 Ein Spiel mit dieser Unterscheidung betreibt beispielsweise Jacques Godbout im Klappentext zu seinem Roman Les Têtes à Papineau (1981), in dem er das fiktive siamesische Zwillingspaar Charles und François Papineau in eine Linie mit den – real existierenden – Dionne-Fünflingen gleichsetzt: „Certains lecteurs se souviennent sans doute des jumelles Dionne, les célèbres quintuplées canadiennes. On connaît moins bien en revanche Charles-François Papineau, un monstre bicéphale né à Montréal en 1965 […]“ (Godbout 1981).

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aktualisierbare Zustände sehen,32 ist die Frage der Beziehung (im Sinne einer möglichen Aktualisierung) zur actual world jedoch zweitrangig. Sie passen die Metapher der möglichen Welten fruchtbringend an ihre Bedürfnisse an, indem sie betonen, dass Fiktionen nicht nur Möglichkeiten sind, sondern einen höheren Unabhängigkeitsstatus gegenüber der aktualisierten Welt innehaben, da sie in fiktionaler Form bereits existieren (vgl. Ronen 1994: 52). Fiktionale Welten gehören somit einer anderen Möglichkeits- oder Unmöglichkeitssphäre an als mögliche Welten.33 Während possible worlds einer Logik der Verästelung folgen, indem die Möglichkeiten von einem Ausgangszustand der actual world sondiert werden (vgl. ebd.: 8), basieren fiktionale Welten auf dem Prinzip des Parallelismus und folgen ihren eigenen Gesetzen: In creating what is objectively a non-actual PW, the fictional text establishes a new actual world which imposes its laws on the reader and determines its own horizon of possibilities. (Ryan 2005: 447)

Marie-Laure Ryans Zitat verweist darauf, dass fiktionale Welten narrative Konstrukte sind, die daher definitionsgemäß lückenhaft bleiben müssen. Ronen differenziert diese Unvollständigkeit in zweierlei Hinsicht. Auf der Ebene der Logik bedeutet sie, dass viele Aussagen über fiktionale Wesen oder Einheiten nicht gemacht werden können.34 In semantischer Hinsicht bezieht sie sich darauf, dass eine durch Sprache erschaffene Einheit niemals vollständig in allen Aspekten charakterisiert werden kann, sondern Elemente der Darstellung und des Dargestellten auswählen muss (vgl. zum Beispiel Ronen 1994: 114 und Nünning 1995: 32 Nach Ronen (1994: 50) verfolgen Literaturtheoretiker damit den modalrealistischen Ansatz: „They attach a high degree of realism to the notion of worlds of fiction.“ Siehe hierzu auch Gutenberg 2000: 47. Marie-Laure Ryan argumentiert dagegen, dass dieser nur hinsichtlich der Rezeption greife: „From the point of view of the ‚actual actual world‘ the worlds of fiction are discourse-created non-actual possible worlds, populated by incompletely specified individuals; but to the reader immersed in the text the TAW [das heißt die textuell aktualisierte Welt, MK] is imaginatively real, and the characters are ontologically complete human beings […]” (Ryan 2005: 448). 33 Susanne Hartwig (2008: 84-86) verweist in diesem Zusammenhang auf den paradoxalen Status von Literatur als „aktualisierte Möglichkeit oder: das was nicht nicht ist“, aktualisieren fiktionale Texte doch Möglichkeiten, ohne sie in die außertextuelle Wirklichkeit zu überführen. 34 Oft wird in diesem Zusammenhang das Beispiel zitiert, dass man nie erfahren wird, wie viele Kinder Lady Macbeth hatte (vgl. Pavel 1988: 98 und Ronen 1994: 121).

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72). Gerade diese Lücken bilden mögliche Ansatzpunkte für récriture-Praktiken, die eine Komplementärwelt erschaffen wollen. Doležel sieht Unvollständigkeit als das Distinktionsmerkmal fiktionaler Texte schlechthin, wobei er wie Tomas Pavel auf verschiedene Grade der saturation beziehungsweise der Maximierung oder Minimierung der nicht zu vermeidenden Unvollständigkeit (vgl. Pavel 1986: 65) eingeht. Gerade die gattungs- und genrespezifische Ausgestaltung von literarischen Figuren wird in diesem Zusammenhang in der récriture verarbeitet. Ryan (2005: 447) stellt der eben beschriebenen „incomplete texture of the text“ eine „completeness of the fictional world“ gegenüber und nähert sich dabei Isers Konzept der vom Leser auszufüllenden Leerstellen (vgl. Iser 1975: 261) an. Um zu erklären, dass der Leser diese Unvollständigkeit nicht als logischen Bruch empfindet, geht sie vom Prinzip der minimalen Differenz (principle of minimal departure) aus: This principle states that whenever we interpret a message concerning an alternative world, we reconstrue this world as being the closest possible to the reality we know […]. This means that we will project upon the world of the statement everything we know about the real world, and that we will make only those adjustments which we cannot avoid. (Ryan 1980: 403, 406)

Gutenberg präzisiert in Bezug auf diese mentale Komplettierungsstrategie mit Rückgriff auf kognitiv-narratologische Ansätze, dass unterschiedliche Leserdispositionen „qualitativ und quantitativ unterschiedlichen Rekonstruktionen der TAW35 ein und desselben Textes“ (Gutenberg 2000: 55) verursachen können (vgl. Surkamp 2002: 164). Umberto Eco beschreibt mit seinen „inferentiellen Spaziergängen“ (Eco 1987: 148-151) ein ähnliches Phänomen, das jedoch differenzierter ausgestaltet ist, da es eine Abhängigkeit von der „enzyklopädischen Kompetenz“36 (ebd.) des Lesers voraussetzt, das heißt die Referenzwelt genauso wie die fiktionale Welt als kulturelles Konstrukt begreift und nicht als gesetzte Einheit (vgl. Ronen 1994: 70). An dieser Stelle zeigt sich, dass mögliche und fiktionale Welten sich in Bezug auf accessibility, das heißt Zugänglichkeitsrelationen zu einer Referenzwelt, unterscheiden. Während die Referenzwelt in der Modallogik nicht von vornherein festgelegt ist, wird in der Literaturwissenschaft die actual world au35 Die TAW ist die textuell aktualisierte Welt, die „fiktionsintern als ‚real‘ präsentierte Welt“ (Gutenberg 2000: n. p. [Glossar]). 36 Siehe Eco 1987: 101 zu seinem Konzept der Enzyklopädie, die unter anderem die „intertextuelle Kompetenz“ (Hervorhebung im Original) beinhaltet.

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tomatisch als Referenzwelt herangezogen, ob nun als stabile Einheit (vgl. Ryan 1991) oder als kulturelles Konstrukt (vgl. Eco 1987). Die Zugangsrelationen, das heißt die Vergleichsparameter mit der Referenzwelt, werden dabei entsprechend an die Bedürfnisse fiktionaler Welten angepasst (vgl. Gutenberg 2000: 45). Surkamp (2002: 166) ist zuzustimmen, wenn sie in diesem Zusammenhang Ryans Ansatz als den bisher differenziertesten ansieht. Mit Hilfe mehrerer Variablen wie der „Übereinstimmung von Eigenschaften, die Objekten in beiden Welten zugeschrieben werden“ und „gemeinsame[n] Naturgesetzen“ (Gutenberg 2000: 45) ist es möglich, die Distanz zwischen Textwelten und der tatsächlichen Welt zu vergleichen. Dieser Ansatz lässt sich besonders gut zur Gattungsklassifikation heranziehen und kann auch – übertragen auf récriture-Texte – erste Anhaltspunkte für die Gegenüberstellung von erzählten Welten bieten.37 Die récriture bildet in dieser Hinsicht als intertextuelle Praxis eine Ausnahme, denn bei der Lektüre von Literatur zweiten Grades wird zuvorderst der Vergleich zu einer anderen textuell aktualisierten Welt, derjenigen des Prätextes, herausgefordert. Ryan geht in diesem Zusammenhang von einer Abwandlung des Prinzips der minimalen Differenz aus, das sich nun als Vergleich zweier kultureller Konstrukte präsentiert: But the principle also permits the choice of another fictional world as interpretive model. This occurs whenever an author expands, rewrites or parodies a pre-existing fiction, or whenever a work presents not only its own world, but also that of another fiction as the actual world. (Ryan 1980: 418)

Aus dem ontologischen Status der Textwelt als narratives Konstrukt ergibt sich als weitere Konsequenz, dass sie im Gegensatz zu möglichen Welten nicht unbedingt den Vorgaben der Logik folgen muss. Transgressionen, wie sie beispielsweise mit Hilfe von Metalepsen (vgl. Genette 2004) geschaffen werden können, sowie unauflösbare Widersprüche und Verstöße gegen den Grundsatz der ausgeschlossenen Mitte innerhalb der erzählten Welt38 machen fiktionale

37 Es handelt sich hierbei um Zugänglichkeitsrelationen, die den Status einer fiktionalen Welt als Zukunftsvision (zum Beispiel Science Fiction) oder übernatürliche Welt (zum Beispiel Märchen) deutlich machen. Nicht berücksichtigt wird dabei jedoch die Plotdynamik (siehe hierzu Kapitel 2.4.3 der vorliegenden Arbeit). 38 Paradebeispiele für derartige Verstöße sind Robbe-Grillets Roman La maison de rendez-vous (vgl. Surkamp 2002: 164) und das Bild von Sherlock Holmes, der eckige Kreise zeichnet (vgl. Montalbetti 2001: 76).

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Welten teilweise zu übernatürlichen oder unmöglichen Welten39. Gerade die Möglichkeit eines Fiktionsbruches, einer Transgression von Fiktionsgrenzen, den die récriture zum Teil allein schon dadurch hervorruft, dass sie mit Hilfe einer leicht veränderten Wiederholung eine konkurrierende Version einer fiktionalen Welt erschaffen kann, wird von récriture-Autoren auf verschiedene Weise nutzbar gemacht. Im Zusammenhang dazu ergibt sich für fiktionale Welten die Schwierigkeit der verbindlichen Festlegung der textuell aktualisierten Welt (TAW), die für das fiktionale Universum die Rolle der actual world einnimmt. Um die TAW zu rekonstruieren, gilt es, den Authentizitätsgrad der von den Erzählinstanzen getätigten Äußerungen zu untersuchen (vgl. Surkamp 2002: 162). Diese als authentication (vgl. Doležel 1998, Kap. VI) beziehungsweise authentification (vgl. Ryan 1992: 534) bezeichnete Analyse beruft sich auf narrative Konventionen (vgl. Surkamp 2002: 160), indem verschiedenen Erzählhaltungen unterschiedliche Autoritätsgrade zugeschrieben werden: In literary contexts […] authority is conceived as a convention attributing more power of construction to an external speaker, and less power to an internal and restricted speaker. (Ronen 1994: 176)

So können die Aussagen eines auktorialen Erzählers beziehungsweise einer heterodiegetischen Erzählinstanz bei Nullfokalisierung als verbindliche und Welt konstruierende Aussagen gewertet werden, das heißt sie sind Fakten der textual actual world (vgl. Surkamp 2002: 160): Erzählinstanzen, die außerhalb der TAW situiert sind, äußern world-creating statements, mit denen sie ein fiktives Weltensystem erschaffen, und müssen somit als unmittelbare Urheber und Sinnstifter eines Erzähltextes betrachtet werden. (Gutenberg 2002: 57, Hervorhebung im Original)

Dennoch muss auch bei heterodiegetischen Erzählinstanzen die TAW nicht unbedingt immer exakt mit den Aussagen des Erzählers übereinstimmen. Gutenberg argumentiert, dass eine explizit eingreifende heterodiegetische Erzählinstanz, die also den Vermittlungsprozess betont und die mimetische Illusion 39 Matías Martínez und Michael Scheffel unterscheiden basierend auf der Theorie der möglichen Welten zwischen natürlichen, das heißt physikalisch möglichen, übernatürlichen, das heißt zwar logisch aber nicht physikalisch möglichen, sowie logisch unmöglichen Welten (vgl. Martínez/Scheffel 2005: 130).

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verringert, eigene Pflichten- ,Wunsch- oder Intentionswelten40 sichtbar machen kann, dies zum Beispiel durch wertende Kommentare. Sie präsentiert also eine Version der TAW, die durch ihre Wahrnehmung verzerrt ist. Die extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz befindet sich definitionsgemäß außerhalb des Erzähluniversums, das sie durch ihren Erzählakt, den Gutenberg als einen Akt der Rezentrierung auffasst, erschafft (vgl. Gutenberg 2000: 57). Es können somit Anzeichen für eine narratorial reference world (NRW) gegeben werden, „ein fiktives Weltensystem der Erzählinstanz [kann] in Teilen rekonstruierbar werden“ (ebd.). Der Eindruck einer derartigen Divergenz zwischen NRW und textuell aktualisierter Welt ergibt sich durch Störfaktoren während der Rezeption, das heißt Eingriffe der Erzählinstanz, die diese personalisieren, indem sie beispielsweise ein Wertesystem andeuten und dadurch in Bezug auf die Rezeption einen Filter sichtbar machen, den die Erzählinstanz während des Erzählprozesses anlegt. Bei einer zurückhaltenden Erzählinstanz, die als reines Erzählmedium auftritt, lässt sich die TAW jedoch mangels Störfaktoren beziehungsweise Indizien nicht von einer NRW abgrenzen, so dass Kongruenz angenommen werden muss (vgl. Gutenberg 2000: 57). Anders verhält es sich bei Erzählinstanzen, die als Figuren im fiktionalen Erzähluniversum angesiedelt sind. Dies beträfe Stanzels personale Erzählsituation41 genauso wie Genettes interne Fokalisierung durch eine homo- beziehungsweise autodiegetische Erzählinstanz. Für solche potenziell unzuverlässigen Erzähler kann die Unterscheidung getroffen werden, ob es sich um ein „erlebendes Ich“ handelt, dessen Wahrnehmungshorizont dem der Figuren entspricht, oder um ein aus der Rückschau „erzählendes Ich“, dem es aufgrund der zeitlichen Distanz einer TAW aus möglich ist, reflektierte Kommentare und Wertungen einzufügen (vgl. ebd.: 55). Die narratorial actual world (NAW), die von der Erzählinstanz entworfene Version der textuell aktualisierten Welt, muss somit nicht mit der – aus dem Gesamttext zu rekonstruierenden – TAW deckungsgleich sein. Gerade Erzähltexte mit multipler Fokalisierung arbeiten mit verschiedenen NAWs, die sich zum Teil widersprechen können, ein Verfahren, dass die récriture anhand der Methode der transfocalisation oder der transvocalisation42 aufnehmen kann, um die Wahrnehmungsmuster der Erzählinstanz eines Prätextes kontrastiv offenzulegen.

40 Siehe hierzu das folgende Unterkapitel 2.4.2 zum Aufbau fiktionaler Universen. 41 Für einen kritischen Überblick zu Stanzels Erzählsituationen, siehe zum Beispiel Martínez/Scheffel 2005: 89-95. 42 Siehe zu diesen Verfahren Kapitel 2.3.1 der vorliegenden Untersuchung.

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Gleichzeitig bestimmt die Wahl der Perspektive beziehungsweise der Fokalisierung auch die Anordnung und Selektion der dargestellten Elemente der fiktionalen Welt (vgl. Ronen 1994: 190), so dass bei externer Fokalisierung das Innenleben der Figuren nicht wiedergegeben werden, doch zwischen Schauplätzen sehr viel leichter hin- und hergewechselt werden kann, als dies bei interner, an die Perspektive einer Figur gebundener Fokalisierung der Fall ist. Insgesamt können also durch verschiedene Perspektiven innerhalb eines Erzähltextes mehrere konkurrierende Einzelwelten entworfen werden, „wobei eine dieser Welten als tatsächliche Textwelt fungieren kann, die von einer Vielzahl nicht aktualisierter Welten umgeben ist“ (Surkamp 2002: 167). 2.4.2 Der Aufbau fiktionaler Universen Die Trennung in textuell aktualisierte und nicht aktualisierte Elemente innerhalb eines Erzählttextes deutet auf das Verständnis von Fiktion in der literarischen Theorie der möglichen Welten hin. Ein fiktionales Universum wird hier als Modalsystem aufgefasst. Mit Bezug auf Todorovs und Brémonds Unterscheidung in aktualisierte und nicht aktualisierte Plot-Elemente wendet Ryan (1985, 1991) das Modalsystem möglicher Welten plottheoretisch an,43 wobei die tatsächlich eintretenden Handlungen und Ereignisse zur textuell aktualisierten Welt gehören, die Gedanken, Gefühle, Wünsche, Pläne etc. der Figuren dagegen die möglichen Welten bilden, und erst bei einer Verwirklichung Bestandteil der TAW werden: The worlds of a modal system of narration fall into two main categories. (1) those with an absolute or autonomous existence; and (2) those whose existence is relative to somebody, i.e. which exists through a mental act of a character. (Ryan 1985: 720)

Somit bietet es sich an, einen narrativen Text als ein aus verschiedenen Welten bestehendes Erzähluniversum zu begreifen. Ein derartiges fiktionales Universum entsteht, wie bereits angedeutet, durch einen Akt der Rezentrierung, den Gutenberg (2000) im Glossar zu ihrer Studie als den „produktive[n] mentale[n] Akt (world-making) [definiert], durch den ausgehend von einem bereits existenten Weltensystem ein neues geschaffen wird“. Die Basis für das bisher ausgefeilteste Modell fiktionaler Welten bildet Doležels Ansatz, „Modalitäten als spezifisch narrative, Kohärenz stiftende textual macro-constraints“ (ebd.: 51, Hervorhebung im Original) zu untersuchen. Er 43 Zu den Vorteilen dieses Plotverständnisses gegenüber strukturalistischen Ansätzen, siehe Ronen 1994: 172f.

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versteht Welten als Makrostrukturen, die von Gesetzmäßigkeiten, wie beispielsweise in unserer Welt der Schwerkraft, aber auch gesetzlichen Bestimmungen, determiniert werden (vgl. Doležel 1998: 113) und beschreibt auf dieser Basis vier Modaloperatoren, die in fiktionalen Universen wirksam sein können: 1. Die alethischen Zwänge, die darüber entscheiden, was möglich, unmöglich und notwendig ist, und somit Kausalbeziehungen, Raum-Zeit-Parameter und den Handlungsspielraum der Figuren festlegen (vgl. ebd.: 115), 2. deontische Zwänge, welche die Werte des Erlaubten, Verbotenen und Verpflichtenden setzen, und damit das Normsystem ausmachen (vgl. ebd.: 120), 3. axiologische Zwänge, die darüber befinden, was gut, schlecht oder indifferent zu bewerten ist (vgl. ebd: 123) und 4. epistemische Zwänge, also die Werte des Wissens, Nichtwissens und des Glaubens (vgl. ebd.: 126). Ausgehend von diesen vier Modalsystemen, die Doležel für fiktionale Welten als dominierend herausarbeitet, präsentiert Ryan ein Modell des Erzähluniversums. Sie versteht ein Erzähluniversum als eine in und durch den Text existierende Welt – die textuell aktualisierte Welt (TAW) –, die von möglichen Welten, nämlich den Erzähler- und Figurendomänen, umgeben ist, die der TAW mehr oder weniger entsprechen. Das alethische Modalsystem wird dabei übergreifend angesetzt, hält sozusagen als Modaloperator die fiktionale Welt zusammen und wird in die jeweilige Figurendomäne übersetzt.44 Insgesamt stellen die Operatoren des alethischen Modalsystems den Bezug zwischen der aktuellen, das heißt für den Leser und Schriftsteller realen Welt, und der textuell aktualisierten Welt her, während die anderen Operatoren die Beziehung zwischen der TAW und den Figurendomänen determinieren (vgl. Ryan 1991: 111 und Gutenberg 2000: 52). Darüber hinaus können auch so genannte „split ontologies“ (Surkamp 2002: 167) auftreten, bei denen die TAW in verschiedene Sphären getrennt ist, die unterschiedlichen alethischen Zwängen gehorchen können.45 Die figurenabhängigen Welten, die also die mentalen Repräsentationen der TAW durch eine Figur umfassen, beinhalten deren Wissen und Kenntnisstand über die Vorgänge in der TAW, ihre Glaubensüberzeugungen, die Gesamtheit an Werten und Normen, Wünschen, Absichten und Plänen, die Ryan in die vier Ka-

44 Diesen Zusammenhang beschreibt Ryan folgendermaßen: „In an epistemic system, the modal operators of necessity, possibility, and impossibility are translated into knowledge, belief, and ignorance.“ (Ryan 1991: 114) 45 Derart aufgeteilte TAWs können auch auf so genannten „alethic aliens“ (Doležel 1998: 115) basieren, das heißt einzelnen Figuren, für die andere Gesetzmäßigkeiten gelten als für den Rest der TAW.

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tegorien der Knowledge-World (Wissenswelt), Obligation-World (Pflichtenwelt), Wish-World (Wunschwelt) und Intention-World (Intentionswelt) einordnet: Doležels deontisches Modalsystem ist bei Ryan die Grundlage für eine mentale Welt der Figuren, sprich die O-world, das axiologische System geht in der W-world (Wunschwelt) und das epistemische System in der K-world (Wissenswelt) auf. (Gutenberg 2000: 52, Hervorhebung im Original)

Nach Gutenberg umfasst die Wissenswelt „das Wissen, den Informationsstand, die Kenntnisse und Fähigkeiten sowie Glaubenssätze und Überzeugungen einer Figur und ihre (vergangenheits- oder zukunftsbezogenen) Hypothesen“ (ebd.: 52). Nach Anwendung der alethischen Modaloperatoren ergeben sich als unmögliche Wissenswelten solche, die den Gegebenheiten der TAW widersprechende Aussagen enthalten. In Bezug auf mögliche, aber nicht übereinstimmende KWelten muss zudem unterschieden werden, ob der Figur bewusst ist, dass ihr Informationsstand defizitär ist (unvollständige Wissenswelt) oder nicht (partielle Wissenswelt). Zudem kann die Wissenswelt Verschachtelungen aufweisen, da sie beispielsweise Vermutungen über die TAW sowie die persönlichen Welten anderer Figuren beinhalten kann. Hier müsste hinzugefügt werden, dass die Fähigkeiten und Fertigkeiten durchaus auch charakterliche Anlagen sowie physiologische Voraussetzungen enthalten müssen, die die Figur in ihrer Entfaltung und Interaktion mit anderen einschränken beziehungsweise beeinflussen können. Die Wunschwelt einer Figur ist diejenige der persönlichen Erfüllung. Gutenberg sieht zwischen der W-Welt und der Intentionenwelt, die Absichten und Pläne beinhalte, im Gegensatz zu Ryan einen rein graduellen Unterschied, was sie damit begründet, dass Pläne auf Wünschen basieren, die mit den Parametern der Pflichten- und Wissenswelten abgeglichen wurden, bevor sie für realisierbar befunden wurden (vgl. ebd.: 53). Die Pflichtenwelt einer Figur umfasst „ihr Gesamt an Werten und Normen, an internalisierten Pflichten, Konventionen sowie ihre Moral und Ethik“ (ebd.), ist also das verinnerlichte Wertesystem einer Figur, das sich aus den sozialen Rahmenbedingungen speist. Sie bestimmt somit darüber, ob Entscheidungen beziehungsweise Handlungen einer Figur als notwendig und daher obligatorisch, möglich und somit erlaubt oder unmöglich, das heißt unvereinbar mit dem Wertesystem sind, und damit als verboten einzuordnen sind. Zudem gibt sie nach Gutenberg Aufschluss über die „Gruppenzugehörigkeit“ einer Figur innerhalb einer fiktionalen Welt (vgl. ebd.), wobei zu ergänzen wäre, dass dies gleicher-

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maßen für die Intentionenwelt gilt, da sich Kollektive auch aufgrund eines gemeinsamen Ziels bilden können.46 Die Fantasieuniversen oder F-Worlds, die „mentale Konstrukte wie Träume, Fantasien, Halluzinationen und fiktionale Geschichten, die die Figuren entwerfen oder anderen erzählen (intradiegetische Erzählungen)“ (ebd.: 53), enthalten, bilden insofern einen Sonderfall, als sie zwar mentale Konstrukte der Figuren darstellen, jedoch an sich ein Erzähluniversum bilden, da sie immer einen Akt der Rezentrierung durch die Figur voraussetzen, die somit ihren Traum oder ihre Fantasie (temporär) an die Stelle der TAW setzt. Gutenberg geht hier nicht auf Ryans Differenzierung zwischen unbewussten und bewussten mentalen Konstrukten der Figuren ein, die jedoch für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung sind. Ein Prätext kann beispielsweise innerhalb des Textes zweiten Grades den Status eines Fantasie-Universums erhalten, wenn die Figur sich – bewusst oder unbewusst – mit dem Protagonisten aus dem primären Text identifiziert. Die Identität der Figur wird allgemein bei Träumen und Halluzinationen beibehalten, während dies bei einer fiktionalen Geschichte, die eine Figur erzählt beziehungsweise, die ihr erzählt wird, nicht unbedingt der Fall ist (vgl. intradiegetisch-heterodiegetisches Erzählen). Als an eine Figur gebundenes Erzähluniversum bilden F-Universen ein Erzähluniversum zweiten Grades, das theoretisch unendlich verschachtelt werden kann: By virtue of the inherent recursivity of recentering, the members of F-worlds have at their disposal the entire array of world-creating activites: the characters in a dream may dream, the heroes of fictional fictions may write fictions. (Ryan 1991: 119)

Durch das Zusammenspiel der verschiedenen Welten entsteht im Erzähluniversum die dynamische Komponente, der Plot. 2.4.3 Das Plotmodell der Theorie der möglichen Welten Ryan versteht Plot zunächst als ein dynamisches Spiel, das durch einen Konflikt innerhalb des Erzähluniversums ausgelöst wird. Ein Konflikt entsteht, sobald das Erzähluniversum in Ungleichgewicht gerät, wenn also eine Welt nicht mit den Gegebenheiten der textuell aktualisierten Welt übereinstimmt: „Aus der Perspektive der Figuren, den Teilnehmern am fiktionalen Spiel namens Plot, ist das Ziel

46 Nachzuweisen wäre dies beispielsweise an der Organisation zur Befreiung Québecs in Hubert Aquins Roman Prochain Épisode (1965).

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eine möglichst große Übereinstimmung ihrer privaten Welten mit der TAW (mit Ausnahme der F-Universen)“ (Gutenberg 2000: 64). Der Plot als erzählerisches Spiel entsteht nun dadurch, dass die Figuren Entscheidungen treffen und handeln, um diese Konflikte zu beseitigen. Zum Vergleich von Plots ist die von Ryan erarbeitete und von Gutenberg erweiterte Typologie derartiger Konflikte, die im Folgenden kurz präsentiert wird, sehr nützlich. In Anlehnung an Gutenberg wird dabei von einer Hierarchisierung der Konflikte abgesehen, um die innere Handlung nicht gegenüber der äußeren zu benachteiligen. Konflikte können zwischen den verschiedenen Elementen des Erzähluniversums auf unterschiedlichen Ebenen auftreten. So unterscheidet Gutenberg Konflikte zwischen der TAW und einzelnen Figurenwelten, Spannungen innerhalb einer Figurendomäne und Konflikte zwischen den privaten Welten verschiedener Figuren. Der häufigste Konflikttypus ist nach Gutenberg die Nichtübereinstimmung der Wunschwelt einer Figur mit der TAW, die in eine quest-Erzählung mündet, wie sie sich beispielsweise in Stendhals Le rouge et le noir entfaltet. Genauso kann ein Gesetzesbruch oder ein Verstoß gegen die moralischen Grundsätze einen Plot auslösen. Ein Informationsdefizit einer Figur, also eine defizitäre Wissenswelt, kann sich auf zwei Arten im Plot niederschlagen. Eine unvollständige Wissenswelt liegt beispielsweise der Rätselstruktur zugrunde. Plot auslösend können auch ein Irrtum oder eine Täuschung wirken, die zunächst auf einer partiellen Wissenswelt fußen (vgl. Gutenberg 2000: 66). Konflikte innerhalb der Figurendomäne kommen dadurch zustande, dass eine Welt nur auf Kosten einer anderen verwirklicht werden kann, wenn also beispielsweise die Wünsche einer Figur mit ihrem internalisierten Normensystem kollidieren. Weitaus häufiger sind Konflikte zwischen den privaten Welten verschiedener Figuren.47 Unter Einbeziehung der narrativen Vermittlung in einem Erzähltext kann Plot insgesamt mit Gutenberg folgendermaßen definiert werden: Plot bezeichnet das diskursiv vermittelte Spannungsfeld zwischen virtuellen und aktualisierten Einzelereignissen und seine Organisation zu einer sinnhaften, zusammenhängenden und mehr oder weniger zielgerichteten Ereigniskette in einem fiktiven System möglicher Welten. Dieses dynamische Weltensystem konstituiert und verändert sich in direkter Abhängigkeit von den privaten Welten der Figuren. (Gutenberg 2000: 92, Hervorhebung im Original)

47 Für eine weitere Ausdifferenzierung der Konflikttypen, siehe Gutenberg 2000: 64-68.

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Gerade der Einbezug von nicht in der TAW verwirklichten Elementen kann für die Analyse von récriture-Texten fruchtbar gemacht werden, da sie oftmals die Aktualisierung von im Prätext nur virtuell vorhandenen Möglichkeiten darstellen. Dieses Plotkonzept erlaubt eine erhebliche Präzisierung im Vergleich zu Genettes pragmatischen Transpositionen auf Handlungsebene. Die Verortung von Konflikten zwischen verschiedenen Welten des Erzähluniversums ermöglicht es, unterschiedliche Handlungsverläufe bei der Wiederaufnahme eines Plots durch einen récriture-Roman zu beschreiben und Ähnlichkeitsrelation sowie Abweichungen relativ genau zu bestimmen. Zudem wird dem Zusammenwirken von Geschichts- und Vermittlungsebene Rechnung getragen, denn in der vorliegenden Definition wird Plot zu einem „Organisationsprinzip von Bedeutungen, das auf einer Form- wie Inhaltsebene beruht“ (ebd.: 130). Genauer gesagt ist ein Plot das Ergebnis einer Selektion von Elementen (paradigmatische Ebene), einer Konfigurierung (syntagmatische Verbindung der ausgewählten Bestandteile) und einer Perspektivierung, wobei letztere sowohl auf der Vermittlungs- wie auch auf der Geschichtsebene anzusiedeln ist, da das Subjekt der Fokalisierung eine Figur oder eine außerhalb der TAW angesiedelte Erzählinstanz sein kann (vgl. ebd.: 75). Die Selektion als paradigmatische Ebene bezieht sich auf die ausgewählten Figuren und Ereignisse, aber auch – und insbesondere im Falle der récriture –auf andere fiktionale Welten. Zentral für dieses Plotkonzept ist die literarische Figur, denn wie gezeigt entfaltet sich der Plot durch Konflikte, welche die Figuren zu Entscheidungen und Handlungen veranlassen. Literarische Figuren werden in der Possible WorldsTheory als „fiktional konstruierte, nicht-aktualisierte Individuen“ (Surkamp 2002: 173) angesehen, da sie nur im und durch den Text existieren. Die Figurenkonstellation bildet dabei ein besonders ergiebiges Untersuchungsfeld, da sie Kontrast- und Korrespondenzrelationen48 abbilden kann (vgl. Gutenberg 2000: 93). Vergleichsmomente auf der Selektionsebene, die in récriture-Romanen untersucht werden können, sind zudem wahrnehmbare und mentale Handlungen, das heißt durch Figuren veranlasste Ereignisse, sowie Geschehnisse, also Zustandsveränderungen, auf die Figuren nur reagieren können (vgl. ebd. 96f.).49 48 Zu Kontrast- und Korrespondenzrelationen zwischen Figuren als Kriterium der implizit-auktorialen Figurencharakterisierung im Drama, die auch auf Erzähltexte übertragen werden kann, siehe Pfister 2001: 263f. 49 Zu unterscheiden ist dabei jeweils zwischen plotfunktionalen Ereignissen, „die eine Veränderung im fiktionalen Weltensystem bewirken“ (Gutenberg 2000.: 98), und solchen, die völlig bedeutungslos bleiben – wobei dies erst nach der Lektüre des gesam-

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Ein relativ unkompliziertes Vergleichselement scheint der raum-zeitliche Rahmen, Genettes Diegese, zu sein, da meist objektiv an den Texten überprüfbar ist, ob es sich um eine identische fiktionale Welt handelt, oder um eine zeitliche oder räumliche Versetzung.50 Auch die Raumkonzeption spielt bei der Selektion eine Rolle und kann Korrespondenz- und Kontrastrelationen abbilden (vgl. Gutenberg 2000: 93). Auf die Ebene der ausgewählten Plotelemente, die Selektion, konzentriert sich Doležels Typologie von postmodern rewrites. Ohne explizite Berufung auf Genette, dessen Unterscheidung von Diegese und Handlung als Basis für Doležels Studie zu fungieren scheint, definiert er drei Modi von récritureVerfahren, die Transposition51, die Expansion und das Displacement (vgl. Doležel 1998: 206f.). Unter Transposition subsumiert er die Praktiken, die eine Geschichte oder Elemente einer Geschichte (verstanden als Ereignisfolge) wiederholend aufnehmen, wobei die räumlichen und/oder zeitlichen Parameter verändert werden, also eine Transplantation in eine andere fiktionale Welt durchgeführt wird. Am Beispiel von Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. illustriert er eine derartige Parallelwelt (vgl. ebd.: 207-213). Die Expansion betrifft das Ausfüllen von Ellipsen beziehungsweise das proleptische oder analeptische Ergänzen von Geschichten, wobei Komplementärwelten entstehen. Beim Displacement entsteht eine unterschiedliche Version der Geschichte, wobei Doležel die Umformung vage auf die Formel, „redesigning its structure and reinventing its story“ (1998: 207), bringt. Ryan präzisiert diese von ihr Correction genannte Form folgendermaßen: Dans ce cas, les deux mondes se ressemblent en ce qui concerne les personnages, le milieu social, les lois naturelles, ainsi que le contexte géographique et historique, mais on choisit une autre route dans l’éventail des possiblités. (Ryan 2007: 133)

Der dritte Typ, das Displacement, bezieht sich auf einen unterschiedlichen Ereignisverlauf in der rekonstruierbaren Geschichte, weniger auf die Organisati-

ten Textes zu klären ist. Ein fiktionales Universum ist durch das Ende des Textes abgeschlossen, welches eine rückwirkend strukturierende Funktion innehat. 50 Eine Besonderheit bildet hier das als zeitlos zu interpretierende Erzähluniversum von Märchen (siehe Kapitel 4.2.2 der vorliegenden Untersuchung). 51 Im Folgenden wird der Begriff ‚Transposition‘ kursiv gesetzt, wenn er in Doležels Verwendung gebraucht wird und recte, wenn er nach Genette als Gegenbegriff zu Imitation verwendet wird (siehe hierzu Kapitel 2.3.1 der vorliegenden Untersuchung).

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onsstruktur des Plots. Doležels Typologie konzentriert sich damit auf die – paradigmatische – Selektionsebene und geht nicht auf das zweite zentrale und „zur Konstituierung eines Plots unerlässliche Gestaltungsverfahren“ (Gutenberg 2000: 93) ein, das Gutenberg als ‚Konfigurierung‘ bezeichnet, womit sie sich auf die syntagmatische Verknüpfung beziehungsweise die Kombination und Inbezugsetzung der verschiedenen ausgewählten Elemente in einem Plot bezieht. Ergebnis der Konfigurierung ist die Makrostruktur des Plots, die Relationierung der ausgewählten Elemente, wobei die beiden Mechanismen der Selektion und der Konfiguration einander bedingen können. Gutenberg nennt einige „grundlegende Prinzipien der Relationierung“ (ebd.: 120-129), welche die Hypothesenbildung des Lesers, also sein Rezeptionsverhalten beeinflussen52. Die Einzelelemente stehen in zeitlichen, räumlichen, thematischen beziehungsweise biografischen, kausalen und motivischen Beziehungen zueinander, wobei einzelne Relationsarten je nach Text vorherrschend sein können.53 Die Makrostrukturen haben oft gattungstypische Ausprägungen. So werden in Bezug auf die zeitliche Relation bei Kriminalromanen beispielsweise Prolepsen zur Spannungssteigerung eingesetzt, während der dominante Zeitbezug meist in die Vergangenheit gerichtet ist, da es um die Aufklärung eines bereits verübten Verbrechens geht. Aus diesen Relationsarten abstrahiert Gutenberg verschiedene Konfigurationstypen, die jedoch jeweils ein vielfältiges Bedeutungspotenzial beinhalten. Die ‚Linearität‘ beschreibt die Abfolge der Ereignisse, die mehr oder weniger stark kausal bedingt sein kann (vgl. ebd.: 130f.). ‚Stasis‘ bezeichnet „den Stillstand oder die Stockung der Ereigniskette“ (ebd.: 131) und tritt beispielsweise bei Beschreibungen auf oder in Romanen, die auf innere Vorgänge fokussieren. Plots können zudem zu einer geschlossenen Form tendieren (vgl. ebd.: 133), die linear oder zirkulär gestaltet sein kann und die als teleologisch zu bezeichnen ist, wenn nicht nur alle Hypothesen widerlegt beziehungsweise bestätigt wurden und Kausalzusammenhänge dominieren, sondern der Schluss eine stark strukturierende Funktion einnimmt, welche die Zielgerichtetheit offenbart (vgl. ebd.: 134). Die offene Form stellt dagegen die Rezeptionsleistung des Lesers in den Vordergrund, dem keine Elemente präsentiert werden, die eine „endgültige Sinnstiftung“ möglich machen würden (vgl. ebd.: 137). Zu nennen ist weiterhin eine 52 Siehe hierzu Kapitel 2.5 der vorliegenden Untersuchung. 53 Die Notwendigkeit einer stark ausgeprägten thematischen Relation sieht Gutenberg beispielsweise bei Texten, die mit einem großen Figureninventar aufwarten. Eine andere Möglichkeit der Kohärenzstiftung sind räumliche Relationen, die einen Zusammenhang herstellen oder Kontraste beziehungsweise Korrespondenzen deutlich machen.

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Wiederholungsstruktur, wie sie beispielsweise bei Märchen oder bei Romanen mit multiplen internen Fokalisierungen zu finden ist. Hervorzuheben ist in diesem Rahmen der Konfigurationstyp der ‚Dialogizität‘54 als „intratextuelle Verarbeitung des Spannungsfeldes zwischen Prätext“ (ebd.: 142) und Text zweiten Grades, denn dieser stellt die grundlegende Plotkonfiguration der récriture-Texte dar. Weitere Konfigurations- beziehungsweise Gestaltungstypen sind die ‚Simultaneität‘, Eingriffe der Erzählinstanz zur Rezeptionslenkung und Spannungserzeugung und die „Metafiktion als Mittel der Illusionsstörung“ (ebd.: 151). Auch wenn kritisch angemerkt werden kann, dass Strategien wie illusionsstörende Eingriffe weniger Konfigurationstypen als kombinierbare Strukturelemente darstellen, bietet die Aufzählung der Konfigurationsmöglichkeiten einen Einblick in die vielfältigen Transformationen, die ein récriture-Roman auf der Konfigurationsebene durchführen kann. Dabei stellt die Dialogizitäts-Makrostruktur die Basis jedes récriture-Romans dar, basiert er doch auf der Integration eines Prätextes in ein neues Erzähluniversum. Häufig gehen die Modifikationen auf der Konfigurationsebene mit Änderungen auf der Selektionsebene einher, die sich beispielsweise als Displacement äußern können, erlauben darüber hinaus jedoch auch vielfältige Modifikationen im Zusammenspiel der fiktionalen Welten. So ist es denkbar, den Status eines Erzähluniversums zu verändern und es im Text zweiten Grades beispielsweise zum F-Universum einer Figur zu „degradieren“. Eine andere Möglichkeit wäre, es in eine andere Gattung zu übertragen, die anderen Makrostrukturprinzipien gehorcht. Der dritte Bestandteil der Plotkonstituierung betrifft die „Perspektivierung […] auf der Diskursebene“ (ebd.: 93), womit Gutenberg die erzählerische Vermittlung und dabei insbesondere die Fokalisierung meint (vgl. ebd. 148ff.).55 Darunter fällt die bereits erwähnte unterschiedliche Glaubwürdigkeit verschiedener Erzählinstanzen. In récriture-Texten bietet sich die Möglichkeit, anhand eines Wechsels der Erzählinstanz eine andere Sicht der Dinge zu präsentieren oder Gattungskonventionen offenzulegen, welche die Vermittlung und Rezeption des Prätextes beeinflussen.

54 Der Begriff der ‚Dialogizität‘ ist bei Pfister und Gutenberg kongruent. Beide basieren auf Kristevas Anwendung von Bachtins Konzept der Dialogizität in der Intertextualitätstheorie (vgl. Kristeva 2003). 55 Im Gegensatz zu Nünnings (1995: 53, 73) auf Paul Ricoeurs Konzept der Mimesis 2 basierenden Begriff der Textkonfiguration enthält derjenige Gutenbergs, dem hier gefolgt wird, somit nicht die erzähltechnischen Darstellungsverfahren.

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Entscheidend für das Konzept der récriture ist, dass die Gemeinsamkeiten zwischen Primär- und Sekundärtext beim Leser einen Wiedererkennungseffekt auslösen und er eine lecture palimpsestueuse56 durchführen kann.57 Voraussetzung dafür ist, dass der Leser den Prätext kennt und sein literarisches Vorwissen aktiviert. Intertextualität, und damit auch récriture, spielt sich nicht nur zwischen Texten, sondern vor allem zwischen Leser(n) und Texten ab. Die intertextuellen Markierungen – dies betrifft auch die gehäufte Wiederaufnahme von PlotElementen – sind im Text unabdingbar, doch konstituiert sich Intertextualität als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht, wie von ausschließlich textimmanent verfahrenden Konzeptionen angenommen, im und durch den Text selbst. (Holthuis 1993: 31)

Neuere Erkenntnisse der kognitionspsychologischen Literaturtheorie ermöglichen Einblicke in den Leseprozess fiktionaler Texte, indem sie erklären, dass die entstehenden Anti- beziehungsweise Parallel- und Konkurrenzwelten zum Vergleich mit der durch den Prätext geschaffenen Welt einladen, weil sie auf einer Art Wiedererkennungseffekt aufbauen können.

2.5 R ÉCRITURE ALS REZEPTIONSÄSTHETISCHES P HÄNOMEN : M ENTALE M ODELLE LITERARISCHER F IGUREN ( UND P LOTS ) IN DER KOGNITIVEN N ARRATOLOGIE Die lecture palimpsestueuse eines récriture-Textes beruht auf dem „mentalen Mitlesen“ des Prätextes bei der Lektüre des Romans zweiten Grades, wobei Karlheinz Stierle in seiner Beschreibung der Rezeption intertextueller Phänomene die rein virtuelle Anwesenheit des Prätextes betont:

56 Siehe hierzu Kapitel 2.3.1 der vorliegenden Untersuchung. 57 Dies soll keine normative Aussage darstellen, denn die lecture palimpsestueuse eines récriture-Romans ist keinesfalls die einzig mögliche. Dennoch stellt sie aufgrund der Intertextualitätssignale eine wichtige der oft zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten dar, welche die Lektüre um eine Dimension ergänzt und Aspekte eines Textes erhellen kann (vgl. Hotte 2001: 83).

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Der hereingespielte Text ist […] gar nicht als Text hereingespielt, sondern als Erinnerung an die Lektüre eines Textes, das heißt als angeeigneter, umgesetzter, in Sinn oder Imagination überführter Text. (Stierle 2003: 358)

Stierle verneint somit die Metapher eines Textdialogs bei récriture-Texten mit Verweis auf den unterschiedlichen Status von nur virtuell mitgelesenem Prätext und gerade tatsächlich gelesenem Text zweiten Grades. Dennoch können récriture-Romane einen Dialog zwischen Texten anstoßen, wenn sie das Erzähluniversum des Prätextes mit Hilfe der Integration von F-Universen in den Text zweiten Grades materiell einschreiben, oder über eine hohe Autoreflexivität verfügen und ihren Status als Literatur zweiten Grades thematisieren. Voraussetzung für den Wiedererkennungseffekt, der eine lecture palimpsestueuse auslöst, ist, dass der Sekundärtext Elemente des Primärtextes aufnimmt und in ein neues Erzähluniversum integriert. Die Möglichkeit dieses Übertragungsmechanimus erläutert Doležel folgendermaßen: Literary works are linked not only on the level of texture but also, and no less importantly, on the level of fictional worlds. […] [F]ictional worlds gain a semiotic existence independent of the constructing texture.[…] They move from one fiction maker to another, from one period to another, from one culture to another as extensional entities, while their original texture, style, modes of narration, and authentication have been forgotten. (Doležel 1998: 202)

Nach dieser Argumentation kann sich eine virtuell bestehende „Geschichte in Reinform“58 in unterschiedlichen Ausprägungen neu manifestieren. Die Trennung narrativer Texte in zwei Bestandteile, Inhalt und Darstellung, führten schon die russischen Formalisten zu Analysezwecken mit ihrer Unterscheidung in sjuzhet und fabula durch. Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass die medialen Eigenschaften des vermittelnden Diskurses bedeutungstragend sind, denn auch 58 Die Annahme einer virtuellen „Geschichte in Reinkultur“ ist sehr umstritten. Angezweifelt wird dabei weniger das Modell der Unterscheidung von Geschichts- und Vermittlungsebene zu Analysezwecken „als eigenständige[…] Bedeutungsschicht[en]“ (Martínez/Scheffel 2005: 22), sondern vor allem das Konzept einer Medienunabhängigkeit der Geschichtsebene. Die beiden gegensätzlichen Schulen lassen sich dabei folgendermaßen zusammenfassen: „[E]ither a story can exist independently of any embodiment in any particular signifying system or, in the contrary, it cannot be considered separately from its material mode of mediation.“ (Marcus 1993: 14, zitiert nach Hutcheon 2006: 10)

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innerhalb eines Zeichensystems, der Sprache, kann sich durch die unterschiedliche Konfiguration oder Perspektivierung einer fabula eine Spannung zwischen Inhalts- und Darstellungsebene ergeben. Die fabula ist als Rezeptionsphänomen zu verstehen. Sie bildet eine mentale Rekonstruktion der erzählten Geschichte, die mit Eco gesprochen abhängig von der persönlichen Enzyklopädie für jeden Leser unterschiedlich gestaltet sein kann. Eine récriture ist somit eine transformierende Aktualisierung einer fabula durch einen produktiven Leser – den Autor des Textes zweiten Grades –, die bei ihrer Rezeption wiederum durch einen Filter – denjenigen des Lesers des Textes zweiten Grades – gebrochen wird. Dies gilt es zu beachten, wenn die Beziehung zwischen zwei fiktionalen Universen, die durch die Kombination von Elementen des Prätextes und ihre Eingliederung in ein neues fiktionales Weltensystem entstanden ist, untersucht werden soll. Die kognitive Narratologie hat Modelle entwickelt, um die Faktoren beschreiben zu können, welche einen derartigen Rezeptionsprozess beeinflussen. Die kognitive Narratologie (vgl. Zerweck 2002) vereint Erkenntnisse der Rezeptionsästhetik und der Erzähltheorie mit empirischen Forschungsansätzen wie Schematheorie, Kognitionspsychologie und Linguistik (vgl. ebd.: 219), um die Frage zu klären, „wie sich die Bedeutung literarischer Phänomene im Prozeß der Rezeption konstituiert“ (ebd.: 220). Die Lektüre äußert sich als Interaktion der im Text vorhandenen Informationen und dem Vorwissen der Leser: „Der Leseprozess wird als die Konstruktion und Projektion eines Systems von Hypothesen und Schemata59 (frames) verstanden, über welches sich die potentielle Bedeutung textueller Signale erschließt.“ (Ebd.: 221, Hervorhebung im Original). Die schemageleitete, „einfache“ Lektüre basiert dabei sowohl auf Erfahrungen aus der außersprachlichen Wirklichkeit (real-world frames) als auch auf den Kenntnissen literarischer Konventionen (literary frames). Dieser Mechanismus wird bei der Produktion narrativer Texte berücksichtigt und bezieht sich nicht nur auf schriftliches Erzählen.60 Wie Ryan

59 Zur Bildung und Funktion von Schemata beziehungsweise frames, siehe zum Beispiel Minsky 1979 und Kölbl/Straub 2001. Zur literaturwissenschaftlichen Anwendung, siehe zum Beispiel Perry 1979, Jahn 1997 sowie zur Funktionalisierung in der pragmatischen Narratologie Strasen 2002. 60 So stellt Peter Wuss in Bezug auf filmische Erzählung fest: „Jede Filmgeschichte nutzt ein Erwartungsmuster statistischer Art beim Rezipienten, das Antizipationen ermöglicht, Hypothesen über das mehr oder weniger wahrscheinliche Eintreffen der kommenden Ereignisse.“ (Wuss 1992: 26)

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mit ihrer Anpassung des Konzepts der minimal departure61 für Texte zweiten Grades andeutet, stützt sich die Lektüre eines récriture-Textes vor allem auf literarische Schemata, die durch die Lektüre des Prätextes erzeugt wurden. Im Rahmen der verschiedenen intertextuellen Markierungen ist ein sehr wichtiges Wiedererkennungsmerkmal zur Aktivierung dieses literarischen Vorwissens innerhalb des Erzähluniversums die literarische Figur, denn: les personnages jouent un rôle évidemment essentiel dans tout récit, étant par définition associés à tout représentation d’action et un des principaux foyers de l’attention du lecteur. (Gervais 1993: 98)

In Bezug auf eine mögliche Übertragbarkeit literarischer Figuren in andere fiktionale Welten, also ihre Existenz außerhalb des Textes, in dem sie „beheimatet“ sind und geschaffen wurden, besteht allerdings Uneinigkeit. Wolfgang Müller streitet eine Identität derartiger crossover characters ab, denn ontologisch und ästhetisch gesehen sei es unmöglich, dass identische Figuren in literarischen Werken verschiedener Autoren vorkämen: For if we do not simplistically regard a fictional character as a mere sum of qualities (character traits), but, rather, understand it as a constituent of an artistic whole, related to a plot and part of a constellation of characters, we realize that it cannot reappear in its identical form in another author’s work. (Müller 1991: 107)

Müller vertritt ein dem Strukturalismus geschuldetes Figurenkonzept, das Charaktere als Textstrukturen sieht und die Rezeptionsleistung des Lesers nicht in seine Analyse einbezieht. Er steht für eine Extremposition in der kontrovers geführten Debatte über die Möglichkeit der Textwelten überschreitenden Identität von Figuren (vgl. dazu Saint-Gelais 2007: 7). Die entgegengesetzte Position verteidigt beispielsweise Brian McHale, der durchaus die Möglichkeit einer „transworld identity” (McHale 1987: 36) einräumt, wobei er mit Bezug auf Eco von einer Welten überschreitenden Identität eine bloße Homonymie wiederkehrender Charaktere unterscheidet. Kriterien für eine Welten überschreitende Identität (nicht: eine absolute Identität) sind nach Eco, dass nur eine „potentielle Variante“ (Eco 1987: 179, Hervorhebung im Original) pro Welt zur Verfügung steht und die beiden Einheiten sich nicht in essentiellen Eigenschaften unterscheiden,

61 Siehe hierzu Kapitel 2.4.1 der vorliegenden Untersuchung.

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während akzidentelle Eigenschaften durchaus differieren können62 (vgl. ebd.: 180). Homonyme Charaktere beziehen sich nun nicht auf eine literarische Figur aus einem bestimmten Text, sondern auf ein im Allgemeinwissen verankertes Bild dieser Figur, und können daher durchaus auch in essentiellen Eigenschaften differieren (vgl. McHale 1987: 36). Der Eindruck einer Identität von literarischen Figuren ist somit auf der Ebene der Rezeption anzusiedeln, bildet er sich doch durch den mentalen Abgleich der Charaktere aus dem Prätext und denjenigen aus dem Text zweiten Grades. Dennoch ist eine Präzisierung nötig, denn gerade in récriture-Texten, die gleichnamige Figuren mit divergierenden essentiellen Eigenschaften beinhalten, scheint es angemessen, mit Daniel Aranda eine Unterscheidung zu treffen: Il faudrait selon nous distinguer l’identité intellectuelle d’un objet de fiction de son identité diégétique. On peut parler des Robinson de Defoe et de Tournier comme d’un même personnage en tant qu’archétype littéraire mais non comme d’un même personnage en tant qu’entité fictionnelle. (Aranda 2007: 269, Hervorhebung v. MK)

Aranda betont den besonderen Status der literarischen Figur, die zwar einerseits vom Leser als Persönlichkeit mit bestimmbaren Charaktereigenschaften wahrgenommen werden kann, indem sie Eingang in ein allgemeines enzyklopädisches Repertoire gefunden hat (identité intellectuelle), trotzdem aber nur ein Element eines bestimmten fiktionalen Universums ist und nur durch dieses aktualisiert wird (identité diégétique). In der vorliegenden Arbeit wird diese Differenzierung übernommen, da sie eine nützliche Unterscheidung der literarischen Figur in eine produktions- und eine rezeptionsästhetische Identitätskomponente erlaubt, welche durchaus divergieren können. Darüber hinaus verweist Lucie Hotte darauf, dass eine literarische Figur sich nicht als Bedeutungseinheit en bloc präsentiert, sondern ihre Merkmale erst im Laufe der Entwicklung der Erzählung entfaltet. Ihr erstes Identifikationsmerkmal stellt dabei ein Eigenname dar, der vom kompletten Namen mit Familiennamen zur Kondensierung auf die Initialen variiert werden kann. Zudem können auch sonstige Bezeichnungen mit Bezug auf Charaktereigenschaften, Aussehen oder 62 Zur Unterscheidung zwischen essentiellen und akzidentellen Eigenschaften, siehe Eco 1987: 177-181. Eco argumentiert mit dem Kontext, also der jeweiligen erzählten Welt, die über die Relevanz bestimme: „Sagen wir also, daß wir bei der Beschreibung eines Individuums in einer textuellen Welt daran interessiert sind, jene zu privilegieren, die für die Zwecke des Topic essentiell sind.“ (Ebd.: 177, Hervorhebung im Original)

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Stellung innerhalb der Figurenkonstellation als Identifikationsmerkmale einer Figur dienen (vgl. Hotte 2001: 46). Diese Minimalinformationen werden durch die Worte und Gedanken sowie die Interaktion der Figur mit anderen Charakteren und „characterization statements“ (Margolin 1983: 7f.), also charakterisierende Aussagen der Erzählinstanz oder anderer Figuren während des Lektüreprozesses ergänzt. Dabei unterscheidet Margolin zwischen den Aktivitäten der characterization und des character building, wobei ersteres dem Sammlungsprozess von Informationen entspricht, die der Leser während der Lektüre dem Text entnehmen kann. Letzteres beinhaltet dagegen die Konfrontation und Hierarchisierung der gewonnen Erkenntnisse und die Interrelation der Eigenschaften innerhalb einer stabilen Einheit, der literarischen Figur (vgl. ebd.: 4). Die Ausprägung der literarischen Figur als Einheit hängt jedoch von weiteren Faktoren ab, denn die aus dem Text gewonnen Informationen können nicht nur untereinander abgeglichen werden, sondern müssen sowohl mit dem textuellen Kontext als auch mit der Enzyklopädie, die unter anderem das literarische Vorwissen des Lesers umfasst, auf ihre Kohärenz überprüft werden (vgl. Hotte 2001: 49). Wie Hotte anhand der Lektürewahl literarischer Figuren aufzeigt, können sich auf der Textebene dabei Korrespondenz- und Kontrastrelationen ergeben, welche die Figuren nach Pfister (2001: 263) implizit-auktorial charakterisieren und ihre Entwicklung veranschaulichen. Insgesamt stellt eine literarische Figur ein dynamisches mentales Modell dar, das der Leser im Laufe des Lektüreprozesses durch eine Kombination von Textund Gedächtnisquellen aufstellt und immer wieder aktualisiert (vgl. Schneider 2001: 608). Dabei ergeben sich zwei verschiedene Prinzipien zur Formierung des mentalen Modells. Wenn ein Rezipient in der Lage ist, die Informationen aus dem Text mit einer im Langzeitgedächtnis gespeicherten Struktur sozialen und kulturellen Wissens in Verbindung zu bringen, findet ein top-down processing statt und die Wahrnehmung der literarischen Figur gestaltet sich als categorization (vgl. ebd.: 617), somit also als Angleichung an ein bereits bestehendes mentales Modell. Falls sich Informationen ergeben, die der Kategorie, in welche die literarische Figur eingepasst wurde, widersprechen, wird das mentale Modell der Figur von der bisherigen Kategorie befreit, was Schneider mit dem Prozess der individuation bezeichnet (vgl. ebd.). Den umgekehrten Weg zur Konstruktion eines mentalen Modells einer literarischen Figur bezeichnet Schneider mit Brewer als personalization. Auf dieses Verfahren wird rekurriert, wenn keine passende Kategorie zur Verfügung steht, in welche die Informationen über die literarische Figur eingepasst werden könnten. Während die personalization als Form des bottom-up processing das Ergänzen von Informationen erlaubt, da die literarische Figur zunächst nur als vages Modell entsteht, ermöglicht die catego-

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rization relativ rasch die Bildung eines ganzheitlichen mentalen Modells, von dem aus Erwartungen, Hypothesen sowie Erklärungsansätze für das Verhalten der literarischen Figur generiert werden können (vgl. ebd.: 619). Bei récriture-Romanen sind die Prozesse der Charakterisierung und des Charakterformens zudem abhängig von der Kenntnis des spezifischen Prätextes und damit vom literarischen Wissen, das einen Teil der Enzyklopädie des Rezipienten darstellt. Eine lecture palimpsestueuse kann nur stattfinden, wenn der Leser mit dem Prätext, dessen Präsenz der Text zweiten Grades kommuniziert, vertraut ist. Indirekt kann der Vergleichsmechanismus ausgelöst werden, wenn der Text zweiten Grades selbst diese Informationen hereinspielt – etwa mit Hilfe einer Leserfigur, die innerhalb des Textes zweiten Grades Figuren des Prätextes charakterisiert. Da in récriture-Romanen meistens nicht nur die Protagonisten, sondern auch andere Figuren durch Namen identifizierbar sind, wird hier zunächst ein topdown-Vergleich ausgelöst – ein mentales Modell der jeweiligen Figur ist bereits vorhanden. Es handelt sich hierbei um eine Sonderform der Kategorisierung durch literarisches Vorwissen, da nicht nur ein Figurentyp aus einer Gattung abgeglichen wird, sondern zunächst von einer Identität mit dem Alter Ego oder zumindest einer Entsprechung ausgegangen wird, die sich sowohl auf Charaktereigenschaften als auch auf Plotfunktionen bezieht. Die Kategorisierung wird demnach auf mentale Modelle einzelner Figuren, nicht auf eine Gruppe von Figuren angewendet. In Bezug auf die Figuren gilt, dass der Leser nach der literary categorization die Informationen aus dem Leseprozess automatisch ständig mit denjenigen aus seiner Enzyklopädie, seinen literarischen frames abgleicht. Tauchen Informationen auf, die den Definitionskriterien der Kategorie widersprechen, ist der Leser zur decategorization gezwungen, das heißt er muss entweder seine erste Einpassung aufgeben oder in Bezug auf den Text zweiten Grades ganz auf eine Kategorisierung der Figur verzichten (vgl. ebd.: 624), also davon ausgehen, dass keine weltenüberschreitende Identität besteht. Müssen nur einige weniger bedeutsame Aspekte des Modells revidiert werden, kann eventuell eine individuation durchgeführt werden, welche die bisherige Kategorisierung nicht in Frage stellt (vgl. ebd.: 623). Dieser Befund stimmt mit Audets Quasi-Identität literarischer Figuren überein (vgl. Audet 2000: 100), bei der aufgrund eines Informationsmangels beziehungsweise einer unzuverlässigen Erzählinstanz keine eindeutige Aussage über Identität oder Nicht-Identität gemacht werden kann. Im Falle einer davon zu unterscheidenden Pseudo-Identität werden anfänglich übereinstimmende Signale schließlich durch widersprüchliche Informationen entwertet, wenn sich beispielsweise herausstellt, dass eine Figur, die im Text zweiten Grades den glei-

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chen Namen trägt wie ihre Entsprechung im Prätext, völlig andere Charaktereigenschaften besitzt (vgl. ebd.: 99). Wenn die Kategorisierung relativiert werden muss, ist die Folge eine höhere Aufmerksamkeit des Lesers gegenüber dem Zustandekommen seiner Eindrücke über eine literarische Figur sein. Im Falle eines récriture-Romanes wirkt sich das Bewusstsein über die Notwendigkeit von Anpassungsmechanismen metatextuell aus. So wirft die Reflexion über das mentale Modell einer literarischen Figur ihren Schatten auch auf die Vorgängerfigur und legt wiederum Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften dieser bloß. Das metatextuelle Potenzial, das bei der lecture palimpsestueuse aktualisiert werden kann, gilt nicht nur für die Charaktere, sondern für das Erzähluniversum und den Plot insgesamt, der mit Ryan und Gutenberg als Ergebnis des dynamischen Spiels der Figurenentscheidungen und -handlungen zu sehen ist. Unweigerlich werden somit das mentale Modell des Ausgangsplots und seine Entfaltung mit dem vorliegenden Text abgeglichen. Dabei kann sich nach Audet ein Effekt der réticulation ergeben, bei dem der Leser disparater Texte den Eindruck hat, dass sie Gemeinsamkeiten aufweisen und miteinander in Beziehung zu stellen sind, also ein komplexes Netzwerk bilden (vgl. Audet 2000: 73). Durch sogenannte ‚serielle Signifikanten‘, ein Konzept, das Audet von Bruno Monfort (1995) übernimmt, kann sogar bei diskontinuierlichen Texten – Audet bezieht sich vornehmlich auf Kurzgeschichtensammlungen – beim Leser der Eindruck einer Kontinuität entstehen. Dieser kann so weit gehen, dass der Leser die einzelnen Texte als Zustände eines einzigen Erzähluniversums wahrnimmt, das zwar in unterschiedlichen, aber kompatiblen Stadien präsentiert wird (vgl. ebd.: 93). Auch hier können im Laufe der Lektüre auftretende Elemente den Eindruck einer Identität des Erzähluniversums revidieren, wobei wieder zwischen einer Quasi- und einer Pseudo-Identität zu unterscheiden ist. Bei der Lektüre eines Romans zweiten Grades kann somit die eingangs angeführte Hypothesenbildung verstärkt und die Rezeption in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Dies kann generell entweder in einen Informationsvorsprung des Lesers münden und sich zum Teil als dramatische Ironie äußern (vgl. Gutenberg 2000: 117) oder – bei einem anders verlaufenden Plot – auf die unterliegenden Wirkmechanismen aufmerksam machen. Diese metatextuelle Komponente ist eines der Merkmale, das die récriture von anderen Spielarten der Literatur zweiten Grades unterscheidet, zu denen sie im Folgenden in Bezug gesetzt wird.

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2.6 R ÉCRITURE UND ANDERE S PIELARTEN L ITERATUR ZWEITEN G RADES

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Die récriture lässt sich nach diesen definitorischen Vorüberlegungen auf der Produktions- und der Rezeptionsebene von anderen Formen der Literatur zweiten Grades unterscheiden. Ziel der folgenden terminologischen Systematisierung ist es, die récriture von den wichtigsten verwandten Formen abzugrenzen beziehungsweise sie mit ihnen in Bezug zu setzen und dadurch eine weitergehende Begriffsschärfung zu erreichen. Stellvertretend für die Fülle von Ausprägungen der Literatur zweiten Grades, die mit Hilfe von Genettes Palimpsestes angedeutet wurden, werden im Folgenden der Übersichtlichkeit halber nur Formen berücksichtigt, die wie die récriture über verschiedene Mechanismen den Vergleich mit dem Prätext herausfordern und somit eine Schnittmenge mit der hier untersuchten Textstrategie aufweisen. Formen der Wiederaufnahme, die in dominant ersetzendem Verhältnis zum Prätext stehen, sind weniger problematisch.63 Sehr klar kann beispielsweise die Variante, verstanden als verschiedene

63 Eine Form der Literatur zweiten Grades mit dominant ersetzender Funktion, die aufgrund der mehrdeutigen Begriffsnutzung einer genaueren Abgrenzung bedarf, ist die Übersetzung. Wie bereits erwähnt sieht Genette (1982) die Übersetzung als eine formale Transposition und grenzt sie folglich in seiner Studie zu Hypertextualität nicht von récriture-Formen ab. Auf der Produktionsebene gestaltet sich die Übersetzung ähnlich wie die récriture als produktive Lektüre und somit als Verstehen und Interpretieren eines Textes, so der Eintrag im Dictionnaire du littéraire (vgl. Jackson/D’Hulst 2002: 601). Daher zählt auch Lefevere die Übersetzung zu récriture-Formen: „Translation is, of course, a rewriting of an original text“ (Lefevere 1992: vii), was von Moraru kritisiert wird: „However, I have reservations on his practically wiping out the distinction between translation as normally involving the restitution of a foreign language original and rewriting as fictional replica” (Moraru 2001: 11). Um einem Verwischen dieser Grenze entgegenzuwirken, verweist er auf George Steiners Unterscheidung in „literal rewording”, „Umdichtung“ und „reprise” (ebd.). Dabei geht Moraru nicht darauf ein, dass Steiner einen sehr weit gefassten Begriff der Übersetzung favorisiert, die basierend auf dem Zeichenbegriff von Peirce nicht nur die récriture, sondern die Gesamtheit semantischer Kommunikation beinhaltet (vgl. Steiner 1992: 293): „Translation, therefore is the perpetual, inescapable condition of signification.“ (Ebd.: 274) Doch auch eine reine Übertragung in eine andere Sprache – die Übersetzung im engeren Sinn – ist nicht ohne semantische Verschiebungen, ohne Ersetzungen („substitutions”) zu bewerkstelligen, wie schon der berühmte Aphorismus vom verräterischen

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Produktionsstadien eines Textes oder unterschiedliche Ausgaben eines Werkes (vgl. Cerquiglini/Collet 2002: 617), der réécriture zugeordnet werden. Im Bereich der Spielarten mit dominant verweisender Bezugsrelation, welche die récriture kennzeichnet, werden im Folgenden das Pastiche, die Parodie, die Adaptation und die Transfiktionalität genauer betrachtet. 2.6.1 Das Pastiche Das Pastiche stammt eigentlich aus dem Bereich der Malerei und hat sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts neben der Parodie im Bereich der Literatur etabliert (vgl. Aron 2002a: 426). Die Schwierigkeit einer eindeutigen Definition liegt zum einen in der sich wandelnden Bedeutung des Parodiebegriffs, der oft in einem Atemzug mit dem Pastiche genannt wird. So merkt Genette an, dass die Parodie im modernen Wortsinn als satirisches Pastiche aufgefasst werde (vgl. 1982: 162). Dennoch grenzt Genette die beiden Begriffe streng voneinander ab, indem er das Pastiche als spielerische Imitation eines Stils definiert. Im Gegensatz zur Parodie, die auf Transformationsprozessen beruhe und sich nur auf ein Einzelwerk beziehen könne, gäbe es nur Gattungs- oder Genre-Pastiches (vgl. ebd.: 92). Im Dictionnaire du littéraire wird darauf verwiesen, dass das Pastiche untrennbar mit dem Aufkommen literarischer Strömungen beziehungweise verschiedener Stile verbunden ist, anhand derer Autoren oder Autorengruppen ihre Position im literarischen Feld behaupten: „Le pastiche devient le signe de la

Übersetzer, dem traduttore traditore besagt. Doch wird diese Sinnverschiebung dem Rezipienten des übersetzten Werkes nicht unbedingt klar. Der wichtigste Unterschied zur récriture besteht in der Tatsache, dass sich die Übersetzung an die Stelle des Textes in der Originalsprache stellt und diesen somit „ersetzt“. Das bedeutendste Distinktionsmerkmal zur récriture besteht nicht in der semantischen Verschiebung, die jede Wiederholung mit sich bringt, sondern hinsichtlich der Rezeption. Eine Übersetzung wird üblicherweise nicht als Text zweiten Grades gesehen, das heißt sie fordert keine lecture palimpsestueuse heraus, da dem Leser im Normalfall die Originalversion nicht bekannt ist. Die Übertragung in eine andere Sprache, einen anderen Code, stellt somit eher eine Form der réécriture dar. Auch wenn ethnographisch orientierte Übersetzungen ihren Fremdheitscharakter betonen, also ein gewisses Maß an Referentialität und Kommunikativität besitzen und sich als Text zweiten Grades bloßstellen, werden sie doch im Normalfall nicht auf der Folie eines anderen Werkes gelesen. Somit ist die Übersetzung in Bezug auf die Produktionsebene zwar eine Form der littérature seconde, wird jedoch im Normalfall nicht als solche rezipiert.

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maîtrise du pasticheur de ce code particulier au sein du code littéraire en général.“ (Aron 2002a: 426) Paul Aron betont zudem die größere Reichweite des Pastiche gegenüber der Parodie, die eine intime Kenntnis des Originalwerks voraussetze. Das Pastiche öffne sich im Gegensatz dazu einem breiteren Publikum: [Le pastiche] s’ouvre à un large public qui se contente des effets comiques ou satiriques produits par une transposition approximative des références ou par une représentation des effets les plus extérieurs de codes. (Ebd.)

Die geringe Selektivität des Pastiche und das Vernachlässigen von inhaltlichen Aspekten zugunsten einer Stilimitation, in der die Definitionen übereinstimmen, fungieren als Distinktionsmerkmale zur récriture. Dennoch stellt das Pastiche eine Schreibstrategie dar, die récriture-Romane durchaus beinhalten können. 2.6.2 Die Parodie Bereits mehrmals wurde im Zuge der Präsentation verschiedenerInter-textualitätsansätze die Parodie genannt. Die meisten gängigen Nachschlagewerke definieren die Parodie im Hinblick auf ihren humoristischen oder satirischen Umgang mit einem Prätext, der im Zuge der Parodisierung abgewertet werde,64 so Arons Definition im Dictionnaire du littéraire: La parodie est l’imitation d’un modèle détourné de son sens initial et, plus généralement, une transformation de texte(s), à des fins généralement comiques ou satiriques. (Aron 2002: 422)

Genette behält diese Funktion der Parodie bei, wenn er sie als eine Form der Hypertextualität dem „régime ludique“ (Genette 1982: 33) zuordnet. Seine Definition der Parodie als „détournement du texte à transformation minimale“ (ebd.) bezieht sich ausschließlich auf kurze Texte und beinhaltet vor allem Sprachspiele im Sinne des OuLiPo (Ouvroir de littérature potentielle). Die Parodie ist für Genette somit kein literarisches Genre, sondern eine Strategie. Als rhetorische Strategie definiert auch Henry Louis Gates Jr. die Parodie, die er als kritisch motivierte Form des Signifyin(g) charakterisiert, als „repetition motivated to underscore irony“ (Gates 1988: 66). Er unterstreicht also neben 64 So zum Beispiel Frank Wünsch, der die Parodie definiert als „ein[en] Text, der einen anderen Text dergestalt verzerrend imitiert, daß eine gegen diese Vorlage gerichtete komische Wirkung entsteht“ (Wünsch 1999: 13).

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dem rhetorischen den kritisch-kreativen Aspekt. Gates definiert in seiner Studie The Signifying Monkey. A Theory of African-American Literary Criticism das Konzept des Signifyin(g) als komplexes System rhetorischer Strategien, das sich vor allem im Gebrauch von Sprache im übertragenen Sinn äußere (vgl. ebd.: 85). Ausgehend von seiner Analyse von Ishmael Reeds Roman Mumbo Jumbo wird Signifyin(g) als „ [r]epeating received tropes and narrative strategies with a difference“ (ebd. 217) beschrieben und als Definitionsmerkmal afroamerikanischer Literatur präsentiert, die ständig die Texte der (schwarzen) Literaturgeschichte wieder- und neuschreibe.65 Die Betonung liegt also auf dem eine Entwicklung fördernden kreativen Potenzial. Signifyin(g) könnte somit als Form der Intertextualität bezeichnet werden, die sich mit Pfister durch eine besonders hohe Dialogizität auszeichnet: „The black tradition is double-voiced.“ (Ebd.: xxv). Die Vielzahl von Konzepten, die eine Definition des Terminus ‚Parodie‘ erschweren, nimmt Martin Kuester zum Anlass für eine systematische Aufarbeitung des Begriffs. Er präsentiert die in unterschiedlichen Epochen vorherrschenden Parodie-Konzepte, wobei sich die Definitionsansätze oft hinsichtlich der Natur der Parodie widersprechen. Wie gezeigt, wird die Parodie zum Teil als niederes, humoristisches Genre, zum Teil als Darstellungsverfahren oder auch als Mittel zur literarischen Entwicklung beziehungsweise Konservation verstanden, wobei Kuester herausarbeitet, dass der Begriff seit zwei- bis dreihundert Jahren vornehmlich mit der erstgenannten Bedeutung konnotiert werde. Für seine Definition der Parodie orientiert er sich an einem strategischen Parodie-Begriff, also der dritten Bedeutung. In Anlehnung an Linda Hutcheon, welche die Parodie im Kontext einer postmodernen Neubelebung der Vergangenheit sieht, entwirft er ein Modell der Parodie als Schreibstrategie, hebt jedoch die Neutralität der kritischen Distanz, die Hutcheons Ansatz auszeichnet, für seine Definition einer progressiven Parodie auf: Progessive parody […] is a mechanism of literary reception and adaptation of traditional texts used by writers who feel themselves to be in a situation in which the old text cannot or should not be seen – at least not exclusively – in the generally accepted way any longer. (Kuester 1981: 22)

Linda Hutcheon geht ebenso davon aus, dass es keine überzeitliche Definition der Parodie geben könne und sieht für die Postmoderne einen strukturellen Gebrauch der Ironie als Merkmal der Parodie: „Parody then in its ironic ‚transcontextualization‘ and inversion, is repetition with difference.“ (Hutcheon 1985: 65 Siehe hierzu auch Moraru 2001: 87-111.

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32) Hutcheons Definition der Parodie deckt sich mit Genettes Konzept einer Transposition, wobei sie sich nicht auf einen dominierenden Prätext beschränkt und sich auf pragmatische Aspekte konzentriert, somit den metatextuellen Aspekt hervorhebt: According to Gilles Deleuze, repetition is always by nature transgression. […] Yet parody, while often subversive, can also be conservative; in fact, parody is by nature, paradoxically, an authorized transgression. (Ebd.: 101)

Hutcheons Charakterisierung der Parodie als „repetition with critical distance“ (Hutcheon 1985: 6), die durchaus auch ihren Prätext bestätigen könne, entspricht dem Dialogizitätskonzept Pfisters in dem Sinne, dass beide Ansätze die kritische Distanz neutral als Bedeutungserweiterung beziehungsweise -verschiebung ansehen und das Oszillieren zwischen Anknüpfung und Distanznahme in den Vordergrund stellen. Auch Cowart betont in seiner Studie zur „literarischen Symbiose“, dass eine Parodie ihren Prätext nicht unbedingt abwerten wolle: „Yet the target of parody seldom, in fact, suffers damage, and for that matter, not every parodist intends disparagement.“ (Cowart 1993: 5) Insgesamt deckt sich Hutcheons Verständnis der Parodie mit dem hier vorgeschlagenen Konzept der récriture insofern, als dass die Intention der kommunizierten Wiederaufnahme eines Textes nicht festgelegt ist. Kuester fasst dagegen den rein subversiv ausgerichteten Fall einer récriture unter seine ParodieDefinition, welchen Moraru, wie gesehen, mit dem Begriff der extensities66 fasst. Da der Parodie-Begriff jedoch, wie oben gezeigt, meist mit komischen oder satirischen Textsorten konnotiert ist, wird in der vorliegenden Studie der noch nicht in dieser Weise vorbelastete récriture-Begriff favorisiert, der zudem den Vorteil bietet, dass er schon vom Wortmaterial her den Wiederholungscharakter und den Bezug auf geschriebene Texte andeutet. Der neutrale Begriff récriture verleitet nicht dazu, das metatextuelle Potenzial nur in der Abwertung des Prätextes zu suchen. 2.6.3 Die Adaptation Kuester verwendet in seiner bereits erwähnten Definition der Parodie den Begriff Adaptation im Kontext der Aneignung fremder Werke synonym für ‚Anpassung‘. Die meisten Definitionsansätze sehen die Adaptation als eine Übertragung in ein anderes Medium beziehungsweise Zeichensystem: „Conçue au sens 66 Siehe hierzu Kapitel 1.3 der vorliegenden Studie.

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le plus large, l’adaptation est une pratique de transposition d’une œuvre (texte ou image) d’un mode d’expression vers un autre.“ (Mélon 2002: 4) Marc-Emmanuel Mélon weist jedoch darauf hin, dass im Alltagsgebrauch meist auf Romanverfilmungen und Bühneninszenierungen auf der Basis schriftlicher Texte abgezielt wird. Hutcheon will dieser einschränkenden Begriffsverwendung entgegenwirken, indem sie in ihrer Theory of Adaptation (Hutcheon 2006) die Vielfalt von Adaptationsmöglichkeiten im Sinne der ersten Definition nach der Implikation des Rezipienten („modes of engagement“) mit dem Erzählten in „telling“ (schriftliche Erzählungen), „showing“ (Filme, Theater, Oper) und „interacting“ (vor allem Computerspiele) einteilt (vgl. ebd.: 22f.). So gelingt es ihr, die verschiedenen Arten der Immersion, das heißt die Art und Weise, wie der Rezipient mit der erzählten oder dargestellten Welt in Kontakt kommt – durch seine Einbildungskraft im erzählerischen „telling“-Modus, durch visuelle und auditive Sinneseindrücke beim performativen „showing“-Modus und durch physische Beteiligung und Einflussnahme beim „interacting“-Modus – zu illustrieren und das kreative Element zu betonen, das für die erfolgreiche Übertragung in das jeweils andere Zeichensystem vonnöten ist: „[A]s a process of creation, the act of adaptation always involves both (re-)interpretation and then (re-)creation.“ (Ebd.: 8). Insgesamt versteht sie Adaptationen als eine Sonderform der Übersetzung: Adaptations are […] intersemiotic transpositions from one sign system (for example, words) to another (for example, images). This is translation but in a very specific sense: as transmutation or transcoding, that is, as necessarily a recoding into a new set of conventions as well as signs. (Ebd.:16)

Adaptationen zeichnen sich nach Hutcheon dadurch aus, dass sie die Verarbeitung eines wiedererkennbaren Prätextes offenlegen.67 Dadurch unterscheiden sie sich laut Hutcheon von Parodien. Im Gegensatz zu Parodien, deren Status als Literatur zweiten Grades sich einem Rezipienten mit fehlender Interpretationskompetenz nicht unbedingt erschließen müsse (vgl. Aron 2002: 423), enthüllen Adaptationen explizit ihre Quelle. Dabei ähnelt die Adaptation dahingehend der Übersetzung, dass die Aneignungsbewegung eine Übertragung in ein anderes Zeichensystem beinhaltet und gleichzeitig die Möglichkeit einer Art lecture palimpsestueuse eröffnet, welche durch die Aktivierung literarischer frames gelenkt wird. Eine Literaturverfilmung stellt eine produktive Lektüre einer Erzäh67 Adaptation „acknowledges transposition of a recognizable other work or works“ (Hutcheon 2006: 16).

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lung oder eines Romans dar, die Transformationsprozesse beinhalten und mehr oder weniger kreativ und selektiv mit dem „Original“ umgehen kann. Im Gegensatz zur récriture ist jedoch die lecture palimpsestueuse nicht der primäre Modus der Rezeption, die Beziehung zwischen Roman und Literaturverfilmung stellt beispielsweise das andere, konkretere Erleben einer Geschichte in den Vordergrund. Die Transformationen sind oft primär der Übertragung auf das neue Medium mit seinen eigenen Konventionen, Grenzen und Darstellungsmöglichkeiten geschuldet – ein Untersuchungsbereich, der für die einfach codierte récriture keine Rolle spielt. Fruchtbar für die récriture-Analyse scheint jedoch Hutcheons bereits erwähnte Argumentation für die Einbeziehung kontextueller Faktoren, wie sie die ästhetischen und autobiografischen Intentionen der Adaptatoren darstellen (vgl. Hutcheon 2006: 96). Somit liegt die Gemeinsamkeit von récriture und Adaptation in ihrer hohen Strukturalität („an extended intertextual engagement with the adapted work“, ebd.: 8) und Selektivität, wobei die erstere als Wiederholung mit kritischer Distanz von letzterer als „repetition with variation“ (ebd. 116) vor allem durch den fehlenden Medienwechsel abzugrenzen ist, der sich in der etymologischen Herleitung aus écrire andeutet. Konsequenterweise untersucht Linda Hutcheon auch keine Adaptationen innerhalb des „telling“-Modus, in dem sich die récriture ansiedeln würde. Gemeinsam mit dieser ist ihr jedoch, dass sich die Wiederholung auf die Geschichtsebene und ihre Komponenten bezieht und die Kenntnis des Prätextes einen Bedeutungszuwachs bei der Rezeption der Adaptation sowie der récriture generiert. Während Adaptationen die Hauptkonflikte und die Plotentfaltung jedoch meist übernehmen, indem sie sich an der Konfiguration des Originals orientieren und oft einen Eindruck der Identität mit dem Ausgangserzähluniversum anstreben, das in ein anderes Medium transportiert wird, gehen récriture-Texte oft freier mit dem Prätext um.68

68 Dies ist nur als generelle Tendenz zu verstehen. Augenscheinlichstes Gegenbeispiel sind Computerspiele, bei denen die Rezipienten aktiv in die Plotentfaltung eingreifen können.

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2.6.4 Die Transfiktionalität Die Übernahme auf der Geschichtsebene steht im Zentrum von Richard SaintGelais’ Konzept der Transfiktionalität.69 Transfiktionalität als Sonderform der Intertextualität meint in Saint-Gelais’ Verständnis die Relation von Texten auf der Basis einer communauté fictionnelle, das heißt die Zugehörigkeit zum gleichen fiktionalen Universum: [C]onstituent un ensemble transfictionnel, non pas les textes qui mentionnent un personnage comme Sherlock Holmes (notamment les travaux des logiciens qui l’utilisent souvent comme exemple), mais bien les textes où Holmes figure et agit comme personnage. (Saint-Gelais 2001: 45)

Transfiktionalität ist dabei nicht mit Intertextualität gleichzusetzen, denn diese versteht Saint-Gelais als Kontakt zwischen Texten über Methoden wie Zitate, Anspielungen, Pastiche und Parodie, wobei gerade die Distanz, die bei letzterer zum Prätext besteht, ein Unterscheidungsmerkmal zur Transfiktionalität darstelle: „La parodie […] en jouant de la similarité et de la déformation, maintient un écart jamais nul entre les objets fictifs concernés.“ (Ebd.: 62) Sein Ansatz geht somit davon aus, dass sich transfiktionelle Relationen über eine identité intellectuelle ergeben können, die es ermöglicht, dass fiktive Instanzen Fiktionsgrenzen überschreiten. Das Konzept der Transfiktionalität konzentriert sich explizit auf Text-Text-Relationen auf der Ebene des Erzählten, die in den vorherigen Ansätzen weniger im Fokus stand. Saint-Gelaisʼ Postulat einer communauté fictionnelle ist dabei nicht unumstritten. Ausgehend von der Prämisse einer Text-Text-Relation auf Geschichtsebene postuliert Ryan davon abweichende Distinktionsmerkmale, indem sie den Fall einer identischen fiktionalen Welt – Saint-Gelais’ zentrales Merkmal – nicht als Form der Transfiktionalität ansieht. Die Forderung nach nicht identischen Welten untermauert sie mit Bezug auf das Präfix ‚trans‘ in Transfiktionalität: „Le terme trans suggère une relation entre deux mondes et deux textes distincts et précisément délimités.“ (Ryan 2007: 139, Hervorhebung im Original) Vielmehr geht sie von einer Ähnlichkeitsbeziehung aus: „Ces deux textes doivent projeter

69 Das Konzept der Transfiktionalität ist nicht zu verwechseln mit dem Begriff der ‚Transfiktion‘, den Francis Berthelot als Beschreibung für gattungsüberschreitende fiktionale Literatur heranzieht (vgl. zum Berthelot 2005: 19).

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des mondes distincts, mais apparentés l’un à l’autre.“ (Ebd.: 133)70 Um zu zeigen, auf welche Weise die Beziehung zwischen diesen verschiedenen, aber doch ähnlichen Welten ausgestaltet sein kann, greift Ryan auf Doležels Typologisierung der postmodern rewrites71 (Doležel 1998: 206ff.) zurück, die sie als Grundmodi der Transfiktionalität bezeichnet (vgl. Ryan 2007: 133). Das heißt, dass die Transfiktionalität mit Doležels Konzept der rewrites in Einklang gebracht werden kann, wobei Ryan explizit auch makrotextuelle Bezüge gelten lässt, also den Fall, dass ein Autor einen eigenen Text wiederaufnimmt.72 Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zur récriture stellt die Beibehaltung einer fiktionalen Illusion beziehungsweise die Aufrechterhaltung dessen, was Schaeffer (1989: 179-197) als fiktionale Immersion bezeichnet, dar. Daraus ergibt sich, dass die Transfiktionalität ein Konzept ist, das sich nicht mit der metatextuellen Rückwirkung der Wiederaufnahme eines Erzähluniversums befasst. Vielmehr geht es um die produktionsästhetische Analyse der Schaffung einer communauté fictionnelle. Formen der Transposition und Modifikation, die eine ideologische Kritik am Originaltext darstellen, situiert Ryan zwischen Intertextualität und Transfiktionalität (vgl. Ryan 2007: 138).73 Daher müssen Texte mit hoher Autoreflexivität oder Dialogizität im Bereich der Transfiktionalitätsforschung ausgeschlossen werden, steht doch das Andocken an ein bereits bestehendes Erzähluniversum im Vordergrund und nicht die kritische Inszenierung desselben. Genau letzteres realisieren die Formen der récriture, die ihren Status als Text zweiten Grades offenlegen und darüber hinaus auch thematisieren und problematisieren können.74 70 Im Einzelnen geht Ryans Kriterienkatalog von einer Beziehung zwischen verschiedenen Texten aus, die als sich selbst genügende Einheiten definiert werden. Ihr Textbegriff umfasst dabei schriftlich fixierte und in Buchform herausgegebene Texte, die sie unter der Kategorie „littérature livresque“ (Ryan 2007: 132) einordnet und deren Merkmal die Gleichung „un texte, un monde“ (ebd.) ist. 71 Siehe hierzu Kapitel 2.4.2 der vorliegenden Untersuchung. 72 „On pourra considérer comme transfictionnelle la pratique d’un auteur qui récrirait l’un de ses romans, mais placerait l’intrigue dans un nouveau milieu ou qui changerait le destin d’un de ses personnages.“ Als Beispiel nennt sie Marguerite Duras’ L’Amant und L’Amant de chine (Ryan 2007: 135). 73 Dabei charakterisiert sie die Intertextualität als „pratique à l’effet autoréflexif et antiillusionniste“ (Ryan 2007: 137), also nicht als Oberbegriff für Text-Text-Bezüge, wie sie hier verstanden wird, sondern ausschließlich in der intensiven Ausprägung nach Pfister. 74 Hier liegt auch der größte Unterschied zum Plagiat, das seine Quelle geheim hält.

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Als fruchtbar für die vorliegende Arbeit erweist sich im Zusammenhang mit der Transfiktionalität vor allem der Beitrag von René Audet, der Saint-Gelais’ Ansatz der Transfiktionalität als communauté fictionnelle weiterentwickelt. Audet (2007a: 344) unterscheidet die Praxis des „raconter davantage“ von derjenigen des „raconter autrement“. Ersteres bezieht sich auf Fortsetzungen und das Ausfüllen von Ellipsen beziehungsweise Doležels Expansion, wie sie oft in der Literatur- und Filmgeschichte zu finden sind.75 Eine Wiederaufnahme einer bereits erzählten Geschichte kann sich somit auf zwei Arten manifestieren. So unterscheidet Audet „[d]eux modalités de reprise76 distinctes: […] l’une visant à poursuivre, l’autre consistant à reprendre“ (ebd. 342). Bei ersterer wird die bereits bestehende Erzählung fortgeschrieben, wobei eine fiktionale Welt entworfen wird, die mit der vorhergehenden kompatibel oder identisch sein soll. Letztere, die Wiederaufnahme im Sinne des Wiederschreibens, geht mit einer Veränderung des bisherigen fiktionalen Rahmens einher: La reprise viserait plutôt à raconter encore, voire à raconter autrement. Fondée sur une trame narrative grossièrement similaire (mêmes actants, mêmes événements significatifs) […], la reprise appelle un déplacement, une reconstruction de la modélisation fictionnelle, bien qu’à des degrés divers. (Ebd.: 343)

Auch wenn Audet andere Begriffe verwendet, kann auf der Basis seiner Überlegungen die Transfiktionalität als Modus des Fortschreibens von der récriture als Modus des Wiederschreibens unterschieden werden, da Audet nicht nur den Aspekt der Fiktionalität, sondern darüber hinaus den der Narrativität betrachtet. Insgesamt wird der Fiktionsbruch als Merkmal der wiederholenden Wiederaufnahme etabliert: [L]e geste de poursuivre – la transfictionnalité – contraint à trahir le récit originel (en racontant plus avant), mais permet de respecter la fiction; inversement, le geste qui consiste 75 Eine Fortsetzung spielt sich in der gleichen fiktionalen Welt ab, muss aber notwendigerweise die Originalgeschichte ausweiten. So schildert Gabrielle Gourdeaus bereits angeführter Roman Maria Chapdelaine ou le Paradis retrouvé beispielsweise die Geschichte Marias nach der Hochzeit mit Eutrope Gagnon, die am Ende der Handlungskette des Prätextes, Louis Hémons Maria Chapdelaine, noch in der Zukunft liegt. 76 Der Überbegriff „reprise“ im Sinne von Wiederaufnehmen ist hier demnach nicht in der gleichen Bedeutung wie die Unterart des derivaten Verbs „reprendre“ gebraucht, welches das Wiederholungsmoment betont, also das Wieder-Schreiben im Gegensatz zum Fort-Schreiben im Gestus des „poursuivre“.

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à reprendre – la reprise, la réécriture, la variante – respecte le récit (du moins dans ses grandes articulations), alors qu’il est éventuellement amené à trahir la fiction (par une ambiguïté plus ou moins grande de l’identité des mondes fictionnelles). (Ebd.: 344)

Audet fokussiert hier die narrativen Merkmale récit und fiction, wobei erstere die Ereignisfolge beziehungsweise die Plot-Entwicklung zu betreffen scheint, die bei einer Fortsetzung „verraten“ wird, letztere den Status als fiktionales Konstrukt, der durch die Wiederholung bloßgelegt werden kann. Ausgehend von dieser Grundunterscheidung kann eine Präzisierung des récriture-Begriffs durchgeführt werden, denn der Fiktionsbruch kann in récriture-Romanen durchaus unterschiedliche Formen annehmen. So wäre zudem zu unterscheiden, ob die récriture auf der Selektionsebene mit einem identisch erscheinenden Erzähluniversum arbeitet, das mit Hilfe einer divergierenden PlotDynamik einen Widerspruch und somit einen Fiktionsbruch zum Prätext hervorruft, oder ob ein Paralleluniversum entworfen wird, das beispielsweise auf Ähnlichkeitsbeziehungen zurückgreift, jedoch in einem anderen raum-zeitlichen Rahmen angesiedelt ist. Bei einer derartigen Transposition kann bei der Rezeption eine metatextuelle Wirkung entstehen, indem die Aufmerksamkeit des Lesers auf die unterliegenden Mechanismen der Plotentfaltung des Prätextes gelenkt wird. Auch eine récriture, die nur hinsichtlich der Perspektivierung vom Prätext abweicht – wie bei Genettes Transvokalisation oder Transfokalisation77 – kann einen Fiktionsbruch auslösen, indem sie den Fokus auf die Bedeutung der Vermittlungsebene legt, welche die Geschichte präsentiert. Auch wenn der Gegenstand der Transfiktionalitätsforschung, wie gesehen, nicht unumstritten ist, bietet dieser Ansatz den Vorteil, die Inhaltsebene in den Vordergrund des Interesses zu rücken. Die auf der Theorie der möglichen Welten basierenden Ansätze definieren zwar den Aufbau fiktionaler Erzähluniversen sehr viel eingehender, doch bringt Audets Überlegung ein Merkmal der récriture auf den Punkt, das sie von der Transfiktionalität unterscheidet, nämlich den Fiktionsbruch, der notwendigerweise bei der Wiederaufnahme einer Geschichte auftreten muss, und die Voraussetzung dafür ist, dass der récriture-Text eigen- oder fremdmetafiktional fungiert.

77 Siehe hierzu Kapitel 2.3.1 der vorliegenden Untersuchung.

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2.7 D EFINITORISCHES F AZIT 2.7.1 Merkmale der récriture Auf der Basis der theoretischen Überlegungen können im Folgenden im Hinblick auf die anschließende Anwendung die wichtigsten Kennzeichen der récriture zusammengefasst werden: Die Abgrenzung zum Konzept der réécriture, die Beschaffenheit von Primär- und Sekundärtext sowie ihre Beziehung, über die sich die récriture sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch von anderen Formen des Text-Text-Bezugs unterscheiden lässt. Obwohl, wie gezeigt, Uneinigkeit über den Gebrauch der Schreibweisen récriture und réécriture herrscht, wird in der vorliegenden Studie der Neologismus récriture bevorzugt, da réécriture schon in anderen Bereichen (Verlagswesen, Linguistik) etabliert ist. Bei der récriture besteht dagegen ein besonderes Interaktionsverhältnis von Prätext und Text zweiten Grades, da das Ziel der Aneignungsbewegung nicht das Ersetzen des Prätextes ist, wie es bei Übersetzungen oder Varianten der Fall ist, sondern der Vergleich bei der Rezeption, was sich in einem zumindest virtuellen Mitlesen des Prätextes bei der Lektüre des Textes zweiten Grades äußert. Um das Konzept operationalisierbar zu gestalten, wurden definitorische Einschränkungen in Bezug auf die Textpaare vorgenommen: Der Prätext, das „Original“, ist ein publizierter und klar zu definierender narrativer Einzeltext, denn nur so können die verschiedenen Ausprägungen eines Erzähluniversums und seiner dynamischen Entwicklung – mit Gutenberg (2000) verstanden als Ergebnis einer Selektion, Konfigurierung und Perspektivierung – angemessen verglichen werden. Récriture-Texte referieren auf einen dominierenden Referenztext, der sich über das „unendliche[…] Referenzspektrum“ (Holthuis 1993: 19) hinaus, auf das jeder Text laut des universalen Intertextualitätsbegriffs verweist, identifizieren lässt. Ob der Prätext denselben (makrotextuelle récriture) oder einen anderen Urheber (intertextuelle récriture) hat, ist nicht relevant, da die Interaktionsrelation sowohl zwischen Werken eines Autors als auch bei verschiedenen Autoren eintreten kann. Das Wortmaterial des Begriffs récriture verweist zudem auf den Aspekt des Wieder-Schreibens, das heißt auf die schriftliche Form sowohl des Prätextes als auch des Textes zweiten Grades. Somit werden in diesem Zusammenhang intermediale Beziehungen, bei denen sich die Kommunikationssituation in Bezug auf das gebrauchte Zeichensystem ändert, wie dies bei Adaptionen der Fall ist, ausgeschlossen. Dennoch ließe sich das Konzept durchaus auf andere Formen der

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Wiederaufnahme innerhalb des gleichen Mediums wie beispielsweise SpielfilmRemakes übertragen. Zudem scheint der Sekundärcharakter beziehungsweise Aspekt des Antwortens in der etymologischen Herleitung des Begriffs récrire nutzbar zu sein, da er die Interaktion mit der „Originalversion“ betont: Durch die transformierende Wiederaufnahme und ihre Betonung anhand von Intertextualitätssignalen wird zwangsläufig ein Vergleich mit dem Primärtext hergestellt. Somit funktioniert récriture auf der rezeptionsästhetischen Ebene wie andere Formen der Intertextualität – jedoch infolge der hohen Strukturalität in sehr viel umfangreicherem Maße als zum Beispiel bei einem einzelnen Zitat – indem bekannte Schemata aktiviert werden, ein Mechanismus, der mit der Metapher der lecture palimpsestueuse beschrieben werden kann. Die récriture ist mit Riffaterre gesprochen eine obligatorische Form der Intertextualität, die der Leser aufgrund von Spuren im Text zweiten Grades wahrnehmen muss. Diese untilgbare Spur des Prätextes lässt sich in récriture-Texten anhand von Pfisters Kriterien einer hohen Strukturalität, Kommunikativität und Selektivität nachweisen, die dazu führen, dass récriture nicht ausschließlich ein Rezeptionsphänomen ist, sondern immer auch eine textuelle Strategie, die in einer Inszenierung des Prätextes in einem neuen Erzähluniversum mündet. Als produktive Lektüre realisiert sich récriture sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsebene. Auf der produktionsästhetischen Ebene äußert sich récriture als Wiederaufnahme von Teilen eines Erzähluniversums über Gemeinsamkeiten auf der Selektionsebene (Figuren, Figurenkonstellation, Inventar und raum-zeitlicher Rahmen sowie Modalitäten und Ereignisfolge) und legt diese anhand intertextueller Markierungen offen. Auf der rezeptionsästhetischen Ebene werden diese als Quasi-, Pseudo- und als vollkommene Identitäten wahrgenommen. Gerade im Spannungsverhältnis der abgewandelten Wiederaufnahme zum „Original“-Plot – die verschiedenen Aspekte des als interagierendes Weltensystem verstandenen Plots bieten sich wie jeweils angedeutet für Modifikationen an – siedelt sich das metatextuelle Potenzial der récriture an, da sie eine Reflexion über den Grund und die Auswirkung der Umbildungen anregen können. Es konnte gezeigt werden, dass die Possible Worlds-Theory ein sehr ausdifferenziertes Analyseinstrumentarium zum Vergleich der Plots narrativer Texte anbietet. Die Wiederaufnahme weist dabei auf den Aspekt der Wiederholung hin, den schon das Präfix ‚ré-‘ andeutet. Diese Wiederholung gestaltet sich als Inszenierung eines Prätextes, wobei die Ansatzpunkte für eine kreative Verarbeitung vor allem im Bereich der Konfiguration und der Vermittlungsebene zu finden sind, auch wenn zudem bei der Selektion Modifikationen durchgeführt werden kön-

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nen. Die drei Bestandteile der Plotkonstitution bedingen einander, gehen sie doch im Kreations- und Rezeptionsprozess ineinander über. Entscheidend ist jedoch, dass die Gemeinsamkeiten beim Leser einen Wiedererkennungseffekt auslösen und er eine lecture palimpsestueuse durchführen kann. Voraussetzung dafür ist, dass der Leser den Prätext kennt und sein literarisches Vorwissen aktiviert. Somit findet bei der récriture im Gegensatz zur Transfiktionalität immer eine Art fiktionaler Bruch statt, da die entstehenden Erzähluniversen nicht in allen Aspekten identisch sein können – und sei die Bedeutungsverschiebung nur der bewussten Rezeption des Textes als später entstandenem Text zweiten Grades geschuldet. Der Fiktionsbruch zwischen den Erzähluniversen löst die genannte Interaktion aus, die sich als kritische metatextuelle Interaktion mit dem Prätext äußern kann, wenn die récriture ihr subversives Potenzial entfaltet. Auch wenn die Rückwirkung auf den Prätext überwiegen kann, ist diese insgesamt bidirektional zu verstehen. Einerseits führt das virtuelle Mitlesen des Prätextes bei der Lektüre des Textes zweiten Grades dazu, dass den Elementen des manifesten Erzähluniversums Zusatzbedeutungen zugeschrieben werden können. Die verstärkte Hypothesenbildung kann zudem in einer Konzentration auf die Funktionsmechanismen des Erzähluniversums münden oder – bei einer Widerlegung – auf den Prozess der Hypothesenbildung (Eigenmetafiktion). Andererseits können gerade Abweichungen im Text zweiten Grades die Aufmerksamkeit auf unterliegende Strukturprinzipien des Prätextes lenken (Fremdmetafiktion). 2.7.2 Formen der récriture Die vielfältigen Möglichkeiten bei der Inszenierung eines oder von Teilen eines narrativen Prätextes in einem neuen fiktionalen Universum bedingen den Formenreichtum der récriture-Romane. Für die Systematisierung unterschiedlicher récriture-Formen gibt es verschiedene Möglichkeiten. Moraru (2001) wählt die Fokussierung auf das subversive Potenzial der von ihm untersuchten Romane. Diese Schwerpunktsetzung führt allerdings zu einer Vorauswahl (normativ) diskurskritischer Romane und würde nur einen Teilbereich der récriture erfassen. In der vorliegenden Studie wird daher ein übergreifender Ansatz der récriture als Textstrategie favorisiert, der das allgemeine metatextuelle Potenzial in den Vordergrund rückt. Es bietet sich daher an, die récriture nach unterschiedlichen dominanten Plotkonfigurationen zu gliedern, da auf diese Weise die Verortung der récriture-Arbeit und damit der Grad der Selbstreflexivität unterschiedlicher Formen der récriture unterschieden werden können.

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Die folgende Unterscheidung von Erscheinungsformen der récriture ist als eine Ausdifferenzierung von Gutenbergs Dialogizitäts-Makrostruktur zu sehen, welche als „intratextuelle Verarbeitung des Spannungsfeldes zwischen Prätext und dem Intertext“ (Gutenberg 2000: 142) verstanden werden kann. Das von Gutenberg evozierte Spannungsfeld kann sich nun innerhalb verschiedener Unterkonfigurationen entfalten, denn die Relation zwischen den verschiedenen Erzähluniversen, die bei récriture-Romanen erfolgt, kann unterschiedlich ausgestaltet sein. Hintergrund ist die Zweiteilung des Prozesses der récriture, der als produktive Lektüre verstanden wird, da sich die Lektüre des Prätextes mit Hilfe eines Schreibprozesses in Form des récriture-Romans materialisiert. Je nachdem, auf welcher Ebene die einzelnen Prozessbestandteile situiert sind, verändert sich die Stellung des primären Erzähluniversums zum sekundären. Da sich die récriture als produktive Lektüre, wie angedeutet, in einen Lese- und einen Schreibprozess aufspalten lässt, die nacheinander realisiert werden müssen, ergeben sich drei Formen von récriture-Romanen, je nachdem, wie stark der Prozess der récriture, verstanden als Interpretation und (Re-)Kreation eines Prätextes, im Produkt dieser, dem récriture-Roman, widergespiegelt wird. 1) Sind sowohl der Lese- als auch der Schreibprozess außerhalb des Textes zweiten Grades situiert, werden also nur vom realweltlichen Autor realisiert, ergeben sich zwei Erzähluniversen, deren Relation nur über den Rezipienten des Textes zweiten Grades – also wiederum außerhalb des Textes – hergestellt werden kann. Den Figuren ist somit eine Parallelität ihrer Situation zur Geschichte des Prätextes beispielsweise nicht bewusst. Ein metafiktionales Potenzial entsteht, wenn sich beim Abgleich der Erzähluniversen Widersprüche ergeben, die den Fiktionscharakter in den Vordergrund rücken, ein metararratives, wenn Erzählkonventionen fokussiert werden, indem zum Beispiel die Plotkonfiguration oder die Vermittlung auffallend abweichend gestaltet sind. Auch Romane, in denen die Erzählinstanz Kenntnis des Prätextes beweist, beispielsweise mit Hilfe von Anspielungen auf den Prätext, deren Sinn den Figuren jedoch verborgen bleibt, sind dieser Form zuzuordnen, denn auch hier sind Rezeptions- und Kreationsprozess wiederum nicht innerhalb des neuen Erzähluniversums angesiedelt. Denkbar ist diese Unterart bei einer nullfokalisierenden Perspektive der Übersicht beziehungsweise einem auktorialen Erzähler, der die TAW erschafft, in der sich die Figuren bewegen, und einen höheren Wissensstand hat als sie. Die Tatsache, dass die Erzählinstanz ihre Kenntnis des Prätextes bloßlegt, gibt Aufschluss über die Existenz einer narratorial reference world, in der Lese- und Schreibprozess anzusiedeln sind. Sie bilden den Akt der Rezentrierung einer außerhalb des Erzähluniversums angesiedelten Erzählinstanz. Gibt die Erzählinstanz dagegen keine Hinweise auf den Prätext, ist davon auszu-

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gehen, dass die produktive Lektüre allein dem (impliziten) Autor zuzuordnen ist und keinerlei textinterne Entsprechung findet. Möglich ist dies auch bei einer beschränkten Wahrnehmungsperspektive der Erzählinstanz, wenn Intertextualitätssignale eingestreut werden, die innerhalb der neuen TAW nicht als solche identifiziert werden. Diese Unterarten unterscheiden sich damit in der Kommunikativität, jedoch nicht in der Stellung der Erzähluniversen zueinander. Inwiefern diese Unterschiede eine Rolle im Rezeptionsprozess spielen, könnte anhand einer empirischen Untersuchung analysiert werden. 2) Verlagert sich die Lektüre – nicht aber das Schreiben – in das Erzähluniversum des Textes zweiten Grades, tritt somit eine Figur des Sekundärtextes als Leser auf, so findet der Prätext als F-Universum explizit Eingang in das neue Erzähluniversum. Er wird Bestandteil des neuen Systems fiktionaler Welten, in dem seine Rezeption thematisiert wird. So können innerhalb der neuen TAW Vergleiche zwischen dem Prätext und den Gegebenheiten des Textes zweiten Grades gezogen oder die erzählte Welt des Prätextes als (Anti-)Modell betrachtet werden, dem es nachzueifern oder das es zu verhindert gilt. Die Interpretation des Prätextes beeinflusst in diesem Fall die Figurendomäne und kann damit Auswirkungen auf den Handlungsverlauf in der TAW haben. 3) Eine Verlagerung sowohl des Lese- auch des Schreibprozesses in das neue Erzähluniversum setzt eine schreibende Figur voraus, die als Autor einer récriture – zweiten Grades – fungiert, und fokussiert damit den Produktionsprozess selbst. Es erfolgt eine zumindest temporäre Rezentrierung, wenn die Figur zur Erzählinstanz ihres récriture-Textes wird, der Autor somit sein eigenes Vorgehen innerhalb seines Romans in Bezug auf beide Prozesse – Interpretation und (Re-)Kreation – spiegelt. Eine Kombination zwischen einem in der außerhalb des Erzähluniversums des Sekundärtextes angesiedelten Leseakt und einem in der erzählten Welt vollzogenen Schreibakt ist logisch nicht möglich, da der Leseakt die Voraussetzung für den (Wieder-)Schreibakt ist, somit also in jedem Fall auf der gleichen Textebene der récriture zeitlich vorgelagert sein muss. Voraussetzung für den mit einem Ebenenbruch verbundenen hypothetischen Typ 4 ist somit eine Metalepse.78 78 In der Literatur gibt es ein Beispiel für eine Auseinandersetzung mit dieser eigentlich unmöglichen Form der récriture, nämlich Borges’ Kurzgeschichte „Pierre Menard, Autor des Quijote“, die die Geschichte von Pierre Menard erzählt, der sich zum Ziel setzt „ein paar Seiten hervorzubringen, die – Wort für Wort und Zeile für Zeile – mit denen von Miguel de Cervantes übereinstimmen sollten“ (Borges 1988: 47). Menards Schreibakt ist eben keine produktive Lektüre, also ein Verarbeitung eines vorher rezipierten Textes, sondern die Erschaffung eines neuen Don Quijote, dem innerhalb der

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Insgesamt lässt sich durch diese Einteilung somit eine Gradierung der dargestellten récriture-Spielarten nach ihrer Autoreflexivität – nach Pfister eine Thematisierung der intertextuellen Beziehung – durchführen, deren Höhepunkt bei einer vollständigen Verlagerung der récriture in das neue Erzähluniversum erreicht ist. Es liegt somit eine zunehmende Verdoppelung der récriture-Bewegung vor, indem die außersprachlichen Tätigkeiten durch fiktionsinterne Instanzen ergänzt beziehungsweise gespiegelt werden, so dass der Prozess der produktiven Lektüre immer weitergehenden Eingang in das Produkt récritureRoman findet. Die Auseinandersetzung mit Literatur verlagert sich gleichzeitig immer weiter in den fiktionalen Text hinein. Der Text zweiten Grades wird zum wahrhaftigen Meta-Roman, der sowohl den Rezeptions- als auch den Produktionsprozess von Erzähluniversen textintern verhandelt und sich somit einem fiktionalisierten Dialog mit dem Prätext zunehmend annähert.

TAW der Status als Text zweiten Grades abgesprochen wird. Der Protagonist gibt zwar an, Don Quijote gelesen zu haben, doch habe diese Lektüre nur ein „undeutliche[s] Bild, das einem noch nicht geschriebenen Buch vorausschwebt“ (ebd.: 49) ergeben, das er nun in mühevollster Arbeit neu, das heißt als Text ersten Grades, erfindet. Innerhalb der TAW der Kurzgeschichte besteht ein Widerspruch, denn die Aussage, dass Menards Werk „aus dem Neunten und dem Achtunddreißigsten Kapitel des Ersten Teils des Don Quijote sowie aus einem Fragment des Kapitels Zweiundzwanzig“ (ebd. 46) bestand, ist nicht damit in Einklang zu bringen, dass Menard seine unter Verschluss gehaltene Version des Don Quijote zerstörte und es dem Erzähler laut eigener Aussage nicht gelungen ist, sie wiederherzustellen (vgl. ebd. 53). Das Spiel mit dem unmöglichen Typ 4 der récriture dient unter anderem dazu, zu illustrieren, welch unterschiedliche Lesarten ein- und derselbe Text über mehrere Epochen erfahren kann – eine These, die sich gerade in Bezug auf Don Quijote belegen lässt, einem Text, zu unterschiedlichen Zeiten die unterschiedlichsten Interpretationen erfahren hat. Siehe zu einer Auflistung verschiedener Lesarten Don Quijotes zum Beispiel Bell-Villada 1999: 134.

3. Vorläufer und Grenzfälle der récriture: Von der Textaneignung über den Conflit des codes bis zur subversiven Wi(e)deraufnahme

Jede (National-)Literatur beruht gemäß dem universellen Intertextualitätsbegriff auf der Wiederaufnahme von Texten beziehungsweise Textelementen und ist somit unweigerlich intertextuell. Dennoch kann auch im Bereich fiktionaler Literatur durchaus zwischen Phasen eines sehr intensiven Gebrauchs intertextueller Strategien und solchen, in denen der Bezug auf andere Texte eher vermieden wird, unterschieden werden. In seiner Studie zu den „lectures ‚hérétiques‘“ (Lüsebrink 1994) im Drama Québecs zeigt Lüsebrink, dass die récriture, verstanden als produktive und kritische Lektüre eines Textes, zu allen Zeiten praktiziert wird, in Phasen des Umbruchs jedoch besonders prägnant auftaucht, wie die in der Einleitung kurz erwähnten quebezisierenden Übersetzungen kanonisierter Dramen bezeugen. André Lamontagne (2004: 7) konstatiert für die junge Literatur Québecs, dass Intertextualität – in ihrer expliziten Ausprägung – eine ihrer Grundeigenschaften sei, die Geschichte der Intertextualität und ihrer Entwicklung in Québec jedoch noch nicht geschrieben sei. Das folgende Kapitel erhebt nicht den Anspruch, dies für die récriture nachzuholen, sondern vielmehr aufzuzeigen, dass die récriture als besonders intensive Form der Intertextualität in Ansätzen bereits vor 1980 in Québec auftrat. Die Einleitung hat veranschaulicht, dass sie beispielsweise im Drama im Zusammenhang mit der Übersetzung auf sehr fruchtbare Weise im Zuge einer literarischen Emanzipationsbewegung postkolonialer Art eingesetzt wurde. Außerdem wurde angedeutet, dass auch im Bereich der Erzähltexte vor 1980 Veröffentlichungen mit einem dominierenden Intertext keine Seltenheit darstellen. Diese „Meilensteine“ in der Entwicklung der récritu-

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re beinhalten Romane, die in unterschiedlichen Ausprägungen auf der Folie vorangegangener Werke existieren. In der folgenden Bestandsaufnahme werden diese Texte vor allem daraufhin untersucht, wie sich die Inszenierung ihrer Prätexte gestaltet. Es geht in diesem Zwischenkapitel also darum, eine Vergleichsbasis zu schaffen, die in der Gesamtschau eine diachrone Entwicklung in der Verwendung der drei Typen der récriture vor und nach dem Untersuchungszeitraum andeutet. Von der einseitigen Aneignung eines Prätextes in Les anciens Canadiens über die récriture-réécriture Jacques Ferrons und den Conflit des codes bis zur Ausschöpfung des subversiven Potenzials der récriture in der écriture au féminin der siebziger und achtziger Jahre und der fiktionalisierten Literaturkritik Bessettes präsentiert das folgende Kapitel innovative (Grenz-)Formen der récriture vor 1980. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf zwei Romanen, die im Jahr 1979 veröffentlicht werden und anhand der récriture-Technik auf sehr unterschiedliche Weise Kritik an ihren Prätexten formulieren und damit metatextuell wirksam werden. Louky Bersianiks Le pique-nique sur l’Acropole einerseits, Gérard Bessettes Le semestre andererseits, stellen den tatsächlichen Auftakt der récriture als Auseinandersetzung mit Erzählliteratur im Roman in Québec dar. Die Präsentation dieser und der vorgelagerten Anschauungsbeispiele setzt sich somit zum Ziel, Vorläufer der récriture hervorzuheben und die vielfältigen Möglichkeiten des Umgangs mit einem Prätext beispielhaft zu skizzieren. Diese Herangehensweise erlaubt es zudem, im Anschluss an die theoretischen Ausführungen die Grenzen der literarischen Strategie der récriture auszuloten. Aus diesem Grund werden explizit auch Romane diskutiert, die den oben definierten Kriterien für eine récriture nicht in allen Eigenschaften entsprechen. Bei der Auswahl wurden Grenzfälle herangezogen, die es ermöglichen, auf der Basis der theoretischen Erkenntnisse aus dem vorhergehenden Kapitel die Konturen der récriture zu schärfen. Texte, die sich in Bezug auf ihre Gattung oder aufgrund ihrer wenig ausgeprägten Kommunikativität in einem Übergangsbereich zu anderen Formen der Intertextualität befinden, gestatten es, Querverbindungen zu ziehen und damit einhergehend eine bessere Abgrenzung der untersuchten Form der Intertextualität zu erreichen. Was den Aufbau des Kapitels angeht, wurde eine grob chronologische Ordnung eingehalten, welche die wachsende Komplexität der Vorläufer und récriture-Spielarten in Québec durchscheinen lässt.

V ORLÄUFER

UND

G RENZFÄLLE

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3.1 L ES ANCIENS C ANADIENS : S IR W ALTER S COTTS WAVERLEY À LA QUÉBÉCOISE Das Erstlingswerk von Philippe-Joseph Aubert de Gaspé père1, Les anciens Canadiens (1863),2 ist unbestritten ein Klassiker der Literatur der Belle Province. Im Umfeld der Erinnerungsbewegung um Abbé Raymond Casgrains Les Soirées Canadiennes, die unter dem Motto „Hâtons nous de recueillir nos belles légendes avant que le peuple ne les ait oubliées“ (Lemire 1994: 7) stand, wurde Aubert de Gaspés Roman vor allem aufgrund der lebendigen Darstellung und Tradierung der frankokanadischen Kultur gelobt (vgl. Roy 1910: 8). Das Sittengemälde leistet in der seit 1763 britischen Kolonie nicht nur einen Beitrag zum Erhalt der Legenden und Brauchtümer der Einwohner Neufrankreichs. Darüber hinaus setzt sich Aubert de Gaspé nach der militärischen Niederlage gegen die britische Armee das Ziel, die frankokanadische Identität aufzuwerten. In der Einleitung wurde bereits darauf verwiesen, dass dieser erste frankokanadische Bestseller zwar den Anspruch hat, ein genuin kanadisches Werk zu sein,3 diesen aber bei genauerer Betrachtung nicht einlösen kann. Jane Brierley betont im Vorwort zu ihrer Übersetzung Canadians of Old (1996) den großen Einfluss, welchen Sir Walter Scotts Waverley (1814) auf Aubert de Gaspés ersten Roman hatte, gesteht jenem jedoch gleichzeitig eine eigenständige Dynamik zu (vgl. Brierley 1996: 13). Auch wenn explizite Intertextualitätssignale nur bei

1

Auch der Sohn des Autors der Anciens Canadiens war als Schriftsteller tätig. Philippe-Joseph Aubert de Gaspé fils’ L’Influence d’un livre (1837) gilt als der erste frankokandische Roman überhaupt (vgl. Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 114). Im Folgenden wird unter der Bezeichnung Aubert de Gaspé nur auf den Vater Bezug genommen.

2

Primärtexte werden im Folgenden mit Siglen und Seitenangabe zitiert. Siehe hierzu

3

Aubert de Gaspé bezeichnet seinen Roman als „tout canadien par le style“ (LAC: 27).

das Siglenverzeichnis zu Beginn der vorliegenden Untersuchung. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass sich die französischsprachigen Einwohner der Nouvelle-France zunächst Canadiens nannten. Erst mit der Vereinigung der beiden Provinzen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und der Ausweitung der Bezeichnung Canadien auf alle Einwohner der Gründungsprovinzen entstand zur Abgrenzung der beiden Sprachgruppen die Präzisierung Canadien-français, die im Zuge der Révolution Tranquille ab etwa 1960 durch den Begriff Québécois ersetzt wurde. Siehe zu den verschiedenen Bezeichnungen zum Beispiel Gagnon 2011: 34, 38)

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sehr genauer Lektüre aufzufinden sind,4 bestehen zwischen den beiden Romanen unübersehbare Parallelen. Genau wie Scott, der als Chronist eines besiegten Volkes auftritt und die traditionelle und feudale schottische Gesellschaft portraitiert, versucht Aubert de Gaspé, die alten Legenden, die Gastfreundschaft, den Glauben und das Ehrgefühl der Einwohner Québecs vor der britischen conquête5 von 1759 wiederzugeben. Sowohl die schriftliche Darstellung des einheimischen Dialekts als auch der anekdotische Stil des mit zahlreichen Lied- und Gedichtauszügen sowie Anmerkungen versehenen Romans erinnern an Scotts Waverley. Beide Autoren verfolgen einen pädagogischen Anspruch, der sich in erläuternden Fußnoten sowie jeweils einem umfangreichen Anhang an den Haupttext, den „Notes to Waverley“ (W: 495-514) beziehungsweise den „Notes et éclaircissements“ (LAC: 367-427) niederschlägt. In Bezug auf die Perspektivierung lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, wählt doch Aubert de Gaspé genauso wie Scott einen auktorialen Erzähler, der deutlich kommentierend auftritt und eine lange zurückliegende Begebenheit erzählt. Die Erzählinstanz der Anciens Canadiens, die sich hier sehr deutlich als Verdoppelung des Autors innerhalb des Textes darstellt, verstärkt jedoch die in Waverley bereits häufig auftretenden Leseransprachen noch zusätzlich. Der auktoriale Erzähler in Waverley kommentiert seine Vorgehensweise teilweise ausdrücklich, indem er beispielsweise den Einsatz von Ellipsen im Erzählvorgang erläutert: These circumstances will serve to explain such points of our narrative as, according to the custom of story-tellers, we deemed it fit to leave unexplained, for the purpose of exciting the readers’s curiosity. (W: 450)

Zudem spricht er den Leser mehrmals direkt an, um seine Geduld während der Lektüre zu loben (vgl. ebd.: 491). Aubert de Gaspé geht hingegen so weit, seinen frankokanadischen Lesern Handlungsanweisungen mitzugeben: Vous avez été longtemps méconnus, mes anciens frères du Canada! Vous avez été indignement calomniés. Honneur à ceux qui ont réhabilité votre mémoire! […] Honte à nous qui, au lieu de fouiller les anciennes chroniques si glorieuses pour notre race, nous conten-

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John Lennox verweist auf die auktoriale Einführung sowie das aus Waverley entnom-

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Zur unterschiedlichen Bewertung des Übergangs Neufrankreichs auf die britische

mene Motto, das dem Kapitel 12 vorangestellt ist (vgl. Lennox 1984: 141). Krone in der Geschichtswissenschaft siehe zum Beispiel Courtois 2009.

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tions de baisser la tête sous le reproche humiliant de peuple conquis qu’on nous jetait à la face à tout propos! Honte à nous, qui étions presque humiliés d’être Canadien! (LAC: 218)

Auch hinsichtlich der Selektion der Elemente des Erzähluniversums lassen sich Ähnlichkeiten herausarbeiten. Der titelgebende Protagonist, Edward Waverley, steht genauso wie Archibald Cameron of Locheill, der in der Theateradaptation von 1864 zur Titelfigur wird, zwischen den Fronten. Der Engländer Waverley ist zwischen seiner Zugehörigkeit zur britischen Armee und seiner Sympathie für die Anhänger des Thronanwärters aus dem Hause Stuart hin- und hergerissen. Der Schotte Archibald Cameron of Locheill dagegen fühlt sich der frankokanadischen Gesellschaft und besonders der Familie d’Haberville verbunden, die den Waisenjungen wie einen Sohn behandelten, ist jedoch gleichzeitig Mitglied der britischen Armee. In Bezug auf die Handlungsentscheidung der Protagonisten erschließt sich dennoch ein bedeutender Unterschied in den Figurendomänen, der sich in einer fast spiegelverkehrten Handlung niederschlägt. Denn während der romantische Waverley sich für die schottische Freiheitsbewegung einsetzt, obwohl ihm verstandesgemäß die Wiedereinsetzung der Stuarts unwahrscheinlich erscheint, dominiert bei Archibald das rational motivierte Pflichtgefühl, so dass er zwar sicherstellt, dass den Mitgliedern der Familie d’Haberville nichts zustößt, aber trotzdem auf Befehl seines militärischen Vorgesetzten ihre Güter zerstört und auf der Seite der Briten an der Eroberung der Nouvelle-France teilnimmt. Beide sind sich jedoch bewusst, durch ihre Entscheidung einen Verrat begangen zu haben. So beklagt Waverley die „thoughtless cruelty“ (W: 330) seines Handelns, das sein Regiment und seine Familie in Verruf und teilweise in Haft brachte. Der im Vergleich zu Waverley charakterfestere und selbstkritischere Archibald macht nicht seine Gedankenlosigkeit, sondern seine Feigheit für seine Entscheidung verantwortlich und bereut diese als „stupide et lâche“ (LAC: 229). Des Weiteren transformiert Aubert de Gaspé die Intrige in Bezug auf die Verratshandlung nicht unerheblich, indem er das Motiv der verfeindeten Brüder einfügt, die Archibalds Zerrissenheit zwischen seiner Pflicht als Soldat der britischen Armee und seiner persönlichen Verbundenheit zur Familie d’Haberville auf tragische Weise zuspitzt. Die Entscheidung Archibalds für die britische Armee, die Maurice Lemire treffend als Fehler des tragischen Helden, als hamartia, bezeichnet (vgl. Lemire 1994: 20), bestimmt den Aufbau dieses einsträngigen Romans maßgeblicher als Waverleys Entscheidung, die letztendlich mit dem Wertesystem seiner Familie übereinstimmt (vgl. W: 478). Insgesamt fungieren beide Protagonisten jedoch als Versöhnungsinstanz zwischen den verfeindeten Lagern (vgl. Lennox 1984: 133).

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Zudem finden sich viele Handlungselemente des Prätextes in leicht abgeänderter Form wieder. Ein Gnadenersuch wird beispielsweise spiegelbildlich aufgenommen, setzt sich doch Archibald, der auf Seiten der britischen Krone gekämpft hatte, für ein Begnadigung der d’Habervilles ein, während Waverley der Begünstigte einer Amnestie wird, die ein befreundeter britischer Soldat durchsetzt, der von Waverleys Menschlichkeit profitiert hatte. Zudem kehren beide Helden nach dem Sieg der englischen beziehungsweise britischen Armee zu den Schauplätzen vorheriger Geselligkeit zurück und finden ihre früheren Gastgeber, die jeweils zum anderen Kollektiv gehören, aufgrund von Brandschatzung und Zerstörungswut der britischen Armee in einer misslichen Lage. Sowohl der Baron of Bradwardine von Tully-Veolan als auch der Seigneur d’Haberville können dabei als Lehnsherren auf die Solidarität ihrer Untertanen zählen, die sich als dankbare und liebenswürdige Helfer entpuppen. Beide Romane zeichnen insgesamt somit ein sehr positives Bild der Feudalordnung. Auch kann Floras Zurückweisung Waverleys durchaus mit Blanches Ablehnung von Archibalds Heiratsantrag am Ende von Les anciens Canadiens verglichen werden, wobei beide Verbindungen von den Brüdern der Damen, Fergus Mac-Ivor beziehungsweise Julien d’Haberville, ausdrücklich befürwortet werden und die Ablehnung jeweils mit Unverständnis aufgenommen wird. Gemeinsam ist beiden Werken inhaltlich darüber hinaus der pragmatische, zukunftsgewandte Ausgang. Waverleys Heirat mit der weniger leidenschaftlichen Rose symbolisiert genauso ein Zugeständnis an die bestehende Herrschaftsform wie Julien d’Habervilles Engagement in der britischen Armee und seine Ehe mit einer Engländerin. Insgesamt besteht somit eine hohe Strukturalität, die sich in der Übereinstimmung zahlreicher Selektionselemente äußert. Thematisiert wird diese Aneignungsbewegung in Form einer Autoreflexivität jedoch an keiner Stelle. Les anciens Canadiens ist insgesamt keine kritische Auseinandersetzung mit Waverley. Es handelt sich primär um eine Nachahmung des Prätextes, die sich nicht als Inszenierung, sondern eher als Aufgreifen wichtiger Elemente eines bereits bestehenden Textes darstellt, der außerdem ein sehr erfolgreiches Modell liefert. Als Erklärungsansatz für die Wahl des Prätextes dieser kreativen Verarbeitung kann neben der leicht nach Québec zu transponierenden Thematik der unbeschreibliche Erfolg Waverleys angeführt werden, denn Sir Walter Scotts zunächst anonym veröffentlichter Roman stellte sich als gattungsbildend für den historischen Roman heraus: It is perhaps difficult for us at the end of the twentieth century to comprehend the effect of Scott’s historical novels on the men and women of his time. Early nineteenth-century readers were simply bowled over when Waverley appeared in 1814. […] De Gaspé, a law-

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yer by profession like Scott, and a former sheriff of Quebec as Scott had been sheriff of Edinburgh, was also a member of a national group that had fought against the all-powerful English in memorable battles (Culloden/the Plains of Abraham). He must have felt considerable affinity with the Scottish bard. How similar were the circumstances of the French-Canadians, and how little was generally known of their story! (Brierley 1996: 13)

Les anciens Canadiens ist damit ein Beispiel für eine Grenzform der récriture, die – auf relativ schwach signalisierte Weise – Elemente des Erzähluniversums des prestigeträchtigen und kanonisierten Prätextes übernimmt, zum Teil leicht abändert und in einen neuen Kontext einpasst. Derartige einseitige Aneignungen können bei einer lecture palimpsestueuse jedoch durchaus Zusatzbedeutungen generieren. In Les anciens Canadiens zeigt sich dies einerseits daran, dass die britische Eroberung der Nouvelle-France anhand des schottischen Protagonisten differenziert wird. So wird mit Hilfe des unfreiwilligen Brandstifters Archibald von einer einseitigen Darstellung der britischen Eroberer als zerstörungswütig und grausam abgesehen. Andererseits wird die französische Gegenwehr während der conquête Neufrankreichs in eine Linie mit der Niederschlagung der schottischen Befreiungsbewegung gestellt und dadurch aufgewertet. Der Verweis auf den Tod von Archibalds Vater im Kampf von Culloden 1746 (vgl. LAC: 36), der auf den historischen Hintergrund des Prätextes referiert, kann in diesem Sinne als Hinweis auf die Weiterführung des Modells verstanden werden und rechtfertigt gewissermaßen die militärische Niederlage der Frankokanadier gegen die übermächtige britische Armee, indem sie auf die gleiche Stufe wie diejenige der schottischen Befreiungskämpfer gestellt wird. Dazu beschreibt Aubert de Gaspé zunächst die schottische Rebellion auf emphatische Weise: Au commencement de cette lutte sanglante, le courage triompha du nombre et de la discipline, et les échos de leurs montagnes répétèrent au loin leurs chants de triomphe et de victoire. L’enthousiasme fut alors à son comble: le succès ne paraissait plus douteux. Vain espoir! il fallut enfin succomber après les faits d’armes les plus éclatants. (Ebd.)

Diese lyrische Überhöhung steht im Gegensatz zu Scotts insgesamt differenzierterer und ausführlicherer Darstellung, in der beispielsweise das Befremden Waverleys gegenüber Fergus Mac-Ivors absolutem Pragmatismus und Machteifer Erwähnung findet (vgl. W: 301). Aubert de Gaspés Interpretation des Jakobitenaufstandes als heldenhafte Rebellion bildet somit den Ausgangspunkt für die kreative Aneignung des Modells, die nicht als solche gelesen werden möchte, ist

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es doch, wie bereits erwähnt, erklärtes Ziel des Autors, ein rein kanadisches Werk zu schreiben. Anhand der kurzen Untersuchung der Anciens Canadiens lässt sich somit veranschaulichen, dass der Typus der textexternen récriture (Typ 1), bei dem ein zugrunde liegender Prätext virtuell mitgelesen werden kann, schon sehr früh praktiziert wurde, dies jedoch nicht als Inzenierung, sondern als unidirektionale Aneignung eines Prätextes. Für das zeitgenössische Lesepublikum ist wegen der großen Strahlkraft des Prätextes von einer obligatorischen Intertextualität auszugehen. Für spätere Rezipienten gilt dies nur noch mit Einschränkungen. Die Praxis der récriture ist somit in ihrer Rezeption kontextabhängig. Um eine récriture im engeren Sinne zeit- und subjektübergreifend zu identifizieren, erweisen sich Intertextualitätssignale daher als unabdingbar. Die Analyse der Anciens Canadiens hat darüber hinaus ergeben, dass entgegen der These André Belleaus Intertexte zumindest implizit schon sehr früh in die erzählte Welt integriert wurden. Gerade durch das Merkmal der erhöhten Strukturalität widerspricht Les anciens Canadiens Belleaus Feststellung im Hinblick auf den Québecer Roman, die davon ausgegangen war, dass mit Ausnahme der Romane Hubert Aquin intertextuelle Verweise in der Literatur Québecs auf der diskursiven Ebene verbleiben, ohne die Geschichtsebene maßgeblich zu berühren (vgl. Belleau 1986: 187).6 Auch wenn gerade in Bezug auf den französischen Intertext7 durchaus davon auszugehen ist, dass literarische Referenzen wie wörtliche Zitate oder das Nennen von Autorennamen, die sich auf der Narrationsebene ansiedeln, bis in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die häufigste Spielart der Intertextualität in Québec bleibt, ist auch für die frühe Phase des Romans schon die Übernahme von Elementen eines fiktionalen Universums nachzuweisen. Die Integration von Bestandteilen fremder Fiktionen in ein neues Erzähluniversum in Form einer kreativen Wiederaufnahme lässt sich anhand der Anciens Canadiens als ein Verfahren kennzeichnen, das auch in Québec schon lange existiert.

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Belleau selbst gibt in Bezug auf seine These, die er an ausgewählten Romanen aus den fünfziger und sechziger Jahren überprüft, die Notwendigkeit einer methodischen Nachforschung an (vgl. Belleau 1986: 187).

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Siehe zur Integration französischer Texte im Roman aus Québec Kapitel 3.3 der vorliegenden Untersuchung.

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3.2 M ENAUD UND M ARIA: D IE Q UÉBECER K LASSIKERS

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RÉCRITURE EINES

Aubert de Gaspé schließt mit Les anciens Canadiens somit an das Prestige des berühmten Sir Walter Scott an. Seine Form der récriture scheint vor allem ein Versuch zu sein, die historischen Parallelen zwischen Schottland und Neufrankreich auszunutzen und sich dabei – bewusst oder unbewusst – eines erfolgreichen literarischen Modells zu bemächtigen. Ein weiterer Klassiker der Literatur Québecs, Félix-Antoine Savards Menaud, maître-draveur (1937) bezieht sich dagegen explizit auf Louis Hémons sehr bekannten Landroman Maria Chapdelaine (1914), indem der Prätext als Buch Eingang in das neue fiktionale Universum findet. Anhand der Lektüre und Interpretation Maria Chapdelaines, die der Holztrifter Menaud vornimmt, ist klar erkennbar, dass der Prätext eine Funktion innerhalb des neuen Erzähluniversums erfüllt. Insbesondere leitmotivisch wiederholte Zitate aus Marias Entscheidungsmonolog wie „Nous sommes venus il y a trois cent ans et nous sommes restés!“ (Hémon 1980: 197) und „[…] des étrangers sont venus […] ils ont pris presque tout le pouvoir“ (ebd.: 198), die Menaud sich teilweise inkantatorisch vorsagt (vgl. Savard 1965: 31, 37, 53, 62, 79, 120, 147, 162, 184, 195, 210), verdeutlichen die Funktion des Prätextes in Menaud, maître-draveur. So ist es der omnipräsente Intertext, der Menaud zunächst auf die Gefahr des Verlusts des Landes seiner Vorfahren aufmerksam macht, sein Aufbegehren anstachelt und schließlich sein Abgleiten in die Demenz anzeigt. Auch in Bezug auf die Figuren können Parallelen hergestellt werden, scheint Alexis de Lucon doch Marias erstem, abenteuerlustigen Anwärter François Paradis nachempfunden, denn beide stehen in der Québecer Tradition der coureur des bois. Dies betrifft auch Maries Vater Menaud selbst: Comme le fait Louis Hémon, Mgr Savard montre bien le caractère nomade du Canadien français: fascinés par la montagne, la forêt et les rivières, libres et indépendants, Menaud et le Lucon sont de la lignée de Samuel Chapdelaine et de François Paradis. (Renaud 1965: 13)

Genau wie Maria schließlich den Antrag Lorenzo Suprenants, der in den USA sein Glück versucht, nicht annimmt und sich nach dem Tod François Paradis’ für den sesshaften Eutrope Gagnon entscheidet (vgl. Hémon 1980: 200), geht Menauds Tochter, deren Vorname Marie die Parallele zudem unterstreicht, nicht auf den Wunsch des mit anglokanadischen Investoren zusammenarbeitenden Le Délié ein, der um ihre Hand anhält. Der draufgängerische Alexis scheint sich fast

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wider Willen angesichts des Todes Menauds zu einem zweiten Eutrope Gagnon zu entwickeln, denn er tröstet Marie mit den Worten: „Il y a de la bonne terre, avait-elle dit; ce serait plaisant de vivre icitte tranquillement“ (Savard 1965: 212). Menaud, maître-draveur ist eine récriture von Hémons Klassiker, auch wenn Savard die Handlungskette ausdifferenziert und die „Gegenüberstellung von habitant und coureur de bois“ (Kirsch 2002: 48) um den Antagonismus zwischen Frankokanadiern und anglophonen Geschäftsleuten, die von opportunistischen Frankokanadiern wie Le Délié unterstützt werden, ergänzt und zuspitzt. Im Prätext dient der Tod der Mutter Maria Chapdelaines dazu, Maria ihre Verantwortung für ihre Familie und ihr Land begreiflich zu machen (vgl. Hémon 1980: 199). Im Text zweiten Grades führen mehrere tragische Ereignisse und insbesondere das Abgleiten Menauds in den Wahnsinn dazu, dass sich Marie und Alexis ihrer Situation und einem Handlungsbedarf – Marie fordert Alexis dazu auf, Menauds Werk weiterzuführen (vgl. Savard 1965: 212) – bewusst werden (vgl. Renaud 1965: 23), auch wenn Menaud mit seinem Plan, „[de] faire lever tout le clan des chasseurs“ (Savard 1965: 193), das heißt die Waldläufer zum Widerstand gegen die fremde Landnahme und die Einschränkung seiner Freiheit zu bewegen, gescheitert war. Während Hémons Roman in einer mit Fritz Peter Kirsch als „charakteristische[…] Feier der Ortstreue“ (Kirsch 2002: 42) zu bezeichnenden Art die Tapferkeit und das Durchsetzungsvermögen der (sesshaften) Québecer Landbevölkerung in den Vordergrund stellt, legt Savards Thesenroman das Augenmerk auf die Vergänglichkeit dieses Lebensstils anhand des übergeordneten Themas des Landverlustes durch anglophone Wirtschaftsinteressen. Im Gegensatz zu Hémon sieht er davon ab, die Nomadenfigur eindeutig abzuwerten oder einseitig darzustellen: Man könnte in Menaud einen Don Quijote sehen, der von seiner Hémon-Lektüre zu realitätsfernen Aktivitäten gedrängt wird, ohne dass dabei sein hoher ethischer Anspruch entwertet wird. Angedeutet wird, dass Menauds möglicher Nachfolger Alexis, genannt Le Lucon, sowohl diesen Anspruch als auch dieses permanente Exil erben wird. (Ebd. 45)

Die Stellung des Intertextes in Menaud, maître-draveur lässt sich somit am besten mit derjenigen einer (idealen) möglichen Welt vergleichen, die Menaud an die Stelle der TAW rücken möchte, denn die aktualisierte Welt stellt sich für ihn als ein von fremden Kräften beherrschtes Québec dar. Die Lektüre des Prätextes innerhalb des neuen Erzähluniversums fungiert als Katalysator für die Widerstandskraft Menauds, macht sie ihn doch immer wieder auf die Diskrepanz der TAW mit seinem Wertesystem aufmerksam. Somit ist Menaud, maître-draveur

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eine récriture des zweiten Typs der vorliegenden Klassifikation, wobei in der fiktionalisierten Darstellung der Rezeption des Romans der Prätext vom Protagonisten als Appel zum Widerstand gegen die britische Vorherrschaft in Québec gelesen wird, weniger als eine Bestandsaufnahme des Lebens in Frankokanada wie Hémons Untertitel, „Récit du Canada français“, andeutet. Savards produktive Lektüre von Hémons Klassiker bleibt jedoch, wie erwähnt, eine Ausnahme sowohl hinsichtlich der Inszenierung des Prätextes im neuen fiktionalen Universum als auch in Bezug auf die Herkunft dieses aus Québec.8 Der vorherrschende Intertext zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war zweifelsohne der französische, was vor allem auf die klassische Ausbildung der Québecer Schriftsteller zurückzuführen ist, die mit den kanonisierten Texten aus Frankreich vertraut waren und oft auch lange Aufenthalte in Paris verbrachten.9

3.3 C ONFLIT DES CODES : D ER FRANZÖSISCHE I NTERTEXT Der tendenziell vorherrschende Verbleib des französischen Intertextes auf der Vermittlungsebene äußert sich im sogenannten Conflit des codes, wenn Stile und Darstellungsweisen aus fremden Literaturen übernommen werden und innerhalb eines Werks mit soziokulturellen Gepflogenheiten Québecs zusammenprallen, die die Inhaltsebene bestimmen. André Belleau hat, wie in der Einleitung angeführt, an einer Reihe von Romanen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verdeutlicht, inwiefern der Roman einen derartigen Konfliktraum von literarischen und soziokulturellen „Codesystemen“ darstellen kann.

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Einschränkend muss in diesem Zusammenhang bemerkt werden, dass der Franzose Louis Hémon mit 31 Jahren nach Kanada auswanderte und sein posthum als Feuilletonroman publiziertes Werk sich vornehmlich an französische Leser wandte (vgl. Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 199).

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Die Bedeutung Frankreichs für die Literatur der Belle Province lässt sich an verschiedenen Richtungsstreits ablesen. Ab 1895 steht die École littéraire de Montréal mit ihrem berühmtesten Vertreter Émile Nelligan für die Hinwendung zur zeitgenössischen französischen Literatur. Insgesamt bestimmt der Konflikt zwischen frankophilen exotiques und nationalkonservativen régionalistes das literarische Feld Québecs bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein (vgl. Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 151ff.).

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Sehr plakativ gestaltet sich der Conflit des codes in André Langevins Roman Poussière sur la ville (1953), dessen existentialistisch beziehungsweise pathetisch-ernst anmutender Stil im Kontrast zur fiktiven Industriestadt Macklin steht, in der sich die Geschichte abspielt (vgl. Belleau 1986: 171). So erinnert die topographische Enge der einzigen Straße, in der sich die konflikthaften sozialen Beziehungen entfalten, an eine Westernstadt ohne soziale Schichtung, in der ein einsamer Held eintrifft. Sie entspricht somit keinesfalls der urbanen Vielschichtigkeit, die die komplexe Darstellungsweise des Romans erwarten ließe. Der soziokulturelle Code Québecs trifft auf den literarischen Code Frankreichs und der Protagonist Alain Dubois wird zu „une sorte de héros qualitativement mâtiné de Camus et de Bernanos mais opérationnellement doublé du Gary Cooper de High Noon“ (ebd.: 180). Dennoch führt die produktive Lektüre existentialistischer Literatur, die sich vor allem in der Perspektivierung durch einen intern fokalisierenden Ich-Erzähler in einer Lebenskrise niederschlägt, noch nicht notwendigerweise zu einer récriture eines Werks beziehungsweise zu einem dominierenden Intertext. Poussière sur la ville scheint in diesem Zusammenhang jedoch eine Ausnahme darzustellen, denn die Figurenkonstellation sowie die Ereignisfolge können durchaus mit Flauberts Madame Bovary in Verbindung gebracht werden.10 Der junge Arzt Alain Dubois, der mit seiner Ehefrau, Madeleine, in der kleinen Industriestadt Macklin eine Praxis aufmacht, muss mit ansehen, wie seine Frau eine Affäre beginnt und schließlich Selbstmord begeht. Er entscheidet sich, auch nach ihrem Tod in der Kleinstadt zu bleiben, obwohl sein Ruf als Arzt gelitten hat, seit er in alkoholisiertem Zustand einer Geburt assistierte. Auch wenn er sich medizinisch richtig für das Wohl der Mutter entschieden hatte und das Neugeborene lebensunfähig war, wurde in der öffentlichen Meinung der Tod des Babys auf seine Trunkenheit zurückgeführt. Seine medizinischen Fähigkeiten sind demnach bei den Einwohnern von Macklin ähnlich gering angesehen wie diejenige Charles Bovarys nach der missglückten Klumpfußoperation. Von der Kritik wurden diese Parallelen zu Madame Bovary insgesamt nur selten erwähnt. Wenn ein Hinweis auf die Gemeinsamkeiten erfolgt, fällt teilweise eine sehr starke Abwertung von Langevins Text gegenüber dem Primärtext auf. So urteilt Jean-Paul Pinsonneault: 10 Den Hinweis auf die Parallelen von Langevins Roman zu Madame Bovary verdanke ich René Audet, Inhaber der Chaire de recherche du Canada en littérature contemporaine an der Université Laval. Über Intertextualitätssignale verfügt der Roman jedoch abgesehen von der ähnlichen Ereigniskette und der Ansiedlung der Geschichte im bürgerlichen Milieu nicht.

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A côté du portrait achevé que Flaubert a brossé de la provinciale consumée par une passion dévorante, la peinture de M. André Langevin demeurera toujours une assez maladroite esquisse, mais il ne fait aucun doute que d’aucuns se complairont à redécouvrir sous le masque tourmenté de Madeleine la figure émouvante d’Emma Bovary. (Pinsonneault 1953: 158)

Anthony Purdy begründet seine Interpretation Madeleines als some latter-day French Canadian Madame Bovary, [who] is left to find distractions and meaning where she can: in the songs she plays on the juke-box at Kouri’s restaurant, in the movies she sees at the local cinema, in her sad passion for a truck-driver. Looking for her own logic of life, she is exchanging one mediocrity for another. (Purdy 1990: 79)

Emma Bovary und Madeleine Dubois können somit in der Definition von McHale (1987: 36) als homonyme Charaktere bezeichnet werden, denn die beiden Kritiker beschreiben sie als Neuauflage eines literarischen Archetypus, der sich besonders durch die Eigenschaften des Unglücks und des tragischen Endes auszeichnet, wobei Purdy auch Madeleines Versuche, ihr Dasein einem Ideal anzupassen anfügt. Über den figuralen Wiedererkennungseffekt hinaus generiert der Text zweiten Grades bei einer lecture palimpsestueuse durch die veränderte Konfigurierung und Perspektivierung eine Zusatzbedeutung. Die durchgehende interne Fokalisierung aus Alains Sicht und die im Präsens gehaltene homodiegetische Erzählung führen, wie erwähnt, dazu, dass eine Fokussierung auf das Innenleben des Arztes gelegt wird und der Roman vielfach als existentialistisch interpretiert wurde (vgl. Ertler 2000: 158-163). Alain ist im Gegensatz zu Charles Bovary eine komplexe und bewusste Figur. Die Passivität des Québecer Arztes angesichts der Eskapaden seiner Frau wird mit Hilfe der Innenschau als ein Zeichen dafür gedeutet, dass er die Absurdität des Lebens akzeptiere – ein Interpretationsansatz, der Charles Bovarys Ignoranz gegenüber den Träumen seiner Frau und sein Fatalitätsdenken in ein anderes Licht rücken könnte. Auch wenn Charles die Gründe für Emmas Scheitern in dem berühmten Satz „C’est la faute de la fatalité“ (Flaubert 1980: 355) auf den Punkt bringt, relativiert der Erzähler diese Einsicht als den einzigen großen Satz, den Charles je gesagt habe (vgl. ebd.). In Anbetracht der zahlreichen Anzeichen für seine Tumbheit und intellektuelle Unterlegenheit gegenüber Emma (vgl. ebd.) muss die Annahme einer QuasiIdentität zwischen Charles und Alain, welche die Ausgangssituation hervorrufen könnte, jedoch revidiert werden. Der Kontrast zwischen dem ungeschickten und grobschlächtigen Charles und dem hellsichtigen Alain und die gleichzeitige sehr

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ähnliche äußere Ereigniskette lenken die Aufmerksamkeit des Lesers stärker auf die inneren Beweggründe Alains. Insgesamt tritt in Poussière sur la ville im Vergleich zum Prätext eine Verschiebung auf, die den Ehemann zum Mittelpunkt des Romans macht. Dies scheint durch eine Beobachtungssituation zu Beginn des Textes zweiten Grades subtil angekündigt zu werden. Die Situation des Beobachtetwerdens, in der Charles zu Beginn der Geschichte aus Flauberts Roman im Klassenraum steht, wird in Langevins Roman komplexer gestaltet. Alain, der genauso wie Charles in der Schule in der Kleinstadt Macklin ein Neuankömmling ist, wird bei seiner Ankunft gleichfalls observiert: Une grosse femme, l’œil mi-clos dans la neige me dévisage froidement. Je la regarde moi aussi, sans la voir vraiment, comme si mon regard la transperçait et portait plus loin, très loin derrière elle. (Langevin 1975: 11)

In dieser Situation einer „doppelt kontingent gesetzten Zuschreibungsproblematik“ (Ertler 2000: 160) wird Alain – im Gegensatz zu Charles zu Beginn von Madame Bovary – als bewusst Wahrnehmender dargestellt, was als eine Ankündigung auf die Innenschau im Roman zu lesen ist. Dennoch scheitert sein Bemühen, die Beobachterin zu durchschauen. Der Blick des Gegenübers scheint schärfer zu sein, und Alain scheint genauso in einer feindseligen Umgebung alleine gelassen wie Charles, der den spöttischen Blicken seiner Mitschüler ausgeliefert ist. Insgesamt dreht sich die Figurenkonstellation nicht nur in Bezug auf die Fokalisierung und den quantitativen Anteil an der Erzählung durch die männliche Figur um, sondern auch im Verhältnis zur umgebenden Bezugsgruppe, also zum jeweiligen Milieu, in das die Protagonisten treffen. Während Charles Bovary mit dem Leben eines Landarztes völlig zufrieden ist, strebt Emma nach einem Ideal, will aus der bürgerlichen Enge entfliehen und sieht sich für Höheres bestimmt (vgl. Gothot-Mersch 1980: xxxii). Im Erzähluniversum von Poussière sur la ville steht Madeleine den unteren sozialen Schichten näher und gefährdet durch ihr schamloses Benehmen das Lebensprojekt ihres Mannes, der als Arzt zur Oberschicht des Industriestädtchens gehört. In beiden Fällen stellen die Frauenfiguren das bewegliche, Gesellschaftsgrenzen übertretende Element dar, während die Männer eine statische Rolle einnehmen. Beide Texte entlarven somit die bürgerliche Moral ihrer Zeit, an der die Frauenfiguren zugrunde gehen: Die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts in Québec erweisen sich – so das Ergebnis der lecture palimpsestueuse – als genauso konservativ beziehungsweise wenig gesellschaftlich durchlässig wie die fünfziger Jahre des neunzehnten Jahr-

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hunderts in Frankreich. Bei Langevin steht der unkonventionellen Frau jedoch eine reflektierende männliche Figur zur Seite. Poussière sur la ville kann als eine psychologische Abhandlung über einen Mann gelesen werden, der am Bovarysme seiner Frau und seiner wachsenden Einsamkeit leidet, sich von der bürgerlichen Gesellschaft jedoch nicht besiegen lassen will. Gleichzeitig bleibt die Erzählhaltung ambivalent, denn der Akt des Erzählens in der ersten Person Präsens wird in Langevins Roman weder kontextualisiert noch gerechtfertigt. Die Erzählung legt darüber hinaus ihre eigene Konstrukthaftigkeit mehrmals offen. Kritiker haben die tragische Struktur (vgl. Ertler 2000: 160, Falardeau 1982: 808) sowie das Arbeiten mit Wiederholungen als Merkmal der Darstellungsstrategie Langevins in Poussière sur la ville genannt (vgl. Purdy 1990: 78), welche die Wirkung der Unmittelbarkeit des präsentischen Ich-Erzählers untergraben und die Erzähllogik metanarrativ bloßlegen. Insgesamt sieht Purdy in Poussière sur la ville den Widerspruch zwischen einer Logik des Lebens und einer Logik des Erzählens verwirklicht: The question that remains is to determine whether Dubois, in looking desperately for the ‚logic of life‘, is not in fact imposing on the events of his existence another quite different logic – the ‚logic of story‘. (Ebd.)

In ähnlicher Weise sieht Brochu in Poussière sur la ville eine Durchbrechung der realistischen Ästhetik mit ihren eigenen Mitteln: „La focalisation absolue sur Dubois est obtenue au prix d’un artifice qui ébranle l’ésthétique réaliste, incompatible avec la conception d’un faux narrateur.” (Brochu 1985:112f.) Die zahlreichen Ambiguitäten entlarven Langevin als eigentlichen Erzähler, Dubois nur als vorgeschobene Erzählinstanz. Dubois scheint sich nicht zwischen Leben und Erzählen entscheiden zu können und presst sein Leben mit Madeleine in eine Erzählung, die einen Anfang und einen Schluss sowie einen klaren Aufbau aufweisen muss, um ihm einen Sinn zu geben. Das Erzählen wird zu einer sinnstiftenden aber dadurch gleichzeitig zu einer die Realität verfälschenden Strategie. Im Rückschluss wird durch diese Betonung des Erzählprozesses, der sich gleichzeitig als unmittelbar und spontan ausgibt, auch der Prätext Madame Bovary als fiktionales, durch einen Text erschaffenes Universum entlarvt und der Anspruch einer sich selbst erzählenden Geschichte beziehungsweise des unpersönlichen Erzählens11 durch diese metatextuelle Strategie ad absurdum geführt. Indem Langevin die mimetische Illusion durchbricht, betont er den Anteil des Autors als 11 Siehe zum unpersönlichen Erzählen als Merkmal des Erzählstils Flauberts zum Beispiel Köhler 2006: 125-128 und Dethloff 1997: 152f.

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Schöpfer des fiktionalen Universums, der auch im realistischen Roman der Logik des Erzählens folgen muss. Für den Roman in Québec stellt Poussière sur la ville aufgrund seiner Erzählhaltung, der Darstellung des Kommunikationsverhältnises und der dramatischen Intensität eine Innovation dar (vgl. Ertler 2000: 163, Falardeau 1982: 808). Der weit verbreitete literarische Stoff der unglücklichen Ehefrau bot somit in beiden Fällen den Ausgangspunkt für eine Erneuerung in der erzählerischen Vermittlung und gleichzeitig innerhalb der jeweiligen Nationalliteratur, auch wenn Langevin in Québec keinesfalls an Flauberts Einfluss in Frankreich anschließen konnte.

3.4 R ÉCRITURE - RÉÉCRITURE VON J ACQUES F ERRON

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B EISPIEL

Grenzfälle der récriture finden sich nicht nur in Werken, die ihre Prätexte nicht durch Intertextualitätssignale offenlegen und somit nicht den Kriterien einer obligatorischen Intertextualität gerecht werden. Auch die réécriture bietet in einer Grauzone zur récriture die Möglichkeit einer fruchtbaren lecture palimpsestueuse, wie anhand eines sehr viel beachteten Wi(e)derschreibers, Jacques Ferron, darzustellen ist. Mehrere seiner Werke siedeln sich in einem Zwischenstadium zwischen der dominant textgenerativen réécriture und der récriture als Inszenierung des Wiederschreibens an, die als récriture-réécriture12 bezeichnet werden kann. In den sechziger und siebziger Jahren publiziert er mehrere neue Versionen bereits veröffentlichter Werke, wie beispielsweise im Jahr 1972 eine „version corrigée et renfondue“ seines Romans Papa Boss (1966). Seinen Roman La charette (1968) entwickelt er darüber hinaus aus Elementen der Kurzgeschichte „Le pont“, die in den Contes du pays incertain (1962) erschienen war. Weniger ausgedehnt gestaltet sich die Neuauflage des kurzen Romans La nuit (1965), die er unter dem Titel Les confitures de coings (1972) in überarbeiteter Version neu publiziert. Während der Prätext noch als selbständige Publikation erschienen war, wird die neue Fassung unter dem Titel Les confitures de coings (anciennement, la nuit) et autres textes eingebettet. Neben der bereits erwähnten Neubearbeitung von Papa Boss und der Novelle „La créance“ findet sich in dem Textband ein nicht fiktionaler „Appendice aux Confitures de coings ou Le congédiement de

12 Siehe hierzu Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Untersuchung.

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Frank Archibald Campbell“ (Ferron 1972a), in dem Ferron seine neue Version kommentiert. Diese metatextuelle Komponente, die Komplexität des Prätextes13 sowie die Tatsache, dass die Modifikationen relativ eindeutig auf ein politisches Ereignis zurückzuführen sind, können als Erklärung für das große wissenschaftliche Interesse angeführt werden, die dem Textpaar zuteil wurde. Ferrons komplexe Grenzform der récriture erlaubt es zudem, das kreative Potenzial der makrotextuellen14 Form der récriture zu beleuchten und den Beitrag des soziopolitischen Kontexts eines Werkes für die récriture zu erschließen. Sowohl in La nuit als auch in Les confitures de coings berichtet der 43 Jahre alte Protagonist François Ménard, ein leitender Bankangestellter, als homodiegetisch-extradiegetische Erzählinstanz über die Ereignisse einer Nacht, die einen Bewusstseinswandel in ihm auslöst. Ein nächtlicher Telefonanruf versetzt ihn in seine lange verdrängte Vergangenheit als kommunistischer Aktivist zurück, die damit ein Ende findet, dass er siebzehn Jahre zuvor, im Jahr 1949, während der Demonstration gegen den NATO-Gipfel in Montréal niedergeschlagen und inhaftiert wird. Der Faustschlag besiegelt das vorläufige Ende seiner Jugend und seines Wertesystems, was mit dem Bild des Verlusts seiner Seele beschrieben wird, die vom Polizisten Frank Archibald Campbell aufgesammelt wird. So beschreibt François seinen Zustand nach der Gerichtsverhandlung als desolat: „Quand à mon âme, je l’aurais volontiers donnée à piétiner. Frank m’en empêcha, la ramassa en la mettant dans ses poches.“ (N: 73) Gleichzeitig markiert dieser Verlust den Anfang einer Lebensperiode, die François als gedächtnislose und oberflächliche Existenz ohne innere Überzeugungen erfährt und die seinen sozialen Aufstieg ermöglicht. Die für den Text zweiten Grades titelgebende Quittenmarmelade ist ein Geschenk, das François Frank in der besagten Nacht macht. Die vergiftete Marmelade führt zum Tod des Polizisten, den François nach einem Besuch bei der Prostituierten Barbara feststellt. Diese hilft ihm, sich an seine verdrängte Vergangenheit zu erinnern und Frank seine Seele wieder abzunehmen. Nach dieser Nacht nimmt François zwar sein bürgerliches Leben mit seiner Ehefrau Marguerite wieder auf, jedoch unter veränderten Vorzeichen, hat er doch seine Seele, seine vieldimensionale Persönlichkeit und seinen jugendlichen Idealismus wiedergefunden. Seine Beziehung zu Marguerite erhält ein Gleichgewicht, was sich für ihn in ihrem Lächeln ausdrückt.15 Im Text zweiten Grades geht dieses neue identitäre Gleichgewicht mit einem Gefühl der nationalen Zugehörigkeit einher: 13 Zur individuellen, sozialen und mythischen Lesart der Texte, siehe Olscamp 1991. 14 Siehe hierzu Gignoux 2003: 23 sowie Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Untersuchung. 15 „Elle n’était plus la femme d’un interminable regret. Elle souriait au soleil.“ (N: 132)

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J’étais de nationalité québécoise, assurément, un peu comme je me serais nommé Ducharme ou Lachance, captif de mon origine, participant à un discours commencé avant moi. (CC: 227)

In seinem Artikel „De la Nuit aux Confitures de coings: le poids des événements d’octobre 1970“ weist Gérard Pelletier zunächst darauf hin, dass der Bezug zwischen den zwei Texten von Autor- beziehungsweise Herausgeberseite widersprüchlich dargestellt wurde. Einerseits ist im Titel des Textes zweiten Grades der Zusatz „version entièrement nouvelle de La nuit“ zu finden. In diesem Sinne ist auch die Präzisierung „anciennement, la nuit“ zu verstehen. Andererseits schreibt Ferron in einem Brief an Gérald Godin über die „version corrigée“ seines Textes von 1965 (vgl. Pelletier 1983: 407). Pelletier interpretiert diese divergierenden Zuschreibungen als Gegensatz zwischen einem eigenständigen und einem abhängigen Text. Er geht davon aus, dass eine völlig neue Version eines vorhergehenden Textes als wirklich neuer Text zu verstehen sei, als „un texte vraiment nouveau auquel le premier a pu servir de générateur“ (ebd.), während eine korrigierte Version die Bedeutung des Gesamttextes nicht beeinflusse, auch wenn sie durchaus entscheidende Modifikationen durchführen könne. Pelletier entwirft ein Strukturmodell, um den Aufbau der beiden Texte zu vergleichen. Aufgrund der in etwa übereinstimmenden Anordnung von entsprechenden Elementen der Selektionsebene ordnet er Ferrons Les confitures de coings eher einer version corrigée zu. Der Unterschied zwischen einer korrigierten Fassung und einer völlig neuen Version einer Geschichte bleibt vage, da Pelletier diese auf der Basis einer textimmanenten Untersuchung zu entscheiden versucht. Als Entscheidungskriterium wird die Makrostruktur herangezogen, wenn Pelletier argumentiert, dass die „matrice originelle“ (ebd. 418) wiederzuerkennen sei, auch wenn Veränderungen durchgeführt würden. Vage bleibt jedoch der Spielraum, in dem sich derartige Modifikationen ausbreiten können, bis von einer „neuen Version“ auszugehen ist, denn Pelletier weist auf die nicht zu vernachlässigenden Unterschiede in Bezug auf Titelgebung, Figuren und Handlungskette hin und kann letztendlich die Frage nach der Beschaffenheit eines eigenständigen Werks, die Ferron mit seinem Textpaar aufwirft, nicht beantworten. Die Diskrepanzen in den Zuschreibungen als korrigierte Version beziehungsweise neuer Text weisen eher auf einen ambivalenten Status des Textes zweiten Grades hin, der zwar aus einem bereits bestehenden Text generiert wird, aber so entscheidende Modifikationen durchführt, dass ein mit der ersten Fassung konkurrierendes Erzähluniversum entsteht. Ferrons Ansatz entspricht einer als récriture-réécriture zu bezeichnenden Mischform, da der Prätext einerseits stilistisch und inhaltlich überarbeitet in einer korrigierten Version verlegt wird,

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welche den Prätext ersetzt. Somit degradiert der Sekundärtext den Primärtext gewissermaßen zu einem Entwurf oder zu einem Manuskript und kann durchaus ohne Kenntnis des vorangegangenen Textes rezipiert werden (réécriture). Andererseits verweist der Titel direkt auf den Prätext, kommuniziert somit den Status als Text zweiten Grades und entwirft ein so ähnliches Erzähluniversum, dass im Hinblick auf das Erzähluniversum des Prätextes ein Fiktionsbruch hervorgerufen wird. Der Text bietet dem Leser somit die Möglichkeit, ihn auf der Folie seines Prätextes zu lesen und konstatierte Abweichungen zu reflektieren (récriture). Der Unterschied zwischen réécriture und récriture erweist sich in diesem Sonderfall als dominant pragmatisch, ist es doch dem Rezipienten überlassen, eine lecture palimpsestueuse durchzuführen, auch wenn der Autor diese nicht unbedingt intendiert. Eine Vergleichslektüre fördert signifikante Unterschiede zum Prätext zu Tage. Zum einen sind zahlreiche stilistische Korrekturen zu konstatieren, zum anderen stellt Pelletier jedoch neben der leicht ersichtlichen Änderung des Titels weitere maßgebliche Modifikationen wie die Darstellungen der Figuren sowie eine bedeutungsstiftende Auslassung in der Handlungskette des Textes zweiten Grades fest. Erstere betreffen beispielsweise die Ersetzung von „canadien français“ durch „québécois“. Hier wird deutlich, dass sich die Erzählinstanz dem im Laufe der sechziger Jahre veränderten Sprachgebrauch anpasst. Diese Veränderung deutet über den Vergleich mit der textexternen Referenzwelt die spätere zeitliche Verortung der Handlungskette an, die Geschichte wird somit zeitlich transponiert. Die zweite Gruppe von Modifikationen wird im Folgenden aufgrund ihres stark bedeutungstragenden Potenzials näher betrachtet. Pelletier gelingt es, jede dieser gewichtigeren Abänderungen auf Ferrons Sichtweise der Oktoberkrise16 zurückzuführen. Ferron hat sich zwar aktiv auf Seiten der Unabhängigkeitsaktivisten engagiert, doch sieht er den Front de Libération du Québec kritisch und 16 Die Front de Libération du Québec (FLQ) verübt ab 1963 im Namen der Befreiung Québecs von einer anglophonen Vorherrschaft mehrere terroristische Attentate in der Provinz Québec, die im Oktober 1970 mit der Entführung und Ermordung des Arbeitsministers Pierre Laporte kulminieren. Der kanadische Premierminister Pierre Elliott Trudeau ruft den Notstand aus und ordnet Massenverhaftungen an. Insgesamt führt das gewaltsame Vorgehen beider Seiten zu einer Stärkung des politischen und pazifistischen Arms der Unabhängigkeitsbewegung, der Parti Québécois, die mit dem Projekt einer souveraineté-association 1976 die Parlamentswahlen in Québec gewinnt, im Jahr 1980 jedoch mit einem ersten Referendum über dieses Unabhängigkeitsmodell scheitert. Siehe zur Oktoberkrise zum Beispiel Pelletier 1971.

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bewertet nach 1970 vor allem die Rolle der anglophonen liberalen Oberschicht neu, zu der in der TAW Frank Archibald Scott17 zu zählen ist. Zunächst wird Frank nicht mehr als Schotte, sondern als Brite bezeichnet. Der Anglokanadier wird somit nicht mehr einem Kollektiv zugeordnet, das mit den Frankokanadiern die Unterdrückung durch die britische Krone gemeinsam hat, sondern einer als feindlich wahrgenommenen Nation, so dass die Differenz in der nationalen Zugehörigkeit, die zwischen Frank und François auch im Prätext besteht, in der späteren Fassung semantisch eindeutig negativ beladen wird. Parallel geht damit ein verstärktes Zugehörigkeitsgefühl Ménards zum Québecer Kollektiv einher, ein „enquébécoisement“ (Pelletier 1983: 412), das bereits in der Inhaltsangabe angesprochen wurde (vgl. Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 438). Ferron nennt in seinem autobiografischen Anhang Franks Solidarisierung mit Pierre Elliott Trudeau als Hintergrund für diese Modifikation: „Alors j’ai regretté que ‚La Nuit‘ n’ait été qu‘une fiction. Elle le restera mais j’en change le titre pour insister sur le poison“ (Ferron 1972a: 265). Diese herbe Enttäuschung über die Positionsnahme des anglophonen Liberalen spiegelt sich im Text einerseits darin, dass die neue Fassung das Gift, mit dem Frank umgebracht wird, im Titel hervorhebt. Andererseits kann sie in der Präsentation Franks als Feind und weniger als potenzieller Weggefährte, veranschaulicht werden, war er François im Prätext doch trotz seines Berufs noch als „homme plutôt sympathique“ (N: 58) erschienen. Die Notwendigkeit, Frank und das, was er verkörpert, zu beseitigen, gewinnt somit im Text zweiten Grades an Bedeutung. Scott, bien entendu, représente bien plus que l’individu Frank Scott: il symbolise – comme son double fictif Frank Cambell – la communauté anglophone soi-disant progressiste de Montréal qui, dans ce moment de vérité qu’a constitué la crise, s’est révélée sous son vrai jour de minorité dominante tenant à ses privilèges et à son pouvoir. (Pelletier 1983: 414)

In diesem Zusammenhang ergibt sich eine weitere Modifikation. So tritt ein Ereignis der Handlungskette, Françoisʼ Begegnung und Solidarisierung mit einem FLQ-Militanten, im zweiten Text nicht mehr auf. Pelletier führt diese Auslassung darauf zurück, dass Ferron die Strategie der FLQ nunmehr als zum Scheitern verurteilt ansah. Während die Linksintellektuellen in den sechziger Jahren noch offen mit der Befreiungsfront sympathisierten, auch wenn ihre terroristi17 Die Figur des Frank Archibald Scott wurde von Frank Reginald Scott (1899-1985), einem politisch aktiven anglophonen Juristen und Dichter aus Montréal inspiriert, der sich anlässlich der Oktoberkrise mit Trudeau solidarisierte (vgl. Olscamp 1991: 167, Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 332-338).

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sche Vorgehensweise in Parti pris kritisiert wurde, hat sich die Einstellung nach der Oktoberkrise entscheidend gewandelt (vgl. ebd.: 418). Im direkten Vergleich offenbart sich somit zunächst eine Entwicklung innerhalb von François’ Figurendomäne, indem sich seine Wahrnehmung vor allem gegenüber Frank – der als Repräsentant der liberalen anglophonen Oberschicht gesehen wird – und gegenüber der FLQ grundlegend geändert hat. Da sich diese Modifikationen eindeutig auf Ferrons Verständnis der Oktoberkrise 1970 zurückführen lassen und der Autor zudem in seinem Anhang einräumt, dass er sich mit seinem Protagonisten identifiziere,18 wird die récriture zu einer fiktionalisierten persönlichen Bestandsaufnahme Ferrons der nach der Oktoberkrise veränderten politischen und gesellschaftlichen Situation Québecs. Anhand der modifizierten Figurendomäne des frankophonen Protagonisten sowie einer gewichtigen Änderung auf der Selektionsebene wird eine Entwicklung veranschaulicht, die bei der Lektüre nur eines der Texte verborgen bliebe. Gleichzeitig fokussieren die Modifikationen bei der auf Unterschiede abhebenden lecture palimpsestueuse die soziale beziehungsweise politische Lesart der Texte auf Kosten einer individuellen oder mythischen. Letztere wird dadurch gerechtfertigt, dass der komplexe Prozess der Bewusstwerdung in beiden Texten relativ unverändert mythisch überhöht wird. Die Äquivalenz in der Namensgebung von Frank und François wird dadurch verstärkt, dass beide aus dem gleichen Dorf stammen. Neben dem Mythos des Doubles ist die Umkehrung des Faust-Stoffes zu nennen: „Faust avait vendu son âme pour accéder à la connaissance, alors que Ménard avait abandonné la sienne pour pouvoir perdre la mémoire“ (Olscamp 1991: 160). Anzuführen wäre auch die Ähnlichkeit zwischen dem Namen des Taxifahrers Alfredo Carone, der François auf seiner Initiationsreise über den Saint-Laurent befördert, und demjenigen des Fährmanns Charon aus der griechischen Mythologie, welche dadurch unterstützt wird, dass sich Carone selbst als „passeur“ bezeichnet und François mitteilt: „[J]e vous transborde au-dessus du fleuve.“ (N: 38) Die dadurch anklingende Todesisotopie wird auch durch die Tatsache unterstützt, dass die Adresse, die François von Frank erhalten hatte, und die er jetzt aufsuchen möchte, diejenige des Leichenschauhauses ist (vgl. N: 35). Auch auf die christliche Mythologie wird in einem Pastiche der Genesis in François’ Kindheitserinnerungen angespielt: „Au commencement du monde, l’esprit de Dieu planait sur les eaux glaiseuses du lac Saint-Pierre“ (N: 82).

18 „Il ne faut pas être bien malin pour deviner que c’est moi dans ce personage.“ (Ferron 1972a: 266)

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Die hier nur angedeutete Vielschichtigkeit des Textes, die sowohl La nuit als auch Les confitures de coings zu pluridimensionalen und hochgradig ambigen Werken macht (vgl. Olscamp 1991: 161), wird bei einer lecture palimpsestueuse auf Kosten der sozio-politischen Lesart in den Hintergrund gerückt. Die récriture-réécriture führt somit zu einer Vereindeutigung der Interpretation. Diese Fokussierung wird durch die erklärenden Kommentare des Autors im Anhang noch verstärkt, was Marcel Olscamp folgendermaßen erklärt: „Il faut croire que l’urgence de ce message exigeait que tout le reste lui soit subordonné.“ (Ebd.: 167)

3.5 D IE AVANTGARDE DER RÉCRITURE : H UBERT AQUINS N EIGE NOIRE Während sich viele der bisher gezeigten Formen der Wiederaufnahme eines fiktionalen Universums nicht in Bezug auf alle Kritierien der récriture zuordnen lassen – sei es wegen fehlender Kommunikativität, welche die Gefahr einer aleatorischen Intertextualität19 birgt, sei es wegen des Anspruchs, den Prätext zu verdrängen – so hat sich auch gezeigt, dass es lange vor 1980 hochgradig selektive und strukturelle Intertextualitätsbeziehungen im Québecer Roman gab. Die Vorläufer der récriture als dominant metatextuelle Schreibstrategie finden sich jedoch vermehrt erst in den siebziger Jahren. Aufgrund seiner innovativen Form der Integration von Intertexten in seine Werke kann Hubert Aquin als Avantgarde der selbstreflexiven Intertextualität gesehen werden. Sein hochgradig intertextuelles und selbstbetrachtendes Werk hat im Québecer Korpus eine Ausnahmestellung, seit sein erster Roman, Prochain épisode, 1965 wie eine Bombe einschlug (vgl. Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 427). Dabei beinhaltet es einige Romane, die zumindest ansatzweise die Technik der récriture verwenden.20

19 Siehe zu Mikaël Riffaterres Unterscheidung in eine obligatorische und eine aleatorische Form der Intertextualität, die er in „La trace de l’intertexte“ erläutert, Riffaterre 1980: 4 sowie Kapitel 2.1 der vorliegenden Untersuchung. 20 André Lamontagne stellt in Les mots des autres (1992) für Trou de mémoire und Prochain épisode eine Hypertextualität nach Genette fest. Auch wenn bei letzterem Roman die Systemreferenz zu Spionageromanen, deren Gattung Aquin subvertiert, bedeutender scheint als die Einzeltextreferenz, deutet dieser Text einige Strategien an, die in späteren Romanen ausgebaut werden. Neben den Verweisen auf Nabokovs Lolita gestaltet sich der Umgang mit dem Balzac-Intertext besonders metatextuell, da er

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Insgesamt greift Aquin mit seinen schreibenden Protagonisten eine Tendenz auf, die den Roman in Québec ab den sechziger Jahren auszeichnet, das Vorhandensein des „écrivain imaginaire“, (Tremblay 2004), des Schriftstellers als literarische Figur. Am komplexesten gestaltet sich in dieser Hinsicht sein letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Roman, Neige noire (1974). Genau genommen liegt bei diesem Text eine Grenzform der récriture zur Adaptation vor, da der Prätext, Shake-

eine Reflexion über das Konzept der Originalität des literarischen Werks enthält. Der Balzac-Prätext ist in Prochain épisode explizit markiert und Teil der TAW, denn der namenlose Erzähler kommentiert seine Lektüre von Balzacs L’Histoire des Treize und zitiert unter anderem den ersten Satz des Romans (vgl. Aquin 1992: 15). Die Verbindung der Erzähluniversen beruht dabei darauf, dass sich der in die Psychiatrie eingewiesene Erzähler und Protagonist mit Balzac und dessen Protagonisten Ferragus identifiziert. In diesem zweifachen Identifikationsprozess wird die Dualität des Erzählers klar, der sich als Schriftsteller in dem Romanautoren Balzac und als politischer Aktivist in dem Mann der Tat Ferragus wiedererkennt (vgl. Lamontagne 1992: 105). Der Beginn des Romans erinnert ihn beispielsweise an seine Waffenbrüder, von denen er unwiederbringlich getrennt ist (vgl. ebd.: 93). Die wichtigste Gemeinsamkeit scheint jedoch im Begriff der impuissance zu finden zu sein, der im Französischen sowohl Balzacs vermutete Impotenz als auch die Ohnmacht des eingeschlossenen Erzählers beschreibt, der die Revolution nicht aktiv fortführen kann, gleichzeitig aber auch nicht in der Lage ist, seinen Spionageroman zu schreiben, was sich darin äußert, dass der Protagonist seinen Widersacher H. de Heutz nicht umbringen kann (vgl. ebd.: 105, 107). Der Erzähler trifft die Entscheidung, Balzac zu rächen und zwar gegenüber Georges Simenon, der die Impotenz des Schriftstellers – und damit die Ohnmacht des Erzählers – enthüllt hatte. Lamontagne deutet zudem die Faszination Aquins für Simenon an (vgl. ebd.: 108). Die Tatsache, dass die Beschreibung des Schlosses, in dem der Protagonist H. de Heutz töten will, genau Simenons Haus in Épalinges entspricht, ist ein Zeichen dafür, dass der Hauptkonflikt von Prochain épisode nicht mit Balzac sondern mit Simenon ausgetragen wird und in einem Problem der Originalität zu verorten ist. (vgl. ebd.: 108, 109). Prochain épisode erscheint damit wie eine Illustration des Mechanismus, den Harold Bloom in Anxiety of Influence erläutert, und die den jungen Schriftsteller zwingt, sich einen imaginären Raum „freizuschaufeln“, „[to] clear imaginative space“ (Bloom 1997: 5). Aquins Verarbeitung seiner Ehrfurcht vor Georges Simenon äußert sich jedoch in Prochain épisode im Gegensatz zu seiner Aufnahme Balzacs nicht mit Verweisen auf Simenons Werk, sondern mit Bezügen auf den Autor selbst.

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speares Hamlet, kein narrativer Text ist, sondern ein Drama, das auf einem anderen Rezeptionsdispositiv basiert. Es liegt in dem mit der Gattungsbezeichnung Roman veröffentlichten Text sogar eine zweifache Gattungsüberschreitung vor. Das Drama geht in einem autobiografischen Drehbuch des Protagonisten auf, das wiederum ergänzt durch Gedanken eines Kommentators den Roman Neige noire darstellt. Indem Hubert Aquin seinen innovativen ciné-roman zudem auf der Folie des Shakespeare’schen Intertextes21 entrollt, fungiert er als Vorreiter für die selbstreflexivste Form der récriture, welche die Integration des gesamten Prozesses der récriture in das neue Erzähluniversum erlaubt.22 Der Schauspieler Nicolas Vanesse, der in einer Fernsehaufführung von Hamlet den Fortinbras verkörpert, teilt nach der ernüchternden Erfahrung – er identifiziert sich eher mit Hamlet als mit Fortinbras – seiner Verlobten Sylvie mit, dass er nach ihrer Hochzeitsreise die Schauspielerei aufgeben und ein autobiografisches Drehbuch verfassen werde. Der Roman stellt nun das vor den Augen des Lesers entstehende Drehbuch dar. Der Charakter als in Arbeit befindliches Werk wird dabei vor allem durch eingeschobene Reflexionen eines Kommentators – höchstwahrscheinlich Nicolas selbst – deutlich. Der Prätext wird auf verschiedene Arten in das Drehbuch eingespielt. Wörtlich zitiert wird Hamlet sowohl bei den Proben als auch bei der Ausstrahlung der Fernsehaufführung. Gerade bei letzterer wird die Verflechtung des Prätextes mit der TAW aus Neige noire sehr deutlich, denn mit Hilfe einer Montage-Technik wird eine Liebesszene zwischen Nicolas und Eva parallel zu Hamlets Gespäch mit Fortinbras, das der Film zeigt, geschnitten: HAMLET Je suis semblable à l’ombre … Eva lève la tête; les deux sont immobiles. HAMLET Le monde est un rêve et le rêve est un monde … Immobiles, mais comme un équilibre instable 21 Hamlet stellt nicht den einzigen Intertext von Neige noire dar. So hebt Patricia Merivale (1980: 322) Anspielungen auf Robbe-Grillets ciné-romans hervor, Pierre-Yves Mocquais (1985: 148) führt unter anderem Parallelen zu Kleists Penthesilea an. Insgesamt ist jedoch der mehrfach kommunizierte Bezug auf Shakespeares Tragödie dominant. 22 Siehe hierzu Kapitel 4.3 der vorliegenden Untersuchung.

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sur leur ancrage, Eva et Nicolas semblent, par instants, osciller un peu, obéir à quelque vent léger et doux. NICOLAS Fortinbras fera bientôt son apparition à l’écran […] FORTINBRAS Où donc est ce spectacle? Eva s’immobilise, le regard bien braqué sur la surface renflée de la télévision. […] (NN: 184)

Die hier angedeutete Vermischung von Hamlets Welt mit derjenigen Nicolasʼ, welche die Identifikation mit der tragischen Figur andeutet, wird im Laufe der weiteren Handlung untermauert. So zitiert Nicolas beispielsweise Hamlet, als er auf Spitzbergen einen Totenschädel findet (vgl. NN: 111). Durch derartige Intertextualitätssignale wird die Aufmerksamkeit auf die Parallelen im Aufbau des Erzähluniversums und im Ablauf der Geschichte gelenkt. Auch wenn einige Charaktere nicht genau die gleiche Rolle spielen wie im Prätext, kann doch mit Lamontagne eine Überstimmung der Kernthematik und -intrige festgestellt werden, eine durch ein inzestuöses Verlangen ins Rollen gebrachte Kette der Gewalt (vgl. Lamontagne 1992: 95). Der Auslöser des Plots, der Tabubruch, ist jeweils der erzählten Handlung vorgelagert und wird analeptisch nachgereicht. Dabei entspricht Sylvies inzestuöse Beziehung zu ihrem Vater, Michel Lewandowski, in ihrer katastrophalen Auswirkung dem Mord Claudius’ an seinem Bruder. Dass Claudius Hamlets Vater ermordet und kurz darauf seine frühere Schwägerin geheiratet hat, wird jedoch schon im ersten Akt des Prätextes (Shakespeare 2003: 44) enthüllt. Trotz dieser offensichtlichen Parallelen erschöpft sich Aquins Ansatz keineswegs in einer Nachahmung23 des Dramas, baut er doch mit Hilfe des sehr freien Umgangs mit dem berühmten Vorbild ein Netz von Zusatzbedeutungen und Lektürepisten auf, das der Leser entschlüsseln muss. Einerseits weist der 23 Die Orientierung am Prätext ist für Lamontagne eine Möglichkeit der Überwindung von Aquins „crainte de la représentation écrite“ (Lamontagne 1992: 199), seiner Angst vor der Erschaffung einer fiktiven Intrige. Lamontagne interpretiert somit die récriture Hamlets zunächst als eine Auslagerung des Kreationsprozesses, eine Aneignung von Elementen eines fremden fiktionalen Universums, die den Rohstoff für eine weitere Verarbeitung bieten.

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Hamlet-Intertext auf die geschichtliche Überdeterminiertheit der Inzest-Thematik hin und stellt eine Fülle von Doubles für die Charaktere bereit (vgl. Lamontagne 1992: 199), wodurch die einzelnen Dialoge eine Zusatzbedeutung erhalten. Andererseits, so argumentiert Patricia Merivale (1980: 318), bietet der Rückgriff auf das bekannte Stück Hamlet für den Rezipienten zunächst eine gewisse Orientierung in diesem sehr komplexen, von Diskontinuitäten und Wiederholungen geprägten Roman. Für den Leser von Neige noire kann der HamletIntertext schon von Beginn an die Inzest-Thematik und den tragischen Verlauf ankündigen, wirkt jedoch durch die sparsam eingestreuten Hinweise – die Inzestrelation Sylvies wird erst im letzten Viertel des Romans entlarvt – spannungssteigernd. Insgesamt spielt sich die Wiederaufnahme vorwiegend auf der Geschichtsebene ab, die in eine komplexe Verschachtelungs- und Montagestruktur gefasst ist, so dass die Verweise auf Hamlet, wie oben angedeutet, mehrere Textebenen betreffen. Der bereits erwähnte Kommentator nimmt in Form metatextueller Anmerkungen gewagte Interpretationen am Prätext vor. Beispielsweise geht Nicolas davon aus, dass Hamlet und Fortinbras Zwillinge seien. Nicolas’ Behauptung, „ce qu’il faut retenir, c’est que Hamlet et Fortinbras étaient des jumeaux“ (NN: 202), wird durch den Anschein einer objektiven Recherche im darauf folgenden Kommentar untermauert und somit innerhalb der TAW von Neige noire als Fakt angesehen, obwohl diese Verwandtschaftsbeziehung nicht nachgewiesen ist (vgl. Mocquais 1985: 158, Merivale 1980: 319). Nicolasʼ sehr freie Interpretation des Theaterstückes kann als Hinweis auf seine wachsende „folie démiurgique“ (Mocquais 1985: 205ff.) gelesen werden. Er eignet sich den Text für seine Zwecke an und überträgt ihn auf die TAW. Am Umgang des Protagonisten mit dem Prätext wird auch ein Unterschied in den Figurendomänen der Protagonisten deutlich. Hamlet handelt zum Teil aus Pflichtgefühl gegenüber seinem Vater, der ihm als Geist erscheint und Rache fordert. Nicolasʼ Motivation ist rein intrinsischer Natur. Seine Rachegefühle sind nicht von Ehrgefühl bestimmt und mischen sich mit dem Willen zu einer schriftstellerischen Allmacht. Hamlets vorgespielte Verrücktheit scheint bei Nicolas zudem eine echte Geisteskrankheit zu sein. Präziser gefasst ist die Rolle der Tragödie Hamlet für Nicolas als kathartisches Ritual gedeutet worden, das er ausführe, um die Schmach zu überwinden, die Sylvies Tabubruch verursacht hat (vgl. Mocquais 1985: 155). Nicolas’ Motivation, an der Verfilmung einer Hamlet-Aufführung teilzunehmen, ist dabei nach Mocquais der Versuch, die Grenzüberschreitung in eine geordnete Situation zurückzuführen:

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C’est la raison pour laquelle Nicolas, plongé dans une situation de violence à la suite de la transgression de l’interdit de l’inceste et à la suite de sa temporaire émasculation, peut effectivement rechercher et découvrir, dans la participation à la représentation d’une tragédie, une catharsis qui, jouant le rôle de purge, permettrait le rétablissement d’un ordre momentanément détruit. (Ebd.)

Mocquais überträgt in einer psychokritischen Lektüre von Neige noire C. G. Jungs Phasenmodell aus Psychologie et Alchimie (vgl. ebd. 159ff.) auf Aquins Roman und setzt den Fokus auf die Transformationen, die Aquin vornimmt, um in Nicolas einen produktiven Rezipienten darzustellen, der in seiner Identifikation mit Hamlet auf der einen und Fortinbras auf der anderen Seite zerrissen ist. Der Prozess der Entscheidung äußert sich nach Mocquais dabei in einer Übergangsphase als Parodie eines exorzistisches Rituals, das Nicolas an Linda ausführt. Diese ist als Darstellerin der Ophelia24 in der Hamlet-Inszenierung und als vorgesehene Besetzung für die Rolle der Sylvie in Nicolas’ Film geradezu prädestiniert, als Ersatzopfer zu fungieren. Für den Leser entsteht hier eine proleptische Ankündigung des Mordes an Sylvie, die jedoch als symbolisches Opfer die Ordnung genauso wenig wiederherstellen kann wie die vorherige gescheiterte kathartischen Reinigung durch das Theater. Ein weiterer Versuch, den Tabubruch vergessen zu machen, ist die Hochzeitsreise (vgl. Mocquais 1985: 170), bei der jedoch das Auffinden von menschlichen Knochen Sylvies Tod anzukündigen scheint. Dies wird unterstützt durch Nicolas’ Hamlet-Zitate, die das Gespräch Hamlets mit dem Totengräber am Grab Ophelias wiedergeben (vgl. ebd.: 177). Der Ritualmord an Sylvie, bei dem Nicolas unter anderem ihr Blut trinkt, um die ihm zugefügte Verletzung auszugleichen, ist für den Protagonisten das ultimative Mittel, um die Ordnung wiederherzustellen und den Tabubruch zu vergelten (vgl. ebd.: 180). Die Tragödie Hamlets scheint sich für Nicolas positiv aufzulösen und seine Verwandlung in den siegreichen Fortinbras perfekt zu sein, wenn der Kommentator die Parallele zieht: „Fortinbras, prince héritier de Norvège, se retrouve roi du Danemark avant de l’être de Norvège, alors que Nicolas Vanesse, Fortinbras au second degré, s’empare Eva Norvège avant d’en hériter.“ (NN: 204) Ungeschehen kann Nicolas die Grenzüberschreitung jedoch nicht machen, seine Figurendomäne ist weiterhin mit Mangel behaftet. Sein Mittel auf der Suche nach einer endgültigen Überwindung und Reinigung vom erlittenen Tabu24 Parallelen zwischen Sylvie und Ophelia werden vor allem mit Hilfe des Bildes ausgebreiteter Haare erzeugt. Genauso wirkt eine Anspielung auf das Ertrinken der Schwester Laertes’, das Sylvie nachempfindet (vgl. Mocquais 1985: 164).

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bruch ist sein Filmprojekt. Das Schreiben stellt als kreativer Akt eine Steigerung zu seinen bisherigen Versuchen dar, gibt es ihm doch die Möglichkeit, sich selbst zu finden und mit Hilfe der exakten Darstellung seiner Geschichte zu konturieren. Diese Selbstvergewisserung ist als Antwort auf die Gefahr der Auflösung seiner Identität zu verstehen, den der Tabubruch als Grenzüberschreitung mit sich bringt. Aus diesem Grund besteht Nicolas auf der Authentizität der dargestellten Ereignisse und unterwirft sich den Ansprüchen des autobiografischen Paktes, verfolgt er doch mit seinem Schreiben laut Mocquais eine Suche nach der Absolutheit (vgl. Mocquais 1985: 186). Gleichzeitig wird dieser Anspruch jedoch durch die Wahl des kinematografischen Schreibens unterminiert, denn die Wahl dieser Vermittlungsstrategie bedingt, dass sein Schreiben an der Oberfläche des Sichtbaren bleiben kann und zudem darzustellende Ereignisse auswählen muss. Der selektive Charakter der Realitätsdarstellung offenbart sich auch in Bezug auf seinen Umgang mit Hamlet. Das Stück scheint ihm als Rechtfertigung zu dienen, seine Geschichte eben nicht als Einzelfall, sondern als wiederkehrende Episode der Geschichte der Menschheit zu sehen (vgl. Lamontagne 1992: 214). Das Drehbuch-Projekt erweist sich in Neige noire als Entsprechung des Stücks im Stück im Prätext. Während „The Mouse Trap“ (Shakespeare 2003: 112-120) in Hamlet eine Falle darstellt, in die der König tappt, ist das Drehbuch im Roman, Nicolas’ autobiografisches Filmprojekt, genauso ein Mittel der Entlarvung, hier jedoch der Selbstentlarvung. Beim Schreiben des Drehbuchs versucht Nicolas zwar zunächst, den Mord an Sylvie, den er während ihrer Hochzeitsreise begeht, als Selbstmord zu tarnen und das Verbrechen mit einer Ellipse auszublenden. Diesen Mord muss er schließlich jedoch auf Drängen von Sylvies Double, Eva, – sie soll Sylvies Rolle im Film übernehmen und fordert Hintergrundinformationen – offenlegen. Nicht der geplante Film, sondern das Schreiben an sich wird für Nicolas zur Falle, denn im Gegensatz zum elliptisch aufgebauten Film, der die Verheimlichung gestattet hätte, entlarven Nicolas’ Notizen seine Tat: „[L]a réalité autobiographique vient subvertir le projet de fiction du scripteur, le rend impuissant à fabuler.“ (Lamontagne 1992: 205) Die intertextuelle Verarbeitung Hamlets in Neige noire lässt sich mit Lamontagne somit folgendermaßen zusammenfassen: Cette insertion d’extraits de Hamlet pose une double analogie structurelle, Hamlet étant à Neige noire et le scénario autobiographique étant à la structure d’ensemble du roman ce que ‚La souricière‘ est au drame de Shakespeare. (Ebd. 207)

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Nicolas’ Scheitern äußert sich im Text durch die wachsende Inkohärenz des Drehbuchs (vgl. ebd.), das schließlich in einer mystisch angehauchten lesbischen Liebesszene zwischen Linda und Éva kulminiert, die, wie Lamontagne bemerkt, den Leser perplex zurücklässt: „Le malaise que l’on ressent devant l’extase mystique qui gagne Éva, Linda et le commentateur à la fin du texte tient à ce que le scénario ne justifie pas, ne fonde pas cette extase.“ (Lamontagne 1992: 215) Zwar überlebt Nicolas im Gegensatz zu Hamlet, doch ist es unmöglich, die Tragödie glaubhaft aufzulösen, auch wenn in der TAW ein happy ending konstruiert werden kann. Wie zu Beginn angekündigt, kann Nicolas die siegreiche Rolle des Fortinbras niemals ganz einnehmen, er löst sich vielmehr im Schreiben auf (vgl. Paterson 1994: 77), indem er aus seinem eigenen Text verdrängt wird. Insgesamt zeichnet sich die Wiederaufnahme Hamlets in Aquins viertem Roman auch in dieser knappen Darstellung durch ihre Komplexität aus und deutet eine Praxis neuester récriture-Romane an. Aquin kann als Vorreiter der dritten Form der récriture angesehen werden, die durch die Aufspaltung in mehrere Fiktionsebenen eine Interaktion der Texte erlaubt. Indem er eine direkte Auseinandersetzung mit dem Prätext in Neige noire integriert und diesen im neuen Erzähluniversum inszeniert, bricht er die hierarchische Beziehung zwischen Prätext und aufnehmendem Text auf und führt eine Reflexion über die (Ohn-)Macht des Schöpfers einer erzählten Welt ein.

3.6 R ÉCRITURE AU FEMININ AM B EISPIEL VON L OUKY B ERSIANIKS L E PIQUE - NIQUE SUR L ’A CROPOLE Die siebziger Jahre sind in Québec wie in Europa und den Vereinigten Staaten vom verstärkten Aufkommen des Feminismus geprägt. Die Reflexion der condition féminine und damit einhergehend die Emanzipation der Frauen stellen eine wichtige Umbruchsphase auch in Québec dar, die sich mit Hilfe des Vehikels der Literatur ausdrückt. Ab diesem Zeitpunkt verändert zudem die experimentelle und politisch motivierte Schreibpraxis einer Reihe feministischer Schriftstellerinnen den Literaturbetrieb Québecs und reichert ihn mit feministischen Literaturtheorien an (vgl. Gould 1990: xiv). Schwerwiegendster Kritikpunkt der von amerikanischen Feministinnen beeinflussten Frauenbewegung Québecs war die Feststellung, dass die Frau keinen Platz in der Sprache habe. Daher besteht ein bedeutendes Aktionsfeld der Feministinnen darin, weibliche Berufsbezeichnungen durchzusetzen. Dass ihnen dies gelungen ist, zeigt sich an der heute gängigen Unterscheidung von écrivains und

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écrivaines beziehungsweise auteurs und auteures, die in bis heute in Frankreich nur zögerlich praktiziert wird.25 In Bezug auf literarische Veröffentlichungen wurde entsprechend eine écriture au féminin26 als spezifisch weibliches Schreiben initiiert. Die écriture au féminin setzt ähnlich wie eine Übersetzung „traduit en québécois“ – so der Untertitel von Michel Garneaus MacBeth-„tradaptation“ (Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 512) eine Aneignungsbewegung voraus und ist eine hochgradig dialogische Form der récriture – verstanden als ideologische Verschiebung, welche durch die Anknüpfung an bekannte Modelle ihr subversives Potenzial besonders wirkmächtig entfalten kann. Ziel dieser mit extensities (vgl. Moraru 2001) ausgestatteten récriture ist es, die als maskulin dominiert wahrgenommene Kultur für die Frauen zu vereinnahmen. Es handelt sich somit um ein politisches Projekt, das mit Hilfe der écriture au féminin konventionelle literarische Formen aufbrechen, patriarchalisches Denken anklagen und dabei die weibliche Erfahrung in die Literatur einschreiben will (vgl. Gould 1990: 35). Schreiben wird von feministischen Schriftstellerinnen der siebziger und achtziger Jahre wie Louky Bersianik, Denise Boucher und France Théoret sowohl als ein individueller als auch als kollektiver Akt angesehen. Dies äußert sich nach Gould (1983: 299) darin, dass sie vermehrt in den Dialog mit ihren historischen Vorläuferinnen und ihren Mitstreiterinnen aus anderen Kulturräumen treten, aber auch an zahlreichen gemeinsam verfassten oder anderen Schriftstellerinnen gewidmeten Werken (vgl. Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 518). Louky Bersianik (eigentlich Lucine Durand) konnte mit ihrem Roman L’Euguélionne (1976), einer „sorte de Bible au féminin“ (Dorion 1997: 361), in der sie auf provokative und militante Weise die Missstände einer patriarchalischen Kultur anprangert und lächerlich macht, die Aufmerksamkeit des literarischen Betriebs auf diese Problematik lenken. Dem Aufruf Luce Irigarays, den überlieferten philosophischen Diskurs aus feministischer Sichtweise neu zu lesen und die traditionelle Kultur hinsichtlich der Position der Frau zu durchleuchten (vgl. ebd.), folgt Bersianik in Le pique-

25 Siehe zur Feminisierung von Berufsbezeichnungen in Frankreich und Kanada zum Beispiel Schafroth 1992. 26 Die in Québec mit einem traditionellen Frauenbild konnotierte Bezeichnung écriture féminine wurde in der Belle Province durch den der écriture au féminin beziehungsweise écriture des femmes ersetzt, der teilweise in der Gleichsetzung als écriturefemme kondensiert und radikalisiert wurde (vgl. Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 517f.). Zum Ursprung dieser Begriffseinführung, siehe Knutson 2000: 193-206; zur Debatte um diesen sehr umstrittenen Begriff, siehe zum Beispiel Bordeleau 1998.

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nique sur l’Acropole (Bersianik 1992 [1979]), ihrer récriture von Platons Le banquet, die im Folgenden näher untersucht wird: En plus de démonter les bases de la philosophie traditionnelle, le Pique-nique sur l’Acropole critique vivement la psychanalyse de Sigmund Freud et de Jacques Lacan (nommé St-Jacques Linquant), en posant que la mutilation physique et morale de la femme est fondamentalement liée à une idéologie patriarcale. (Paterson: 1994a: 638)

Le pique-nique sur l’Acropole versteht sich als subversive récriture von Platons Le banquet, in dem, wie der Untertitel De l’amour ankündigt, über die Liebe diskutiert und philosophiert wird. In einer zeitlich parallel angesiedelten Welt zu Platons Gastmahl treffen sich sieben Frauen, darunter Xanthippe, Sokrates’ Ehefrau, um ein Picknick auf der Akropolis abzuhalten. Dies kann als Inbesitznahme eines öffentlichen Raumes angesehen werden, von dem sie vorher ausgeschlossen waren (vgl. Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 523), beinhaltet somit eine implizite Kritik an der Position der Frau bei Platon. Im Gegensatz zu ihren berühmten männlichen Vorgängern können sich die Frauen kein Trinkgelage beziehungsweise Gastmahl leisten (vgl. Bersianik 1992: 52), wodurch sich ihre unterlegene gesellschaftliche Stellung manifestiert. Die Handlung verläuft vorwiegend verbal und konzentriert sich auf die Gespräche der Frauen während des Picknicks, welche die philosophischen Dialoge des Prätextes widerspiegeln. Während in Le banquet, in dem explizit Männer als stärker und intelligenter als Frauen angesehen werden (vgl. Platon 1997: 46f.), die höchste Stufe der Liebe in der spirituellen Kontemplation der Schönheit erreicht ist, und die Erfüllung physischer Bedürfnisse mit Frauen auf der untersten Hierarchieebene anzusiedeln sind (vgl. ebd.: 131-135), betonen die Erzählerinnen bei Bersianik gerade die sinnlichen Genüsse: Playing the role of Sokrates, Bersianik’s Ancyl sums up the discussion only to validate the diverse experience of all the speakers, insisting on the multiple dimensions of feminine sexuality. (Green 1981: 615)

Bersianik geht es weniger um die Umkehrung der bisherigen Hierarchie zwischen Männern und Frauen, sondern um die Auflösung konstruierter Geschlechterrollen, wie sie im Gespräch mit Jean Royer angibt: „Il faut les détruire, les sexes, d’abord. Il faut recommencer à vivre avec son corps.“ (Royer 1991: 78) Das Picknick kulminiert darin, dass die Karyatiden am Ende des Gastmahls zum Leben erweckt werden. Die Tatsache, dass die Säulenträgerinnen lebendig werden, kann als Symbol für den erhofften Übergang aller Frauen von den stummen,

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die Männer unterstützenden Figuren, zu der sie seit der Antike gemacht worden seien, zu kommunikativen und aktiven Wesen gelesen werden: Les Caryatides symbolisent tout simplement les femmes qui soutiennet le discours patriarcal, comme Diotime dans Le banquet, même si c’est un homme qui la fait parler. (Smith 1982: 67)

Das Verfügen über die Sprache wird somit als Ausdruck der Macht wahrgenommen (vgl. Merivale 1981: 130). Karen Gould verweist darauf, dass dieser Akt der Transformation und Wiederherstellung eine Metapher für den Akt des Schreibens ist, durch den die Erzählerin die Entstehung des Textes mit der Erweckung ihres eigenen – als marmorn wahrgenommenen – Körpers gleichsetzt (vgl. Gould 1993: 181). Schreiben ist hier nicht nur ein Befreiungsakt, sondern ein Akt der weiblichen Solidarität: „Her book is dedicated to Luce Irigaray and Françoise d’Eaubonne, and direct quotations from various feminist sources are sprinkled throughout the text, an explicit intertextuality essential to Bersianik’s form.“ (Green 1981: 616) Bersianik zeigt in ihrem Roman auf, dass die Realität durch Diskurse konstruiert ist, die es zu hinterfragen gilt (vgl. Imbert 1989: 49), situiert sich also in einer expliziten „incrédulité à l’égard des métarécits“ (Lyotard 1979: 7). Der Prätext ist dabei Teil des neuen fiktionalen Universums, dies jedoch nicht als rezipiertes Buch, sondern als Ereignis der TAW, die damit eine communauté fictionnelle mit derjenigen aus dem Prätext bildet. So ziehen die Sprecherinnen explizite Vergleiche zur TAW aus Platons Le banquet.27 Der Text erhält insgesamt durch die Fußnoten und Einschübe sowie Bilder und Zitate den Charakter eines Essays beziehungsweise eines feministischen Traktats. Die Metareferenz auf den Prätext ergibt dabei das metatextuelle Potenzial. So vergleicht Ancyl ihr Verhalten mit demjenigen Platons, der Alcibiades’ Avancen nicht nachgegeben hatte: Ainsi, moi il m’est arrivé de me retrouver au lit avec une jeune fille de dix-neuf ans que j’aimais beaucoup et que je croyais désirer en son absense, sans tenter quoi que ce soit auprès d’elle, tout comme Socrate dans le lit d’Alcibiade. Avec la différence que ce n’était

27 Xanthippe zieht zum Beispiel eine Parallele zwischen den Vorbereitungen der Frauen zum Picknick und dem berühmten Gelage aus Le banquet: „Nos préparatifs lui font penser au fameux banquet où son célèbre mari s’est distingué par ses propos.“ (Bersianik 1992: 69)

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pas par vertu que je me suis abstenue, ni dans l’espoir qu’il pousserait des ailes à mon âme comme dans le cas du continent philosophe de la vérité. (Bersianik 1992: 180)

In Le pique-nique sur l’Acropole praktiziert Louky Bersianik eine „écriturejudo“ (Imbert 1989: 48), eine kämpferische Auseinandersetzung mit patriarchialischen Diskursen, die den Themenkreis der Gespräche aus dem Prätext aktualisiert und ausweitet, um beispielsweise sehr ausführlich auf das Thema der weiblichen Beschneidung einzugehen. Wie Bersianiks erster Roman, L’Euguélionne (1976), wird auch Le pique-nique sur l’Acropole zu einem von der Kritik hochgelobten Bestseller, wobei sich die Bedeutung des Romans heute vor allem in seinem Beitrag zum Feminismus konzentriert (vgl. Paterson 1994a: 639). Die Präsentation von Louky Bersianiks Roman hat aufgezeigt, dass die récriture des zweiten Typs Ende der siebziger Jahre in einer ideologisch-subversiven Form genutzt wurde. Gleichzeitig und über die siebziger Jahre hinaus haben feministische Schriftstellerinnen im Zuge der écriture au féminin eine Reflexion über die Implikation der Schrifststellerin und der Rezipientin bei der Lektüre eines Textes initiiert. Anhand des 1987 erschienenen Romans Le désert mauve von Nicole Brossard, der dominierenden Figur des feministischen Schreibens in Québec (vgl. Biron/Dumont/Nardout-Lafarge 2007: 519), kann die problematische Abgrenzung der Übersetzung von der récriture veranschaulicht werden. Brossards komplex aufgebauter Roman spielt mit einer Verdoppelung des Erzähluniversums, denn „Mauve l’horizon“, der dritte Teil des Buches, stellt eine fiktive Übersetzung des ersten Teils dar, wobei dieser erste Abschnitt genau wie der Roman insgesamt mit „Le désert mauve“ betitelt ist, aber von der (fiktiven) Autorin Laure Angstelle verfasst wurde. Der mittlere und längste Teil ist eine Art Notizbuch der (genauso fiktiven) Übersetzerin Maude Laures, die sich der Erzählung aus dem ersten Teil, den „Mots-de-Laure“ (Dion 1997: 81) in Form eines Tagebuchs annähert und die Geschichte aus „Le désert mauve“ rekonstruiert. Die drei Teile sind peritextuell voneinander getrennt, indem jeweils ein Buchumschlag angedeutet wird, der den Namen der Verfasserin beziehungsweise der Übersetzerin trägt. Geradezu emblematisch verkörpert Brossards Roman das Phänomen der Lektüre als Aneignung des Textes durch den Leser beziehungsweise die Leserin. Die Übersetzung der Erzählung „Le désert mauve“ unter dem Titel „Mauve l’horizon“ in Le désert mauve ist das Ergebnis der Interpretation des ersten Teils des Buches durch die fiktive Übersetzerin. Das Erzähluniversum, das in der Erzählung „Le désert mauve“ geschaffen wird, stellt sich somit als F-Universum innerhalb der TAW von Le désert mauve dar, in der Maude Laures als Übersetzerin tätig ist. Das Produkt ihrer Arbeit,

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„Mauve, l’horizon“ ist die produktive Lektüre des Buches, das Maude Laures findet. Die selbstbetrachtende Komponente des übergeordneten Romans ist gewissermaßen in den Mittelteil ausgelagert, in dem die Übersetzerin ihre Herangehensweise dokumentiert und gleichsam in einen Dialog mit dem zu übersetzenden Text tritt. Anhand der Figur der Maude Laures wird der Übersetzungsprozess als Interpretation und Kreation eines Textes illustriert. Im Gegensatz zur „klassischen“ Übersetzung erfolgt jedoch keine Übertragung in eine andere Sprache – auch Laures angeblich übersetzte Version ist im Roman auf Französisch verfasst, stellt somit nach Jakobson eine intrasprachliche Reformulation dar (vgl. ebd.: 78). Dennoch ist sie keinesfalls eine exakte Kopie, sondern unterscheidet sich auf lexikalischer und grammatikalischer Ebene vom Ausgangstext.28 Gerade bei den Abweichungen tritt der Anteil der Übersetzerin als interpretierende Instanz noch deutlicher hervor (vgl. ebd.: 70), das heißt der Roman ist stark metanarrativ, wird doch das Erzählen beziehungsweise das Übersetzen der Erzählung thematisiert. Die Inszenierung der Übersetzung in Le désert mauve stellt einen Grenzfall zwischen récriture und Übersetzung dar, denn im Unterschied zur Rezeption einer Übersetzung soll der letzte Teil des Buches, die fiktive Übersetzung, nicht den ersten Teil für den der Sprache unkundigen Leser ersetzen, sondern betont den subjektiven Anteil der Übersetzerin Maude Laure, die sich dem Text des ersten Teil des Buches annähert. So wird eine lecture palimpsestueuse herausgefordert: „Original et traduction ne se substituent pas, ne se nient pas réciproquement, ils créent des effets de transparence, de profondeur“ (Ebd.: 72). Die (r)écriture au féminin hinterfragt und überwindet somit einen als patriarchalisch angesehenen Diskurs. Dadurch, dass eine Interpretations- und Kreationsinstanz in den Text eingeschrieben wird, zeigt gerade Le désert mauve Gemachtheit bestehender Diskurse auf. Diese subversive Ausrichtung der récriture versteht einen Prätext als ein zu hinterfragendes Bedeutungsangebot und setzt sich mit ihm in fiktionalisierter Form auseinander.

3.7 R ÉCRITURE ALS L ITERATURKRITIK : L E SEMESTRE UND S ERGE D ’ ENTRE

LES MORTS

Neben der feministischen récriture sind ab den siebziger Jahren zudem Grenzformen der récriture nachzuweisen, die sich als fiktionsinterne Auseinanderset-

28 Siehe Dion (1997: 75f.) für eine Liste der wichtigsten Modifikationen.

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zungen mit Schriftstellern oder Werken in Form einer im weitesten Sinne akademischen Literaturkritik äußern.29 Besonders komplex gestaltet sich diese Herangehensweise in Gérard Bessettes 1979 veröffentlichtem Roman Le semestre, denn der Prätext, Serge d’entre les morts von Gilbert La Rocque, Bessettes späterem Verleger, erschien nur drei Jahre zuvor. Die Freundschaft der beiden Autoren30 und die zeitliche Nähe der Aufnahme im Roman zweiten Grades erlauben es darüber hinaus, den möglichen kommerziellen Aspekt einer derartigen récriture zu illustrieren. Auf der Handlungsebene von Le semestre beschließt der Universitätsprofessor Omer Marin sein letztes Semester als Dozent an der Princess University in Narcotown niederzuschreiben, in dem er sich mit seinen Studenten der Psychokritik von Gilbert La Rocques Roman Serge d’entre les morts widmet. Der kurze Roman La Rocques schildert wiederum die Geschichte des jungen Serge, der sich an seine traumatische Kindheit erinnert. Der hochgradig assoziative Text zeichnet dabei Serges Erinnerungsbewegung nach, die sich anhand von ineinander übergehenden Bildern manifestiert. Dabei handelt es sich nicht nur um eigene Erinnerungen, sondern auch um voyeuristische Fantasien, wenn Serge sich Szenen ausmalt, denen er nicht beigewohnt hat (vgl. Piette 1988: 156f.). Ohne Punkte als syntaktische Strukturierungsinstrumente fließt die Erinnerung dahin und springt von einer Assoziation zur nächsten. Typographisch werden die Übergänge zwischen den Sequenzen durch Absätze mitten im Satz markiert. Die negative Erinnerung an die erste Nacht, die Serge nach dem plötzlichen Tod seines Vaters Fred im Haus seines Onkels Lucien verbringt, verbindet er zum Bei29 Jacques Braults Agonie (1993 [1985]) stellt beispielsweise einen Literaturprofessor vor, der einen real existierenden Text innerhalb des neuen Erzähluniversums erklärt. Allerdings handelt es sich bei Braults Prätext um ein Gedicht, Giuseppe Ungarettis „Agonie“, das gewissermaßen in einer expansionistischen Metalektüre als Roman adaptiert wird. Siehe dazu Dion 1997: 23-37 und Dion 1997a. Eine weitere Spielart dieser fiktionalisierten Literaturkritik stellen Victor-Lévy Beaulieus lecture-fictions dar, in denen die Grenze zwischen Fiktion und literarischem Essay aufgebrochen wird. In hybriden Werken wie Pour saluer Victor Hugo (1971), Monsieur Melville (1978), Docteur Ferron (1991) oder James Joyce, l’Irlande, le Québec et les mots (2006) setzt er sich mit den Titel gebenen Autoren und ihren Werken anhand einer fiktiven Intrige auseinander. 30 Die Korrespondenz der beiden Schriftsteller wurde 1994 von Sébastien La Rocque und Donald Smith herausgegeben und beinhaltet Bessettes Fragen zu Serge d’entre les morts an Gilbert La Rocque (vgl. La Rocque/Smith 1994: 66f. beziehungsweise 7076).

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spiel mit dem Gefühl, das Lucien empfunden haben muss, als er seiner Mutter, Serges Großmutter Aurore, die Nachricht vom Tod Freds überbringen musste: […] [M]oi je [Serge, MK] suais glacé dans le noir de ma chambre hostile ah j’avais peur la nuit j’entendais les craquements de mort et d‘épouvante qui le [Lucien, MK] poignait à la nuque pendant qu’il montait l’escalier, pesamment comme on monte à l’échafaud, regardant sans bien la voir la porte derrière laquelle elle se berçait […]. (SM: 55)

Es entsteht ein „roman qui fonctionne par pulsions“ (Vanasse 1994: 739), aus dessen repetitiver Struktur sich langsam Serges Familiengeschichte herauskristallisiert. Aus wirtschaftlichen Beweggründen sind Serges Großeltern, Piphane und Aurore, nach Montréal gezogen, wo Piphane das Haus erbaute, in dem Serge aufwächst. Nach dem Tod des Großvaters zieht sich die Großmutter völlig in ein abgedunkeltes Zimmer zurück und sitzt dort den ganzen Tag im Schaukelstuhl: „Figure mortifère, elle hante l’imaginaire du narrateur qui ne peut la dissocier de ses fantasmes sexuels: à cause d’elle, l’amour s’amalgame spontanément, dans l’esprit de Serge, à la putréfaction et à la mort.“ (Ebd.) Auf den Tod Piphanes folgt derjenige von Luciens Frau, Annette, die zwei Töchter zurücklässt. Zur älteren, Colette, fühlt sich Serge sexuell besonders hingezogen. Doch seine Cousine wird nach der späteren Hochzeit seiner Mutter mit Lucien, seinem Onkel, zu seiner Halbschwester und ist somit als Objekt der Begierde tabu. Im Mittelpunkt steht insgesamt der Tod von Serges Vater, der nach einem Streit mit der Mutter – in Le semestre wird diese Episode die „scène originaire“ (S: 20, Hervorhebung im Original) genannt – in einer verschneiten Nacht einen Autounfall hatte, wobei nicht geklärt ist, ob es sich um einen Selbstmord handelt. Diese sich langsam und assoziativ entfaltende Ereigniskette wird im Text zweiten Grades zunächst von einer Studentin Marins chronologisch präsentiert, wodurch auch Leser, die den Prätext nicht kennen, ins Bild gesetzt werden (vgl. Dion 1997: 151). Le semestre ist eine fiktionalisierte kritische Lektüre des Prätextes, mit dessen Protagonisten und Autor sich der Protagonist, der alternde Professor Omer Marin, immer mehr identifiziert. Bessettes Werk oszilliert dabei zwischen Roman und literarischer Analyse, wobei die Elemente aus dem Leben Omer Marins derart transparent sind, dass eine weitere, autobiografische Bedeutungsebene hinzuzufügen ist, da Bessette mehr oder weniger verschlüsselt seine Erfahrungen als Dozent an der Queen’s University in Kingston verarbeitet (vgl. Dion 1997: 154, Robidoux 1987: 191, Paterson 1994: 76). Insgesamt hat das Schreiben des „roman-bilan“ (S: 278) innerhalb des Romans für den Protagonisten einen ka-

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thartischen Effekt, denn die genaue Analyse des Prätextes und eine sexuelle Beziehung zu einer Studentin aus seinem Seminar erlauben es dem Professor, sich an verdrängte Traumata anzunähern und diese zu verarbeiten (vgl. Dion 1997: 159): […] [N]on ce drôle de semestre n’avait pas malgré tout été infertile même au plan de l’analyse et la recherche – sinon au plan pédagogique – car Marin avait le sentiment de mieux connaître en profondeur Serge d’entre les morts ainsi que son auteur et par réfraction-association de se mieux connaître lui-même, n’avait-il pas réussi à défouir-expliciter sa drôle de fixation domocentrique […], à clarifier ses relations stressantes-anxiogènes avec Nata-Renata et jauger sa paternité douteuse, découvertes-dévoilements en partie déclenchées par ses rapports insolites […] avec Sandra? (S: 277f.)

Die intertextuelle Beziehung zwischen Le semestre und dem Prätext wird einerseits dadurch signalisiert, dass Serge d’entre les morts explizit in der TAW erwähnt und zitiert wird. Darüber hinaus stellt Robert Dion (1997: 143) Parallelen auf der Vermittlungs- und Inhaltsebene fest, die auf eine erhöhte Strukturalität in der intertextuellen Beziehung der beiden Romane hinweisen. Dabei äußert sich die stilistische Nähe vor allem in der bereits beschriebenen „esthétique du glissement“ (Dion 1997: 143, Hervorhebung im Original), einem Hinübergleiten zwischen Episoden und Perspektiven, das im Text zweiten Grades der für die Psychoanalyse typischen freien Assoziation nachempfunden ist (vgl. ebd.: 147) und sich in einem oralen Charakter des Diskurses äußert (vgl. ebd. 145). In Le semestre ist in diesem Zusammenhang zudem eine Steigerung im Vergleich zum Prätext festzuhalten, indem auch Genregrenzen zum Essay, Tagebuch und klinischen Bericht überschritten werden (vgl. Corriveau 1980: 11).31 Gleichzeitig sind auch auf der Selektionsebene Ähnlichkeiten zwischen Primär- und Sekundärtext nachzuweisen, werden doch Omers und Sandras Figurendomänen zu derjenigen des Protagonisten aus Serge d’entre les morts parallel gesetzt. Für beide Figuren aus Le semestre gilt, dass die Reflexionen über den 31 Dion (1997: 43) verweist in Bezug auf die besonders frappierende stilistische Ähnlichkeit der beiden Romane auf Bessettes Bewunderung für La Rocques Stil und deutet zudem eine Beeinflussung La Rocques durch frühere Werke Bessettes an. Die Literaturkritik hat den assoziativen Stil Bessettes, der sich vor allem durch Neologismen und die Aneinanderkettung von Synonymen und Begriffen mit ähnlichem Bedeutungsinhalt mit Hilfe von Bindestrichen wie in „la surface vernissée-égratignée de ce massif-énorme meuble“ (S: 7) auszeichnet, schon in Les Anthropoïdes (1977) ausgemacht (vgl. Corriveau 1980: 11).

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Prätext auf die eigene Person übertragen werden und eine Selbstanalyse provozieren. So bringt Sandra die Darstellung der Beerdigung von Serges Vater mit dem Tod ihres eigenen Vaters in Verbindung. In Marins Büro bricht sie schließlich zusammen und gesteht ihm: Vos cours n’ont pas été comme les autres ce n’était pas de la littérature c’était la vie c’était moi c’était mon père… il est mort lui aussi d’un accident d’automobile je ne l’ai pas revu. (S: 86, Hervorhebung im Original)

Ähnlich wie für Omer, der nach dem Semester feststellt, dass er durchgehalten hat und seinen „roman-bilan“ (S: 287) schreiben kann, ist das Wiedererleben des traumatischen Ereignisses mittels La Rocques Roman für Sandra ein befreiendes Ventil, dem sie Marin gegenüber in assoziativer und elliptischer Weise Ausdruck verleiht: „[J]e suis contente soulagée.“ (S: 86) Omer identifiziert sich teilweise explizit mit Serge (vgl. S: 58), doch rückt die textinterne Romananalyse mit der Zeit etwas in den Hintergrund, da der zweite Teil des Romans nach einer ausführlichen Traumanalyse vor allem die Erinnerungen und Überlegungen Omers über seine frühere Beziehung zu einer Frau mit Namen Renata darsellt. Eine gemeinsame Nacht in einem Hotel in Anwesenheit von Renatas kleinem Kind wird mit einem Aufenthalt Omers in einer psychiatrischen Klinik in Zusammenhang gebracht und stellt sich als eine Inversion der scène originaire aus Serge d’entre les morts heraus (vgl. Dion 1997: 156f.): Et peu à peu, Omer se mit à subodorer-pressentir la relation (ténébreuse) qui pouvait exister entre d’une part la sequence originaire (imaginaire) de Serge d’entre les morts qui se terminait par l’écrabouillement du père et d’autre part la scène (réelle) qui s’était déroulée dans un motel de la banlieue de Narcotown et qui avait précédé (sinon provoqué post hoc ergo propter hoc) sa quasi-mort à lui Marin dans un lit à garde-fou grillagé du Narcotown General Hospital. (S: 254, Hervorhebung im Original)

Eine Abweichung besteht auf der Konfigurationsebene, denn die geschlossene Form des Textes zweiten Grades steht der offenen des Prätextes insgesamt kontrastiv gegenüber. Am Ende von Serge d’entre les morts wird explizit jede Endlichkeit verneint, denn Serge kommentiert sein eigenes erzählerisches Vorgehen als sinnlos und spricht von einem beau geste inutile de sortir tout cela de moi, de vouloir l’articuler pour clairement le dire, n’abolirait pas tous ces fantômes qui refusaient de se taire et de mourir pour toujours, cela

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pouvait ressembler à une forme d’obstination entretenue comme par goût du jeu ou du défi: donner un commencement et une fin à quelque chose qui n’était en fait qu’un mouvement perpétuel à perte d’énergie et de temps […]. (SM: 148)

Auch wenn die assoziative, gleitende Struktur in Le semestre diese Bewegung nachahmt, führt Omers Psychokritik dennoch zu einem Ergebnis, dessen Resultat der Leser in Form des „roman-bilan“ (S: 278) in den Händen hält.32 Der retrospektive Charakter der Erzählung wird in einem Einschub Omers schon früh angekündigt, denn die Wiedergabe eines studentischen Beitrags veranlasst den Erzähler zu der selbstbetrachtenden Aussage: „[J]e simplifie-condense-clarifie (se dit-il) Sara ne s’exprime pas avec autant de précision.“ (S: 20) Im Anschluss daran gibt er sich und sein Romanprojekt zu erkennen: Ainsi dans cette espèce de roman qui s’intitulera probablement le Semestre je n’ai pas dit pourquoi le protagoniste Omer Marin (qui est plus ou moins moi) se met à écrire une espèce de récit de son dernier semestre. (S: 21)

Es ergibt sich für den Rezipienten die Schwierigkeit eines Oszillierens zwischen den Möglichkeiten einer autobiografischen und einer hermeneutischen Lesart (vgl. Dion 1997: 140).33 Indem Bessette in seinem Roman das Augenmerk auf die Narration legt, deren Modus nicht zuletzt aufgrund des metanarrativen Kommentars künstlich distanziert erscheint, kann im Rückschluss die Unmittelbarkeit der Erzählhaltung des Prätextes hervorgehoben werden.34 Das Moment der Offenheit des Prätextes nimmt Bessette weniger auf der Handlungsebene als durch eine Vielzahl intertextueller Referenzen auf – neben Victory-Lévy Beaulieu werden beispielsweise Nicole Brossard, André Langevin, Gabrielle Roy, Hubert Aquin und Naïm Kattan in verklausulierter Form ge32 Dion (1997: 158) verweist darauf, dass Bessettes Roman dadurch Prousts Modell aufgreift, da am Ende das Schreiben des Romans angekündigt wird, den der Leser schon in seiner fertigen Form vor sich hat. 33 Im Nachwort von Serge d’entre les morts nimmt Alain Piette beispielsweise auf Le semestre Bezug und behandelt Bessettes Roman als literaturwissenschaftliche Analyse. In der gleichen Stoßrichtung fordert Janet Paterson, dass Bessettes Roman einen Platz in jeder Bibliographie von Sekundärwerken zu La Rocques Roman einzuräumen sei (vgl. Paterson 1994: 80). 34 Dennoch verweist Bessette auf Inkohärenzen in Bezug auf die Fokalisierung in Serge d’entre les morts, wobei Dion (1997: 138) hervorhebt, dass diese ausnahmslos von der Studentin Sandra, nicht von Bessettes Alter Ego Marin geäußert werden.

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nannt (vgl. Paterson 1994: 81). Bessette schreibt seinen Roman somit in ein literarisches Feld ein, indem er sich explizit kritisch mit anderen Schriftstellern aus Québec auseinandersetzt. Die Interaktion bezieht sich jedoch nicht nur auf Autoren und Autorinnen fiktionaler Literatur aus Québec, sondern zudem auf den nicht-fiktionalen Diskurs der psychoanalytischen Theorie. Die Öffnung seines Textes gegenüber einer Vielzahl konkurrierender Diskurse steht somit im Gegensatz zur Geschlossenheit der Handlungsebene des fiktionalen Universums – im Gegensatz zu Serge, der sich nicht von den Gespenstern der Vergangenheit lösen kann und auf diese fixiert bleibt, manifestiert sich in Omers Projekt eine positive Bilanz des Schreibens.35 Bei seinem Erscheinen im Jahr 1979 wurde Gérard Bessettes Roman Le semestre allerdings wenig enthusiastisch aufgenommen. Besonders kritisch wurden die leicht entschlüsselbaren und in den Augen der Rezensenten kindischen Anspielungen auf andere Autoren aus Québec angesehen (vgl. Vanasse 1994: 733).36 Auf leicht entschlüsselbare Weise hebt Bessette zum Beispiel die Vorzüge der Herangehensweise von La Rocque gegenüber derjenigen des sehr bekannten Schriftstellers Victor-Lévy Beaulieu hervor, indem er Omer die Lektüre von Monsieur Melville kommentieren lässt: [I]l avait finalement abouti à ce verbeux Monsieur Melville d’une incroyable platitude au lieu de laisser lentement mûrir dans les profondeurs de sa psyché une autre œuvre d’imagination (à la façon de son contemporain La Rocque) mais Butor-Ali Nonlieu était – malheureusement pour lui et pour notre littérature – un aveugle-crispé-angoisseux dévoré d’ambition […]. (S: 113)

Auch die Tatsache, dass La Rocque in einem Atemzug mit arrivierten Québecer Schriftstellern genannt wird, kann als Versuch gewertet werden, Bessettes Freund einen Platz im Kanon der Québecer Literatur zu sichern. Die récriture kann somit auch dazu dienen, das symbolische Kapital eines Schriftstellers im (national-)literarischen Feld zu steigern. Gleichzeitig wurde in der Kritik jedoch eine Aneignung von La Rocques Roman zugunsten von Bessettes Text moniert. Dion spricht in diesem Zusam35 Paterson vergleicht Omer mit einem Seefahrer auf dem Meer der Diskurse: „[T]he subject affirming himself through writing, liberating himself from certain personal obsessions and standing like an ‚old sailorʼ, a look-out at the crossroads of discourses.“ (Paterson 1994: 84) 36 Gleichzeitig hebt Réjean Robidoux jedoch hervor, dass Bessette seine eigenen Romane bei diesem kritischen Rundumschlag nicht verschont (vgl. Robidoux 1987: 195).

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menhang von einem „beau cas d’anthropophagie littéraire“ (Dion 1997: 144), um zu verbildlichen, dass der Prätext zum Rohmaterial des Textes zweiten Grades degradiert werde. Neben dem Eindruck, Bessette wolle mit seinem Roman offene Rechnungen mit Schriftstellerkollegen begleichen, missfiel sein sehr freier Umgang mit Genregrenzen, ein häufig vorgebrachter Kritikpunkt, den André Vanasse mit den Worten, „on ne mêle pas le roman à l’essai critique“ (Vanasse 1994: 733), zusammenfasst. Paterson (1994: 79) sieht in Bessettes hybridem Roman dagegen, wie gezeigt, einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur postmodernen Poetik, indem er Gattungsgrenzen einreiße und gleichzeitig den Roman als vielschichtige Gattung erneuere. Insgesamt ordnet Dion in einer diachronen Betrachtung Bessettes Roman als weitere Entwicklungsstufe im Umgang mit dem Schriftsteller innerhalb der Québecer Literatur ein. Nach dem Autor als Objekt der Erzählung und dem Autor als Subjekt beziehungsweise als „agent du récit“ (Dion 1997: 135), finde sich in Bessettes Roman nun eine Darstellung des Romanciers als Kritiker. Er zieht eine Parallele zur Entwicklung der Literaturwissenschaft, die sich zunächst der Inhalts-, dann der Vermittlungsebene und schließlich der Metaebene widme, [une] évolution qui serait analogue à celle qui, depuis des années 1950, nous a fait passer du strict intérêt pour l’histoire (au sens de diégèse) à celui pour le discours, puis pour le métadiscours. (Ebd.: 136)

Gleichzeitig wird in Bessettes Roman eine Reflexion über das kreative Moment der Kritik angestoßen: „Marin […] avait la conviction – illusoire? – d’être en train de recréer Serge sur un autre plan donc de faire dans un sens concurrence à Larocque.“ (S: 34) Marin, der, wie gesehen, als textinterner Autor eines „romanbilan“ (S: 278) auftritt, der den gleichen Titel wie der Roman Bessettes trägt, rezipiert Serge d’entre les morts somit nicht nur kritisch, sondern führt eine textinterne produktive Lektüre des Prätextes durch, die sich der dritten Form der récriture der erarbeiteten Typologie zuordnen lässt. Dieses Moment der Neuschöpfung eines bereits bestehenden Werkes innerhalb eines Romans, das in Bessettes Fall in Richtung Literaturkritik tendiert, hatte sich, wie gesehen, in der „folie démi-urge“ des Protagonisten von Hubert Aquin in Neige noire bereits in stärker fiktionalisierter Form verwirklicht.

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3.8 Z WISCHENFAZIT Die Analysen der Vorläufer und Grenzfälle der récriture konnten insgesamt zu einer schärferen Konturierung des récriture-Begriffs beitragen. So erweist sich die obligatorische Intertextualität, wie in Kapitel 2.1 angedeutet, als ein relatives Konzept, ist sie doch vom Kontext des Lesepublikums abhängig. Lasen die ersten Rezipienten Les anciens Canadiens noch zweifelsohne auf der Folie von Waverley, ist diese Lesart aufgrund der veränderten Lesegewohnheiten heutzutage nicht mehr unbedingt gewährleistet. Intertextualitätssignale im Para- oder Haupttext sind somit unabdingbar, um eine überzeitliche Rezeption als récriture zu gewährleisten. Im Hinblick auf die Abgrenzung zur dominant textgenerativen réécriture hat sich erwiesen, dass auch Texte, die eigentlich ihren Prätext ersetzen sollen, bei signifikanten Abweichungen als récriture gelesen werden können. Die Untersuchung von Jacques Ferrons Textpaar hat verdeutlicht, dass gerade makrotextuelle récriture-réécriture-Texte besonders gewinnbringend zu analysieren sind, wenn sie als Thesenromane gestaltet oder mit einer autobiografischen Komponente versehen sind. An dieser Stelle wurde jedoch auch die kanalisierende Komponente der récriture deutlich, die als Metalektüre eine fokussierende und vereindeutigende Interpretation des Prätextes anstoßen kann. Gleichzeitig konnte in Bezug auf die in Kapitel zwei vorgeschlagene Unterscheidung in drei Erscheinungsformen der récriture anhand der Analysen von Aubert de Gaspés sowie von Langevins Romanbeispielen gezeigt werden, dass die Übernahme wichtiger Elemente eines bereits bestehenden Erzähluniversums und ihre kreative Verarbeitung und Eingliederung in einen neuen Text (Typ 1) schon vor 1980 zu beobachten ist. Der Intertextualitätsforschung kommt es zu, derartige Fälle von Text-Text-Bezügen nicht mehr im Sinne von Einfluss- oder Quellennachweisen zu sehen, sondern als kreative Aneignung mit metatextuellem Potenzial. Die Betrachtung dieser als klassisch zu bezeichnenden Form der Wiederaufnahme von Modellen hat gezeigt, dass auch hier eine Interaktion mit dem Prätext ausgelöst werden kann, die gewinnbringend zu analysieren ist. Im Kapitel 4.1 wird der Frage nachgegangen, welche Erscheinungsformen nach 1980 gewählt werden und wie intensiv die Beziehung zum Prätext in dieser am wenigsten selbstreflexiven Form der récriture markiert wird. Die zweite Form der récriture, der das Romanbeispiel von Bersianik zuzuordnen ist, lässt sich schon bei Félix-Antoine Savard (1937) nachweisen, tritt jedoch verstärkt als kritische Auseinandersetzung mit dem Prätext erst Ende der siebziger Jahre auf. Im Mittelpunkt der Analyse dieser Form der fiktionalisierten

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Lektüre im Kapitel 4.2 steht die Frage, inwiefern die textinterne Rezeption eines Prätextes bei dieser Form der récriture nach 1980 funktionalisiert wird. Noch seltener ist der dritte Typus, der eine Verdoppelung des Prozesses der récriture innerhalb des Textes zweiten Grades vorsieht. Hubert Aquin kann als Vorläufer dieser Spielart gesehen werden, die auch in Bessettes Roman teilweise zum Tragen kommt, tritt doch Omer Marin als fiktives Double des Schriftstellers und Produzenten des roman-bilan auf. Der Thematisierung und wachsenden Reflexion des (Wieder-)Schreibens innerhalb des neuesten Romans in Québec widmet sich das Kapitel 4.3. Der kursorische diachrone Überblick über (Grenz-)Formen der récriture vor dem Untersuchungszeitraum hat gezeigt, dass sich die produktive Lektüre im Québecer Roman vor allem im Laufe der siebziger Jahre explizit als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Prätext äußert. Zwei kurz vor Beginn des Untersuchungszeitraums erschienene Romane illustrieren die unterschiedlichen Stoßrichtungen, die eine derartige hochgradig metatextuelle „critique en acte“ (Genette 1982: 450) einnehmen kann. Bei Louky Bersianiks (r)écriture au féminin konnte in diesem Zusammenhang besonders deutlich die subversive Anlage der récriture herausgestellt werden, die es erlaubt, unterliegende Diskurse und Funktionsmechanismen eines Prätextes an die Oberfläche zu bringen beziehungsweise kritisch zu hinterfragen. Die Metatextualität äußert sich hier als kritische Lektüre im normativen Sinn. Anders gestaltet sich der Umgang mit dem Prätext in Bessettes Le semestre, dessen kritische Auseinandersetzung mit Serge d’entre les morts als Beispiel für eine Gattungshybridisierung und Pluralisierung des Romans dienen konnte. Die „critique en acte“ (ebd.) stellt sich in diesem Fall als literaturwissenschaftliche Analyse in fiktionaler Form dar. Gerade dieser sehr kontrovers diskutierte Roman wirft von Kritikerseite die Bedeutung der Originalitätsfrage auf, die schon im Anspruch Aubert de Gaspés, ein genuin kanadisches Werk zu schreiben, angeklungen war. Es wird zu klären sein, inwiefern diese Frage, die mit Ausnahme von demjenigen Aubert de Gaspés keine Erwähnung in den bisher untersuchten Werken findet, für die Romane ab 1980 virulent ist. Die beiden im Jahre 1979 erschienenen Romane von Bersianik und Bessette markieren den Übergang zu einer Form der récriture, bei der die lecture palimpsestueuse als Rezeptionsmodus sehr viel deutlicher herausgefordert wird, als dies vor 1980 der Fall ist und die den Gegenstand des folgenden Kapitels bildet.

4. Die récriture im Québecer Roman von 1980 bis 2007

4.1 T EXTEXTERNE

RÉCRITURE : R ÉCRITURE ALS VIRTUELLES M ITLESEN DES P RÄTEXTES

Die Texte des ersten Typus sind dadurch gekennzeichnet, dass sowohl die Lektüre des Prätextes als auch der Schreibprozess des Textes zweiten Grades nur textextern vonstattengehen. Da keiner der beiden Bestandteile der récriture innerhalb des neuen Erzähluniversums abgebildet wird, sind diese Texte im Vergleich zu den anderen Typen relativ schwach als Literatur zweiten Grades markiert. Um die récriture in diesem Fall nicht zu Formen der aleatorischen Form der Intertextualität rechnen und die Belesenheit der Rezipienten nicht zum Entscheidungskriterium erheben zu müssen, wurde neben der Strukturalität die Kommunikativität als definitorisches Merkmal herangezogen. Diese bezieht sich bei der récriture des ersten Typs verstärkt auf den Paratext, denn der Prätext wird zwar in seinen Plot-Komponenten zur unterliegenden Folie des Sekundärtextes, taucht jedoch nicht explizit im Erzähluniversum auf und wird daher auch nicht auf Figurenebene rezipiert. Die Beziehung muss somit schwerpunktmäßig über peri- und epitextuelle Referenzen1 angezeigt werden. Besonders wirkungsvoll gestaltet sich ein Hinweis im Titel des Werkes. So verweist Aliss über die Homophonie auf den Prätext Alice in Wonderland. Der Romantitel Retour à Lointainville hingegen deutet seine Verbindung und die Wiederaufnahme von Voyage à Lointainville wörtlich an. Weniger kommunikativ ist die Markierung 1

Nach Genette lässt sich der Paratext in einen Peritext, der Textteile wie den Titel oder ein Vorwort beinhaltet, also innerhalb des jeweiligen Buches zu finden ist, von einem Epitext unterscheiden, der wie beispielsweise Interviews außerhalb des zu betrachtenden Werkes angesiedelt ist (vgl. Genette 1987: 10f.).

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des Titels im Falle des zu untersuchenden Textpaares von Dany Laferrière gestaltet, der den Text zweiten Grades, Vers le sud, nach einer der Mikro-Erzählungen aus dem Prätext La chair du maître benennt und dabei die inhaltliche Kenntnis des Prätextes voraussetzt. Insgesamt gilt bei der ersten Ausprägung mehr als bei den anderen Formen der récriture, dass die Inszenierung des Prätextes in einer wiederholenden Aufnahme auf die Mitwirkung des Rezipienten angewiesen ist: Or, répéter, ce n’est pas simplement redire; c’est aussi compter sur la mémoire de celui auquel on s’adresse en répétant. La répétition suppose la faculté chez le destinataire d’identifier ce qui fait l’objet de la répétition. Recommencer n’est pas répéter: c’est redire en faisant abstraction de la mémoire d’un destinataire empirique, c’est redire en situation de discontinuité. (Monfort 1995: 57)

Gleichzeitig verweist die Differenzierung zwischen Wiederholung und Neuanfang, die Bruno Monfort skizziert, auf einen entscheidenden Unterschied in der Rezeption der Texte des ersten Typs im Vergleich zu den beiden anderen. Die Interaktion der Texte entfaltet sich vorwiegend virtuell bei der Lektüre des Textes zweiten Grades. Rekurrierende Elemente werden somit zu Ankerpunkten, die für den Leser Orientierung stiftende Wirkung haben (vgl. ebd.) und den Wiedererkennungseffekt auslösen sollen. Die Intertextualitätssignale sind somit Strategien, die eingesetzt werden, um den Eindruck der Diskontinuität zu vermeiden, der einer Wiederholungssituation und damit einer Rezeption als Text zweiten Grades entgegenstehen würde. Auftreten können derartige Markierungen als Elemente des Paratextes sowie als den Figuren verborgen bleibende Anspielungen der Erzählinstanz oder als wiederkehrende Plot-Elemente aus dem Prätext. Die Distanz zu diesem in Bezug auf die Selektion, die Konfiguration und/oder die Perspektivierung kann variieren. Die als klassisch zu bezeichnende Variante des ersten Typs, die bei Les anciens Canadiens anklang, zeichnet sich dabei vor allem dadurch aus, dass die Handlung in ein anderes raum-zeitliches Universum versetzt wird (Transposition). Dennoch birgt der erste Typ eine Vielfalt von Inszenierungsmöglichkeiten. Je nachdem, welche „Angriffsfläche“ gewählt wird, können sich in den Spielarten dieser textexternen récriture unterschiedliche metatextuelle Wirkungen entfalten. In Bezug auf die Unterscheidung von anderen Formen der Literatur zweiten Grades ergibt sich beim textexternen Typ der récriture, wie in Kapitel 3.4 gezeigt, gerade bei der makrotextuellen Form ein Grenzbereich zur réécriture. Ohne Kenntnis der Autorintention ist es bei derartigen Texten dem Rezipienten überlassen, den Text zweiten Grades als einen Ersatz für den Prätext zu lesen

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oder von einem gleichberechtigten Nebeneinander auszugehen. Die Untersuchung von Jacques Ferrons Praxis der récriture-réécriture hat jedoch aufgezeigt, dass auch derartige Wiederaufnahmen durchaus eine fruchtbare komparatistische Analyse ermöglichen, die Aufschluss über die Entwicklung der Ansichten eines Autors und seines Schreibstils geben kann, welche eventuell aus Sicht des Schriftstellers nicht mehr als zeitgemäß erachtet werden.2 2

Ein derartiger Fall der récriture-réécriture mit dominant ersetzendem Bezug zum Prätext ist im Untersuchungszeitraum beispielsweise bei Diane Giguères 2007 erschienenem Roman La petite fleur de l’Himalaya zu konstatieren, der im Klappentext als überarbeitete Version des Prätextes Le temps des jeux charakterisiert wird. In ihrer Autobiografie hatte die Autorin bereits ihren Willen angekündigt, ihren ersten, 1961 erschienenen Roman zu überarbeiten: „En accord avec mon éditeur, Pierre Tisseyre, [mort depuis], je me suis mise à la tâche décidée à lui offrir le plus tôt possible une version complète et définitive du Temps des Jeux.“ (Giguere 2005: 18, zitiert nach Bérubé 2008: 20) Die überarbeitete Version wird somit zur endgültigen Fassung, die zur ersten nicht in einem Verhältnis der Interaktion, sondern des Ersetzens steht. Auch wenn sie nicht von der Autorin intendiert ist, kann eine lecture palimpsestueuse der beiden Romane durchgeführt werden. Ein derartiges Gegenlesen betont beispielsweise im Rückschluss den teilweise sehr umständlichen, schweren Stil der Prätextes (vgl. Bérubé 2008: 20) sowie auf Inhaltsebene die Gleichgültigkeit der Mutter Jeanne gegenüber ihrer Tochter Céline (vgl. Giguère 1961: 185). Die zweite Version der Geschichte erfährt auf der Selektionsebene ein Displacement, denn während Céline ihre Mutter im Primärtext in einer psychiatrischen Anstalt sich selbst überlässt, erhält die Beziehung zwischen Mutter und Tocher im zweiten Roman eine positive Wendung, als Céline sich durch einen Diebstahl finanziell unabhängig machen kann: „‚Nous pouvons nous en aller d’ici, enfin!‘ Soudain sa mère devenait sa complice. Au fond, elle aurait été bien embêtée de partir toute seule, si loin. De toutes manières, Jeanne n'avait plus aucun pouvoir sur elle. Les rôles étaient renversés, c'est elle qui dominait la situation maintenant.“ (Giguere 2007: 108) Es ist Renald Bérubé zuzustimmen, dass in Giguères Rekonstruktionsprojekt eine Ambivalenz vorliegt, denn die Wiederaufnahme des Prätextes ist hier einerseits dem literarischen Bereich des Schreibprozesses zuzuordnen – Le temps des jeux wird sozusagen auf den Status eines Manuskripts reduziert, das die Autorin lieber nicht veröffentlicht hätte – andererseits sind die Modifikationen autobiografisch motiviert, wie Bérubé mit seinem Verweis auf die veränderte Stellung der Mutter in Giguères Gesamtwerk und Leben untermauert (vgl. Bérubé 2008: 20). Eine Rezeption als récriture ergibt, dass der Text zweiten Grades mit Hilfe seiner Abwandlungen die kompromisslose Haltung der siebzehnjährigen Protagonistin gegenüber ihrer Mutter kommentiert und offenbart, mit der sich die Autorin

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Diese zu allen Zeiten auftretende récriture-réécriture ist jedoch abzugrenzen von einer Spielart, bei der ein Autor sich einen seiner vorhergehenden Texte auf kreative Weise aneignet und dabei ein „neues“ Werk schafft, das sich nicht über, sondern neben seinen Prätext stellt und mit Hilfe der genannten Intertextualitätssignale explizit zur vergleichenden Lektüre, der lecture palimpsestueuse, einlädt.3 Daher steht in den folgenden Analysen nicht die Frage im Vordergrund, welche Mark Harris in seiner Rezension zu Vers le sud stellt: „In any case, we must now ask the question, which of these two umbilically-bound books deserves to be passed down to posterity?“4 Die Analysen werden zeigen, dass diese Problematik im Hinblick auf die untersuchten Romane des ersten Typs unmaßgeblich ist, da sie die Auseinandersetzung mit dem Prätext im Text zweiten Grades, das heißt das metatextuelle Potenzial, vernachlässigt. Der Aufbau des vorliegenden Kapitels ergibt sich aus der unterschiedlichen metatextuellen Ausprägung der Romane der ersten Erscheinungsform der récriture. Da der Fokus darauf liegt, die Vielfalt dieser Spielart der récriture zu zeigen, konzentrieren sich die Beispielanalysen auf innovative Aspekte, welche die einzelnen Texte gegenüber anderen récriture-Romanen auszeichnen. Den Auftakt bildet eine kurze Untersuchung von Anne Héberts Les fous de bassan, in der das Augenmerk auf der Weiterentwicklung der Erzählstrategie William Faulkners liegt, die dennoch ein metatextuelles Potenzial bietet. Liegt die Besonderheit der Romane von Dany Laferrière und Sylvie Desrosiers in der jeweils über weite Strecken wörtlichen Wiederaufnahme ihrer Prätexte, so setzen sie bei der Interaktion doch auf eine unterschiedliche Fokussierung. Patrick Sénécals Roman illustriert im Anschluss daran eine neue Facette der klassischen Transposition, welche sich bereits in einem Grenzbereich zum zweiten Typ ansiedelt.

über vierzig Jahre später nicht mehr identifizieren kann: „Mot par mot, phrase par phrase, j’ai réécrit, j’ai tenté d’atténuer la haine et la dureté, incapable de me glisser dans la peau d’un personnage qui me semble fabriqué.“ (Giguère 2005: 18ff., zitiert nach Bérubé 2008: 20) 3

Dieser Einladung wird in den folgenden Analysen in gefolgt, so dass sie gleichsam zu komparatistischen Untersuchungen werden. Auch wenn dieses explizite Gegenlesen nicht der normale Rezeptionsmodus derartiger Texte ist, kann das metatextuelle Wirkungspotenzial nur beim Hinzuziehen des jeweiligen Prätextes anschaulich verdeutlicht werden.

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http://www.canlit.ca/reviews.php?id=13301 vom 26.01.2010.

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4.1.1 Weiterentwicklung eines Erzählstils: Les fous de bassan als feminisierte récriture von The Sound and the Fury Les fous de bassan und Faulkner Die Parallelen zwischen Anne Héberts Roman Les fous de bassan zu William Faulkners 1929 veröffentlichtem Roman The Sound and the Fury hat Rolf Lohse in seiner 2005 erschienenen Studie, Postkoloniale Traditionsbildung (Lohse 2005), herausgearbeitet. Daher basieren die folgenden Ausführungen auf Lohses Untersuchung, die sich mit der Autonomie der frankokanadischen und Québecer Literatur in Bezug auf Frankreich und die USA befasst. Das Augenmerk liegt in Lohses Untersuchung auf Héberts Durchsetzungsvermögen gegenüber gesellschaftlichen, inbesondere nationalklerikalen Idealen sowie auf ihrem kreativen Umgang mit international neu aufkommenden Strömungen. In diesem Kontext kann er nachweisen, dass Anne Héberts Roman eine „kreative Weiterentwicklung von Stilmitteln und Gattungsmerkmalen eines maßgeblichen Autoren der US-amerikanischen Moderne“ (Lohse 2005: 289) darstellt. Weniger im Fokus seiner Analyse steht das metatextuelle Potenzial einer derartigen récriture, konzentriert er sich doch auf die produktionsseitige Komponente dieser Ausprägung der Literatur zweiten Grades. Gerade die Interaktion der Texte bei einer lecture relationnelle steht daher im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung. Eingangs ist zu betonen, dass eine kreative Aneignung, die sich vornehmlich auf die Vermittlungsebene bezieht und verschiedene Elemente der Erzählstrategie eines anderen Werkes wieder aufgreift, einen Grenzfall der récriture bilden kann. Wenn das neue Erzähluniversum auf der Selektionsebene eine zu große Distanz aufweist, das heißt die Geschichte des Prätextes nur ansatzweise übernimmt, kann nur eine äußerst geringe Strukturalität nachgewiesen werden. Derartige Texte sind in die Nähe des Pastiche5 zu rücken, da es oftmals schwierig ist, einen präzisen Prätext zu bestimmen. Dies ist jedoch bei Anne Héberts Roman nicht der Fall, denn Les fous de bassan zeigt sowohl in Bezug auf die Selektionsebene als auch hinsichtlich der Konfiguration und Vermittlung deutliche Parallelen zu Faulkners The Sound and the Fury, auch wenn die Geschichte um das mysteriöse Verschwinden der Schwestern Nora und Olivia Atkins aus der kanadischen Kleinstadt Griffin Creek in Les fous de bassan zunächst wenig mit der Schilderung des Niedergangs der Südstaatengesellschaft in Faulkners Roman gemeinsam zu haben scheint.

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Siehe hierzu Kapitel 2.6.1 der vorliegenden Untersuchung.

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Explizit kommuniziert wird die récriture-Beziehung durch das ShakespeareZitat „It is a tale told by an idiot, full of sound and fury“ (Hébert 1982: 137), das in Faulkners multiperspektivischem Roman in leicht modifizierter Form den Titel liefert. Beide Romane sind darüber hinaus in mehrere Teile gegliedert, die jeweils von unterschiedlichen Erzählinstanzen6 präsentiert werden: The story of The Sound and the Fury is [sic] first told by the three Compson sons – Benjamin, Quentin and Jason (often described in Freudian terms as id, ego and superego figures, respectively). The fourth book focuses on Dilsey, the black maid, but is written in the voice of an omniscient narrator. The final section of the novel is an historical epilogue. Anne Hébert adopts much the same narrative structure and similar characters: the story as told by Nicolas Jones, Stevens Brown and Perceval (also superego, ego and id figures respectively); the story as told by an omniscient spirit, Olivia de la Haute Mer, and a 1982 epilogue to the events of 1936 provided by the ‚Dernière Lettre de Stevens Brown‘. (Reid 7

1991)

Die Parallelsetzung der Erzählstruktur sowie das übernommene Zitat, das in Héberts Roman dem Teil als Motto vorangestellt ist, der von einem geistig behinderten Protagonisten erzählt wird, stellen eine Offenlegung der Verarbeitung von Faulkners Werk dar und sprechen eine Einladung zur lecture palimpsestueuse aus. Dabei divergieren die Erzählhaltungen insofern, als Candance, die Schwester der Compson-Brüder – und genau wie Nora und Olivia Atkins innerhalb der TAW ein Objekt der männlichen Begierde –, niemals ihre eigene Geschichte erzählt, während Nora in Les fous de bassan in inneren Monologen zu Wort kommt, die wie Tagebucheinträge gestaltet sind. Das „Livre de Nora Atkins“ unterschlägt Gregory Reid bei seiner Parallelsetzung der Erzählstruktur. Er erwähnt jedoch die ermordete Olivia, die wie ein Geist als auktoriale und rückblickende Erzählerin die Ereignisse von 1936, das heißt ihre und Noras Ermor-

6

Eine völlige Trennung des Erzählaktes liegt jedoch nicht vor, denn gerade im ersten Teil kann Lohse (2005: 211) „eine ungewohnte Mischung aus Ich-Erzählung, Allwissenheit und Außensicht auf den Ich-Erzähler“ feststellen, die er als „Distanzierung des Pastors von seinem problematisch gewordenen Ich interpretiert“ (ebd.: 213). In ähnlicher Weise sind Percevals Beobachtungen mit den Kommentaren eines kollektiven Subjekts durchsetzt – Lohse hebt hier die Parallelen zur Funktion eines Chors in der griechischen Tragödie hervor (vgl. ebd.: 217).

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http://www.lib.unb.ca/Texts/SCL/bin/get.cgi?directory=vol16_2/&filename=Reid.htm vom 26.01.2010.

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dung durch ihren Vetter, Stevens, Revue passieren lässt. Hier ist bereits die Verschiebung hin zu einer weiblich geprägten Perspektive erkennbar (vgl. ebd.). Zunächst ist jedoch die auffälligste Gemeinsamkeit gerade in der multiplen Perspektivierung8, das heißt in der auf verschiedene Blickwinkel aufgeteilten Ich-Erzählung festzustellen, wobei sich „wie bei Faulkner […] die jeweils fragmentarischen Äußerungen zu einem Gesamtbild ergänzen“ (Lohse 2005: 201).9 Sehr überzeugend arbeitet Lohse heraus, dass diese Aufspaltung auf verschiedene Erzählerfiguren zu sehr unterschiedlichen Zwecken gebraucht wird, welche auf die thematischen Differenzen der Romane zurückzuführen sind (vgl. Lohse 2005: 284). Fokussiert Faulkner die Blindheit angesichts des drohenden und unaufhaltsamen Niedergangs der amerikanischen Südstaatengesellschaft, so geht Hébert in einer detektivischen Konstruktion der Frage nach der Schuld am Verschwinden der Mädchen nach, die in dem Bekennerbrief von Stevens kulminiert.10 Héberts Roman stellt dahingehend eine komplexe Form des Detektivromans dar, dass die multiplen, in ihrer Wahrnehmung beschränkten Erzählinstanzen eine stark elliptische Darstellung erlauben, die in ihrer begrenzten Wahrnehmungsperspektive sowohl realistisch als auch spannungssteigernd wirkt. Im Zentrum des Interesses steht die Aufklärung des Mordes an Nora und Olivia Atkins (vgl. Lohse 2005: 243). Hébert arbeitet dabei mit einer von Faulkner abweichenden, sehr zielgerichteten Plotkonfigurierung. Die teleologische Ausrichtung, die für Kriminalerzählungen typisch ist, führt zu einer Fokussierung auf die Schuldfrage und beeinflusst die Hypothesenbildung der Rezipienten. Dass dabei die Makrostruktur signifikant abgeändert wird, liegt an den unterschiedlichen Grundkonflikten, die den Plot der Romane auslösen. Der Suche nach einem Schuldigen in einem Mordfall in Anne Héberts Roman steht ein Porträt des Niedergangs einer Gesellschaftsschicht in Faulkners Werk gegenüber. Dennoch ist das Motiv der langsam verfallenden Gesellschaft auch in Les fous de bassan nachzuweisen und stellt darüber hinaus eine Parallele zu einem weiteren Roman Faulkners, Light in August, dar: 8

Zum multiperspektivischen Erzählen siehe zum Beispiel Nünning/Nünning 2000.

9

Lohse (2005: 242) bezeichnet die Erzählerfiguren als intradiegetisch, doch eine Verschachtelung von Erzählinstanzen liegt in Héberts Roman nicht vor. Die homodiegetischen Erzähler sind alle auf der gleichen Fiktionsebene angeordnet – mit Ausnahme Olivias, die als Geisterwesen einen anderen ontologischen Status innerhalb der TAW einnimmt als die anderen, lebendigen Erzähler.

10 Die „schuldhafte Verstrickung“ (Lohse 2005: 224) anderer Bewohner von Griffin Creek kann dagegen nicht eindeutig geklärt werden.

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In Light in August and Les Fous de Bassan, the Reverend Gail Hightower and the Reverend Nicolas Jones stand as symbols of the fallen state of their respective communities. Both Hightower and Jones are keepers of heritage and guardians of tradition, and both are felled by scandal. Jones’s wife commits suicide by hanging herself in the barn after she discovers her husband’s lust for his niece. Hightower’s wife is an adultress and kills herself jumping from a motel room window. In both cases it is suggested that the men were inadequate: Jones is a pedophile, and it is intimated that Hightower is a homosexual. Both men fail to have offspring. Symbolically and practically, they represent the end of the line, the fall of the communities of which they are the spiritual leaders. (Reid 1991)

11

Gemeinsamkeiten mit The Sound and the Fury arbeitet Lohse in Bezug auf die geographische und geschichtliche Situierung der Erzähluniversen und hinsichtlich der Figurenkonstellation sowie der Motive heraus (vgl. Lohse 2005: 243257). Wie in Reids Zitat bereits angeklungen ist, schöpft Hébert aus Faulkners Gesamtwerk. Doch mit Hilfe einer detaillierten Analyse wiederkehrender Motive kann The Sound and the Fury insgesamt als dominierender Prätext identifiziert werden. Rekurrierende Motive betreffen dabei die Lichtgestaltung, das Verhältnis von Müttern und Töchtern sowie das Vorhandensein von „flüsternden und raunenden weiblichen Wesen, die an dunklen Orten weilen“ (ebd. 254). Lohse hebt dabei die unterschiedliche Selbstwahrnehmung und Reflexionsfähigkeit der Protagonisten sowie die Möglichkeit einer funktionierenden Kommunikation hervor (vgl. ebd.: 250), die in The Sound and the Fury nicht gegeben ist. Abweichungen stellen außerdem die Betonung des „Versagens patriarchialer Macht“ (ebd.: 258) im Prätext und die Zuspitzung auf den Geschlechterkonflikt im Text zweiten Grades dar, in dem die Diskriminierung von Schwarzen keine Rolle spielt. Die récriture-Arbeit Anne Héberts bezieht sich somit sowohl auf eine erzählstrategische Weiterentwicklung als auch auf eine Feminisierung des Ausgangserzähluniversums, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Erzähltechnische Weiterentwicklung und metatextuelles Potenzial Im Zentrum von Lohses Analyse steht die Weiterentwicklung des Erzählstils von Faulkner, die Hébert durchführt. Diese äußert sich vor allem in einer stärkeren Intransparenz der Figuren Héberts, die für die anderen Charaktere und teilweise 11 Da Light in August in Bezug auf die hier betrachteten Untersuchungsaspekte wenig Abweichungen von The Sound and the Fury bietet, wird auf eine eingehendere Analyse dieses zweiten Prätextes von Les fous de bassan verzichtet und auf Reid 1991 verwiesen.

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auch für sich selbst undurchschaubar bleiben. Der angedeutete Wechsel in der Fokalisierung im Kapitel, das aus Reverend Jonesʼ Perspektive erzählt, dessen Erzählung jedoch teilweise auf eine externe Erzählinstanz ausgelagert wird, illustriert dabei, dass diese Figur sich selbst nicht völlig durchschaut. Dies deutet Lohse (2005: 276f.) als Weiterentwicklung der Erzählstrategie aus dem zweiten, aus Quentins Sicht erzählten Kapitel aus The Sound and the Fury, die dazu genutzt werde, den psychischen Prozess der Verdrängung narrativ zu vermitteln. Die Weiterentwicklung beschränkt sich jedoch nicht auf die Darstellung psychischer Probleme einzelner Figuren: Es erschließt im inneren Monolog im Falle von Olivia die Möglichkeit, sich selbst zu verschiedenen Zeiten gleichsam leibhaftig gegenüberzutreten und das eigene Verhalten noch einmal zu erleben und im Rückblick quasi kritisch zu betrachten. (Ebd.: 284)

Eingesetzt wird dieses Verfahren somit auch, um eine Kontrastierung von erlebendem und erzählendem Ich zu erreichen. Dadurch gelingt es Hébert darüber hinaus, die Darstellung der TAW durch eine homodiegetische Erzählinstanz zu problematisieren und die Subjektivität und potenzielle Unzuverlässigkeit der Vermittlungsinstanzen zu betonen, die sich oft nicht über sich selbst im Klaren sind. In diesem Zusammenhang arbeitet Lohse (ebd.: 250) heraus, dass komplexere emotionale Erfahrungen in Les fous de bassan jeweils durch Rückgriff auf die Bibel oder anhand einer Tiermetaphorik verschlüsselt ausgedrückt werden. Faulkners Protagonisten verfügen dagegen über eine ungleich höhere kommunikative Kompetenz.12 Neben dieser kreativen Weiterentwicklung der Schreibtechnik Faulkners, die Lohse als „emanzipierte[s] Aufgreifen eines bestimmten inhaltlichen Modells und innovativer Darstellungsverfahren, […] die selbstbewußt gebändigt, aber auch weiterentwickelt werden“ (ebd.: 284) resümiert, ergibt sich in Héberts récriture ein nicht zu vernachlässigendes metatextuelles Potenzial der Interaktion zwischen den beiden Erzähluniversen. Geschuldet ist dies vor allem den bereits erwähnten Differenzen in der Plotkonfigurierung. Zwar stimmt der allgemeine Ausgangskonflikt überein, da beide Kollektive zunehmend marginalisiert werden – Lohse (2005: 245) verweist in diesem Zusammenhang treffend auf die Eingangsszenen, die in beiden Romanen den Untergang der dargestellten Fami-

12 So bleibt das Verhalten des Pastors Jones seinen Hausangestellten, den Schwestern Pat und Pam, ein Rätsel, während die Streitgespräche in Héberts Roman immer einen für die Figuren nachvollziehbaren Auslöser haben (vgl. Lohse 2005: 250).

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lien beziehungsweise Dorfgemeinschaft ankündigen –, doch die Plotdynamik der beiden Romane divergiert beträchtlich. Indem Hébert den Fokus auf die Schuldfrage legt und den Niedergang der Ursprungsgemeinde von Griffin Creek mit der Mitschuld am Verbrechen in Zusammenhang bringt, lenkt sie die Aufmerksamkeit auf eine Frage, die in The Sound and the Fury unbeantwortet blieb. Héberts Roman stellt dahingehend einen Metatext zu Faulkners dar, dass im Rückschluss in Bezug auf den Prätext neue Fragestellungen suggeriert werden, in deren Zentrum die Gründe für den Niedergang der Familie Compson stehen. Gerade dadurch, dass im Prätext kein maßgebliches und klar zu identifizierendes Ereignis am Beginn des Verfalls steht, wird rückwirkend die Unausweichlichkeit des Schicksals betont, der die Mitglieder der Familie Compson ausgeliefert sind und ihre „Blindheit angesichts des drohenden und unaufhaltsamen Niedergangs“ (ebd.: 284) ins Licht gerückt. Die Detektivstruktur von Les fous de bassan, die in einem Bekennerbrief des Täters kulminiert, fokussiert dagegen die Schuld eines Individuums, auch wenn Héberts Roman gleichzeitig Kollektivzuschreibungen problematisiert. Darüber hinaus kann eine lecture palimpsestueuse Parallelen und Gegensätze in der Konstruktion von Rassen- und Geschlechtergegensätzen in beiden Romanen gleichermaßen betonen. Die Romane setzen hierarchisch gegliederte Gesellschaftsstrukturen an, die jedoch in den beiden Erzähluniversen divergieren. Wo bei Faulkner eine Spaltung zwischen Weißen und Schwarzen die Gesellschaft durchzieht, steht bei Hébert „der Konflikt zwischen den Geschlechtern im Zentrum der Darstellung“ (ebd.: 258). Wenn bei der Lektüre von Les fous de bassan die Rassismuskritik Faulkners mitgelesen wird, deren Modell Hébert übernimmt, jedoch auf die Geschlechterfrage überträgt, erhalten die zurückhaltenden feministischen Töne, die Lohse feststellt (vgl. ebd.: 284), eine größere Wirkkraft. Im Rückschluss betonen sie gleichzeitig die männliche Vision, die dem Prätext unterliegt und sich beispielsweise dadurch äußert, dass das Sexualobjekt Candance „Caddy“ Compson im Gegensatz zu ihren homonymen Charakteren in Les fous de bassan niemals zum erzählerischen Subjekt aufgewertet wird. In dieser evidenten Kontrastierung sieht Reid (1991) sogar eine satirische Abwertung des Prätextes, dessen unterliegende maskuline Voreingenommenheit entlarvt werde. Während die Darstellung des Geschlechterkonflikts in Faulkners Roman durch den Text zweiten Grades einseitig kritisiert wird, erfährt das Thema der Diskriminierung von Schwarzen eine Übertragung auf das Modell patriarchischer Ge-

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walt13 in Griffin Creek, denn Hébert konzentriert sich ganz auf die Geschlechterfrage. Diese Parallelsetzung betont die Gemeinsamkeit beider Formen der Unterdrückung als Konstrukt, das innerhalb der TAW als natürliche Überlegenheit eines Teilkollektivs präsentiert und tradiert wird. Indem sie die übergreifende Konfliktlinie der Geschlechterfrage in das Schema eines Detektivromans einpasst, führt sie in diesem Zusammenhang zugleich auch die Schuldfrage ein. Die metatextuelle Komponente bezieht sich insgesamt weniger auf die Selektionsebene in einer Kontrastierung der Frauenfiguren, denn wie Lohse treffend bemerkt, ist die vollständige Freiheit in Héberts Roman nur den Frauen im Jenseits gegeben (vgl. Lohse 2005: 236) und enspricht somit keinesfalls feministischen Forderungen der Gleichberechtigung der Geschlechter. Vielmehr zieht der Roman sein metatextuelles und subversives Potenzial aus der Dialogizität, dem Anknüpfen an den Prätext bei gleichzeitiger Distanznahme. Da Héberts Roman die Geschlechterfrage an sich fokussiert, kann er in einer kontrastiven lecture palimpsestueuse auf unterliegende Funktionsmechanismen des Prätextes hinweisen. Somit scheint die Antwort auf die Schuldfrage, die Les fous de bassan stellt, in dieser Lesart beispielhaft in der auf die männliche Perspektive beschränkten Sichtweise des Prätextes zu finden zu sein. 4.1.2 Von Geschichten zur Geschichte: Vers le sud und La chair du maître Einführung Die folgenden Analysen widmen sich Romanen, die weniger bekannt als Héberts prämiertes Werk sind, aber durch ihre größere Nähe zum Prätext auf intensivere Weise einen – wiederum vorwiegend in der Rezeption realisierten – Dialog zwischen Text und Prätext ermöglichen, die aber bisher noch nicht explizit unter diesem Gesichtspunkt untersucht wurden und daher ausführlicher betrachtet werden. Genau wie in Les fous de bassan bildet eine Änderung der Plotkonfiguration auch bei Dany Laferrière das Zentrum der récriture, doch unterliegt seine Wiederaufnahme eines eigenen Romans einer anderen Dynamik. Im Mittelpunkt steht das spielerische Element, mit dem gleichzeitig eine Problematisierung der Originalitäts- und Gattungsfrage einhergeht, die bereits in Mark Harrisʼ eingangs

13 Die patriarchalische Gesellschaftsstruktur impliziert jedoch keine reine Hierarchie zwischen überlegenen Männern und unterlegenen Frauen, denn auch schwächere männliche Figuren wie Perceval werden unterdrückt (vgl. Lohse 2005: 259).

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gestellter Frage, welches der beiden Bücher denn nun für die Nachwelt relevant sei (vgl. Harris 2007), angedeutet wurde. Auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Kanada-Studien im Februar 2006 verkündete Laferrière, dass sein nächster Roman eine „récriture“ sei. In der Tat nimmt Vers le sud das Erzähluniversum seiner achten Publikation, La chair du maître, in modifizierter Weise wieder auf. Vers le sud scheint aufgrund der über weite Strecken wörtlichen Wiederholung des Prätextes Genettes Definition einer einfachen Transformation (vgl. Genette 1982: 14) zu entsprechen, doch führen die Abweichungen zu einer Bedeutungsverschiebung im Vergleich zum Prätext, die das kreative und subversive Potenzial derartiger nur vordergründig ‚einfachen‘ Transformationen in Form einer récriture illustrieren.14 In seiner Rezension in Le Devoir weist Christian Desmeules auf diesen Zusammenhang hin, indem er von Laferrières „‚nouveau‘ roman“ spricht und mit Hilfe der Anführungszeichen auf den Status des Romans als Text zweiten Grades hinweist. Die Wiederaufnahme von La chair du maître erläutert er folgendermaßen: Estimant qu’il y avait deux livres dans La chair du maître (Lanctôt, 1997), Dany Laferrière en profite pour faire le tri, resserrer son propos, rappeler – pourquoi pas? – que les livres sont là, qu’ils s’écrivent toujours et qu’ils réclament sans cesse leur part de nouveaux lecteurs. (Desmeules 2006)

Der Kritiker drückt damit aus, dass Bücher eine geschlossene Form haben, Erzähluniversen jedoch niemals abgeschlossen seien. Damit greift er ein Konzept auf, das Laferrière selbst auf sein Gesamtwerk anlegt, wenn er die Romane seiner Autobiographie Américaine15 als einen einzigen Roman bezeichnet (vgl. Ma-

14 Insgesamt ist die Ausprägung der récriture im Falle von La chair du maître und Vers le sud in etwa dem gleichen Ausmaß wie bei Héberts Text kommuniziert. Der Status als Text zweiten Grades entfaltet sich nur bei Kenntnis der Aussagen des Autors sowie bei vorheriger Lektüre des Prätextes. Die Verwendung des Titels von einem der Textteile aus dem Prätext, „Vers le sud“, als Titel des nachgeordneten Werkes sowie die über weite Stellen fast wörtliche Wiederaufnahme können dabei jedoch als eindeutige Intertextualitätssignale gewertet werden. 15 Seine Autobiographie américaine kann mit Jana Evans Braziel sehr treffend als „alterbiographique“ (Braziel 2005: 31) gekennzeichnet werden, um sie von einer klassischen Autobiografie abzugrenzen. Die Abwendung von einer herkömmlichen Autobiografie lässt sich vor allem im spielerischen Bruch des autobiografischen Paktes, der

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this-Moser 2003: 204). Diesen Romanzyklus setzt Ursula Mathis-Moser auf zehn Werke Laferrières an und sieht in seinem im Jahr 2000 erschienenem Roman Le cri des oiseaux fous, in dem der Ich-Erzähler ins Exil geht, den Schlusspunkt der amerikanischen Autobiografie.16 Auch wenn Dany Laferrière die Reihe nach zehn Werken begrenzen wollte, ist Vers le sud diesem Romanzyklus in gewisser Weise zuzuordnen, steht der Roman doch, wie bereits angeklungen, in sehr engem Zusammenhang zu La chair du maître. Innerhalb der amerikanischen Autobiographie von Laferrière besteht in weiten Teilen eine communauté fictionnelle. Zudem ist der Romanzyklus durch von Laferrière selbst als „livres jumeaux“ bezeichnete Korrespondenzrelationen strukturiert. So bereitet Le goût des jeunes filles nach Mathis-Moser (2003: 204) La chair du maître vor. Eine auf Wiederholung basierende Beziehung, wie sie La chair du maître und Vers le sud eingehen, ist jedoch in Laferrières Werk bisher nicht aufzufinden. Die Inszenierung des Prätextes in Form eines teilweise wörtlich übernommenen Diskurses führt dabei zu einem Fiktionsbruch, der im Folgenden in seinen Auswirkungen näher untersucht wird. Zunächst bietet sich jedoch ein kurzer Überblick über die kritische Aufnahme des Romans an, denn die Kontroverse bei der Publikation bezog sich nicht nur auf den Status des Buches als littérature au second degré. Auf andere Weise als der bereits erwähnte Desmeules verwendet André Brochu in seiner Rezension die Anführungszeichen, wenn er in Lettres québécoises Laferrières 2006 erschienenes Werk folgendermaßen charakterisiert: „Vers le sud se donne pour un ‚roman‘“ (Brochu 2006: 20).17 Insgesamt erinnere Dany Laferrières Schreiben an naive Malerei:

die Identität von Autor und Erzähler vorschreibt, nachweisen (vgl. Mathis-Moser 2003: 253). 16 Inhaltlich gesehen ist der Endpunkt jedoch eher mit Pays sans chapeau (1996) anzusetzen, das die Rückkehr des Protagonisten nach Jahren des Exils in Nordamerika erzählt. 17 Brochu spielt hier auf den Aufbau des Buches an, der eher an eine „collection de nouvelles“ (Brochu 2006: 20) als an einen Roman erinnere. Den Sekundärcharakter des Erzähluniversums lässt er dabei jedoch außen vor. Die Wiederaufnahme von La chair du maître findet keine Erwähnung. Brochu bezweifelt in seiner Rezension den Romancharakter des Werkes, was er vor allem mit dem Fehlen einer kohärenten Intrige begründet. Diese definiert er folgendermaßen: „Par intrigue, j’entends une action concernant un petit nombre de personnages importants chargés d’incarner une problématique humaine (sociale, psychologique…).“ (Ebd.) Die Einordnung in die Gattung

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Des images fugitives se succèdent, les incursions se multiplient et créent, conformément au concept de la ‚peinture naïve‘, une texture qui vit de la juxtaposition de petites entités souvent de provenance multiple et sans lien évident. (Ebd.: 61)

Genau wie bei naiver Malerei befinden sich in seinen jeder Hierarchisierung widerstrebenden Texten alle Elemente auf der gleichen Ebene. Durch die Multiplikation und Juxtaposition gleicher oder ähnlicher Bausteine entsteht der Eindruck einer Vielgestaltigkeit, deren Wirkung Mathis-Moser mit Bezug auf Edouard Glissant in die Nähe einer barocken Ästhetik rückt: „Pour l’art baroque, la connaissance pousse par l’étendue, l’accumulation, la profération, la répétition et non pas avant tout par les profonds et la révélation fulgurante.“ (Zitiert nach Mathis-Moser 2003: 198). Für die folgende Vergleichsanalyse bieten sich zwei Untersuchungsschwerpunkte an. Zunächst stehen der Aufbau der beiden Werke und die Parameter des Erzähluniversums, anschließend die Figurenkonstellation im Vordergrund, welche die jeweilige(n) Intrige(n) tragen. Im Hinblick auf das Spiel mit Gattungskonventionen, das als zentrales Element der écriture Laferrières bezeichnet werden kann (vgl. ebd.: 184), soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern der Prätext in seiner Gesamtheit eher als fragmentarisch und hybrid, der Text zweiten Grades jedoch als überwiegend kohärent beziehungsweise linear bezeichnet werden kann, wie es die Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ im Peritext angibt. Dabei geht es um die Frage, welches Verständnis der Gattung Roman, die mit Matthias Bauer als „hybrides Gebilde und ein Laboratorium des Erzählens“ (Bauer 2005: 9) be-

Roman ist demnach einerseits aufgrund der hohen Anzahl von Figuren, andererseits wegen der fehlenden Gesamtaussage für ihn problematisch (vgl. ebd.), womit er eine enge Definition des Romanbegriffs ansetzt. Marie-Claude Fortin qualifiziert Vers le sud als „un de ces objets hybrides dont il [Dany Laferrière, MK] a le secret, ni roman ni recueil de nouvelles, quelque chose d’éclaté“ (zitiert nach Mathis-Moser 2003: 53). Mathis-Moser konstatiert für das Gesamtwerk Laferrières bis 2001 ein ähnliches Phänomen, das sie mit Hilfe von Janet Patersons Heterogenitätskonzept zur Erfassung postmoderner Romane (vgl. Paterson 1993 beziehungsweise 1994) beschreibt. Die Pluralität und Widersprüchlichkeit des erzählenden Ichs, die Intertextualität, das spielerische Nebeneinander von burlesken und tragischen Elementen sowie das Infragestellen von Genre-Grenzen kristallisieren sich als wiederkehrende Stilelemente heraus (vgl. Mathis-Moser 2003: 183).

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zeichnet werden kann, in Vers le sud angelegt wird, das explizit als solcher klassifiziert ist. Laferrières Textpaar, so die These, scheint in fiktionaler Form Jean-Marie Schaeffers Aussage zu illustrieren, dass literarische Gattungen sowohl als Produkt der Textstruktur als auch als Instrument der Rezeptionslenkung zu sehen sind (vgl. Schaeffer 1989: 151). Den Schwerpunkt der Untersuchung von Vers le sud und La chair du maître bildet das Zusammenspiel dieser beiden Komponenten der Gattungsklassifizierung anhand von Vers le sud. Dazu soll keinesfalls eine Gattungstypologisierung durchgeführt werden. Vielmehr bietet es sich an, die beiden Erzähluniversen nach ihren Strukturmerkmalen, der paratextuell zugewiesenen Gattungsklassifikation zu vergleichen und Aussagen über die damit verbundene zu erwartende Rezeptionsweise zu treffen.18 Ziel ist es, Strategien herauszuarbeiten, die Laferrière anwendet, um aus dem vorliegenden Textmaterial ein anderes Erzähluniversum zu kreieren und in einem zweiten Schritt aufzuzeigen, welche Bedeutungsverschiebungen und Interaktionen sich dabei ergeben. Indem der Mehrwert einer lecture palimpsestueuse im Vergleich zu einer Lektüre als Roman ersten Grades, hervorgehoben wird, kann zudem auf Laferrières Spiel mit der Originalitätsfrage eingegangen werden. La chair du maître als Erzählcollage Während Vers le sud auf dem Buchdeckel als Roman bezeichnet wird, liefert der Peritext von La chair du maître in der hier betrachteten Ausgabe von Lanctôt keine Gattungsbezeichnung.19 So ist im Klappentext beispielsweise neutral von einem „ouvrage“ die Rede. Julie Sergent spricht in ihrer Rezension allerdings von „une vingtaine d’historiettes“ (Sergent 1997), betont also den disparaten Charakter der 24 kurzen Texte, deren letzter den Titel des Buches trägt. Dieses Verfahren wird oft in den in der Québecer Literatur besonders häufig anzutreffenden recueils de nouvelles20 verwendet (vgl. Audet 2000).21 18 Die tatsächliche Lesart der Texte könnte nur in einer empirischen Untersuchung geklärt werden, so dass auch in den folgenden Analysen nur Elemente hervorgehoben werden können, die eine Wirkung auf die Hypothesenbildung der Rezipienten haben können. 19 Im Klappentext der französischen Ausgabe, die als Taschenbuch bei Serpent à Plumes erschienen ist, wird La chair du maître als Roman bezeichnet, wobei nicht geklärt werden konnte, ob diese Gattungsbezeichnung vom Autor oder vom Verlag veranlasst wurde. 20 Der französische Begriff „recueil de nouvelles“ verursacht für die deutschsprachige Terminologie, die in Bezug auf narrative Kurztexte traditionell zwischen Erzählung,

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Der erste Text in La chair du maître ist in Untereinheiten mit Überschriften eingeteilt. Diese Technik, die Mathis-Moser als ein „assemblage d’objets-histoires“ (vgl. Mathis-Moser 2003: 195, Hervorhebung im Original) bezeichnet, resultiert in einer losen und unstrukturierten Ansammlung von Texten, deren Überschrift wie ein Etikett fungiert, das die Rezeption lenkt. Diese fragmentarische Textanordnung wendet Laferrière auch in „Les garçons magiques“ und in Abwandlung in der Mikro-Erzählung „Vers le sud“ an, die eine Ansammlung von Zeugenaussagen enthält und zum Titel des récriture-Romans wird. Diese diskontinuierliche Erzählhaltung überlässt es dem Leser, die Einzelteile zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen. Orientierung bietet zu Beginn des Werkes die Erzählinstanz, denn die Einführung „TOUT A COMMENCÉ, il y a très longtemps, j’avais à peine quinze ans“ (CM: 11) verankert die Einzelteile im Erinnerungsprozess des Ich-Erzählers. Somit fungiert „Pour planter le décor“, wie der Titel es andeutet, als Exposition des Werks, denn der Einstieg erhellt mit Hilfe der aufgeführten Einzeltexte die Vorgeschichte des Erzähluniversums und situiert es in Port-au-Prince nach der Machtübernahme von François Duvaliers Sohn, Jean Claude, im Jahr 1971. Formal gesehen, bietet die Exposition einen Einblick in den diskontinuierlichen Aufbau des Textes und umreißt gleichzeitig im Sinne eines Inventars die wichtigsten Themen: Sex, die Diktatur Duvaliers, die materielle Not und Machtspiele. Mathis-Moser spricht in Bezug auf La chair du maître darüber hinaus von „petits fragments de textes formant une double histoire“ (Mathis-Moser 2003: 20), denn die persönliche Geschichte des siebzehnjährigen Fanfan, den sie als Protagonisten ansieht, werde von der kollektiven Geschichte der Jugend Haitis durchdrungen. An anderer Stelle definiert sie das Werk jedoch als ein „livre sur le collectif, à personnages multiples et dont Port-au-Prince est le personnage principal“ (ebd.: 121). Zwar tendiert der Autor selbst klar zu letzterem, wenn er in einem Interview bekräftigt, der wahre Protagonist von La chair du maître sei keine Figur, sondern die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince: „Oui, Port-auPrince est le personnage central, qui contient dans son ventre tous les per-

Kurzgeschichte und Novelle unterscheidet, ein Übersetzungsproblem. Siehe zur problematischen Abgrenzung dieser Sub-Gattungen Kilchenmann 1978: 9-20. Im Folgenden werden die nicht als Kapitel ausgewiesenen Prosatexte aus La chair du maître als ‚Mikro-Erzählungen‘ oder ‚Mikro-Narrationen‘ bezeichnet. 21 Überblicksdarstellungen über die nouvelle in Québec bieten Gallays 1996 und Lord 2009.

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sonnages.“ (Sroka 1997)22 Doch können beide Lesarten mit Textelementen untermauert werden, denn es sind sowohl Merkmale des fragmentarischen Erzählens als auch Kohärenz stiftende Strategien nachzuweisen. La chair du maître setzt, wie erwähnt, mit einer Exposition ein, die von einem anonymen Ich-Erzähler präsentiert wird. Es ist einem effet de réticulation23 zuzuschreiben, wenn der Leser des Werks den Ich-Erzähler des zweiten Textes, dessen Name, Fanfan, genannt wird (vgl. CM: 25), mit demjenigen des Rahmentextes in Verbindung zu bringen und die aufeinander folgenden Texte als Netzwerk zu interpretieren sucht. Dieser kognitive Prozess basiert auf der Beobachtungsgabe und der Erinnerungs- und Assoziationsfähigkeit des Lesers, der anhand von Elementen, die in verschiedenen Texten eines Sammelbands wiederkehren, ständig deren Übereinstimmung überprüft (vgl. Audet 2000: 75f.). Diese mit Monfort als „serielle Signifikanten“ (Monfort 1995: 47, Audet 2000: 86) zu bezeichnenden Elemente können nach Audet, der Monforts Ansatz ausarbeitet, sowohl auf der thematischen als auch auf der formalen Ebene angeordnet sein, das heißt Teil der erzählten Welt oder ihrer Vermittlungsstrategie sowie Bestandteil des Paratextes sein (vgl. Audet 2000: 75f.). Sie können somit sehr vielfältig gestaltet sein und beinhalten sowohl strukturierende Unterüberschriften als auch wiederkehrende Figurennamen und Sätze beziehungsweise Begriffe. Auch übereinstimmende Erzählhaltungen und thematische Korrespondenzen beziehungsweise Oppositionen in den einzelnen Texten können herangezogen werden (vgl. ebd.: 76ff.). In La chair du maître setzt Laferrière vor allem thematische serielle Signifikanten ein. Da diese eine besondere Rolle bei der Entfaltung des Erzähluniversums während des Leseprozesses spielen, werden sie im Folgenden in ihrem Zusammenspiel mit Merkmalen der Diskontinuität ausführlicher präsentiert, bevor auf andere Arten der Kohärenzstiftung eingegangen wird. Auch wenn der fünfzehnjährige Ich-Erzähler in „Pour planter le décor“ in PetitGoâve, der siebzehnjährige Protagonist des zweiten Textes dagegen in Port-auPrince lebt, lassen sich zunächst keine Widersprüche nachweisen, welche die Identität der beiden ausschließen würden. Dagegen bestehen Parallelen, die andeuten, dass sich die textuell aktualisierte Welt des zweiten Kapitels in das im ersten Text entworfene Erzähluniversum einpassen lassen. So können Fanfans Hinweis darauf, dass sein Vater verstorben ist (vgl. CM: 19), und die Tatsache, dass seine Mutter dessen Tod nicht akzeptiert (vgl. ebd.), leicht mit den Informa22 http://www.lehman.cuny.edu/ile.en.ile/paroles/laferriere_chair.html vom 28.01.2010. 23 Siehe hierzu Kapitel 2.5 der vorliegenden Untersuchung.

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tionen des Ich-Erzählers aus der Exposition, die eine Generation ohne Väter, „[s]ans père“ (ebd.: 17), beschreibt, in Verbindung gebracht werden. Deutlich wird die Parallelität, wenn Fanfan seine Situation mit derjenigen seiner Freunde vergleicht: „La plupart n’ont jamais connu leur père (tué, emprisonné ou disparu). Le mien au moins n’est pas mort en prison.“ (Ebd.: 20) Indem die Todesursache nicht geklärt wird, fördert der Text nicht nur die Annahme eines beiden Textteilen gemeinsamen Universums, eines „univers partagé“ (Audet 2000: 85), sondern auch diejenige einer gemeinsamen Geschichte, die in den folgenden Texten fortgeführt wird. Diese Hypthese muss der Leser jedoch spätestens im Laufe der dritten Episode, „La gifle“, fallen lassen, denn der Ich-Erzähler, dessen Beziehung zur Mutter zunächst wieder auf eine Identität mit Fanfan hindeutet, wird mit dem Vornamen Manuel angesprochen – die Annahme der Identität der Ich-Erzähler muss revidiert werden.24 Es liegt weder eine Quasi-, noch eine Pseudo-Identität vor.25 Somit setzt Laferrière in den Textteilen Gemeinsamkeiten ein, die den Zusammenhalt zwischen den Mikro-Erzählungen anzeigen, gleichzeitig jedoch dem Eindruck einer kontinuierlich ablaufenden Geschichte entgegenwirken. Auf der thematischen Ebene sind die einzelnen, teilweise überaus gewalttätigen und/oder pornografischen Geschichten nach Mathis-Moser vom Leitmotiv der Macht – ausgedrückt durch eine sexuelle Beherrschung – durchzogen: Laferrière y évoque le climat politique et social du duvaliérisme caractérisé par la violence et la guerre des sexes – la sexualité servant d’instrument de ‚pouvoir politique, de pouvoir social, de pouvoir économique‘. (Mathis-Moser 2003: 120)

Der Krieg der Geschlechter wird im zwölften Teil, „La maîtresse du colonel“, explizit angesprochen (vgl. CM: 182), doch ist der eigentliche rote Faden auf ei24 Auch ein Druckfehler wie im Falle von Fanfans Mutter in „L’après-midi d’un faune“, die zunächst mit Simone und anschließend mit Madeleine angesprochen wird – dieser Lapsus wird in Vers le sud behoben – ist auszuschließen, denn Manuel gibt an, seinen Vater, der mit einer anderen Frau zusammenlebe, nie kennengelernt zu haben (vgl. CM: 52), während Fanfan klare Erinnerungen an seinen Vater hat (vgl. ebd.: 20). 25 Eine Pseudo-Identität nach Audet (2000: 99), bei der Figuren mit gleichem Namen unterschiedliche Charaktereigenschaften zugesprochen werden, findet sich im Falle (Monsieur) Gérards. Obwohl der gleiche Name zunächst eine Identität der Figuren aus „L’après-midi d’un faune“ und „La gifle“ andeutet, wird diese sofort durch die respektvolle Ansprache mit „Monsieur“ im dritten Text in Frage gestellt, um schließlich durch Angaben zur Lebensweise vollständig ausgeräumt zu werden.

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ner allgemeineren Ebene zu suchen, denn alle Kapitel des Buches beinhalten Oppositionen, die sich oft in der Machtausübung über andere Figuren entladen, dies meist durch eine Instrumentalisierung emotionaler oder sexueller Beziehungen. Alle Mikro-Erzählungen stellen gesellschaftliche oder individuelle Extreme gegenüber. Dies betrifft die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung der Figuren, ihr Bildungsniveau beziehungsweise ihre Außenwirkung und ihr Aussehen. In engem Zusammenhang dazu steht ein Gegensatz von Schein und Sein, denn eine Vielzahl der Figuren befasst sich mit Intrigen und Täuschungsmanövern. Im Gegensatz dazu entblößt eine ganze Reihe Charaktere seine oder ihre „wahre“ Natur, was sich als Akt der Befreiung und Selbstfindung oder als Unterwerfung äußern kann. Laferrières Sammlung von Mikro-Erzählungen in La chair du maître spannt somit ein Netzwerk von Oppositionen auf, in dem sich die Figuren bewegen, und die jeweils die Mikro-Narrationen anstoßen. Reiche Weiße stehen mehrheitlich armen Schwarzen gegenüber, arme haitianische Bauern reichen westlichen Stadtbewohnern, Schöngeister einer verrohten Welt und die französische Bourgeoisie dem haitianischen Voodoo-Glauben. Das Zusammenprallen dieser Gegensätze in Port-au-Prince äußert sich in einem Kampf um politische und gesellschaftliche Macht, in der Sex zu einer „monnaie d’échange“ (CM: 74) oder zu einem Machtspiel wird. Das sexuelle Verlangen ist deutlich als politische Metapher zu erkennen, denn es ist das einzige Element, das in einer von Kontrasten und Hierarchien geprägten Gesellschaft eine grenzüberschreitende Annäherung und Transgression ermöglicht, so Laferrière: „Ce n'est pas une sexualité innocente que je décris, c'est une sexualité comme instrument de pouvoir politique, de pouvoir social, de pouvoir économique.“ (Sroka 1997) So erweist sich die zurückhaltende June aus „Nice girls do it also“ als nicht so prüde wie von ihrer Familie angenommen, als sie den schwarzen Hausangestellten verführt. Einen Gegensatz zwischen dem öffentlichen Auftreten und dem „wahren“ Wesen stellen auch die Figuren in „Vers le sud“ in der (Sex-)Touristin Ellen fest, die wahlweise als „cette intellectuelle de Boston au nez pincé“ und als „chienne en chaleur qui joue à l’intellectuelle“ (CM: 203) bezeichnet wird.26 In

26 Einen Sonderfall der Täuschung stellt Laferrière in „La maîtresse du colonel“ dar, in der ein unbedarfter Junge, Marco, ohne sein Wissen in einen Mordkomplott gegen einen Vertrauten Duvaliers verwickelt wird. Eine Instrumentalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen aus politischen Motiven praktiziert dabei die junge Geliebte des Colonel Beauvais. Sie behandelt Marco zunächst wie einen Freund oder Ersatzbruder und lenkt damit den Verdacht auf ihn, bevor sie sich als Mitglied einer Wider-

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ähnlicher Weise stellt sich die nach außen unterkühlt auftretende Brenda als völlig abhängig von dem Prostituierten Legba heraus (vgl. ebd.: 204), wodurch zudem angedeutet wird, dass sich die vermeintliche Machtstellung der Reichen gegenüber den armen Bevölkerungsschichten durchaus in ihr Gegenteil verkehren kann. Dies zeigt sich in „Une bonne action“. Um seinen Eltern zu helfen, die als Hausangestellte bei einem ehemaligen Botschafter tätig sind, deren verzogene Nichte, Missie, den Posten des Vaters gefährdet, verführt der gutaussehende Charlie mit Hilfe seines provokant ehrlichen Auftretens Missie, die ihm schließlich wie einer Droge verfällt und jegliche Selbstachtung verliert.27 Wie ein Raubtier lässt er seine Beute zappeln: „Il décide de ne pas la prendre aujourd’hui. Elle souffre, mais sa douleur est son plaisir.“ (Ebd.) Die Mikro-Erzählung schließt mit einem Gespräch Charlies mit seiner Mutter, in dem klar wird, dass Charlies Strategie aufgegangen ist – Missie stellt für seine Eltern keine Gefahr mehr da (vgl. CM: 130). Die Instrumentalisierung von sexueller Anziehung wird auch in ihren gesellschaftlichen Folgen portraitiert. In „Le piège“ wird erzählt, wie Tina ihren Lehrer dazu bringt, sie nach Hause zu fahren, wobei er sich bereitwillig ins Haus einladen lässt. Anschließend dreht sie die Hierarchie nicht nur um, indem sie ihn mit Verweis auf seine sehr unpassende Anwesenheit in ihrem Haus erpresst, ihr eine gute Note zu geben, sondern erniedrigt ihn außerdem, indem sie ihn zum Oralsex zwingt: „Oh! Je comprends, tu voulais bien le faire, mais ce n’est pas bien quand c’est moi qui le demande.“ (Ebd.: 280) Die Anspielung auf den Rollentausch zwischen Mann und Frau wird noch deutlicher, als sie ihm hinterherruft: „Et la prochaine fois, fais un peu plus attention quand tu vas à la chasse…“ (Ebd.) Deutlich erkennbar ist, dass Laferrière eine Vielzahl verschiedener Konstellationen von Machtspielen auslotet, wobei die Darstellung physischer und

standsgruppe gegen die Militärdiktatur herausstellt, in die sie Marco einschleusen wollte (vgl. CM: 191). 27 Die Erzählinstanz charakterisiert ihre Sprechweise Charlie gegenüber als den „ton d’une droguée en manque depuis une semaine s’adressant à son dealer“ (CM: 129, Hervorhebung im Original). Das Bild einer Drogenabhängigen verwendet auch die Sex-Touristin Brenda, die nach ihrem ersten Haiti-Aufenthalt zwei Jahre in die USA zurückkehrte: „J’ai attendu deux ans avant de revenir. Pamela, […] ma meilleure amie, dit que j’agissais comme une droguée en manque durant ces deux ans.“ (CM: 192)

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psychischer Gewalttätigkeit gegen Ende des Buches zuimmt (vgl. „Un jeune tigre dans la jungle urbaine“, „L’Ange exterminateur“ und „Le piège“). 28 Auffallend ist dabei ein weiteres, als serieller Signifikant zu bezeichnendes Element, das in dieser Fülle von Konstellationen leitmotivisch auftritt und zu einer Schematisierung der Eroberungs- beziehungsweise Beutezüge in den MikroErzählungen führt: Der „cri“, der Schrei der Frau, die den Orgasmus erreicht, wird in verschiedenen Abwandlungen als „cri interminable“ (CM: 40), „cri strident“ (ebd.: 69), „cri déchirant“ (ebd.: 268), „cri rauque“ (ebd.: 269), „cri aigu“ beziehungsweise „cris aigus“ (ebd: 272, 292), als „ce CRI venant d’elle“ (ebd.: 293, Hervorhebung im Original) oder als Verb in „crier sans arrêt“ (ebd: 199) ausgestoßen. Neben Mikro-Erzählungen, die die sexuelle Anziehungskraft als Machtmittel darstellen, wird in einem anderen Teil der Texte, in denen weiße Protagonistinnen auftreten, das heißt in „Une maisonnette au flanc de cette montagne bleue“, „Un tableau naïf“ und – weniger ausgeprägt in – „Max est de retour“, die Machtfrage gegenüber einer Selbstverwirklichung in den Hintergrund gedrängt. Der Kontrast wird hier zwischen einer entfremdeten, in eine Rolle gedrängten Frau und ihrer persönlichen Entfaltung aufgespannt, die ihre Ankunft in Haiti wie eine Rückkehr zu sich selbst erlebt.29 Gemeinsam ist diesen Entwicklungen, dass die Frauen jeweils ihre Vernunft gegenüber den Emotionen zurückdrängen und dadurch soziale Rollenvorstellungen gesprengt werden. Beckys Zusammentreffen mit dem namenlosen Bauern lässt sie beispielsweise ihre Verantwortung gegenüber ihren Kindern vergessen, so dass sie ihrem Mann vorschlägt: „Donneles à l’orphelinat, John. Tu paies assez de taxes comme ça.“ (CM: 109) In ähnlicher Weise konstatiert die Montréaler Touristin Johanne, „[i]l me vide le cerveau…“ (ebd.: 307) und stellt einen Gegensatz her zwischen Max, der sie intellektuell stimuliert, und Frantz, dessen Anziehungskraft auf seinem vermeintlichen Desinteresse an ihr beruht. Das letzte Beispiel macht zudem den engen Zusammenhang zum Leitmotiv der Täuschung deutlich, denn Max hatte Johanne nach Haiti eingeladen, um die Aufrichtigkeit seiner Jugendfreunde zu testen.

28 Laferrière sieht sich aufgrund derart gewalttätiger Darstellungen und der Tatsache, dass er die männliche und weibliche Homosexualität in sein Mosaik der Machtspiele mit einbezieht (vgl. CM: 84 und 250), durchaus als Vorbild für andere Schriftsteller aus der Karibik und als Tabubrecher: „C’est pour donner aux gens la possibilité de l’exprimer que j’écris parfois de manière un peu démesurée.“ (Sroka 1997) 29 Siehe zum Beispiel: „Becky se sent comme une voyageuse qui revient chez elle.“ (CM: 104)

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Ein weiteres Kohärenz stiftendes Element sind wiederkehrende Strukturmerkmale der Mikro-Erzählungen auf der Narrationsebene. Auffallend ist der Beobachterblick, der bei der oft verwendeten internen Fokalisierung auftritt. Es handelt sich um eine Mit-Sicht mit einem Außenstehenden, der nur marginal in die Handlung miteinbezogen ist. Exemplarisch verkörpert Manuel in der Episode „La gifle“ diese Erzählhaltung, wenn er auf der Mauer vor M. Gérards Haus sitzt und bemerkt, wie eine Frau dieses betritt. Im Laufe seiner Beobachtungen findet er heraus, dass es sich um die ehemalige Geliebte des Lehrers handelt, mit der dieser Selbstmord begeht (vgl. ebd.: 59).30 Oft bleiben die Ich-Erzähler jedoch namenlos und ihre Identität wird nicht geklärt.31 Die fehlenden Konturen der Erzählinstanz begünstigen dabei häufig den Retikulationseffekt, bieten sie doch eine Projektionsfläche für die verschiedenen erzählenden Ichs. Zudem führen sie zu einer Ambivalenz des Erzählten, denn für das Gesamtwerk Laferrières gilt, dass die Ich-Erzähler zwar eine autobiografische Komponente haben, jedoch eindeutig Erfindungen des Autors sind, der multiple Erzählinstanzen generiert (vgl. Laferrière 2000: 197). Die Zersplitterung des Ichs entspricht einer Spiegelung der inhaltlichen Vielfalt auf der Narrationsebene. Die verschiedenen, aber nicht leicht voneinander abzugrenzenden „Je“ in La chair du maître sind Laferrières „‚je‘ générationnel“ (ebd.: 199) zuzuordnen, das die Erfahrungen der Diktatur als Kollektiv absorbiert und in verschiedenen Facetten wiedergibt. Darüber hinaus äußert sich der Beobachterblick auf der Vermittlungsebene in Form von Einschüben, die in Klammern in den Textfluss eingeschoben werden. Dieses in sehr vielen Textteilen wiederkehrende Stilmerkmal wirkt auf der textübergreifenden Narrationsebene Kohärenz stiftend, hält gleichsam die Texte wie eine Klammer zusammen. Bereits in der Exposition werden die den Text- und Lesefluss unterbrechenden Klammern eingesetzt, um erklärende Ergänzungen anzufügen. Einerseits geben sie dem Text einen mündlichen, spontanen Charakter, indem der Erzähler seine Ausführungen kurz zu überdenken und in Form eines Einschubs zu ergänzen scheint, um dem Leser Informationen nachzureichen: „Nous vivions dans un pays où tous les intellectuels (écrivains, journalistes, médecins, ingénieurs, avocats, poètes) ont été soit jetés en prison (Fort Diman30 Einen Beobachterstatus haben auch Christina, die ihre eigene Tochter in „Nice Girls do it also“ beim Sex mit dem Hausangestellten überrascht, und der namenlose Erzähler von „L’homme qui ne parlait pas“, der nachzeichnet, wie die junge Niki Pilatus verfällt. 31 Laferrière (2000: 18) gibt selbst an, dass in seinen Büchern der Erzähler nie eine „identité propre“ habe, da er entweder keinen oder einen offen als Pseudonym erkennbaren Namen trage.

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che), soit expédiés en exil.“ (CM: 15) So erhält der Text einen dialogischen und didaktischen Ton. Andererseits führen die Präzisierungen zu Unterbrechungen, die den Wortfluss jeweils anhalten und in seiner Bedeutung zuspitzen, wobei der sich in gewisser Weise selbst hinterfragende Erzähler die Einschübe teilweise dazu nutzt, um den erzählerischen Akt auf metanarrative Weise als solchen bloßzustellen.32 Diese können fast die Form von Didaskalien annehmen, und somit einen dramatischen Schrifttext nachahmen, der den Figuren „Anweisungen“ gibt: Je veux qu’elle se laisse aller (Christina pleure), qu’elle s’éclate, qu’elle soit heureuse, qu’elle jouisse de la vie, qu’elle dévore à pleines dents les fruits de l’amour (elle sanglote). (Ebd.: 65)

Ein weiteres rekurrentes Stilmerkmal auf der Narrationsebene, das den Retikulationseffekt auslöst, sind bildliche Ausdrücke aus dem Tier- und Jagdbereich, die auf der Narrationsebene das Leitmotiv der Machtstellung ausdrücken. So kündigt Fanfan in „L’après-midi d’un faune“ seine Verführung von Mme SaintPierre mit den Worten, „je traque une proie de choix“ (ebd.: 21), an. Auch von Opferseite wird die Jagdmetaphorik gebraucht, denn die junge Geliebte eines ranghohen Offiziers der Duvalier-Diktatur sieht sich selbst als „proie dans cette jungle“ (ebd.: 161). Das Beuteschema bezieht sich nicht nur auf Männer, denn dem Journalisten gegenüber, der den aufstrebenden Musiker Jude Michel interviewt, nimmt eine wohlhabende Frau im Mercedes, die Michel nachstellt wie ein „oiseau de proie juste avant d’effectuer le plongeon fatal“ (ebd.: 137) die Rolle des Raubtiers ein.33 32 Eine besonders starke selbstreferentielle Wirkung entsteht, wenn die Erzählung als schriftlich bloßgelegt wird, also das Zeichensystem, das als Informationsträger fungiert, als solches hervorgehoben wird. So wird eine auf einen Spannungseffekt abzielende Sprechpause in die Schriftsprache übertragen, als Anthony einem Klassenkameraden erzählt, dass er ein Blatt mit den Aufgaben einer für den nächsten Tag angesetzten Klausur auf der Straße gefunden hat: „Il m’a fait comprendre, ce midi, qu’il avait l’examen de géométrie (espace).“ (CM: 167) 33 Anführen lassen sich hier auch Anthroponyme wie Le Chat, der wie ein „[j]eune tigre dans la jungle urbaine“ in der gleichnamigen Mikro-Erzählung auf Beutesuche geht. Inspiration findet er in einem Dokumentarfilm über einen Tiger, der eine Antilope reißt: „Je dois avouer que j’ai visionné ce petit film […] plus d’une centaine de fois. Jusqu’à devenir tigre moi-même. Presque chaque nuit, je répète le rituel. La chasse à la jeune fille.“ (CM: 244f.)

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Auch die bereits erwähnte Instrumentalisierung sexueller Anziehungskraft wird über die Sprache ausgedrückt. Die negative Semantisierung der Liebe beziehungsweise des Gefühls des Hingezogenseins äußert sich dabei häufig mit Hilfe von bildlichen Ausdrücken aus dem Tierreich. So empfindet Niki die Anziehungskraft Pilatus’ als inneres Nagen, „[o]n dirait que j’abrite un rat dans mon ventre“ (ebd.: 92) – eine Metapher, die der Erzähler aufnimmt und verallgemeinert: „Alors, à chacun son rat.“ (Ebd.) Einerseits schafft Laferrière somit anhand der seriellen Signifikanten eine gemeinsame Basis, die eine Verbindung zwischen den Texten schafft. Andererseits gebraucht er gleichzeitig subversive Strategien, die einer totalisation, das heißt der Wahrnehmung der Mikro-Erzählungen als zusammengehörendem Text (vgl. Audet 2000: 71) entgegenwirken. Neben der Irreführung des Lesers durch mehrere anonyme und scheinbar ununterscheidbare Ich-Erzähler, die, wie gezeigt, bei genauerer Analyse Inkompatibilitäten aufweisen, werden weitere Verfahren eingesetzt, die zu einem Eindruck der Heterogenität des Erzähluniversums führen. Abgesehen von einem Wechsel zu einer Erzählinstanz der dritten Person, die in elf Kapiteln durchgeführt ist, und der bereits erwähnten Nachahmung von Didaskalien fällt hier besonders die einem Drehbuch nachempfundene sechzehnte Erzählung, „Le réseau“, auf. In über einen Tag verteilten Momentaufnahmen, die mit Schauplatz und Uhrzeit überschrieben sind („Intérieur. Cuisine. 11 h 23“, CM: 224) erschließt sich Tanyas Liebesleben in dialogisch wiedergegebenen Telefongesprächen, die durch die situierenden Kommentare einer extern fokalisierenden Erzählinstanz ergänzt werden. Die Collage der Textbausteine ändert sich an dieser Stelle gleichsam in ihrer Textur – eine Transgression, die umso einschneidender wirkt, als der Handlungsstrang über drei Mikro-Erzählungen weitergeführt wird. Zwar haben diese drei Textteile einen ähnlich fragmentarischen Charakter, unterscheiden sich jedoch vom Beginn des Handlungsstranges dadurch, dass die Drehbuchstruktur aufgegeben wird. Explizite Erzählerkommentare suggerieren darüber hinaus die nun wertende Beobachterposition der Erzählinstanz.34 Die verschiedenen Präsentationsstrategien, die Mathis-Moser in Bezug auf das Gesamtwerk Laferrières als neobarockes „foisonnement de formes littéraires et semi-littéraires“ (Mathis-Moser 2003: 197) charakterisiert, steigern die Viel34 Die Erzählinstanz kommentiert beispielsweise Tanyas Blickstrategie: „Ah les yeux de Tanya. Son arme favorite. Quand elle décide de te regarder… Toujours très discrètement, mais quels feux! Justement, elle vient de lancer trois salves du côté du type, à l’autre bout du comptoir. Et le voilà qui s’amène déjà.“ (CM: 238)

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schichtigkeit des Werkes und laufen in metanarrativer Weise einer Illusionsbildung zuwider. Inhaltlich scheinen sie jedoch auf verschiedene Weise dasselbe Erzähluniversum zu vermitteln. Laferrières ouvrage spielt mit der Interaktion zwischen seriellen Signifikanten und dem Wechsel zwischen verschiedenen Vermittlungsstrategien, so dass der Text ein gemeinsames Erzähluniversum zu entwerfen, bei genauerer Betrachtung jedoch keine lineare Geschichte zu verfolgen scheint. Die Texte beinhalten vielmehr textuelle Zustände derselben Welt, die sie in unterschiedlichen, aber durchaus kompatiblen Perspektiven abbilden. Dennoch sind die einzelnen, unterschiedlich strukturierten Bausteine, die sich zu einem Portrait der Einwohner der Hauptstadt Port-au-Prince zusammenfügen, nicht unbedingt mit den typographisch abgegrenzten Textbausteinen kongruent, denn Handlungsstränge werden, wie gezeigt, teilweise über mehrere Mikro-Erzählungen hinweg verfolgt.35 Es entsteht der Eindruck einer über den Beobachterblick36 zusammengehaltenen Collage. Mit dem durch serielle Signifikanten unterstützten effet de réticulation und besonders mit dem Einsatz einer Vielzahl anonymer Ich-Erzähler erklärt sich auch, dass Mathis-Moser, wie eingangs angedeutet wurde, sowohl eine kollektive Geschichte der haitianischen Jugend unter Duvalier als auch die persönliche Geschichte Fanfans erzählt sieht (vgl. Mathis-Moser 2003: 20). Bei genauerer Anyalse muss jedoch eine Einschränkung vorgenommen werden, denn in einigen Textbausteinen finden sich Hinweise, die der Stellung Fanfans als Protagonist zuwiderlaufen. So scheint der siebzehnjährige Schüler in „L’après-midi d’un faune“ schlecht mit dem als Journalist tätigen Ich-Erzähler aus „La femme de proie“ zu vereinbaren zu sein. Dennoch taucht Fanfan explizit im neunzehnten und zwanzigsten Text auf, so dass die zweite, eher lineare Lesart nicht ganz ungerechtfertigt scheint.

35 So taucht die in Eddy verliebte Tanya in drei und die Tochter des Ministers Tina in vier Geschichten auf. Zudem besucht Fanfan aus dem zweiten Text im zwanzigsten Le Chat, der wiederum in drei Mikro-Erzählungen dargestellt ist. 36 Dieser Beobachterblick könnte die Vorgehensweise Laferrières bei der Recherche spiegeln, die sowohl die Vielzahl der Figuren als auch die Ortsveränderungen erläutert: „Mais en Haïti, n'importe quoi peut arriver. Il y a tellement de gens qui viennent de partout, qui nous agressent – des amitiés, des affections, des inimitiés, des mendiants, des voleurs, des gens sympathiques, un ami qu'on n'a pas vu depuis longtemps – que l'incroyable, le miracle peut se produire chaque jour. J'ai vraiment pris ma caméra pour faire ce livre. Je suivais un personnage, je savais l'essentiel de son histoire, j'en suivais un autre...“ (Sroka 1997)

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Die Ambivalenzen und die Vielgestaltigkeit von La chair du maître ermöglichen verschiedene Lesarten, wobei gezeigt wurde, dass die Diskontinuität dominiert. In Vers le sud verfolgt Laferrière die andere – im Prätext eher unterschwellig vorhandene – lineare Makrostruktur, wodurch ein neuer Erzähltext entsteht, der im Rückschluss den auf Vielfalt abzielenden Portrait- beziehungsweise Collagencharakter des Prätextes betont. Vers le sud als Geschichte Die récriture-Beziehung gibt der übergreifenden Kohärenz, die der Klappentext des 2006 erschienen Romans Vers le sud für Laferrières Gesamtwerk konstatiert, eine neue Form, die sich über weite Strecken in der wörtlichen Wiederholung des Prätextes La chair du maître äußert. Bezüglich der jeweils nicht nummerierten Kapitelüberschriften ergibt sich eine fast vollständige Übereinstimmung von 16 der 20 Mikro-Erzählungen des Textes zweiten Grades mit seinem Prätext.37 Auch wenn der Klappentext für den Text zweiten Grades die gleiche thematische Ausrichtung an Kontrasten feststellt – „Haïti où s’affrontent librement la richesse et la misère, le soleil et le vaudou, le sexe et la mort“ –, so unterscheiden sich die beiden Werke grundlegend im Hinblick auf die Narrativität. Das Eingangskapitel „L’Après-midi d’un faune“ – das im Prätext auf die Exposition folgt – springt direkt ins Geschehen, ohne dieses in einem Kontext zu situieren. Statt sich wie in einer Collage gleichberechtigt neben den anderen Textbausteinen einzufügen, wird die Episode der Verführung Madame Saint-Pierres zum Beginn einer echten Ereigniskette, auch wenn diese sehr lose geknüpft und in verschiedene Handlungsstränge aufgespalten ist. Gerade auf der Figurenebene werden signifikante, Kohärenz stiftende Veränderungen durchgeführt, die im vorliegenden Kapitel untersucht werden. In La chair du maître wird eine Vielzahl von meist jungen Haitianern und Haitianerinnen portraitiert. Alle befinden sich im „Bauch“ der haitianischen Hauptstadt, den Laferrière gewissermaßen aufschneidet, um das turbulente Gewimmel darin ans Licht zu bringen (vgl. Sroka 1997). Sowohl im Prätext als auch im Text zweiten Grades drückt sich diese Vielfalt anhand der heterogenen 37 Dabei wird teilweise die Schreibweise oder Typographie leicht abgeändert: „L’aprèsmidi d’un faune“ wird zu „L’Après-midi d’un faune“, die Kursivsetzung von „Nice girls do it also“ wird aufgehoben. Zudem wird die Anordnung der Textabschnitte modifiziert. In Vers le sud werden die Mikro-Erzählungen aus dem Prätext in den 20 Kapiteln in der folgenden Reihenfolge aufgenommen: 2, 4, 9, 8, 10, 7, neue Erzählung, 11, 14, 15, 13, 16, 17, 18, neue Erzählung, 22, drei neue Erzählungen, 24. Somit werden die Teile 1, 3, 5, 6, 12, 19, 20, 21 und 24 nicht berücksichtigt.

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Vermittlung aus, die mit dem Wechsel von Erzählhaltungen spielt. Wichtigstes Mittel, um in Vers le sud im Gegensatz zum Prätext jedoch trotzdem den Eindruck einer verhältnismäßig kohärenten Handlung zu erwecken, ist die Kondensation der Figurenkonstellation aus dem Text zweiten Grades. Dies wird einerseits durch das Auslassen von ganzen Kapiteln – meist solchen, deren Figuren nur in einer Mikro-Erzählung präsent sind – andererseits durch die Substitution von Figuren(-namen) sowie das Einfügen von Verbindungen schaffenden Bündelungstextabschnitten beziehungsweise -kapiteln erreicht. Es kommt somit zu einer lecture narrativisante […]. Il [le lecteur, MK] est ainsi incité à inscrire les textes dans une séquence et une organisation narratives, sans qu’ils portent nécessairement des traces explicites de cet ancrage. (Audet/Bissonnette 2004: 19)

Die Narrativität bezieht sich nicht nur auf die einzelnen Erzählungen, wie dies im Prätext der Fall war, sonden auf das Werk als Ganzes. Am besten lässt sich dies anhand der Figuren Fanfan und Madame Saint-Pierre erläutern, die in Vers le sud eine Aufwertung erfahren und in parallel verlaufende Handlungsketten eingebettet werden. Insgesamt ergibt sich durch verschiedene Ersetzungs- und Auslassungsstrategien die – nicht näher datierte – Geschichte des jungen Haitianers Fanfan, denn Fanfan ersetzt nach seiner Begegnung mit Madame SaintPierre in der ersten Mikro-Erzählung in „Une bonne action“ Tony aus La chair du maître. Dabei wird nicht nur auf figuraler Ebene, sondern auch innerhalb des Erzähluniversums ein Zusammenhang hergestellt, denn Charlie spielt mit seiner Frage, „[e]t ta directrice?“ (VS: 71), auf Fanfans Affäre mit der Schuldirektorin Françoise Saint-Pierre an. Françoise ersetzt ihrerseits in einer Expansion im zweiten Textabschnitt, „Nice girls do it also“, Caroll als Freundin von Christina. Auch hier wird ein Gespräch zwischen den Freundinnen eingefügt, in dem auf die Affäre aus der ersten Mikro-Erzählung angespielt wird (vgl. ebd.: 43). Fanfan wird anschließend als der in La chair du maître anonym bleibende IchErzähler identifiziert, aus dessen Sicht die Voodoo-Hochzeit der französischen Journalistin in „Un mariage à la campagne“ wiedergegeben ist. Später ersetzt er Eddy und wird somit zum fremdgehenden Liebhaber von Tanya in „Le Réseau“, „Une nouvelle fille“ und „Une pêche facile“.38 Außerdem nimmt Fanfan die Rolle des Ich-Erzählers im abschließenden Kapitel „La chair du maître“ ein, denn

38 In ähnlicher Weise ersetzt Charlie die Figur Le Chat und Missie, die Nichte des Botschafters aus „Une bonne action“, wird zu Tina, der Tochter des Ministers.

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der Gesprächspartner der wohlhabenden Dame wird mit den Worten, „[j]e suis un peu fatiguée, Fanfan…“ (ebd.: 251), hinauskomplimentiert. Der zweite Handlungsstrang portraitiert Françoise Saint-Pierre, die sich mit einer Freundin über die anderen weißen Frauen auf Haiti unterhält, deren Erlebnisse jeweils in Unterkapiteln dargestellt werden. Hier werden beispielsweise die Ermordung Legbas sowie Beckys und Lauras Entscheidung in „Un tableau naïf“ und „Une maisonnette au flanc de cette montagne bleue“, ihr bisheriges Leben aufzugeben, um sich in Haiti niederzulassen, wieder aufgenommen. Um die Handlungsvielfalt zu kanalisieren, stellt Laferrière zudem in ergänzten Kapiteln Zusammenhänge her. Ein Beispiel für ein derartiges Zusammenlaufen von Fäden sind das fünfzehnte Kapitel, „Le Club“, und das achtzehnte, „La peau“. In ihren Gesprächen evozieren Françoise und Christina die verschiedenen Einzelhandlungen, wodurch bei der Lektüre ein Eindruck der totalisation erzeugt wird. Mittel ist dabei das repetitive Erzählen, das als gegensätzliche Strategie zur Juxtaposition und Multiplikation (fast) gleicher Textbausteine in La chair du maître fungiert, indem es Verknüpfungen und Hierarchien aufbaut, die einen roten Faden durchscheinen lassen. So wird einerseits Françoises Verhältnis mit Fanfan angesprochen, wobei in einer Transfokalisation39 im Vergleich zum Prätext Françoises Gefühle aus ihrer eigenen Sicht verdeutlicht werden (vgl. ebd.: 206f.). Gleichzeitig zieht Christina eine Parallele zu Junes Affäre mit dem Hausangestellten (vgl. „Nice girls do it also“). Zudem berichtet Françoise ihrer Freundin von der Affäre ihrer Bekannten Jacqueline Widmaier mit einem jungen Musiker, wodurch die mysteriöse Dame, die den Musiker Dodo in „La femme de proie“ verfolgt, eindeutig entlarvt und in den Bekanntenkreis Christinas und Françoises eingeordnet wird (vgl. VS: 213). Eine derartige Vereindeutigung gepaart mit repetitivem Erzählten findet sich auch in Bezug auf das Kapitel „Un coup mortel“, das eine Sex-Szene Missies mit Charlie (in CM: Tinas mit Le Chat) in der Toilette des Restaurants Chez Gérard beinhaltet, die von Françoise belauscht wird. Nicht nur der Dialoginhalt sondern auch der Kontext der Gespräche dient dazu, Verbindungen zwischen den Figuren aufzuzeigen. So wird beispielsweise beschrieben, dass Jacqueline beim zweiten Gespräch gefolgt von ihrem Liebhaber, dem jungen Musiker, in das Restaurant Chez Gérard eintritt (vgl. ebd.: 231). Daneben erkennt Françoise am Nebentisch eine französische Journalistin, was dazu dient, den Handlungsstrang aus „Un mariage à la campagne“ zur Haupthandlung in Bezug zu setzen. In einer Expansion wird diese Nebenhandlung zudem weitergeführt, indem die Französin Gerüchte über das Schicksal der Journalistin 39 Siehe hierzu Kapitel 2.3.1 der vorliegenden Untersuchung.

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nach der Hochzeit mit dem Voodoo-Gott zum Besten gibt. Diese Geschichte wird zum Ausgangspunkt genommen, um eine weitere Nebenhandlung zu integrieren, denn Françoise zieht anschließend eine Parallele zu Becky, der Protagonistin aus „Une maisonnette au flanc de cette montagne bleue“: „Je connais une Anglaise aussi à qui il est arrivé à peu près la même chose.“ (Ebd.: 229) Beckys Geschichte wird wieder mit Hilfe einer Transfokalisation und Transvokalisation zusammengefasst.40 In derselben Weise wird Lauras Geschichte aus „Un tableau naïf“ in kondensierter Form im Gespräch evoziert und damit wiederholt, wobei die Betonung auf die radikale Veränderung im Leben der Frauen gelegt wird, die der Aufenthalt in Haiti verursacht hat: „C’est un 180 degrés. Tu t’imagines!“ (Ebd.: 234) Gleichzeitig erhalten die Figuren dadurch eine im Vergleich zum Prätext ausgeprägtere Tiefe, werden eher als Individuen denn als typenhafte Vertreter der Gesellschaft Haitis wahrgenommen. Besonders offensichtlich wird der Zusammenhang jedoch in „Trafic“, dem vorletzten Textbaustein, der repetitives Erzählen mit einer Fortführung der Handlungsstränge verbindet. Angelpunkt ist diesmal die Bar des Hotel Hibiscus. So werden beispielsweise die Abreise Ellens nach Legbas Tod beschrieben (vgl. ebd.: 237f.) und der Verkauf des Hotels an Sam, der Alberts Rückkehr zu seiner Mutter aufs Land nach sich zieht (vgl. ebd.: 243). Deutlich werden hier zudem die Expansionen, die Vers le sud im Vergleich zum Prätext vornimmt. Eine sehr viel größere Rolle nimmt beispielsweise Harry, Christinas Mann, ein, dessen Vorliebe für junge schwarze Mädchen in La chair du maître aus Sicht Christinas nur angedeutet wird (vgl. CM: 38). In Vers le sud wird diese Anlage in Harrys Figur zu einem Handlungsstrang ausgearbeitet, indem er eine Affäre mit Tanya hat, die eigentlich in Fanfan (beziehungsweise in CM in Eddy) verliebt ist und in einen illegalen Tauschhandel verstrickt wird, bei dem sich junge Haitianerinnen für US-amerikanische Visa prostituieren. Diese neue Thematik findet sowohl im ergänzten Kapitel „Harry hors les murs“ als auch in „Trafic“ Erwähnung. Während sich das collagenartige Erzähluniversum von La chair du maître einer zielgerichteten Entwicklung entgegenstellt, entsteht im Vergleich dazu in Vers le sud ein Eindruck von Kohärenz. Die Geschichten der Erzählcollage werden zu Kapiteln einer – in mehrere Handlungsstränge aufgespaltenen – Erzählung. Mit dem Durchbrechen der pointillistischen und auf Vielfalt beruhenden

40 Dieser Grundmechanismus verbindet auch die Kapitel „Les garçons magiques“, „Le bar de la plage“ und das titelgebende „Vers le sud“ mit der Haupthandlung. Daneben besteht wieder eine Beziehung auf figuraler Ebene, indem einer der jungen Prostituierten, Chico, bereits im ersten Kapitel als ein Freund Fanfans eingeführt wird.

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Technik des Prätextes geht ein veränderter Umgang mit Zeit und Raum einher, der ähnlich wie die veränderte Figurenkonstellation Kohärenz stiftend wirkt. Umgang mit Raum und Zeit In Bezug auf die räumliche Verortung ist La chair du maître deutlich heterogener als der Sekundärtext. Zwar sind beide Werke in Haiti angesiedelt, doch spielt die geographische Einordnung eine unterschiedliche Rolle. Die einzelnen Bilder der Collage im Prätext portraitieren – nach der im Petit-Goâve angesiedelten Exposition – verschiedene Viertel von Port-au-Prince. Dem Cercle Bellevue als Treffpunkt der betuchten Oberschicht und ruhigen Wohngegenden stehen ärmere Viertel wie Carrefour-Feuilles (CM: 112) und Poste-Marchand (vgl. ebd. 131) gegenüber, den ein Großteil der Mikro-Narrationen evozieren. Fast jede MikroErzählung wird durch kursiv gesetzte Namen von Lokalitäten und Cafés – die den Texten als Verweise auf die textexterne Realität Authentizität verleihen – in der Stadt verankert. Ziel ist ein facettenreiches Portrait der gewalttätigen, kontrastreichen Stadt. In Vers le sud werden die Ortsangaben konzentriert. Zusätzlich wird die Anzahl der räumlichen Angaben durch die Auslassung von Mikro-Erzählungen reduziert, die in verschiedenen Stadtteilen angesetzt sind wie „La maîtresse du colonel“ und „Un jeune tigre dans la jungle urbaine“. Insgesamt werden im Text zweiten Grades weniger Örtlichkeiten angegeben und diese zudem nicht kursiv gesetzt. Dieser Unterschied im Vergleich zum Prätext deutet darauf hin, dass sie im neuen Erzähluniversum vor allem zur hierarchischen Eingliederung der Figuren gebraucht werden. Der Cercle Bellevue und Chez Gérard stellen dabei die Établissements der Oberschicht, das Rex Café den Treffpunkt der Jugend und das Hibiscus den Stützpunkt für den Sex-Tourismus älterer weißer Damen dar. Somit erscheint die räumliche Verankerung der Handlung in Bezug auf die außertextuelle Referenzwelt weniger bedeutend im Vergleich zu ihrer Interaktion mit den übrigen Komponenten des Erzähluniversums. Sowohl im Prätext als auch in der récriture stellt Charlies Ausflug in den Cercle Bellevue, laut Fanfan in Vers le sud (Tony im Prätext) „le château fort des bourgeois“ (VS: 71, CM: 119), eine Transgression dar, genauso wie Jacquelines Auflauern in PosteMarchand Aufsehen erregt.41 Während in La chair du maître beide Elemente zu berücksichtigen sind, werden die Raumangaben in Vers le sud weniger als extensionale denn als intensionale Referenten eingesetzt, das heißt sie dienen vor al41 „Elle est belle, riche, connaît tout le monde, alors que moi je n’ai rien. Je vis à PosteMarchand […]. Je me demande ce qui peut attirer une femme pareille chez moi“ (VS: 57, CM: 135), fragt sich der junge Musiker Dodo.

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lem dazu, die Struktur des Erzähluniversums zu tragen und Kohärenz zu stiften beziehungsweise die semantischen Oppositionen zu stützen. Ihre Funktion als Verweise auf Orte, die in der textexternen Wirklichkeit bestehen, tritt dagegen im Vergleich zum Prätext in den Hintergrund. Dafür spricht auch, dass der letzte Textabschnitt in La chair du maître eindeutig mit der haitianischen Hauptstadt in Verbindung gebracht wird, dieser Bezug in Vers le sud jedoch fehlt. Eher auf die Entwicklung der Figuren als auf menschliche Individuen abzielend, die einem Naturgesetz, nämlich dem „furieux désir de la chair du maître“ (CM: 311, VS: 251) ausgesetzt seien, schließt der Roman zweiten Grades mit einem Verweis auf eine nicht näher beschriebene andere Welt, die sich außerhalb des Herrenhauses im Villenviertel Debussy befinde (VS: 251). Auch wenn Fanfan nach dem Besuch bei der älteren Dame das Gefühl hat, eine andere Welt zu betreten, bleibt dieser Eindruck im Vergleich zum Prätext unbestimmt. In La chair du maître wird das Gefühl des Ich-Erzählers, eine Grenze in eine andere Welt zu überschreiten, mit einem Zeitsprung verbunden und ganz klar in Portau-Prince situiert, indem angefügt wird: „Celui [le monde, MK] du Port-auPrince d’aujourd’hui.“ (CM: 311) Das „heutige“ Port-au-Prince wird demnach in La chair du maître einem früheren entgegengesetzt. Die Tatsache, dass diese zeitliche Entwicklung im Text zweiten Grades nicht aufgenommen wird, deutet darauf hin, dass hinsichtlich des Umgangs mit der Zeit der Unterschied zwischen Prätext und Text zweiten Grades noch eklatanter ausfällt als in Bezug auf den Raum. La chair du maître gehört als Teil des haitianischen Zyklus nach Mathis-Mosers Typologisierung von Laferrières Werk nach zeitlichen Bezügen in „textes de la contemporanéité“ und „de la ‚mémoire‘“ (Mathis-Moser 2003: 266) zu letzteren. Dabei stellt der Erzähler einen Zusammenhang zum Zeitpunkt der Narration her, indem er in der Exposition, also in „Pour planter le décor“, rückblickend seine Vergangenheit evoziert und dadurch den Erzählvorgang in der Gegenwart des schreibenden Autors verankert.42 Der Erzähler erinnert sich an seine Kindheit, wobei zweimal die Jahreszahl 1968 (vgl. CM: 11) angegeben wird – neben den Datierungen der Duvalier-Regierungen die einzige Jahresangabe in La chair du maître. Auch wenn die folgenden Mikro-Erzählungen nicht zeitlich verankert sind, können fast alle an den Beginn der siebziger Jahre gelegt werden und sol-

42 Aus seinen Altersangaben lässt sich der Erzählakt auf 1997 datieren und entspricht genau dem Alter Laferrières zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Werkes (vgl. Mathis-Moser 2003: 166).

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len laut Laferrière das Aufbegehren gegen die Diktatur von Jean-Claude Duvalier verständlich machen: Et il fallait décrire cette réalité pour démontrer que les choses, arrivées à un point extrême, allaient peut-être déboucher, à la fin, sur la révolte contre Jean-Claude Duvalier et son départ, parce que cette société ne pouvait plus vivre dans cet univers presque artificiel du sexe où l'on peut perdre son identité même. (Sroka 1997)

Dies gilt nicht für die letzten beiden Textteile des Prätextes. Deutlich wird der Zeitsprung anhand des Verweises auf die Blütezeit der Bar Cheval Blanc Anfang der siebziger Jahre, die an dieser Stelle schon lange vergangen ist (vgl. CM: 285). Ambivalent bleibt der bereits erwähnte Schlusssatz, „[c]elui [le monde, MK] du Port-au-Prince d’aujourd’hui“ (CM: 311), denn das Gespräch des im Prätext anonymen Ich-Erzählers mit der älteren Dame über die Kolonialzeit Haitis wird nur relativ zur Gegenwart in Kontrast gesetzt, das heißt der oben angeschnittene Zeitbezug muss differenziert werden. Mit der anderen Welt, die das heutige Port-au-Prince verkörpert, kann einerseits die Hauptstadt der siebziger Jahre gemeint sein, die sich in ihrer gewalttätigen Dynamik von den starren Hierarchien der Kolonialzeit losgelöst hat, die im Herrenhaus der alten Dame noch ihre Gültigkeit zu haben scheinen. Bezogen auf den Erzählvorgang könnte andererseits aber auch ein Anschluss an die Gegenwart des Autors durchgeführt werden, der das zeitgenössische Port-au-Prince von demjenigen der Duvalier-Diktatur, das in den anderen Mikro-Erzählungen evoziert wird, abgrenzt und somit den Kreis zur Erinnerungsbewegung im ersten Textteil, „Pour planter le décor“, schließt.43 In Vers le sud findet dagegen kein Sprung in die Vergangenheit statt, denn die Exposition mit dem Rückblick auf die Duvalier-Zeit wird ausgelassen. Der Roman nimmt vordergründig einen überzeitlichen Blickwinkel ein, denn explizit unter Duvalier angesiedelte Mikro-Erzählungen wie etwa „La maîtresse du colonel“ werden ausgespart, genauso wie Textabschnitte, die die Lebensbedingungen unter der Militärdiktatur direkt ansprechen. Auch Harris spricht die im Vergleich zu La chair du maître weniger ausgeprägte Präsenz der Tontons Macoutes und anderer „ghosts of Haiti’s troubled past“ (Harris 2007: 191) an. Die Auswirkung dieser Abweichung lässt sich anhand einer Textstelle veranschaulichen. So ist die Beziehung zwischen Charlie und Missie in Vers le sud eine Transgression, da die Grenze zwischen arm und reich übertreten wird. Verdeutlicht wird dies anhand der Metapher des Hungers, die Charlie in einem ergänzten Dialogteil her43 Zur Kreisstruktur in La chair du maître siehe auch Brochu 2006.

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anzieht, um auf ihre voneinander abweichenden Bedürfnisse anzuspielen und ihre sehr unterschiedliche Herkunft zu unterstreichen (vgl. VS: 216). In La chair du maître hat die entsprechende Beziehung zwischen Le Chat und Tina, der Tochter eines der einflussreichsten Minister der Regierung von Jean-Claude Duvalier, zusätzlich eine politische Brisanz. Alle Anspielungen auf die politische Macht des Vaters und die Gefahr, in die sich Le Chat durch das Verhältnis begibt, werden im Text zweiten Grades ausgespart. Dasselbe gilt, wie bereits erwähnt, für den Textbaustein „Le piège“, in dem dargestellt wird, wie dieselbe Tina ihren Mathematiklehrer mit Hilfe der Machtstellung ihres Vaters in eine Falle lockt. Einziges Anzeichen dafür, dass im Vergleich zur im Prätext dargestellten TAW Zeit vergangen ist, stellt der Hinweis auf eine soziale Revolution im Kapitel „Trafic“ dar, der sich auf eine Weiterentwicklung der Gesellschaft aus La chair du maître zu beziehen scheint: On assiste déjà à une sorte de révolution. Au lieu d’une nuée de femmes blanches d’âge mûr entourant un jeune éphèbe noir, ce sont plutôt de jeunes négresses accompagnant un homme blanc d’un certain âge. (VS: 241)

Somit lassen sich – trotz Fehlen jeglicher Zeitangaben – Indizien finden, die für eine spätere Ansiedlung des Textes zweiten Grades sprechen, wobei sich diese zeitliche Transposition vor allem in Bezug auf die Bedeutung des Leitmotivs Sex auswirkt, das Laferrière schon im Prätext auf die Formel „le furieux désir de la chair du maître“ (CM: 311, VS: 251) brachte. Sexualität ist in Vers le sud quasi omnipräsent. Sie konzentriert sich jedoch auf den wirtschaftlichen Aspekt und stellt die Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen in den Vordergrund, die im direkten Vergleich einen kleineren Teil der multiplen Konstellationen in La chair du maître ausmachen. Sehr deutlich fällt die Umdeutung von Sex schon im Klappentext von Vers le sud auf, der die sinnliche Komponente in den Fokus stellt: „Le Sud. Haïti. Lumineux. Sensuel. Séduisant. Tous les personnages de ce roman en subissent l’attrait.“ Die sexuelle Anziehungskraft ist ein Machtmittel, das Hierarchien umdrehen kann, wie die Abhängigkeit der Sex-Touristinnen von dem jungen Prostituierten Legba illustriert, die wieder aufgenommen wurde. Der Titel deutet jedoch an, dass der Schwerpunkt auf die Frauen aus dem Norden gelegt wird, die ihre persönliche Befriedigung beziehungsweise Verwirklichung im Süden suchen. Dafür spricht auch, dass bei der bereits erwähnten Sex-Szene auf der Toilette in „La Peau“ zwischen Missie und Charlie nicht die politische Macht im Vordergrund steht,

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sondern die sexuelle Freizügigkeit und ihre Wirkung auf die völlig schockierte Europäerin Françoise Saint-Pierre. Wider die Abgeschlossenheit des literarischen Werks In seinen beiden Büchern entwirft Laferrière Konkurrenzuniversen, die unabhängig voneinander gelesen werden können. Die besondere Wiederholungsbeziehung zwischen La chair du maître und Vers le sud könnte pragmatisch mit der provokativen Aussage des Autors, jedes Jahr ein Buch veröffentlichen zu wollen, in Verbindung gebracht werden. Diese Zielsetzung erläutert er mit einem Gefühl der Demütigung als Einwanderer in Québec, der im Gegensatz zu anderen Immigranten aus Haiti, die auf ein funktionierendes familiäres und soziales Netz zurückgreifen konnten, sein Geld mit manueller Arbeit verdienen musste. Das Mitleid und die Verachtung, die ihm daher entgegengebracht wurde, ist für ihn die größte Motivationsquelle: „J’écris aussi pour faire chier ceux qui m’ont méprisé. Ils ont commencé par me mépriser avant de devenir jaloux. Tout cela m’a poussé à publier un livre par an.“ (Laferrière 2000: 111) Auch wenn diese Aussage vor Je suis fatigué (2000) getätigt wurde und Laferrière bis 2006 nicht jedes Jahr eine Publikation zu verzeichnen hatte, ist der kommerzielle Aspekt seiner Schriftstellertätigkeit nicht zu verachten. Gewohnt provokant bringt der Autor ihn auf die Formel: „Je ne veux pas changer le monde, je veux changer de monde.“ (Ebd. 111f.) Das Buch wird nach diesem Verständnis zum Kulturgut, das genauso wie andere Güter zum Erwerbseinkommen des Produzenten dient. Laferrières Roman stellt somit implizit die Frage nach der Originalität und Kommerzialität des literarischen Kunstwerks. Dazu passt, dass der Roman heute die am meisten verbreitete literarische Gattung ist, so dass die verkaufsfördernde Komponente der Etikettierung des Textes zweiten Grades an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben darf.44 Laferrière könnte eines der Leitmotive des ersten Werkes – den Gegensatz zwischen Schein und Sein in diversen Täuschungsmanövern – zum Funktionsmechanismus des zweiten gemacht haben, und demonstriert dadurch seine „Macht“ als Autor, der dem kaufwilligen Lesepublikum einen „neuen Roman“ vorlegt, der sich bei näherer Betrachtung als Abbild beziehungsweise Ableger erweist. In diesem Sinne wäre die von Mark Harris formulierte Frage, welches Werk der Nachwelt erhalten bleiben sollte, relevant. Diese Herangehensweise, 44 Zudem erscheint der Roman mit einem Titelbild aus dem gleichnamigen Film, VERS LE SUD

(2006) (F/CAN, R: Laurent Cantet), der bereits eine Fokussierung auf die

Thematik der weißen Urlauberinnen auf Haiti vornimmt. Für den als „Buch zum Film“ beworbenen Roman wird somit als eine größere Breitenwirkung erreicht.

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bei der von einem Verständnis eines Originalwerks ausgegangen wird, das in sich abgeschlossen ist, vernachlässigt jedoch, dass eine Lektüre des Romans auf der Folie seines Prätextes mit einigen Erkenntnissen verbunden ist. So impliziert die Gattungsänderung Reflexionen über die rezeptionslenkende Wirkung der Gattungszuordnung. Indem Laferrière den Sekundärtext als Roman veröffentlicht, bezieht er sich auf die nachgewiesenen Elemente zur Kohärenzstiftung, die Vers le sud vom noch stärker eklektizistischen Prätext unterscheidet. Laferrière verdeutlicht dabei aber auch die Relativität der Gattungszuweisung Roman, die sich eben nicht auf eine klar zu definierende Merkmalsmenge eingrenzen lässt, wie Brochu dies fordert (vgl. Brochu 2006: 20). Vers le sud erscheint nur im Vergleich zum Prätext kohärent und lässt sich eher in das Verständnis des Romans als „hybrides Gebilde und […] Laboratorium des Erzählens“ (Bauer 2005: 9) einordnen. Die Transgression des literarischen und verlegerischen Originalitätskonzepts wird auch durch eine Zusatzbedeutung ergänzt, die der Prätext liefert. Auf der Textebene schreibt sich der Roman Vers le sud beispielsweise in die kontrastreiche und gewalttätige Folie des Prätextes ein, auf der er sich entfaltet. Ein Mitlesen der Deutung von Sex als Machtmittel gibt dem hauptsächlich als wirtschaftliche Ausbeutung portraitierten Geschlechtsverkehr im Roman zweiten Grades eine zusätzliche Bedeutung und betont die Macht, welche junge Haitianer durch ihre Anziehungskraft auf die Nordamerikanerinnen ausüben. Zudem kann auf einem unterliegenden Ambiente der Bedrohung aufgebaut werden, ohne dieses explizit erwähnen zu müssen. Gleichzeitig wird eine zeitliche Entwicklung angedeutet, die sich darin niederschlägt, dass auch junge Haitianerinnen als Callgirls auftreten. Rückwirkend wird hier eine Zukunftsperspektive für die jungen Mädchen aus La chair du maître angedeutet. Insgesamt überwiegt in Bezug auf die metatextuelle Interaktion jedoch die Fokussierung auf den Erzählprozess. Laferrière legt mit der Veröffentlichung dieses Romanpaares gewissermaßen sein Handwerkszeug offen. Fast scheint er eine Stilübung im Sinne Queneaus (vgl. Queneau 1985) zu vollziehen, wobei er die Modifikation nicht auf der Vermittlungs-, sondern auf der Geschichtsebene ansetzt. Die Metatextualität konzentriert sich dabei auf die unterschiedliche Konfigurierung und ihre Auswirkungen für das jeweilige Erzähluniversum. Indem er aus dem (fast) gleichen Wortmaterial verschiedene Erzähluniversen formt und dadurch einen Fiktionsbruch verursacht, der mit Hilfe der Namensersetzungen noch betont wird, lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Konstruktionsmechanismen seiner Texte. Die Gleichung „ein Werk – eine Geschichte“ wird dabei spielerisch außer Kraft gesetzt und eine textübergreifende Selbstbetrachtung angestoßen.

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4.1.3 Von Frauen und Männern und vice versa: Voyage à Lointainville und Retour à Lointainville Einführung Eine ähnliche Herangehensweise wie Dany Laferrière in Vers le sud hat Sylvie Desrosiers gewählt, als sie 2005 ihren ein Jahr zuvor publizierten Roman Voyage à Lointainville wiederaufnimmt. Noch stärker als bei Laferrière werden die bestehenden Textstrukturen (Aufbau der Erzähluniversen und Perspektive der Vermittlung, insbesondere die Wortwahl) wiederholt – mit der zentralen Änderung, dass die weibliche Hauptfigur des Primärtextes, die gleichzeitig als homodiegetische Erzählinstanz fungiert, im Sekundärtext durch eine männliche ersetzt wird. Im Zuge dieser Umwandlung werden auch die Nebenfiguren in das jeweils andere Geschlecht übertragen, so dass in Bezug auf das Geschlecht eine spiegelbildliche Figurenkonstellation entsteht. Die récriture versteht sich hier als Vervollständigung beziehungsweise Entsprechung der im Prätext angeschnittenen Problematik der Beziehungen zwischen Frau und Mann, die im Text zweiten Grades aus männlicher Sicht noch einmal durchexerziert wird. Die Kommunikativität ist im Vergleich zu Laferrières Romanpaar höher, denn der Klappentext von Retour à Lointainville stellt für den Leser unter Nennung des Prätextes den Zusammenhang her: Les hommes et les femmes sont-ils si différents? Comment un homme et une femme réagissent-ils dans une même situation? Voilà ce que Sylvie Desrosiers explore dans Retour à Lointainville. Alors que dans le roman précédent, Voyage à Lointainville, Léa était aux prises avec un noyé, c’est maintenant au tour de Maxime de vivre la même aventure. Retour à Lointainville n’est pas la suite de Voyage à Lointainville. C’est la même histoire… racontée par un homme! (RL: Klappentext)

Genette behandelt diese Art der récriture in Palimpsestes im Kapitel LXI als „un élément important de la transposition diégétique“ (Genette 1982: 345) und verweist darauf, dass die interessanteste Ausprägung seiner Meinung nach dann auftrete, wenn die gesamte Thematik des Prätextes durch den bloßen Geschlechtswandel umgekehrt und mitunter ins Lächerliche gezogen werde (vgl. ebd.: 346).45 Auch wenn Desrosiers’ Romanpaar mit Komik arbeitet, erschöpft sich die Interaktion mit dem Prätext nicht in einer unidirektionalen Abwertung, sondern konstruiert einen Textdialog. 45 Gleichzeitig tritt eine Unterart der Transvokalisation auf. Zwar wird die Erzählinstanz nicht in ihrer Stellung zum Erzählten verändert, doch in ihrem Geschlecht.

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Der Primärtext erzählt eine Episode aus dem Leben der fünfundvierzigjährigen Schriftstellerin Léa Latulipe, die nach einer Scheidung alleine ihren neunjährigen Sohn erzieht. Nach einem einführenden Gespräch mit einer Freundin über ihre letzte gescheiterte Beziehung wird ihr Besuch einer Buchmesse zum Thema ‚Liebe‘ in Lointainville, einer fiktiven Kleinstadt im hohen Norden Québecs, präsentiert. In drei Teilen, die jeweils in mehrere Kapitel eingeteilt sind, berichtet die Ich-Erzählerin von ihrer Fahrt durch das winterliche Québec, ihrer Ankunft in Lointainville und den Ereignissen während der Buchmesse. Léa stellt sich dabei als alethic alien46 innerhalb einer ontologisch gespaltenen TAW heraus, denn bei einer frühen Rast beobachtet sie einen Unfall, bei dem ein Autofahrer von einer schmelzenden Eisbrücke ins Wasser stürzt und sich anschließend als sprechende Wasserleiche auf ihrem Rücksitz wiederfindet. Es stellt sich bald heraus, dass er innerhalb der (von ihr erzählten) TAW nur für sie wahrnehmbar ist. Diese übernatürliche Erscheinung ist für sie zunächst ein Produkt ihrer Einbildung, doch es gelingt ihr nicht, sich ihrer zu entledigen, so dass sie während ihres Aufenthalts in Lointainville einen ständigen unsichtbaren Begleiter hat. Unterbrochen ist die Darstellung der Handlungskette durch kursiv gedruckte Tagebucheinträge Léas, die nach Jean-François Crépeau (2004: 21) ein Gegengewicht zur Erzählung bilden, indem sie die Sinnsuche der alleinstehenden Frau in verschiedenen Aspekten thematisieren. Abgesetzt sind sie zudem durch die poetischere Sprache, die im Gegensatz zum ironisch-sarkastischen und mit umgangssprachlichen Wendungen durchsetzten Ton steht, in dem die Handlung erzählt wird. Es entspinnt sich im Laufe der Fahrt und des Aufenthalts in Lointainville ein Dialog zwischen Léa und ihrem Fahrgast über die Erwartungen von Frauen an eine Beziehung mit einem Mann, der zu wachsender Sympathie und Intimität zwischen den beiden führt. In Lointainville verhindert l’Homme, wie sie ihren Gefährten nennt, eine Affäre Léas mit dem Literaturprofessor und Schriftsteller André. Ihre gemeinsame Zeit mit der Wasserleiche erweist sich jedoch als begrenzt, als sich l’Homme als Komapatient herausstellt, der zwischen dem Diesund dem Jenseits schwebt. Am Höhepunkt ihrer Beziehung, die darin mündet, dass sie miteinander schlafen, verschwindet er plötzlich. Der Roman schließt im darauf folgenden Kapitel in einer Kreisstruktur, die die Erlebnisse ab dem Unfall als Fantasie-Universum entlarvt. Im letzten Kapitel, „Retour à la réalité. Bête et brutale?“, das auf der Handlungsebene zeitlich mit dem ersten Kapitel des ersten Teils, „Burn-out“, zusammenfällt, sitzt Léa wieder in der Raststätte und beob46 Siehe hierzu Kapitel 2.4.2 der vorliegenden Untersuchung.

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achtet ein Auto, das über eine schmelzende Eisbrücke fährt. Diesmal kann sie durch ihr beherztes Eingreifen das Unglück verhindern, was sie mit den Worten, „[j]e ha-is47 ça quand ce que j’imagine se produit, mais cette fois, c’est pour son bien à lui!“ (VL: 188), kommentiert. Es wird klar, dass der zweite Unfall tatsächlich in der TAW stattgefunden hat, der erste nur in ihrer Fantasie. Das offene Ende kündigt ein Wiedersehen Léas mit dem Fahrer an, der André heißt, also genauso heißt wie ihr Fast-Liebhaber im allerdings fiktionsintern als fiktiv markierten Aufenthalt in Lointainville. Beschlossen wird der Roman durch einen Epilog in Form einer Reihe literarischer „bloopers“48, in der die Figuren in Dialogform mit der Autorin, „Sylvie“, die Handlung und ihre Stellung darin kommentieren. Im Text zweiten Grades wird die Schriftstellerin, Léa Latulipe, durch einen fünfundfünfzigjährigen Autor, Maxime Ranger, ersetzt. Gleichzeitig werden, wie bereits erwähnt, alle wichtigen Figuren in das jeweils andere Geschlecht überführt, so dass beispielsweise l’Homme zu la Femme und André zu Andrée werden.49

47 Desrosiers deutet an dieser Stelle typographisch an, dass in der Québecer Umgangssprache die erste Person Singular des Verbs haïr [ʻai] und nicht [‘ɛ] ausgesprochen wird. 48 Der Untertitel dieses Segments, „Les protestations et les commentaires principaux des personnages en cours d’écriture“, weist darauf hin, dass Desrosiers den im Filmbereich geläufigen Begriff „blooper“ in abgewandelter Form verwendet. Als ‚blooper‘ oder ‚outtake‘ bezeichnet man Filmmaterial, das zum Beispiel aufgrund von Fehlern nicht im Endprodukt aufgenommen wurde. Frank Eugene Beaver betont das metafiktionale Faszinationsmoment von „outtake material because of what it can reveal about actors and the filmmaking process, often in very human and humorous ways“ (Beaver 2007: 184). Die Wortwahl bei Desrosiers deutet einerseits das komische Potenzial der Kurzdialoge an und betont andererseits, dass es sich um Textteile handelt, die ähnlich wie das Bonusmaterial einer DVD außerhalb des fiktionalen Universums angesiedelt sind. Die metanarrative Komponente ist im Vergleich zu filmischen bloopers allerdings erhöht, da die Kurzdialoge der Autorin mit fiktiven Figuren Metalepsen beinhalten. 49 Im Gegensatz zum Prätext wird der Name der Figur, die der Protagonist am Ende des Romans vor dem Ertrinken rettet, in leicht abgewandelter Form verwendet, denn die Tierärztin heißt nicht Andrée, sondern Andréa, so dass die Parallelität zwischen TAW und F-Universum im Text zweiten Grades weniger intensiv ausgeprägt ist.

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Aufbau der Erzähluniversen In beiden Texten handelt es sich um ein Erzähluniversum, das durch den Erzählakt einer Figur geschaffen wird, die jeweils als erzählendes und gleichzeitig erlebendes Ich auftritt. Beide fiktionalen Weltensysteme scheinen zudem, wie bereits erwähnt, ontologisch gespalten, wobei die beiden Sphären hierarchisch angeordnet sind. Das F-Universum mit der zuerst präsentierten Handlung bildet eine zweite Fiktionsebene, die eine nicht aktualisierte Welt innerhalb des Erzähluniversums darstellt. In dieser zweiten Fiktionsebene sind die übernatürlichen Phänomene ausschließlich der Hauptfigur zugeordnet, denn nur Léa und Maxime können jeweils die Wasserleiche wahrnehmen. Das F-Universum wird darüber hinaus nur in Bezug auf die Protagonisten von anderen Naturgesetzen bestimmt, scheint jedoch abgesehen davon hinsichtlich der Rahmenbedingungen mit der TAW übereinzustimmen. So werden sowohl Léa als auch Maxime durch ein „igloo hanté“ (VL: 155, RL: 158) aus einem Schneesturm gerettet, das für die restlichen Figuren unsichtbar ist, da sie den Gesetzen der natürlichen Welt unterliegen. Der Verweis darauf, dass Paolos Garage beziehungsweise Paulines Atelier, welche die Protagonisten gegenüber den Bewohnern von Lointainville als Zufluchtsort angeben, abgeschlossen waren (vgl. VL: 181, RL: 183), deutet darauf hin, dass die Episode um die Rettung durch das Zauberiglu trotzdem passiert ist – die zweite Fiktionsebene stellt sich damit als übernatürliche, das heißt nicht den physikalischen Gegebenheiten der außertextuellen Realität entsprechende Welt heraus. Erst nachträglich wird die bisherige Handlung als Produkt der Fantasie der Hauptfigur und Erzählinstanz markiert, indem Léa beziehungsweise Maxime in die Raststätte und damit räumlich und zeitlich an den Ausgangspunkt der Erzählung der zweiten Fiktionsebene zurückversetzt werden. Damit lässt sich auch das übernatürliche Element als Ausgeburt der Fantasie der Protagonisten erklären, die in ihrer intradiegetischen Erzählung nicht den Gesetzen der TAW unterworfen sind. Unerklärlich ist jedoch das Vorwissen über den Unfall, das somit aufgrund des großen Zufalls schon im Prätext als metafiktionales Element zu werten ist. Für die Entstehung der zweiten Fiktionsebene wird innerhalb der TAW eine nachträgliche Erklärung geliefert. Sie ist ein Mittel für Léa und Maxime, sich beim Warten auf Claudine beziehungsweise Claude, die ihnen Bücher für die Buchmesse in die Raststätte bringen sollen, die Zeit zu vertreiben. Explizit wird die Erzählung aus dem F-Universum zeitlich in die Wartezeit eingeordnet, als Claudine/Claude Léa/Maxime fragt: „Tu as fait quoi en m’attendant?“ (VL: 187, RL: 189) Sowohl Léa als auch Maxime streiten ab, ein neues Buchprojekt begonnen zu haben, was die Freunde bezweifeln: „Tu ne pourras jamais t’en empêcher!“ (Ebd.) Ausdrücklich wird die somit als Binnenerzählung zu charakteri-

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sierende zweite Fiktionsebene von der intradiegetischen Erzählinstanz als Produkt ihrer Einbildungskraft bezeichnet. Gegenüber der Rahmenerzählung der TAW wertet sie ihre Geschichte als fiktiv ab, als sie selbstironisch überlegt, wie sie gegenüber dem Geretteten – André beziehungsweise Andréa – ihre Vorahnung erklären könnte.50 In der an diesen Gedanken anschließenden Überlegung unterscheidet sich jedoch Léas Argumentation erheblich von Maximes. Während sie Angst hat, wegen ihrer Vorahnung für verrückt gehalten zu werden (vgl. VL: 188), zweifelt er nicht an seiner Glaubwürdigkeit (RL: 190). Diese gegensätzlichen Einstellungen verweisen auf die divergierenden Charaktere Léas und Maximes. Der Mechanismus des Geschlechterwechsels bezieht sich somit nicht nur auf das biologische Geschlecht, sondern geht außerdem mit einer charakterlichen Umdeutung der Figur einher, die als Erzählinstanz fungiert und somit gleichzeitig Urheberin des Erzähluniversums ist. Figurencharakterisierung: Die Beziehung von sex und gender Im Laufe einer lecture relationnelle der beiden Romane erschließt sich, dass die Protagonisten der beiden Romane komplementär angelegt sind und über gegensätzliche Charaktereigenschaften verfügen. Léa ist alleinerziehende Mutter eines neunjährigen Sohnes, Luc, der jedes zweite Wochenende bei seinem Vater verbringt. Auch Maxime lebt in Scheidung und kümmert sich jedes zweite Wochenende um seinen Sohn Luc, der genau wie Léas Sohn neun Jahre alt ist. Sich ergänzende Erinnerungen lassen zunächst den Eindruck aufkommen, es handle sich um ein- und dieselbe Familie.51 Die Tatsache, dass beide die gleiche Geschichte erleben, scheint diese Komplementaritätsbeziehung jedoch zu widerlegen und weist eher auf den Charakter einer Versuchsanordnung ceteris paribus hin, in der als einzige Variable das Geschlecht verändert beziehungsweise die Mutter- in eine Vaterrolle umgewandelt wird. Darauf deutet auch die Entsprechung der besten Freunde der Protagonisten, Claudine beziehungsweise Claude, hin, die jeweils jünger und besser aussehend als die Protagonisten sind. 50 Die Protagonisten malen sich bei auf folgende Weise aus, wie sie erläutern sollen, dass sie den Unfall geahnt haben: „Bonjour […], c’est parce que je viens d’imaginer dans ma tête que la voiture plonge dans la rivière et j’ai peur que ça vous arrive.“ (VL: 188, RL: 190) 51 So ruft sich Léa ins Gedächtnis, dass ihr Mann ihr morgens Kaffee ans Bett gebracht und sich für ihre Träume interessiert habe (vgl. VL: 110), genauso wie Maxime sich erinnert: „La seule à qui je les [les rêves, MK] racontais, [...] c’était la mère de mon fils. Après, je me levais, lui faisais son café chaque matin […].“ (RL: 114)

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In der Erzählung des F-Universums, die mit neun von elf Kapiteln den größten Teil der Romane ausmacht, wird den Protagonisten ein Gefährte des anderen Geschlechts an die Seite gestellt, der beziehungsweise die als Gesprächspartner auf der Fahrt nach Lointainville und während des Aufenthaltes dort dient. Die Wasserleiche ist von Amnesie befallen und erinnert sich nicht mehr an ihren Namen und Beruf. Konsequenterweise nennen beide ihre unfreiwilligen Gefährten zunächst „Fidèle“ (VL: 38, RL: 40), um auf die Anhänglichkeit der Erscheinung anzuspielen, die sich nicht abschütteln lässt. Nach einem Telefonat Léas beziehungsweise Maximes mit Luc erinnert sich Fidèle jedoch daran, Vater beziehungsweise Mutter zweier erwachsener Söhne zu sein (vgl. VL: 59, RL: 64). Das Geschlecht wird anschließend zum dominierenden Definitionsmerkmal, denn Léa ersetzt die Bezeichnung Fidèle durch den Namen „l’Homme“ (VL: 80) und Maxime entsprechend durch „la Femme“ (RL: 84). Durch diese auf das biologische Geschlecht (sex) abzielende Benennung werden die Gefährten der Protagonisten zu Repräsentanten seines beziehungsweise ihres Geschlechts. Somit ergibt sich die Besonderheit einer literarischen Figur, die als Archetyp des Mannes beziehungsweise der Frau konstruiert ist, und dank ihres Gedächtnisverlustes außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen und Rollenerwartungen, die das soziale Geschlecht (gender52) definieren, agieren könnte. Gleichzeitig können ihre beziehungsweise seine Aussagen mit Susan Sniader Lanser (1992: 21) als communal voice bezeichnet werden, denn für die Protagonisten fungieren l’Homme beziehungsweise la Femme als Vertreter/in ihres Geschlechts, sprechen also nicht nur für sich, sondern für ein Kollektiv. In den Gesprächen mit l’Homme/la Femme ergibt sich im Hinblick auf Léa und Maxime ein gegensätzliches Selbstbild, das vor allem anhand der Variable des Selbstwertgefühls veranschaulicht werden kann, dessen Evokation beide Romane leitmotivisch durchzieht. In Léas Sicht sind Männer mit einem sehr großen Selbstbewusstsein ausgestattet, das es ihnen erlaube, sich nie als Verlierer zu sehen.53 Diesem stehe die weibliche „culpabilité éternelle“ (VL: 63) gegenüber, die Léa auf hormonelle Unterschiede zurückführt. Maxime bestätigt im korrespondierenden Text diese Aussage:

52 Die Dichotomie zwischen sex und gender ist nicht unumstritten, siehe zu Judith Butlers (1990) Kritik beispielsweise Gymnich 2000: 59ff. Für die spezielle Figurenkonzeption in Desrosiers Romanpaar bietet sie sich jedoch als Untersuchungskriterium an. 53 So bemerkt sie: „Ce qui me fascine chez l’autre sexe, entre autres choses que je ne vois pas en ce moment, c’est cette incroyable faculté de se percevoir comme vainqueur, champion en toutes circonstances.“ (VL: 63)

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Elles ont l’impression, elles, qu’elles ont toujours tort. Ce qui est une très bonne chose pour nous, finalement. Leur culpabilité rampante, mêlée à notre testostérone, nous donne l’avantage en définitive. (RL: 67f.)

Diese allgemeinen Aussagen werden im Vergleich mit den jüngeren Konkurrenten Claudine beziehungsweise Claude anhand von Selbstcharakterisierungen auf die eigene Person übertragen. Léa drückt ihre Unterlegenheit aus: „Et puis, je dois me l’avouer, même si c’est avec une douleur proche de l’extraction à froid d’une dent de sagesse pas poussée, je n’ai pas son charme.“ (VL: 35) Maximes größeres Selbstwertgefühl wird im direkten Vergleich mit Léas Aussage deutlich „Et puis, je dois me l’avouer, même si c’est avec une douleur proche de l’extraction à froid d’une dent de sagesse pas poussée, il a autant de charme que moi.“ (RL: 37) Das divergierende Selbstbild zeigt sich auch in Bezug auf das berufliche Selbstverständnis. Anlässlich eines runden Tisches, bei dem die an der Buchmesse teilnehmenden Schriftsteller diskutieren, bezeichnet sich Léa in einem inneren Monolog als „inculte“ (VL: 82), da sie weder Klassiker noch Neuerscheinungen lese, sondern nur, worauf sie Lust habe, und konstatiert im Hinblick auf ihr Unvermögen, sich Autorennamen und Buchtitel zu merken: „Finalement, je me trompe en croyant que je fais exprès d’avoir l’air idiote: en réalité, je le suis vraiment.“ (Ebd.) Maxime dagegen behauptet, er habe alle wichtigen Werke gelesen und formuliert im inneren Monolog über sich selbst: „Je brille vraiment en société. J’ai l’air intélligent et je le suis.“ (RL: 86) Gepaart ist diese Opposition im Hinblick auf das ausgedrückte Selbstwertgefühl mit einem Unterschied in der Einstellung zum Leben und der Einschätzung eigener Chancen. In einem inneren Monolog zieht Léa eines Morgens eine Art Lebensbilanz, die vorwiegend negativ ausfällt (vgl. VL: 107f.). Bei Maxime werden in der entsprechenden Passage die Kritikpunkte in ein positives Licht gerückt, so dass die Unfähigkeit, eine längere Beziehung einzugehen zur Weigerung wird, stagnierende Beziehungen zu akzeptieren (vgl. RL: 111f.). Während Léa alle Hoffnungen aufgibt, den Literaturprofessor André, auf den sie ein Auge geworfen hat, nach Claudines Auftreten noch als Liebhaber zu gewinnen und ihn pessimistisch als „ex-futur amant“ (VL: 91) tituliert, drückt Maxime in Bezug auf Andrés Pendant, Andrée, Zuversicht aus, spricht er doch von einer „future amante“ (RL: 95). Implizit wird an dieser Stelle besonders deutlich, dass Léa im Vergleich zu Maxime ein sehr viel weniger ausgeprägtes Wettbewerbsdenken verinnerlicht hat. Dies lässt sich auch an ihren unterschiedlichen Reaktionen auf den wässrigen Kaffee in der Raststätte ablesen. Während Léa die Wärme des Getränks in der Tasse hervorhebt, die sie bis in ihre Fingerspitzen

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durchströme (vgl. VL: 29), hat Maxime eine weniger gefühlsbeladene, vielmehr kompetitive Assoziation, in der er seine Kochkünste hervorhebt: Le café est comme de l’eau, ça me rappelle le mien avant que j’achète ma machine à expressos. À part ça, elle saura, la mère de mon fils, que depuis que j’ai un barbecue extérieur, je cuisine très bien. (RL: 30)

Auch das Verhalten der Figuren, insbesondere die Reaktionen auf Extremsituationen wie sie der Scheesturm, der Lointainville plötzlich heimsucht, darstellt, legen Unterschiede in den Charakteren Léas und Maximes offen. Maxime spricht sich in der eigentlich aussichtlosen Situation Mut zu und versucht, methodisch vorzugehen.54 Léa hingegen schätzt ihre Lage pessimistisch ein und lässt ihrer Verzweiflung freien Lauf: „[J]e suis dépourvue, je vais mourir et je suis peut-être à trois pas d’une porte!“ (VL: 144) Aus den obigen Ausführungen wird ersichtlich, dass in Bezug auf die beiden Protagonisten, Léa und Maxime, ein deutlicher Kontrast aufgebaut wird, der eine Geschlechterbinarität konstruiert. Nachzuweisen ist dies auch im Paratext anhand der Diskrepanz bei den Kapitelüberschriften. Als Lebensmaximen der Hauptfigur verstanden, können die Überschriften der Kapitel einerseits als Eigenkommentare derselben gewertet werden, andererseits können sie auch als kommentierende Aussagen einer übergeordneten Instanz gelesen werden, wobei die Ich-Form eher für ersteres zu sprechen scheint. Unabhängig davon entfalten sie bei einer vergleichenden Lektüre ihre Lenkungsfunktion, indem sie das Augenmerk auf die charakterlichen Unterschiede zwischen den Protagonisten legen. Indem an das dritte Kapitel des zweiten Teils, „Mon grand amour, c’est toujours le prochain“, im Text zweiten Grades die Einschränkung „ou l’ancien, ça dépend à qui je m’adresse“ angefügt wird, erhält der Leser einen Hinweis auf die Relativität der Aussagen Maxime und – im Vergleich dazu – die Schwarzmalerei Léas. Diese geschlechtsspezifischen Gegensätze werden jedoch nicht nur in Bezug auf die Hauptfiguren vehikuliert. Auch die Nebenfiguren tragen Spuren einer auf das soziale Geschlecht konzentrierten Perspektive, indem sie mit Hilfe ihrer Erfüllung von Rollenerwartungen beschrieben werden. Am deutlichsten wird dies dadurch, dass Léa Claudine aufgrund ihrer Verführungskünste, die eben nicht dem traditionellen Bild der Frau entsprechen, als Mann bezeichnet: „Elle ne le sait pas, mais c’est un homme, Claudine, un conquérant qui exulte dans sa conquête.“ (VL: 35) Genauso sind im F-Universum Pauline und Paolo stereoty54 „Voyons voir, je suis capable de faire face à tout. Réfléchis, Maxime, réfléchis. Commence par chercher un repère par terre.“ (RL: 147)

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pen Rollenbildern nachempfunden. Paulines altes Nähatelier, in dem sie früher Kleidung reparierte (vgl. RL: 100), ersetzt Paolos Garage zur Motorenreparatur aus dem Prätext (vgl. VL: 156). Auch l’Homme und la Femme sind hier anzuführen, denn als sie über mögliche Berufe aus ihrem früheren Leben mutmaßen, nennen zwar beide Tierarzt und Beamter, dennoch zeichnen sich die Abweichungen dadurch aus, dass die männliche Wasserleiche dominant männlich konnotierte Tätigkeiten wie Klempner und Hausierer (vgl. VL: 96), die weibliche dagegen Näherin und Verkäuferin (RL: 100) nennt, wodurch beide die traditionellen Rollenerwartung an ihr soziales Geschlecht bestätigen. Somit scheinen die Figuren der textuellen Welten mit gender-spezifischen Anpassungen versehen zu sein, welche die Geschlechtsbinarität unterstützen.55 Die Gegensätzlichkeit wird zudem mit Hilfe komischer und im Genette’schen Sinne parodistischer Elemente56 unterstützt, die beim Gegenlesen entstehen und die Ansichten der Hauptfigur aus dem ersten Text jeweils zu untermauern scheinen. Die komische Wirkung entsteht dadurch, dass häufig bei möglichst genauer Übereinstimmung der Wortwahl im Vergleich zum Prätext die Bedeutung verändert wird (vgl. Genette 1982: 23) Während Léa angibt, nach einer gescheiterten Beziehung normalerweise nicht gleich eine neue einzugehen („[J]e m’astreins à une longue période d’abstinence pour me punir d’avoir fait de la peine à un pauvre homme [...]“, VL: 21), benutzt Maxime zwar fast das gleiche Wortmaterial, deutet den Sinn jedoch für den Leser beider Romane auf humoristische Weise um, wenn er konkretisiert: „[J]e m’astreins à une longue période d’abstinence – deux semaines – pour me punir d’avoir fait de la peine à une pauvre femme.“ (RL: 21) Die Opposition entfaltet sich hier in der gegensätzlichen Interpretation der gleichen Wendung, der „langen Zeit der Enthaltung“, und deutet ein Kommunikationsproblem zwischen den Geschlechtern an. Die Konstruktion einer geschlechtsabhängigen Binarität erstreckt sich auf fast alle Figuren des Erzähluniversums und betrifft in verminderter Wirkung auch l’Homme beziehungsweise la Femme. Zurückzuführen ist sie auf den ontologischen Status dieser erzählten Welt als Produkt der Fantasie der Protagonistin, die als intradiegetische Erzählerin auftritt und ihr Wertesystem auf ihre Figuren zu übertragen scheint. Mit Hilfe einer genauen Untersuchung der Abweichungen des Textes zweiten Grades vom Prätext kann jedoch nachgewiesen werden, dass bei einer lecture palimpsestueuse zunächst eine zweigeteilte Geschlechterord55 Ein weiteres Beispiele ist, dass Maximes Exfrau mit ihrem Sohn Luc BAMBI (vgl. RL: 158) im Fernsehen anschaut, während Léas Exmann einen Horrorfilm bevorzugt (vgl. VL: 156), eine Auswahl die vom anderen Elternteil jeweils scharf kritisiert wird. 56 Siehe zu Genettes Parodiebegriff Kapitel 2.6.1 der vorliegenden Untersuchung.

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nung entfaltet zu werden scheint, die im Laufe der Lektüre der beiden Texte jedoch durch verschiedene Strategien hinterfragt wird. Die Auflösung von Rollenzuschreibungen in übergeordneten Werten Die sehr auffällige, über gegensätzliche Stereotype vermittelte Geschlechteropposition, welche die Figurenkonstellation von Voyage à Lointainville und Retour à Lointainville kennzeichnet, wird im Laufe beider Romane, genauer gesagt im Laufe der Erzählungen der F-Universen, entkräftet. Eine bedeutende Rolle kommt hierbei l’Homme und la Femme zu – beide, wie gezeigt, Figuren, die auf das dominierende Attribut der „Männlichkeit“ beziehungsweise „Weiblichkeit“ reduziert sind. Sie erscheinen als Helferfiguren, welche die Protagonisten unterstützen. Die Geschichten von Léa und Maxime sind dabei als Suche markiert, denn die quête-Struktur des Romans wird jeweils in der als Motto vorangestellten Kontaktanzeige angekündigt. Diese Suche gestaltet sich als Prozess des Loslassens von Rollenerwartungen und damit als Reduktion der oben beschriebenen binären Struktur der Erzähluniversen. In der Wahrnehmung der Hauptfigur wird die Wasserleiche als Folge der in Geschlechtsgegensätzen denkenden welterschaffenden Erzählinstanzen und Protagonisten zunächst primär als Vertreterin des anderen Geschlechts angesehen. So kommentiert Léa entnervt: „Y a-t-il pire cauchemar qu’un homme collé à vous vingt-quatre heures sur vingt-quatre?“ (VL: 35) Maxime trifft die gleiche Aussage in Bezug auf „une femme collée à vous“ (RL: 37). Konsequenterweise ergeben sich vor allem Gespräche, die um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern kreisen. Wenngleich die Beziehung zwischen Mann und Frau in den Unterhaltungen mit der jeweiligen Wasserleiche erörtert wird, so wird doch das andere Geschlecht zuerst durch die Nebenfigur André beziehungsweise Andrée definiert, die eine Unterhaltung zwischen Léa/Maxime und der Wasserleiche unterbricht. André definiert sein eigenes Geschlecht folgendermaßen, bevor der für ihn unsichtbare Homme auf Léas Frage, was einen Mann ausmache, antworten kann: „Je crois que c’est fondamentalement un être incapable de couper avec sa mère et qui sera éternellement jaloux du pouvoir des femmes de donner la vie.“ (VL: 124) In der gleichen Konstellation gibt Andrée im Text zweiten Grades eine ähnlich negative Definition über die Frau: Je crois que c’est fondamentalement un être seul, qui a la lourde tâche de la suite du monde, de perpétuer la vie et de convaincre les hommes, même ceux qu’elles mettent au monde, de ne pas la détruire. (RL: 129)

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Widerlegt werden diese definitorischen Annäherungen schließlich von l’Homme beziehungsweise la Femme in den mit „C’est quoi, un homme?“ respektive „C’est quoi, une femme?“ überschriebenen Kapiteln. Diese spielen sich im abgeschlossenen Raum des übernatürlichen Iglus ab, dessen Abgekoppeltheit von der fiktionalen Welt auf seine besondere Stellung im Erzähluniversum verweist, und dadurch die Bedeutung dieser Unterhaltung hervorhebt (vgl. VL: 150, RL: 152). Zunächst arbeitet l’Homme die Andrés Definition zugrundeliegende Einstellung gegenüber dem anderen Geschlecht, sein „désir inavoué de vengeance“ (VL: 150) heraus, während la Femme entsprechend Andrées Überlegenheitsgefühl gegenüber den Männern als Basis für die Definition der Literaturwissenschaftlerin herausfiltert (RL: 153). Beide bemühen anschließend die Metapher des „éventail“ (VL: 150, RL: 153), also eines aufgefächerten Spektrums, um ihre Vorstellung der Vielfältigkeit auszudrücken, dem ein monolithisches Verständnis von Geschlecht nicht gerecht werde, und kommen daraufhin explizit auf die Rollenerwartungen hinsichtlich ihres eigenen Geschlechts zu sprechen: Un homme, c’est quelqu’un qui doit faire preuve de maturité, de sagesse, mais aussi d’impétuosité et qui doit ramer fort pour être tout ce qu’attendent de lui sa blonde,

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ciété, ses enfants, ses collègues, ses profs, ses amis. […] Un homme, c’est quelqu’un qui s’adapte. (VL: 152f.) Une femme, c’est un être qui a toujours échappé le pouvoir, mais qui doit faire preuve de maturité, de sagesse, qui doit ramer fort pour être tout ce qu’attendent d’elle son chum, la société, ses enfants, ses collègues, ses amis. […] Une femme, c’est quelqu’un qui s’adapte. (RL: 154f.)

Diese Ausführungen werden vom Protagonisten jeweils mit dem Verweis darauf abgetan, dass dies auch auf das andere Geschlecht zutreffe, und bilden somit ein Echo zu den Aussagen aus dem korrespondierenden Text. Die Konversation wird mit Rückgriff auf Geschlechterstereotype aufgelöst, die die Widersprüchlichkeiten und Gemeinsamkeiten in Bezug auf Geschlechterrollen humoristisch zur Schau stellen und die Unmöglichkeit einer allgemeingültigen Definition verdeutlichen:

57 In der Québecer Umgangssprache werden ‚petite amie‘ und ‚petit ami‘ durch ‚blonde‘ und ‚chum‘ ersetzt.

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Un homme, c’est quelqu’un qui ne met pas de rouge à lèvres pour aller se baigner!



Un bon point. Qu’est-ce qu’il met alors?



Du parfum. (VL: 154)



Une femme, c’est quelqu’un qui ne met pas de lotion après-rasage avant d’aller se baigner!



Un bon point. Qu’est-ce qu’elle met alors?



Du rouge à lèvres. (RL: 156)

Die Kategorie des gender wird durch die Gegenüberstellung spielerisch dekonstruiert, da sie in Ansätzen in einer allgemeinen Kategorie des Mensch-Seins aufgeht. Diese Auflösung der Binarität durch Rückgriff auf eine Synthese, in der sich gegenüberstehende Konzepte aufgehen, zeigt sich, so die These, vor allem im Vergleich der ständigen Begleiter der Protagonisten. Zunächst lässt sich diese Annahme dadurch belegen, dass l’Homme und la Femme nicht in der gleichen Opposition stehen wie Léa und Maxime. Zwar verfügen sie über unterschiedliche Charakteristika, doch wird in der Vergleichsperspektive keineswegs eine den Protagonisten nachempfundene Binarität entfaltet. Anfangs durchlaufen die beiden übernatürlichen Figuren eine Phase, in der sie keinerlei Anhaltspunkte über ihre Situation haben, somit prototypisch die existentielle Geworfenheit des Menschen verkörpern. Dennoch scheinen sie bei der Suche zu sich selbst zuerst geschlechtsspezifische Rollenmuster durchzuspielen. Neben den bereits genannten unterschiedlichen Berufsangaben, die den persönlichen Vorstellungshorizont – sowohl der Erzählinstanz als auch der jeweiligen Figur – als traditionell weiblich beziehungsweise männlich vorstrukturiert markieren, tauchen Unterschiede im Verhalten auf, die vom Protagonisten auf Geschlechtsspezifika zurückgeführt werden.58 Während la Femme genauso wie Léa dafür plädiert, das eingeschneite Auto freizuschaufeln, anstatt sich auf den Motor zu verlassen, um es aus der Schneewehe zu befreien (VL: 63, RL: 67), vertritt l’Homme Maximes Theorie: „Un vrai 58 In einer psychoanalytischen Lesart könnte man la Femme/l’Homme mit C. G. Jung als eine „Objektivation der Anima“ (Hark 1988: 21) beziehungsweise des Animus interpretieren, die die jeweilige Hauptfigur durchführt, um sich mit dem Archetypus der Weiblichkeit beziehungsweise der Männlichkeit auseinanderzusetzen. Desrosiers’ Roman würde dabei jedoch die Konzepte mit neuen Inhalten füllen, da sie Unterscheidungen wie, „Die Anima bringt Launen hervor, Animus dagegen Meinungen“ (Peters 2007: 37), zugunsten einer übergeordneten Reflexion aufhebt.

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homme n’a pas besoin de ça, une pelle.“ (RL: 67) Beide Episoden stellen den Stolz als distinktives männliches Charaktermerkmal dar und heben das eher vernunftgesteuerte Verhalten der weiblichen Figuren hervor. Die Gemeinsamkeiten zwischen l’Homme und la Femme überwiegen jedoch, denn auch wenn die weibliche im Unterschied zur männlichen Wasserleiche zunächst darauf besteht, gesiezt zu werden (vgl. RL: 34), verlangen doch beide nach einem GAP-Pullover, entdecken beide das Motel, tragen beide den Koffer ihrer Begleitung in das Zimmer und weisen jeweils die Annäherungsversuche der Hauptfigur zunächst ab. Beide verfallen aufgrund ihrer Lage in Melancholie, lesen die Bücher, die die Hauptfigur verfasst hat, verhindern eine Liaison mit André/Andrée und machen den ersten Schritt beim Sex. Beide sind außerdem Vegetarier und waren mit einer Psychologin beziehungsweise einem Psychologen liiert, mit der beziehungsweise dem sie zwei Kinder haben, sind demnach insgesamt abgesehen vom Geschlecht als quasi identische Figuren zu sehen. Die Extremerfahrung, welche sowohl die männliche als auch die weibliche Wasserleiche durchlebt, veranlasst sie außerdem dazu, im Rückblick auf ihr Leben Prioritäten zu definieren. Die Kommunikation dieser Einsichten erfolgt wiederum an einem besonderen Raum, einer abgeschiedenen Hütte im Schnee, und wird dadurch als bedeutsam markiert. Auch wenn die Hauptfiguren die Erkenntnisse, die l’Homme beziehungsweise la Femme aus ihrer instabilen Situation ziehen, verächtlich als Klischees abtun, die einem Hollywood-Film würdig seien (vgl. VL: 174ff. und RL: 176ff.), gelingt es den Helferfiguren jeweils, die Protagonisten zum Nachdenken anzuregen. Beiden gemein ist die Liebe zu ihren Kindern, die mit den gleichen Worten ausgedrückt wird (vgl. RL: 176, VL: 178). Während l’Homme darüber hinaus als Priorität angibt, dass alle ihm Nahestehenden auf ihn zählen können (vgl. RL: 176), nimmt sich la Femme vor: „Et je serai toujours là pour aider à faire renaître, chaque jour, les gens que j’aime.“ (VL: 178) Die Hauptfiguren stellen für sich selbst fest, dass sie diese Charaktereigenschaften zumindest manchmal erfüllen, was sie aber nicht zu einem Vertreter beziehungsweise einer Vertreterin des anderen Geschlechts mache (vgl. ebd.). Die geschlechtsunabhängige Konstante der Bedeutung der Kinder fungiert dabei als eine Art Synthese, welche die anderen Oppositionen genauso wie bei den Protagonisten in einer höherwertigen, gemeinsamen Priorität auflöst. Verstärkt wird diese synthetisierende Wirkung durch die ceteris paribus-Anordnung, denn die Variable Geschlecht wird dadurch umso deutlicher als wenig maßgeblich für die Wertehierarchie darge-

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stellt.59 Diese Auflösung von Rollenstereotypen in Bezug auf Männer und Frauen geht mit einer Transgression auf der Vermittlungsebene einher, die im Folgenden betrachtet wird. Die Maskulinisierung eines weiblichen Plotmusters Indem der Text zweiten Grades die Konfiguration und Perspektivierung des Prätextes übernimmt, begeht Desrosiers eine Transgression genderspezifischer literarischer Konventionen, die sich gerade im Kontrast bei einer lecture palimpsestueuse offenbart. Die angewendeten Erzählhaltungen wie innerer Monolog und Tagebucheinträge sind traditionell eher weiblich konnotiert. Ina Schabert (1992: 319) weist mit Rückgriff auf Konventionen des englischen Romans im 18. Jahrhundert darauf hin, dass nach 1795 „gender norms“ galten, die Frauen die subjektive Ich-Erzählung, männlichen Autoren dagegen den Überblick eines nicht nur intellektuell über den Dingen stehenden Er-Erzählers zuwiesen. Es wurde jedoch nicht nur im Hinblick auf weiblich konnotiertes Erzählen hinsichtlich der Erzählstimme und Fokalisierung unterschieden, sondern auch in Bezug auf den Inhalt: „Novels written by women are restricted to the exploration of a ‚female sphere‘, of narrow, emotionally coloured sections of reality, matters of the home and the heart.“ (Ebd.: 318) Während eine Erzählinstanz, die beispielsweise durch metafiktionale Reflexionen Distanz schafft und ihre Überlegenheit demonstriert, männlich konnotiert ist, gilt für traditionell mit weiblichen Attributen belegtes Schreiben ein Übergewicht an Gefühl und Engagement, das meist „das Allgemeine im Besonderen aufscheinen [lässt], etwa durch Polyvalenzen im Anschaulichen, bedeutungsvolle Bilder, Metonymien oder semantische Isotopien“ (Würzbach 2004: 65). Gerade in Bezug auf die inhaltliche Ausrichtung und die Entwicklung des Plots entspricht der Prätext weiblich konnotierten Schreibweisen und kann als „frauenzentriertes Plotmuster“ (Gutenberg 2004: 110) bezeichnet werden. Der Roman stellt eine moderne Variante des courtship plot (vgl. ebd.: 110f.) dar, denn Léa ist zweifelsohne auf der Suche nach einem neuen Mann in ihrem Leben, wie das Motto von Voyage à Lointainville in Form einer Partnerschaftsan59 Eine weitere Figur, welche die Binarität des Erzähluniversums untergräbt und Rollenstereotypen explizit widerspricht, ist Marcel(le), denn seine beziehungsweise ihre Begeisterung für Mozart entlarvt sowohl Léas vorherige Annahme, dass alle Männer in Lointainville nur für Jagen und Fischen Interesse übrig hätten, als auch Maximes Vermutung, dass alle Frauen des Dorfes nur Selbstfindungsbücher läsen, als Vorurteile. L’Homme/la Femme weisen die Protagonisten dabei jeweils sehr deutlich auf ihr Denken in Rollenmustern hin (vgl. VL: 155, RL: 157).

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zeige belegt. In Lointainville ist sie zwischen zwei Männern hin- und hergerissen: André, dem Literaturprofessor und l’Homme, ihrem ständigen Begleiter. Zunächst scheint mit dem Verschwinden des übernatürlichen Homme am Höhepunkt ihrer Annäherung ein unglücklicher Ausgang vorprogrammiert, doch die Wiederholung der Ausgangsszene und das Auftauchen eines zweiten André, der ein Double von l’Homme auf der ersten und innerhalb der TAW als real anzusehenden Fiktionsebene darstellt, deutet ein mögliches happy ending für Léa an. Im Prätext sind konventionelle Regeln weiblich konnotierter Plotstrukturen somit mustergültig eingehalten, werden jedoch im Text zweiten Grades spielerisch umgekehrt, indem die Hauptfigur durch einen Mann ersetzt wird, der Plot aber genauso funktioniert. Parodistisch – im Sinne von Genette – verstärkend wirkt dabei die bereits angesprochene häufig fast wörtlich gestaltete Übernahme des Textmaterials. Einerseits weisen in diesem Zusammenhang die eingefügten Tagebucheinträge, die wegen ihrer inhärenten Subjektivität eine als „typisch weiblich“ angesehene Textsorte darstellen, geschlechtsspezifische Anpassungen auf. In Reflexionen über die Erwartungen, die die Protagonisten an den Partner beziehungsweise die Partnerin stellen, werden beispielsweise unterschiedliche Bilder bemüht, um Strategien anzuklagen, die ein schlechtes Gewissen hervorrufen sollen (vgl. RL: 122, VL: 117). Andererseits werden diese Unterschiede von Gemeinsamkeiten überstrahlt, wobei die fast übereinstimmende Wortwahl bei grammatikalischer Anpassung an das jeweilige Geschlecht den Wiedererkennungseffekt verstärkt und eine Gemeinsamkeit auch über das Wortmaterial herstellt. So wird Léas Aussage, „[i]l y a ceux qui paniquent dès que vous sortez de leur champ de vision“ (VL: 117), in Maximes Worten zu: „Il y a celles qui paniquent dès que vous sortez de leur champ de vision.“ (RL: 122) Geschlecht und Roman als Konstrukt In Desrosiers’ Romanpaar gelangen die Figuren am Ende ihrer Suche zu der Einsicht, dass sie ihr Verständnis vom anderen Geschlecht überdenken sollten. Angestoßen und begleitet wird dieser Erkenntnisprozess von verschiedenen Strategien auf der Ebene der Figuren, welche die anfängliche Binarität des Erzähluniversums auflösen. Das Motiv der Zurschaustellung der Geschlechterrollen als Konstrukte wird dabei in der Konfiguration der Romane gespiegelt, indem die erste Handlung als F-Universum entlarvt wird. Die Handlung dieser Erzählung erweist sich als konstruiert und nicht etwa als eine von einem erlebenden Ich der TAW wahrgenommene Geschichte. Zudem beinhalten beide Romane, wie bereits angedeutet, eine explizite Metatextualität in Form der literarischen bloopers im Anhang. Die Kommentare, welche die fiktiven Figuren an die Autorin richten, stellen ein nar-

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ratives Paradoxon dar, existieren sie doch nur in und durch die fiktionale Erzählung. Dieser Ebenenbruch verweist einerseits als metafiktionales Element auf die Literarizität und Fiktionalität der Romane und betont andererseits die subjektive Wahrnehmung der Autorin und ihren Anteil an der Konstruktion des Erzähluniversums. Indem sich die Figuren über verschiedene ihnen zugewiesene Charaktereigenschaften beschweren, betonen sie die Allmacht der Autorin, die ihnen Eigenschaften aufstülpt genauso wie es die Frauen im Romanpaar mit den Männern tun und umgekehrt. Gleichzeitig wird die autobiografische Komponente stark herausgestellt, indem beispielsweise der fiktive Sohn, Luc, die Autorin fragt, ob er ihrem Sohne ähnele, was „L’auteure“ in diesem metaleptischen Dialog bejaht (RL: 200, VL: 198). Anhand dieser Parallele zur textexternen Welt erscheint der jeweilige Roman realistisch, wodurch seine Aussage bekräftigt wird. Die Metatextualität wird bei einer lecture palimpsestueuse insgesamt dadurch verstärkt, dass dem Prätext in Form des Romans zweiten Grades ein Spiegelbild vorgehalten wird. Dabei generieren die weitgehend übereinstimmende Handlung sowie die auffallenden Gemeinsamkeiten und Komplementaritäten innerhalb der Figurenkonstellation einen Fiktionsbruch. Die Rezeption in Form eines top-down processing führt dabei zum ständigen Abgleich mit der homonymen Figur aus dem Prätext, wobei die Aufmerksamkeit auf Unterschiede und Übereinstimmungen in den Ansichten und Handlungen der Figuren gelenkt wird. Gleichzeitig wird bei einer lecture palimpsestueuse eine distanzierte Haltung zum Erzählten vor allem dadurch erzeugt, dass die Pointe am Ende, in der das FUniversum als solches entlarvt wird, bei der Lektüre des Textes zweiten Grades von Anfang an antizipiert wird. Auch wenn der zweite Roman ein Jahr nach Voyage à Lointainville publiziert wurde, ist die Reihenfolge der Lektüre der beiden Texte nicht maßgeblich. Die beiden Erzähluniversen sind parallel angeordnet und können jeweils auch für sich alleine gelesen werden. Erst bei einer lecture palimpsestueuse entfalten sie ihre einer Binarität zuwider laufende Wirkung jedoch erst vollständig, denn erst beim Gegenlesen der beiden Texte erweist sich, dass das Handeln nach den jeweiligen Rollenverständnissen kontrastiert wird und gleichzeitig auf die gemeinsamen Werte und Probleme hingewiesen beziehungsweise sogar deren Parallelität und Komplementarität veranschaulicht wird. Zudem entsteht durch die spielerische Gegenüberstellung männlicher und weiblicher Rollenstereotype, denen Maxime und Léa in vielen Situationen entsprechen, ein Effekt der Komik. Parodistisch im Sinne Genettes muten dabei zahlreiche auf signifiant-Ebene weitgehend übereinstimmende, auf signifié-Ebene jedoch kontrastierende Äußerungen der beiden Protagonisten an.

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Die Abweichung auf Ebene der Konfiguration und Perspektivierung, das „Ausfüllen“ weiblich konnotierter Erzählformen mit „männlichem Inhalt“, realisiert seine metatextuelle Komponente überdies erst vollständig, wenn der Prätext die unterliegende Folie bildet, das heißt wenn die Chronologie bei der Rezeption eingehalten wird. Gleichzeitig vereindeutigt die Lektüre des späteren Romans die Aussage des Primärtexts, denn die Ambivalenz des Namens ‚Homme‘, der sich sowohl mit ‚Mann‘ als auch mit ‚Mensch‘ übersetzen ließe, wird in der Gegenüberstellung zur Femme im Text zweiten Grades aufgehoben. Die Figur des Homme verliert somit bei einer lecture palimpsestueuse an Doppeldeutigkeit. Mit ihrem literarischen Experiment einer nur auf einem Element der Selektionsebene basierenden récriture – dem Geschlecht der Figuren – steigert die Autorin insgesamt das metatextuelle Potenzial ihres bereits stark metaisierenden Prätextes und spiegelt dabei ihre Geschichte einer konstruierten Unvereinbarkeit der Geschlechter auch auf der Darstellungsebene. 4.1.4 Vom Nonsens zum populären Initiationsroman: Aliss Einführung Die vielgelesenen Abenteuer der kleinen Alice wurden von Charles Lutwidge Dodgson unter dem Pseudonym Lewis Carroll veröffentlicht. Seine zwei Hauptwerke, Alice’s Adventures in Wonderland (1865) und Alice Through the Looking-Glass and What Alice Found There (1871), werden in vielen späteren Ausgaben gemeinsam publiziert60 und in Filmadaptationen oft vermischt61, so dass eine klare Trennung beider Traumreisen von Alice bei der Rezeption nicht immer gegeben ist. Eberhard Kreutzer fasst diese Untrennbarkeit folgendermaßen zusammen: „Von der zitatwürdigen Textmenge her gesehen scheint […] LG sich als ergiebiger erwiesen zu haben, während vom kontextuellen Vertrautheitsgrad zweifellos AW der Vorrang gebührt“ (Kreutzer 1984: 32). In Patrick Sénécals Roman Aliss wird allerdings vorwiegend auf den ersten der beiden Alice-Romane Bezug genommen. Sénécal wendet dabei sowohl eine Transposition auf der Selektionsebene wie eine Modifikation auf der Konfigura60 Siehe zum Beispiel die 1931 bei Grasset & Dunlop erschienene Doppelausgabe mit Illustrationen von John Tenniel (Carroll 1931), die Jacques Papy für Gallimard ins Französische übersetzt hat (Carroll 1994a). 61 So treten beispielsweise Tweedledum und Tweedledee in Disneys erster Zeichentrickverfilmung von ALICE IN WONDERLAND (1951) (USA; R: Clyde Geronimi/Wilfrid Jackson/Hamilton Luske) auf. Im Folgenden werden Spielfilmtitel in Kapitälchen angegeben.

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tionsebene an, um Aliceʼ Abenteuer in einem sehr abgewandelten „Wunderland“ zu einer Form des Initiationsromans62 zu machen. Der bei Alire, einem auf Kriminalromane spezialisierten Verlagshaus, in der Reihe Fantastique verlegte Roman nimmt dabei eine Verschiebung der Zielgruppe vor, denn der Erotikthriller mit fantastischen Elementen spricht ein weniger breit gefächertes Lesepublikums als der Prätext an.63 In Aliss wird die Geschichte der Québécoise Alice Rivard erzählt, die an ihrem 18. Geburtstag beschließt, aus ihrem bisherigen Leben auszubrechen und aus einem Vorort nach Montréal zu ziehen, da sie das Gefühl hat, etwas Neues erleben zu müssen. Ausgangspunkt der Handlung ist somit ein Mangel in der Wissenswelt der als Ich-Erzählerin auftretenden Protagonistin, die jedoch zu Beginn des Romans noch nicht das Objekt ihrer Suche kennt. Nach einem Streit mit ihren Eltern reißt sie per Anhalter und U-Bahn aus. In der Metro folgt sie einem Mann, Charles, der seine Brieftasche verloren hat, bis zu einer mysteriösen U-BahnStation, um ihm sein Eigentum zurückzugeben. Auch wenn sie den Namen der Metrostation aufgrund einiger ausgebleichter Buchstaben nicht entziffern kann, beschließt sie, sich in diesem Viertel, in das sie der Zufall gebracht hat, eine Wohnung und eine Arbeit zu suchen: Je tente quand même de deviner le nom de la station, malgré le peu de lettres encore visibles: W

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Je me répète mentalement les six ou sept stations de métro dont je me rappelle par cœur les noms. Aucune ne correspond à ces lettres. (A: 26)

Auch die Namen der Hauptstraßen des Viertels, das von den Bewohnern „Daresbury“ (ebd.: 33) genannt wird, „LUTWIDGE“ (ebd.: 27) und „DODGSON“ (ebd.: 28) sind ihr nicht vertraut. Ihr Ziel, Grenzen zu überschreiten, die sie in ihrem bisherigen Leben als einengend empfunden hat, verfolgt ‚Aliss‘, wie sie sich in ihrem neuen Lebensabschnitt nennt (vgl. ebd.: 35), sehr methodisch, so dass eine steigende Entfremdung von ihrem bisherigen Lebensstil eintritt. Der Kon62 Siehe zu den Merkmalen der Initiationsgeschichte Titzmann 2002. In der Übertragung dieses Modells, das sich auf die Goethe-Zeit bezieht, in das 21. Jahrhundert ist die Verwendung einer „weibliche[n], jugendliche[n] Figur“ (ebd. 11) als Protagonistin nicht mehr als nur als vereinzelt auftretendes „Experiment“ (ebd.) anzusehen. 63 Alice in Wonderland fungierte international gesehen jedoch auch im Bereich der Kinderliteratur oftmals als Modell. Siehe Kreutzer 1984: 17 für eine Auflistung.

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sum von Drogen verschiedener Wirkungen – „Macros“, um Selbstbewusstsein und Gelassenheit zu gewinnen, „Micros“, um sich auf sich selbst besinnen zu können – wird schließlich zu einer Sucht. Aus Geldnot gibt sie daher ihre Arbeit als Kellnerin für eine besser bezahlte in einem Stripclub, Chez Andromaque, auf. Von der Tänzerin wird sie dort zur Prostituierten. Gleichzeitig wächst ihre Faszination für die geheimnisvolle Rote Königin und den Palais, zu dem sie mehrmals vergeblich Eintritt begehrt. Ausgelöst durch ihre Interpretation von Nietzsches Also sprach Zarathustra glaubt sie in dieser eine surfemme zu sehen, die ihr als Modell dienen könnte. Um zur Geburtstagsfeier der Roten Königin eingeladen zu werden, muss sie jedoch einen Test bestehen und wird zum Tee bei der Leibgarde der Roten Königin, das heißt bei den von Wortspielen begeisterten Chair und Bone, eingeladen. Dort wird sie Zeugin des „wissenschaftlichen Projekts“ der beiden, die versuchen, die Nichtexistenz der menschlichen Seele zu beweisen. Dazu schneiden sie in einer genauso absurden wie grausamen und blutigen Operation den Körper eines Gegners des Regimes der Roten Königin an mehreren Stellen auf, an denen sie die Seele gerade nicht vermuten. Anschließend konstatieren sie das Nichtvorhandensein einer Seele an den jeweiligen Stellen, bis das Opfer stirbt. Die Geburtstagsfeier der Roten Königin entpuppt sich schließlich als Massensexorgie, bei der Aliss aufgrund der Einnahme eines Aphrodisiakums teilnimmt und das Angebot akzeptiert, als Fille de la Reine64, das heißt als Prostituierte, für die Rote Königin zu arbeiten. Ihre Suche, bei der sie von einem fast transparent wirkenden Wesen mit einem übernatürlich breiten Grinsen, Chess, beraten wird, findet nach einer weiteren Probe ihr Ende. Auf Drängen der Roten Königin willigt sie ein, einen Sadomaso-Kunden zu akzeptieren und ihn im Falle eines gewalttätigen Übergriffs selbst zu bestrafen, weigert sich anschließend aus moralischen Gründen jedoch, die körperliche Strafe zu vollziehen und wird schwer verletzt. In einem „verdict unanime d’une Cour impartialement amorale“ (A: 485, Hervorhebung im Original), so der Untertitel des vorletzten Kapitels, wird Aliss wegen ihrer moralischen Werte und dem Versuch, jemand anderes zu sein, als sie ist, dazu verurteilt, wieder zu den Ihrigen in den anderen Teil der TAW zurückzukehren. Die Rote Königin entpuppt sich anlässlich dieses Verfahrens als Orchestrierungsinstanz, die Aliss von Anfang an 64 Die Bezeichnungen Fils de la Reine und Fille de la Reine für die Leibgarde der Roten Königin ist eine Anspielung auf die filles du roi genannten jungen Frauen, die im siebzehnten Jahrhundert nach Neufrankreich geschickt wurden, um Familien zu gründen. Sénécal spielt auf die weitläufig verbreitete Meinung an, es habe sich bei den filles du roi vor allem um Prostituierte gehandelt. Diese Annahme ist jedoch inzwischen widerlegt (vgl. Lanctôt 1952).

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beobachten ließ und Maßnahmen traf, um dem sinnsuchenden Mädchen eine Lektion zu erteilen (vgl. A: 501). Insgesamt dient somit Alissʼ Abenteuer im gewalttätigen und amoralischen Daresbury zur Selbstfindung der Heldin, die sich nach ihrem Coming of Age-Abenteuer wieder ‚Alice‘ nennt (vgl. A: 515). Im letzten Schritt der dreistufigen Transitionsphase (vgl. Titzmann 2002: 12) kehrt Alice/Aliss somit wieder in den Ausgangszustand zurück. Die autodiegetische Erzählung des Initiationsromans – Aliss tritt als unmittelbar erlebendes Ich auf – ist dabei von einer Exposition und einem Schlusskapitel umrahmt, in der Aliceʼ Familie und Freunde sowie ihr Philosophie-Lehrer sie kurz vor und acht Jahre nach der Handlung charakterisieren und die Entwicklung zu einer erfolgreichen jungen Frau und einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft nachzeichnen. Dabei sind diese wie Zeugenaussagen gestalteten Textteile zudem paratextuell durch die Märchenformeln „Il était une fois …“ (A: 1) sowie „ … et elle vécut heureuse et eut beaucoup d’enfants! FIN“ (ebd.: 521, jeweils Hervorhebung im Original) eingerahmt. Diese Systemreferenz65 auf Märchentexte wird über einen conteur weiterverfolgt, der jedem Kapitel eine kurze Einleitung voranstellt, in der er den Leser anspricht, die Erwartungen reflektiert und den Aufbau sowohl proleptisch ankündigt als auch selbstreflexiv in das Märchenschema einpasst. So wird Chess beispielsweise als Helferfigur bezeichnet: „Dismoi, ami lecteur, qu’est-ce qui est indispensable à tout héros dans ses aventures en terres étrangères? Bien deviné: un conseiller, un guide, un adjuvant!“ (A: 240, Hervorhebung im Original) Der conteur ist dabei nur eines der Mittel, die Aliss zu einem hochgradig intertextuellen Text machen. Gestaltung des Erzähluniversums als vielfach intertextueller Text Neben der Systemreferenz auf Märchen, die den Leser dazu veranlasst, am Ende des Romans eine Moral zu erwarten, sind zahlreiche weitere intertextuelle und intermediale Verweise sowie Bezüge auf die Autorenfigur feststellbar. Aus der Vielzahl von Referenzen auf Musik66 und Literatur67, die der Text aussendet,

65 Zur Unterscheidung zwischen Einzeltext- und Systemreferenz in der Intertextualitätstheorie, siehe Broich 1985: 48f. 66 Eines der Motti ist beispielsweise ein Auszug aus „I do not want this“ von Nine Inch Nails (Reznor 1994), wodurch das Thema der Rebellion und der Entgrenzung angedeutet wird. Musikalische Verweise dienen dazu, Alissʼ Gemütszustand zu veranschaulichen. So wird ein weiterer Songtext von Nine Inch Nails eingestreut, als Aliss versucht, einen Übergriff von Chair und Bone zu verarbeiten. Sie singt einige Zeilen von „Even Deeper“, „I’m okay, I’m on track. On my way – and I can’t turn back“ (A:

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werden zur Veranschaulichung nur die zwei auffälligsten Intertexte, Nietzsches Also sprach Zarathustra und Lewis Carrolls Alice-Romane genauer betrachtet. Dabei wird kurz eine Form der Integration der Autorfigur in das fiktionale Universum angeschnitten, denn Sénécals Roman bezieht auch eine Reflexion über Lewis Carroll in seinen Roman ein, der eine intensive metatextuelle Wirkung hat. Eine Sonderstellung innerhalb der Intertexte von Aliss nimmt Nietzsches Also sprach Zarathustra ein, denn er wird als einziger Text von der Protagonistin und einer weiteren Figur, der Roten Königin, rezipiert und kommentiert.68 Nietzsches Text fungiert dabei wie ein Indikator über den Stand von Aliss’ Suche, denn anhand ihrer Interpretation von Also sprach Zarathustra lässt sich die Entwicklung der Heldin ablesen. Zunächst wird Nietzsches Werk im Prolog von Alice’ Philosophie-Lehrer, Laurent Lévy, angesprochen, um anhand des naiven Textverständnisses, das die Schülerin an den Tag legt, ihr pubertäres Hin- und Hergerissensein zwischen Extremen zu verdeutlichen (vgl. A: 4). Lévys Hinweis, sie habe widersprüchliche Ansichten zur Moral, verstärkt ihren Willen, davonzulaufen, da sie sich von einem „pseudo-intello qui n’ose plus“ (ebd.: 12), wie sie ihren Lehrer nennt, nicht beurteilen lassen will. Dennoch setzt sie auch in Daresbury ihre simplifizierende Lektüre von Nietzsches Text fort und überträgt ihn wie eine Anleitung auf ihr Leben:

204, Reznor/Lohner 1999), lautstark mit, um ihre Entscheidung, vorerst nicht nach Hause zurückzukehren, vor sich selbst zu rechtfertigen und zu bekräftigen. 67 Zu nennen wäre zudem der Racine-Intertext Andromaque (Racine 1985), auf den nicht nur die Namen der Stripclub-Besitzerin, Andromaque, und ihres Sohnes, Astyanax, hinweisen, sondern der auch von der ausschließlich in Versen sprechenden Andromaque wörtlich zitiert wird (vgl. zum Beispiel A: 231, 362 beziehungsweise Racine 1985: V. 871f., V. 904f.). Diese Parallelen deuten auf die machtlose Situation Andromaques, der vorherigen Herrscherin, im Regime der Roten Königin hin. Dennoch treten bedeutende Divergenzen auf, denn Andromaque tötet in Aliss ihren Sohn Astyanax. Dies könnte als Aufgabe ihres Wertesystems zugunsten desjenigen der Königin gedeutet werden und würde der Einwilligung in die Hochzeit mit Pyrrhus in Racines Stück entsprechen. Letztere wird dabei ihren Überzeugungen jedoch nicht untreu, was das Scheitern der Andromaque in Aliss weniger tragisch als kläglich erscheinen lässt. 68 Dennoch kann Aliss nur ansatzweise als récriture des zweiten Typs bezeichnet werden, ist doch eine erhöhte Strukturalität nur in Bezug auf die Alice-Prätexte gegeben, die jedoch nicht innerhalb der TAW gelesen werden.

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Je le savais bien que Nietzsche était la réponse, un guide, mon guide! C’est pour ça que j’ai quitté ma ville, que je suis ici! C’est pour surmonter le petit, le misérable, le commun, le bien! Car tout ça est obstacle au surhomme … ou à la surfemme! (Ebd.: 162, Hervorhebung im Original)

Das Modell der surfemme, der Entsprechung zu Nietzsches Übermensch, glaubt sie in der Roten Königin zu erkennen. Als Helferfigur weist Chess sie auf ihre Missinterpretation hin, ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, so dass sich Aliss erneut bevormundet fühlt (vgl. ebd.: 251), den Text jedoch noch einmal zur Hand nimmt und sich Unklarheiten eingesteht (vgl. ebd.: 255). Die Rote Königin benutzt Nietzsches Also sprach Zarathustra schließlich als letztes Mittel, um Aliss davon zu überzeugen, dass sie völlig normal sei und nicht in ihr Regime passe. Dazu widerlegt sie deren Interpretation der surfemme, indem sie den moralischen Aspekt (vgl. ebd.: 505) und die Devise, „[d]eviens ce que tu es!“ (ebd.: 503), betont, die Aliss vernachlässigt habe. Ihre einseitige Interpretation des Nietzsche-Textes spiegelt somit ihre fehlgeleitete Zielsetzung wider. Es handelt sich demnach um eine partielle Wissenswelt, die im Laufe des Romans „ausgefüllt“ wird, denn Aliss ist zunächst das Wissensdefizit nicht klar – die Frage „Wer bin ich?“ und ihre Antwort, auf welche die Einwohner von Daresbury vielfach anspielen (vgl. ebd.: 49, 207, 253, 332, 416, 502). Erst im Laufe der Gerichtsverhandlung versteht sie, dass ihre Suche eine Suche nach sich selbst war, und ihre Interpretation von Nietzsches Text genauso irrig wie ihr Versuch, jegliche Grenzen zu überschreiten. Die metatextuelle Komponente in Bezug auf den Nietzsche-Intertext findet sich somit in den verschiedenen Interpretationsansätzen, welche die Figuren anlegen, wodurch angedeutet wird, wie leicht dieser Text missverstanden und missbraucht werden kann. Anders gestaltet sich der Umgang mit den Alice-Romanen, denn diese fungieren als strukturierende Folie, wodurch im Kontrast zu den Prätexten Funktionsmechanismen beider Erzähluniversen freigelegt werden können. Die Inhaltszusammenfassung hat bereits mehrere Intertextualitätssignale aufgezeigt, die auf den Prätext Alice in Wonderland verweisen. Neben der Namensgebung der Titelheldin fallen homonyme Charaktere wie die Rote Königin auf, die in beiden Texten Angst und Schrecken verbreiten. Anzuführen wäre auch die der Königin unterlegene Herzogin, die ihr Baby als Ferkel bezeichnet und dementsprechend behandelt, indem sie es jemand anderem in die Arme wirft – im Prätext Alice (vgl. AW: 72) und im Text zweiten Grades ihrem Barkeeper, Bowling, (vgl. A: 192). Ein eklatanter Unterschied besteht darin, dass das Kind im Prätext tatsäch-

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lich zu einem Ferkel wird, denn im Wunderland sind viele Naturgesetze außer Kraft gesetzt. Zu nennen ist außerdem das Grinsen des bereits erwähnten Chess, dessen Name an die Cheshire Cat erinnert. Chess teilt Aliss genauso wie die Cheshire Cat Alice mit, dass alle, inklusive ihm beziehungsweise ihr selbst, verrückt seien (vgl. A: 298, AW: 72). Hier besteht der Unterschied darin, dass Chess das Mädchen nicht explizit einbezieht, während die Cheshire Cat dies mit dem Zusatz, „[a]nd you“ (vgl. A: ebd.), ausdrücklich tut. In der Begründung stellt sich die Bezeichnung ‚verrückt‘ im Prätext jedoch als rein sprachliches Etikett heraus. Ausgehend von der Feststellung, Hunde seien nicht verrückt, nennt die Cheshire Cat gegensätzliche Eigenschaften von Hunden und Katzen und zieht daraus den verallgemeinernden Schluss, als Katze müsse sie demnach verrückt sein. Die Unzuverlässigkeit von Sprache, welche hier auf der Meta-Ebene angedeutet wird, ist ein Hauptmerkmal der Alice-Romane, die sich auf unterschiedliche Weise äußern kann. Kreutzer nennt Scheinmißverständnisse und scheinlogische Argumente, Wortklauberei und Begriffsverdrehung, eine subjektive Sprachmanipulation von der schlagfertigen Pointe bis zur heillosen Gesprächsverhedderung, von der launigen Alberei bis zum orakelhaften Hintersinn. (Kreutzer 1984: 75)

In verminderter Ausprägung tauchen derartige Sprachspielereien gerade bei Chess auf, der auf Alissʼ im übertragenen Sinn gestellte Frage, „elle [Andromaque] s’est fait prendre à son propre jeu?“ (A: 244), die Gegenfrage, stellt, „[e]lle jouait à quelque chose?“ (ebd.), da er Aussagen immer wörtlich nimmt. Wortspiele werden vor allem von der Leibgarde der Roten Königin, Chair und Bone, gebraucht. Der spielerische Umgang mit der französischen Sprache steht dabei in extremem Kontrast zur Bedeutung der Äußerungen, wenn sie sich beispielweise nach einer erfolglosen Operation – das Opfer ist bereits verstorben – über Homophonien begeistern: „Vous saisissez? La bouche en sang, en cent … le bras en mille …?“ (A: 293, Hervorhebung im Original) Grotesk gestaltet sich auch die abgewandelte Wiederaufnahme eines weiteren Merkmals der Alice-Romane. Vor allem in Through the Looking-Glass werden häufig Kinderreime szenisch nachvollzogen (vgl. Kreutzer 1984: 47).69 69 Kreutzer verweist darauf, dass die Anklageschrift gegen den Herzbuben ein Kinderreim sei, und dieses Verfahren im zweiten Roman intensiviert werde, indem in den Kapiteln „Tweedledum and Tweedledee“, „Humpty Dumpty“ sowie „The Lion and the Unicorn“ nicht nur die Figuren zum Leben erweckt, sondern auch das jeweilige Thema nachgespielt werde (vgl. Kreutzer 1984: 47).

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Übertragen auf Sprichwörter und gepaart mit Wortspielen findet sich dieses Verfahren in der Körperteile-Ausstellung von Chair und Bone. Hier erblickt Aliss zum Beispiel ein in Formalin schwebendes Gehirn, das als „‚Cerveau lent“ (A: 303) betitelt ist, sowie eine Installation aus einem Magen und einem Fuß, welche die Unterschrift „avoir l’estomac dans les talons“ (ebd.) trägt. Diese Perversion der im Prätext angewandten Strategien versinnbildlicht die Steigerung ins Grausame und Groteske, welche der Text zweiten Grades vornimmt. Neben den homonymen Charakteren, die in der transponierten Welt entsprechende Positionen einnehmen, sind korrespondierende Handlungselemente festzustellen, die meist ebenfalls die oben beschriebene Steigerung aufweisen. Die wichtigste Parallele stellt hier Aliceʼ/Alissʼ Übergang in eine andere Welt dar, die abweichenden Gesetzen gehorcht. Zu dieser Parallelwelt innerhalb des Erzähluniversums hat jeweils nur Alice/Aliss Zugang, während die übrigen Charaktere des Romans in einer den Gesetzmäßigkeiten der außertextuellen Welt nachempfundenen TAW leben, die mit Doležel (1998: 115) als natürliche fiktionale Welt bezeichnet werden kann. Es liegt somit genau wie im Prätext eine split ontology70 vor. Die gespaltene Weltordnung wird jedoch innerhalb des Erzähluniversums von Aliss nicht logisch über eine Hierarchisierung aufgelöst, so dass der Sekundärtext über ein fantastisches Element verfügt.71 Dennoch ist diese übernatürliche Komponente sehr viel reduzierter eingesetzt als im Prätext, in dem Verwandlungen üblich sind und sprechende Tiere, Blumen und Spielkarten auftreten. Gleichzeitig verspürt Aliss im Gegensatz zu ihrem Modell im Prätext eine numinose72 Angst. So schockiert sie die Tatsache, dass sie jeweils am gleichen Brachland ankommt, egal welche der Straßen von Daresbury sie bis zum Ende entlanggeht (vgl. A: 164). Weitere Entsprechungen betreffen das Teetrinken mit dem Mad Hatter und dem March Hare (vgl. AW: Kapitel VI), das in Alissʼ Einladung zum Tee bei Chair und Bone überführt und unter der Kapitelüberschrift „CHAIR ET BONE ou La torture, en tant que quête métaphysique, commence toujours par un thé“ (Hervorhebung im Original) behandelt wird. 70 Siehe zum Konzept der split ontology Kapitel 2.4.1 der vorliegenden Untersuchung. 71 Die hierarchisierende Rahmenhandlung in Alice in Wonderland interpretiert Kreutzer als eine „Rücksichtnahme auf realistisch-pragmatische Erwartungen“ (Kreutzer 1984: 62) des zeitgenössischen Lesepublikums. Für den zeitgenössischen Québecer Autor Sénécal sind diese nicht maßgeblich. 72 Helge Gerndt definiert das Numinose als „eine geheimnisvolle, übernatürliche Wirkkraft; etwas Jenseitiges von meist nur verschwommen wahrgenommener, unbestimmter Gestalt, das den religiös empfindenden Menschen erschreckt oder fasziniert“ (Gerndt 2002: 154).

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Korrespondenzen werden auch auf der Objektebene geschaffen. So taucht der Tränensee (vgl. AW: 27) in Form eines Spermasees (vgl. A: 121) auf, in dem beide Protagonistinnen zu ertrinken glauben, und die Micro- und Macro-Pillen73 stellen eine Abwandlung des Getränks und des Pilzes dar, den Alice im Prätext vorsätzlich konsumiert, um ihre Größe zu verändern, ohne jedoch abhängig zu werden. Die Bedeutung des Schlüssels, den Alice zu Beginn ihres Aufenthalts im Wunderland findet (vgl. AW: 16), wird ausgeweitet, denn die magischen Schlüssel von Mme Letendre werden für Aliss zu einem wichtigen Hilfsmittel, das sie mehrmals benutzt, um Zutritt zu abgesperrten Räumen zu erhalten (vgl. zum Beispiel A: 105, 422). Quantitativ an Bedeutung gewonnen hat zudem der Herzbube aus dem Prätext, der am Ende des Prätextes mit Hilfe des Kinderreims „The Queen of Hearts“ im Gerichtsverfahren angeklagt ist, Törtchen gestohlen zu haben. Der Beschuldigte in der entsprechenden Szene in Aliss ist Mario, in den sich Aliss verliebt hatte. Angeklagt, eine große Summe Geld geraubt zu haben, wird er zum Tode verurteilt, weil er dieses benutzt hat, um eine Rebellion gegen die Rote Königin anzuzetteln. Das Urteil wird sofort von den anwesenden Bürgern vollstreckt, die den auf eine Zielscheibe montierten Mario mit Pfeilen abschießen (vgl. ebd.: 506). Der récriture-Roman nimmt bezüglich des Gerichtsverfahrens ein Displacement vor, denn im Prätext wird kein Urteil vollstreckt, da die immer größer werdende Alice mit ihrem Ausspruch, „You are nothing but a pack of cards!“ (AW: 145), die Anhörung auflöst. Die Gerichtsverhandlung kommt zu einem abrupten Ende, da Alice anschließend aus ihrem Traum erwacht. Auch Aliss ruft – für sie selbst unverständlich – zu Beginn des Gerichtsverfahrens aus, „Qui se soucie de vos ordres! Vous n’êtes qu’un… qu’un jeu de cartes!“ (AW: 489), erzielt damit aber nicht die gleiche Wirkung. Diese – eventuell auf unbewusstem Wissen basierende – Äußerung verursacht einerseits eine metafiktionale Wirkung, deutet sie doch auf die Gemachtheit der Figur Aliss hin, die hier – zwar für sie selbst unverständlich, aber für den Leser deutlich – ein Modell kopiert. Gleichzeitig entsteht eine dramatische Ironie, denn der Leser versteht, warum Aliss diesen scheinbar absurden Ausruf tätigt. Sénécal spielt an dieser Stelle mit dem vermeintlichen Wissensvorsprung des Lesers, indem er ein Displacement einführt, 73 Die Wirkung der Pillen wird jeweils typographisch veranschaulicht, indem Großbuchstaben verwendet werden, sobald die Wirkung der Macros einsetzt, und umgekehrt die Schriftgröße verkleinert wird, wenn Aliss eine Micro zu sich nimmt (vgl. A: 121-128). Der Text zweiten Grades arbeitet an dieser Stelle mit einem visuellen Element, das in den Alice-Romanen durch die „funktionalen Illustrationen“ (Kreutzer 1985: 71) sehr viel stärker ausgeprägt ist.

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denn die Rote Königin, welche die unbewusste Anspielung zu verstehen scheint, antwortet: Oui, on est un jeu de cartes […]. Des cartes bizarres, inquiétantes, dont on peut pas se servir dans aucun jeu traditionnel… Des cartes qui font peur aux honnêtes joueurs, parce 74

qu’ils ont aucune criss

d’idée de la façon de jouer avec de telles cartes… (A: 490)

Anstatt in die Luft gewirbelt zu werden wie ihr homonymer Charakter aus dem Prätext, beschreibt die Rote Königin an dieser Stelle die Beschaffenheit der Einwohner von Daresbury und charakterisiert ihre Welt als seltsame und Furcht einflößende Parallelwelt zu derjenigen, aus der Aliss kommt. Insgesamt kann die letztgenannte Abweichung vom Handlungshergang einerseits als Beispiel für die veränderte Konfiguration des Romans herangezogen werden, verdeutlicht andererseits jedoch genauso wie die groteske Körperteileausstellung aber auch die Steigerung der Motive der Grausamkeit und des Todes, die in Through the Looking-Glass stärker akzentuiert sind als in Alice in Wonderland (vgl. Kreutzer 1984: 46). Zusammenspiel der Erzähluniversen: Zweifache Inversion des Nonsens Als eines der Hauptmerkmale der Alice-Romane definiert Kreutzer (1984: 71) das dialogische Erzählen, in dem sich der Nonsens entfalten kann. Nonsens äußert sich literarisch als „additive Inkongruenz eines Textes, der die Sinnerwartung ins Leere gehen lässt […]; [als] Inkongruenz pseudologischer Verknüpfungen“ (ebd.: 88). Wichtig ist der Aspekt der „kindliche[n] Übertreibung“ (ebd.: 89), durch den „menschliche Häßlichkeit und Brutalität, absonderliche und regelwidrige Verhaltensweisen zum erheiternden Blödsinn entschärft“ (ebd.) werden. Die Alice-Romane verfügen trotz ihres Nonsens-Gehalts, wie bereits angedeutet, über eine implizite Angst- und Todesthematik, die jedoch niemals völlig ausgeschöpft wird, denn weder die Protagonistin noch andere Figuren geraten jemals ernstlich körperlich in Gefahr. Zwar quittiert die Königin aus Alice in Wonderland jeglichen Ungehorsam mit „Off with his head“ (AW: 72), realisiert diese Drohung jedoch nie. Zudem wird die furchteinflößende Wirkung dadurch

74 In der Québecer Umgangssprache werden – zum Teil leicht abgewandelte – Begriffe aus dem kirchlichen und religiösen Bereich herangezogen, um zu fluchen. „Criss“ wird von Jésus Christ abgeleitet und in diesem Kontext als negativ konnotiertes Steigerungspartikel eingesetzt.

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endgültig entwertet, dass es sich bei der besagten Königin nur um die (Herz-)Königin eines Kartenspiels handelt, das Alice schließlich durcheinanderwirbelt. Anders verhält sich dies, wie gesehen, im Erzähluniversum des récritureRomans, in dem ein Schreckensregime herrscht, das den Tod mehrerer Einwohner fordert und aus dem sich Aliss schließlich nur schwer verletzt schleppen kann (vgl. A: 515). Die durchgehende Steigerung der Elemente des Prätextes ins Grauenhafte und die Pervertierung mehrerer Motive – bei gleichzeitiger Reduzierung der übernatürlichen Komponente – sind ein sehr wichtiges Distinktionsmerkmal im Vergleich zu Aliceʼ Traumwelten in den Prätexten. Neben dem unterhaltsamen und hintersinnigen Nonsens-Aspekt beinhaltet die Traumwelt gerade für den Leser von Through the Looking-Glass eine Kritik am Kapitalismus (vgl. Kreutzer 1984: 99). Beide Romanen Carrolls sind überdies eine Satire des viktorianischen Erziehungssystems: Die integrationsbereite Heldin, die mit kindlicher Vernunft ihre groteske Umwelt zu verstehen trachtet, stößt nur auf Kreaturen, die herrschsüchtig reagieren, ihre Schwächen hinter repressiven Ritualen verstecken und ihre Verrücktheit mit Autorität bemänteln. (Ebd.)

Für Alice stellt das Wunderland jedoch insgesamt einen harmlosen Ausflug aus ihrem Alltagsleben dar, mit dem sie ihre Schwester begeistert und den sie als wundervollen Traum in Erinnerung behält (AW: 147). Von einem harmlosen Ausflug, den Aliss in ihr „Wunderland“ Daresbury unternimmt, kann dagegen keine Rede sein. Vielmehr erscheint dieses fiktive Stadtviertel Montréals, das der Leser über das verwitterte Schild mit den Buchstaben „W D R D“ (A: 26) im Gegensatz zur Hauptfigur leicht mit dem Wunderland des Prätextes in Verbindung bringen kann, als Parallelwelt zur TAW, die nur solchen Figuren zugänglich ist, die nicht der Norm entsprechen. Abgesehen davon besteht eine sehr viel geringere Distanz zum anderen Teil des Erzähluniversums als zwischen den beiden Bestandteilen der Prätexte. Einziges übernatürliches Merkmal ist die verminderte Zugänglichkeit zwischen den Welten, denn Daresbury ist nur für alethic aliens erreichbar.75 Daresbury ist insgesamt als der Bestandteil der TAW dargestellt, der letztendlich keinen Platz für normale Menschen wie Aliss bietet, da er für Personen mit abnormen Neigungen oder sonstigen gravierenden Cha75 Im Epilog wird erklärt, warum Aliss die Grenze zwischen den Welten überschreiten kann, denn als sie nach Jahren noch einmal die gleiche U-Bahn-Linie nimmt, erscheint die Station, die den Eingang zu Daresbury darstellt, nicht, was sie mit der Aussage quittiert: „Aujourd’hui, je ne fuis plus rien.“ (A: 519) Ihr Wille nach einer Flucht aus der Normalität hatte ihr Zugang in die grausame Wunderwelt verschafft.

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rakterschwächen reserviert ist. Moralische Wertvorstellungen haben in diesem Teil der TAW keinen Platz. Diese Überlegung führt zum Einsatz der Bezüge auf außertextuell existierende Personen in Aliss, denn in Sénécals Roman wird der Autor des Prätextes mit Hilfe einer homonymen Figur zu den alethic aliens gezählt, die Zugang zu Daresbury haben. Anspielungen auf den Autor der Alice-Romane sind im Text zweiten Grades omnipräsent, denn der Vorname der Figur Charles sowie die Namen der Hauptstraßen, Lutwidge und Dodgson, ergeben zusammen den bürgerlichen Namen des Schriftstellers mit dem Pseudonym Lewis Carroll. Das imaginäre Stadtviertel Daresbury bezieht sich darüber hinaus auf die britische Heimatstadt des Schriftstellers. Die Figur Charles ist zudem ehemaliger Mathematikprofessor, was eine Anspielung auf Lewis Carrolls Tätigkeit als Mathematikdozent in Oxford darstellt. Auch das Stottern des englischen Autors wurde in der Figur Charles aufgenommen. Die zahlreichen Parallelen und Anspielungen führen zu der Annahme, dass es sich um ein fiktionales Alter Ego des Schriftstellers handelt. In der Darstellung dieser Figur begeht Sénécal eine weitere Steigerung ins Perverse, indem er Charles eine pädophile Neigung zuspricht, der dieser während der Massensexorgie schließlich unter größten Gewissensbissen auch nachgibt (vgl. A: 376f.). Zudem spielt Sénécal auf Lewis Carrolls Beziehung zu Alice Liddell, dem Vorbild für das Mädchen aus den Alice-Romanen, an, denn Charles hat im Erzähluniversum von Aliss wegen eines Sexskandals mit einer minderjährigen Alice seine Stelle in Oxford verloren (vgl. A: 276). Hier wird eine Interpretation des Bruchs zwischen Lewis Carroll und Alice Liddell durchgeführt. Insgesamt bezieht der Text zweiten Grades somit den Autor der Prätexte in fiktionalisierter Form mit in das neue Erzähluniversum ein und lässt Lewis Carrolls Umgang mit Mädchen – Kreutzer (1984: 53) weist in diesem Zusammenhang auf die Naivität des Schriftstellers hin, der sich den „Implikationen seines Verhaltens gegenüber Kindern […] wohl weitgehend unbewusst“ gewesen sei – in einem äußerst zweifelhaften Licht erscheinen. Abgesehen von der hier nicht zu überprüfenden Wahr- oder Unwahrheit dieser Anschuldigungen ist die metatextuelle Wirkung dieses Verfahrens hervorzuheben, das den Prätext somit in die Nähe einer pathologischen Ausdrucksform rückt und damit eine Rezeption als Kinderbuch weitgehend verhindert. Die auf diese Weise auch in Bezug auf die Autorfigur gesteigerte Perversion innerhalb der Abwandlung des Wunderlands ist der Stellung von Daresbury innerhalb des Erzähluniversums geschuldet, die oben bereits angedeutet wurde. Denn in Bezug auf die Konfigurierung orientiert sich die Handlung im fiktiven Daresbury sehr viel stärker am stringenten und zielgerichteten Aufbau des zweiten Alice-Romans. Schon der Name ‚Chess‘ bietet einen ersten Hinweis, referiert

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er doch auf das Erzähluniversum von Through the Looking-Glass, in dem Alice nicht auf Spielkarten, sondern auf Schachfiguren trifft. In LG fungiert der Verlauf eines Schachspiels, an dem Alice als weißer Bauer teilnimmt, als unterliegende Struktur der Handlung. Das Inhaltsverzeichnis des Romans ist daher einem Schachspiel nachempfunden, in dem die Kapitel den einzelnen Zügen entsprechen, die zum Sieg führen: „White Pawn (Alice) to play, and win in eleven moves“ (LG: 5). In der Übertragung auf Aliss stellt sich heraus, dass auch die junge Ausreißerin in Daresbury wie eine Schachfigur fremdbestimmt ist, denn die Königin erlegt ihr verschiedene Proben auf, bevor sie in den Palais vorgelassen wird. Eigenständigkeit erreicht Aliss beim letzten Test, der Bestrafung der SadomasoAnhänger, bei der es ihr schließlich nicht gelingt, ihre Werte zu verraten. Erst am Ende des Romans wird, wie gezeigt, mit Hilfe der Gerichtsszene Alissʼ Suche als Suche zu sich selbst enthüllt. Die stark zielgerichtete Konfiguration stellt eine Inversion der Makrostruktur von Alice in Wonderland dar, denn die Bestandteile der Ereigniskette des ersten Alice-Romans, das heißt die Begegnungen mit verschiedenen Bewohnern des Wunderlandes, sind fast austauschbar. Doch auch im Vergleich zum zweiten, stärker strukturierten Alice-Roman sind Abweichungen festzustellen. Zunächst ist die teleologische Ausrichtung des Plots bei Sénécal zu nennen, dessen Einzelbestandteile sich durch das stark strukturierende Ende zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen. Im Zusammenhang damit ist die Veränderung der Protagonistin hervorzuheben, die im Laufe des Romans eine deutliche Entwicklung von der rebellischen Pubertierenden zur weitgehend angepassten jungen Frau durchmacht; untermauert wird die Initiationswirkung der Ereignisse der Handlungskette im Epilog. Insgesamt kommt somit der Parallelwelt in Aliss eine andere Funktion zu als derjenigen in den Alice-Romanen. Aliceʼ Ausflüge ins Wunderland und hinter den Spiegel sind deutlich spielerischer Natur und setzen damit das von Utilitarismus und Rigidität geprägte Gesellschaftssystem des viktorianischen Englands zumindest zeitweilig außer Kraft beziehungsweise erlauben durch die hyperbolische Überspitzung sogar eine Kritik am bestehenden Wertesystem (vgl. Kreutzer 1984: 99). Im Text zweiten Grades bestärkt der Aufenthalt in der abgewandelten Version des Wunderlands Aliss dagegen, ihr bisheriges Leben wieder aufzunehmen, indem ihr vor Augen geführt wird, in welcher Gesellschaft ihr Platz ist. Darüber hinaus wird in der Figur des Philosophie-Lehrers, Lévy, ein positiver Vertreter des Erziehungssystems eingeführt, der schließlich in seiner Einschätzung bestätigt wird. Es tritt somit eine Inversion in Bezug auf die Positionierung des Textes zum bestehenden Bildungssystem ein, das im Roman zweiten Grades positiv bewertet scheint. Die

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Einsicht, die Aliss dazu bringt, sich als Alice wieder in die „normale“ Gesellschaft der TAW einzufügen, kann daher im Vergleich zum Prätext, der mit dem Wunderland einen Gegenentwurf zur TAW konzipiert, als konservative Moral gelesen werden – eine Moral, die auch vom Leser, der durch die Märchenformeln in seiner Rezeption gelenkt ist, erwartet wird. Sénécal spielt insgesamt mit der Hypothesenbildung des Lesers, indem er Intertextualitätssignale mit einem Displacement kombiniert. Da bei der auf einem top-down processing beruhenden Lektüre die Grausamkeit und Bedrohlichkeit des neuen „Wunderlandes“ nicht erwartet wird, akzentuiert das virtuelle Mitlesen des Prätextes diese Pervertierungen, wodurch der andere – „normale“ – Teil der TAW von Aliss umso positiver und dadurch seine Moral umso plausibler erscheinen.

4.2 D IE V ERLAGERUNG DER L EKTÜRE IN DAS E RZÄHLUNIVERSUM : R ÉCRITURE ALS FIKTIONALISIERTE R EZEPTION Beim zweiten Typ der récriture, der im vorliegenden Kapitel näher beleuchtet wird, kann man von einer innerhalb des neuen Erzähluniversums reflektierten, jedoch nicht realisierten récriture sprechen. Indem der Prätext in materieller Form Eingang in das neue Erzähluniversum findet und dort von Figuren gelesen wird oder wurde, ergibt sich innerhalb des Textes zweiten Grades eine Verdoppelung der ersten Komponente des récriture-Prozesses, der Lektüre. Die fiktionalisierte Lektüre meint dabei nicht nur die Darstellung des Leseprozesses innerhalb des neuen Erzähluniversums, sondern auch die Abbildung des Rezeptionsprozesses und seiner Folgen, die sich textintern aber nicht in einem Schreibprozess äußern, wie das beim dritten Typ der Fall wäre. Die Grenze zu Romanen, die lesende Figuren portraitieren, ohne das Erzähluniversum eines spezifischen Prätextes zu rekonstruieren, kann anhand der Kriterien der Strukturalität und der Selektivität gezogen werden.76

76 Eine nicht mehr als récriture zu wertende Form dieser Aneignung eines literarischen Textes findet sich in Jacques Poulins sehr bekanntem Roman Volkswagen blues (1984). Der Schriftsteller Jack Waterman und die Mestizin Grande Sauterelle wandeln in Poulins road novel unter anderem auf den Spuren von Jack Kerouacs On the Road. Es ergibt sich eine ähnliche Plotkonfiguration, die von einer Suchbewegung gekennzeichnet ist. Dennoch ist die bedeutendste Parallele biographischer Natur, denn Jacks obsessive Suche nach seinem großen Bruder Théo ist mit Kerouacs literarischer Ver-

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Textrezeption ist in diesem Zusammenhang ein weit zu fassender Begriff, denn die Vertrautheit einer Figur mit einem Prätext muss nicht unbedingt die Darstellung seiner Lektüre im neuen Erzähluniversum voraussetzen – so kennen die picknickenden Frauen in Louky Bersianiks Le pique-nique sur l‘Acropole77 Platons Bankett und können direkt Bezug auf die dort getätigten Aussagen nehmen, da dieses innerhalb ihrer TAW angesiedelt ist. Im Gegensatz zum real existierenden Leser und Autor des Textes zweiten Grades müssen sie als fiktionalisierte Zeitgenossinnen die verschriftlichte Ausgabe daher nicht unbedingt gelesen haben. Im Normalfall nimmt die Textrezeption jedoch innerhalb des neuen Erzähluniversums die Form der Lektüre des jeweiligen Prätextes an, das heißt der Primärtext ist als Buch Bestandteil der TAW zweiten Grades. Signale für die Wiederaufnahme eines Prätextes finden sich daher im Gegensatz zum ersten Typ nicht nur im Paratext und in der Wiederkehr von Elementen aus dem Erzähluniversum, sondern auch textintern in Form von Zitaten oder expliziten Verweisen, so dass die Kommunikativität der intertextuellen Beziehung tendenziell höher ist als in der oben dargestellten ersten Form der récriture. Gleichzeitig ergibt sich eine gesteigerte Metaisierung, denn die Figuren können in diesem Fall eine Reflexion über den Prätext durchführen und die Ereignisse auf die eigenen Erlebnisse und Handlungen, die ihnen im Erzähluniversum des Textes zweiten Grades widerfahren, übertragen. Innerhalb des neuen Erzähluniversums können die rezipierten Texte verschiedene Funktionen einnehmen. Angeklungen ist bereits die Möglichkeit der Lektüre eines Textes als sinnstiftender Ratgeber in schwierigen Lebenslagen. In diesem Sinne versteht Aliss in Sénécals gleichnamigen Roman78 Nietzsches Also sprach Zarathustra und führt dabei gleichzeitig vor, wie leicht dieser Text für die eigenen Zwecke instrumentalisiert werden kann. François Désalliers Un monde de papier gebraucht eine ähnliche Strategie der Bezugnahme auf zwei dominierende Prätexte. In diesem unter 4.2.2 zu betrachtenden Roman geht die

arbeitung des Todes seines Bruders Gérard in Verbindung zu bringen (vgl. Chassay 1984: 45). Die zahlreichen intertextuellen Verweise auf amerikanische Literatur in Poulins Roman lassen ihn insgesamt weniger als eine Interaktion mit einem spezifischen Erzähluniversum denn als eine Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Schreiben an sich erscheinen. Nicht umsonst wurde Poulins Roman in der Kritik als „le ‚grand roman des Amériques‘“ (Morency 1994: 213, zitiert nach Boivin 1996: 355) aus Québec bezeichnet. 77 Siehe hierzu Kapitel 3.6 der vorliegenden Untersuchung. 78 Siehe hierzu Kapitel 4.1.4 der vorliegenden Untersuchung.

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Funktion des Faust-Intertextes jedoch sehr viel weiter als diejenige eines Indikators für den Zustand des Protagonisten. Die häufigste Konstellation ist diejenigen der Identifikation mit einer der Figuren aus dem Prätext. Wenn eine literarische Figur des Textes zweiten Grades einer Figur aus dem Prätext nacheifert, kann eine vergleichende Betrachtung zwischen dem mentalen Modell einer Figur, das im Text zweiten Grades rekonstruiert wird, und seiner Ausprägung im Prätext durchgeführt werden. Somit können die identité intellectuelle79 und ihre Aktualisierung sowie die identité diégétique in Bezug auf die beiden Erzähluniversen gegenübergestellt werden. Dass dieser psychologische Prozess bis zur Annahme einer fremden Identität in Form eines psychopathologischen Verdrängungsmechanismus führen kann, lässt sich an Robert Lalondes Roman L’Ogre de Grand Remous aufzeigen. Die komplexe Wiederaufnahme eines Märchens im Roman bietet zudem metatextuelle Reflexionen über die Beschaffenheit von Erzähluniversen und wird daher im Kapitel 4.2.2 ausführlicher besprochen. Erdenklich ist auch, dass ein literarisches Modell herangezogen wird, um den eigenen Lebensstil zu rechtfertigen, wie anschließend im Kapitel 4.2.3 anhand von Alain Gagnons Almazar dans la cité zu illustrieren sein wird. Dieser Roman bietet außerdem eine Reflexion über den Status des Originalwerks an, die schon in 4.1.2 bei der Untersuchung des Textpaares von Dany Laferrière angeklungen war. Eine kritische, ideologisch geprägte Auseinandersetzung mit einem Prätext, wie sie bei Louky Bersianiks Le pique-nique sur l’Acropole nachzuweisen war, findet sich im Zeitraum ab 1980 nur in Ansätzen. Das bekannteste Beispiel für diese Ausrichtung der récriture stellt dabei Monique LaRues Roman Copies conformes (1989) dar, der Dashiell Hammetts The Maltese Falcon (1930), einen Klassiker des hard boiled80 Detektivromans, wieder aufnimmt. Copies conformes wurde bereits zum Gegenstand zahlreicher Analysen, wobei auch der récriture-Charakter des Romans eingehend kommentiert wurde (vgl. vor allem Gould 1993), so dass das anschließende Kapitel 4.2.1 sich auf eine kurze Synthese bisheriger Einzelanalysen und eine Einordnung in die erarbeitete Typologie beschränkt.

79 Siehe zum Unterschied zwischen der intellektuellen und der diegetischen Identität literarischer Figuren nach Aranda 2007: 169, Kapitel 2.5 der vorliegenden Studie. 80 Zur Subgattung des hard-boiled detective novel, die einen hartgesottenen Ermittler in einem bedrohlichen und von Korruption geprägten Stadtumfeld in Szene setzt, siehe zum Beispiel Hamilton 1987: 26ff.

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4.2.1 Copies conformes: Die Unmöglichkeit der femme fatale Karen Gould betont in ihrer Analyse von Copies conformes beispielsweise die ausgeprägte Selektivität, Strukturalität und gerade die Dialogizität der Wiederaufnahme von Hammetts Klassiker, ohne allerdings Pfisters Kriterien anzulegen: En adoptant un point de vue ironique et une critique toute contemporaine du récit américain, LaRue garde ses distances, tout en s’inspirant de son célèbre modèle pour raconter une autre histoire. (Ebd.)

Das metatextuelle Potenzial von LaRues Roman äußere sich als „réécriture81 québécoise, féministe et postmoderne du polar américain“ (ebd.: 27). In ihrer Interpretation von Copies conformes als postmodernes Werk betont Gould die fruchtbare Aneignung der populären Gattung Kriminalroman, die einem elitären Literaturverständnis entgegenstehe. Hammetts Klassiker stößt nach Meinung mehrerer Kritiker eine Reflexion über die Ambivalenz der Wahrheit an, die LaRue in ihrer récriture betont (vgl. ebd.: 28, Reis 2003: 72). Im Zentrum der von der Québécoise Claire Dubé erzählten Intrige des Romans steht die Debatte über die Informationsfreiheit und das Urheberrecht, denn Ron O’Doorsey, Besitzer des IT-Unternehmens The Maltese Falcon inc., streitet mit dem Ingenieur Diran Zarian über die Möglichkeit, eine Diskette zu kopieren, auf der ein völlig neuartiges Übersetzungsprogramm gespeichert ist, das Claires Mann während seines Aufenthaltes in San Francisco entwickelt hat: Ron O’Doorsey accuse Diran Zarian, le mari de sa sœur Brigid, de travailler pour l’armée et d’avoir transformé sa femme en une poupée dominée par l’anorexie nerveuse. Zarian, quant à lui, voit chez Ron et Bob Mason, avocat collaborateur du mari de Claire, de grands pirates informatiques. (Reis 2003: 63)

Claire gelingt es zwar schließlich, die Diskette mit dem geistigen Eigentum ihres Mannes wiederzuerlangen, doch ist sie bereits kopiert worden und damit weitgehend wertlos – genauso wie der titelgebende Malteser Falke, den der Detektiv Sam Spade im Prätext findet. Gleichzeitig stoßen diese Erfahrungen einer „histoire de reproductions et de simulacres“ (ebd.: 64) bei Claire eine Reflexion über 81 Gould bevorzugt die in der vorliegenden Arbeit für die dominant textgenerative Dimension des Wiederschreibens reservierte Schreibweise und setzt den Terminus réécriture ohne weiterführende Erklärung als Oberbegriff für die Wiederaufnahme eines Textes durch und in einem anderen ein.

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die Relativität der Wahrheit sowie über ihre eigene Identität an, denn nachdem sie sich in einer Affäre mit Diran Zarian kurz dem amerikanischen Freiheitsgefühl hingibt, entscheidet sie sich doch für eine Rückkehr in das vertraute frankophone Québec. Gould (1993: 34) hebt den Kontrast zwischen der zweifelnden Mutter aus dem sekundären Erzähluniversum, Claire Dubé, und dem kalt kalkulierenden, völlig unabhängigen Detektiv aus dem primären Erzähluniverum, Sam Spade, hervor. LaRues Feminisierung des Erzähluniversums äußert sich einerseits in der erzählerischen Perspektive. Andererseits lässt sie sich darüber hinaus in einer metatextuellen Kritik an der Darstellung von Frauen im amerikanischen Kriminalroman ablesen. Wichtigstes Instrument ist dabei die komplette Identifikation von Brigid O’Doorsey – deren Bruder Ron ein begeisterter Leser von Hammetts Roman ist – mit der undurchschaubaren femme fatale Brigid O’Shaugnessy aus dem Prätext.82 Dans le personnage de Brigid O’Doorsey, LaRue nous donne une parodie assez effrayante de la dangereuse femme-mystère de Hammett, car la Brigid de Copies conformes se construit une identité facsimilée, en se déguisant comme Brigid O’Shaughnessy et en mimant à tous moments ses gestes. C’est dire qu’elle se voue entièrement à son rôle de double fictif et à son désir de devenir un simulacre. (Gould: 1993: 32)

Die Parodie meint hier eine kritische Distanzierung anhand einer grotesken Übersteigerung von Brigid O’Shaugnessy, denn die alternde Brigid O’Doorsey aus Copies conformes kann ihrem Ideal immer weniger entsprechen. Im Rückschluss entlarvt LaRue mittels dieser Strategie das Bild der mysteriösen femme fatale aus dem Prätext als künstlich. Gleichzeitig integriert LaRue den mystifizierenden Umgang mit dem Autor in ihren récriture-Roman, indem sie das alltägliche San Francisco, das Claire entdeckt, mit demjenigen der literarischen Spaziergänge der „Amis de Dashiell Hammett“ stark kontrastiert und dadurch banalisiert (vgl. Gould 1990: 30). Das Erzähluniversum des Prätextes wird als unrealistisch entlarvt und im Rückschluss einige Charakteristika der Subgattung hard boiled detective fiction betont: Neben dem hartgesottenen männlichen Protagonisten sind dabei die Reduzierung der Frauenfiguren auf die Attribute der femme fatale sowie das von Gewalttätigkeit, Korruption und Misstrauen geprägte Umfeld, in dem sich die Figuren bewegen, anzuführen. 82 Gould (1993: 31ff.) zeigt auf, dass LaRue die Figurenkonstellation in abgewandelter Weise wiederaufnimmt, wobei sich die Transposition der weiblichen Figuren besonders tiefgreifend gestaltet.

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Insgesamt bleibt ein derart subversiver Umgang mit einem Prätext, der in LaRues Fall insbesondere die Darstellung der Frau bei Hammett betrifft, für den Zeitraum ab 1980 jedoch, wie erwähnt, die Ausnahme. So liegt der Schwerpunkt bei den folgenden Analysen auf der Vielfalt der metatextuellen Ausprägungen der récriture des zweiten Typs. 4.2.2 Un monde de papier: Faust als Ausweg aus dem „Wunderland“ der Frauenzeitschrift Einführung François Désalliers’ Roman Un monde de papier stellt eine weitere récriture von Lewis Carrols Alice in Wonderland dar. Im Vergleich zu Sénécals im vorangegangenen Kapitel behandelten Roman, Aliss, besteht eine größere Distanz zum Prätext. Gemeinsam ist den beiden kreativen Verarbeitungen der Alice-Romane der Bezug auf einen zweiten Prätext – bei Sénécal Nietzsches Also sprach Zarathustra und in Désalliers’ Fall Goethes Faust (1978 [1808/1832]). Die beiden dominierenden Alice-Prätexte nehmen im Text zweiten Grades jeweils eine unterschiedliche Stellung ein und zeigen sehr anschaulich den Übergang von der ersten zur zweiten Spielart der récriture, in der die fiktionsinterne Lektüre eine große Rolle spielt und innerhalb des Erzähluniversums wirksam wird. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass genauso wie in Aliss auch in Un monde de papier eine Verlagerung hinsichtlich der Zielgruppe stattfindet, da sich der Roman ausschließlich an erwachsene Leser richtet. Die Platzierung im Erwachsenensegment des Buchmarktes lässt sich mit der Handlung des Romans begründen. Die Handlung von Un monde de papier setzt damit ein, dass sich der Schauspieler Henri Dupuis auf dem Weg zu einer Theaterprobe an einem Regentag in einem Kiosk unterstellt. Er blättert in einer Frauenzeitschrift und betrachtet eine Werbeanzeige der Marke Vichy, auf der ein Fotomodell abgebildet ist, das aus ihm zunächst unerklärlichen Gründen eine starke Anziehungskraft auf ihn ausübt. Plötzlich findet er sich im Inneren der Frauenzeitschrift wieder und wird von einem jungen Mann, der sich ihm als Hugo Boss vorstellt, in einem Mercedes chauffiert, wobei ihm erklärt wird: „Vous êtes tombé à la mauvaise page. Ici, c’est la page dix. […] Le visage que vous recherchez est à la page onze. Nous y allons.“ (MP: 10) Dort angekommen nimmt er ein Gespräch mit der jungen Frau auf, die ihm zunächst aufgefallen war und die sich ihm als Vichy präsentiert. Die Tatsache, dass er nur ihr Gesicht sieht, während ihr Körper fast durchsichtig erscheint, lässt ihn an Alice im Wunderland denken: „Je lui parlai du chat qui disparaissait peu à peu pour n’être plus à la fin qu’un sourire, mais elle ne comprenait pas.“ (Ebd.: 12)

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Auf der Suche nach seiner Identität, die er seit seinem Eintritt in die Frauenzeitschrift vergessen hat, und nach einer Erklärung für die Tatsache, dass er in ein Hochglanzmagazin eintreten konnte, überschreitet er festgeschriebene Regeln dieser Welt, indem er beispielsweise einem abgemagerten Fotomodell zu essen gibt (vgl. ebd.: 29) und eine Interview-Anfrage über Orgasmen ablehnt (vgl. ebd.: 31). Seine störenden Eingriffe in die Ordnung der Zeitschriftenwelt, in der alle Modelle an ihren jeweiligen Seiten zu verharren haben, handeln ihm Beschwerden bei der Geschäftsleitung ein, die innerhalb der Zeitschrift als Ogre, das heißt als menschenfressendes Monster, bekannt ist. So erläutert ihm Uma, ein weiteres Fotomodell, das er kennenlernt: „L’Ogre a le pouvoir de vie ou de mort sur tous les habitants de la revue, tu ne le savais pas?“ (Ebd.: 40) Während seiner Suche konstatiert Henri Eingriffe der Außenwelt in die Zeitschrift, bemerkt er doch für den Bruchteil einer Sekunde eine riesige Hand, „une main gigantesque qui saisissait la revue“ (ebd.: 53). Auch wenn die Fotomodelle ihm zunächst nicht glauben, dass sie Bewohner einer Zeitschrift sind, die soeben an eine Kundin verkauft wurde, flüchten Uma und zwei weitere Modelle, Audrey und Éric, mit dem Neuankömmling in ein Chalet aus einer anderen Werbeanzeige, wo Henri aufgegriffen wird, während seine Begleiter fliehen können. Er sieht sich nun vom Oger gezwungen, seine Komplizen aufzuspüren und an ihre Plätze beziehungsweise Seiten zurückzubringen. Mit einer langen Rede über philosophische Fragen gelingt es ihm nach mehreren Versuchen, seine Bewacher einzulullen, zu entkommen und seine Gefährten wiederzufinden. Doch muss er erfahren, dass Hugo inzwischen auf grausame Weise getötet wurde. Ihre Flucht führt die Übriggebliebenen über eine Werbeanzeige eines Reiseveranstalters nach Ägypten, wo sie machtlos zusehen müssen, wie Vichy von den Wachmännern des Ogers verbrannt wird. Nachdem sie herausfinden, dass Vichy in Wirklichkeit Marguerite hieß, zieht Audrey die Parallele zur französischen Übersetzung von Goethes Drama: „Marguerite c’est dans Faust, et Faust s’appelle Henri.“ (Ebd.: 121) Diese Feststellung löst im Protagonisten einen Erinnerungsprozess aus – er ist Schauspieler, heißt Henri Dupuis und verkörpert in der laufenden Theatersaison (Heinrich) Faust. Vichy-Marguerites Gesicht hatte ihn bei seinem Blick auf die Werbeanzeige im Kiosk so fasziniert, weil es ihn an Gretchen erinnerte. Diese Parallele bringt ihn auf den Gedanken, dass der Ausweg in Goethes Faust zu finden sei: „Il nous faut trouver ce livre!“ (Ebd.: 122) Es gelingt ihnen anschließend zwar, das Buch in einer Werbeanzeige der Grande Bibliothèque von Montréal zu stehlen, doch werden sie dort von den Wachmännern des Ogers festgenommen. Kurz darauf werden die Figuren gewaltsam durcheinander gewirbelt, als die Zeitschrift in einem weiteren Einwirken der Außenwelt in den Abfall geworfen, in einer Mülldeponie abgeladen und dort verbrannt

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wird. Während das Feuer die Zeitschrift und die darin enthaltene Welt langsam verschlingt, entschließen sich die Fotomodelle gegen die Flucht und für die Ermordung des Ogers, da sie sich ihres Status als „personnages de revue“ (ebd.: 153) inzwischen durchaus bewusst sind und keinen anderen Ausweg sehen. Nachdem sie den Oger und seine Frau getötet haben, geraten sie allerdings in eine Schießerei, die nur Uma und Henri überleben. Den rettenden Gedanken hat schließlich Henri, der in einem Wäldchen aus einer Werbeanzeige dasjenige aus einer Faust-Passage wiedererkennt und dort ein Floß findet, mit dem er Uma und sich selbst vor den einströmenden Wassermassen in Sicherheit bringen will. Die Lage erscheint jedoch aussichtlos, da er Uma aus den Augen verliert und alleine vor sich hindümpelnd vor Erschöpfung einschläft. Als er das Bewusstsein wiedererlangt, befindet er sich erneut am Zeitungskiosk, wo er aus einem längeren Schlaf zu erwachen scheint. Als ihn eine vorbeigehende Frau nach der Uhrzeit fragt, erkennt er in ihr Uma wieder. François Désalliers führt insgesamt genauso wie Patrick Sénécal in Aliss eine Transposition durch, indem die Geschichte des Weltenübergangs aus dem viktorianischen Großbritannien in das Québec des beginnenden 21. Jahrhunderts versetzt wird. Durch zahlreiche Referenzen auf die Grande Bibliothèque in Montréal sowie auf nordamerikanische Produkte wie beispielsweise den Dodge Caravan (vgl. ebd.: 78) oder Cottonelle (ebd.: 159) lässt sich die TAW als fiktionale Entsprechung der Provinz Québec bestimmen. Wie die Inhaltsangabe gezeigt hat, werden die beiden genannten Primärtexte sehr unterschiedlich verwendet, denn nur Faust wird innerhalb der zweiten Welt des aus einer split ontology83 bestehenden Erzähluniversums von den Figuren rezipiert. Im Folgenden wird zunächst der Umgang mit dem Prätext von Lewis Carroll analysiert, bevor in einem zweiten Schritt die Funktion des Goethe’schen Prätextes in Un monde de papier beleuchtet wird. Alice in Wonderland als Kontrastfolie der Papierwelt Die Reisen von Alice ins Wunderland beziehungsweise durch den Spiegel bilden die unterliegende Folie von Désalliers’ Roman, denn der Protagonist erlebt einen ähnlichen Übergang von seiner gewohnten Umgebung in eine Welt, deren Gesetzmäßigkeiten nicht denjenigen der textuell aktualisierten Welt entsprechen, aus der er stammt. Dennoch ist das Zusammenspiel der beiden Welten in diesem zweigeteilten Erzähluniversum anders gestaltet als im Prätext. Während Carroll, wie bereits erwähnt, sowohl in Alice in Wonderland als auch in Through the Looking-Glass 83 Siehe hierzu Kapitel 2.4.2 der vorliegenden Untersuchung.

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eine klare Hierarchisierung durchführt, indem er Aliceʼ Abenteuer jeweils als Träume und somit als untergeordnete F-Universen ihrer Figurendomäne darstellt, ist die Trennung in Désalliers’ Verarbeitung nicht so klar zu ziehen. Die Tatsache, dass eine Figur aus der Zeitschrift, Uma, am Ende des Romans in die TAW überführt wird, ist als Grenzüberschreitung zwischen den beiden Welten zu sehen, welche einer Interpretation der Zeitschriften-Episode als Traum Henris widerspricht. Einschränkend ist jedoch einzufügen, dass das Wiedererkennen allein aus Henris Perspektive geschildert wird, der zwar im Blick seines Gegenübers Überraschung und Freude zu erkennen glaubt, doch trotzdem endet der Roman mit Henris Ausruf „Uma!“ (MP: 183), ohne dass die Reaktion der Angesprochenen beschrieben würde. In beiden Fällen ist ein metafiktionales Verfahren zu konstatieren, denn wenn die Frau mit Uma identisch ist, besteht innerhalb des Erzähluniversums ein Verstoß gegen Naturgesetze, der nur fiktionsintern möglich ist. Der gesamte Text entlarvt sich somit als fiktionales Konstrukt. Ist die Frau, die Henri zu erkennen glaubt, nicht Uma, werden die Erlebnisse in der Zeitschrift dadurch als F-Universum, das heißt als der TAW untergeordnetes Phantasiegebilde aus Henris Vorstellung entlarvt, das heißt die Metafiktion bezieht sich in diesem Fall dominant auf den Teil des Textes, der das F-Universum erzählt, auch wenn die unklare Identitätszuschreibung in jedem Fall den unabgeschlossenen und damit Konstruktcharakter des Erzähluniversums unterstreicht. Insgesamt stellt Désalliers anhand dieser angedeuteten Ebenenüberschreitung den unterschiedlichen ontologischen Status der Figuren aus der Zeitschrift beziehungsweise aus den beiden textuell aktualisierten Welten nicht nur an dieser Stelle in den Vordergrund. Auch die Eingriffe der Ereignisse der Außenwelt auf die Welt innerhalb der Zeitschrift zeugen von einem Zusammenspiel der Welten und können nicht vollständig logisch erklärt werden. In Anbetracht der Unsicherheit, was die Beziehung der beiden Welten angeht, wird im Folgenden von einer Ausgangswelt Henris als TAW1 und der Zeitschriftenwelt als TAW2 ausgegangen, die nicht völlig voneinander abgeschottet sind. Der Kauf der Zeitschrift durch eine Kundin, das Umblättern der Seiten und das anschließende Wegwerfen und Vernichten in der Müllverbrennungsanlage sind innerhalb der Zeitschrift durchaus spürbar. Unsicherheit besteht auch darüber, inwiefern die Vorgänge innerhalb der Zeitschrift von der Leserin in der TAW1 wahrgenommen werden. Ungeklärt bleibt zudem, welcher der beiden ontologischen Ebenen der Oger zuzuordnen ist. Als Herr über die Figuren der Zeitschrift setzt er seine Macht mit Hilfe gewalttätiger Gehilfen durch, die jeglichen Regelverstoß ahnden. Ordnungsprinzip ist, dass Mannequins an ihrem Platz zu verbleiben haben, während sich das administrative Personal frei bewegen kann (vgl. MP: 20). Zu letzteren gehört beispielsweise die Frau des Ogers, die sowohl

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die Chefredakteurin der Zeitschrift als auch eine Figur innerhalb der TAW2 zu sein scheint und daher von den nach Rache dürstenden Fotomodellen umgebracht werden kann (ebd.: 161). Auch wenn somit der Status als fiktive Figur ersten oder zweiten Grades teilweise nicht eindeutig geklärt werden kann, entsteht insgesamt der Eindruck einer einseitigen Einflussnahme, welche die TAW2 zu einer der TAW1 untergeordneten Welt macht. Dabei sind sich die Figuren der TAW2 zunächst nicht bewusst, dass es eine Welt außerhalb der ihren gibt, glauben sie doch bis auf Hugo nicht an eine Möglichkeit, aus der Zeitschriftenwelt entfliehen zu können. Ihre graduelle Befreiung von dem strikten Regelsystem der TAW2 lässt sich dabei an ihrer veränderten, allmählich freieren Kommunikationshaltung ablesen. Sind die Gespräche mit Henri zunächst mit aus dem Zusammenhang gerissenen Werbeargumenten durchsetzt, welche die Fotomodelle herunterbeten,84 entwickeln sich später Streitgespräche, an denen sich eine wachsende Eigenständigkeit der Figuren abzeichnet. Diese Entwicklung steht in einem Gegensatz zu Aliceʼ Abenteuern, denn die Bewohner des Wunder- beziehungsweise des Spiegellandes sind trotz Aliceʼ Eindringen in ihre Welt keinerlei Veränderungen unterworfen. Das Zusammenspiel der Welten unterscheidet sich somit nicht nur darin, dass die Zugänglichkeit nicht vollkommen geklärt werden kann, sondern zudem in der Konfiguration des Erzähluniversums. Die Interaktionen zwischen Alice und den übernatürlichen Figuren sind als Aneinanderreihung gestaltet, die zwar in der Fortsetzung Through the Looking-Glass durch das unterliegende Schachmotiv eine gewisse Strukturierung erhält, doch verfügt der Prätext nicht in dem Maße über eine logisch-kausale Handlungsentwicklung wie Un monde de papier. Désalliers verwandelt die relativ unverbunden nebeneinander stehenden Ereignisse des AlicePrätextes in einen teleologischen Plot. Ausgangskonflikt ist ein Defizit in der Wissenswelt des Protagonisten, der sich unfreiwillig ohne Erinnerung in einer ihm völlig fremden Welt wiederfindet. Gepaart ist diese unvollständige Wissenswelt in Un monde de papier mit dem Wunsch, möglichst schnell einen Ausweg aus TAW2 zu finden, wodurch sich der Text zweiten Grades vor allem vom zweiten Alice-Roman unterscheidet, in dem Alice die Spiegelwelt vorsätzlich betritt. 84 So verhält sich Vichy während des ersten Treffens mit Henri wie die Werbefigur, die sie verkörpert, indem sie im Gespräch unvermittelt Werbesprüche einstreut: „[…]. ‚J'aimerais savoir ce que tu fais là, c’est tout. L'Adénoxine prouve scientifiquement son efficacité sur les rides.‘ ‚Pardon?‘ ‚La santé passe aussi par la peau‘, me réponditelle. À quoi elle ajouta: ‚L'acné est un problème dermatologique fréquent qui débute habituellement à l'adolescence.‘“ (MP: 12)

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Das Nonsens-Element aus Aliceʼ Abenteuern findet sich allenfalls in den bereits erwähnten deplatzierten Werbesprüchen sowie in den verdrehten Sprichwörtern wieder, welche die Fotomodelle zum Besten geben. Die aus dem Zusammenhang gerissenen Werbesprüche, welche zunächst jedes Gespräch unmöglich machen, verdeutlichen, dass die Figuren der TAW2 einer Indoktrination unterworfen sind, von der sie sich im Laufe des Textes langsam befreien. Gleichzeitig ist die Verwendung der Werbesprüche metasprachlich zu werten. Denn auch wenn insgesamt die im Prätext enthaltene Reflexion über die Sprache im Sekundärtext weniger präsent ist, werden die aus dem Zusammenhang gerissenen und inkantatorisch wiederholten Werbeslogans als sinnleere Sprachhülsen dargestellt. Während die Wortspiele und das häufige wörtliche Auffassen übertragener Bedeutungen im Prätext spielerisch die Unzuverlässigkeit der Sprache veranschaulichen und Aliceʼ Werte- und Denksystem durcheinander bringen, scheint das Verdrehen von Wortbedeutungen im Text zweiten Grades funktional eingesetzt zu werden. Als der Modedesigner Kruger Audrey aufgrund ihrer Gewichtszunahme entlässt, klagt er Henri an, Schuld an ihrer neuen Fülle zu haben: „Vous l’avouez! C’est vous qui l’avez engrossé!“ (MP: 36) Als Henri ihn anschließend auf seinen Fehler aufmerksam macht, erkennt Kruger nicht die Abweichung zwischen engrossé und engraissé – Audreys mit tonloser Stimme vorgebrachte Bekräftigung, dass durchaus ein Bedeutungsunterschied bestehe (vgl. ebd.: 37), kann als implizite Prolepse gedeutet werden, spielt ihre Reaktion doch auf ihre unfreiwillige Abtreibung (vgl. ebd.: 110) an, von der sie erst später im Text berichtet. Die Lexikfehler der beiden Bewacher Henris, die beispielsweise autarcie und otaries verwechseln (vgl. ebd.: 88), deuten auf ihren geringen Bildungsstand hin, werden also zur Figurencharakterisierung eingesetzt. Auffallend sind zudem die Wortverdrehungen von Redensarten, wie in, „‚[i]l faut prendre le taureau par les couilles.‘ ‚Les cornes.‘ ‚C’est la même chose.‘ ‚Pas tout à fait.‘ ‚Je veux dire, il faut prendre le taureau par la racine.‘ ‚Le problème.‘“ (MP: 16), mit denen Henri in seinen Gesprächen mit den Personen aus der TAW2 zu kämpfen hat. Sie sind der Grund dafür, dass er diese Welt als undurchschaubar ansieht (vgl. ebd.: 24), und spiegeln das andersartige Referenzsystem der TAW2 wider. Die Unsicherheit der Figuren in Bezug auf die Sprache sowie Irrtümer bei Anspielungen auf kanonisierte Texte – Vichy verwechselt beispielsweise Schneewittchen und Dornröschen (vgl. ebd.: 24.) – deuten auf ihre identitäre Instabilität hin. Diese kommt zum Vorschein, sobald die Oberflächlichkeiten der Werbesprüche durchbrochen sind, welche sie zu verkörpern haben.

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Die Fotomodelle ähneln beim sinnentleerten Vorsagen von Werbesprüchen darüber hinaus den Figuren aus Alice in Wonderland und verdeutlichen die Repressivität der TAW2. Indem Uma feststellt, „[i]l est une heure, je dois me laver les cheveux“ (ebd.: 20), und den Einwand, sie seien doch sauber mit der Begründung abtut, „[m]ais ça n’a rien à voir! À une heure, je dois me laver les cheveux, c’est comme ça“ (ebd.), steht sie hinsichtlich der Absurdität ihres Handelns dem Gerichtsschreiber Bill aus Alice in Wonderland in nichts nach, der nach dem Verlust seines Stiftes einfach mit dem Finger, also unsichtbar, weiterschreibt (vgl. AW: 145). Genauso wie im Wunderland werden in der Papierwelt der Frauenzeitschrift sinnlose Handlungen vollzogen, um einen Obrigkeitsanspruch zu erfüllen. Ein maßgeblicher Unterschied besteht in der Grausamkeit der TAW2, welche in Un monde de papier ähnlich wie in Aliss in gesteigerter Form zum Ausdruck kommt, werden doch mehrere Figuren ermordet oder schwer verletzt. Wo im Prätext, wie erwähnt, Aliceʼ Erkenntnis, dass es sich bei der Königin und den anderen Figuren nur um Spielkarten handelt, jegliche Gefahr gebannt, ist Henri in der TAW2 erheblichen Gefahren ausgesetzt. Damit kann auch sein im Vergleich zu Alice gesteigerter Wille, aus der fremden Welt auszubrechen, erklärt werden. Anknüpfungspunkte und Distanznahmen finden sich jedoch nicht nur in Bezug auf die Selektions-, sondern auch hinsichtlich der Konfigurationsebene. So wird die traumhaft-assoziative Struktur des Prätextes im Text zweiten Grades genau wie bei Aliss zu einem teleologisch aufgebauten, kohärenten Plot, in dem die Ereignisse nicht nur aufeinander, sondern auseinander folgen und zudem innerhalb der Gesetzmäßigkeiten der TAW2 rational zu erschließen sind, während sich der Nonsens der Alice-Bücher als „Spiegelung der irrationalen Dimensionen des menschlichen Seelenlebens“ (Kreutzer 1984: 15) äußert. Auch die spielerische Denkakrobatik, welche gerade in Through the Looking-Glass vermehrt gefordert wird, findet im zielgerichteten Text zweiten Grades keine Entsprechung. Mit der veränderten Konfiguration der Plotbestandteile geht eine Ausarbeitung des gesellschaftskritischen Moments einher. Während der Prätext mit Hilfe von komischen Elementen Kritik am viktorianischen Erziehungssystem sowie am Kapitalismus übt (vgl. Kreutzer 1984: 99, 103), steht in Désalliers’ Roman eine Kritik an einem oberflächlichen und unmenschlichen Schönheitsideal an erster Stelle. Diese thematische Transposition stellt die kreative Aneignung des Prätextes dar, dessen gesellschaftskritisches Potenzial auf eine zeitgenössische Problematik übertragen wird. Die Herrschaft des Ogers über seine Fotomodelle äußert sich beispielsweise in dem überzogenen Schlankheitsideal, dem Audrey unterworfen ist, die nach einem ausgiebigen Mahl ihren Job verliert (vgl. MP:

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35). Diese bedinungslose Unterordnung individueller Bedürfnisse gegenüber den Marktgesetzen müssen muss dieselbe Audrey zudem gemeinsam mit Éric erfahren, als Audrey zur Abtreibung und das Paar zur Trennung gezwungen wird (vgl. ebd.: 110). Gleichzeitig werden Intertextualitätssignale wie Henris Erinnerung, in einer Schultheateraufführung den Mad Hatter gespielt zu haben (vgl. ebd. 98), Umas ständiger Blick auf ihre Uhren (vgl. ebd. 19f.), die dem weißen Kaninchen nachempfunden scheint, oder der Identitätsverlust Henris, den Alice in Through the Looking-Glass erleidet (vgl. LG: 39) eingestreut und fordern wie bei Aliss den Vergleich mit der harmlosen Nonsens-Welt aus dem Prätext heraus, wodurch – wiederum ähnlich wie bei Aliss – die Brutalität des Erzähluniversums des récriture-Romans betont wird. Darüber hinaus wird expansionistisch eine explizite Medienkritik eingeführt, indem in der TAW2 bei einem Autoreninterview eine fotogene Schauspielerin anstelle der eigentlichen Autorin eines zu bewerbenden Buches eingesetzt wird: „Bon, écoute, Nathalie, les auteurs, tu sais, ils n’ont pas grand-chose à dire. Et puis, tu es beaucoup plus photogénique.“ (MP: 69) Die kontrastive Gegenüberstellung von Mode- beziehungsweise Medienwelt und Literatur durchzieht den gesamten Roman. Dabei wird eine eindeutige Wertung durchgeführt, indem Literatur und Kultur als eine Rettungsmöglichkeit aus der negativ semantisierten, unmenschlichen Welt der Zeitschrift dargestellt werden, was sich vor allem am Einsatz von Goethes Faust illustrieren lässt. Faust und Rembrandt: Kultur als Ausweg aus der unmenschlichen Welt der Schönheit Im Gegensatz zum Alice-Prätext, der zwar vom Protagonisten genannt wird, vom Leser jedoch im Sinne einer récriture des ersten Typs weitgehend virtuell mitgelesen werden muss, nachdem die expliziten Intertextualitätssignale zur Aktivierung von Schemata geführt haben, wird der Faust-Prätext nicht vorausgesetzt, sondern innerhalb des Romans von den Figuren rezipiert. Un monde de papier stellt somit eine fiktionalisierte Lektüre von Faust dar. Innerhalb der Intrige ermöglicht die Lektüre von Goethes Drama dem Protagonisten zudem die Flucht aus der TAW2 zurück in die TAW1. Während die Alice-Texte die unterliegende Folie bilden, auf der sich der Text zweiten Grades entrollt, hat Faust somit eine ausgeprägtere diegetische Funktion85 innerhalb des Erzähluniversums von Un monde de papier. Die Vergleiche, die Henri zwischen seinem und Aliceʼ Schick85 Siehe zur Unterscheidung der diskursiven von der diegetischen Performanz von Intertexten Belleau 1986: 187 und Kapitel 1.3 der vorliegenden Untersuchung.

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sal zieht, haben keine Auswirkung auf die Handlungen, die er ausführt. Er kann beispielsweise aus der Tatsache, dass Alice beide Male unbeschadet aus ihren Träumen erwacht, keine Beruhigung ziehen. Die Parallele bleibt virtuell und entfaltet ihre Wirkung, die vor allem darin besteht, die Welt der Zeitschrift als absurd und repressiv zu charakterisieren, außerhalb des Erzähluniversums, das heißt auf textexterner Ebene durch den Rezipienten. Ganz anders verhält es sich mit der erzählten Welt von Faust, die durchaus die Entscheidungen der Figuren beeinflusst. Zunächst wirkt die Integration dieses Prätextes mit Hilfe eines leitmotivisch wiederkehrenden Zitats, deren Herkunft aus Faust I zunächst nicht angegeben wird, spannungssteigernd. Henri findet an verschiedenen Stellen die Inschrift „Je brûle. Ma force s’accroît. De courir les chemins je me sens le courage.“ (MP: 32, 65, 88) Nach Hugos Verhaftung entdeckt er die Ergänzung: „Ô terre, de porter ton mal et ton bonheur.“ (Ebd.: 65) Dieses Zitat stammt aus dem ersten Nachtmonolog Fausts, als er das Zeichen des Erdgeistes erblickt und voller Entschlossenheit und Enthusiasmus ist, alles Irdische begreifen zu können: Schon fühl’ ich meine Kräfte höher, Schon glüh ich wie von neuem Wein, Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen. (Goethe 1978: 21)

Das Zitat erscheint dem Protagonisten bekannt, ohne dass er es zunächst zuordnen kann. Dies gelingt ihm erst, als Audrey ihn nach Vichy-Marguerites Tod auf die Parallele zu Faust und Gretchen aufmerksam macht und dadurch seinen Erinnerungsprozess auslöst. Ab diesem Zeitpunkt ist Henri davon überzeugt, dass der Ausweg aus der Zeitschrift im Faust zu finden sei. Hintergrund ist, dass es sich bei dem leitmotivisch auftretenden Zitat aus Faust I um eine verschlüsselte Nachricht von Hugos Exfreund zu handeln scheint, der nach seiner gelungenen Flucht von der TAW1 aus Hinweise auf die Bedeutung dieses Textes hinterlässt.86 Schließlich erkennt Henri in seiner Umgebung eine weitere Textstelle wieder. Er überträgt Gretchens Wegbeschreibung aus Faust I, in der sie angibt, wo Faust ihr Kind finden könne (vgl. ebd.: 136), auf seine Umgebung und erkennt sowohl den Bach, den Steg als auch das Wäldchen aus ihren Ausführungen wieder. An der entsprechenden Stelle in der TAW2 befindet sich ein Floß. Bei diesem Anblick und im Angesicht der drohenden Überflutung fällt ihm die Vervollständigung des ersten Zitats ein: „D’affronter l’éclair de l’orage. Et de ne 86 Inwiefern diese Einwirkungen aus der TAW1 mit dem späteren Verbrennen der Zeitschrift in Einklang zu bringen sind, erklärt der Text nicht.

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pas trembler de peur dans les craquements du naufrage!“ (MP: 177) Er nimmt das Faust-Zitat wörtlich und sieht eine Flucht mit Hilfe des Floßes als den einzigen Ausweg: „C’était bien cela! Nous devions partir sur cette mer agitée et ne pas avoir peur!“ (Ebd.) Der Protagonist nimmt sich somit die Geschichte des nach Erkenntnis strebenden Faust zum Vorbild und überträgt sie auf seine Situation, in der sie ihm wie eine Anleitung zur Selbsthilfe Rettung bringt. Im Gegensatz zu Aliss, deren Interpretation von Nietzsches Text nicht zielführend ist, erweist sich für Henri Faust als nützliches Modell, da seine TAW den Informationen aus dem Prätext entspricht. Im Umgang mit den kanonisierten Prätexten besteht ein weiterer eklatanter Unterschied, denn die Rettung aus der TAW2 wurde im Vorfeld durch zusätzliches kulturelles Wissen ermöglicht. Zunächst gelingt es Henri, wie bereits erwähnt, seine Bewacher zum Einschlafen zu bringen, indem er ihnen einen Monolog über Philosophie hält (vgl. ebd.: 94). Anschließend findet er seine Gefährten mit Hilfe einer Anspielung auf Rembrandt wieder, die Uma, Vichy, Audrey und Éric im Leserbriefteil der Zeitschrift untergebracht und mit ihren Namenskürzeln unterschrieben haben: Au chercheur de vérité, une énigme: Le bœuf écorché n’est pas le bœuf haché et les pélerins d’Emmaüs ne sont pas tous au Louvre. U.V.A.E. (Ebd.: 100, Hervorhebung im Original)

Nur Henri verfügt über das nötige Allgemeinwissen, um die Referenz auf Rembrandt zu entschlüsseln und seine Gefährten in einer Werbung für „Oral-B. Rembrandt. Whitening strips“ (MP: 102, Hervorhebung im Original) zu vermuten.87 Kulturelle Erzeugnisse können somit in der TAW2 nur als Fluchthilfe dienen, weil sie Kenntnisse voraussetzen und daher wie Chiffren funktionieren. Die Fluchtwilligen können erfolgreich ihre bessere Allgemeinbildung gegenüber den restlichen Bewohnern der TAW2 ausspielen, um sie zu überlisten. Die Papierwelt als Allegorie Die Verarbeitung der Alice-Prätexte, die vor allem als strukturierende Grundlage des zweigeteilten Erzähluniversums wirkt, dient, wie gezeigt, vor allem zur Veranschaulichung des grotesken Wertesystems innerhalb der TAW2, die eine grau87 Den Bewohnern der TAW2 ist erst seit der Publikation der Zeitschrift das Lesen verboten (vgl. MP: 123). So erklärt sich, dass die fluchtwilligen Fotomodelle für ihre geheime Botschaft auf kulturelles Wissen zurückgreifen können, das sie im Vorfeld angesammelt haben.

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sam gesteigerte Version der harmlosen Nonsens-Welten des Wunder- und Spiegellandes darstellt. Es ist auffällig, dass sowohl in Aliss als auch in Un monde de papier die Alice-Romane nur in verfremdeter Form virtuell präsent sind, das heißt sie werden als kanonisierte Texte angesehen, deren Plotbestandteile allgemein beim Leser vorauszusetzen sind. Ihr hoher Bekanntheitsgrad macht sie zu einer idealen Projektionsfläche für Transpositionen. Der spielerische Charakter des Prätextes mit den nur angedeuteten Gefahrenmomenten eignet sich dabei vor allem, um kontrastiv eine bedrohliche und grausame TAW zu entwerfen. Eine größere Bedeutung nimmt der zweite Prätext in Désalliers’Roman ein, denn auf dieser Grundlage arbeitet Un monde de papier mit einer Allegorisierung, die dem Roman eine Aussage verleiht.88 So kann die Geschichte von Henri, der in eine Frauenzeitschrift fällt und mit Hilfe von Goethes Faust den Ausweg aus dieser dem Schönheits- und Marktdiktat eines Ogers unterworfenen Welt entflieht, auch als Geschichte der Macht von Wissen und Kultur beziehungsweise als Belohnung des Strebens nach Erkenntnis gelesen werden. Die hohe Literatur und Kultur stellen in Un monde de papier ein Ideal dar, dem es – so postuliert Désalliers’ Roman – zu folgen gilt, um der Macht der oberflächlichen und menschenunwürdigen Werbewelt zu entkommen. 4.2.3 Das Märchen und der Roman: L’Ogre de Grand Remous als Umkehrung von „Le petit Poucet“ Einführung Intertextuelle Bezüge sind im Werk von Robert Lalonde keine Seltenheit. Dabei verweist der Schriftsteller und Schauspieler offen auf seine Inspirationsquellen, die seiner Meinung nach die Originalität seines Werkes nicht unterminieren, sondern im Gegenteil fördern. Sein Gesamtwerk beinhaltet zudem Reflexionen über die intertextuelle Natur des Schreibens an sich. So benutzt er beispielsweise im Klappentext von Des nouvelles d’amis très chers (1999), einer Textsammlung, die Krzysztof Jarosz als „un recueil de textes amoureusement piratés de ses

88 Die Allegorie wird hier in einem literaturhistorischen Sinn verstanden als „ein abgeschlossener Text oder ein größeres Textsegment, dessen Sinn sich erst durch den Verweis auf eine zweite Bedeutungsebene ergibt, wobei der vordergründige Textsinn eher belanglos ist“ (Peil 2008: 12).

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écrivains préférés“ (Jarosz 2007: 109) bezeichnet, das Bild eines vielstimmigen Gesangs, um seinen Stil zu charakterisieren.89 Eine récriture stellt bisher nur ein Text Robert Lalondes dar, sein sechster Roman, L’Ogre de Grand Remous, der bei Erscheinen 1992 als „variante tragique du Petit Poucet“ (Lamontagne 1992a: 93) bezeichnet wurde und dessen Beziehung zum Prätext bisher Gegenstand von zwei Untersuchungen geworden ist. Einerseits befasst sich Lucie Hotte im Rahmen ihrer Studie zur Lektüre innerhalb des Romans, Romans de la lecture, lecture du roman (Hotte 2001), mit Lalondes Werk. Andererseits legt der bereits erwähnte Krzysztof Jarosz in seinem Beitrag „Quand un conte se fait roman. L’Ogre de Grand Remous de Robert Lalonde“ (Jarosz 2007) genau wie die vorliegende Studie den Schwerpunkt der Analyse auf den Umgang mit den Prätexten. Jarosz verweist dabei im Gegensatz zu Hotte und den nach der Veröffentlichung publizierten Rezensionen auf die Diversität des Intertexts90 bei Lalonde und konzentriert sich nicht ausschließlich auf Perraults „Le petit Poucet“91. Er verweist gleichzeitig auf die intertextuelle Komplexität des Romans, der eine erschöpfende Analyse unmöglich mache (vgl. Jarosz 2007: 117). So bleibt in seiner sehr luziden Analyse beispielsweise der Aspekt einer Abwandlung der „Belle au bois dormant“ (Perrault 1977b), dem zweiten Prätext des Romans, unbeachtet. Das vorliegende Kapitel setzt sich zum Ziel, an Jarosz’ Ergebnisse anzuknüpfen, um die komplexe Beziehung von Lalondes Roman zu den beiden Märchen zu analysieren. Im Fokus der Untersuchung steht dabei eine präzisere Definition der Auswirkungen der neu entstandenen Konfigurierung, die Jarosz knapp beschreibt (vgl. Jarosz 2007: 113), und die sich, wie zu zeigen sein wird, als Reflexion über die Vermittlung einer Geschichte gestaltet. Die récriture des „Petit Poucet“ wird schon im Klappentext von L’Ogre de Grand Remous angedeutet. Die kursiv gesetzte Einführung92, „[i]l était une fois Grand Remous“, ahmt den formelhaften Märchenbeginn „Es war einmal …“ 89 Zu seinem 2011 erschienen Text Le seul instant bemerkt Lalonde in ähnlicher Weise: „Là, je donne la parole à tous ces auteurs qui m’obsèdent depuis des années. Je fais ça quand j’en ai marre de la fiction.“ (Lalonde 2001: F2, Hervorhebung im Original) 90 Louis Cornellier (1992) nennt „Le petit Poucet“ und „La belle au bois dormant“, Monique Grégoire (1992) nur den ersten Prätext. 91 Da die Variante der Gebrüder Grimm, „Der kleine Däumling“, inhaltlich erheblich von Perraults „Le petit Poucet“ abweicht, wird die Figur im Folgenden auch im deutschen Fließtext ‚Petit Poucet‘ genannt. 92 Bei den folgenden kursiv gesetzten Zitaten aus L’Ogre de Grand Remous wird die Übernahme der Hervorhebung aus dem Original nicht mehr gekennzeichnet.

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nach. Auch die spätere elliptische Feststellung, „[u]n ogre. Il faut donc qu’il y ait un petit poucet. C’est Julien“, verweist auf den Status des Romans als Literatur zweiten Grades, indem auf das Regelsystem von Märchentexten angespielt wird. Ein Auszug aus dem Märchen ist dem Roman zudem als Motto vorgeschaltet: „Le Petit Poucet, qui était très malin, comprit la décision de ses parents et, de bon matin, voulut sortir pour quérir des cailloux.“93 Das Märchen ist jedoch nicht nur im Peritext präsent, sondern auch Bestandteil der erzählten Welt, da es von den Figuren in einer Ausgabe der Contes von Perrault gelesen wird. Dabei ergibt sich die Besonderheit, dass der vom Klappentext mit der Märchenfigur gleichgesetzte Julien sich nur für die Märchen „Le petit Poucet“ und „La belle au bois dormant“ interessiert (vgl. OG: 130). Der Titel des Romans, L’Ogre de Grand Remous, bezieht sich auf das nordwestlich von Montréal gelegene Dorf Grand Remous, das in der TAW eine fiktionalisierte Entsprechung findet. Dort leben die vier Geschwister Charles, Aline, Serge und Julien Messier, deren Eltern auf unerklärliche Weise verschwunden sind. Die drei älteren Geschwister versuchen alle auf ihre Weise, diesen Verlust zu verarbeiten, während der Jüngste, Julien, der von den anderen auch ‚Petit Poucet‘ genannt wird, ihre Trauer nicht versteht und ihnen vorwirft, in der Vergangenheit zu leben. Erst Jahre später – der Roman setzt 24 Jahre nach dem Verschwinden der Eltern ein – erfahren die Geschwister, dass Julien die Eltern umgebracht hat. Hintergrund der Tat war, dass sich die Eltern nach einem Lottogewinn eines Nachts entschließen, die Kinder zu verlassen, um eine Weltreise zu machen. Julien, der die Flucht bemerkt, schiebt das Auto mitsamt der Insassen kurzerhand über den Abgrund in das nahegelegene Wehr. Die kurze Inhaltsangabe deutet bereits an, dass Lalonde das Märchen einer profunden Wandlung unterzieht (vgl. Jarosz 2007: 111). Es lassen sich die Mechanismen der Transposition, des Displacement und der Expansion identifizieren, die im Folgenden nach einem kurzen Vergleich der Konfigurationen der Erzähluniversen des Märchens und des Romans näher untersucht werden.

93 Auf das zweite Motto aus Gionos Deux cavaliers de l’orage, das Jarosz ausführlich kommentiert, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden, da der Intertext von Giono aufgrund der geringen Strukturalität weniger einen Prätext darstellt, dem Lalondes Roman folgt, als vielmehr als „écho lointain“ (Jarosz 2007: 113) auf die Grausamkeit des Menschen in der wilden Natur hinweist und den Mord innerhalb der Familie andeutet.

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Erzählstruktur und Aufbau im Vergleich Max Lüthis Definition von Märchen als „mehrgliedrige welthaltige Abenteuererzählung[en] von abstrakter Stilgestalt“ (Lüthi 1978: 96) beinhaltet einen Merkmalskatalog, der es erlaubt, die Charakteristika der Textgattung Märchen von anderen Erzähltexten abzugrenzen. Als Merkmale setzt er die Eindimensionalität, die Flächenhaftigkeit, den abstrakten Stil, die Isolation, die Allverbundenheit sowie die Welthaltigkeit fest. Die Eindimensionalität, das heißt „die als Einheit empfundene Welt des Märchens“ (Gerndt 2002: 156) drückt sich darin aus, dass Märchenfiguren keine „numinose Angst oder Neugier“ (Lüthi 1978: 96) empfinden. Sie sind zudem flächenhaft, das heißt eine Handlungsmöglichkeit wird meist von einer Märchenfigur repräsentiert (vgl. ebd.: 16). Dabei gibt es weder Nuancen noch eine individualisierende Innenwelt der Figuren, an der der Leser teilhaben könnte, denn der abstrakte Stil favorisiert inhaltlich extreme Gegensätze und darstellungstechnisch formfestigende Mittel wie die wörtliche Wiederholung (vgl. ebd.: 30-34). Wichtigstes Instrument des abstrakten Stils94 ist jedoch die Isolation. Diese kann sich sowohl als äußere beziehungsweise räumliche Isolation von Figuren oder Orten innerhalb der erzählten Welt äußern als auch als Isolation der Elemente der Ereigniskette in einem mehrgliedrigen Erzählvorgang. So bevorzugt das Märchen feste Formulierungen wie den formelhaften Einstieg und die Moral sowie singulatives Erzählen95. Ein derartiges Verfahren lässt sich in „Le petit Poucet“ beispielsweise bei den beiden Episoden des Aussetzens der Kinder im Wald nachweisen, die singulativ erzählt werden und dadurch als voneinander unabhängig erscheinen.96

94 Der Stilbegriff bei Lüthi bezieht sich somit sowohl auf die Selektions- als auch auf die Konfigurationsebene. 95 Unter dem Aspekt der Erzählfrequenz bezeichnet Genette singulatives Erzählen als einmaliges Erzählen eines einmaligen Ereignisses (vgl. Genette 1972: 146). 96 Die Formfestigkeit und Mehrgliedrigkeit weist zuerst Vladimir Propp in Morphologie des Märchens (1928) nach. In seiner Studie zu den russischen Zaubermärchen, die auf alle Märchen übertragbar ist, definiert er 31 kombinierbare Handlungsfunktionen (vgl. Propp 1972: 31-66), die in sieben Handlungskreisen jeweils einem Aktanten zugeordnet sind (vgl. ebd. 79f.). Im darauf beruhenden Aarne-Thompson-Index, der international verbindlichen, aber europäisch geprägten Klassifikation von Märchen, wird für „Le Petit Poucet“ beispielsweise als typbildendes Motiv Nummer 327 die Übernachtung im Haus des Ogers (alternativ auch Hexe oder Riese) gewertet. Von anderen Märchen dieses Typs unterscheidet es sich durch die List der vertauschten Kopfbede-

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Trotz der mehrfachen Isolation der Märchenfiguren und -elemente herrscht im Märchen der Grundsatz der Allverbundenheit (vgl. ebd.: 49), das heißt es besteht ein übergreifender, aber nicht explizit gemachter Zusammenhang der Elemente der Märchenwelt, der sich zum Beispiel in Zufällen und Anpassungsmechanismen äußern kann, aber ohne ausdrückliche Kausalrelationen auskommt. Veranschaulichen lässt sich dies anhand von Petit Poucet, der in seiner Familie eine besonders isolierte Stellung einnimmt. Trotzdem kann er die Siebenmeilenstiefel nutzen, die sich jeder Größe anpassen.97 Die Allverbundenheit ist zudem mit der Alltäglichkeit von Wunderbarem in Verbindung zu bringen, die als „Reminiszenz[…] der verloren gegangenen Einheit alles Seins“ (Neuhaus 2005: 7) gewertet wird. Insgesamt will das Märchen somit keine mimetische Abbildung der Realität erreichen, was sich vor allem an den flachen Figuren ablesen lässt, die Lüthi als „reine Handlungsträger ohne Realitätsbezug“ (Lüthi 1978: 68) charakterisiert. In „Le petit Poucet“ äußert sich diese Figurenkonzeption darin, dass das zweimalige Aussetzen der Kinder im Wald nicht in Frage gestellt wird, genauso wenig wie die Beziehung zwischen Eltern und Kindern nach der Wiedervereinigung problematisiert wird, denn die äußere Handlung ist absolut dominierend. Ausgelöst wird die einsträngige Handlung über eine Situation des Mangels oder eine Problemstellung (vgl. Neuhaus 2005: 5). Dies betrifft die absolute Armut des Holzfällerpaares in „Le petit Poucet“. Zudem ist das Märchen in die Zukunft orientiert (vgl. Bettelheim 1989: 11), so dass Reflexionen über Vergangenes keinen Platz finden. Diese zeitliche Ausrichtung sowie das Primat der Form und des abstrakten Stils verbieten jegliche inhaltliche Tiefe, Komplexität und Nuancierung. Die Realität wird nach Lüthi im Märchen auf das Wesentliche reduziert, so dass es zu einer „umfassende[n] Form, die die Welt in sich hereinnimmt“ (Lüthi 1978: 72) wird. Nach Bruno Bettelheim ist die kurze und prägnante Präsentation eines existentiellen Dilemmas, die viele Märchen auszeichne, eine Voraussetzung für die Märchenrezeption von Kindern: „This permits the child to come to grips with the

ckungen, die in Kombination mit dem erstgenannten Element den Subtypus mit der Sigle AaTh 327 B (vgl. Aarne 1928: 56f.) ergeben. 97 Noch deutlicher wird dieses Grundmerkmal des übergeordneten Zusammenhangs der einzelnen Elemente im alternativen Ende des Märchens, in dem Petit Poucet dem König seine Dienste als Beobachter anbietet, da er – die Informationsquelle wird nicht genannt – von einer in Bedrängnis geratenen Armee des Herrschers erfährt (vgl. PP: 197).

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problem in its most essential form, where a more complex plot would confuse matters for him.“ (Bettelheim 1989: 8) Die Welthaltigkeit äußert sich somit darin, dass das Märchen die Welt transparent und kondensiert erscheinen lassen, aber nicht erklären will. Im Falle des „Petit Poucet“ ergänzt die Moral diese Welt-Schau, indem sie noch einmal den im Märchen illustrierten Sachverhalt resümiert, dass gerade die als zu klein oder zu schwach angesehenen Kinder sich als besonderer Glücksfall für eine Familie herausstellen können (vgl. PP: 198).98 Robert Lalondes Inszenierung des Märchens in seinem Roman L’Ogre de Grand Remous durchbricht den linearen und durch singulatives Erzählen geprägten Aufbau des Prätextes durch den Einsatz narrativer Anachronie. Zudem übernimmt er nicht die im Märchen vorherrschende Nullfokalisierung, sondern arbeitet mit einer multiplen internen Fokalisierung, durch die die Geschwister Charles, Aline, Serge und Julien nacheinander zu Wort kommen, wobei die Ausführungen der drei älteren Geschwister durch kurze kursiv gesetzte Textteile aus Juliens Sicht unterbrochen sind, der seinen Geschwistern unausgesprochene Nachrichten sendet: Je te parle, sans te parler, Charlot, mais je sais que tu m’entends. Je vais vous parler, à tous les trois, et vous m’entendrez! Et je sais que vous reviendrez! (OG: 31)

Vorgeschaltet ist den fünf intern fokalisierten Teilen ein Streit eines Paares, das sich später als die Eltern der Geschwister herausstellt. In diesem kursiv gesetzten, also Juliens Sichtweise zuzuschreibendem Textabschnitt, wirft die Frau dem Mann vor, sie gezwungen zu haben, Kinder zu bekommen. Sie sieht ihn als Feigling an, da er ihrem Wunsch, der nicht explizit geäußert wird, nicht nachkommen will. Nachdem sie gedroht hat, sich in das Wehr zu stürzen, scheint er ihr nachzugeben: „Il a dû lui dire ce qu’elle voulait entendre […]“ (OG: 10), kommentiert Julien. Die Szene wird durch einen Donnerschlag beendet. Die anschließenden Textteile, sind nach einem – nicht angezeigten Zeitsprung – fast ein Vierteljahrhundert später angesiedelt, so dass der Roman mit zwei Zeitebenen arbeitet. Zunächst folgt ein Brief, in dem Charles’ Produzent den Filmemacher auffordert, sein Werk, JULIEN LE MAGNIFIQUE, noch einmal zu überarbeiten, da es seiner Meinung nach zu viele Fragen offen lässt und zu wenig Tiefe aufweist. Ausgehend von diesem Scheitern seines Filmprojektes über 98 Stefan Neuhaus interpretiert „Le petit Poucet“ darüber hinaus aufgrund der Moral als „soziale Aufstiegsgeschichte, die – am Ende der Sammlung platziert – auf Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnungsstruktur vorausweist.“ (Neuhaus 2005: 69)

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seinen Bruder Julien, das er 24 Jahre nach dem Verschwinden der Eltern abgedreht hat, lässt Charles einige Episoden aus ihrer gemeinsamen Kindheit Revue passieren, die im Roman den Textteil „Julien le magnifique“ bilden. Er blickt unter anderem auf ihre Versuche zurück, eine Erklärung für ihre Situation ohne Eltern zu finden, erinnert sich an ihre Zeitvertreibe und vor allem an Julien, der die Orientierungslosigkeit und Angst seiner Geschwister nicht teilte und dessen Alkoholismus und selbstzerstörerische Krisen Charles dazu brachten, ihn zeitweilig in ein psychiatrisches Krankenhaus einweisen zu lassen (vgl. ebd.: 34). Neben den Einschüben aus Juliens Sicht ist in Charles’ Erzählung ein Brief von Serge eingefügt, der seinem großen Bruder ein Heft schickt, in dem ihre Schwester Aline als Kind Serges Träume notierte. Auch einer der Träume aus diesem „Cahier d’Aline“, dessen Inhalt proleptisch auf den Tod der Eltern im Wasser hinweist (vgl. ebd.: 63), ist zwischengeschaltet. Der zweite Teil des Romans, „Le vieux divan de la mémoire“, komplettiert aus Alines Sicht wiederum rückblickend die Vorgeschichte der Eltern, und stellt ihre Kindheitserinnerungen sowie ihre zahlreichen Reisen dar. Der Text repräsentiert die Aufzeichnungen, die sie während ihrer Kalifornienreise mit ihrem neuen Freund, Donald, macht. Hatte sie das Tagebuch zunächst begonnen, um dessen Gewohnheit zu imitieren, seine Beobachtungen am Ende des Tages aufzuschreiben, nehmen ihre Erinnerungen bald überhand (vgl. ebd.: 102). Am Ende ihrer Eintragungen steht ein Brief an Charles, in dem sie ihren Wunsch ankündigt, nach Grand Remous zurückzukehren, um sich der Vergangenheit zu stellen. Zudem spielt sie auf die eingeschobenen Textteile aus Juliens Sicht und damit auf eine übernatürliche Fähigkeit ihres jüngsten Bruders an, Kenntnis von ihren Gesprächen und Aufzeichnungen zu haben: „Il nous entend, le petit frère, il nous voit et il nous parle, il continue de lancer ses messages!“ (Ebd.: 148) Auf Alines Ausführungen folgen Briefe von Serge an Charles und seine Schwester, die unter dem Titel „Un hiver sur la plage“ zusammengefasst sind. Auch diese fokussieren inhaltlich einerseits die Kindheitserinnerungen, andererseits sein derzeitiges Leben als Fotograf in Florida, oszillieren somit zwischen den Zeitebenen. Dabei baut er die Spannung, die Alines Erwartungen hinsichtlich des Besuchs in Grand Remous entstehen lässt, weiter aus, indem er Andeutungen Juliens erwähnt, die proleptisch auf die Enthüllung der Tat des jüngsten Bruders hinweisen. So hatte Julien ihn einmal während eines Jagdausflugs gefragt: „Tu veux que je te montre où ils sont?“ (Ebd.: 160) Überdies hatte sein jüngerer Bruder ihm später aus der Psychiatrie einen Brief mit einer beschrifteten Karte der Umgebung des Hauses in Grand Remous geschickt, die er mit dem Kommentar, „[b]ravo mon champion, tu vas trouver“ (ebd.: 169), versehen hatte. Ein Telegramm von Serge, der seinen Geschwistern mitteilt, dass er seine Reise

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nach Québec und damit das Treffen mit ihnen geplant hat, beschließt den dritten Teil. Juliens Bericht über seine Vorbereitungen zur Ankunft seiner Geschwister bildet das daran anschließende Kapitel, „Grand Remous“. Zunächst freudig darüber, dass sie nun von seinem Triumph – er ist Vater geworden – erfahren werden, schließt das Kapitel mit der Evokation seiner Angst vor den Auswirkungen seines Geheimnisses, das er seinen Geschwistern nicht anvertrauen will, was er mit den Worten ausdrückt: „Ils ne connaîtront que le nouvel ogre, ne sauront rien, jamais, de l’autre, ni de la nuit du barrage. Jamais!“ (Ebd.: 180) Das lange angedeutete Geheimnis wird schließlich in dem von Aline erzählten letzten Teil, „Le barrage“, gelüftet, in dem Donald das Autowrack am Grund des Wehrs findet (vgl. ebd.: 186). In einer wörtlichen Wiederholung der ersten Szene, die an dieser Stelle kontextualisiert wird, beschreibt Julien anschließend den Streit zwischen den Eltern und seine Reaktion, das Auto in das Wehr zu stoßen (vgl. ebd.: 188). Der linearen Märchenstruktur, die durch singulatives Erzählen geprägt ist, steht somit die Kreisstruktur dieses roman-quête gegenüber, der die Vorgeschichte fragmentarisch und anachronisch rekonstruiert und durch die Verwendung von Prolepsen die Spannung aufbaut. Zudem verweist die sehr unterschiedliche Konfigurierung mit der multiplen internen Fokalisierung darauf, dass der Roman im Gegensatz zum Märchen die Ereignisse schwerpunktmäßig unter dem Aspekt der inneren Handlung beleuchtet und genau die Fragen aufwirft, die das Märchen nicht stellt. Diese Verschiebung hängt mit dem Mechanismus der Transposition zusammen. Geographisch-geschichtlicher Kontext und Modalitäten der Erzähluniversen Die Transposition betrifft die geographische und historische Situierung der erzählten Welt sowie die Modalitäten, die das Erzähluniversum kennzeichnen. Die Geschichte von Robert Lalondes Petit Poucet ist zum einen örtlich konkretisiert und zum anderen in der Realität des Lesers verankert, indem sie in einer auch realweltlich existierenden kanadischen Gemeinde angesiedelt ist. Demgegenüber ist Perraults Märchen ortlos, da kein konkreter Ort oder Kontext genannt wird. Dennoch kommt es im Prätext zu einer räumlich-semantischen Strukturierung des Erzähluniversums zwischen dem Haus der Holzfällerfamilie und dem bedrohlichen, dichten Wald und der mindestens ebenso gefährlichen Hütte des Menschenfressers jenseits des Waldes. In Lalondes Roman wird der Raum ausdifferenziert. Einerseits bilden Montréal, Florida beziehungsweise Kalifornien als Gegenwartsräume der Geschwister einen Gegensatz zu Grand Remous, in

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dem sich die traumatisierende Vergangenheit abspielt, die sie verarbeiten müssen. Andererseits ist die Gegend um das Elternhaus der Geschwister, das im Wald außerhalb des Dorfes gelegen ist, in Rückzugsräume unterteilt. Zu nennen wäre hier beispielsweise die Hütte des Nachbarn, Trinité Lauzon, die Julien bevorzugt aufsucht, da er sie für das Haus des Menschenfressers aus dem Märchen hält (vgl. OG: 130). Die Natur bietet in Lalondes Roman im Gegensatz zum Märchen nicht nur einen abgeschiedenen Handlungsraum, sondern besitzt milieubildenden Charakter und wird zum dominienden Bezugspunkt für Julien, der in völliger Übereinstimmung mit der Natur lebt und behauptet, mit ihr kommunizieren zu können (vgl. ebd.: 75-76). Somit deutet der unterschiedliche Bezug zum Raum den Kontrast zwischen den Geschwistern an.99 Eine Gemeinsamkeit der beiden Texte besteht darin, dass eine räumlich außenstehende Figur die Auflösung herbeiführt.100 Im Roman klärt, wie oben erwähnt, Alines Freund, Donald, das Rätsel um das Verschwinden der Eltern auf (vgl. ebd.: 186). Auch die räumliche Entwicklung weist Parallelen auf. Das Aussetzen der Kinder im Wald und die Rückkehr ins Elternhaus, die das Märchen erzählt, werden allerdings in verschiedene Orte ausdifferenziert und im Roman zeitlich erheblich ausgeweitet. Aus Kalifornien, Montréal und Florida kehren Charles, Aline und Serge schließlich zur Auflösung des Rätsels nach Grand Remous zurück. In Bezug auf den Zeitaspekt ist die Verarbeitung im Roman darüber hinaus durch eine Vereindeutigung geprägt. Die Chronologie der Ereignisse lässt sich anhand der im Text gelieferten Daten rekonstruieren.101 Erst etwa ein Viertel99

Siehe zum Kontrast zwischen den Geschwistern das folgende Unterkapitel der vorliegenden Untersuchung.

100 Dies bezieht sich jedoch nur auf das alternative Ende des Märchens, in dem Petit Poucet dem König mit Hilfe der Siebenmeilenstiefel einen Dienst erweist und dabei reich entlohnt wird, was ihm und seiner Familie später ein gutes Auskommen ermöglicht. 101 Georges Messier, der Vater der Geschwister, wurde am 17. Mai 1951 aus dem Universitätsdienst entlassen, da er eine Beziehung mit einer Studentin, der späteren Carmen Messier einging, der Mutter von Charles, Aline, Serge und Julien (vgl. OG: 109). Genau einen Monat später gewinnen die beiden 200.000 Dollar, was ihnen den Kauf des Hauses von Léa Letourneau in Grand Remous ermöglicht, welches das Paar am 20. Juli 1951 bezieht (vgl. ebd.: 93). Die vier Kinder werden 1952, 1953, 1954 und 1959 geboren. Die „nuit du barrage“ (ebd.: 187), während der die Eltern verschwinden, lässt sich auf den 16. August 1964 festlegen (vgl. ebd.: 139).

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jahrhundert nach dem Verschwinden der Eltern treffen sich die Geschwister wieder in Grand Remous, wo das Geheimnis enthüllt wird. Genau wie die räumliche Ausdehnung ist die Zeitspanne, in der sich die Geschichte abspielt, somit erheblich weiter als diejenige des Märchens. Der räumlichen und zeitlichen Konkretisierung im Roman, die eine Als-ob-Wirklichkeit erschafft, steht die Abwesenheit von Orts- und Zeitangaben im abstrahierenden Märchen entgegen. In Bezug auf die Modalitäten des Erzähluniversums besteht jedoch eine bedeutsame Gemeinsamkeit, das Vorliegen einer split ontology. So entsprechen die erzählten Welten in beiden Texten einerseits einer „natural fictional world“ (Doležel 1998: 115), in der die gleichen Parameter wie in der außertextuellen Realität wirksam sind. Die Familie Messier scheint genauso wenig wie die Holzfällerfamilie mit übernatürlichen Kräften ausgestattet. Andererseits gibt es eine Sphäre in beiden Erzähluniversen, die abweichenden alethischen Zwängen gehorchen. Dies äußert sich beispielsweise durch das Auftreten von Menschenfressern, Siebenmeilenstiefeln oder der Fähigkeit Juliens, mit Tieren zu kommunizieren (vgl. OG: 67). Der Unterschied zwischen Primär- und Sekundärtext besteht dabei in der Wahrnehmung der Figuren. Während die Märchenfiguren sich durch das charakteristische Fehlen einer numinosen Angst auszeichnen, stehen die übernatürliche und die natürliche fiktionale Welt im Roman in einer Hierarchie beziehungsweise Konkurrenzbeziehung. Julien wird zum alethic alien102, da er als einzige Figur in Lalondes Roman Märchenfiguren als real ansieht. Dennoch besteht eine gewisse Ambivalenz, da auch die textuell aktualisierte Welt des Romans übernatürliche Elemente zu beinhalten scheint. Zwar wird Juliens außerordentliche Körperkraft früh angedeutet, doch bleibt fraglich, ob er im Alter von knapp fünf Jahren ein Auto mit zwei Personen in das Wehr schieben konnte (vgl. Grégoire 1992: 28). Neben dieser Unsicherheitsstelle auf der Handlungsebene sind Alines Gedächtniskünste als Faktor der Verunsicherung in Bezug auf die geltenden Modalitäten des Erzähluniversums zu werten. Während Serges prophetisch anmutende Träume rational durch einen unbewussten Verdacht seinerseits begründet werden können, wird eine rationale Erklärung in Bezug auf Alines Wissen nur in unvollständiger Weise geliefert. Zwar charakterisiert Serge seine Schwester als sehr gute Zuhörerin (vgl. OG: 84), doch rechtfertigt dies beispielsweise nur unzulänglich die exakte Wiedergabe von Dialogen zwischen Léa Letourneau, der früheren Hausbesitzerin, und ihrem Vater (vgl. ebd.: 90) vor dem Umzug der Familie nach Grand Remous. Als „rappeleuse“ (ebd.: 87), wie sie sich selbst nennt, scheint sie sich nicht nur an ihre eigene Vergangenheit, sondern auch an Ereignisse und Personen, die sie nicht gekannt 102 Siehe hierzu Doležel 1998: 115 sowie Kapitel 2.4.2 der vorliegenden Untersuchung.

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hat, zu erinnern (vgl. ebd.: 84). Erinnerungsschübe bemächtigen sich ihrer teilweise in heftiger Weise und geben ihr Einblick in die Vergangenheit, so dass sie sich zur „commémorante et obsédée, savante de tous les épisodes, aventures, drames et accidents survenus à Grand Remous“ (ebd.: 84) erklärt – eine Fähigkeit, die Serge ihr allerdings abspricht (vgl. ebd.). Somit ist es nicht ganz präzise, in Bezug auf L’Ogre de Grand Remous von einer Vermischung der beiden Universen, die Jarosz (2007: 114) ohne Definition des Begriffs des Erzähluniversums konstatiert, auszugehen, da die verschiedenen Welten eng an die Figuren gebunden sind und daher relativ eindeutig voneinander abzugrenzen sind. Wie zu zeigen sein wird, kommt es vielmehr zu einem Aufeinanderprallen von zwei Erzählwelten innerhalb des Erzähluniversums des Romans, die sich in einer nicht eindeutig auflösbaren Konkurrenzsituation befinden. Figurenkonstellation und -domänen In Bezug auf die Figurenkonstellation lassen sich die bedeutendsten Parallelen zwischen den Märchen und dem Roman erkennen. Wahrnehmungslenkend wirkt dabei zunächst Juliens Spitzname, „Petit Poucet“, der schon im Klappentext angedeutet wird. Dieser ergibt sich zunächst dadurch, dass er bei seiner Geburt keinem Familienmitglied ähnelt. Zu Beginn halten mehrere Märchenfiguren wie Riquet-à-la-houppe, Tom Pouce oder Peter Pan zur Beschreibung des Außenseiters her, der sich durch seine rote Haarfarbe und sein schweigsames und nachdenkliches Wesen vom Rest der Familie absetzt (vgl. OG: 133). Im Gegensatz zum tatsächlich nur daumengroßen Märchenwesen, das zudem als schwächlich beschrieben wird (vgl. PP: 187), entwickelt er jedoch eine außerordentliche Körperkraft (vgl. OG: 48, 188). Insgesamt besteht die Identifizierung mit Petit Poucet weniger von außen. Seine Familie betont zwar das Außenseitermoment und sein mysteriöses Wesen, legt sich jedoch nicht auf einen Namen fest, wie dies die Familie im Prätext tut (vgl. PP: 187). Seine Identifikation mit der Märchenfigur wird vielmehr von innen genährt. Ihren Ursprung hat sie in einem frühkindlichen Trauma. Während eines Gewitters hatte Julien als kleiner Junge dem Nachbarn, Trinité, der im Dorf „l’ogre de Grand Remous“ (OG: 59) genannt wird, bei Bauarbeiten helfen wollen und seine Leiter festgehalten. Bevor Trinité vom Blitz getroffen wird, ruft er aus: „Ôte-toi de là, tu vas me faire tomber, Petit Poucet de malheur!“ (OG: 59) Juliens Figurendomäne, also die Welt in seiner Wahrnehmung, scheint ab diesem Zeitpunkt

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rezentriert103 zu werden, denn die natürliche Welt der Geschwister wird für ihn durch eine Märchenwelt mit den dazugehörigen Modalitäten ersetzt. Dieses FUniversum tritt jedoch nicht nur temporär an die Stelle der TAW, sondern langfristig. Er fürchtet die Rache des Menschenfressers Trinité, der seiner Meinung nach durch den Mord an den Eltern auferweckt wurde, um den Geschwistern Grand Remous zu entreißen.104 Er sieht es nun als seine Pflicht, seine Geschwister vor der Gefahr des nach Rache dürstenden Ogers zu schützen. Als „Blitzableiter“ lenkt er den Menschenfresser von ihnen ab: „Je déjoue le monstre, pour vous, je fais bifurquer l’ogre, je l’éloigne de vos corps!“ (OG: 126) An dieser Stelle setzt der zweite Prätext ein, der für Julien eine communauté fictionnelle105 mit demjenigen aus „Le petit Poucet“ bildet und gleichermaßen rezentriert wird. Schon als Kind geht er davon aus, dass der Prinz aus „La belle au bois dormant“ der erwachsen gewordene Petit Poucet sei, und sucht bei seiner Schwester, Aline, Bestätigung für diese These: „Les deux histoires sont une seule et même histoire, hein?“ (Ebd.: 130) Um den Menschenfresser endgültig zu besiegen, muss er seiner Meinung nach Belle au bois dormant, das heißt die französische Entsprechung zu Dornröschen, befreien, denn nur so könne er sich von seiner Tat freikaufen (vgl. ebd.: 180). Konsequenterweise deutet er die Ankunft einer Frau, Irène, die Trinités Hütte bezieht, als Begegnung mit der Protagonistin aus „La belle au bois dormant“ (vgl. ebd.: 53). Die Liebesbeziehung mit Irène, mit der er schließlich ein Kind zeugt, sieht er als seine Vergeltung gegenüber dem Oger an. So konstatiert er nach ihrer ersten Liebesnacht den Tod des Menschenfressers beziehungsweise die Geburt eines neuen Ogers: J’ai compris que c’était moi qui l’avais tué. Mais la mort de l’ogre était sans gloire: c’était un meurtre, et cependant, je n’étais pas coupable. Simplement découragé d’être monstrueux pour rien, l’ogre est tombé, vidé de son pouvoir […], tout comme il s’était envolé dans l’orage, autrefois. Ce matin-là, je me suis dressé de toute ma petite hauteur

103 Siehe zur Erschaffung von F-Universen als Akt der Rezentrierung Gutenberg 2000 (Glossar) sowie Kapitel 2.4.2 der vorliegenden Untersuchung. 104 Dabei argumentiert Julien gegenüber seinen Geschwistern in deren Abwesenheit wie folgt: „Oh, il a pris sa revanche, l’ogre, bien sûr, il est revenu! Après la nuit du barrage, il est ressuscité. Il voulait me dévorer, vous dévorer aussi, il voulait nous ôter Grand Remous!“ (OG: 60) 105 Siehe hierzu Saint-Gelais 2001: 45 sowie Kapitel 2.6.4 der vorliegenden Untersuchung.

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nouvelle et alors j’ai vu mon ombre, immense et fragile, sur la terre, balançant avec le vent. L’ogre, c’est moi, maintenant. (Ebd.: 78)

Die Expansion des Erzähluniversums aus „Le petit Poucet“ zeigt sich somit nicht nur in der Verquickung mit dem anderen Märchen, sondern in einer erheblichen Ausweitung der Intrige. Ein wiederkehrender Albtraum Juliens enthüllt, dass er den Mord an seinen Eltern verarbeitet, indem er ihn in seine rezentrierte Figurendomäne, das heißt in sein F-Universum einpasst.106 Da er seine Tat mit dem Märchen verstrickt, interpretiert er die Geburt des Kindes als eine Revanche (vgl. OG: 180) und stellt eine Gleichung auf, die ihn entlastet: „Je suis celui qui a ôté, puis qui a donné la vie!“ (Ebd.) Der Schwerpunkt liegt demnach auf den Taten, die Julien wie ein Märchenheld vollbringt, ohne sich über seltsame Begebenheiten und Personen zu wundern beziehungsweise ihre Logik zu hinterfragen. Im Gegensatz zur Märchenfigur ist Julien jedoch nicht der aktive Retter seiner Familie. Es tritt eine Inversion auf, denn am Ende sind es seine Geschwister, die ihn beschützen, indem sie ihm versprechen, sein Geheimnis zu bewahren (vgl. ebd.: 189). Die Geschwister nehmen im Roman genau wie im Märchen durchgehend die Position eines Gegengewichts zu ihrem Bruder ein. Die Kontrastfunktion äußert sich jedoch auf verschiedenen Ebenen, ist also komplexer gestaltet als im Märchen, was nach Jarosz darauf zurückzuführen ist, dass der mimetische Roman vom Schriftsteller eine Konkretisierung und Erweiterung der nur skizzenhaft angedeuteten Märchenfiguren fordert (vgl. Jarosz 2007: 113). Neben den Gattungszwängen ist die Komplexitätssteigerung jedoch zweifelsohne auch auf die im Vergleich zum Prätext relativ größere Bedeutung der inneren Handlung zurückzuführen, welche die Plotdynamik des Romans fordert. Im Märchen sind die sechs Brüder des kleinen Däumlings namenlose und flache „Kontrastfiguren“ (Lüthi 1978: 18). Eine marginale Ausnahme bildet der von der Mutter bevorzugte älteste Bruder, Pierrot (vgl. PP: 199). Diese Präferenz wird in Lalondes Roman dadurch wieder aufgenommen, dass Carmen Messier ihren zweiten Sohn, Serge, besonders gerne hat (vgl. OG: 26), der seine

106 Für diesen Verdrängungsmechanismus spricht auch Juliens wiederkehrender Traum von der Ermordung seiner Eltern. Er träumt jede Nacht, dass er seine Eltern im Schlafzimmer mit einem Messer aus der Hütte des Menschenfressers tötet, um seine Geschwister zu schützen: „Alors, je lève le couteau, lentement, comme un cérémoniant. Je dois le faire! L’ogre l’exige! Si je veux sauver mes frères et ma sœur, il faut lui obéir […].“ (OG: 146)

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Mutter im Gegenzug auch nach ihrem Verschwinden noch verehrt.107 Zudem ist der jüngste Bruder sowohl im Buch als auch im Roman der „souffre-douleur“ (PP: 187) der Familie, einen Begriff, den Julien für sich selbst verwendet (vgl. OG: 127), allerdings wörtlich gemeint, schirmt er doch ohne deren Wissen seine Geschwister vom Oger ab und muss dabei Schmerzen erleiden. Die Geschwister sind im Märchen nicht einmal Handlungsträger, sondern nur passive Gegenfiguren zu ihrem kleinen Bruder, der als einziger Initiative zeigt. Bereits durch die explizite Gegenüberstellung des auktorialen Erzählers als weniger intelligent dargestellt als ihr Bruder (vgl. PP: 199), bestätigen sie diese Einschätzung durch ihre Handlungen. Ihr lautes Schreien und Weinen als Reaktion auf ihre Situation steht in deutlichem Kontrast zum problemorientierten und zudem planvollen Handeln von Petit Poucet (vgl. ebd.: 188). Die Asymmetrie zeigt sich zudem darin, dass er sich als einziges der Geschwister durch wörtliche Rede äußert. Die Figurenkonstellation im Roman ist somit ähnlich wie die raum-zeitliche Verankerung deutlich ausdifferenziert und konkretisiert. So erfährt der Leser die Namen und das Alter jedes einzelnen Kindes beziehungsweise Jugendlichen, für die im Märchen nur die Spanne von sieben bis zehn Jahren angegeben wird (vgl. ebd.: 187), was zusätzlich zur Uniformisierung der Geschwister beiträgt. Juliens Geschwister Charles, Aline und Serge sind dagegen komplexe Charaktere. Erhalten bleibt die kontrastierende Figurenkonstellation der älteren Geschwister gegenüber dem jüngsten Bruder. Eine Gemeinsamkeit ist die Tatsache, dass das Verschwinden der Eltern das bestimmende Ereignis in ihrem Leben darstellt und ihren späteren Lebensweg beeinflusst. So ist Charles’ bereits erwähnter Film, JULIEN LE MAGNIFIQUE, ein Versuch des Ältesten, die Geheimnisse seines jüngsten Bruders zu ergründen (vgl. OG: 19). Charles’ Schwester, Aline, führt ein Nomadenleben und stellt ihre ständigen Reisen in Zusammenhang mit dem Gefühl des Getriebenseins ihres älteren Bruders.108 Den Weg des Vergessens beziehungsweise Verdrängens hat Serge gewählt, der mit der Vergangenheit abschließen will (vgl. ebd.: 154), die ihn jedoch in seinen Träumen wieder einholt (vgl. ebd.: 161f.). Im Vergleich zu den Brüdern von Petit Poucet im Märchen sind die Geschwister Messier somit kreative und reflektierende Charaktere, erscheinen jedoch wie Typen und nicht wie Individuen, da sie jeweils einen 107 Charles sieht ihre Mutter, „Carmen, notre mère, dont Serge avait fait une déesse, une martyre, une intouchable“ (OG: 50), dagegen mit kritischen Augen. 108 Explizit fasst sie diese Parallele in Worte: „Notre quête, une fois commencée, ne pourrait plus jamais s’arrêter, c’est-à-dire se satisfaire, pour moi, d’une destination atteinte et pour Charlot, d’un fantasme déjoué.“ (OG: 95)

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Weg des Umgangs mit dem Ereignis beziehungsweise der Realitätsflucht personifizieren (vgl. Jarosz 2007: 116). Ihre Figurendomänen unterscheiden sich demnach von Juliens dadurch, dass sie keine Erklärung für das Verschwinden der Eltern haben. Ihre KnowledgeWorlds, das heißt ihre individuelle Repräsentation der textuell aktualisierten Welt in Bezug auf Kenntnisse, sind also unvollständig. Das Wissensdefizit betrifft den Aufenthaltsort beziehungsweise den Tod der Eltern, über den Julien Stillschweigen bewahrt. Es betrifft weniger das Motiv des Verschwindens, das ihnen durchaus bewusst ist: „Pas une seconde, nous ne les avons crus accidentés, perdus ou enlevés. Ils avaient simplement décidé d’aller voir le monde!“ (OG: 21) Die Wish-Worlds der drei älteren Geschwister sind vielmehr von dem Bedürfnis bestimmt, dieses traumatische Ereignis zu begreifen und dem Gefühl des Verlassenseins Herr zu werden. Ihre Strategie, um die Unfassbarkeit der Welt zu bekämpfen, sind Wörter und Kategorien. So besteht ihr wichtigster Zeitvertreib in ihrem ersten Sommer ohne Eltern darin, die Welt mit Hilfe von Büchern, Atlanten und Karten zu fassen und sprachlich-kognitiv zu meistern. Der Atlas wird zu ihrem Anker in ihrer „lutte essoufflée contre le vide, contre l’absence, contre la peur“ (ebd.: 46). In einer sehr ähnlichen Bewegung des Festhaltens und Erfassens schreiben sie Serges Träume im „Cahier d’Aline“ auf, seine afouillements inquiétants, peut-être capables, sinon de guérir, du moins d’expliquer notre maladie d’abandon, le recensement des souvenirs, leur organisation, la méticuleuse précision de leur restitution pouvaient […] nous aider à comprendre, à accepter, à survivre. (Ebd.: 88)

Dennoch ist ihre Suche differenziert zu betrachten. So ist sich Aline bewusst, dass Charles vor allem wissen möchte, wohin die Eltern verschwunden sind und was ihnen dort widerfährt, während sie selbst sich für deren Vorgeschichte und die Gründe für den Umzug nach Grand Remous interessiert (vgl. ebd.: 94). Ihre Figurendomänen sind demnach von einer Suche nach dem Begreifen des Unfassbaren bestimmt, dem sie sich auf verschiedene Weise, aber immer mit Hilfe der Sprache nähern. Ganz im Gegensatz dazu liegt der beherrschende und handlungsdominierende Konflikt in Juliens Figurendomäne nicht in der Wissenswelt, also auf der epistemischen Ebene, sondern auf der deontischen, das heißt in seiner Pflichtenwelt, denn er hat einen Wissensvorsprung gegenüber seinen Geschwistern und sieht es als seine Pflicht, sie zu beschützen und den Oger zu besiegen. Dabei weist seine rezentrierte Welt andere Modalitäten auf, was sich in diesem Zusammenhang besonders dadurch zeigt, dass er im Gegensatz zu seinen Ge-

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schwistern keine tiefergehenden Erklärungen benötigt oder seine Situation hinterfragt. Seine Welt ist durch das Erzähluniversum der beiden Märchen vorbestimmt, einer Welt, die keiner Erklärung bedarf, da sie einfach ist. Julien als fundamental existentialistisches Wesen sieht sich als ins Leben Geworfener, im Hier und Jetzt Lebender – dies im buchstäblichen Sinne, wenn er darauf besteht, nicht geboren, sondern unter einem Kohlblatt gefunden oder mit dem Hagel in den Garten gefallen zu sein (vgl. OG: 44). Die Reflexionen seiner Geschwister sind ihm fremd. Er steht ihrem Bedürfnis nach Begreifen verständnislos und feindlich gegenüber, da es ein sorgloses Leben in der Gegenwart verhindere und sich darin äußere, „momies, spectres, fantômes“ (ebd.: 127) hinterherzujagen.109 Wie eine Märchenfigur bewegt er sich ausschließlich auf dem Vordergrund der Handlung, der durch die Gefahr des Ogers bestimmt ist, und lässt alles Hintergründige unbeleuchtet. Da er diese Gefahr durch seine Opferhaltung – die ihn nach Jarosz in die Nähe einer Christus-Figur rückt (vgl. Jarosz 2007: 117) – gebannt hat, sieht er keinen Grund, warum seine Geschwister ihre Freiheit nicht ausnutzen: C’est épouvantable: mon immolation ne vous rend pas plus heureux, même pas vivants! Au contraire, vous préférez étudier, fouiller les livres et aussi vos têtes, vos mémoires! […] Vous êtes au cœur du paradis et pourtant séparés de lui! Les fous, c’est vous! (OG: 127)

Eine Sonderstellung nimmt Aline ein, denn in seinem Kampf gegen den Menschenfresser hofft Julien zunächst auf die Hilfe seiner Schwester, deren Figurendomäne sich aufgrund ihrer seherischen Fähigkeiten seiner anzunähern scheint. Er sieht fast eine Gefährtin in ihr: „Pendant une minute, je ne suis plus le seul pourchassé, le seul Petit Poucet de la forêt de Grand Remous.“ (Ebd.: 125) Doch er muss einsehen, dass sie sich nicht auf seine Welt einlässt und beschimpft sie als „narquoise, injuste, incapable d’ouvrir le bon œil, et méchante […] par entêtement et manque d’attention.“ (Ebd.: 126)110 Für ihn ist die ständi109 Es ist Jarosz zuzustimmen, wenn er Madeleine Frédérics These widerspricht, Juliens Verhalten sei einer Suche nach Ursprung und der mythischen Zeit zuzuschreiben (vgl. Frédéric 1994 zitiert nach Jarosz 2007: 117). Das Gegenteil ist anzunehmen: „[I]l me semble que le personnage de Julien, lu en opposition à ses aînés, est avant tout la confirmation d’une existence hic et nunc, ici et maintenant, d’une vie libre de toute entrave idéologique.“ (Jarosz 2007: 117) 110 Er glaubt, es handle sich um eine „maudite manie des origines et de la suite du monde“ (OG: 32), denn er ist der Meinung: „Personne ne sait rien, il faut vivre avec cette loi-là!“ (Ebd.: 53)

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ge Suche seiner Geschwister nach Erklärungen gerade der Grund für ihr Gefühl des Verlassenseins. Daher bezeichnet er sie auch als „les petits enfants perdus dans la forêt“ (ebd.: 94), die sich im übertragenen Sinn in einem Wald aus Büchern und Karten verloren haben. Zudem spielt er mit Hilfe des fast wörtlichen Zitats aus dem Märchen auf die gefährliche Situation an, in der die Kinder stecken, indem sie nicht ihre Realität akzeptieren, sondern sich in einer seiner Meinung nach krankhaften Sinnsuche verlieren. Das Motiv des Verlierens wird somit im Roman von Julien umgedeutet. Während Petit Poucet in der Geschichte des Märchens seinen Geschwistern dazu verhilft, zu den Eltern zurückzukehren, und seine Familie von den vorherigen Nöten befreit, indem er die Reichtümer des Ogers (erstes Ende) beziehungsweise seine Verdienste als Bote und Beobachter (alternatives Ende) überbringt, befreit Julien im Erzähluniversum von L’Ogre de Grand Remous seine Geschwister von ihren Problemen – den unverantwortlichen Eltern – und möchte ihnen dazu verhelfen, das Verlassensein als Chance zu sehen. Es besteht demnach insofern eine Inversion, als Petit Poucet im Text zweiten Grades nicht die glückliche Vereinigung der Familie herbeiführt, sondern ihre gewaltsame Trennung. Dennoch ist die Umkehrung nicht vollkommen, denn der Grundkonflikt in den Figurendomänen der Eltern Juliens ist nicht mit demjenigen im Prätext kongruent. Zunächst ist auch in Bezug auf die Eltern der Geschwister eine größere Komplexität festzustellen. Die Eltern der sieben Brüder im Märchen werden als Holzfäller präsentiert, wobei der Leser nur den Vornamen des Ehemannes, Guillaume, erfährt. Ihre bittere Armut ist der Auslöser für die Idee des Mannes, die Kinder auszusetzen, die er seiner Frau beklommenen Herzens vorschlägt (vgl. PP: 188). Nach einigem Zögern stimmt die Mutter schließlich dem Plan zu, da er ihrer Meinung nach das kleine Übel darstellt. Nachdem ein Lehnsherr ihnen lange geschuldetes Geld zukommen lässt, das ihre Armut lindert, bereut die Mutter ihre Tat und wirft ihrem Mann seine Grausamkeit vor, ohne jedoch ihre Mitschuld einzugestehen.111 Die Wiedervereinigung ist ganz von Freude überstrahlt, die jedoch nur so lange andauert, bis das Geld aufgebraucht ist. Der zweite Versuch, die Kinder auszusetzen, ist besser geplant, da es Petit Poucet diesmal unmöglich ist, Steine zu sammeln, um den Rückweg zu kennzeichnen (vgl. ebd.: 190). Die Freude über das Wiedersehen wird in beiden Versionen des Endes mit dem Ausdruck „joie“ (ebd.: 196 beziehungsweise 197) konstatiert.

111 So klagt sie: „Mais aussi, Guillaume, c’est toi qui les as voulu perdre; j’avais bien dit que nous nous en repentirions.“ (PP: 189)

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Im Gegensatz zur Ausgestaltung der Elternfiguren als bloße Handlungsträger, deren einziges Attribut die Armut ist, und die nur in Extremen denken können, sind die Romanfiguren Carmen und Georges Messier detaillierter präsentiert und werden zu mehrdimensionalen Charakteren. Beschrieben werden sie beispielsweise von Aline, die Georges als klein und dick (vgl. OG: 89) und Carmen als stolz und sinnlich (vgl. ebd.: 91) darstellt. In intellektueller Hinsicht ist Georges seiner Frau überlegen (vgl. ebd.). Zudem wird, wie bereits erwähnt, die Vorgeschichte der Messiers enthüllt. Als Außenseiter der Gesellschaft verhilft ihnen ihr Lottogewinn zu einem neuen Leben in Grand Remous, das jedoch nicht auf Carmens Bedürfnisse zugeschnitten ist. Die Differenz zwischen Carmens Figurendomäne und der textuell aktualisierten Welt fasst Serge hellsichtig mit dem Satz zusammen: „On n’épouse pas Scarlett pour l’emmener vivre au fond des bois!“ (Ebd.: 92). Die vom Bovarysme befallene Carmen (vgl. ebd.: 85, 92) identifiziert sich mit der Protagonistin von Gone with the wind, das als F-Universum teilweise in ihrer Figurendomäne rezentriert wird, so dass sie sich selbst stellenweise als „Scarlett Messier“ (ebd.: 120) bezeichnet und ihren Kindern in der prallen Sonne keine Hüte aufsetzt, damit ihre Haare sich aufhellen und Scarletts Ashley aus ihrem Lieblingsfilm ähneln (vgl. ebd.: 119). Während die Armut der Familie und der Versuch zu überleben die Hauptelemente des Grundkonflikts des Märchenplots sind, ist es im Roman die Nichtübereinstimmung von Carmen Messiers Figurendomäne und der textuell aktualisierten Welt. Genauer gesagt besteht ein Konflikt darin, dass Carmens Idealmodell der TAW, das sich aus den Romanen nährt, die sie verschlingt – „Ce sont eux, les livres, nous dira papa, qui sont cause des fantaisies de votre mère!“ (Ebd.: 92) – nicht mit der TAW des Familienlebens in Grand Remous vereinbar sind. Insbesondere ihre Situation als Mutter widerstrebt ihr. Bereits beim Einzug reagiert sie entrüstet auf Georges’ Wunsch nach sechs Kindern und geht so weit, während der Schwangerschaft mit Julien eine Fehlgeburt herbeizusehen (vgl. ebd.: 120). Ein Konflikt sekundärer Ebene entspinnt sich innerhalb der Figurendomäne zwischen ihren Pflichten als Mutter und ihrem Wunsch nach Selbstverwirklichung und Abenteuer. Diesen löst sie genauso wie die Ehefrau des Holzfällers im Märchen, indem sie ihrem Mann die Schuld an ihrer Situation gibt. Ihr Argument basiert auf ihrer Figurendomäne, denn sie wirft ihm vor, er habe sie zu einem Lebensstil gezwungen, der ihr nicht entsprach.112 Somit wird sie zur Initiatorin der Trennung von den Kindern, während Georges im Gegensatz zum ak112 „J’en peux plus! Tu m’as enfermée dans ta grande maison triste, tu m’as forcée à te faire des enfants…“ (OG: 9)

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tiv handelnden Vater des Märchens nur passiv reagiert. Sein Konflikt auf sekundärer Ebene, auf der sein Pflichtgefühl als Familienvater dem Wunsch gegenübersteht, seiner Frau zu gefallen und sie zu halten, wird wegen ihrer Selbstmorddrohung zugunsten letzterer entschieden (vgl. OG: 10). Dennoch ist er keineswegs eine rein passive Figur. Aus Alines Sicht wird seine Fähigkeit hervorgerufen, durch seine Musik die Südstaatenatmosphäre aufleben zu lassen, die Carmen so fasziniert, ohne dass sie sie für andere greifbar machen könnte: „[T]out l’exotisme du vieux Sud de maman, jusque-là lointain et abstrait, malgré les tentatives de Carmen […] nous entrait enfin dans le cœur et nous tirait les larmes.“ (Ebd.: 113f.) Das Ehepaar Messier erscheint somit trotz des frühen Todes, der eine Weiterentwicklung unmöglich macht, im Vergleich zu den Märchenfiguren als mehrdimensional, wobei dies vor allem durch die figurale Charakterisierung aus verschiedenen Blickwinkeln erreicht wird. Die Figurenkonstellation hat eine wiederkehrende Art der Umkehrung von Märchenelementen sichtbar gemacht. Diese tritt an mehreren Stellen auf und führt zur Umdeutung von Motiven, wie dies bereits bei Juliens Interpretation des Verlorengehens aufgezeigt wurde. Die augenscheinlichste Inversion ist dabei, dass die Eltern im Roman nicht ihre Kinder aussetzen und nach Hause zurückkehren, sondern dass sie selbst von zu Hause flüchten und die Kinder zurücklassen wollen. Geschuldet ist das umgekehrte Bewegungsmoment der Eltern der veränderten Konfliktsituation im Roman. Die primären Beweggründe sind nicht einer materiellen beziehungsweise substanziellen Notsituation geschuldet, sondern immaterieller Art. Auch die glückliche Auflösung der Geschichte des Märchens, die durch den Erwerb materieller Besitztümer möglich wird, basiert im Roman auf dem Erwerb eines immateriellen Guts, nämlich dem Wissen um das Geheimnis des Verschwindens der Eltern. Überdies ist es in Bezug auf den Gemütszustand der Figuren komplexer gestaltet. Dennoch beweist Charles’ Ankündigung, „[c]ette fois-ci, Julien, on les laissera pas t’emmener“ (OG: 189), ein Gefühl des familiären Zusammenhalts, der im Märchen auf rein materieller Basis steht. Daher werden im Märchen auch deontische Zwänge, also die ObligationWorlds, nur marginal thematisiert und spielen bei der Auflösung und in der Moral keine Rolle. Ein weiterer grundlegender Unterschied liegt darin, dass eine Wiedervereinigung nicht im Ermessen der Kinder liegt, wie dies im Erzähluniversum des Märchens der Fall ist. Aufgrund des Wissensdefizits gehen die drei älteren Geschwister jedoch bis zur Aufklärung des Mordes davon aus und wenden – im Gegensatz zu den rein passiven Brüdern Petit Poucets – verschiedene Taktiken an, um das ihnen unbegreifliche Ereignis zu verstehen. Diese Sinnsuche weicht erheblich von den Gegebenheiten im Prätext ab, in dem die transparenten Mär-

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chenfiguren als reine Handlungsträger ihre Situation als gegeben betrachten und nicht zum Anlass nehmen, die bestehende Ordnung oder die Handlung ihrer Eltern zu hinterfragen. Die Analyse der Figurenkonstellation und -domänen hat somit zwei wesentliche Strategien des Romans aufgezeigt, die im Folgenden detaillierter analysiert werden. Einerseits führt die Betonung des Innenlebens der Figuren gegenüber der äußeren Handlung im Vergleich zum Märchen zu einer Pluralisierung der Bedeutung. Andererseits werden durch die transformierende Wiederaufnahme von Plotelementen neue Bedeutungszusammenhänge generiert. Metatextuelles Potenzial der Bewusstseinsdarstellung: Ambivalenz statt Moral Ein sehr wichtiger Unterschied zum Märchen liegt in der Mehrdimensionalität der Figuren, die im Gegensatz zu den reinen Handlungsträgern des Märchens mit einem Bewusstsein ausgestattet sind. Zur Darstellung des Innenlebens seiner Figuren gebraucht Lalonde mehrere Strategien. Bereits erwähnt wurde, dass er eine Transvokalisation113 und Transfokalisation durchführt, indem er die Nullfokalisierung durch einen extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler des Märchens durch die multiple interne Fokalisierung und mehrere extradiegetisch-homodiegetische Erzähler ersetzt. Charles, Aline, Serge und Julien treten als Ich-Erzähler auf, dies sowohl als erlebende als auch als rückblickend erzählende Ichs, wodurch sie sehr viel komplexer wirken als die Märchenfiguren. Indem Lalonde den Geschwistern eine Stimme gibt, befreit er sie von ihrer anonymen Uniformität und Flächenhaftigkeit. Eine weitere Folge der Mitsicht ist, dass, mit Genette gesprochen, die Distanz114 zum Erzählten reduziert und die mimetische Illusion erhöht wird. Darüber hinaus veranschaulichen Traumberichte das Innenleben der Protagonisten. Besonders aufschlussreich ist der bereits erwähnte Albtraum Juliens, in dem er die Ermordung der Eltern in die fiktionale Welt des „Petit Poucet“ einfasst, gibt er doch Einblick in seine von der Logik der Märchenwelt beherrschte Figurendomäne (vgl. OG: 141-147). Zugleich bietet der Traum Anhaltspunkte für die Interpretation des Ogers, denn er stellt deutlich dar, wie Julien die Verantwortung für die Tat in diesem Traum auf den Oger projiziert, der somit zur Verkörperung seiner Schuld wird, zum „ogre symbolique de son remords“ (vgl. Jarosz 2007: 110). 113 Siehe hierzu Genette 1982: 332f. sowie Kapitel 2.3.1 der vorliegenden Untersuchung. 114 Siehe hierzu Genette 1972: 184ff.

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Eine weitere Strategie zur Bewusstseinsdarstellung findet sich in den intertextuellen Referenzen. Julien gibt seinen Gefühlen offen Ausdruck, indem er Textstellen aus dem Märchen kommentiert, wodurch zudem auf den metatextuellen Status des Romans insgesamt hingewiesen wird. Bei der Lektüre des Märchens stellt das Auftauchen des Ogers jedes Mal ein nicht zu überwindendes Hindernis dar, daher beendet er sie jeweils bei den Worten: „Hélas, mes enfants […], c’est la maison d’un ogre qui mange les enfants!“ (OG: 143) Seine Lektüre eines Nachts fortsetzend, kommentiert er den Text als euphemistisch. Juliens Meinung nach empfindet Petit Poucet nicht nur Angst, sondern sehr viel stärkere Gefühle, die die Märchenfigur und damit ihn lähmen (vgl. ebd.: 144). Nach einer weiteren Unterbrechung liest er weiter und reflektiert über die Unmöglichkeit, dem Oger die Siebenmeilenstiefel zu entwenden. Diese Herausforderung setzt er schließlich in dem von der Lektüre beeinflussten Traum in die Tat um, in dem er seine Eltern auf Geheiß des Ogers mit einem Messer tötet. Dieser bereits erwähnte Albtraum speist sich direkt aus seiner Rezeption des Märchens, die ihm eine Erklärung für sein Verhalten zu liefern scheint. Dass er im Traum seine Eltern tötet wie der Oger im Laufe des Märchens seine sieben Töchter, erklärt er sich mit einer Drohung des Ogers.115 Julien ist hier gleichzeitig erlebendes und erzählendes Ich, wobei seine Schlussfolgerung – „Je payais, mes frères, je continuais de payer!“ (Ebd.: 146) – die einzige Äußerung im imparfait ist, während seine Traumerzählung im Präsens den Eindruck der Unmittelbarkeit verstärkt. Julien hat somit einerseits Merkmale eines Märchenwesens, das keine numinose Angst verspürt und seine Situation nicht hinterfragt, verfügt jedoch andererseits über eine emotionale Tiefe, die über diejenige eines reinen Handlungsträgers hinausgeht. Explizit kommentiert er zudem den abstrakt-isolierenden Stil des Märchens als ungenügend, um seine Situation zu fassen. Der durch die Lektüre ausgelöste Traum gewährt einen tiefen Einblick in Juliens Psyche und offenbart seine Identifikation mit Petit Poucet. Julien setzt das Märchen darüber hinaus in die Tat um, indem er selbst Kieselsteine, Brotkrumen und Sonnenblumenkerne streut und die Vögel dabei beobachtet, wie sie sie aufpicken (vgl. OG: 142-143). Doch können seine Geschwister diese Hinweise nicht entschlüsseln, und halten sie eher für ein Zeichen seiner wachsenden geistigen Verwirrung (vgl. Jarosz 2007: 110). In Bezug auf seine Geschwister Charles und Aline wird eine intermediale Strategie zur Bewusstseinsdarstellung gewählt. Beide sind fasziniert von der Figur des Alexis Zorba aus Nikos Kazantzakis’ eponymischen Roman bezie115 „L’Ogre l’exige! Si je veux sauver mes frères et ma sœur, il faut lui obéir, c’est le prix à payer, cette minute interminable dans la chambre […]“ (OG: 146).

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hungsweise Mihalis Kagogiannis’ Film ZORBA LE GREC. Dieser Intertext nimmt in der Handlung quantitativ eine sehr viel geringere Bedeutung ein als Perraults Märchen, wird jedoch auch auf der Ebene der erzählten Welt wirksam, denn die Identifikation mit dem Roman- beziehungsweise Filmhelden bewirkt, dass Charles und Aline Grand Remous schließlich verlassen: Zorba, l’orphelin magnifique, l’être libre par excellence, celui qui voit chaque jour toute chose pour la première fois. C’est lui qui nous avait poussés à partir, qui nous avait chassés, pour ainsi dire, de Grand Remous. (OG: 70)

Die beiden älteren Geschwister sind verzaubert von Zorba, der ihnen ein Ventil bietet, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. So äußert sich die Identifikation mit Alexis Zorba in einer physischen Nachahmung als Tanz bis zur Erschöpfung. Sie erkennen sich in Zorba wieder, der zu große Emotionen nicht mit Worten fassen kann und beim Tod seines Sohnes tanzen muss, um die Trauer aushalten zu können.116 Sie scheinen Zorba als Lehrmeister zu sehen, wenn sie die Lebensweisheiten zitieren, die der Erzähler auf Kreta aus seinem Zusammenleben mit dem Mazedonier Alexis Zorba zieht und die wie auf ihre Situation zugeschnitten scheinen: „Elle est comme cela, la vie, bigarrée, incohérente, indifférente, perverse, sans pitié …“ (Ebd.) Dabei ist weniger das geistige als das körperliche Moment vorherrschend, denn sie betonen vor allem die Trunkenheit, die Zorba in ihnen hervorruft (vgl. ebd.). Das Eintauchen in die Geschichte des Alexis Zorba ermöglicht es ihnen zudem, eine gewisse Distanz zum traumatischen Kindheitserlebnis zu entwickeln, das sie genauso abschätzig wie Zorba die Institution der Ehe – bezogen auf ihre Eltern – als „Grande Bêtise“ (OG: 70, Kazantzakis 1988: 87) zu bezeichnen beginnen. Ihr eigenes Leben beginnt mit Hilfe der Filmmusik wieder in den Vordergrund zu rücken: „[N]ous dansions ici, des soirées entières, au son du santouri, oubliant leur voyage à eux et songeant aux nôtres.“ (OG: 70) Serge lässt sich von der Begeisterung für Zorba hingegen nicht anstecken, so dass dieser diegetisch performative Intertext auch dazu dient, die Kontraste beziehungsweise Entsprechungen zwischen den Geschwisterfiguren herauszustellen. Dabei kommentiert Serge hellsichtig den unterschiedlichen Umgang mit der Figur Zorba und Julien: „Votre Zorba parle comme notre frère que vous déclarez fou! Non, mais, un peu de logique! Vous faites un dieu avec l’un et vous voulez faire enfermer 116 Zorba drückt dies folgendermaßen aus: „Mais moi, à ce moment-là, si je n’avais pas dansé, je serais devenu fou de douleur. Parce que c’était mon premier fils et qu’il avait trois ans et que je ne pouvais pas supporter sa perte.“ (Kazantzakis 1988: 79)

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l’autre!“ (Ebd.: 71) Genau wie Julien verarbeiten die beiden älteren Geschwister so zumindest ansatzweise das traumatische Erlebnis mit Hilfe eines Erzähluniversums, das sie rezipieren. Sie können sich mit dieser Parallelwelt identifizieren, in mediatisierter Weise ihre Situation reflektieren und sich im Hier und Jetzt verankern. Die deutliche Komplexitätssteigerung bei der Bewusstseinsdarstellung, die den Roman auszeichnet, geht mit einer Öffnung des Textes einher, dessen Schluss keine strukturierende Wirkung hat, die einen Interpretationsansatz ausdrücklich bevorzugen würde. Während die abschließende Moral im Märchen zur Reduktion auf eine Bedeutung führt, verweist Charles’ letzter Satz zwar darauf, dass Juliens Tat nicht sanktioniert werde, doch es bleibt offen, wie es mit den Geschwistern weitergeht. Trotzdem können Vermutungen angestellt werden: Indem Charles seinem Bruder die Unterstützung der anderen Geschwister garantiert, drückt er aus, dass sie alle den Vertrauensbruch der Eltern als schwerwiegender bewerten als denjenigen Juliens. Auch eine abschließende Zusammenfassung in Form einer Moral kann nicht erfolgen, da die als Erzählinstanzen fungierenden Figuren nicht den Überblick eines auktorialen Erzählers haben. Die Wahl der multiplen internen Fokalisierung führt dazu, dass die Figuren als erlebende und erzählende Subjekte, somit als Einzelfälle in den Vordergrund gerückt werden, während das in Nullfokalisierung präsentierte Märchen die Handlungslogik ins Zentrum rückt, die zur Veranschaulichung eines allgemeinen Prinzips des menschlichen Zusammenlebens dient, wie sich anhand der rezeptionslenkenden Moral belegen lässt. Im Roman führt die multiple interne Fokalisierung darüber hinaus zu einer Verunsicherung des Lesers, denn die verschiedenen, sich in einigen Standpunkten widersprechenden Figurendomänen sind Ausdrucksform unzuverlässigen Erzählens117. Während die drei älteren Geschwister trotz ihres Status als IchErzähler mit Doležel eine relativ hohe authentication (vgl. Doležel 1998: 154) aufweisen, da ihre Angaben – abgesehen von Alines übernatürlichen Erlebnissen, die von Serge, wie erwähnt, negiert werden – untereinander weitgehend übereinstimmen, scheint Julien unzuverlässig, da der Leser seine geistige Gesundheit anzweifelt (vgl. Grégoire 1992: 42). Dies zeigt auch der unterschiedliche Umgang mit den Identifikation stiftenden Erzähluniversen auf, denn wäh117 Ansgar Nünning schlägt vor, das unzuverlässige Erzählen als „Projektion des Lesers zu verstehen […], der Widersprüche innerhalb des Textes und zwischen dem [sic] fiktiven Welt des Textes und seinem eigenen Wirklichkeitsmodell auf diese Weise löst“ (Nünning 1998: 5). Zur Kritik am Konzept des unzuverlässigen Erzählers siehe zum Beispiel Olson 2003 und Fludernik 2005.

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rend Charles und Aline den fiktiven Status Zorbas’ nie in Zweifel ziehen, scheint Julien die Märchen für faktuale, das heißt mit Authentizitätsanspruch versehene Erzählungen zu halten. Die Kursivsetzung der Julien zugesprochenen Erzählfragmente könnte demnach als typographisches Signal der Unzuverlässigkeit gelesen werden. Dennoch gibt es Elemente, die eine eindeutige Einteilung in zuverlässige versus unzuverlässige Erzählinstanzen unmöglich machen. Da Alines Ausführungen auf ihren durch ihre Gefühle ausgelösten Erinnerungsschüben basieren (vgl. OG: 89), verfügt sie im Vergleich zu Serge und Charles beispielsweise über eine geringere authentication. Ihre Figurendomäne scheint, wie bereits aufgezeigt, nicht einwandfrei mit der natürlichen Welt der TAW zu kongruieren. Insgesamt führen diese Unsicherheitsmomente zu einer Pluralisierung des Textes, der sich im Gegensatz zu dem mit einer Moral abgeschlossenen Märchen einer eindeutigen Interpretation widersetzt. Die im Roman gewählten Formen zur Darstellung des Bewusstseins der Figuren untergraben zudem das wichtige Merkmal der Isolation, das sich sowohl in Bezug auf die Figuren als auch auf den Handlungsraum auswirkt und im abstrakten Märchenstil niederschlägt. Im Gegensatz zum kondensierten, formgefestigten und wahrnehmungslenkenden Märchen ist Lalondes Roman somit ein vielschichtiger und Unsicherheitsstellen beinhaltender Text. Die Umkehrung des Märchens im Roman Die festgestellte Komplexitätssteigerung lässt sich auch in den direkten Referenzen auf den Prätext ablesen, die sich besonders in der bereits angesprochenen Umdeutung von Motiven äußert, und zu einer Umkehrung des Märchens im Roman führt. Elemente des Märchens tauchen auf der Ebene der verwirklichten und virtuellen Handlungen sowie – als umgedeutete Textzitate – auf der Narrationsebene in abgeänderter Form auf. So erfahren die Vögel, die im Märchen die Brotkrumen von Petit Poucet aufpicken und dadurch beim zweiten Aussetzen der Kinder die direkte Rückkehr verhindern, im Roman eine Expansion und Umdeutung. Julien, der als „enfant de la jungle“ (OG: 52) in völligem Einklang mit der Natur lebt, empfindet Tiere als mit Menschen gleichwertig. Julien hebt die verschiedenen Merkmale der Vögel hervor, deren Gesang er als Ausdruck ihrer Seele sieht (vgl. ebd.: 76). Auf der Grundlage dieser Differenzierung bringt er die verschiedenen Persönlichkeiten der Vogelarten mit seinen Geschwistern in Verbindung. Der aufgeregte Zaunkönig erinnert ihn an Serge und dessen Ungeduldsausbrüche und die am Boden scharrende Rötelgrundammer an den geheimniskrämerischen Charles (vgl. ebd.: 76). Der Vogelvergleich dient jedoch nicht nur zur Charakterisierung

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der Geschwister. Eine weitergehende Bedeutung ergibt sich aus dem Vergleich mit dem Vogelmotiv aus dem Prätext. Sind es im Prätext die Vögel, welche die Geschwister zunächst in eine sehr gefährliche Lage bringen und den Plan Petit Poucets durchkreuzen, so sind es im Roman die älteren Geschwister selbst, die sich durch ihre obsessive Sinnsuche in Gefahr bringen, ihr wirkliches Leben zu verpassen. Eine weitere Modifikation wird hinsichtlich des Ogers vorgenommen, der teilweise von seiner konkreten auf eine übertragene Bedeutung transponiert wird.118 Als Julien Irène erklärt, dass er noch nicht in Trinités Hütte eintreten könne, da er noch nicht vollkommen vom Oger geheilt sei, antwortet sie lachend, „[m]oi aussi, je dois guérir de mon ogre“ (ebd.: 41), wobei sie sich auf einen Mann bezieht. Die Tatsache, dass Julien den Gebrauch in der übertragenen Bedeutung versteht (vgl. OG: 42), verweist auf eine zweite, dem Roman inhärente Ambivalenz hin, die darauf beruht, dass Julien in der Lage zu sein scheint, die Märchen sowohl als faktuale als auch als fiktionale Erzählung zu rezipieren, die sich auf seine Umwelt übertragen lässt. Daher schreckt er auch nicht davor zurück, das Märchen abzuwandeln. Um seine Geschwister zu Trinités Hütte zu locken, in der er sein und Irènes Geheimnis – seine Revanche in Form des Kindes – enthüllen will, streut er weiße Kiesel und stellt ihnen Ski, „leurs bottes de sept lieues“ (ebd.: 179), zur Verfügung, die im Märchen nur Petit Poucet benutzt. Sein Triumph soll ihnen wie Dornröschen die Augen öffnen: „[I]ls vont se réveiller de leur sommeil de cent ans.“ (Ebd.) Doch die Geschwister können wegen des Frühlingswetters die Ski nicht benut118 Der Begriff des ‚ogre‘ wird insgesamt zu einem vieldeutigen Signifikanten, dessen Signifikat sich nicht in der konkreten Gestalt des menschenfressenden Monsters erschöpft. Die Mehrdeutigkeit erfasst auch den Titel des Romans, denn einerseits scheint er sich auf eine Romanfigur zu beziehen, Trinité Lauzon, den „ogre de Grand Remous“ (OG: 59). Andererseits kann er in Verbindung mit dem „lieu portant le nom évocateur de Grand Remous“ (Cornellier 1992: D-3) auch in einem übertragenen Sinn verstanden werden. ‚Remous‘ in seiner wörtlichen Bedeutung als Strudel verweist einerseits auf die Isotopie des Wassers und der Gefahr, die von ihm ausgeht, beschreibt jedoch andererseits die Situation der Geschwister, die in ihrer obsessiven Suche beziehungsweise ihrer Märchenwelt wie in einem Strudel gefangen sind: „‚[L]e remous‘ est le mot qui caractérise à merveille l’état d’esprit de tous les frères et sœur Messier, traumatisés par la disparition de leurs parents et condamnés désormais à tourner en rond, désemparés et stigmatisés par l’événement dont ils ne savent pas se libérer qu’ils en ignorent la cause (Charles, Aline, Serge) ou qu’ils la connaissent (Julien).“ (Jarosz 2007: 115)

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zen und übersehen zudem seine Kiesel im Schnee, was eine Parallele zum missglückten Versuch Petit Poucets im Märchen darstellt, durch Brotkrumen den Weg zu markieren. Anstatt somit dem von ihm vorgegebenen Weg zu folgen, machen sich die Geschwister auf den Weg zum Wehr, wo Donald das Geheimnis um die verschwundenen Eltern aufdeckt, das Julien hüten wollte. Die finale Umkehrung besteht darin, dass die Geschwister von Petit Poucet die Initiative ergreifen. Während für diese die Suche nun zu Ende ist, da ihr Wissensdefizit aufgeklärt ist, bleibt unklar, ob Juliens Figurendomäne rezentriert wird, das heißt ob er an seiner Identität als Märchenfigur festhält oder nicht. Die Beziehung zwischen den Erzähluniversen – einerseits den Figurendomänen der Geschwister, die sich vor allem durch ihr Wissensdefizit von der textuell aktualisierten Welt unterscheiden, andererseits die Figurendomäne Juliens, die der TAW der Märchen entspricht und durch die Aufnahme zahlreicher Motive aus dem Märchen konstruiert wird – bleibt unklar, denn der Roman bietet zwei Interpretationsansätze zum Verhältnis der erzählten Welten an. Den Ausgangspunkt bildet die Frage, ob die Märchenwelt in Juliens Figurendomäne dauerhaft rezentriert wird oder ob es ein Fantasie-Universum bleibt, das er nur gegenüber seinen Geschwistern als für ihn „reale“ Welt ausgibt. Handelt es sich also um eine vorgegebene oder um eine reale Figurendomäne? Auslöser für die Reflexionen der Geschwister sind diverse Krisen, Alkoholexzesse und in ihren Augen exzentrische Handlungen, wie beispielsweise sein wochenlanger Rückzug in die Hütte, während dessen seine Geschwister ihn nicht zu Gesicht bekommen (vgl. ebd.: 55-58). Seine selbstzerstörerischen Anfälle bringen sie schließlich dazu, ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Genau wie vorher gegenüber seinen Geschwistern hält er im Gespräch mit den Ärzten an seiner Geschichte fest und passt den Klinikaufenthalt in die fiktionale Märchenwelt ein.119 Dabei beschränken sich die Evokation des Märchens und die Konstruktion der Figurendomäne nicht auf die Geschichtsebene. Beide Märchen werden wörtlich zitiert, meist in Form von syntaktisch eingefassten, das heißt nicht die Syntax des Fließtextes durchbrechenden und zudem narrativ motivierten Zitaten, die durch einen semantisch analogen Kontext hervorgerufen werden. Diese Art von „fragment enchâssé par isotopie métaphorique“ (Lamontagne 1992: 41) dient, wie gezeigt, in L’Ogre de Grand Remous zum einen zur Darstellung des Bewusstseins Juliens, zum anderen sind diese ein Mittel, um seinen Geschwistern 119 Dies drückt Julien folgendermaßen aus: „Si j’ai accepté les remèdes des docteurs, c’est parce que je savais que j’allais mourir. L’ogre m’avait enfin rattrapé.“ (OG: 68)

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und den Lesern gegenüber seine Märchenfigur entstehen zu lassen und ihnen beunruhigende Hinweise zu geben. Für die Geschwister sind die aus dem Zusammenhang gerissenen „paroles sibyllines“ (OG: 65), nicht zu entschlüsseln, da sie ihre Umdeutung ohne den Kontext nicht nachvollziehen können, so dass sie sie nur als Verweise auf das Märchen verstehen. Als Juliens Schwester ihn beim Lauschen an der Tür ertappt, flüstert er ihr in einer Anspielung auf seine Tat zu: „Mais le Petit Poucet ne découvrit rien de tout ce qu’il savait à ses frères!“ (Ebd.) Ausgehend von einer ähnlichen Handlung im Märchen, in dem Petit Poucet die Pläne der Eltern mithört, passt er den Märchentext anschließend in seinen Kontext als Elternmörder ein, ohne diesen bloßzulegen. Zunächst driften die Meinungen der Geschwister über Juliens Zustand auseinander. Während Aline die „schizophrénie douce“ (ebd.: 50) ihrer Mutter in ihrem Bruder zu erkennen glaubt, hat Serge den Verdacht, dass Julien seine Verrücktheit nur vorspielt. Dennoch schreibt er Aline und Charles, dass es ihm nicht gelingt zu sagen: „T’es pas fou, Julien, tu le fais exprès! Dis-moi pourquoi!“ (Ebd.: 159) Diese Vermutung ist auch Charles, der einen Zusammenhang zwischen ihrer Sinnsuche und Juliens Krankheit sieht (vgl. ebd.: 40), nicht fremd: Quelle part avait la comédie dans son personnage de sauvage clairvoyant? […] Était-ce lentement la folie qui faisait son poison en lui? (Ebd.: 66) Sa cabane, sa thébaïde, son personnage de coureur des bois, c’était peut-être cela: une diversion, un mythe, une métaphore, une sublimation redoutable mais qui s’était faite par tendresse. (Ebd.: 57)

Mit den aus dem Schauspiel-Bereich entnommenen Begriffen ‚personnage‘ und ‚comédie‘ wird eine Hierarchie innerhalb des Erzähluniversums entworfen, die Juliens Figurendomäne als Fantasie-Universum in die natürliche TAW einpasst. Charles meint jedoch, eine Entwicklung zu sehen und reflektiert über die allmähliche Rezentrierung der Figurendomäne Juliens, für den die imaginäre Welt langsam zur Realität werde: Et s’il s’était laissé prendre à son propre jeu, à sa légende, jusqu’à la folie? Ayant reconnu le désespoir dans l’agitation des cartes, des livres, et de nos conversations scientifiques, s’il avait décidé de se sacrifier? (Ebd.: 56)

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Die Theorie des Opfers wird durch Julien selbst bestätigt, der, wie bereits erwähnt, die Metapher des Blitzableiters gebraucht.120 Seine Funktion wird noch deutlicher, als er begründet, dass er so viel redet, „[p]our vous apprivoiser, vous faire rire“ (ebd.: 31). Wie ein Blitzableiter nimmt er die Gefahr auf sich, um sie von den Geschwistern abzulenken. Gleichzeitig wirkt der Blitzableiter auch in die entgegengesetzte Richtung, denn Juliens Zustand fordert von den Geschwistern ein großes Maß an Aufmerksamkeit, das sie von ihrer Sinnsuche ablenkt. So sehen sie sich fast als Eltern des jüngsten Bruders, der ihnen Sorge bereitet (vgl. ebd.: 56). Insgesamt nimmt Julien in L’Ogre de Grand Remous zwei Rollen ein. In seiner Figurendomäne, also seiner Wahrnehmung der TAW, verkörpert er Petit Poucet beziehungsweise den Oger. Die Tatsache, dass er in zwei Märchenfiguren schlüpft, deutet darauf hin, dass er in der TAW insgesamt die Funktion eines Märchens innehat. Dadurch dass er seine Figurendomäne willentlich oder nicht auf die Märchenwelt rezentriert hat, wirkt er für die Geschwister, die von der TAW überfordert sind, wie ein Märchen, das ihre Ängste zähmt. Dieser Mechanismus wird in Form einer proleptisch angekündigt, als Aline berichtet, Charles zwinge sie, Gruselromane zu lesen, „pour apprivoiser ma terreur“ (ebd.: 85). Genau dies, die Bewältigung von Ängsten und innerseelischen Konflikten, indem beim Lesen der Märchen Ängste durchlebt werden, ist nach Bruno Bettelheim (1989: 15) eine der Hauptfunktionen dieser Textsorte. In seiner psychoanalytischen Lesart von Volksmärchen als Ausdruck existentieller Dilemmata kommt Bettelheim zu dem Schluss, das Märchen unbewussten Ängsten Gestalt verleihen und unterbewusst Beruhigung und Sicherheit verschaffen und daher zur persönlichen Entwicklung eines Menschen beitragen.121 Somit wird der Roman L’Ogre de Grand Remous zu einem Metamärchen, das den Funktionsmechanismus dieser Textsorte offenlegt, indem er eine Märchenwelt und eine natürliche Welt mit Hilfe des Grenzgängers Julien zusammenprallen lässt. Die unveränderte Übertragung des Märchens auf eine natürliche Welt scheitert jedoch im Text, denn die Märchenwelt erweist sich als zu wenig differenziert für die sinnsuchenden Geschwister, die sich im Gegensatz zu Julien nicht mit einer durch Fatalität geprägten Welt zufrieden geben wollen. Lalondes Roman veranschaulicht damit Lüthis These, wonach Märchen nicht dem Selbstverständ120 „Je suis le paratonnerre de Grand Remous, […] votre guérisseur, si vous le voulez, et même si vous ne le voulez pas!“ (OG: 126) 121 „[L]et the fairy tale speak to his unconscious, give body to his unconscious anxieties, and relieve them, without his ever coming to conscious awareness.“ (Bettelheim 1989: 15)

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nis des aktiven modernen Menschen gerecht würden, der „Selbstgestaltung und Weltgestaltung“ (Lüthi 1978: 96) erreichen wolle. Diesem Streben entspricht eher Lalondes Roman, indem dieser nicht die äußere, sondern die innere Handlung in den Vordergrund stellt. Andererseits gestehen die Geschwister im Nachhinein ein, dass die sehr konkrete Sorge um Julien sie aus ihrer Benommenheit und ihrer Orientierungslosigkeit weckte (vgl. OG: 56), und dass Julien tatsächlich lebte, während sie vor der Realität flüchteten. Somit hat die Analyse der Beziehung der Erzähluniversen ergeben, dass L’Ogre de Grand Remous nicht nur eine Mischung aus Roman und Märchen ist. Über ein „métissage des deux genres“ hinaus, das Jarosz ( 2007: 114) in dem Roman sieht, kann er als Metatext gelesen werden, der ausgehend von der Umdeutung von Elementen des Märchens nicht nur die Gattungsspezifik von Märchen allgemein bloßlegt, sondern diese auch anhand der Figur Juliens in die Tat umsetzt. Für die Interpretation bedeutet dies, dass sich Lalondes Roman wie eine Reflektion über die Funktionsmechanismen der Gattungen Märchen und Roman liest. Das Zusammenprallen der Erzähluniversen in L’Ogre de Grand Remous verdeutlicht daher den fundamentalen Unterschied der Welt-Schau im Märchen und der Welt-Konstruktion im Roman. 4.2.4 Almazar dans la cité: Ein Québecer Don Quijote Einführung Alain Gagnon reiht sich mit Almazar dans la cité (1999) in die Menge der produktiven Lektüren des Klassikers Don Quijote ein,122 von denen Borgesʼ „Pierre 122 Für einen Überblick der literarischen Rekonstruktionen von Don Quijote, siehe zum Beispiel Sermain (1998: 27-154). In Québec hat sich vor Gagnon Victor-Lévy Beaulieu mit dem berühmten spanischen Ritter von der traurigen Gestalt befasst, doch Don Quichotte de la démanche, dessen Titel sehr eindeutig auf Cervantes’ Roman anspielt, ist keine Inszenierung Don Quichottes. Zwar tritt der Ritter am Ende des 1974 erschienenen Romans als Figur auf, der zudem eine Fülle intertextueller Referenzen und Praktiken beinhaltet, doch genügt Beaulieus Roman nicht den Kriterien der Strukturalität und Selektivität: „[M]algré le titre parodique du roman de VLB et la présence hautement diégétique du chevalier dans l’intrigue, le Don Quijote ne s’avère pas le principal intertexte de Don Quichotte de la démanche.“ (Lamontagne 2004: 72) Es handelt sich damit nicht um eine récriture, sondern um einen vielfach intertextuellen Roman, der die Figur des Don Quijote einführt, um die intertextuelle Struktur des Romans als Hommage an die literarischen Vorbilder Beaulieus zu legitimieren (vgl. ebd.: 73).

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Menard, Autor des Quijote“ (Borges 1988)123 bereits genannt wurde. In seinem Roman erschafft Alain Gagnon allerdings Don Quijote nicht neu, wie sich dies Borges’ Protagonist zum Ziel setzt. Vielmehr kreiert er mit Almazar Trudeau, einem Geldverleiher aus dem Québec des ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, eine Figur, die ihrem Helden, Don Quichotte124, in vielerlei Hinsicht nacheifert. Besessen von Cervantes’ Roman – er besitzt die Gesamtausgabe der Übersetzungen – lebt er Don Quichottes Geschichte auf seine Weise nach. Nachdem er beim Pokerspielen die Dienste eines illegalen Einwanderers aus Mexiko, den er sogleich ‚Sancho‘ tauft, gewonnen hat, macht er ihn zu seinem persönlichen Chauffeur und lässt sich fortan in seinem ‚Rossinante‘ genannten Cadillac zu seinen Abenteuern fahren. Eines Abends trifft er in einem abgelegenen Dépanneur125 auf Douce und verliebt sich sofort unsterblich in die junge Frau. Sein vom „génie de Cervantès (ou de Cid Hamet ben Engali?)“ (AC: 46) inspirierter Liebesbrief trifft jedoch nicht auf bedingungsloses Einverständnis: Nackt und mit einem Zeugen – er wählt dafür den Schriftsteller Alain Gagnon, der dem Autor des vorliegenden Romans nachempfunden zu sein scheint126 – muss er seiner Angebeten im tiefen Winter ein Lied aus Louis Fréchettes Mémoires intimes vorsingen. Es gelingt ihm dadurch, Douce zu erobern und in der Folge mit ihr zusammenzuziehen. Nach diesem Erfolgserlebnis wird Almazar von einigen Schicksalsschlägen heimgesucht, denn auf den Selbstmord seines Bruders, Maurice, folgt Douces Tod, die einer Krebserkrankung erliegt. Almazar versucht erfolglos, ihren Tod durch den Besuch bei der mysteriösen Annabel Lee, einer Wahrsagerin, zu verhindern, die Maurice kurz vor seinem Selbstmord besucht hatte. Im Gegensatz zu Maurice sieht Almazar in ihrem Gesicht, das wie ein Spiegel des Inneren des Betrachters wirkt, jedoch nicht das Böse schlechthin, sondern die positiven Seiten des Lebens. Nach Douces Tod muss Almazar aufgrund eines Versprechens, das die Verstorbene Sancho gegeben hatte, die Fami123 Siehe hierzu Kapitel 2.7.2 der vorliegenden Untersuchung. 124 Da sich Gagnons Roman auf die französische Übersetzung des Prätextes bezieht, wird im Folgenden für die Schreibweise ‚Don Quichotte‘ optiert. Gleiches gilt für sein Pferd, das im Französischen ‚Rossinante‘ geschrieben wird. 125 Ein Dépanneur ist ein kleines Geschäft für Lebensmittel und Haushaltswaren in Québec. 126 Die Identität zwischen dem realweltlichen Schriftsteller Alain Gagnon und der literarischen Entsprechung im Text wird nicht nur über den Namen angedeutet, sondern auch durch die Tatsache, dass die Figur Gagnon explizit als Autor eingeführt wird, der einen Roman mit dem Titel Sud publiziert hat (vgl. AC: 50), genau wie dies der Autor von Almazar dans la cité im Jahr 1995 getan hat.

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lie seines Bediensteten nachkommen lassen, was Almazar immer hinausgezögert hatte. Gleichzeitig wird Douce durch ihre Zwillingsschwester, Dulcinée, ersetzt, und Almazar geht weiterhin seinen „guten Taten“ nach, die darin bestehen, säumige Schuldner mit Hilfe seines grobschlächtigen Angestellten, Poupée, gewaltsam zur Zahlung zu bewegen. Kurz darauf tritt ein angeblicher Nachfahre Cervantes’ auf, der Almazar zum Beitritt in den Ordre de la Salade127 überreden und ihm einen Brief von Cervantesʼ an Sidi Hamet Ben Engelí verkaufen will. Kurz vor dem Tod seines Vaters, der ihm oftmals seinen verbrecherischen Lebenswandel vorgeworfen hat, trifft Almazar erneut auf Annabel Lee, die ihm seine einseitig positive Weltsicht vor Augen führt. Almazar durchlebt daraufhin eine Entwicklung, in der er seine bisherige Wahrnehmung anzweifelt und den Autor, Alain Gagnon, bittet, „ihn zu schreiben“, das heißt ihn zur Romanfigur zu machen, als die er sterben wolle. Aus Alain Gagnons Sicht wird daraufhin ein Besuch der verstorbenen Douce beschrieben, die den Schriftsteller über Almazars Tod in Kenntnis setzt. Es folgt ein Bericht über den scheinbar wieder lebendigen Almazar, der mit Gagnon einen Stripclub aufsucht. Im Anschluss daran erzählt Gagnon Almazars letztes Abenteuer, in dem dieser ein Ritual durchführt, mit dem er die versteckten Schätze der Einwohner der Nouvelle-France zu Tage fördern will, die ihre Wertsachen kurz vor der conquête vergraben hatten. In einem alternativen Ende deutet Gagnon ein Leben Almazars als Schäfer an, das damit endet, dass er im kanadischen Winter erfriert. Der Roman, der die burleske Geschichte des modernen Großstadt-Quichotte erzählt, kommuniziert seine Stellung als Text zweiten Grades schon durch das Titelbild, Endre Szasz’ Don Quichotte. Direkte Bezüge auf den kanonisierten Text Cervantes’ finden sich zudem in Form von wörtlichen Zitaten aus dem Prätext und in den Eigennamen – Douces Eltern heißen zum Beispiel Aldonza und Lorenzo, was zusammen genommen den bürgerlichen Namen der Dulcinée aus dem Prätext ergibt. Gagnons Text ist ein komplexes Beispiel für die Verlagerung der récriture in das Erzähluniversum, das im Grenzbereich zwischen Typ zwei und Typ drei der vorliegenden Typologie zu verorten ist. Mit Hilfe einer komplizierten Metalepsen-Struktur128, die in der Zusammenfassung schon angedeutet wurde, nähert 127 Das Wort ‚salade‘ wird hier zu wortkomischen Zwecken eingesetzt und bezieht sich auf das Kopfteil einer Ritterrüstung. 128 Siehe zur narrativen Metalepse beziehungsweise der „Kontamination getrennter Ebenen innerhalb eines Erzählwerks, die […] zu einem paradoxen Umsturz der logischen Hierarchie oder wenigstens zu einem lebensweltlich unmöglichen logischen

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sich der Roman der dritten Form der récriture an, die einen Schreibprozess als Folge der Rezeption innerhalb des neuen Erzähluniversums voraussetzt. Die Einführung der eigentlich textexternen Instanz des Autors als Figur in das Erzähluniversum ist eine Ebenenüberschreitung und läuft der bestehenden Kategorisierung, die unterscheidet, ob der Prätext innerhalb des neuen Erzähluniversums nur rezipiert oder sowohl rezipiert als auch neu geschrieben wird, zuwider. Zunächst entspricht der Text in seiner Abbildung des Rezeptionsprozesses den Romanen des zweiten Typs, führt jedoch in der Person des Autors später das Schreiben in das Erzähluniversum ein, wobei die fiktive Entsprechung Alain Gagnons textintern keine récriture von Don Quichotte schafft – dies bleibt dem textexternen, realweltlichen Alain Gagnon vorbehalten. Durch die MetalepsenStruktur ist paradoxerweise jedoch von einer Identität dieser schriftstellerischen Instanzen auszugehen, welche sich nicht problemlos in die auf logischen Kriterien fußende Typologie einordnen lässt. Dennoch lässt sich anhand des vorgestellten Analyseinstrumentariums das Zusammenspiel mit dem Prätext präzise erfassen. Dabei besteht in diesem Fall die Besonderheit, dass Don Quichotte selbst ein hochgradig intertextuelles Werk ist, wird doch die Gattung des Ritterromans in Cervantesʼ Roman verarbeitet. Gagnons Text ist dabei nicht nur eine Transposition der Geschichte Don Quichottes in das Montréal des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, sondern fokussiert vor allem die (Selbst-)Reflexion des Romans, die schon im Prätext nachzuweisen ist, und im Text zweiten Grades eine Steigerung erfährt. Figurenkonstellation und Aufbau der Erzähluniversen Almazars unreflektierte Begeisterung für die Figur des Don Quichotte lässt sich mit derjenigen seines berühmten Vorbildes für die fahrenden Ritter vergleichen. Seine Identifikation mit dem literarischen Idol erklärt er als Ausfüllen einer Leere, die ihn bis zur Lektüre des Buches bestimmt hatte. Auf Bewährung freigelassen, arbeitet er in einer Universitätsbibliothek, wo er eine folgenschwere Entdeckung macht:

Sprung zwischen Realität und Fiktion führt“ (Wolf 1993: 357), zum Beispiel Genette 2004, Martínez/Scheffel 2005: 79 sowie Wolf 1993, der allerdings nach einer kritischen Würdigung des Begriffseinsatzes den Terminus „narrativer Kurzschluß“ (ebd., Hervorhebung im Original) bevorzugt, der sich allerdings nicht durchgesetzt hat.

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Au début, je lisais surtout des magazines, jusqu’à ce que je découvre, par le plus pur des hasards, Les merveilleuses aventures du valeureux chevalier don Quichotte de la Mancha. Ce fut un choc, une révélation. Je passais des heures et des heures dans les entrepôts poussiéreux à lire et à relire les exploits du fier hidalgo. […] Après plusieurs mois de ce manège, un bon matin, j’ai débarrassé le livre de sa bande magnétique et je l’ai volé avant de donner ma démission pour aller combattre le Mal et promouvoir la Justice dans la Cité […]. (AC: 18)

Der Umgang des Protagonisten mit dem Prätext129 verweist dabei schon auf einen Unterschied zu Don Quichotte, der sich als geringe Skrupellosigkeit im Vergleich zu seinem Helden ausdrückt. Cervantes’ Don Quichotte rechtfertigt Gesetzesüberschreitungen immer mit Bezug auf eine ritterliche Gepflogenheit, die er sich angelesen hat. So eignet er sich zwar unrechtmäßig eine Barbierschüssel an, meint in ihr jedoch den Helm von Mambrín zu sehen, der dem Stärkeren, also in diesem Fall ihm, zustehe (vgl. DQ I: 234f.). Da er jedoch in seinen Büchern keine Angaben zum Umgang mit dem Hab und Gut des Besiegten gefunden hat, erlaubt er Sancho keine Plünderung (vgl. ebd.). Auch eine weitere Gesetzesüberschreitung, das Freilassen der Galeerensklaven (vgl. ebd.: Kapitel XXII), wird mit seiner ritterlichen Mission begründet.130 Im Gegensatz dazu stiehlt Almazar das Buch, ohne sich dafür zu rechtfertigen. Die Figurendomäne beider Protagonisten wird von dem Wunsch beherrscht, ihren Helden nachzueifern und das Goldene Zeitalter wieder aufleben zu lassen. Nachdem Almazar als Don Quichotte zweiten Grades einen Monolog seines Helden über die Vorzüge des Siglo de Oro zitiert hat, kommt er zu dem Schluss: C’est pour rétablir le droit par la force et protéger les plus faibles maintenant menacés que l’on a dû former des ordres de chevalerie dont Amadis de Gaule et don Quichotte sont les plus illustres représentants […]. [S]i j’ai de l’espoir, c’est parce que j’ai l’intime conviction que, don Quichotte, il ne parlait pas des temps passés mais de l’avenir. (AC: 54)

129 Für die vorliegende Untersuchung wurde die in der Reihe Folio classique von Jean Canavaggio herausgegebene Übersetzung in zwei Bänden herangezogen. Sermain (1998: 54) verweist auf die problematische Übernahme von Archaismen in dieser Übersetzung aus dem Jahr 1988, die sich für die vorliegende Studie jedoch als unerheblich erweist. 130 Diese fasst er mit der Formel, „résister à la force et secourir les misérables“ (DQ I: 243), zusammen.

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Dieses nach Almazar in die Zukunft gerichtete Handeln Don Quichottes äußert sich in dem Bestreben, die TAW an seine Wünsche und Intentionen anzupassen. Um ihr Ziel zu erreichen, verfolgen die beiden Protagonisten jedoch sehr unterschiedliche Pläne und Vorgehensweisen, die auf divergierenden charakterlichen Anlagen und Wertesystemen basieren und eklatante Unterschiede in der Wissens- und Pflichtenwelt zu Tage fördern. Don Quichotte wendet seine Informationen aus den Ritterbüchern buchstabengetreu an, greift auf die verrostete und verrottete Rüstung sowie die Waffen eines Vorfahren zurück (vgl. DQ I: 70) und imitiert die fahrenden Ritter, indem er zwar auf der Suche nach Abenteuern, aber dennoch weitgehend ziellos durch das Land streift. Getreu den gelesenen Ritterbüchern fühlt er sich verpflichtet, sich eine Angebetete auszusuchen. Er entscheidet sich für die Bauerntochter Aldonsa Lorenzo, für die er früher Gefühle empfunden hatte, und benennt sie in ‚Dulcinée du Toboso‘ um (vgl. DQ I: 72f.), genauso wie er sich selbst einen klingenderen Namen verpasst (vgl. ebd.: 71). Überdies beweist er Erfindungsgabe, als er sich von einem Schankwirt zum Ritter schlagen lässt, um den Bestimmungen des Rittergesetzes zu genügen (vgl. ebd.: Kap. II und III). Während Don Quichotte somit die Ritterbücher beim Wort nimmt und weitgehend ohne Änderungen nachahmt, führt Almazar Anpassungen durch, die einer Transposition seiner Zielsetzung in das zwanzigste Jahrhundert entsprechen.131 So ersetzt er das Pferd Rossinante durch seinen Cadillac, trägt weder Rüstung noch Waffen, kümmert sich auch nicht darum, nicht zum Ritter geschlagen zu sein und behält seinen bürgerlichen Namen, Almazar Trudeau, bei. Was seine Wirkungsstätte angeht, so reist er nicht auf gut Glück über das Land, sondern sucht Kneipen auf, in denen potenzielle Spielsüchtige auf seine Dienste angewiesen sein könnten, und stellt diesen anschließend bei Zahlungsverzug auf sehr gezielte Weise mit seinem Angestellten nach. Dennoch imitiert Almazar in seiner Freizeit Don Quichottes Ausfahrten: Traversant le paysage par un chemin vicinal à droite, empruntant un rang à gauche, selon l’humeur de mon index qui agissait comme la baguette d’un sourcier. Rossinante déchirait la lumière or de nos paysages vallonnés en octobre, obéissant à l’instinct du chevalier Almazar qui connaissait la vérité de sa quête mais en ignorait l’objet. (AC: 36)

131 „C’est pour ça qu’on retrouve des chevaliers qui errent de par le vaste monde pour redresser les torts. Autrefois, ils se déplaçaient à cheval. Aujourd’hui, ils roulent en Cadillac, Ford ou Volvo. Mais c’est du pareil au même.“ (AC: 73)

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Die Bekanntschaft seiner Douce macht Almazar bei der oben beschriebenen Ausfahrt und lernt im Gegensatz zu seinem verehrten Helden seine Angebetete somit leibhaftig kennen. Sein coup de foudre im Angesicht Douce TremblayMcLarens steht im Kontrast zu Don Quichottes bewusster Entscheidung, eine (weitgehend unbekannte) Angebetete zu besingen, weil sich dies für einen fahrenden Ritter gehöre. Don Quichotte hat somit infolge seiner übermäßigen Lektüre eine Rezentrierung durchgeführt – die aus den Ritterbüchern entnommenen Fantasieuniversen sind für ihn an die Stelle der TAW gerückt. Daher interpretiert er in seinem Wahn alle Begebenheiten gemäß dieser übernatürlichen, von Riesen und holden Prinzessinnen bevölkerten Welt. Dabei legt er bei allen Aktivitäten die Normen und Werte des F-Universums an. Konsequenterweise hat er sein Selbstbild mit demjenigen eines berühmten Ritters getauscht, so dass Schwächen seinerseits nur durch die Einwirkung magischer Kräfte erklärt werden können. Während Don Quichotte demnach aktiv gemäß den Pflichten eines Ritters eine Liebe zu Dulcinée konstruiert, die in der textuell aktualisierten Welt nicht besteht, da er sie nicht einmal zu Gesicht bekommt, stellt Almazars Beziehung zu Douce ein Element der nicht nur virtuell bestehenden Intrige dar. Die TAW bietet mit dem Auftauchen der jungen Frau mit dem Namen Douce somit den Ausgangspunkt für die Zusatzbedeutung, die Almazar ihrem Verhältnis zuschreibt, indem er die Parallele zum Prätext hervorhebt und Douce bittet: „Parle-moi de Don Quichotte. Parle-moi du chevalier à la Triste Figure encore.“ (AC: 11) Ein noch stärkeres Indiz dafür, dass Almazar im Gegensatz zu Don Quichotte die Rolle des Ritters nicht hundertprozentig übernimmt, sondern sie eher als Sinn und Legitimation stiftenden Mehrwert für sein Alltagsleben behandelt, ist seine berufliche Tätigkeit, in der er, wie bereits angedeutet, Skrupellosigkeit und einen großen Geschäftssinn an den Tag legt. Seine Karriere als Kredithai gründet auf einem zufälligen Treffen mit einer spielsüchtigen Sozialhilfeempfängerin, La Bourrée, die seinen Kredit sofort wieder verspielt. La Bourrée ist in der Folge die einzige Person, deren Tod Almazar trifft. Ihre Beerdigung gibt ihm Anlass, sein Menschenbild zu kommunizieren: Nous avons grandi comme poussent les arbres, puis, à l’âge de la conscience, devant l’étrangeté de ce monde, nous sommes demeurés ébahis, nous avons pris peur et nous avons péché contre tes lois. (AC: 29, Hervorhebung im Original)

Almazars vorgegebene Absicht, Gutes zu tun und den Benachteiligten gemäß seinem Menschenbild wieder auf den richtigen Weg zu helfen, wird von anderen Figuren angezweifelt. Beispielsweise wirft ihm sein Vater sein verbrecherisches

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Leben vor (vgl. ebd.: 95), so dass er gezwungen ist, seine Aktivitäten in ein positives Licht zu rücken.132 Somit scheint seine Intentionenwelt eher von seinem Wunsch nach Bereicherung, als von seinem Pflichtgefühl bestimmt zu sein. Genau wie bei Don Quichotte gereicht die gute Absicht nicht immer zum Vorteil der Hilfsbedürftigen.133 Oftmals ist er selbst es, der die Konsequenzen seiner Aktivitäten tragen muss – die befreiten Galeerensklaven weigern sich beispielsweise, Dulcinée aufzusuchen und bedanken sich stattdessen mit einem Steineregen bei Don Quichotte, „fort chagrin de se voir si mal accoutré par ceuxlà mêmes à qui il avait fait tant de bien“ (DQ I: 254). Don Quichotte zögert nicht, sein eigenes Wohl aufs Spiel zu setzen und zweifelt – selbst zertrampelt von diversen Tierherden und zerschlagen von Windmühlen oder durch einen Streich am Dachfirst festgebunden – nicht an seinem Auftrag. Er beweist durchgehend „moralische Integrität“ (Neuschäfer 1963: 56) und großen Mut, indem er Dulcinée gegen jeglichen Vorwurf verteidigt und sich jedem Gegner entgegenstellt, den er als solchen identifiziert hat. Seine Tollheit geht so weit, einen Löwenbändiger dazu zu bringen, den Löwenkäfig zu öffnen, damit er sich mit dem – glücklicherweise sehr trägen – Tier messen kann (vgl. DQ II: Kap. XVII). Don Quichottes Kompromisslosigkeit ist dabei jedoch auch ein Zeichen seiner Charakterstärke. Mehrmals sind Figuren von seiner Intelligenz und Bildung beeindruckt, die nur im Zusammenhang mit Ritterbüchern dem Wahnsinn weichen. Don Diègue hält ihn daher für einen „sage fou, et un fou qui tenait du sage“ (ebd.: 149).134 Zudem erweist er sich gerade im Erzähluniversum des zweiten Bandes als sehr freigebig, indem er entstandene Schäden wie kaputte Marionetten (vgl. ebd.: Kap. XXVI) und das Boot der Müller bezahlt, mit dem er auf Abenteuersuche gehen wollte (vgl. ebd.: Kap. XXIX). Don Quichottes Weigerung, für seine Unterkunft und Verpflegung in der ersten Schenke, die er für eine Burg hält, zu bezahlen, basiert auf der wörtlichen Aneignung der Ritterbücher 132 Seine angebliche Wohltätigkeit drückt er folgendermaßen aus: „Je ne suis pas un bandit. Je serais plutôt un bienfaiteur. Je prête à ceux pour qui les institutions financières n’entameraient même pas l’amorce d’un dossier de crédit.“ (AC: 95f.) 133 Don Quichottes Versuch, André Prügel zu ersparen, scheitert beispielsweise, da er sich gutgläubig auf die Worte des Landarbeiters verlässt (vgl. DQ I: Kapitel IV). Hintergrund für Don Quichottes Entscheidung, sich für den im Unrecht befindlichen Bauernknecht einzusetzen, ist wiederum das höfische Ideal, das es verbietet, dass ein Wehrloser von einem Stärkeren körperlich belangt wird (vgl. Neuschäfer 1963: 54). 134 Seine Einschätzung Don Quichottes begründet Don Diègue wie folgt: „Car les paroles qu’il proférait étaient bien disposées, élégantes et bien à propos, au lieu que ses actions étaient extravagantes, téméraires et absurdes.“ (DQ II: 149)

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und deren Regelsystem, das besagt, dass fahrende Ritter umsonst Unterkunft gewährt werde. Erst der Hinweis des Wirts macht ihn auf die Leerstellen135 innerhalb des fiktionalen Textes aufmerksam, die der Leser eigenständig füllen muss – in diesem Fall, indem er das Vorhandensein von Geld und Kleidung zum Wechseln voraussetzt (vgl. DQ I: 82). Don Quichottes vollständige Rezentrierung – die erst am Ende des zweiten Bandes komplett aufgelöst wird, als er die TAW wieder als seine Realität anerkennt und seine vorherige Weltsicht in den Rang eines Fantasie-Universums zurückdrängt, steht im Gegensatz zur von Anpassung geprägten Aneignung des Prätextes durch den Protagonisten in Almazar dans la cité. Almazars Engagement für Hilfsbedürftige geht nicht so weit, dass er dadurch seinen eigenen Vorteil gefährden würde. Vielmehr ist sein Handeln durch ein ständiges Abwägen von Einsatz und Gewinn geprägt, das sich in einer Emotionslosigkeit gegenüber seinen Mitmenschen äußert. Seine Beziehung zu seinem Untergebenen Pedro, den er als Schildknappen auserkoren hat und, wie erwähnt, ‚Sancho‘ nennt, weist dabei Parallelen zu derjenigen Don Quichottes zu Sancho Panza auf. Das hierarchische Verhältnis stimmt überein und Almazar findet in der Zusage, die Familie des illegal eingewanderten Pedro nachzuholen und ihm die Herrschaft über den illegalen Geldverleih in der Hälfte der Stadt zu geben, eine Entsprechung für Don Quichottes Zusicherung, Sancho mit der Statthalterschaft über eine Insel zu belohnen. Dennoch unterscheidet sich die Beziehung dadurch, dass Pedro in einem völligen Abhängigkeitsverhältnis zu Almazar steht, während Sancho seinem Herrn freiwillig folgt. Frau und Kinder werden nur auf Betreiben von Douce nachgeholt, da Almazar lange kalkuliert hatte, dass eine Familie für Pedro anderweitige Verpflichtungen bedeutet, die sein Engagement ihm gegenüber mindern könnten. So entscheidet er sich zunächst für eine manipulatorische Hinhaltetaktik und schickt zu Weihnachten Bonbons nach Tijuana.136 Am deutlichsten wird der zynische und pragmatische Charakter Almazars entlarvt, als er gleich nach Douces Beerdigung ein Verhältnis mit ihrer Zwillingsschwester, Dulcinée, eingeht, die er der Einfachheit halber wie ihre verstorbene Schwester anspricht: „Je vais t’appeler Douce. Ce sera plus simple.“ (Ebd.: 111) Konsequenterweise ist Almazar im Gegensatz zu Don Quichotte unbeliebt. 135 Siehe hierzu Iser 1975: 261 sowie Kapitel 2.4.1 der vorliegenden Untersuchung. 136 Indem Almazar kommentiert, „[j]’ajoute même un mot de ma main en espagnol, langue que j’ai un peu apprise à force de potasser Don Quichotte. Pour le reste, on verra. Rien ne presse“ (AC: 13), legt er offen, dass er es nicht eilig hat, Pedro und seine Familie zusammenzuführen.

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Seine kompromisslose und gewaltsame Arbeitsweise führt dazu, dass er gefürchtet ist und keine Freunde hat, wie die fast leere Kirche bei seiner Hochzeit mit Douce dokumentiert (vgl. ebd.: 101). Die Appropriation eines fremden Erzähluniversums als Fantasie-Universum äußert sich demnach einerseits aufgrund der divergierenden charakterlichen Prädispositionen im Primär- und im Sekundärtext auf sehr unterschiedliche Weise. Angedeutet wurde andererseits, dass Almazar den Prätext nicht vollständig als TAW akzeptiert. Vielmehr oszilliert er zwischen der fiktionalen Welt Don Quichottes und den Gegebenheiten der ihn umgebenden Realität. Dies geschieht bewusst, so dass seine Aneignung des Prätextes zweckgebunden scheint. Sie verschafft seiner Lebensweise den Anschein eines ehrenvollen Motivs. Prätext und Text zweiten Grades differieren jedoch nicht nur erheblich in der Stellung des durch den jeweiligen Prätext verursachten Fantasie-Universums. Darüber hinaus entwickelt sich das Zusammenspiel des F-Universums mit der TAW in beiden Werken sehr unterschiedlich. Konsequenzen des Illusionsverlustes Die unterschiedlichen Konfliktlinien innerhalb der beiden Erzähluniversen lassen sich am besten anhand der Beziehung zu den Begleitern der Protagonisten erschließen. Sancho Panza stellt ein Gegengewicht zu Don Quichotte dar und nimmt innerhalb des Erzähluniversums ab der zweiten Ausfahrt eine ähnlich bedeutende Rolle wie dieser ein. Don Quichotte und sein Schildknappe können dabei als symmetrisches Oppositionspaar bezeichnet werden, wobei der Wahnsinn Don Quichottes von einer hohen Bildung, die Naivität und Vorurteile Sanchos dagegen von einer guten Beobachtungsgabe und einem gesunden Menschenverstand begleitet sind (vgl. Sermain 1998: 41). Beide durchlaufen im Zuge der Ausfahrten eine Entwicklung.137 So beginnt Don Quichotte im zweiten Teil zuzugeben, dass seine Wahrnehmung auf Illusionen gründen könnte und greift immer häufiger auf den Vorwand der Zauberei zurück, um sich Widersprüche zu erklären. Zudem gibt er zu, in der Höhle des Montesinos (vgl. DQ II: Kap. XXIII) eventuell geträumt zu haben, und ist überrascht, vom Herzogspaar als Ritter behandelt

137 Die Entwicklung der anfänglichen Opposition beschreibt Miguel Salas unter Bezug auf Madariaga (1978: 137-159) als „la sanchificación de Don Quijote y la quijotización de Sancho […], procesos que se operan por la proyección de su experiencia, vivida en común pero desde diferentes perspectivas, sobre los nuevos hechos.“ (Salas 1988: 170)

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zu werden.138 Dadurch deutet die Erzählinstanz eine Hellsichtigkeit Don Quichottes an, der sich stellenweise durchaus bewusst ist, dass er nur eine Rolle spielt. Zudem antwortet Don Quichotte ausweichend, als er auf die Existenz Dulcinées angesprochen wird. Die Frage ihrer Existenz oder Nichtexistenz sei für sein Projekt unerheblich (vgl. ebd.: 279). Wichtig ist ihm dagegen ihre Perfektion und ihre Funktion als Projektionsfläche für seine Heldentaten, denn zu einem fahrenden Ritter gehöre nun einmal eine Dame (vgl. ebd.: 278). Nach dem verlorenen Duell gegen den Ritter des Weißen Mondes tritt die Desillusionierung in eine weitere Phase, denn er erkennt: „[L]es trésors des chevaliers errants sont, comme ceux des esprits follets, apparents et faux.“ (Ebd.: 553) Die Rezentrierung erfolgt schließlich mit dem Abschwören der Ritterbücher, indem er die textuell aktualisierte Welt wieder als seine Realität akzeptiert und den Ritterbüchern wieder ihren fiktionalen Status zuspricht. Sanchos Entwicklung lässt parallel dazu eine immer größere Unabhängigkeit und Reflexionsfähigkeit erkennen, so dass beide Protagonisten insgesamt an Komplexität gewinnen (vgl. Sermain: 1998: 43-48). Gerade diese widersprüchlichen Anlagen der beiden Figuren ermöglichen es, sehr verschiedene Sichtweisen zu präsentieren und die Relativität der Wahrnehmung darzustellen. Im Gegensatz zu Don Quichotte hat Almazar keinen gleichberechtigten Partner, denn Pedro rückt mit dem Nachzug seiner Familie sehr in den Hintergrund. Als Gegensatz fungieren Douce II und Almazars Brude, Maurice. Douce II beweist beispielsweise Realitätssinn, als sie das Angebot des Vertreters des Ordre de la Salade kritisch-spöttisch hinterfragt und Widersprüche in dessen Ausführungen hervorhebt (vgl. AC: 116).139 Die Opposition zu Maurice Trudeau besteht in der gegensätzlichen Weltsicht der beiden Brüder. Dem kultivierten Pessimisten Maurice, der aus Verzweiflung Selbstmord begeht, steht der 138 „Don Quichotte était fort étonné […] et ce fut là le premier jour qu’il connut et crut tout à fait être un vrai chevalier errant, et non imaginaire, en se voyant traité de la sorte dont il avait lu que l’on traitait de semblables chevaliers aux siècles passés.“ (DQ II: 262) 139 So drängt der Abgesandte des Ordre de la Salade Almazar, den Brief nur mit Handschuhen anzufassen, trägt jedoch selbst keine, irrt sich in Bezug auf die Biografie Cervantes’ und spricht gegen Ende der Konversation auf einmal akzentfrei Französisch (vgl. AC: 116f.). Die Episode kritisiert auch implizit den Rassismus, der in der TAW von Don Quichotte vorherrscht, denn Almazar muss für seine Mitgliedschaft im Ordre de la Salade nachweisen, dass er weder jüdische noch maurische Vorfahren hat (vgl. ebd.: 114).

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ignorante, geschichtslose und optimistische Almazar gegenüber, der die Realität nicht wahrhaben will, denn aus seiner Sicht gibt es „partout que des princes et des princesses qui s’ignorent et qui se sont temporairement déguisés en putes, en joueurs compulsifs, en pornographes […]“ (ebd.: 98). Ihre gegensätzliche Weltsicht offenbart sich bei ihren Besuchen bei Annabel Lee140, die als übernatürliche Projektionsfläche fungiert, indem sie den Brüder ihre einseitige Wahrnehmung beziehungsweise Interpretation141 der Welt vor Augen führt. Während Maurice in ihrem Gesicht alle Gräuel der Welt zu erkennen glaubt, sieht Almazar Eindrücke geliebter Gesichter, schöner Erinnerungen und paradiesischer, unbekannter Welten. Indem Annabel Lee Almazar Einblick in Maurices Welt gewährt, löst sie Zweifel in Almazar aus: „[J]e me mets à douter, moi, Almazar Trudeau. De moi, de la beauté et de la bonté du monde. Et, pire encore! de mon propre regard!“ (Ebd.: 131f.) Almazars selbstkritische Entwicklung, die vom Tod seines Vaters und von Sanchos Rückzug in die Familie begleitet wird, äußert sich zunächst in dem Wunsch, seine Geschichte aufzuschreiben, um seine Desillusionierung zu vergessen: „Si je m’écris je vais peut-être oublier, oublier que je ne suis que moi.“ (AC: 136) Sein Vorhaben scheitert jedoch, so dass er den Beschluss fasst, sich, wie erwähnt, von Alain Gagnon zur Romanfigur machen zu lassen, um „zu verschwinden“ und nicht mehr leiden zu müssen (vgl. ebd.: 137). Die Zerstörung seiner Illusion erfüllt ihn mit einer Leere, die ihn identitätslos macht, so dass er auf den Schriftsteller zurückgreifen möchte, um sein Leben neu erfinden und ihm eine Identität konstruieren zu lassen: „Je suis volontaire: personnage de roman! Voilà comment je veux finir ma vie. […] [D]ésormais, il n’y aura plus de masques, plus de questions existentielles, je serai un de vos personnages et vous 140 „Annabel Lee“ ist ein Gedicht von Edgar Allen Poe (1980: 477-479) aus dem Jahr 1849, das darlegt, wie die schöne Annabel Lee ihrem Geliebten durch den Tod entrissen wird. Indem über das Intertextualitätssignal ein deutlicher Kontrast zu Almazars Umgang mit Douces Tod aufgebaut wird, scheint die Figur der Seherin Annabel Lee in Almazar dans la cité eine Allegorie der Relativität der Wahrnehmung darzustellen. Als personifizierte Projektionsfläche macht sie die Brüder Almazar und Maurice auf ihre gegensätzliche Wahrnehmung aufmerksam. 141 Hans-Jörg Neuschäfer vergleicht in ähnlicher Weise Don Quichottes einseitige Weltauslegung mit einer Textinterpretation durch einen „Leser, der, anstatt sich in seinem Meinen vom Text korrigieren zu lassen, so sehr in seiner Überzeugung gefangen bleibt, daß es ihm gar nicht bewußt wird, wie er dem Text mit seinem Verständnis Gewalt antut und wie er ihn in seiner ursprünglichen Ordnung verfälscht.“ (Neuschäfer 1963: 53)

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m’agirez.“ (Ebd.: 140, Hervorhebung im Original) Von der Nachahmung einer fiktiven Gestalt innerhalb der TAW möchte er zur fiktiven Gestalt werden, da ihm die Realität zu schwer zu ertragen scheint. Indem Almazar hier der Literatur einen Einfluss auf die Realität zuspricht, indem er also davon ausgeht, dass sein Leiden aufhören wird, wenn er zu einer literarischen Figur wird, lässt Gagnon seinen Protagonisten in metafiktionaler Weise ein Grundparadoxon von Literatur thematisieren, nämlich ihre „Wirkkraft auch in der Realität“, die theoretisch ihrem Status als reine „Möglichkeitswelten“ entgegensteht (vgl. Hartwig 2008: 84). Im Gegensatz zu Don Quichotte, der seinen Wahnvorstellungen entsagt und in Einklang mit der TAW stirbt, steigert der bis dahin kalkulierend wirkende Almazar den Donquichottismus und fordert seine eigene Fiktionalisierung. Mit Hilfe der bereits erwähnten Metalepse, die im Mittelpunkt des folgenden Kapitels steht, gewährt ihm Alain diesen Wunsch. Die Metalepse als Steigerung der Brechung von Erzählebenen im Prätext Die Metalepse ist nach Genette eine Transgression von Fiktionsebenen, die notwendigerweise einen logischen Bruch mit sich bringt: [U]ne manipulation – au moins figurale, mais parfois fictionnelle […] – de cette relation causale particulière qui unit, dans un sens ou dans l’autre, l’auteur à son œuvre, ou plus largement le producteur d’une représentation à cette représentation elle-même. (Genette 2004: 14)

Auch der Prätext spielt mit der Überschreitung von Grenzen, indem die Erzählebene mehrfach gebrochen wird, ein Verfahren, das Hans Gerd Rötzer (2009: 61) als Charakteristikum der Prosa Cervantes’ insgesamt ansieht. Der reale Autor, Miguel de Cervantes, erfindet in Don Quichotte einen extradiegetischheterodiegetischen Erzähler, der in den ersten acht Kapiteln des ersten Bandes vorgibt, seine Geschichte aus verschiedenen Quellen zusammenzustellen und teilweise auf Widersprüche zwischen den einzelnen Versionen hinweist. Ab dem neunten Kapitel erfolgt eine Trennung in – erstens – einen fiktionsintern als real präsentierten Urheber der Erzählung, Cid Hamet el Benengelí, der die arabische Originalversion einer Biografie verfasst habe – zweitens – den Herausgeber, der auf diese gestoßen sei und sie – drittens – zu einem Übersetzer brachte, der somit die letzte von drei textinternen aber außerhalb der erzählten Welt angesiedelten Vermittlungsinstanzen darstellt. Der Herausgeber tritt als die oben genannte extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz auf und kommentiert sowohl die

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Vorgehensweise Cid Hamet et Benengelís als auch Auslassungen beziehungsweise Anmerkungen des Übersetzers. Zudem gibt es aufgrund der zahlreichen eingefassten Erzählungen mehrere intradiegetische Erzählinstanzen, die entweder homo- oder heterodiegetisch erzählen, wobei Cervantes in Reaktion auf Kritik an der Inkohärenz des ersten Bandes im zweiten Band Nebenstränge vermeidet und weniger auf Nebenfiguren zurückgreift, die ihre eigenen Geschichten berichten, sondern auf solche, die die Protagonisten in Abenteuer verwickeln.142 Zudem treffen die Charaktere im zweiten Band auf eine Vielzahl von Illusionen, Manipulationen und Schauspielen, die entschlüsselt werden müssen (vgl. Sermain 1998: 29f.). Der Fiktionsbruch bei Don Quichotte besteht darin, dass einerseits ein Eindruck von Authentizität erweckt werden soll, die Bemühungen dazu den Konstruktcharakter der Erzählung andererseits jedoch umso deutlicher hervorheben. Die fiktiven Autorinstanzen und ihre ständigen Bemühungen, die burleske und von zahlreichen Zufällen durchsetzte Geschichte Don Quichottes als wahrheitsgetreu zu präsentieren, führen zu einer verstärkten Betonung der Vermittlungsebene. Sie zerstören somit die Illusion einer sich selbst präsentierenden Geschichte und lenken die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Präsentationsstrategien und damit auf die Arbeit des Autors (vgl. ebd.: 70). So lobt der Herausgeber an mehreren Stellen die Detailtreue des fiktiven maurischen Autors, der alle Merkmale eines allwissenden Erzählers erfüllt, welche eigentlich nur der Zauberer leisten könnte, den sich Don Quichotte gemäß seiner Ritterbücher als Berichterstatter seiner Abenteuer wünscht, und untergräbt damit gleichzeitig den Anspruch auf Authentizität. Noch weiter geht der Erzähler, wenn er am Ende des ersten Bandes seinen bisherigen Wahrheitsbeteuerungen widerspricht und ironisch eine Bitte an den Leser vorbringt: Il ne demande à ceux qui la [l’histoire, MK] liront, pour récompense du grand et immense travail que lui a coûté la recherche d’icelle parmi toutes les archives de la Manche, pour la mettre en lumière, autre chause, sinon qu’on y ajoute la même foi qu’ont accoutumé de donner les personnes sensées aux livres de chevalerie, qui ont tant de vogue et de crédit par le monde: car avec cela il se tiendra pour bien payé, et même cela l’encouragera à en tirer et chercher d’autres, sinon aussi véritables, au moins aussi bien inventées et aussi divertissantes. (DQ I: 610, Hervorhebung v. MK)

142 Zur „kompositorische[n] Verbindung von Haupthandlung und eigenschobenen Geschichten“ in Don Quichotte, siehe Neuschäfer 1963: 60-69.

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Eine weitere Grenzüberschreitung findet sich im zweiten Band, in dem die Figuren Kenntnis des ersten Bandes erhalten, den sie allerdings im Gegensatz zum Leser als auf Fakten beruhende Biografie lesen. Der allwissende Romancier wird von Don Quichotte zum Zauberer deklariert, um erklären zu können, dass der Roman – der sie erschaffen hat – in den wenigen Wochen nach ihrer Rückkehr von der zweiten Ausfahrt geschrieben, gedruckt, publiziert und verbreitet werden konnte (vgl. Sermain 1998: 72). Wieder ist der Leser gezwungen, die Figuren gleichzeitig sowohl als Personen mit gewissen Eigenschaften als auch als literarische Konstrukte wahrzunehmen. Der Eindruck der Distanzlosigkeit und des unvermittelten Dabeiseins in der Geschichte, den die Herausgeberfiktion fördert, ist somit nur um den Preis der Metafiktion zu verwirklichen. Cervantes spielt in Don Quichotte mit Isers für den Leseprozess festgestellter „Dialektik zwischen Illusionsbildung und Illusionsdurchbrechung“ (Iser 1984: 208). Dabei wirken die verwendeten Verfahren – die Konstruktion einer Geschichte, um das Auffinden der Manuskripte zu erklären, und die interne Fokalisierung –, die jeweils eigentlich eingesetzt werden, um eine Illusionsbildung und den Eindruck von Authentizität zu fördern, eher illusionsstörend, da sie gegeneinander ausgespielt werden. Das Spiel mit Realität und Fiktion stellt, wie gezeigt, in Don Quichotte einen Grundmechanismus der Narration und erschafft einen Roman, der sich selbst als fiktionalen Text reflektiert. Dieses metafiktionale Verfahren kritisiert auf implizite und spielerische Weise die Rezeption, die Don Quichotte den Ritterbüchern angedeihen lässt, die er als faktuale und nicht als fiktionale Texte liest. In Bezug auf die Narrationsebene fällt bei Almazar dans la cité die Transvokalisation auf, denn der Roman ist zunächst aus der Perspektive des Protagonisten als extradiegetisch-homodiegetischer Ich-Erzähler verfasst und entspricht somit der Gattungszuweisung „roman picaresque“, die im Untertitel angegeben ist. Abweichend von der Gattung ist jedoch die zeitliche Stellung zum Erzählten, denn Almazar stammt zwar aus einer unteren Gesellschaftsschicht, doch berichtet er keinesfalls „rückblickend mit der Erfahrung eines Wissenden und Geläuterten“ (Rötzer 2009: 12), wie dies im Schelmenroman typisch ist. Der IchErzähler eifert vielmehr explizit seinem Vorbild nach, denn er kommentiert seine eigene Vorgehensweise mit intertextuellen Verweisen: „Car, comme le disait fort à propos Cid Hamet ben Engali, ayons la prudence de ne pas égarer le lecteur“ (AC: 69). Innerhalb der Ich-Erzählung wird jedoch die Aufteilung auf mehrere Erzählinstanzen, die im Prätext erfolgt, mit Hilfe eingefasster Erzählungen nachge-

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ahmt.143 Unterbrochen wird diese Erzählung von kürzeren Gattungen, wie einem wörtlich zitierten Gedicht aus Don Quichotte (vgl. ebd.: 39, DQ II, Kap. LXVIII), einem Brief Almazars an Douce (vgl. AC: 46) und einem Auszug aus Louis Fréchettes Mémoires intimes (vgl. ebd.: 56, 62). Die Erzählinstanz wird gewechselt, als Almazar den Schriftsteller Alain Gagnon bittet, mit Hilfe der Manuskripte, die sein Bruder Maurice hinterlassen hat, dessen Geschichte zu erzählen. Deutlich wird an dieser Stelle die Imitation der Vorgehensweise Cervantes’ in Don Quichotte, der seine Erzählinstanz als Herausgeber einer wahren Geschichte ausgibt. Auch Alain Gagnon gibt vor, reale Dokumente gesammelt zu haben, „les notes de Mau“ (ebd.: 75), und stellt sich in den Dienst einer möglichst authentischen Berichterstattung: „J’essaierai donc de ne pas les trahir, ni lui ni son frère, et de reconstruire cet épisode tragique grâce aux notes tronquées mais assez abondantes du défunt.“ (Ebd.) An dieser Stelle ist Alain Gagnon eine Figur des Erzähluniversums, die als homodiegetische Erzählinstanz auftritt. Der Fiktionsbruch wird in einer Fußnote thematisiert, einer „note de l’auteur“ (ebd.), die von einem Albtraum berichtet, in dem Gagnon in einer Fernsehserie auf die Kamera zeigt und dadurch die Illusion des Filminhaltes für den Zuschauer zerstört. Diese paratextuelle Anmerkung markiert dabei den Illusionsbruch durch den direkten Eingriff des Autors, denn die anderen Schauspieler aus Alain Gagnons Traum kritisieren sein illusionszerstörendes Verhalten indem sie fragen: „Comment les téléspectateurs nous croiront-ils!? On ne fait pas ça!“ (Ebd.) Die Geschichte von Maurice, der in mehreren Büchern aus einer Gebrauchtbuchhandlung Anmerkungen und Korrekturen der mysteriösen Annabel Lee findet und sie schließlich aufsucht, wird zwar von dem in der TAW auftretenden Autor Alain Gagnon erzählt (vgl. ebd.: 75-86), doch gleichzeitig argumentiert die fiktive Entsprechung des Autors, dass Almazar die Geschichte selbst hätte erzählen können, aber auf seinem Eingriff bestanden habe. Gagnon stellt sich somit auf die gleiche ontologische Stufe wie seine literarische Figur: „Mais il y tenait tellement… Je ne pouvais refuser.“ (AC: 75) Um die schreckliche Erfahrung des Besuchs bei Annabel Lee zu erzählen, versteckt sich Alain Gagnon jedoch wiederum hinter Maurice Trudeau, wobei seine Ankündigung, den Erzählakt nun auf Maurice übergehen zu lassen, me-

143 In der Kritik wurde der Mangel an Kohärenz und das Zurückdrängen der Protagonisten gegenüber Nebenfiguren, das auch für den ersten Band von Don Quichotte konstatiert wurde, negativ angemerkt: „Les aventures du père et du frère Almazar se substituent trop facilement aux siennes propres.“ (Brochu 2000: 18)

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tanarrativ wirkt.144 Das Spiel mit den verschiedenen Erzählinstanzen aus dem Prätext wird etwas abgewandelt. Maurice Trudeau fungiert als intradiegetischhomodiegetischer Erzähler einer Nebenhandlung, so wie beispielsweise die Schäferin Marcella oder der Sklave aus Algier in Don Quichotte. Dennoch wird der Konstruktcharakter der Episode durch den offen kommunizierten Rückzug des Autors, der hier seiner fiktiven Figur in einem Bestreben um eine größere Authentizität die Erzählung überlässt, sehr deutlich. Nach Maurice’ in Form eines Abschiedsbriefs gestalteten Erzählung geht die Narration wieder auf Alain Gagnon über, der an dieser Stelle wieder nicht nur als Erschaffender, sondern auch als Figur seines Erzähluniversums auftritt: „Almazar est assis, tête basse devant moi.“ (Ebd.: 92) Dieses Verfahren stellt eine Steigerung im Vergleich zur Struktur von Don Quichotte dar, denn im Prätext überschreitet der Autor in keiner seiner fiktiven Entsprechungen die Grenze der erzählten Welt,145 um in die Geschichte einzugreifen. In Don Quichotte bringt die zur Schau gestellte Unmöglichkeit eines allwissenden Erzählers den Status des Erzähluniversums ins Wanken und führt eine Reflexion über die Grenze von Realität und Fiktion ein. Diese Grenze wird in Almazar dans la cité darüber hinaus anhand einer Metalepse überschritten. Die Trennung zwischen Realität und Fiktion wird aufgelöst, indem der Autor mit seinen Figuren in Interaktion tritt. Während in Don Quichotte vor allem der Rezeptionsprozess von Romanen im Fokus steht, weitet Almazar dans la cité die Reflexion auf den Kreationsprozess aus. Die Grenze zwischen créateur und créature (vgl. Chartrand 2000) wird verwischt, die Illusionsdurchbrechung gegenüber der Illusionsbildung betont. Die Transgression wird dabei zweifach durchgeführt, denn Almazars nach seinem gescheiterten Schreibversuch formulierte Bitte an Gagnon, ihn zur Romanfigur zu machen (vgl. AC: 140), ist eine Überschreitung der Grenzen der TAW, denn hier fordert die fiktive Figur den Autor auf, nun auch textintern, das heißt innerhalb des Erzähluniversums zu schreiben, wobei dieses doch das Produkt seines Schreibprozesses ist. Konsequenterweise übernimmt Alain Gagnon 144 Der Wechsel der Erzählinstanz wird einerseits explizit über den Einschub in Klammern, „([i]ci, je redonnerai la parole à Maurice Trudeau. Directement. Sans interprétation. Je puise dans ses notes textuellement. J’arrange à peine une ponctuation hâtive. […] – et, comme dans les romans de cape et d’épée, les feuillets sont maculés de sang.)“ (AC: 86), andererseits implizit über eine Rückkehr zu einem größeren Schriftbild angezeigt. 145 Allenfalls könnte die Erwähnung des Gefangenen „de Saavedra“ in Algier (DQ I: XL) als angedeuteter Verweis auf den Autor gelesen werden.

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ab dem folgenden Kapitel (XVII) die Erzählung und ersetzt Almazar als homodiegetischen Erzähler.146 Die pikareske Erzählung wird dadurch in ihrer Konstruktion offengelegt, denn aufgrund der wiederum internen Fokalisierung der neuen Erzählinstanz, Alain Gagnon, wird Almazar ab diesem Zeitpunkt immer mehr in den Hintergrund gedrängt, da mit der neuen Erzählinstanz auch eine veränderte Perspektivierung eintritt.147 Bei einem gemeinsamen Barbesuch muss der stark alkoholisierte Ich-Erzähler Alain Gagnon, der eigentlich Almazars Geschichte weiter schreiben sollte, beispielsweise den Raum – und damit Almazar – verlassen. Anschließend verschachteln sich die Metalepsen, und es tritt ein Widerspruch in Bezug auf die Ereigniskette innerhalb des Erzähluniversums auf, denn während die Figur Alain Gagnon gerade dabei ist, den Anfang des Buches zu verfassen, wird sie von der eigentlich verstorbenen Douce aufgesucht, die den Schriftsteller über den Tod Almazars informiert. In einer Art mentaler Videoprojektion zeigt sie Gagnon, wie Almazar während eines Westerns von der Kugel aus dem Revolver von John Wayne tödlich getroffen wird. Dennoch unternimmt Gagnon mit Almazar und Fawn, einer Jungfrau, die Almazar extra zu diesem Zweck ausgesucht hat, einen Ausflug in den Wald, um die vergrabenen Schätze der Canadiens zu bergen. Das Erscheinen des zauberhaften Village-qui-vole versetzt Almazar und Fawn in ein Entzücken, das den Autor ausschließt, da er im Gegensatz zu den Figuren die Legende des Village-qui-vole nicht kennt:

146 Der autobiografische Pakt, der auf der Basis der biografischen Übereinstimmungen der Figur Alain Gagnon mit dem Autor des Romans geschlossen werden könnte, wird durch die Ebenenüberschreitung unterminiert, denn die Tatsache, dass die Figur Almazar den Namen des Autors kennt, der sie erschafft, ist ein klares Fiktionalitätssignal, so dass sich der Roman insgesamt in Bezug auf die Referenzialisierbarkeit in einem „espace ambigu“ (Lejeune 1975: 29) situiert. 147 Der Untertitel „roman picaresque“ in Almazar dans la cité scheint jedoch weniger auf die Darstellungstechnik als auf die Thematik des Aufsteigers anzuspielen. Außerdem beinhaltet diese Gattungszuweisung eine Figurencharakterisierung, denn bei einer lecture palimpsestueuse könnte der Pícaro des Prätextes, Ginés de Pasamonte, mit dem Protagonisten Almazar in Verbindung gebracht werden. Die „lächerliche Diskrepanz zwischen der pompösen Selbstanpreisung im ersten Gespräch mit Quijote und dem Auftritt als kleiner Trickdieb und Puppenspieler“ (Rötzer 2009: 58) im zweiten Band kann auch beim Schuldeneintreiber Almazar nachgewiesen werden, der sich, wie gezeigt, als Menschenfreund präsentiert, gleichzeitig aber eine menschenverachtende Profitgier an den Tag legt.

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Ils m’échappent. Ils redeviennent des personnages et je redeviens écrivain, enchâssé dans l’écriture. J’ignorais que les marmites pouvaient conduire à ces évasions… Avoir su, je n’aurais jamais commencé ce chapitre. Nous ne sommes plus ensemble, nous ne partageons plus cette nuit. Le récit m’exclut. (AC: 180)

Die Verselbständigung der Geschichte, die den Autor wieder an seinen Platz außerhalb der erzählten Welt drängt, ereignet sich kurz vor dem Ende des Romans und kann somit als Allegorie für das Ende des Kreationsprozesses gelesen werden, an dem der Autor Abschied von seinen Figuren und der erschaffenen Welt nehmen muss: „Le texte m’expulse, m’ostracise; je n’aurai plus de patrie pour un temps, pour longtemps peut-être…“ (Ebd.: 181) Bis das nächste Projekt begonnen und die nächsten fiktiven Figuren und Orte geschaffen werden, ist der Autor heimatlos. Der abschließende Ausblick, in dem Almazar Don Quichottes Pläne, Schäfer zu werden, verwirklicht, endet damit, dass Almazar in einem Schneesturm erfriert, ohne jedoch den Glauben an die Welt von Don Quichotte verloren zu haben. So murmelt er laut Sancho/Pedro bei seinem letzten Seufzer: „Et pourtant les Douce existent […]“ (ebd.). Während Don Quichotte die Gegebenheiten der TAW am Ende akzeptiert und seine Figurenwelt mit der TAW in Übereinstimmung bringt, verläuft die Entwicklung Almazars gemäß seinem Wunsch, innerhalb der Erzählung Gagnons eine fiktive Figur zu werden – angedeutet wird dies daran, dass Almazar auf zwei verschiedene Arten sterben und übernatürliche Begegnungen haben kann. Ab dem Eingriff des Autors in sein eigenes Erzähluniversum werden die Naturgesetze der Logik ausgehebelt. Beim Arbeiten an seinem Roman, das heißt beim Erschaffen dieses in sich widersprüchlichen Erzähluniversums, ist Gagnon jedoch keineswegs ein allmächtiger Schöpfer, der seine Figuren aus dem Nichts kreiert, sondern in gewisser Weise genauso ein Produkt seiner Lektüren wie Almazar. Das Défilée von Autoren und literarischen Figuren, dem Gagnon wie in einem Tagtraum begegnet, als er Almazar in der Bar zurücklassen muss (vgl. AC: 166-171), kann somit als fiktionsinterne Verkörperung der Intertextualität des Romans gelesen werden, der sich hier selbst betrachtet.148 Dieses Verständnis von Literatur als kreative Verarbeitung der eigenen Leseerfahrung steht in engem Zusammenhang mit der Originalitätsfrage, die Cer148 Der stark intertextuelle Charakter des Romans deutet sich bereits an der Verwendung von Motti an. Jedem Kapitel sind ein bis zwei Auszüge aus fiktiven – zum Beispiel ein Satz aus Maurice Trudeaus Carnets (vgl. AC: 146) – oder real existierenden Texten vorgeschaltet.

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vantes besonders im zweiten Teil seines Don Quichotte aufwirft. Der zweite Band von Don Quichotte kann als Antwort auf Avallanedas apokryphe Weiterführung des ersten gesehen werden. Cervantes, der von dieser Fortsetzung erfuhr, als er am zweiten Band arbeitete, integriert diese Erfahrung in das Erzähluniversum seiner eigenen Weiterführung. So lässt er Don Quichotte und Sancho im 59. Kapitel mit Lesern von Avallanedas Werk diskutieren. Beide sind über ihre negative Darstellung in der apokryphen Weiterführung entsetzt und können die Rezipienten davon überzeugen, dass sie der „echte“ Don Quichotte und Sancho Panza sind. Dieser vordergründige Sieg basiert jedoch auf der Lektüre eines fiktionalen Textes als faktual, was nur innerhalb eines fiktionalen Universums möglich ist, denn der Wahrheitswert eines fiktionalen Werks beziehungsweise die wahrheitsgemäße Darstellung eines fiktiven Charakters ist per Definition nicht an der Realität zu überprüfen. Im Fokus der Argumentation steht jedoch weniger die Problematisierung von Fiktionalität an sich. Vielmehr schreibt sich hier Cervantes in eine Diskussion über das Urheberrecht ein und fordert das alleinige Recht an seiner Schöpfung und seinen Figuren ein, welche die Erzählinstanz am Ende seines Werkes explizit formuliert (vgl. DQ II: Kap. LXXIII). Dieser Argumentation liegt ein Figurenverständnis zugrunde, das die Rezeption und das Zustandekommen von Archetypen literarischer Charaktere vernachlässigt, indem keine Unterscheidung zwischen der identité diégétique und der identité intellectuelle von sich entsprechenden Figuren gemacht wird, und diese als in sich geschlossene Wesen angesehen werden. Diesem Verständnis setzt Alain Gagnons Roman die Offenheit literarischer Werke entgegen, indem er seinen Status als produktive Lektüre anhand von Intertextualitätssignalen deutlich kommuniziert. Almazar dans la cité als Reflexion über das „faux-vrai“ einer Fiktion Almazars oben dargestellte sehr luzide und selektive Anpassung der Geschichte Don Quichottes an sein Leben setzt Reflexionsfähigkeit voraus. Diese steht in einem eklatanten Gegensatz zu seiner Unfähigkeit, das Spiel mit Fiktion und Authentizität, welches den Prätext auszeichnet, zu durchschauen. Daher hält er den bereits erwähnten Brief des fiktiven Urhebers, Cid Hamet el Bengelí, an den Autor Cervantes zunächst nicht unbedingt für eine Fälschung (vgl. AC: 117) und fordert weitere Analysen der Echtheit an, auch wenn Douce II mehrere Anzeichen für einen Betrug entdeckt hat. Die Wahrheit erweist sich jedoch als komplexer als zunächst angenommen, denn der Brief stellt sich als ein „vrai-faux“ (ebd.: 124) oder „faux-vrai“ (ebd.) heraus, das heißt es handelt sich zwar prinzipiell um eine Fälschung, da der Verfasser den fiktiven Cid Hamet nachgeahmt

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hat, doch ist der Brief inzwischen ein sehr wertvolles Sammlerstück, da er aus der Zeit Cervantes’ stammt, in diesem Sinne also über eine Authentizität verfügt, die heutige Fälschungen nicht mehr haben.149 Das Motiv des vrai-faux, die Transgression der Grenze zwischen wahr und falsch, zwischen authentisch und erdacht, ist schon bei der Analyse der Vermittlungsstrategie angeklungen, die Cervantes’ Spiel mit Fiktion und Realität aufnimmt und weiterentwickelt. Das Beispiel des Briefes zeigt, dass derartige Reflexionen auch innerhalb der TAW des Textes zweiten Grades auftauchen. Fiktionsintern wird hier ein Kernelement Don Quichottes aufgenommen, da der gesamte Prätext auf der Konfrontation von zwei Versionen – der Wahrnehmung Don Quichottes und derjenigen des Erzählers oder Sanchos – basiert, auch wenn die Unterscheidung von Realität und Fiktion im zweiten Band immer komplexer wird (vgl. Sermain 1998: 59). Die Ich-Erzählung im Text zweiten Grades, die der Vermittlungsstrategie des pikaresken Romans entspricht, erlaubt dagegen keine Kommentare einer nullfokalisierenden Erzählinstanz und bevorzugt eher den dramatischen als den narrativen Modus. Douces Bemerkung gegenüber Alain Gagnon stellt somit eine Selbstbetrachtung der Vorgehensweise des Romans dar: Je pourrais vous le raconter, mais je préfère vous le montrer. C’est d’ailleurs ce que vous répétez: montrer, faire voir plutôt que raconter; show rather than tell… (AC: 174, Hervorhebung im Original)150

Konsequenterweise ist es Almazar selbst überlassen, seine Weltsicht zu erläutern. So erklärt er seinem Fahrer Pedro, der während eines Ausflugs auf das Land nur Wald sieht, die Relativität der Wahrnehmung und geht auf seine Fähigkeit ein, die Realität anders zu sehen: Tu vois, derrière tous ces décors, il y a des milliers d’autres paysages, des milliers d’autres décors. On y retrouve les débris de tout ce qui aurait pu être et qui n’a jamais été, tout ce dont les hommes ont rêvé. Les poètes ont la capacité de voir tout ça, Sancho. Et les enfants. Et certains fous. C’est ça que Don Quichotte voyait, c’est par ça qu’il étonnait tout le monde. Moi, je dois être resté un peu enfant, Sancho. Je vois un peu, parfois. (AC: 37) 149 Almazar rahmt den Brief schließlich ein und hängt ihn mit der Unterschrift, „Véritable fausse lettre authentique de Miguel de Cervantès Saavedra à son collaborateur et ami Cid Hamet ben Engali“ (AC: 125), auf. 150 Diese Aussage beinhaltet eine Anspielung auf die Unterscheidung zwischen showing und telling nach Percy Lubbock (1954 [1921]: 62ff.).

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Noch vor seiner Lektüre Don Quichottes, die sein Weltbild erfüllt, ist eine Erfahrung Almazars angesiedelt, die ihm die Relativität der Wahrnehmung vor Augen führt. Die Vorgeschichte zu seiner Gefängnisstrafe wird dabei in der Narration analeptisch gleich hinter die Ankündigung seiner Schwestern geschaltet, sein Bruder Maurice sei gestorben. Die Erinnerung wird ausgelöst, als Almazar in Andréas Handtasche Bündel von Dollarnoten wahrnimmt (vgl. ebd.: 65) und sich dadurch ihre Rolle in seinem Strafverfahren vergegenwärtigt. Diese Erinnerung erscheint hier für die Erzählinstanz Almazar wichtiger als die Nachricht vom Tod seines Bruders, was wiederum auf seine Kaltherzigkeit verweist. Ein schiefgegangener Überfall auf einen Dépanneur, bei dem er auf der Flucht ausrutschte und gegen einen Trinkbrunnen stieß, so dass ihn die Polizei ohne Probleme aufgreifen konnte, bringt ihm eine Haftstrafe ein. Doch dem Staranwalt, den seine Schwestern nur durch Prostitution bezahlen können, gelingt es, sein Verbrechen als einen fehlgeschlagenen Akt eines Unterdrückten gegen die soziale Ungerechtigkeit auszugeben: „Mon crime que je croyais raté et banal prenait des dimensions métaphysiques.“ (AC: 67) Trotz dieser Erfahrung kann Almazar zunächst keine kritische Haltung gegenüber seiner eigenen Wahrnehmung einnehmen. So glaubt er Douce II, als sie ihm von ihrer Reise nach Florida erzählt, dass sie tatsächlich dort ihren Bruder besuchen wolle, von dem er noch nie gehört hat, und der zudem nur noch Englisch spreche (vgl. ebd.: 143). Da er in ihr eine Reinkarnation der vollkommenen Dulcinée du Toboso sieht, kann er ihre Integrität und Reinheit nicht anzweifeln. An dieser Stelle, die aus der Perspektive des als homodiegetische Erzählinstanz auftretenden Alain Gagnon geschrieben ist, ermöglicht die Erzählhaltung den Hinweis auf die potenzielle Unzuverlässigkeit Almazars als Erzähler, die auf seiner einseitigen Wahrnehmung basiert. Der in die TAW eingreifende Autor Alain Gagnon hinterfragt in einem Erzählerkommentar Almazars Darstellung der Floridareise von Douce II: „Croit-il a la pureté des deux Douce? […] Ou se fait-il accroire qu’il en est convaincu tout en sachant qu’il s’abuse?“ (Ebd.) Indem die Zuverlässigkeit der Erzählinstanz Almazar dergestalt in Frage gestellt wurde, werden auch die biografischen Parallelen, die Almazar zwischen seinem und Don Quichottes sowie Cervantes’ Leben herstellt, anzweifelbar. Almazars Eltern heißen seinen Angaben nach Rodriguo und Léonore, genauso wie Don Quichottes – und Cervantesʼ (vgl. Salas 1988: 312), der schon im Prätext mit diesem autobiografischen Ansatz spielte – wodurch er eine Identität konstruiert beziehungsweise sich zumindest in eine Linie mit seinen Vorbildern stellt. Ob sich Cervantes’ Schwester wirklich prostituiert haben, um ihn 1580 aus der Gefangenschaft freizukaufen, ist nicht eindeutig nachgewiesen. So spricht Jean Canavaggio nur von einer „verzeifelten Anstrengung“ (Canavaggio 1989:

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110) der Familie, das benötigte Lösegeld zu beschaffen. Diese aus der Sicht des Protagonisten vorgebrachten Gemeinsamkeiten scheinen durch die geringe authentification (vgl. Ryan 1992: 534) der Erzählerfigur Almazar fragwürdig. Mehrere Gegebenheiten im Erzähluniversum deuten jedoch darauf hin, dass Almazar die Geschichte Don Quichottes nicht nur bewusst nachlebt, indem er sie sozusagen der TAW überstülpt, sondern dass in einigen Elementen durchaus eine Parallelität besteht. So misst Pedro dem Essen genau wie Sancho Panza eine sehr große Bedeutung zu (vgl. AC: 14, 37, 38). Auch die Tatsache, dass die Vornamen der Eltern von Douce McLaren-Tremblay, wie bereits erwähnt, den bürgerlichen Namen von Dulcinée du Toboso ergeben, scheint ein sehr großer Zufall zu sein, der einerseits als Hinweis auf die Fiktionalität der Erzählung an sich wirkt. Andererseits bilden diese auffälligen Gemeinsamkeiten auf der Selektionsebene der beiden textuell aktualisierten Welten eine Art Gegengewicht zu dem Eindruck, Almazar sei ein unzuverlässiger Erzähler. Dadurch, dass der Leser nicht abschließend klären kann, ob Almazars NAW mit einer aus dem Gesamttext zu rekonstruierenden TAW übereinstimmt, richtet er seine Aufmerksamkeit auf den Erzählprozess an sich. Zusammenfassend gesehen ist Gagnons récriture weder eine apokryphe Weiterführung, noch eine „echte“ Version von Don Quichotte wie diejenige, die Borgesʼ Pierre Menard schreiben will, sondern vielmehr ein Meta-Roman. Genauer gesagt handelt es sich um einen Meta-Meta-Roman, da der Prätext selbst, wie gezeigt, eine selbstbetrachtende Komponente beinhaltet. Im Vordergrund steht nicht die Geschichte Don Quichottes an sich, sondern der Bezug auf den Prätext und die spielerische Aneignung des Erzähluniversums, das Cervantes in Don Quichotte entwirft. Die lecture palimpsestueuse erzeugt dabei sowohl eine Rückwirkung auf der Ebene der Selektion als auch eine im Vergleich zum Prätext gesteigerte Reflexion des Romans als Erschaffung einer Als-ob-Wirklichkeit. Indem die Grundproblematik des Prätextes in das zeitgenössische Québec versetzt wird, kann zunächst die Warnung vor einer unreflektierten Rezeption von Romanen auf ihre Aktualität überprüft werden. Die fehlgeleitete Interpretation von Don Quichotte, die Almazar vertritt, veranschaulicht dabei, wie das Bedeutungsangebot von fiktionalen Texten instrumentalisiert werden kann, denn Almazars Charakterdefizite treten gerade im Vergleich zu Don Quichotte besonders stark hervor. Die sehr selektive und auf den eigenen Vorteil bedachte Aneignung von Elementen aus dem Prätext, die Almazar durchführt, kontrastiert beispielsweise mit der Verrücktheit und dem Idealismus des literarischen Modells und hebt die materialistische Ausrichtung Almazars hervor. Die im Gegensatz zu Don Quichotte sehr deutliche Indifferenz gegenüber seinen Mitmenschen

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verhindert darüber hinaus eine Identifikation mit dem Protagonisten. Er kann kein Double Don Quichottes darstellen, da er nicht die charakterlichen Voraussetzungen mitbringt. Während Don Quichottes „bedeutungsloses und deprimierendes Privatleben […] weit unter den Möglichkeiten seiner Seele liegt“ (Wellershoff 1988: 21), verhält es sich bei Almazar anders – ist doch sein menschenfreundliches Gehabe eine Inszenierung, die mit dem großen literarischen Vorbild legitimiert, aber immer zu seinem eigenen Vorteil eingesetzt wird. In Bezug auf das Nachdenken über das Erzählen an sich betont Almazar dans la cité im Gegensatz zum Prätext nicht nur auf selbstbetrachtende Weise die Fiktionalität des Dargestellten, sondern hebt die Trennlinie zwischen Realität und Fiktion anhand einer Metalepse auf. Dabei führt Gagnon eine Reflexion über das Schreiben ein, die einerseits die Wirksamkeit fiktionaler Konstrukte in der Realität vor Augen führt und andererseits den am Ende des zweiten Teils von Don Quichotte formulierten Originalitätsanspruch Cervantesʼ in Frage stellt. Die zahlreichen intertextuellen Referenzen betonen den Charakter der literarischen Kreation als produktive Lektüre im weitesten Sinne und untergraben demnach das Bild des Autors als kreatives Genie, das ein vollkommen eigenständiges und abgeschlossenes Werk schafft. Der Roman insgesamt könnte dahingehend als faux-vrai oder vrai-faux verstanden werden, als er ein Plädoyer für das entgrenzte Schreiben darstellt, das Gegensätze und Kategorien aufbricht. Dies betrifft besonders die Kategorie der kohärenten Handlung, wie Brochu kritisch anmerkt: „Encore faut-il écrire quelque chose. La déconstruction ne suffit pas, ou doit être un travail rigoureux, et non la simple promotion de l’arbitraire.“ (Brochu 2000: 18, Hervorhebung im Original). Die Analyse hat jedoch gezeigt, dass der Roman keineswegs willkürlich, sondern sehr strategisch gängige Konventionen wie die logische Trennung von Fiktionsebenen und den Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten durchbricht. Zusammenfassend lässt sich die Verfechtung der Entgrenzung als das im obigen Zitat angemahnte Kohärenz stiftende Element in diesem Meta-Roman darstellen.

4.3 D IE V ERLAGERUNG DER PRODUKTIVEN L EKTÜRE IN DAS E RZÄHLUNIVERSUM : R ÉCRITURE ALS FIKTIONALISIERTE V ERDOPPELUNG DES K REATIONSPROZESSES Einen Schritt weiter als der zweite Typ der récriture geht die dritte Form der récriture, bei der sowohl der Rezeptions- als auch der Kreationsprozess im neuen Erzähluniversum gespiegelt werden. Eine derartige Refiktionalisierung des

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Erzähluniversums des Prätextes innerhalb des Textes zweiten Grades setzt das Vorhandensein eines lesenden und schreibenden Protagonisten voraus, der als intradiegetischer Erzähler fungiert und ein F-Universum erschafft. Schriftsteller als literarische Figuren sind im Québecer Roman keine Neuheit.151 In Bezug auf die Darstellung von Autoren im Roman weist Belleau in Le romancier fictif (1980) eine Entwicklung nach, die Robert Dion folgendermaßen zusammenfasst: De l’écrivain en tant qu’objet du récit, on serait passé […] à l’écrivain en tant qu’agent du récit – bref, du portrait de ce curieux animal social à l’exploration des modalités de l’écriture même. (1997: 135, Hervorhebung im Original)

151 Siehe zum Beispiel für den Zeitraum zwischen 1960 und 1995 Tremblay 2004. Schriftsteller spielen beispielsweise im Werk des Québecer Autors Jacques Poulin eine große Rolle. Eine récriture des dritten Typs findet sich annäherungsweise in seinem Roman Le vieux Chagrin (1989), auch wenn der Prätext, Les contes de mille et une nuits, nicht explizit literarisch rekonstruiert wird. Ein Schriftsteller, der gerade eine Schreibblockade hat, findet in einer Höhle nahe seines Hauses eine Ausgabe der Geschichten aus 1001 Nacht, in der die Namensangabe „Marie K.“ (Poulin 1989: 14) eingeschrieben ist, und beginnt eine – unilaterale – Korrespondenz mit der potenziellen Leserin, die er „Marika“ (ebd.) nennt. Diese beinhaltet eine Reflexion über die Funktion des Geschichtenerzählens, die Louise Milot und Fernand Roy folgendermaßen resümieren: „[S]i Schéhérazade a fait évoluer la mode et le goût des lecteurs européens, tout en maintenant la nécessité même des fables, alors le narrateur ne serait-il pas justifié de réadapter ses rêves d’écriture à son environnement immédiat, en remplaçant Marika par la Petite?“ (Milot/Roy 1992: 129). Die Figur der Petite ist dabei ein Waisenmädchen mit schwieriger Vorgeschichte, das der Schriftsteller schließlich adoptiert (vgl. Poulin 1989: 156), wobei die geringe Strukturalität in der Intertextualitätsbeziehung und ein Gegensatz zur Makrostruktur des Prätextes sichtbar werden: „Alors que les histoires des Mille et une nuits débutent après un rapide mais violent prologue, quand Le vieux Chagrin se termine, le prologue, soit le pacte entre celui qui fait profession de raconter et celle dont il suspendra le ‚vieux chagrin‘, vient d’être signé“ (Milot/Roy 1992: 127). Le vieux Chagrin beinhaltet dabei auch eine explizite Reflexion des Schreibprozesses, wenn der textinterne Schriftsteller seine Werke als „travaux de collage et de rapiéçage“ (Poulin 1989: 145) bezeichnet.

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Zu dieser Verschiebung des Fokus von der sozioliterarischen Betrachtung des Schriftstellers als erste Phase auf die Implikationen des Schreibens als zweite Phase fügt Dion, wie bereits erwähnt, im Rahmen seiner Analyse von Gérard Bessettes Le semestre152 eine dritte Phase hinzu, „celle du romancier (ou du professeur, ou de la traductrice ou du lecteur compétent) en situation de critique“ (ebd., Hervorhebung im Original). Diese Phase der kritischen Textrezeption innerhalb eines Romans entspricht in der hier erarbeiteten Klassifikation dem zweiten Typ der récriture, wobei sich Rezeption, wie gezeigt, nicht auf eine kritische beziehungsweise wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Prätext beschränken muss. Um nun die Romane des dritten Typs der récriture berücksichtigen zu können, müsste Dions Stufenmodell um eine weitere Phase ergänzt werden, denn das Schreiben als Resultat des Rezeptionsprozesses, wie es in der hier untersuchten letzten Form der récriture vorliegt, wird bei Dion nicht behandelt.153 Die Metaisierungsbewegung erhält somit eine zusätzliche Steigerung, indem der Metadiskurs sich im Erzähluniversum des Textes zweiten Grades in fiktionaler Form materialisiert. Konsequenterweise ist die Kommunikativität bei der récriture des dritten Typs sehr ausgeprägt. Um das Aneignungsmoment erfassen zu können, sind wiederum eine hohe Strukturalität und Selektivität vonnöten. Romane, die den Schreibprozess von Schriftstellern abbilden, ohne dass das entstehende FUniversum einem dominierenden Prätext zugeordnet werden kann, werden daher in der vorliegenden Untersuchung nicht berücksichtigt.154 152 Siehe hierzu Kapitel 3.7 der vorliegenden Untersuchung. 153 Da Dion den Schwerpunkt auf die inhaltliche Phasenverschiebung legt, berücksichtigt er nicht, dass die kritische Rezeption in Bessettes Roman zu einer produktiven Lektüre des Prätextes Serge d’entre les morts wird, also zu einer récriture des dritten Typs, da der Protagonist sich als Verfasser von Le semestre ausgibt. 154 Einen Grenzfall stellt Roger Maginis Un homme défait (1995) dar. Der Roman erzählt die Geschichte der Journalistin Charley Melrose, die eine Artikelserie über den Schriftsteller V. G. verfasst. Auf Anraten des Autors liest sie die Romantrilogie von Ernesto Sábato und erfährt, dass V. G. die Verlagswelt in Québec mit der Welt der Blinden aus Fernandos Bericht aus Sobre héroes y tumbas vergleicht. Den zweiten Teil des Romans stellt ein nicht betiteltes Manuskript von V.G. dar, das ein intertextuelles Feuerwerk von Metalepsen entfacht, welches in seiner Komplexität hier nur ansatzweise dargestellt werden kann. V.G. erzählt, dass er von dem Antiquar Abbat Schabat das Angebot erhielt, ein „Livre sur le monde des ténèbres“ (Magini 1995: 105) zu schreiben. Er erfährt zudem, dass Borgesʼ blinde Sekretärin das Manuskript des Libro del arena an besagten Abbat Schabat verkauft hatte, was einer Spiegelung

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Die für die vorliegende Studie notwendige Ergänzung von Dions Stufenmodell deutet darauf hin, dass der dritte Typ der hier betrachteten récriture gegenüber den ersten beiden, in der Literatur bereits in Verbindung gebrachten Formen, quantitativ unterrepräsentiert ist. Dennoch kann im Folgenden anhand von drei Beispielen dargestellt werden, dass die Romane der dritten Form der récriture unterschiedliche Motivationen und Funktionen des in das Erzähluniversum integrierten Schreibprozesses verhandeln. Eine Identifikation mit einem Protagonisten, wie sie bereits im zweiten Typ behandelt wurde, ist auch in der dritten Ausprägung der récriture möglich, doch wird der Rezeptionsprozess durch einen neuen Kreationsprozess ergänzt. Beispielhaft wird dieser Mechanismus einer Weiterentwicklung der zweiten Form der récriture in Kapitel 4.3.1 an Yves Vaillancourts Roman La source opale verdeutlicht, wobei Vaillancourt eine intermediale Reflexion einbaut und die Aneignung eines fremden Erzähluniversums problematisiert. Eine Identifikation mit dem Protagonisten eines Prätextes besteht auch in Roger Maginis Quenamican, doch gestaltet sich die Appropriation anders, denn der Schreibprozess ist in dem in Kapitel 4.3.2 zu untersuchenden Roman schon abgeschlossen. Dennoch bildet Roger Magini in diesem Werk die Entfaltung eines Erzähluniversums innerhalb der TAW seines Romans ab und hinterfragt dabei auf sehr kreative Weise die problematische Abgrenzung zwischen fiktionaler und faktualer Literatur. Das Analysekorpus wird mit einem récriture-Roman von Marc Gendron mit dem Titel Louise ou La nouvelle Julie in Kapitel 4.3.3 beschlossen. Anhand dieses Briefromans kann aufgezeigt werden, dass eine inhaltlich-subversive Ausei-

der Handlung dieses Werkes entspricht. Die nur vorgeblich Blinde wollte außerdem Ernesto Sábato wegen des Todes von Maria Iribarne – einer Figur aus dessen Trilogie – töten. Das Sandbuch sei anschließend beim Semiotiker Umberto Echo – so die Schreibweise im Roman – aufgetaucht, den V.G. im Laufe seiner Recherchen aufsucht. Durchsetzt von kritischen Reflexionen über das Verlagswesen Québecs, endet das Manuskript mit der Blindheit des Schriftstellers V.G. Der Roman stellt somit eher eine Reflexion über das Schreiben dar und positioniert sich mit einer Fülle intertextueller Verweise und Anspielungen als Gegenbegriff zu einer Massenliteratur, wie sie von einem Verleger mit der Devise, „[t]roquer un quarteron de littéraires contre un million de lecteurs satisfaits!“ (ebd.: 92, Hervorhebung im Original), im Erzähluniversum von Un homme défait vertreten wird. In der vorliegenden Arbeit wurde ein späterer Roman Maginis, Quenamican (2005), der sich im Gegensatz zu Un homme défait auf einen dominanten Prätext bezieht, berücksichtigt.

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nandersetzung mit dem Prätext auch in der am stärksten selbstreflexiven Form der récriture möglich ist, wobei sich diese Stoßrichtung – genau wie für den zweiten Typ bereits konstatiert – als weniger maßgeblich für den Zeitraum ab 1980 erweist. 4.3.1 La source opale: Récriture als Herausschreiben aus der Krise Einführung Die kreative Aneignung von Dino Buzzatis Roman Le désert des Tartares in Yves Vaillancourts La source opale hat einen außertextuellen Hintergrund, basiert sie doch auf einer vorgeschalteten Annäherung des Autors an Buzzatis Werk in einem Rollenspiel im Internet. In Dialogus verkörperte Yves Vaillancourt zwischen 2004 und 2006 Buzzatis Protagonisten Giovanni Drogo und beantwortete per E-Mail die Fragen interessierter Teilnehmer an seine Figur, die er aus deren Sicht beantwortete.155 In einem Radiointerview anlässlich des Salon du livre de la Côte-Nord mit Madeleine Ross gibt der Autor an, dass der Roman aus den dort generierten Antworten entstanden sei, die er mit Elementen aus seinem eigenen Leben anreicherte (vgl. Ross 2006)156. Die Entstehungsgeschichte des Romans ist in der folgenden Analyse insofern von Bedeutung, als dass sie in Vaillancourts Werk widergespiegelt wird, denn auch sein Protagonist eignet sich Buzzatis Roman über Leutnant Drogo im Rahmen eines Internet-Rollenspiels an. Dino Buzzatis 1945 publizierter Roman, der im Französischen den Titel Le désert des Tartares trägt, inszeniert den jungen Soldaten Giovanni Drogo, der zu Beginn der Handlung seinen ersten Posten als Leutnant im weit abgelegenen Fort Bastiani eines nicht benannten Staates antritt. Voller Tatendrang und in der Überzeugung, ein heldenhaftes Soldatenleben zu beginnen, muss er bei seiner Ankunft erfahren, dass Bastiani lange nicht angegriffen wurde. Dennoch kursieren vage Gerüchte über die Gefahr, die von der Tartarenwüste ausgehe, welche sich vor den Mauern Bastianis erstreckt. Während der Dienstzeit auf der Festung werden die Hoffnungen der auf Bastiani stationierten Soldaten immer wieder enttäuscht und Drogo nimmt sich rasch vor, die Festung baldmöglichst wieder zu verlassen. Die auktoriale Erzählinstanz deutet jedoch früh eine unbekannte Kraft 155 Vgl. http://www.dialogus2.org/drogo.html vom 10.02.2010. 156 http://www.radio-canada.ca/audiovideo/pop.shtml#urlMedia%3D/Medianet/2006/CBSI/0003998D_20060426_102735.asx&promo%3DZAPmedia_Telejournal&duree%3Dcourt vom 10.02.2010.

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an, die Drogo auf dem abgelegenen Fort halten wird: „Pourtant, une force inconnue s’opposait à son retour en ville et peut-être cette force jaillissait-elle de son propre esprit, sans qu’il s’en aperçut.“ (DT: 42) Tatsächlich verfliegen die sich ähnelnden Tage immer schneller und Drogo wird mehr und mehr von den unbestimmten Aussichten auf einen bevorstehenden Angriff vereinnahmt. Heimaturlaube zeigen dabei seine wachsende Entfremdung von der Familie auf. So bleibt er schließlich bis zu einer schweren Krankheit jahrzehntelang auf Bastiani. Seine Hoffnungen auf eine Attacke der Tartaren scheinen sich zu spät zu erfüllen, denn als ein Angriff verkündet wird, muss der invalide Drogo in eine Herberge evakuiert werden. Ohne die Tartaren je zu Gesicht bekommen zu haben, verstirbt er dort einsam, aber mit einem Lächeln auf den Lippen. Die Wiederaufnahme dieser parabelhaften Erzählung Buzzatis gestaltet sich in der récriture des Québecer Schriftstellers Yves Vaillancourt wie ein wahrhaftiger Dialog der Texte. So ist die Geschichte Drogos in La source opale nicht nur virtuell als strukturgebende Folie präsent, sondern findet – in leicht abgewandelter Form – auch als Folge eingeschobener E-Mails direkt Eingang in den Text zweiten Grades. Dieser Dialog kann jedoch nur stattfinden, weil es sich um eine vollständige Integration der récriture-Bewegung in das Erzähluniversum handelt, bei der zwei Fiktionsebenen entstehen. Beide Fiktionsebenen nehmen Buzzatis Roman in weiten Teilen wiederholend auf und treten zueinander und zum Prätext in ein komplexes Interaktionsverhältnis. La source opale als zweifache récriture von Le désert des Tartares Auf der ersten Fiktionsebene, der TAW, nimmt der Montréaler Vital Gormally an einem Rollenspiel im Internet teil, bei dem er sich als Drogo, die Hauptfigur aus Dino Buzzatis Roman Le désert des Tartares, ausgibt und aus dessen Sicht E-Mails beantwortet.157 Die dadurch entstehende zweite Fiktionsebene stellt somit ein F-Universum dar und wird äußerst deutlich als récriture des Prätextes markiert. Die Funktion einer Exposition nimmt dabei Vitals erste E-Mail (vgl. SO: 12-15) ein, in der die wichtigsten Figuren und das raum-zeitliche Universum aus Buzzatis Roman aus der Sicht von Drogo II vorgestellt werden. Auf die Frage eines Rollenspielteilnehmers berichtet Drogo II über die Bedeutung des Schachspiels auf Bastiani und präsentiert dabei die wichtigsten Figuren aus Le 157 Im Folgenden wird zur besseren Übersichtlichkeit der Protagonist des Prätextes als ‚Drogo I‘, derjenige des Textes zweiten Grades als ‚Drogo II‘ bezeichnet. Wo keine Nummerierung erfolgt, sind beide Charaktere betroffen.

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désert des Tartares. Bereits an dieser Stelle wird der expansionistische Ansatz Vaillancourts klar, denn das Schachspiel auf Bastiani wird hier sehr viel detaillierter beschrieben als bei Buzzati. Nicht nur die Tatsache, dass Neuankömmlinge meist gewinnen (vgl. DT: 82), wird erwähnt, sondern die Schachpartien werden als Mittel zur Charakterisierung der Figuren gebraucht. So werden beispielsweise Tronks Blockadestrategie und Angustinas elegantes und komplexes Kombinationsspiel, das sich durch die Opferung wichtiger Spielfiguren auszeichnet und laut Drogo nicht dem Sieg, sondern der Schönheit verpflichtet ist, kontrastiv hervorgehoben (vgl. SO: 13f.). Drogo II gibt in den auf die erste E-Mail folgenden Nachrichten auf Anfrage Informationen zu Ereignissen aus dem Primärtext. Kommentiert werden dabei unter anderem der Besuch bei Maria Vescovi (vgl. eb..: 41-44), der Tod Angustinas (vgl. ebd.: 95-97) und Lazzaris (vgl. ebd.: 95), der Abschied Ortiz’ (vgl. ebd.: 109f.) sowie Drogos Einquartierung in der Herberge unterhalb des Forts (vgl. ebd.: 28). Zunächst bleibt Vital in seinen E-Mails, die der Erzählung der Handlung auf der ersten Ebene zwischengeschaltet sind, Buzzatis Roman weitgehend treu. Hintergrund dieser Neuerschaffung von Buzzatis Erzähluniversum ist dabei eine Identifikation des Protagonisten der ersten Fiktionsebene mit Leutnant Drogo. Im Laufe des Spiels stellt der ledige vierzigjährige und vom Leben bisher enttäuschte Vital eine Ähnlichkeit zwischen seinem Leben und der Biografie des fiktiven Drogo fest, welcher sein ganzes Leben auf der Festung Bastiani verbringt und dort vergeblich auf den Angriff der Tartaren wartet, der ihm eine Gelegenheit zu Heldentaten geboten hätte. Die Identifikation Vitals mit Drogo I stellt den Ausgangspunkt der récriture auf der ersten Fiktionsebene dar. Während die zweite Fiktionsebene, wie ausgeführt, Elemente des Erzähluniversums von Le désert des Tartares ohne zeitliche oder räumliche Modifikation wiederaufzugreifen und eine communauté fictionnelle zu konstruieren scheint, stellt die Plotentfaltung in der TAW auf der ersten Fiktionsebene durch eine Transposition in das Montréal des 21. Jahrhunderts eine distanziertere Version dar, die somit keine Konkurrenz-, sondern eine Parallelwelt zum Prätext entwirft. Dennoch aktiviert sie mit Hilfe von Intertextualitätssignalen Schemata beim Leser, die eine lecture palimpsestueuse ermöglichen. Der erste Hinweis sind zahlreiche Zitate und Anspielungen auf Buzzatis Roman, der nicht nur in Form des Rollenspiels, sondern auch als Buch Teil der TAW Vitals ist. Vitals Exfreundin Daniela hatte ihm den Roman geschenkt, der ihn tief beeindruckt hatte, und er diskutiert häufig mit seinen Freunden über Le désert des Tartares (vgl. SO: 21). Die Bedeutung des Buches für die Figuren lässt sich auch daran ablesen, dass die Festung Bastiani zu einem Thema in einem Fotowettbewerb der

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Freunde wird (vgl. ebd.: 143).158 Deutlich wird in Gesprächen seiner Freunde Carlos und Laurent eine Parallele zwischen Drogo I und Vital gezogen.159 Auch Gilles, ein weiterer Freund Vitals, evoziert den Leutnant, als er Vital von seinen Plänen erzählt, das professionelle Schachspiel wieder aufzunehmen und an internationalen Turnieren teilzunehmen: „Je pars à la place du leutenant Drogo, cher Vital! Ou dois-je dire à ta place?“ (Ebd.: 104) Indem Gilles gerade im letzten Beispiel seine Aktivität in Kontrast zur Wartehaltung von Drogo I präsentiert, macht er den Protagonisten des Prätextes zu einer Symbolfigur der verpassten Möglichkeiten. Neben diesen expliziten Referenzen auf Buzzatis Roman sind strukturelle Parallelen festzustellen. Auf der ersten Fiktionsebene besteht eine ähnliche Figurenkonstellation wie in Buzzatis Roman, da die Hauptfigur jeweils männlich und ledig ist und von männlichen Freunden umgeben ist. Obwohl es unmöglich ist, die einzelnen Nebenfiguren eins zu eins auf die Figurenkonstellation in Le désert des Tartares zu übertragen, finden sich Homologien, die durch ähnliche Namen oder Verhaltensweisen evoziert werden. So spielt Carlos in La source opale die Vermittlerrolle zwischen Vital und Laurent (vgl. ebd.: 69) und ist deutlich häufiger präsent als Carlo Morel, der Drogo I den ersten Blick auf die Tartarenwüste ermöglicht und ihn in die Gemeinschaft der Soldaten einführt (vgl. DT: 36). Der Roman spielt dabei mit einem Netz von Entsprechungen, das Hypothesen über Korrespondenzen generiert, die wieder fallen gelassen werden müssen, wodurch die Aufmerksamkeit auf die Hypothesenerstellung selbst gelenkt wird.160 Der den Plot auslösende Konflikt besteht, mit Ryan gesprochen, jeweils in einer Diskrepanz zwischen der textuell aktualisierten Welt und der Figurendomäne des Protagonisten. Die TAW charakterisiert sich aus der Sicht Vitals und 158 Vital, Laurent und Carlos treffen sich periodisch, um ihre Fotos zu ausgewählten Themen (Plazenta, Frauen, Fort Bastiani und Opalquelle) zu vergleichen (vgl. SO: 20). 159 So konstatiert Laurent beispielsweise: „Vital est tombé dans le piège que Buzzati démonte pourtant.“ (SO: 89) 160 Eine weitere Korrespondenzrelation betrifft Laurent, der aufgrund seiner wortspalterischen Fähigkeiten den Spitznamen ‚L’Éboueur‘ trägt. Dieser könnte mit Lagorio in Verbindung gebracht werden, der in Le désert des Tartares seinen Freund Angustina auf dem Fort zurücklässt. Auch Laurent verabschiedet sich, tritt er doch eine Reise nach Moldavien an (SO: 143). Gemeinsam mit Angustina ist Laurent wiederum das vornehme Auftreten und das Einzelgängertum, so dass zwar Parallelen konstruiert werden können, eine völlige Kongruenz zwischen einzelnen Figuren aber nicht vorliegt.

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Drogos jeweils durch Einsamkeit, enttäuschte Illusionen und das Warten auf ein Ereignis, das die von der Routine bestimmte Realität aufwerten würde. Drogo I ist sich im Gespräch mit seinem Freund und Vorgesetzten Ortiz zwar einerseits der Absurdität des Wartens bewusst, lässt aber die Hoffnung nicht fallen: Mais, au fond, ici au fort, on peut espérer en quelque chose de mieux. C’est peut-être absurde, et pourtant, vous-même, si vous voulez être sincère, vous devez avouer... (DT: 164)

Dabei ist die Unzulänglichkeit in der Wunschwelt von Drogo I vom Streben nach militärischem Ruhm erfüllt, während für Vital eher das persönliche Glück und die künstlerische Entfaltung im Vordergrund stehen. Hier schlägt sich die Transposition nieder, denn der militärische Kontext, der Drogo I umgibt, wird bei Vital durch einen privaten ersetzt. Zudem konkretisiert und multipliziert sich die räumliche Verortung. Drogos Umfeld bleibt geographisch und zeitlich nicht situierbar, wird jedoch durch den Gegensatz zwischen dem weit abgelegenen Fort und der Stadt bestimmt. Die Geschichte Drogos erhält dadurch insgesamt einen Universalitätsanspruch.161 Vitals fiktionale Welt entspricht dem Montréal des 21. Jahrhunderts, das Vital nicht verlässt, genauso wie Drogo I bis kurz vor seinem Tod in Bastiani verbleibt. Drogo I steht damit im Gegensatz zu einigen seiner Kameraden, welche die Festung verlassen, genauso wie Vitals Freunde an die Riviera und nach Moldavien reisen. Diese Parallele deutet darauf hin, dass die Ankunfts- und Abschiedsstruktur übernommen ist, in die sich Buzzatis Roman gliedern lässt. Sie ist bei genauerer Betrachtung in beiden Fiktionsebenen von La source opale nachzuweisen, wird jedoch inhaltlich etwas abgewandelt. Nach der Ankunft von Drogo I stellt der Abschied Lagorios (DT: Kap. VIII) ein erstes Ereignis außerhalb der Routine dar, die sonst nur von Heimaturlauben unterbrochen wird. Lazzaris und später Angustinas Tod sowie die Abreise eines großen Teils der Belegschaft anlässlich der Truppenreduzierung stellen weitere Formen des Zurückbleibens für Drogo I dar. Diese Abschiede strukturieren die Romanhandlung, deren Ende mit Drogos eigenem Weggang vom Fort eingeleitet wird. Eine Reminiszenz an das fortwährende Aufbrechen und Zurückkehren und die trügerische Illusion der Ewigkeit,

161 Diese Zeit- und Ortlosigkeit – Holland wird als Reiseziel von Maria als einzige Ortsangabe explizit genannt (DT: 181) – bietet einen weiten Interpretationsspielraum. Dennoch lenken die italienischen Eigennamen die Rezeption. So wurde der Roman auch als Allegorie des italienischen Faschismus gewertet (vgl. Panafieu 1981).

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der Drogo I zunächst erliegt,162 findet sich in den nächtlichen Besuchen von Drogo II bei Gitane während ihres gemeinsamen Sommers: J’avalais à cheval les kilomètres qui nous séparaient et je faisais irruption dans sa nuit. Depuis notre première rencontre, j’avais fait cela tellement de fois, qu’il me semblait avoir devant moi un temps illimité. J’arrivais, je repartais, j’arrivais, je repartais. Ces allersretours scandaient le temps de ma vie, ma vie à moi. (SO: 59)

Der Handleserin Gitane ist das Vergehen der Zeit hingegen bewusst und sie kontrolliert immer wieder, ob eine bestimmte Linie in der Hand von Drogo II nicht doch verschwunden ist (vgl. ebd.). Diese Anspielung auf die körperliche Disposition scheint anzudeuten, dass sein Schicksal unausweichlich, das heißt biologisch determiniert und nicht selbst gewählt ist. Der Verweis auf physische Gegebenheiten kann zudem als Parallele zum Krankheitsdiskurs in Le désert des Tartares gelesen werden. Der Arzt Rovina warnt Drogo I kurz nach seiner Ankunft vor der Krankheit der „Dagebliebenen“, die ihre Hoffnung auf ein großes Ereignis über die Jahre hinweg nähren und vor der sich der Neuankömmling zunächst als „spectateur non contaminé“ (DT: 66) gefeit meint. Somit können die Figuren der récriture auf der zweiten Fiktionsebene in solche, die bleiben beziehungsweise immer wieder zurückkehren, und solche, die weggehen, unterteilt werden. Gitane verlässt Drogo II so wie Lagorio seinen Freund Angustina im Prätext zurücklässt. Gleichermaßen lassen Gilles, Laurent sowie Daniela Vital auf der ersten Fiktionsebene von La source opale zurück. Dies deutet schon an, dass neben der Gliederung der Handlung durch das Ankommen beziehungsweise Weggehen von Figuren, welches die Routine unterbricht, ein weiteres gemeinsames Merkmal der Romane textinterne Parallel- beziehungsweise Verdopplungsstrukturen sind. Diese Verdopplung äußert sich einerseits in der Strategie, für die gleichen Vorgänge wortgleiche Beschreibungen zu verwenden und das singulative Erzählen zu betonen. So wird die Umgebung Bastianis, welche die Soldaten durchqueren, bei Vaillancourt bei beiden Ausritten zur titelgebenden Opalquelle als Ansammlung von „pierres, broussailles et sable“ (SO: 26, 178) resümiert und negativ semantisiert. Im Prätext lässt sich diese Repetition anlässlich eines Ritts nachweisen, der in Richtung Bastiani stattfindet. Als Drogo I auf Bastiani ankommt, wird ihm von Ortiz der Weg gewiesen. Etliche Jahre später überrascht 162 Die Erzählinstanz merkt an: „Il n’y avait personne pour lui dire: ‚Prends garde, Giovanni Drogo!‘ Illusion tenace, la vie lui semblait inépuisable, bien que sa jeunesse eût déjà commencé à se faner.“ (DT: 86)

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sich Drogo I dabei, an der gleichen Stelle einem Neuankömmling den Weg zur Festung zu weisen. Die Parallelstruktur ist durch den gleichen Ablauf und die exakt übereinstimmende Wortwahl in der Figurenrede angezeigt.163 Ab dem Kapitel, das erzählt, dass sich der über vierzigjährige Drogo I des Vergehens der Zeit bewusst wird, erhöht sich das Erzähltempo (vgl. Mathiot 1981a: 52) des Prätextes, das erst auf den letzten Seiten, die seinen Tod beschreiben, wieder verlangsamt wird. Die Erkenntnis über die Vergänglichkeit der Zeit hat Vitals Drogo II auf der zweiten Fiktionsebene der Source opale nach dem Abschied Gitanes, die ihn nach ihrer einen Sommer dauernden Liebesaffäre verlässt: „J’avais quarante ans et j’étais sans nul autre foyer que les murs chimériques de Bastiani.“ (SO: 61) Genau wie im Prätext zieht diese Einsicht zunächst keine Initiative von Drogo II nach sich. In der entsprechenden Sequenz verbleibt Drogo I nach dem Abschied Ortiz’ weiterhin auf Bastiani. Der Weggang Ortiz’, der im Erzähluniversum des Sekundärtextes zeitlich mit einem Brief Gitanes zusammenfällt, wird bei Vaillancourt jedoch zum Wendepunkt der Geschichte, denn hier entschließt sich Drogo II, seine Soldatenkarriere zu quittieren und eine Reise an die Riviera zu unternehmen (vgl. ebd.: 110). Diese Reise, eine eindeutige Abwendung von der Intrige des Prätextes, erhält eine Parallele auf der ersten Fiktionsebene des récriture-Romans, als sich Gilles, ein Freund Vitals, nach der endgültigen Aufgabe seiner Karriere als professioneller Schachspieler an die Riviera begibt. Vital kommentiert diese Imitation seiner récriture in der TAW: „Gilles est entré dans l’histoire virtuelle du lieutnant Drogo. Je parle de celle que j’ai inventée. Notre grand-maître semble avoir répété l’une de mes variations.“ (Ebd.: 160) Der kurze Vergleich der Handlungsstrukturen hat gezeigt, dass beide Fiktionsebenen unbestreitbar auf der Selektions- und Konfigurationsebene Gemeinsamkeiten mit dem Prätext aufweisen, die sich teilweise in Rückkopplungseffekten auf der jeweils anderen Ebene entladen. Bei dem Überblick über die komplexe Wiederaufnahme von Buzzatis Roman sind außerdem Ergänzungen und Abweichungen zum Prätext angeklungen, die im Folgenden im Zusammenspiel mit der unterschiedlichen Verarbeitung ausgesuchter Motive näher betrachtet werden.

163 Auf der steilen Straße, die nach Bastiani führt, hört Drogo fünfzehn Jahre nach seiner Ankunft den gleichen Ausruf „Mon Capitaine!“ (DT: 229), mit dem er Ortiz am selben Ort auf sich aufmerksam gemacht hatte (vgl. ebd.: 13), und antwortet mit dem gleichen zweifachen „Qu’y a-t-il?“ (Ebd.: 229, 13), das ihm Ortiz damals erwidert hatte.

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Drogo auf Abwegen: Dino Buzzatis Leutnant Drogo in der midlife crisis Neben den genannten Gemeinsamkeiten auf der Selektions- und Konfigurationsebene, die als Intertextualitätssignale fungieren, ist eine Fülle weiterer wiederkehrender Motive und Entsprechungen in Bezug auf die Selektion zu konstatieren. Diese Elemente entwerfen in teilweise mehrgliedrigen Verweisungsketten ein komplexes Beziehungsgeflecht zwischen dem Erzähluniversum des Prätextes und demjenigen des Textes zweiten Grades. Im Folgenden werden auf der Basis inhaltlicher und darstellerischer Anknüpfungspunkte zwischen Primär- und Sekundärtext zunächst die Funktionen von Abweichungen erläutert und das Ineinandergreifen der Fiktionsebenen im récriture-Roman verdeutlicht. Bewerkstelligt wird diese Verbindung über die kritische Reflexion des Prätextes, die der Protagonist Vital auf der ersten Fiktionsebene von La source opale durchführt und die sich anhand einer veränderten Perspektivierung nachweisen lässt. In leicht verändert Form ist beispielsweise das Motiv des Wachehaltens aufgrund der Transposition auf der ersten Fiktionsebene des Textes zweiten Grades aufzufinden. Der regelmäßige Ruf der Wachen auf dem Fort Bastiani scheint mit dem „bleup bleup“ (zum Beispiel SO: 163, 168) des Computers von Vital äquivalent zu sein, der durch dieses Geräusch eine neue E-Mail ankündigt. Der Piepton des Computers verkörpert genau wie der regelmäßige Ruf der Wachpatrouillen die Routine im Leben der Protagonisten und wird explizit mit Fort Bastiani verglichen (vgl. SO: 146). Genau wie Drogo I wartet Vital auf Signale von außen. Im Gegensatz zu jenem, der nur als passiver Empfänger auftritt und stundenlang den Horizont absucht, sendet Vital jedoch anhand seiner E-Mails selbst Zeichen aus und beeinflusst dadurch den Lauf der Dinge in seiner TAW.164 Auch auf der zweiten Fiktionsebene von La source opale sind Unterschiede in der Objektsymbolik festzustellen. Dies lässt sich besonders gut am Beispiel des Besuchs bei Maria Vescovi illustrieren. Beide Erzähler gebrauchen Beschreibungen der Umgebung, um die Entfremdung zwischen Maria und Drogo zu evozieren. Während im Prätext anhand von mechanischen Klavierübungen als Hintergrundmusik die Anstrengung widergespiegelt wird, die Drogo I empfindet, um ein Gespräch aufrecht zu erhalten und an vergangene Zeiten anzuknüp164 Die Parallele entspinnt sich in diesem Fall eher zwischen Vitals Hund, Sadhu, und Drogo I, denn der Computer bestimmt völlig den Lebensrhythmus Sadhus: „Cette chose à l’odeur de plastique en était donc venue à scander l’alternance du mouvement et du repos.“ (SO: 164) Im Rückschluss drängt sich ein Vergleich von Drogo I mit dem Hund auf, dessen Name auf asketische Hindus verweist und damit in der Rückwirkung auf den Prätext Drogos Entkoppelung von seiner Realität betont.

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fen,165 arbeitet der Text zweiten Grades mit dem Gegensatz zwischen heißer Trockenheit und erfrischendem Wasser. So macht das durchdringende und repetitive Zirpen einer Grille im Garten der Familie Vescovi Drogo II auf die Entfremdung zu seiner Kindheitsfreundin aufmerksam: [C]‘était comme si toute la sécheresse de l’été crissait dans mes oreilles et que rien d’autre ne pourrait les remplir. C’est à ce moment que tout se rompit à jamais entre Maria et moi. (SO: 43)

Seiner Meinung nach haben ihn die Gewohnheiten auf Bastiani regelrecht ausgetrocknet: [I]l aurait suffi de la fraîcheur de la fontaine pour que renaissent les mots de la promesse, celle que nous avions su tenir avant que les habitudes prises au fort ne me dessèchent la gorge. (Ebd.)

Die Trockenheit findet sich auch in der Umgebung Bastianis wieder, die, wie bereits erwähnt, zweimal als „pierres, broussailles et sable“ (SO: 26, 178) beschrieben wird. Trockener Sand wird in ähnlicher Weise in einer E-Mail von Vitals Exfreundin, Daniela, semantisiert, die sich im Internet-Rollenspiel als Gitane ausgibt und in dieser Rolle Drogo II vorwirft, früher jede Entwicklung mit Wüstensand zugedeckt zu haben (vgl. ebd.: 120, 125). Der Sand der Tartarenwüste wird zum Sand im Getriebe der Weiterentwicklung und zum Sinnbild für das Gefangensein in der Routine. Diesen Wüstensand lässt Vital auf der ersten Fiktionsebene, nachdem er in einer E-Mail Drogo II an die Riviera geschickt hat, in einem Traum hinter sich (vgl. SO: 137), wodurch eine Entwicklung in Vitals Leben versinnbildlicht wird. Diese Wandlung wird durch die récriture des Primärtextes möglich, wie sich an der vergleichenden Betrachtung von äußeren Einflüssen auf Vital und Drogo I herausarbeiten lässt. Le désert des Tartares ist durch die Jahreszeiten strukturiert, die jeweils semantisch beladen sind. Während die Übergangsjahreszeiten Frühling und Herbst mit Hoffnung assoziiert werden, scheint der Winter negativ besetzt. Die kalte Jahreszeit ist dabei nicht nur mit Angustinas Tod im Schnee verbunden, sondern scheint auch explizit auf die Stimmung von Drogo I zu drücken: „La neige tombait du ciel, très drue, blanchissant les terrasses. En la regardant, Drogo éprouva 165 „On entendait le son du piano, mais pourquoi ces arpèges continuaient-ils de monter sans jamais finir? D’une nudité scolaire, ils répétaient avec un détachement résigné une vieille histoire jadis chère.“ (DT: 181)

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avec plus d’acuité son angoisse habituelle.“ (DT: 214) Auf Drogo II hat der verschneite Mont Royal eine ähnlich lähmende Wirkung, die seinen Tatendrang völlig einzuschränken vermag (vgl. SO: 93). Nur die Aussicht, die Fragen an seine Rollenspiel-Figur Drogo zu beantworten, kann ihn aus der lähmenden Starre aufwecken, die ihn bei einem Spaziergang fast dazu bringt, im Schnee zu erfrieren (vgl. ebd.). Hier wird die sinnstiftene Bedeutung des Internet-Rollenspiels für Vital deutlich, das ihn zur Reflexion zwingt. Gerade anhand des unterschiedlichen Einsatzes schriftlicher Kommunikation kann zudem die divergierende Plotkonfiguration im Vergleich zum Prätext erschlossen werden. Vaillancourts Roman entfernt sich an dieser Stelle sehr deutlich von seinem Prätext, da Drogo I eine Kommunikation über Briefe mit seiner Mutter und mit Maria gerade nicht möglich ist. Zu groß sind die Distanz zu seinem früheren Leben in der Stadt und die Anziehungskraft der Wüste, als dass er einen Brief an Maria zu Ende schreiben könnte. Schon nach zwei Zeilen erhebt sich Drogo unvermittelt und steigt auf das Dach, um Ausschau zu halten (vgl. DT: 84). Vaillancourts Roman hingegen entfaltet sich auf der Basis einer schriftlichen Kommunikation, die Vital mit den anderen Teilnehmern des Internet-Rollenspiels unterhält. Das so entstehende FUniversum ist demnach in sich dialogisch, beruht es doch auf den Antworten Vitals auf die Fragen an seine Figur, Drogo II. In seinen Ausführungen nimmt Vital als intradiegetische Erzählinstanz sowohl die Technik der Expansion als auch diejenige des Displacement vor. Zu letzteren zählt die oben genannte Reise an die Riviera. Dieser Ausflug, den Drogo II macht, nachdem er im Gegensatz zu Drogo I schließlich den Dienst auf der Festung quittiert, stellt eine eklatante Abweichung zu Le désert des Tartares dar und verdeutlicht die Aneignung des Prätextes durch den Protagonisten der ersten Fiktionsebene. Die Reise findet darüber hinaus, wie erwähnt, in Gillesʼ Urlaub nach Abbruch seiner Schachspielerkarriere eine – spätere – Entsprechung auf der ersten Fiktionsebene. Dieses Nachleben der Gegebenheiten des F-Universums veranschaulicht die Auswirkung der fiktionalen Erzählung auf das Leben der Figuren der TAW und somit auf zugespitzte Weise die „Wirkkraft auch in der [hier textinternen, MK] Realität“ (Hartwig 2008: 84). Eine reine Expansion ist die titelgebende Opalquelle, die ihren Namen den Erzadern verdankt, welche ihr Wasser goldbraun färben (vgl. SO: 27). Die mysteriöse Quelle entspricht einem Orakel, das den Menschen in der Mitte ihres Lebens essentielle Dinge über die zweite Lebenshälfte verrät, wenn sie es jedes

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Jahr aufsuchen.166 Der Opalquelle schenkt Drogo II beim ersten Besuch keine Beachtung und muss daher rückblickend feststellen: C’est pourquoi je passai à l’autre versant de ma vie sans m’en rendre compte, persévérant dans les habitudes acquises, jusqu’au moment où je m’aperçus que cette vie n’avait été qu’une partie d’échecs jouée chaque jour identiquement. (SO: 28)

Er nimmt die Legende nicht ernst, nach der die Orakelsprüche nur gehört werden können, wenn man von einer etwa gleichaltrigen Person begleitet wird.167 Diese Begleiterin findet sich in der Figur der Gitane, deren Auftreten eine weitere Expansion des Prätextes darstellt. Auch diese Erweiterung steht in sehr enger Verbindung mit der ersten Fiktionsebene, verbirgt sich doch, wie gesehen, Daniela, Vitas Exfreundin, hinter Gitane. Im Internet-Rollenspiel teilt sie ihm nach seinen Ausführungen zum Liebesabenteuer von Drogo II die Worte der Opalquelle an Drogo II mit, die dem Leser jedoch vorenthalten bleiben. Der Eingriff einer Figur der TAW in das F-Universum Vitals kann damit erklärt werden, dass die Veränderungen, die Vital dem Prätext zufügt, einen autobiografischen Hintergrund haben. Da sie Vital in Drogo II erkannt hat, gibt sich Vitals Exfreundin als die ehemalige Geliebte von dessen fiktiver Entsprechung aus, um ihm zu ermöglichen, ihre Beziehung zu verarbeiten. Am Ende von Vaillancourts Roman stellen sich Expansion und Displacement gleichzeitig ein, wie sich an der letzten E-Mail Vitals zeigen lässt. Als Drogo II schreibt Vital an Monsieur Net, Laurents Pseudonym. Diese Nachricht, die das letzte Kapitel von Vaillancourts Roman bildet, stellt eine eklatante Abweichung von Buzzatis Roman dar, da sie zwar auch eine Lebensbilanz Drogos beinhaltet, diese jedoch nicht zeitlich am Ende von Drogos Leben verortet. In dieser E-Mail berichtet Drogo II zunächst mit einer Anspielung auf Platons Höhlengleichnis, dass er sich von den anderen Offizieren nicht erheblich unterscheide (vgl. SO: 175). Sein einziges Distinktionsmerkmal sei seine Reise an die Riviera, nach der er wieder nach Bastiani zurückgekehrt war. Überbleibsel 166 Vaillancourt gibt an, sich von C.G. Jung inspiriert haben zu lassen, als er diesen symbolischen Ort einfügte, der den Pilgerern einen Einschnitt nach der ersten Hälfte des Lebens erlauben soll (vgl. Ross 2006). 167 „Il importait donc d’être accompagné par quelqu’un ayant sensiblement le même âge que soi, comme si ce double était discrètement lié à nous par le mystère de la naissance et les arcanes du destin. Cette personne […] captait une part du message nous étant destiné. C’est seulement ainsi que l’on pouvait, disait la légende, reconstituer l’oracle dans son intégralité.“ (SO: 28f.)

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dieses Ausbruchs seien seine Erinnerungen und vor allem die Fotografie. Die Tatsache, dass Drogo II an der Riviera einen Fotografen trifft, der ihm seine Kunst beibringt, kann als weiteres Element der textinternen Aneignung gesehen werden, schreibt doch Vital Drogo II seine eigenen Interessen zu und gibt ihm damit die Möglichkeit, seinen Blick auf seine Umgebung zu verändern. Der Wunsch von Drogo II, mit einem mobilen Fotoapparat die Umgebung Bastianis einfangen zu können, erwächst aus der Möglichkeit, mit Hilfe der Linse seinem Blick einen Fokus zu geben (vgl. ebd.: 176). Nach dieser Reflexion über die Fotografie als Mittel, das Wesentliche aus einem unbegrenzten Angebot zu destillieren, berichtet Drogo II über eine Expedition in den Norden, bei der eine Flussumleitung überprüft werden soll. Der Ritt führt die Soldaten an die nun ausgetrocknete Opalquelle. Drogo II nähert sich der im Licht reflektierenden Quelle und meint, Gitane wiederzusehen, als er eine Art Lichtexplosion wahrnimmt: Mais à peine avais-je ressaisi le lien oublié, tel un cordon enchanté, et avancé ma bouche vers la sienne, que d’innombrables reflets vif-argent explosèrent en un feu d’artifice. Comme autant d’effigies ou d’arcanes de ma vie. (SO: 179)

Das neue Licht, das der Tod in Le désert des Tartares metaphorisch und nachträglich auf das Leben des sterbenden Drogo zu werfen scheint, wird in La source opale zu Lebzeiten Drogos durch die kristallisierten Abbilder seines Lebens auf dem Opalsplitter, den er an sich nimmt, verkörpert. Die veränderte Wiederaufnahme von Elementen des Prätextes hat deutlich gemacht, dass die beiden Fiktionsebenen in La source opale zusammenspielen. Vital verändert aufgrund persönlicher Motive Drogos Geschichte, indem er neue Elemente hinzufügt und schließlich den Verlauf der Intrige in einem finalen Displacement modifiziert. Die Beziehung der Erzähluniversen in Vaillancourts Roman entfaltet sich demnach dynamisch um die Figur des Vital beziehungsweise sein fiktives Double Drogo II. Der Hobbyfotograf Vital stellt in Vaillancourts Roman die Schnittstelle zwischen dem Originaltext sowie der ersten und der zweiten Fiktionsebene dar. Vitals Funktion im Roman kann mit der eines Objektivs verglichen werden. Denn genau wie ein Objektiv Lichtstrahlen aufnimmt und durch verschiedene Spiegelungen sammelt, absorbiert Vital seine Realität, betrachtet sie sozusagen durch den spiegelnden Filter des Prätextes, den er oftmals gelesen hat, und hält seine Eindrücke auf einem Bild beziehungsweise in diesem Fall in einem Text außerhalb seiner selbst fest. Der Text der zweiten Fiktionsebene könnte so mit einem Konvergenzpunkt der Lichtstrahlen, die sich außerhalb des Objektivs bündeln, gleichgesetzt werden werden.

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Die markanteste „Spiegelung“, durch die sich diese zweite Fiktionsebene auszeichnet, ist mit Genette als Transvokalisierung und Transfokalisierung zu bezeichnen. Drogo II wird zum Ich-Erzähler seiner Geschichte und gibt nun in einer Art Interview-Situation in Form von E-Mails Auskunft über sein Leben.168 Der Übergang zur internen Fokalisierung und einem homodiegetischen Erzähler, der nur auf der zweiten Fiktionsebene erfolgt – auf der ersten Fiktionsebene sind im Prätext ein extradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler und Nullfokalisierung zu beobachten – führt zu höherer Unmittelbarkeit und vereindeutigt das Erzählte. Vitals Drogo ist somit eine sehr viel transparentere Figur als sein Vorbild, so dass im Rückschluss das Verhalten der Figur aus dem Prätext kommentiert wird. In Vaillancourts Text wird daher Lazzaris Tod aus der Sicht Drogos erzählt, während im Prätext das Kapitel XII ohne eine Erwähnung Drogos abläuft. Sowohl im Hinblick auf Lazzaris als auch auf Angustinas Tod erfährt der Primärtext durch die récriture eine Reflexion. Im Falle Lazzaris ist zudem eine Expansion nachzuweisen, die sehr deutlich einen erläuternden Kommentar zu Buzzatis Original darstellt. Nach dem Tod Lazzaris wird die intertextuelle Referenz auf den Bibeltext in Le désert des Tartares ausschließlich implizit angezeigt, denn Tronk möchte nicht in Anwesenheit des verstorbenen Lazzari den Marschbefehl geben, der als Anspielung auf die Auferweckung Lazarusʼ verstanden werden könnte: ̶ En avant, ordonne Tronk. En avant marche, aurait-il dû dire, mais cela lui semble presque une profanation. (DT: 121)

Es entsteht eine Ambivalenz, denn wenn die zweite Aussage Tronks als erlebte Rede gelesen wird, zeigt sie Tronks gedankliche Assoziation an. Als Kommentar des auktorialen Erzählers verstanden, betont sie dagegen Tronks unvorhergesehene Sensibilität, der sich der Negation der biblischen Parabel durchaus bewusst ist. Vaillancourt betont die intertextuelle Referenz im Prätext, indem er einen Besuch von Drogo II in der Kapelle anfügt, während dessen er beim Durchblättern des Neuen Testaments auf die Parabel der Wiedererweckung Lazarus’ stößt und daraufhin Tronks Äußerung kontextualisiert:

168 Die Interaktion über E-Mails, die einen Anachronismus darstellt – Drogo I kann zur Kommunikation mit seiner Familie nur auf Briefe zurückgreifen – hat dabei ein metafiktionales Wirkungspotenzial.

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Et là, je tombai sur l’épisode de la résurrection de Lazare! Je réalisai alors bien crûment à quel point Bastiani était étranger aux paroles évangéliques. C’est ce que Tronk avait obscurément senti. Lazzari était mort pour rien. Et aucune parole ne pouvait quoi que ce soit pour lui ou pour les siens. (SO: 96)

In Bezug auf Angustinas Tod verschiebt Vaillancourt den Fokus leicht und belässt einen Interpretationsspielraum. Vitals Drogo äußert sich unentschieden über Angustinas Willen, im Sterben die Pose des Heiligen Sebastian nachzuahmen und stellt somit eine Analogie zum Prätext dar, in dem der auktoriale Erzähler die Ähnlichkeit hervorhebt, jedoch gleichzeitig auf emphatische Weise jegliche Absicht in Bezug auf die Parallele negiert, was als Ironiesignal gedeutet werden kann: Voilà qu’à présent Angustina, oh! non pas qu’il le fît exprès, se mettait à ressembler au prince Sébastien blessé, gisant au cœur de la forêt. (DT: 118)

Vaillancourt stellt im Gegensatz dazu die Bedeutung des Ereignisses für die Soldaten stärker heraus. Buzzati ordnet den Tod Angustinas als Höhepunkt im in der Mitte des Buches befindlichen Kapitel XV ein, an der sich dieser relative Heldentod deutlich von der anschließend wieder einsetzenden Routine absetzt (vgl. ebd.: 160). Im Gegensatz zu dieser impliziten Betonung im Prätext, setzt Vaillancourt den Tod Angustinas wenig nach der Hälfte des Textes im zwanzigsten Kapitel an. Deutlich wird jedoch die Wirkung auf Drogo II, die als Gewissheit mit den Spekulationen über die Inszenierung des Todes kontrastiert wird: Certains prétendirent qu’il tentait d’imiter le prince Sébastien, dont nous avions un portrait au mess. Je ne sais pas. Je sais cependant qu’il me laissa seul au cafard des journées grises et cent fois, mille fois, répétées. Tandis que lui, il s’en était allé sur la cime de la montagne. (SO: 96)

Während die Transvokalisation und Transfokalisation an einigen Stellen, wie gezeigt, vereindeutigende Wirkung haben oder den Fokus auf den Hintergrund der Ereignisse lenken, schafft Vaillancourt anhand der neuen Konfiguration jedoch auch ein Spannungsverhältnis zwischen den konkurrierenden Erzähluniversen, das im Folgenden untersucht wird.

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Fiktionsbrüche und -spiegelungen: La source opale als intermedialer Meta-Roman Zwar scheint zunächst die Identität von Drogo I und Drogo II gegeben zu sein, wie die Exposition in der ersten E-Mail andeutet, doch bilden sich schon sehr früh Risse in der communauté fictionnelle. In seiner zweiten Antwort, die Drogo II von der Herberge aus schickt, nachdem er vom Fort evakuiert wurde, geht er auf die Frage des Leutnant Zangra ein, dessen Schicksal seinem eigenen gleicht, wie er bemerkt: „[V]ous quittiez le fort, vieux et déçu de n’avoir pu affronter l’ennemi, et voilà qui déferlait enfin! N’est-ce pas exactement ce qui m’est arrivé?“ (SO: 26) Drogo II bekräftigt das „triste et ironique décret du destin“ (ebd.), das ihnen vorbehalten sei, und beschreibt das unerfüllte Warten als Konstante des menschlichen Lebens. Dennoch merkt er an, dass der Angriff der Tartaren vielleicht nur ein Ergebnis seiner Einbildung war – eine Möglichkeit, die in Buzzatis Tartarenwüste nur durch einen Erzählerkommentar angedeutet wird, nicht etwa durch Drogo I selbst. Dort wird angeführt, dass Drogo I nicht einmal auf die Idee kam, dass Prosdocimo, der ihn von der bevorstehenden Attacke unterrichtet, lügen könnte (vgl. DT: 244). Zudem hebt Drogo II im Unterschied zu Buzzatis Drogo in seinem Schreiben die positiven Aspekte des Lebens auf Bastiani hervor, die von der Routine, die in Bastiani von der endlosen Sicht auf „pierres, sable et broussailles“ (SO: 26) verkörpert wurden, ablenkten. Abschließend berichtet er von seiner kürzlichen Entdeckung der Fotografie, mit der er die Hoffnung verbindet, dass sie neue Erlebnisse und Erfahrungen bringen werde (vgl. ebd.: 28).169 Diese verpassten Chancen und Hoffnungen am Ende seines Lebens stellen noch keinen größeren Bruch mit der fiktionalen Welt Buzzatis dar, allenfalls scheint es sich um eine sehr freie Expansion und eine Vereindeutigung zu handeln, die zudem eine Lösung für Drogos Problem andeutet: Fotografie wäre ein Mittel gewesen, das trostlose Leben und das Warten auf den Tod aufzuwerten. Dies würde jedoch zu kurz greifen und das Spiel mit Fiktion und Realität vernachlässigen, das sich hier in einer intertextuellen Anspielung verbirgt, denn der fiktive Vital spielt hier als Verfasser der Briefe auf eine realweltliche Persönlichkeit an, nämlich auf Jacques Brel und dessen Chanson über Leutnant 169 „Vous moquerez-vous de moi, cher Zangra, si je vous avoue que c’est seulement aujourd’hui que j’apprends […] l’invention de ce qu’ils appellent à lʼouest la photographie? […] [C]e presque rien sorti d’on ne sait où […] nous donnerait peut-être quelque chose de nouveau à penser, ou à ressentir. On pourra garder, aussi, le souvenir de ceux qui nous accompagnent […], avant que tout cela ne sombre dans l’absence ou l’oubli.“ (SO: 28f.)

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Zangra.170 In Brels Chanson verrichtet Zangra als Leutnant auf dem abgelegenen Fort Belonzio seinen Dienst, wo er auf einen Angriff des Feindes wartet, der ihn zu einem Helden machen soll. Seine Langeweile vertreibt er sich mit seiner Leidenschaft für Pferde und mit Ausflügen in die Stadt. Unübersehbar ist die Parallele zu Giovanni Drogo, wenn Zangra als alter Mann das Fort verlassen muss: J’ai quitté Belonzio qui domine la plaine Et l’ennemi est là, je ne serai pas héros. (Brel 1988)

Brel steigert das Motiv des unerfüllten Wartens, indem er den Protagonisten seines Chansons nicht nur vergeblich auf die Tartaren warten lässt, sondern zudem eine maßlose Begeisterung für Pferde hinzufügt, die ihn blind für andere Möglichkeiten der Ablenkung macht. Zu spät versucht er, eine andere Erfüllung zu finden: En attendant ce jour je m'ennuie quelquefois Alors je vais au bourg voir la veuve de Pedro Je parle enfin d'amour mais elle de mes chevaux. (Ebd.)

Intertextuelle Referenzen nehmen in La source opale insgesamt eine zweifache Funktion ein. Einerseits öffnen sie den Text und kreieren damit auf der Vermittlungsebene einen sehr starken Kontrast zum beengten Raum des Forts Bastiani, das den Mittelpunkt von Drogos Leben darstellt. Andererseits kommentieren sie über die Verdoppelungsstruktur die Geschichte Drogos. Auch wenn der Text von Brels Chanson nicht zitiert, sondern nur in einer E-Mail von Drogo II zusammengefasst wird, nähert sich diese Wiederholungsstruktur einer mimetischen Reproduktion (vgl. Dällenbach 1976: 284) an, deren Funktion weniger in der Pluralisierung des Sinns als in der Betonung der Literarizität liegt, die durch die Wiederholungsstruktur entsteht. Der versteckte Hinweis auf Brels Chanson ist somit eine inhaltliche mise en abyme171, die auf metafiktionale und metanarrative Weise den Status des Romans selbst widerspiegelt, der eine ähnliche Herangehensweise wie Brels Verarbeitung von Buzzatis Prätext hat.

170 Das Chanson „Zangra“ ist 1962 auf Brels Album Les bourgeois veröffentlicht worden. 171 Siehe zur „mise en abyme, bei der sich Rahmen- und Binnenerzählung wechselseitig enthalten“ (Martínez/Scheffel 2005: 79) sowie Scheffel 1997: 75f., der die Ausweitung des Begriffs zum Beispiel bei Dällenbach 1976 kritisiert.

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Jacques Brel ist nicht der einzige Künstler, auf den Vaillancourt intertextuell verweist. Der zweimal auftretende „weiße Sonnendampf“, „la vapeur blanche du soleil172“ (SO: 177, 180), entstammt dem Gedicht „La zone de silence“ von Nicolas Bouvier (Bouvier 1997: 30f.). Doch ist das Bild des Sonnendampfes in La source opale anders eingesetzt. In Bouviers Gedicht wird der weiße Sonnendampf aus der ersten Strophe im Zusammenspiel mit der titelgebenden „zone de silence“ (ebd.: 30) mit Stillstand assoziiert: Dans le vapeur blanche du soleil Vous mes voisins Caillots de sang qui bougent à peine Regards noirs bloqués sur le miroir du thé […] (Ebd.)

Mehrere Bezüge auf das Meer, „tombée si bas qu’elle ne peut plus mourir“ (ebd.: 31), verweisen auf die ausweglose, isolierte Situation eines in einer Flaute gefangenen Schiffes. In Vaillancourts Roman ist das Bild des weißen Sonnendampfes dagegen immer mit Bewegung verbunden. So galoppieren die Soldaten in der letzten E-Mail den ganzen Tag im weißen Sonnendampf (vgl. SO: 177), wobei der Text eine Aufbruchsstimmung suggeriert.173 Im letzten Satz des Romans, „[e]t sur la nudité des sables, leurs visages s’ouvraient dans la vapeur blanche du soleil“ (SO: 180, Hervorhebung im Original) taucht darüber hinaus eine doppelte Antithese zum Prätext auf. Zum einen steht die wörtlich transportierte Öffnungsbewegung im Gegensatz zum geschlossenen Ende des Prätextes, der mit Drogos Tod schließt. Zum anderen kontrastiert die Helligkeit des Sonnenlichts stark mit der Dunkelheit, in der Drogo I stirbt. Die zweifache Abweichung untermauert im Rückschluss auf die erste Fiktionsebene die Interpretation, dass Vital die Möglichkeit hat, seinem Leben auch vor dem Tod schon einen Sinn zu geben. Fiktionsbrüche, wie sie schon beim metaleptischen Auftritt Giacomo Brellis beziehungsweise Jacques Brels, angeklungen sind, stellen sich in Vaillancourts 172 Dans la vapeur blanche du soleil ist auch der Titel eines posthum herausgegebenen Fotobandes von Nicolas Bouvier, in dem dessen Gedichte mit unveröffentlichten Reisebildern kombiniert werden (Bouvier 2001). Somit verweist der weiße Sonnendampf auch auf die Vorgehensweise von Vaillancourt, der die Fotografie in seinen Text integriert, und betont die Literarizität des Romans gegenüber der Referenzialität des Ausdrucks. 173 „Il y avait un je ne sais quoi dans l’air, une chaleur douce et enveloppante qui donnait à tous une ardeur vibrante.“ (SO: 176f.)

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Roman auch zwischen dem Erzähluniversum von Primär- und Sekundärtext ein. Dies ist beispielsweise bei der Aufnahme von Bildern aus Le désert des Tartares der Fall. So wird das Motiv des Schließens eines schweren Tores, das einen Endpunkt im Leben markiert, nach dem es kein Zurück mehr gibt, in beiden Romanen eingesetzt. In einer Prolepse kündigt der Erzähler im Prätext diese Gefahr an: A un certain moment, un lourd portail se ferme derrière nous, il se ferme et est verrouillé avec la rapidité de l’éclair, et l’on n’a pas le temps de revenir en arrière. Mais, à ce moment-là, Giovanni Drogo dormait ignorant, et dans son sommeil, il souriait, comme le font les enfants. (DT: 56)

Konsequenterweise schlägt mit lautem Knall eine Tür wie ein Tor des Lebens zu, als Drogo I noch auf dem Fort vom Angriff der Tartaren erfährt und ein Stoßgebet zum Himmel schickt, in dem er darum bittet, trotz seiner Krankheit dem Gefecht gewachsen zu sein. Symbolisch fällt die Tür ins Schloss „comme une réponse à la prière de Drogo“ (DT: 245), öffnet sich daraufhin mit einem Windstoß wieder, um anschließend noch einmal zuzuknallen. Drogo schickt sich an, die der Zugluft ausgelieferte Tür endgültig zu schließen, als die Ordonnanz kommt. Die intratextuelle Referenz im Prätext verdeutlicht symbolisch Drogos Entschlossenheit, am Kampf teilzunehmen und so seinem langen Warten einen Sinn zu geben, doch ist es zuletzt er selbst, der die Tür zu machen will, was an dieser Stelle wie ein Verweis auf die eigene Schuld am Verlauf seines Lebens erscheint. Drogo II ist die Vergänglichkeit durchaus bewusst, denn er gebraucht selbst das Bild des zufallenden Tores, „au-delà duquel il n’y a plus que morne répétition“ (SO: 29). Als rückblickender, homodiegetischer Erzähler durchschaut er die Bilder des auktorialen Erzählers der Originalversion, kann sie für sich selbst vereinnahmen und kommentiert und reflektiert somit seine eigene Geschichte, dies jedoch in abgewandelter Form. In Buzzatis Roman markiert das Zuknallen den Augenblick, an dem sich die Figur der Vergänglichkeit des Lebens bewusst wird, verkörpert also den Moment, an dem man versteht „que le temps passe et qu’il faudra bien qu’un jour la route prenne fin“ (DT: 56). Für Drogo II stellt die zufallende Tür hingegen den Moment dar, ab dem das Leben sich nur noch durch trostlose Wiederholung auszeichnet. In der Rückspiegelung auf die erste Fiktionsebene deutet die Abwandlung des Bildes der zufallenden Tür auf die unterschiedlichen Figurendomänen sowie Kontexte hin. Während die Wunschwelt von Drogo I ihre Verwirklichung mit einer Heldentat gefunden hätte, die durch seine Krankheit und Altersschwäche

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zunichte gemacht wird, strebt Vital ein abwechslungsreiches und erfüllendes Leben an, dessen Gegenentwurf nicht der Tod, sondern die sich immer gleichende Alltagsroutine des Junggesellen darstellt. Doch nicht nur mit der originären fiktionalen Welt wird gespielt. Brüche tauchen auch innerhalb der fiktionalen Welt von Drogo II auf. Dieser ist sich seines Schicksals nicht nur bewusst, sondern er kann in einem zweiten Schritt das eigentlich bereits Geschehene sogar noch einmal durchleben. Dies ist der veränderten Konfiguration des eingeschobenen Erzählens174 geschuldet. In einer E-Mail an Gitane beschreibt Drogo II, dass ihr Brief, den er vor einigen Wochen erhalten habe, sein Leben verändert habe und er den Dienst quittiert habe, um an die Riviera zu reisen (vgl. SO: 109). Dort berichtet er davon, das Fotografieren zu erlernen (vgl. ebd.: 113). An dieser Stelle entsteht ein klarer Widerspruch zu seiner vorherigen Behauptung in der Herberge, – in der er laut Prätext sterben wird –, die Fotografie gerade erst entdeckt zu haben (vgl. ebd.: 28). Im Gegensatz zu Drogo I, der am Ende stirbt, ohne seine Heldentat vollbracht zu haben, bleibt das Ende von Vitals Drogo demnach unklar, da die EMails, welche die TAW der zweiten Fiktionsebene erschaffen, Widersprüche aufweisen. Vitals Version rückt somit das Ende Drogos in den Hintergrund. Im Vordergrund steht die Ungewissheit des Schicksals, die durch den Splitter der ausgetrockneten Opalquelle symbolisiert wird, den Drogo II aufliest, „un talisman incertain pour une chevauchée indécise“ (ebd.: 180). Während Buzzatis linear strukturierter Roman eine Steigerung in zeitlicher Form vorweist, da das Erzähltempo bis zum langsamer erzählten Ende des Romans immer schneller wird und somit Drogos Passivität und Ausgeliefertsein widerspiegelt, besteht die Steigerung in Vaillancourts récriture darin, dass Drogo II, der zunächst seine Geschichte erzählt und im Laufe der Erzählung auch verstärkt kommentiert, sich später sogar von ihr emanzipiert. Im Gegensatz zu Drogo I, der wie von einer Art Krankheit befallen immer weiter passiv auf einen Angriff der Tartaren hofft, kann sich Vitals Drogo von den Determinismen des Lebens lösen. Symbolisiert wird dies durch die Überschreitung der Fiktionsgrenzen, die den Lebensrahmen des être de papier Drogo II theoretisch einschränken. Insgesamt scheint die allmähliche Emanzipation vom Originaltext in Vitals Briefen einer positiven Entwicklung in seinem Leben auf der ersten Fiktionsebene zu entsprechen, da er durch die Fotografie eine Möglichkeit findet, seinen Alltag zu verschönern. Vital deckt mit Hilfe seines Doubles somit Lösungsansätze auf und

174 Siehe zur „narration […] intercalée“ (Genette 1972: 229f., Hervorhebung im Original).

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vermittelt, dass Beschäftigungen wie die Fotografie die Welt wieder verzaubern können, führen sie doch zu einem „réenchantement du monde“ (SO: 80). Vital liest Buzzatis Roman als eine Parabel auf die vergehende Zeit und den Verlust von Illusionen, da für ihn die Tartaren, auf die Drogo wartet, dem Tod entsprechen.175 Le désert des Tartares zeige eine sich entzaubernde Welt, „un monde qui se désenchante. Les voiles tombent un à un et laissent voir le néant“ (SO: 45). In seiner Aktualisierung des Prätextes gelingt es ihm also, die Schleier, die in Buzzatis Roman einer nach dem anderen abfallen, in gewisser Weise wieder aufzuhängen und die Welt neu zu verzaubern. Bei der Verquickung des Prätextes mit seinem eigenen Leben in den E-Mails aus der Sicht von Drogo II unterscheidet Vital Elemente, die in Form einer Expansion noch zu Buzzatis Welt passen wie das Schachspiel, das sich immer noch „dans le droit fil de l’esprit du roman“ (ebd.: 141) befinde, und solchen, die den Rahmen sprengten wie die Liebesaffäre Drogos mit Gitane, die Vitals Exfreundin, Daniela, nachempfunden ist. Die fiktive autobiografische Komponente gewinnt überhand, als in einem Moment der großen Verzweiflung Vitals eine explizite Ebenenvermischung die Grenze zwischen Fiktion und Fiktion in der Fiktion auflöst. So bedauert er auf der zweiten Fiktionsebene den Verlust Angustinas, Gitanes und Laurents (vgl. ebd.: 97), wobei Angustina eine Figur aus Buzzatis Roman ist, Gitane eine Expansion in Vitals récriture des Romans und Laurent als ein Freund Vitals der ersten Fiktionsebene zuzuordnen ist. Diese Ebenensprünge und die intertextuellen Bezüge, die Drogo II gleichsam zwischen Person, Double und Papierwesen oszillieren lassen, machen Vaillancourts Roman zu einem über sich hinausweisenden Text, der in einer allegorischen Lesart die Grenzüberschreitung verkörpert, die er durchführt. Die Rekonstruktion im Dialog mit Buzzatis Roman in den E-Mails der zweiten Fiktionsebene gestaltet sich als Auseinandersetzung mit sich selbst und letztendlich als Befreiungsbewegung. Diese materialisiert sich auf der zweiten Fiktionsebene von La source opale, die das Zusammenprallen fiktionaler Welten (Buzzatis Erzähluniversum und Vitals Lektüre dieses) an sich verkörpert, und die Beziehungen zwischen den Erzähluniversen reflektiert und bloßlegt. Dabei treten Widersprüche und Brüche auf, die dafür stehen, dass der Rekonstituierungsprozess im récriture-Roman zu einem dynamischen Kreationsprozess wird, der Interpretationsräume offen lässt. Die fiktionale Welt wird als ein Identifikationsangebot dargestellt, welches das Durchspielen von Möglichkeiten erlaubt. 175 „[J]‘ai toujours pensé que si le Désert des Tartares décrit un monde désenchanté, il doit l’être jusqu’au bout. On ne peut pas réintroduire un peu de magie comme ça juste à la fin.“ (SO: 45)

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Vaillancourts Roman scheint somit Wellershoffs Verständnis der Literatur als „ein der Lebenspraxis beigeordneter Simulationsraum“ (Wellershoff 1969: 22) in die Tat umzusetzen und zu reflektieren. Dies geschieht jedoch auf Kosten des Prätextes, der seinen Status als in sich geschlossenes Originalwerk einbüßt, wird ihm doch eine divergierende Version gegenübergestellt. Die Bewegung der Usurpation wird im Text zweiten Grades problematisiert, indem Vital explizit die Abweichungen seiner récriture von Buzzatis Original bedauert (vgl. SO: 117). Im Gespräch mit Carlos, in dem die Vital und sein Freund letztlich über das Konzept eines Plots diskutieren, erklärt sich seine Motivation. Während Carlos die Meinung vertritt, dass die Neuverarbeitung der Geschichte „conforme au personnage“ (ebd.) gestaltet sein müsse, also gemäß der Figur Drogo, wie sie Buzzati geschaffen hat, stellt Vital den Sinn einer Imitation in Frage. Im Gegensatz zu seinem Freund interpretiert er den Roman als Fülle unverwirklichter Möglichkeiten, die aktualisiert werden können. Sein Plotmodell umfasst somit sowohl virtuelle als auch aktualisierte Ereignisse, während Carlos ausschließlich die verwirklichte Ereigniskette als Elemente der vom Leser rekonstruierten Geschichte gelten lässt. Konsequenterweise argumentiert Vital, dass sich Drogo während der Ballszene gegenüber dem Freund seines Vaters hätte entschuldigen können, um rechtzeitig zu seiner unbekannten Tanzpartnerin zurückzugelangen (vgl. ebd.: 116). Diese nicht realisierten Möglichkeiten bezeichnet er als „chemins de traverses“ (ebd.), also als Querfeldein- oder direkte Verbindungswege, mit denen Buzzati den Lebensweg Drogos versehe, die Drogo aber nicht nehme und stattdessen auf der „Hauptstraße“ verbleibe. Die Liebesgeschichte von Drogo II sowie der Ausflug an die Riviera in der zweiten Fiktionsebene von Vaillancourts Roman stellen somit keine reinen Expansionen dar, sondern die Aktualisierung einer im originären Erzähluniversum zwar angelegten, aber nicht verwirklichten Möglichkeit, die beide zwangsläufig mit einem Displacement einhergehen. Trotz seiner Argumentation für die Offenheit des Erzähluniversums hat Vital Bedenken, hatte er sich doch zu Beginn des Internet-Rollenspiels vorgenommen, der Ereigniskette aus dem Prätext zu folgen (ebd.: 115). Der hier angedeutete Respekt gegenüber dem nachbildenden Ansatz in der literarischen Rekonstruktion findet sich auch in Vitals Umgang mit einem anderen Medium wieder. Auch im Bereich der Fotografie sieht er das authentische Einfangen der Wirklichkeit als Ideal an. So empfindet er Unbehagen gegenüber der Digitalfotografie, da er hier manipulatorisch vorgehen müsse: „Le procédé. Il me déprime…“ (Ebd.: 148) Dennoch gelingt es ihm, anhand eines digital bearbeiteten Fotos eines menschengroßen Schachspiels im Burghof die Situation auf Bastiani zu verbildli-

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chen, die er schon im zweiten Brief als „une partie d’échecs jouée chaque jour“ (SO: 28) charakterisiert hatte. Der intertextuelle Verweis auf Borges’ SchachGedicht, das Gilles anspricht, weist in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Ausweglosigkeit des Schicksals von Drogo I hin, der wie eine Schachfigur von größeren Mächten bewegt werde: „Dieu meut le joueur, et le joueur la pièce/ Quel dieu derrière dieu, commence cette trame / De poussière et de temps, de rêves et de larmes?“ (SO: 157)176 Die Ekphrase der Digitalfotografie, in der die lähmende Stimmung Bastianis eingefangen wird, spiegelt textintern gleichzeitig das Vorgehen des récriture-Romans von Vaillancourt. Vital empfindet zwar in Bezug auf die nachträgliche Verarbeitung des Fotos Unbehagen, doch gelingt es ihm anhand dieses Prozesses, die Eintönigkeit Bastianis zu entlarven, denn in seinem Foto ist die Idee des feindlichen Lagers nicht mehr spürbar (vgl. SO: 147). Insgesamt deckt Vaillancourts hochgradig autoreflexiver Text auf subtile Weise seine eigenen sowie die Funktionsmechanismen seines Prätextes auf. In diesem Fall wird der ausweglosen Situation von Drogo I das kreative Potenzial des Lektüreprozesses entgegengesetzt, das hier durch das produktive Zusammenwirken von fiktionalen Welten freigesetzt wird. Vaillancourts Roman erlaubt einen wahrhaftigen Dialog der Texte, denn sein Roman ist gleichzeitig Roman und Meta-Roman. Abschließend sei die eingangs angedeutete autobiografische Komponente des Romans erwähnt. La source opale ist nicht nur der Titel eines Romans von Yves Vaillancourt, sondern zudem eine Fotografie aus dessen Serie „Symbiose et Séparation“177. Dieser realweltliche Bezug auf Vaillancourts Tätigkeit als Fotograf findet sich auch im Fotoprojekt der drei Freunde Vital, Carlos und Laurent, das den Titel Mysterium Fenestrae trägt. Dieses Motiv erläutert Vaillancourt in einem Aufsatz auf seiner Internetseite mit dem Titel „La Fenêtre mystérieuse“ (1999) als mittelalterliches Symbol für die „métamorphose de soi“, die sich als Metamorphose oder Konversion des Blickes äußere (vgl. Vaillancourt 1999): „En tant que photographe notamment, j’ai été attiré par une telle représentation de cet insaisissable que nous aimerions voir et fixer prétentieusement sur la pellicule.“ (Ebd.) Darin liege die größte Herausforderung eines Fotografen, den er als Licht-Schreiber bezeichnet, als „quelqu’un écrivant la lumière“ 176 Im Text der Pléiade-Gesamtausgabe von Borges’ Werk lauten die letzten Verse des Gedichts leicht abweichend folgendermaßen: „Dieu pousse le joueur, et le joueur la pièce / Quel dieu, derrière Dieu, débute cette trame / De poussière et de temps, de rêve et d’agonie.“ (Borges 1999: 32) 177 Vgl. http://www.yvesvaillancourt.com/ vom 12.02.2010.

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(ebd.). Mit denselben Worten beschreibt sein Protagonist Vital die Aufgabe ihres Fotoprojekts: Nous devons accéder à l’être intime des choses, trouver ce qui se cache dans l’ombre. Pour un photographe, quelqu’un censé ‚écrire la lumière‘, cela représente certes le plus difficile des défis. (SO: 19)

Damit wird an dieser Stelle ein Diskurs der Kunstkritik in die fiktionale Welt integriert, welche die Grenzüberschreitung zwischen Literatur und Kritik, die der (Meta-)Roman La source opale an sich verkörpert, auch in Bezug auf das Medium Fotografie einführt. 4.3.2 Quenamican oder Nerval in Mexiko: Das Spiel mit der fiktionalen Alternative Während der intradiegetische Schriftsteller in Yves Vaillancourts Roman La source opale sich den Prätext nur mit Bedenken aneignet, finden sich derartige Reflexionen im folgenden Analysebeispiel nicht. Dennoch handelt es sich bei Roger Maginis 2005 erschienem Roman Quenamican um einen stark selbstbetrachtenden Text, der seine eigene und die Vorgehensweise des Prätextes reflektiert. Quenamican stellt darüber hinaus im Vergleich zu den bisher untersuchten Werken dahingehend eine Besonderheit dar, dass der Autor keinen rein fiktionalen Text wieder aufnimmt. Indem der Text sich Gérard de Nervals Voyage en Orient zur Folie nimmt, setzt er sich mit einem autobiografischen Reisebericht auseinander. Im Fokus der Appropriation steht daher neben dem Erzähluniversum auch die Person des Schriftstellers Gérard de Nerval beziehungsweise seine literarische Entsprechung, die Erzählerinstanz des als Autobiografie konstruierten Erzähluniversums von Voyage en Orient.178 Die Schwellenstellung zwischen Autobiografie und Reiseliteratur nimmt Magini zum Ausgangspunkt seiner récriture, welche die Dichotomie von fiktionaler und faktualer Erzählliteratur auf sehr kreative Weise hinterfragt, indem er ein logisch nicht auflösbares Zusammenspiel verschiedener Fiktionsebenen konstruiert.

178 Im Folgenden wird der besseren Übersichtlichkeit halber bei Gegenüberstellungen der reale Schriftsteller als „(Gérard de) Nerval I“ und seine literarische Entsprechung in Voyage en Orient als „(Gérard de) Nerval II“ bezeichnet.

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Entstehungskontext von Voyage en Orient: Nervals Ausbruch aus der Krise Nachdem große Teile von Nervals Voyage en Orient bereits in der prestigeträchtigen Revue des Deux Mondes und anderweitig veröffentlicht wurden,179 registriert die Bibliographie de France die endgültige Ausgabe am 14. Juni 1851 bei Gervais Charpentier. Somit wird die Buchausausgabe erst sieben Jahre nach der Rückkehr Nervals aus dem Nahen Osten veröffentlicht. Die Kritik ist sich darüber einig, dass Gérard de Nerval seine Reise in den Orient unternahm, um nach der Krise vom Februar 1841, die zu Aufenthalten in psychiatrischen Anstalten führte, einerseits einen Bruch mit der Pariser Gesellschaft durchzuführen, der eine Befreiung von den Auslösern seiner Krankheit bewirken sollte. Andererseits erhoffte er sich, seine Reiseeindrücke auf so gelungene Weise zu Papier bringen zu können, dass Zweifel an seinen kreativen Fähigkeiten, die seit der Krankheit im Pariser Literaturbetrieb verbreitet wurden, ein für alle Mal ausgeräumt würden.180 Die Orientreise sollte ein unwiderlegbarer Beweis für seine wiedererlangte mentale und körperliche Gesundheit werden (vgl. zum Beispiel Brix 1997: 9, Cogez 2008: 71ff.). Um seiner schriftstellerischen Karriere wieder Auftrieb zu geben, schreibt sich Nerval in eine literarische Tradition ein, wandelt er doch im Orient auf den Spuren Chateaubriands und Lamartines. Seine Voyage en Orient ist jedoch keinesfalls eine Imitation von Vorbildern, sondern setzt eigene Akzente, indem er ausdrücklich eine andere Route wählt (vgl. Hubner-Bayle 2001: 72). Im Gegensatz zu seinen Vorgängern sucht Gérard de Nerval darüber hinaus nicht das Fremde oder Exotische, sondern eine Art imaginäre Heimat, die noch über das Mythische und Heilige verfügt, welches in seinem Heimatland nicht mehr gewürdigt werde (vgl. Lemaitre 1958: XIX). Neben der landeskundlichen Erforschung des zeitgenössischen Orients nimmt daher die Suche nach der mythologischen Vergangenheit immer mehr Raum ein: „[I]l abandonne le pittoresque et le présent pour un autre voyage dans le voyage, le voyage du rêve et de l’initiation, la seule authentique expérience.“ (Lemaitre 1958: XIX, Hervorhebung im Original) Das Oszillieren zwischen den handfesten Erfahrungen in der fremden Gesellschaft und dem Erleben der Geheimnisse und Mysterien des Orients spiegelt sich auch in der

179 Eine Auflistung der Zeitschriften findet sich bei Cogez (2008: 28f.). 180 Nervals Zusammenbruch wurde in literarischern Abgesängen auf Nerval durch Jules Janin (1. März 1842) und andere als Ende seiner schriftstellerischen Karriere gewertet, die Publikationen auch nach der Rekonvaleszenz fast unmöglich machten (vgl. Brix 1997: 25 f.).

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schriftlichen Ausarbeitung der Reise in Voyage en Orient wider, die alles andere als einen Tatsachenbericht darstellt. Voyage en Orient als voyage imaginaire Voyage en Orient fusioniert zwei unabhängige Reisen Nervals. So wird die Wienreise als erste Station auf dem Weg in den Nahen Osten dargestellt, obwohl sie schon im Winter 1839/40, also vor der Krise und den Krankenhausaufenthalten Nervals in Paris, stattgefunden hatte. Die somit auf Ende 1842 beziehungsweise Anfang 1843 datierte Reise „Vers l’Orient“ fungiert als Einleitung und erzählt, wie Nerval II von Paris nach Wien aufbricht (vgl. VO: Kap. I bis VI) und sich anschließend in der Hauptstadt aufhält (vgl. ebd.: Kap. VI bis X). In Wien schwärmt er von einer „atmosphère de beauté, de grâce, d’amour“ (ebd.: 44), die ihn umgäbe und wünschen lässt, den gesamten Winter dort zu verbringen (vgl. ebd.: 70). Als Grund für seinen Aufbruch aus dem traumhaften Wien führt er eine mysteriöse Katastrophe an (vgl. ebd.: 69), die ihn zwinge, Abstand zu gewinnen.181 Die Einleitung schließt daraufhin mit seiner Abfahrt nach Ägypten über die griechischen Inseln (vgl. ebd.: Kap. XI bis XXI). Das Unglück, das der Erzähler als Auslöser für seine überstürzte Abreise nach Osten angibt, aber nicht näher erläutert, kann nach Michel Brix mit der Krise Nervals I von 1841 in Verbindung gebracht werden: Des circonstances analogues se trouvent […] avoir déterminé le voyage réel et le voyage imaginaire: tous deux tirent leur signification d’une rupture qui relègue l’écrivain, ou son personnage, au ban de la société et le condamne à l’errance. (Brix 1997: 38)

Die anschließenden Teile basieren auf der tatsächlich im Laufe des Jahres 1843 durchgeführten Orientreise von Nerval I, die in Voyage en Orient in drei Teile gegliedert ist. Nachgestellt sind dem Reisebericht zwei Appendices, die in der zweibändigen Originalausgabe von 1851 jeweils einen Band beschlossen. Die drei Teile sind geographisch systematisiert und beschreiben zunächst unter dem Titel „Les Femmes du Caire“ den Aufenhalt von Nerval II in Kairo sowie seine Überfahrt nach Beirut. Die Zeit im Libanon ist mit „Druses et Maronites“ überschrieben und der Besuch von Konstantinopel mit „Les nuit du Ramazan“ betitelt. Der erste Teil des Anhangs ist landeskundlich gestaltet und befasst sich mit den „Mœurs des Égyptiens modernes“, wobei die Beschreibung von Sitten und Gebräuchen auf den Ausführungen von William Lane basiert, die Nerval laut 181 Dies fasst er folgendermaßen in Worte: „Il faut que j’aie mis l’étendue des mers entre moi et… un doux et triste souvenir.“ (VO: 70)

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Henri Lemaitre in der französischen Übersetzung von Eugène de Stadler las (vgl. VO: 701) und weitgehend übernahm. Der zweite, nicht betitelte Teil des Anhangs ist vielgestaltiger aufgebaut und enthält unter anderem Ausführungen zur orientalischen Kunst und Ergänzungen zur Religion der Drusen sowie einen Hinweis auf die Situation der in Kairo erstandenen Sklavin Zeynab, welche inzwischen glücklich verheiratet sei (vgl. VO: 767). Brix ist zuzustimmen, dass Nerval durch die Erwähnung des glücklichen Ausgangs der Episode um die Sklavin seine Leser beruhigen möchte, sich jedoch durchaus bewusst ist, dass er unter Anwendung der westlichen Werte Zeynab mehr geschadet als genutzt hat (vgl. Brix 1997: 47). Die Geschichte Zeynabs, die Nerval II von Kairo aus begleitet und somit auch im zweiten Teil, „Druses et Maronites“, Erwähnung findet, bis er sie im Pensionat der Französin Mme Carlès unterbringt, zeigt auf mustergültige Weise den Konflikt zwischen westlichen und östlichen Wertesystemen auf, den Gérard de Nerval II wiederholt anspricht. Der Kauf der Sklavin ist für den Schriftsteller nicht nur eine monetäre Belastung, die zum Verzicht auf eine Reise ins gelobte Land führt, sondern stellt ihn vor allem vor eine moralische Verantwortung (vgl. VO: 379). Daher erweist sich die Organisation seiner Abreise aus Kairo auch komplizierter als erwartet. Eine Entlassung in die Freiheit, die der Franzose als höchstes Gut ansieht, ist für Zeynab, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen kann und will, gleichbedeutend mit einem Abstieg ins Elend, wie sie ihm in einem Streitgespräch zu verstehen gibt: ‚Ma pauvre enfant, dis-je à l’esclave en lui faisant expliquer la situation, si tu veux rester au Caire, tu es libre.‘ Je m’attendais à une explosion de reconnaissance. ‚Libre! dit-elle, et que voulez-vous que je fasse? Libre! mais où irais-je? Revendez-moi plutôt à Abd-el-Kérim!‘ […] Voilà un singulier pays où les esclaves ne veulent pas de la liberté! Je sentais bien, du reste, qu’elle avait raison […]. Lui donner la liberté, c’était la vouer à la condition la plus triste, peut-être à l’opprobre, et je me reconnaissais moralement responsable de sa destinée. (VO: 237)

Die an dieser Episode veranschaulichte Relativität anscheinend universeller Werte ist ein Leitmotiv in Voyage en Orient und lässt sich mit der Entstehungsgeschichte des Textes erläutern. Anhand verschiedener Beispiele entfaltet sich eine argumentative Struktur, die letztendlich darauf abzielt, die in Europa vorherrschende Dichotomie zwischen Vernunft und Wahnsinn auszuhebeln (vgl. Brix 1997: 43). Brix weist besonders darauf hin, dass Nerval zahlreiche Nor-

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menunterschiede zwischen Ost und West bemüht, um den Orient als eine Antithese zu Europa zu konstruieren und die Abhängigkeit normativer Regelungen von kulturellen Gegebenheiten aufzuzeigen (vgl. ebd. 40). Die Tatsache, dass die Rituale der Derwische für Europäer unerklärlich und wahnsinnig erscheinen, während sie im Orient als heilig gelten, lässt sich beispielsweise als versteckte Kritik am Allgemeingültigkeitsanspruch der Werteordnung der französischen Gesellschaft lesen, die ihn zum Verrückten abgestempelt hat. Hier ist zudem ein fiktives Moment anzumerken, denn in einem Brief an Théophile de Gautier schreibt Nerval I, dass nicht er Zeynab kaufte, sondern sein Reisebegleiter, Joseph de Fonfride (vgl. Nerval 1989: 1396), dessen Anwesenheit er in Voyage en Orient komplett unterschlägt. Dennoch erhebt Nerval in Voyage en Orient den Anspruch auf Faktualität, wenn er im zweiten Anhang behauptet: Les lettres et les souvenirs de voyage, réunis dans ces deux volumes, étant de simples récits d’aventures réelles, ne peuvent offrir cette régularité d’action, ce nœud et ce dénouement que comporterait la forme romanesque. Le vrai est ce qu’il peut. (VO: 767)

Insgesamt ist hinsichtlich des Realitätsbezugs in Voyage en Orient jedoch keine durchgängige Faktualität feststellbar. Trotzdem ist Voyage en Orient auch keine rein imaginäre Reise (vgl. Brix 1997: 38), denn der Text lässt nicht immer eine klare Trennung zwischen tatsächlich vorgefallenen und erfundenen Ereignissen zu und löst damit die Grenze zwischen fiktionalem und auf Tatsachen beruhendem Erzähltext auf. Cogez (2008: 11) differenziert zwischen Passagen des Werks, die tatsächlich in etwa so stattgefunden haben, wie Nerval sie erzählt, solchen, die er von Gesprächspartner übernommen hat, und solchen, die er frei erfunden hat. Bei ersteren, den autobiografischen Elementen, fallen Autor und erlebendes Ich, also Nerval I und II, zusammen, eine Differenz kann sich jedoch durch die zeitliche Rückschau des erzählenden Ichs ergeben. Die Passagen, die von Ereignissen berichten, die Nerval I nicht selbst erlebt hat, in denen somit Erzähler und Autor nicht identisch sind, können erfunden sein oder auch den Anspruch einer faktualen Erzählung haben, wenn der Erzähler Erfahrungen anderer Reisender wiedergibt. Daneben sind Passagen zu nennen, die mit Hilfe intradiegetischer Erzähler wiedergegeben werden wie beispielsweise Solimans Geschichte, „Histoire de la reine du matin et de Soliman, prince des génies“, die von einem conteur in mehreren Sitzungen präsentiert wird (vgl. VO: 565-676). Voyage en Orient versucht keinesfalls, eine wahrheitsgetreue Widerspiegelung der Reise zu sein, die der Autor durchgeführt hat, sondern gibt ihr in ihrer

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literarischen Rekonstitution eine andere Form, „cela veut dire qu’il [Nerval I, MK] a ensuite organisé, composé, monté, découpé, en somme écrit, sa narration“ (Cogez 2008: 11). Das Schreiben, also die „rückwirkende ‚Neugestaltung‘ der Wirklichkeit“ (Scheffel 2007: 156) beziehungsweise der Reise, geht Nerval I erst nach seiner Rückkehr nach Paris an. Kohärenz stiftendes Element ist dabei der Ich-Erzähler (vgl. Hubner-Bayle 2001: 73), Gérard de Nerval II. Voyage en Orient ist dahingehend mit Brix als voyage imaginaire zu bezeichnen, dass es ein zumindest teilweise fiktionaler Text ist, der eine Orientreise erschafft, die nicht unabhängig von Nervals Erzählung existiert, da sie in dieser Form nur durch den Erzählakt erschaffen ist. Cogez wendet das Bild der Reise auf das Schreiben von Voyage en Orient an, um diesen Zusammenhang zu erläutern: [L]orsqu’un voyage s’achève (celui d’un individu se deplaçant dans l’espace et vivant une expérience plus ou moins longue, faite de lieux, de paysages, de personnages), un autre commence, tout aussi réel que l’autre – et peut-être davantage –, et qui consiste à mettre en mots cette expérience. (Cogez 2008: 26)

Auch wenn der kreative Schreibprozess somit die Reise neu konstruiert, verfasst Nerval I keine offen fiktionalisierte Reise: „[M]ême les promenades fictives sur les îles grecques revêtent un aspect réaliste“ (Mizuno 2003: 17). Diese realistische Erzählweise, das heißt die geringe Distanz zwischen TAW und realer Referenzwelt, führt auch dazu, dass die Trennung zwischen fiktiven und real existierenden Elementen beim Rezeptionsprozess nicht eindeutig durchzuführen ist. Eine Ausnahme bilden die bereits erwähnten fiktionalen Binnenerzählungen. So oszilliert Voyage en Orient zwischen zwei möglichen Lesarten. Zum einen beinhaltet der Text die Erzählung der Figur Gérard de Nerval II, die der Schriftsteller vom Modell der tatsächlich durchgeführten Reise befreit, und die somit einige fiktive Komponenten beinhaltet. Andererseits präsentiert der Bericht auch die Ereignisse, die Gérard de Nerval I tatsächlich erlebt hat, sowie reale Gedanken und Wünsche von Nerval I, die jedoch nicht immer in die Tat umgesetzt wurden (vgl. Cogez 2008: 32f.): „Il oscille entre la relation ‚naïve‘ d’événements, assez minces, du voyage et les fables qui viennent l’enrichir et qui ouvrent directement sur le rêve.“ (Hubner-Bayle 2001: 77) Genau diese – am Text oft nicht eindeutig überprüfbare – Diskrepanz greift Maginis récriture-Roman Quenamican auf, hinterfragt spielerisch das Verhältnis narrativer Texte zur Realität und reflektiert über ein komplexes Zusammenspiel von Erzähluniversen die Welten erschaffende Funktion des Erzählens.

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Quenamican: Nerval in Mexiko In Voyage en Orient entfaltet sich das Erzähluniversum durch eine intern fokalisierende Erzählinstanz, die sich als auto- beziehungsweise homodiegetischer Erzähler an einen Adressaten wendet. Dieser wird im Untertitel der Einleitung in Form der Widmung „À un ami“ genannt und im Laufe des Textes mehrmals angesprochen (vgl. zum Beispiel VO: 102, 375, 696).182 Genau diese Erzähltechnik nimmt Maginis Quenamican (2005) auf, bettet sie jedoch als Binnenerzählung in eine Rahmenhandlung, das heißt als F-Universum in die TAW ein. Die beiden Fiktionsebenen werden dabei kapitelweise abwechselnd entrollt. Die erste Fiktionsebene, die wiederum aus Sicht eines intern fokalisierenden, männlichen Ich-Erzählers verfasst ist, erzählt die Geschichte eines französischen Paares im Jahr 2001.183 Kurz vor der Abreise seiner Freundin, Marguerite, die eine sechsmonatige Foto-Reise auf den Spuren von Claude-Joseph-Désiré Charnay nach Mexiko geplant hat, brennt die Pariser Wohnung eines Schriftstellers mitsamt dem Manuskript, an dem er gerade arbeitete, aus. Trotzdem reist Marguerite wie geplant ab und Schriftsteller kommt bei einem befreundeten Lehrerpaar, Le Tchèque und Agustina, im südfranzösischen Narbonne unter. Dort verbringt er den Großteil seiner Zeit mit Lesen. Neben der Lektüre von Voyage en Orient von Gérard de Nerval Ia184, dem einzigen Buch, das er für würdig erachtete, aus dem Hausbrand gerettet zu werden, widmet er sich vor allem den Werken zeitgenössischer lateinamerikanischer und französischer Autoren und wartet auf Nachrichten von Marguerite. Parallel dazu bereitet sich in einer zweiten Fiktionsebene der Schriftsteller Gérard (de Nerval IIa) im Dezember 1842 auf eine Reise nach Mexiko vor. 182 Lemaitre gibt an, dass die Widmung in der vorherigen Publikation in La Silhouette „à Timothée O’Neddy“ (VO: 801) lautet, wobei der angegebene Name eine Modifikation von Théophile Dondey sei, eines Verwandten des Herausgebers von Nervals Faust-Übersetzung (vgl. VO: 3). 183 Die zeitliche Situierung lässt sich daran festmachen, dass die Figuren in Zeitungen über den Einmarsch der Zapatisten in Mexiko Stadt informiert werden und diesen kommentieren (vgl. QU: 102ff.). 184 In Maginis Roman werden wiederum zwei Entsprechungen Gérard de Nervals konstruiert, die zur besseren Übersicht im Folgenden von den ersten beiden unterschieden werden: Gérard de Nerval Ia ist in der TAW von Quenamican der Autor der Voyage en Orient und dem realweltlichen Gérard de Nerval I nachempfunden. Gérard de Nerval IIa ist der Protagonist und Erzähler der zweiten Fiktionsebene von Maginis Roman und basiert auf dem autodiegetischen Erzähler der Voyage en Orient, Gérard de Nerval II.

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Auch diese Fiktionsebene ist in der Ich-Perspektive verfasst, unterscheidet sich jedoch von der ersten durch die Ansprache eines anonymen Freundes, „mon Ami“ (zum Beispiel QU: 71, 107, 135), die der Widmung in Voyage en Orient entspricht. Um seinen Geldgebern gerecht zu werden, schreibt Nerval IIa in dieser erzählten Welt mit Hilfe von Bibliotheksrecherchen seine Voyage en Orient, so dass er anschließend heimlich eben nicht in den Orient, sondern nach Mexiko reisen kann. Daraufhin berichtet er in den einzelnen Kapiteln in reichhaltigen Beschreibungen über seinen Aufenthalt in Mexiko, den er wie eine Reise zu sich selbst empfindet. Auf der ersten Fiktionsebene kehrt Marguerite nach sechs Monaten aus Mexiko zurück und fragt den Schriftsteller, ob er sein Buch noch einmal geschrieben habe, woraufhin dieser antwortet: „Je me le suis remémoré ligne par ligne, mais ce Nerval au Mexique, je ne le réécrirai plus.“ (Ebd.: 248) Die zweite Fiktionsebene scheint somit der Text zu sein, den sich der anonyme Schriftsteller in seiner Gänze während des Sommers ins Gedächtnis zurückgerufen hat. Offen bleibt, ob die zweite Fiktionsebene mit der Possible Worlds-Theory als F-Universum zu verstehen ist, also eine nicht in die fiktionsinterne Realität der ersten Ebene überführte und damit virtuelle Binnenerzählung bleibt, oder ob es sich um das Ausgangsmanuskript handelt, das dem Leser zugänglich gemacht wird. Insgesamt besteht bei der Lektüre von Quenamican ein performativer Widerspruch in der Aussage des textinternen anonymen Schriftststellers, denn die schriftliche Ausarbeitung des anscheinend vernichteten Buchprojektes zu Nerval in Mexiko im Roman ist – zumindest für den Leser – logisch nicht mit der Aussage des anonymen Schriftstellers zu vereinbaren, dass er es nicht noch einmal schreiben wolle. Indem Quenamican eine schriftliche Ausarbeitung einer explizit als virtuell präsentierten Erzählung präsentiert, widerlegt der Roman spielerisch die Weigerung einer seiner Erzählinstanzen, sein Manuskript noch einmal aufzuschreiben. Der somit metanarrative Tendenzen aufweisende Roman schließt mit einem Nachwort, in dem Magini auf die Quellen verweist, die er zur Beschreibung der Reise seines Nervals IIa nach Mexiko verwendet hat. Zusammenspiel der Erzähluniversen: Erzählerische Grenzüberschreitungen Magini setzt in der Erzählung beider Fiktionsebenen Strategien ein, die Nervals Voyage en Orient als fiktional, die auf der zweiten Fiktionsebene entworfene Version der Reise dagegen als real darzustellen versuchen, bevor die Verbindung zwischen den Fiktionsebenen und damit der fiktive Status des F-Universums innerhalb der TAW offengelegt wird.

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Die als „wahre“ Reise Nervals ausgegebene Mexiko-Fahrt auf der zweiten Fiktionsebene arbeitet dabei mit einer internen Fokalisierung und einem offenbar autodiegetischen Erzähler, der dem autobiografischen Pakt gerecht zu werden scheint. Anspielungen auf den zeitgenössischen Literaturbetrieb und nachweisbare biografische Ereignisse führen zu dem Eindruck, dass das erlebende Ich mit dem historischen Gérard Labrunie, also Nerval I, gleichzusetzen ist. Der Widerspruch hinsichtlich Nervals Reiseziel wird in dieser zweiten Fiktionsebene aufgelöst, indem die mit der Mexikoreise in Konflikt stehende Voyage en Orient von Nerval Ia explizit als fiktional bezeichnet wird. Das Zustandekommen des auch in der außersprachlichen Wirklichkeit existierenden Werkes wird darüber hinaus fiktionsintern logisch erklärt, so dass sich die auf der zweiten Fiktionsebene von Quenamican entfaltende Erzählung selbst als faktual positionieren kann. Als Auslöser für den Willen, eine große Reise zu unternehmen, fungiert dabei laut des Ich-Erzählers Nerval IIa ein Artikel Jules Janins über die Barcelonettes, die französischen Einwanderer in Mexiko im 19. Jahrhundert, im Journal des Débats (vgl. ebd.: 29, 216). Im Einzelnen macht die wiederholte, fast obsessive Rückkehr auf die Rückschläge im Jahr 1842, gepaart mit dem Hinweis auf seine erblich bedingte „humeur voyageuse“ (ebd.: 171), die auch in der Korrespondenz an seinen Vater auftaucht (Nerval 1989: 1387), die Entscheidung umso plausibler: J’ai alors décidé d’écrire un Voyage en Orient, dans la plus pure tradition littéraire, et parce que ces romans-voyages sont à la mode, à l’instar des prédécesseurs illustres que nous vénérons, Messieurs Chateaubriand et Lamartine, mais sans l’escorte de l’un ou le cortège de l’autre, et sans engloutir des sommes considérables qu’à l’évidence je ne possédais pas: j’ai fait mon Voyage dans les salles de la Bibliothèque Royale […]. (QU: 232, Hervorhebung im Original)

Der mehrdeutige letzte Satz des Zitats betont durch die Kursivsetzung des Begriffs ‚Voyage‘ den Konstruktcharakter des Reiseberichts und fungiert einerseits als Kommentar des Prätextes, andererseits aber auch als erstes Sich-SelbstBetrachten von Maginis Roman, dessen Vorgehensweise hier gespiegelt wird. Auch die realweltliche Existenz der Briefe, die Nerval I auf seiner Reise versandte, wird fiktionsintern von Maginis Gérard de Nerval IIa erklärt: [J]e travaillai sans relâche, tantôt à la Bibliothèque Royale, tantôt à l’Arsenal ou chez moi […]. J’écrivis donc, en quelques mois, ce qui composera le Voyage en Orient que je publierai à mon retour du Mexique, et dont je déposai les feuillets manuscrits dans une enve-

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loppe scellée, chez mon père à Chatou; je rédigeai même les lettres que je lui aurais envoyées à chacune de mes étapes de ce faux voyage, que Joseph de Fonfride lui expédierait à ma place185… Cela rassurerait tout le monde. (QU: 29, Hervorhebung im Original)

Als Authentizitätssignale fungieren auch die Erinnerungen der Erzählinstanz, die durch Ereignisse in Mexiko geweckt werden. Während Nerval IIa in Veracruz Milchkaffee trinkt und camote isst – der Genuss der Süßspeise wirkt hier wie Prousts Madeleine – erinnert er sich beispielsweise an seine Italienreise und seinen Brief an Renduel, in dem er diesem empfahl, „d’aller manger du macaroni à la Ville de Naples“ (ebd.: 82), da es im ansonsten schönen Italien keine Butter gäbe. Magini lässt hier seinen Erzähler Worte niederschreiben, die Nerval I im November 1834 tatsächlich in einem Brief an Renduel verwendete (vgl. Nerval 1989: 1293). Neben wörtlichen Zitaten aus seiner Korrespondenz führt auch eine Auflistung der Werke von Nerval I in der Bibliothek Don Ignacio Cumplidos, die explizit als Bücher aus der Feder des Protagonisten bezeichnet werden, dazu, dass der Leser den historischen mit dem auf der zweiten Fiktionsebene agierenden Gérard de Nerval, also Nerval I und Nerval IIa, gleichsetzen muss, das heißt dazu verleitet wird, den autobiografischen Pakt abzuschließen: [M]on étonnement pourtant n’en finit plus, lorsque je remarquai […] un exemplaire de la première édition de mon Faust, un tirage des Poésies allemandes, un autre de Léo Burckart, paru chez Desessart en 1839, ainsi qu’un exemplaire de Piquillo, avec Dumas et Monpou. (QU: 172, Hervorhebung im Original)

Andererseits birgt die Erinnerung an den Aufenthalt in Wien in Quenamican wiederum einen Hinweis auf die Fiktionalität von Voyage en Orient. Die Tatsache, dass der laut zweiter Fiktionsebene nie in den Orient gereiste Gérard de Nerval IIa sich dennoch an seinen Wien-Aufenthalt und die „beautés blondes dont on n’imagine pas les secrets ni les caprices intimes“ (QU: 195) erinnern kann, weist diese Erfahrung als unabhängig von der Orientreise aus und betont dadurch rückwirkend die fiktive Verknüpfung von Wien- und Orientreise im Primärtext. In ähnlicher Weise werden die Bodensee-Überquerung sowie die Reise nach München, die Nerval IIa evoziert (vgl. ebd.: 48), gebraucht, wobei

185 Dadurch wird einerseits die nachweislich existierende Korrespondenz von Nerval I während seiner Reise erklärt und als fiktional dargestellt, andererseits wird hier auch ein Vorwand für die Orientreise von Joseph de Fonfride geliefert, der Nerval I begleitet hatte.

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ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass diese Reisen einige Jahre früher stattfanden, somit also vor seiner Krise und vor der Orientreise anzusiedeln sind. Dass der Protagonist der Mexikoreise (Nerval IIa) auch mit demjenigen der Orientreise (Nerval II) gleichzusetzen ist, lässt sich anhand des übereinstimmenden Weltbildes festmachen, das den Reiseberichten zugrundeliegt und das sich besonders deutlich am Umgang mit Religion illustrieren lässt. Auch wenn Glaubensfragen in Voyage en Orient sehr viel zentraler diskutiert werden als in Quenamican, ist beiden Texten die religiöse Toleranz des Protagonisten und Erzählers gemeinsam. Die darüber hinaus sehr kritische Haltung Nervals in Voyage en Orient gegenüber dem Katholizismus hat Brix (1997: 51-65) herausgearbeitet. Die Katholizismuskritik Nervals II (und I) geht dabei einher mit dem Hinterfragen des alleinigen Wahrheitsanspruchs der Weltreligionen, die sich jeweils selbst als „message divin“, die anderen Glaubensrichtungen dagegen als häretisch bezeichnen (vgl. ebd. 55). Gleichzeitig hebt Nerval II gerade mit Bezug auf die Religion der Drusen Gemeinsamkeiten der Religionen hervor, die er außerdem als geographische Ausprägungen im Grunde ein- und desselben Glaubens interpretiert, und betont die unterschiedlichen Glaubenspraktiken einer Religion in verschiedenen Kulturkreisen,186 um religiöse Grenzen aufzuweichen. Die Reflexionen zur Religion kulminieren in der abschließenden Botschaft Nervals II (und I), die einen Aufruf zur Toleranz beinhaltet: Oui, je me suis senti païen en Grèce, musulman en Égypte, panthéiste au milieu des Druses et dévot sur les mers aux astres-dieux de la Chaldée; mais à Constantinople, j’ai compris la grandeur de cette tolérance universelle qu’exercent aujourd’hui les Turcs. (VO: 696)

Die Katholizismuskritik von Nervals Doppelgänger in Mexiko, Nerval IIa, zielt einerseits auf die Zementierung sozialer Unterschiede ab, die in Voyage en Orient vor allem der anglikanischen Kirche angelastet wird (vgl. ebd.: 328). Der Anblick der voneinander abgetrennten sozialen Schichten in der Kathedrale von Mexiko-Stadt erinnert Nerval IIa an ein Gefängnis und ruft heftige Reaktionen in ihm hervor: À la vision de ces miséreux agenouillés dans cette cathédrale de Mexico, je fus saisi par la tendresse, une sympathie sans bornes, mais aussi par une sainte colère mêlée de dégoût pour ce que m’avaient enseigné les Écritures. (QU: 199) 186 So wird beispielsweise der katholische Glaube in Paris als streng und einzwängend, derjenige in Wien als fröhlich und locker charakterisiert (vgl. dazu Brix 1997: 58).

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Nerval IIa gebraucht insgesamt eine sehr ähnliche Argumentationskette wie sein Alter Ego, Nerval II, um den Überlegenheitsanspruch der katholischen Kirche sowie die Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen zu hinterfragen (vgl. ebd.: 200), betont jedoch die Grausamkeiten, die im Namen der katholischen Kirche von den Europäern gerade in Mexiko verübt wurden (vgl. ebd.: 202).187 Um beim Rezipienten die Annahme entstehen zu lassen, dass Nerval tatsächlich in Mexiko gewesen sei, dass also das erzählende Ich der zweiten Fiktionsebene, Nerval IIa, mit Gérard de Nerval I beziehungsweise seinem literarischen Pendant in Voyage en Orient, Nerval II, gleichzusetzen ist, imitiert Magini auf der zweiten Fiktionsebene von Quenamican auch einige erzähltechnische Merkmale von Voyage en Orient. So sind beide Erzählinstanzen zunächst der Sprache des Reiselandes nicht mächtig, versuchen jedoch, sie zu erlernen. Zeichen ihres Aufenthalts in einem fremden Sprachraum ist der von fremden Ausdrücken durchsetzte Stil. Die kursiv gesetzten arabischen beziehungsweise spanischen oder auch deutschen Wörter werden gebraucht, um die andere Wirklichkeit möglichst genau wiederzugeben. Genau wie Gérard de Nerval I in Voyage en Orient gebraucht Nerval Ia zum Beispiel in der Wiener Episode, die beide Erzählerfiguren erlebt haben, für das Wort ‚Gasthof‘ die französische Schreibung „gastoffe“ (QU: 195, Hervorhebung im Original) beziehungsweise „Gastoffe“ (VO: 40, Hervorhebung im Original). Diese französisierte Schreibung kann als Erkennungsmerkmal des Schriftstellers dienen, der somit für den Leser sowohl als Urheber der als fiktional markierten Voyage en Orient und der auf einer anscheinend tatsächlichen Reise beruhenden Mexiko-Schrift erscheint.188

187 Kritik wird beispielsweise an den Übergriffen der spanischen Armee unter Cortès geübt: „Le saccage qu furent Cortès et ses mercenaires se poursuivit pendant plus de huit jours: plus de six mille personnes furent ainsi égorgées, brûlées vives, sacrifiées dans les rues de Cholula.“ (QU: 202) 188 Auf die Identität von Nerval IIa und Nerval I verweisen auch Träume des MexikoFahrers, die in proleptischer Form Einfluss auf sein Leben zu nehmen scheinen, sodass eine Anspielung auf den Supernaturalismus-Gedanken Nervals entsteht, der den Traum als höhere Realität ansieht: „Le rêve est une seconde vie“ (zitiert nach Morlino 1999). Die zweifache Evokation der „apparition“ der Baronin von Feuchères und ihre Verwandlung in eine Silhouette einer geliebten, aber verstorbenen Frau (vgl. QU: 122) verweisen dabei auf Nervals Konzept der femme idéale (vgl. Bourre 2001: 16). Die Träume fungieren auch als Verbindungsglied zum Protagonisten der ersten Fiktionsebene, der drei Wochen lang den gleichen Traum hat (vgl. QU: 148).

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Mit dem Ziel, den Eindruck einer Mitsicht mit Nerval I zu erwecken, wird außerdem das zeitgenössische Frankreich als Referenzsystem gebraucht. Wo beispielsweise im Prätext ein Ballsaal zur Beschreibung mit einem französischen Äquivalent gleichgesetzt wird, indem von „cet établissement, qui est le Mabille189 des Francs de Péra“ (VO: 510) die Rede ist, oder ein Stadtteil von Konstantinopel kurzerhand zu einer Entsprechung des Faubourg Saint-Germain erklärt wird (vgl. ebd.: 557), ist in Quenamican ein ähnliches Verfahren nachweisbar. So scheint die Landschaft um Cholula dem Reisenden wie „un paysage pittoresque de la Suisse“ (QU: 116) und Nerval IIa beschreibt die mexikanischen Gegebenheiten genauso mit Rückgriff auf die französischen Entsprechungen, indem beispielsweise die mexikanische plaza mayor mit der französischen Place d’Armes (vgl. ebd.: 162) in Verbindung gebracht oder eine Frisur als „un peu à la manière de George Sand“ (ebd.: 176) beschrieben wird, während in Voyage en Orient Christine de Pisans Haartracht als Vergleichsmoment herhält (vgl. VO: 523). Die ähnliche Referenzbildung deutet nicht nur auf eine vergleichbare Zielgruppe – die französische Leserschaft Mitte des 19. Jahrhunderts – hin. Gerade das letzte Beispiel aus dem Erfahrungsbereich Nervals betont persönliche Assoziationen, die noch stärker bei einem Vergleich eines Abendessens, bei dem Nerval IIa Manuel Payno190 kennenlernt, mit „les belles heures des rendez-vous de l’Arsenal, chez l’ami Nodier“ (QU: 114) bemüht werden. Die Erwähnung Manuel Paynos und seines Wirkens deutet auf eine weitere Authentizität stiftende Strategie hin. So spickt Magini die fiktive Mexikoreise seines Nervals mit Verweisen auf historische Figuren und verwendet zeitgenössische literarische Quellen, um diese möglichst faktengetreu darzustellen. Frappierend ist besonders die Beschreibung von Manuel Paynos Zimmer während des Besuchs bei Ignacio Cumplido, einer weiteren historischen Figur, der Drucker der Zeitschrift El Siglo XIX war, in der Manuel Payno publizierte. So be189 Das Mabille ist nach Lemaitre ein nach dem Besitzer Père Mabille benanntes Tanzlokal auf den Champs-Élysées, das 1840 eröffnet wurde (vgl. VO: 510). 190 Manuel Payno Cruzado ist eine historische Figur. Auf seiner Reise durch Mexiko verfasste der Schriftsteller zwischen März 1842 und April 1843 zahlreiche Artikel für El Siglo XIX, die auf Gesprächen mit Bewohnern, Lektüre sowie Paynos Begeisterung für das Erzählen basierten (vgl. Treviño 1996: 21). Die Tatsache, dass auch Payno gerne Geschichten erfand und moralische und religiöse Reflexionen in seine Berichte einflocht, lassen seine durch romantische Lektüre geprägte, persönliche Darstellungsweise mit derjenigen Nervals vergleichen: „De los escritores franceses adquirió la vitalidad del romanticismo, que le hizo contemplar el mundo a través de la mirada individual y el subjetivismo.“ (Ebd.: 16)

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staunt Nerval die Kuriositätensammlung Paynos, die unter anderem ein fünfbeiniges Eichhörnchen enthält, das auch Blanca Estela Treviño in ihrem Vorwort zu Paynos Crónicas de Viaje erwähnt (vgl. Treviño 1996: 20). Genau wie Gérard de Nerval II im Orient ist Maginis Nerval IIa in Mexiko zudem auf Vermittler angewiesen, um die verschiedenen Regionen und Städte tiefgründiger als ein bloßer Tourist zu erkunden. Diese Vermittlerfiguren versorgen den Erzähler in beiden Texten mit Geschichten und Hintergrundinformationen. Für Nerval II in Voyage in Orient sind beispielsweise zu Beginn sein Drogman, das heißt sein Übersetzer, später Mme Carlès, die Leiterin des Mädchenpensionats, in dem Zeynab untergebracht wird, und vor allem der drusische Scheich zu nennen, die den Reisenden mit den lokalen Gepflogenheiten vertraut machen. Die Rolle der wichtigsten Vermittlerfigur bei der Mexikoreise nimmt Manuel Payno ein, der als junger Journalist im Winter 1843 eine Reise in entgegengesetzter Richtung, also von Veracruz bis Mexiko-Stadt machte (vgl. Payno 1996)191 und somit Nerval Ia wertvolle Hinweise geben kann. So empfiehlt er ihm beispielsweise eine Unterkunft in Mexiko, welche ihm die Unannehmlichkeiten eines großen Schlafsaals in der Kutschstation ersparen soll – die Lärmbelästigung durch das Schnarchen anderer Übernachtungsgäste der Casa de diligencias beschreibt Payno sehr anschaulich in seinem ersten Brief an einen Freund Fidel (vgl. Payno 1996: 47f.). Einen aufschlussreichen Intertext für das Zusammenspiel von Paynos Text mit der zweiten Fiktionsebene von Quenamican bildet zudem Paynos Brief über Cholula (vgl. ebd.: 56-61). Da der Mexikaner selbst keinen Zutritt in die Kirche Santa María Tonanzintla erhält, behilft er sich mit einer fremden Beschreibung: Como estaba cerrada no pude verla por dentro; pero teniendo a la vista la descripción que hace de ella un viajero francés, no me parece inútil traduirla aquí, advirtiendo que la juzgo algo exagerada. (Ebd.: 57)

Während die derart angekündigte Beschreibung vor allem die Eingriffe des mexikanischen Malers Juan Sedeño kritisiert, der als „embarrador de pueblo“ (ebd.: 58) ein Marienbildnis verschandelt habe, zeigt sich Maginis Nerval Ia von der „beauté à couper le souffle“ (QU: 117) der Kirche begeistert, als Manuel Payno sie ihm zeigt. Die im Vergleich zu seinem Landsmann unterschiedliche Bewer191 Ein logischer Bruch besteht dabei für den Leser darin, dass der realweltliche Payno seine Reise erst im Winter 1843, also zeitgleich zu derjenigen des fiktionalisierten Nerval Ia durchführte.

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tung vehikuliert implizit wiederum die Toleranz von Nerval Ia, der genau wie sein realweltlich existierendes Pendant Nerval I die Relativität europäischer Werte zu propagieren scheint und keinerlei Anstoß an den Einflüssen indigener Kunst und Glaubenselemente auf die katholische Kirche nimmt. Insgesamt wandelt Maginis Nerval Ia somit auf den Spuren Paynos, geographisch gesehen jedoch in umgekehrter Richtung. Paynos „Viaje sentimental a San Ángel“ und „Un viaje a Veracruz en el invierno de 1843“ aus den Crónicas de viaje können somit als wichtiger Intertext der zweiten Fiktionsebene von Quenamican bezeichnet werden. Der erste Band von Paynos Gesamtwerk wird im Anhang von Magini als verwendete Literatur aufgeführt und schlägt sich teilweise in einer impliziten Gleichsetzung von Nerval IIa mit Payno nieder. Besonders deutlich wird dies bei der Wortwahl. Payno beschreibt beispielsweise den Karmelitermönch Juan de San Elías folgendermaßen: [U]n hombre de más de ochenta años, con su fisonomía surcada y llena de arrugas; al través de la cual se percibe la lozanía y la salud, propia de quien ha tenido una vida sobria y arreglada. Es el padre fray Juan de San Elías un excelente anciano lleno de virtudes, con su fisonomía abierta y franca, y como dice Sterne, una de esas bellas cabezas escapades del pincel de Rafael. (Payno 1996: 41)

Maginis Nerval nimmt diese Beschreibung fast wörtlich auf: [U]n homme de plus de quatre-vingt ans, au front sillonné de rides et dont l’allure respirait la santé de celui qui a toujours mené une vie sobre et ordonnée; un vieillard qui inspirait mille vertus, au visage franc et ouvert, une de ces belles têtes qu’on eût dit tracée de la main de Raphaël. (QU: 222)

Diese offenkundige Wiederholung unterläuft die Authentizität stiftenden Strategien und wirkt selbstbetrachtend, betont sie doch die Konstruktion der literarischen Erzählerfigur Nerval IIa nach einem Modell.192 Magini imitiert hier zudem Nervals Vorgehensweise, Eindrücke aus zweiter Hand – hier die Ausführungen Paynos – in sein Werk einzuflechten, wobei er, wie bereits angedeutet, im Unterschied zu Nerval I seine Quellen offenlegt (vgl. ebd.: 251). Auf der ersten Fiktionsebene gibt es neben dem Payno-Intertext weitere intertextuelle Referenzen, welche in die Erzählung von Nerval IIa eingebaut sind und sowohl diskursiv als auch diegetisch funktionalisiert sein können. So evozie192 Auch das Elend des Vororts San Lázaro beschreibt Nerval IIa ähnlich wie Payno (vgl. QU: 143f. beziehungsweise Payno 1996: 49f.).

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ren beide Nervals Madame de Sévigné (QU: 141, VO: 478), und Nerval Ia orientiert sich bei seiner Reise zudem an Thomas Gages Nouvelle relation contenant les voyages dans la Nouvelle-Espagne. Die Besonderheit des Payno-Intertextes im Vergleich zu den anderen liegt jedoch darin, dass er eingesetzt wird, um die Grenze zwischen Fiktion und Realität ins Wanken zu bringen, das heißt sowohl illusionsbildend als auch illusionsstörend funktionalisiert wird. Der reichhaltige Intertext der zweiten Fiktionsebene stellt insgesamt eine Steigerung im Vergleich zum Einsatz intertextueller Referenzen im Prätext dar. Dort nehmen die intertextuellen Verweise eine ähnliche Stellung ein wie die Bezüge auf die französische oder europäische Gesellschaft. So werden literarische Figuren als Vergleichskomponenten bemüht, um einen Eindruck plastisch zu schildern. Auf einer Bootsfahrt im Mittelmeer entlang der syrischen Küste – für Nerval II eine der „traversées capricieuses qui renouvellent les destins errants d’Ulysse et de Télémaque“ (VO: 444) – unterhält sich der französische Schriftsteller mit einem Passagier der zweiten Klasse aus Marseille. Anschließend wird er von einem englischen Fahrgast der ersten Klasse mit Schweigen bestraft, woraufhin Gérard de Nerval II mutmaßt, der Engländer vergleiche ihn nun wohl mit den gefallenen Engeln Miltons (vgl. ebd.: 449). Sowohl bei der Referenz auf die Odyssee als auch bei derjenigen auf Paradise Lost werden fiktive Begebenheiten beziehungsweise Wesen evoziert, um die Realität besser fassen zu können und damit gleichberechtigt mit Elementen der Wirklichkeit außerhalb des Textes verwendet. Intertexte werden jedoch nicht nur als Vergleichsmomente herangezogen. Sie nehmen auch die Funktion einer Selbstbetrachtung des Textes ein. Besonders deutlich ist der mit Scheffel (1997: 54ff.) als Reflexion des poetologischen Prinzips zu bezeichnende Bezug auf frühere Orientreisende in Voyage en Orient, die manche Beschreibung laut Nerval II obsolet machen. Dies ergibt sich beispielsweise hinsichtlich der Ruinen Baalbeks: „J’ai rêvé quelques heures au milieu de ces magnifiques ruines, qu’on ne peut plus dépeindre après Volney et Lamartine.“ (VO: 482)193 Während der Reisebericht Gérard de Nervals I die Gleichwertigkeit einer Welterfahrung über die Literatur und über die menschlichen Sinne demonstriert, geht Magini noch einen Schritt weiter, indem er dieses Verfahren innerhalb seines Romans nicht nur nachahmt, sondern reflektiert. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, die bei Nerval II schon verwischt wurden, werden anhand der 193 Lemaitre beweist anhand eines Briefes Gérard de Nervals an seinen Vater, dass Nerval I niemals nach Baalbek gereist ist, der Ausflug vielmehr ein Element des supernaturalistischen Traum-Universums des französischen Autoren sei (vgl. VO: 482).

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Mexikoreise von Maginis Nerval Ia, die anfangs in überzeugender Weise als „echte“ Reise Nervals präsentiert wird, durch eine Verunsicherungsstrategie erschüttert. Der Plot des F-Universums endet damit, dass der intradiegetische Erzähler, also Nerval IIa selbst, die Existenz seiner Mexiko-Reise in Frage stellt: „On prétendra que je n’ai jamais visité le Mexique […] Qui prouvera le contraire?“ (QU: 237f.) Die bereits erwähnte abschließende Pointe auf der ersten Fiktionsebene, welche die Mexikoreise als fiktiv enthüllt, bringt die zunächst etablierte Hierarchie zwischen fiktionalen und faktualen Texten völlig ins Wanken. Ähnlich funktioniert der Einsatz von Intertexten auf der ersten Fiktionsebene. Im Einzelnen dienen die explizit angeführten Intertexte nicht nur dazu, die TAW besser verständlich zu machen, sondern dazu, die Wirklichkeit der TAW von den F-Universen teilweise absorbieren zu lassen. Dabei schreiben sich zunächst kursiv abgesetzte Zitate in den Erzählerdiskurs ein, woraufhin ohne typographische Absetzung auf einen in einen fiktionalen Text übergegangen wird, den der Erzähler liest. Das unvermittelte Wiederauftauchen aus dem rezipierten Text in die textuell aktualisierte Welt der ersten Fiktionsebene erscheint dabei jeweils relativ ernüchternd. Veranschaulichen lässt sich dies beispielsweise an einer Sequenz, in der ein Kellner dem Ich-Erzähler, der auf einer Terrasse in einem Café in Narbonne in die Lektüre von Robbe-Grillets Dans le labyrinthe (1959) versunken ist, ein Glas Bier serviert: Voilà, à l’instant même où dans le labyrinthe la femme à la voix grave, au tablier gris, immobile dans le chambranle de la porte s’adresse au soldat, Qu’est-ce que vous voulez? et celui-ci, qu’on distingue à peine dans la pénombre des escaliers, hésite à répondre, il teint une boîte en carton sous son bras gauche, Je cherche une rue… une rue où il fallait que j’aille, et la jeune femme de l’interroger Quelle rue? mais le soldat a oublié, il ne se rappelle pas […] la ville est tellement grande, une réalité qui n’est pas exactement identique à celle qui prévaut à midi le juste sur cette promenade flanquée de platanes où rôdait jadis le fantôme fragile de Léaud draguant devant les Dames de France, dans la platitude de ce décor de province sans femme au tablier gris ni soldat à la boîte en carton. (QU: 132)

Die gleichzeitige Wahrnehmung der Bedienung in der textuell aktualisierten Welt und der Handlung des Romans, den der Erzähler rezipiert, schlägt sich in einem abrupten, aber dennoch markierten Übergang in ein Fantasie-Universum, Robbe-Grillets Roman, nieder. Die Rezentrierung kündigt sich dadurch an, dass der Titel des Buches zwar kursiv gesetzt ist, somit seinen Status als Zitat kommuniziert, aber dennoch mit Hilfe der Kleinschreibung in den Diskurs eingepasst

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ist. Das heißt er scheint nicht nur auf einen Text, sondern auf dessen Inhalt, das Gespräch der jungen Frau mit dem Soldaten, zu verweisen. Die Erzählinstanz oszilliert zwischen der sie umgebenden textuell aktualisierten Welt und dem FUniversum. Der Kontrast zwischen der Kleinstadt Narbonne, die der IchErzähler als Beobachter wahrnimmt, und der Großstadt, welche die textuell aktualisierte Welt von Dans le labyrinthe darstellt, führt dazu, dass erstere schließlich die Oberhand gewinnt. Die Assoziationskette schweift nun über die als trist wahrgenommene Kleinstadt-TAW zu einem Bild aus dem Film LE PÈRE NOËL A DES YEUX BLEUS mit Jean-Pierre Léaud. Demonstriert wird, wie die Realität anhand der Bezugnahme auf ein Erzähluniversum begriffen werden kann. Dies gibt einen Hinweis auf die Stellung des F-Universums mit der Mexiko-Reise von Nerval Ia, das der anonyme Autor erschafft, dient es ihm doch in ähnlicher Weise dazu, die TAW zu verarbeiten. Das Zusammenspiel der Erzähluniversen: Erzählen als Verarbeiten der Wirklichkeit Die erste Fiktionsebene nimmt insgesamt ähnlich wie bei La source opale eine Scharnierfunktion ein, indem sie zwischen Prätext und Wiederaufnahme auf der zweiten Fiktionsebene vermittelt, gleichzeitig jedoch die Vermittlungsstrategie spiegelt. Die metatextuelle Wirkung, die von der ersten Fiktionsebene generiert wird, besteht zunächst darin, dass die Erzählerfigur, der Pariser Autor, den Prätext explizit kommentiert und die fiktiven Elemente der verschriftlichten Orientreise betont. Dazu vergleicht er die Darstellung von Ereignissen im Buch Voyage en Orient mit derjenigen in den Briefen von Nerval I an seinen Vater. Der Pariser Schriftsteller liest die Korrespondenz Nervals I, wodurch rückwirkend in Bezug auf den Prätext die erfundenen Elemente und Veränderungen, die Nerval durchgeführt hat, aufgedeckt werden. Des Weiteren fasst der anonyme Autor Passagen kommentierend zusammen, weist auf Ellipsen hin und stellt Vermutungen an, um sie auszufüllen. Gerade die Zeit vor Nervals I (und II) Abreise aus Istanbul verleitet ihn zu Mutmaßungen über dessen Zeitvertreib: Gérard nous assure sans sourciller que les musulmanes sont plus libres que les Européennes, mais il rejoint sa couche au lever du soleil, entretemps qu’a-t-il fait, qui a-t-il rencontré, a-t-il assisté avec ses amis persans de Ghildiz-Khan à une folle comédie […], s’est-il faufilé dans un cabaret pour y chercher une aventure, nous ne le saurons jamais. (QU: 210)

Der Orient wird zum Synonym für eine Freiheit, die Nerval I, „lui qui désirait vivre à cheval sur la ligne de démarcation entre rêve et raison“ (ebd.: 212) in

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Frankreich, wo er gegen die Normen verstieß, versagt blieb. In Istanbul könne er sich verwirklichen: „[L]es fêtes du Ramadan tombent à pic, [et] […] lui offrent une occasion incomparable de s’éclater.“ (QU: 212.) Indem der anonyme Schriftsteller anschließend an seine Geliebte denkt, zieht er außerdem eine sehr deutliche Parallele zwischen der Mexiko bereisenden Marguerite und Nerval I/II (vgl. ebd.). Die Tatsache, dass er fast nichts über ihren Aufenthalt in Mexiko erfährt, scheint ihn auch auf Leerstellen in dessen Text aufmerksam zu machen. Darüber hinaus ergeben sich durch den Lese- und Kommentierungsakt Gemeinsamkeiten des intradiegetischen Erzählers mit Nerval I. Der Ich-Erzähler der ersten Fiktionsebene evoziert Parallelen seiner Lebenssituation zu derjenigen Nervals I und identifiziert sich mit dem französischen Poeten. Genau wie Nerval I in Paris nach seiner psychischen Erkrankung steht der Ich-Erzähler nach dem Hausbrand vor dem Nichts und fragt sich in seiner Einsamkeit, wie er aus dieser verzweifelten Lage entkommen könnte. Auch er muss die Distanz zu einem geliebten Menschen, Marguerite, überbrücken und erhält wenig Nachrichten von ihr. Indem der anonyme Schriftsteller Passagen aus einem Brief von Nerval I an seinen Vater kurz nach seiner Abreise übernimmt, setzt er ihre Situation gleich: [C]omment recréer ce que le feu a consumé, ce manuscrit avec lequel j’ai cohabité pendant deux ans, ou plutôt qui m’a habité, hanté, aujourd’hui réduit en cendres, devrais-je moi aussi sortir de là par une grande entreprise qui effaçât le souvenir de tout cela et me donnât aux yeux des gens une physionomie nouvelle… (QU: 45, Hervorhebung im Original)194

Sein Ausbruch beziehungsweise seine „große Unternehmung“ findet für ihn mental statt, indem er sich die Gesamtheit seines vernichteten Textes, der eine récriture von Nervals Voyage en Orient darstellte, noch einmal ins Gedächtnis ruft. Die mentale Rekonstruktion seiner Reise wird zur Überlebensstrategie, genauso wie das Schreiben von Voyage en Orient für Nerval I. Auffallend ist hierbei, dass der Schriftsteller seine récriture als Mexikoreise eines Nerval II konzipiert und damit eine Parallele zur Reise Marguerites aufstellt, deren drohende Abreise ihn höchstwahrscheinlich in seiner Ortswahl beeinflusst hat. Die Tatsache, dass die beiden Fiktionsebenen in abwechselnden Kapiteln modelliert werden, deutet die rhythmische Entfaltung dieses Erinnerungsprozesses an, der den 194 Die Hervorhebung in Quenamican stammt von Magini, um den Zitatcharakter dieser Passage anzuzeigen, die aus der Korrespondenz von Nerval I stammt: Siehe Nerval 1989: 1387.

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intradiegetischen Erzähler den Sommer über begleitet. Dabei sind – ähnlich wie bei La source opale – Wechselwirkungen zwischen den Begebenheiten auf der ersten Fiktionsebene und denjenigen innerhalb der Mexikoreise Nervals auf der zweiten Fiktionsebene zu konstatieren, die den Anteil des Pariser Autors betonen. Auf die ähnliche Ausgangslage der beiden Ich-Erzähler folgt die Reise nach Narbonne beziehungsweise nach Saint-Nazaire und weiter nach Mexiko. Neben parallelen Handlungen finden sich auch entsprechende Themengebiete wie der Kuchenkrieg gegen die Franzosen im Jahre 1838, der eine Verelendung der mexikanischen Bevölkerung nach sich zog, und der im darauf folgenden Kapitel evozierte Einmarsch der Zapatisten in Mexiko-Stadt, welche die Rechte der indigenen Bevölkerung einklagten. Nacheinander werden auf den beiden Ebenen auch Strategien genannt, welche die beiden Protagonisten anwenden, um gegen ihre Einsamkeit anzukämpfen. Der Schriftsteller der ersten Fiktionsebene verbringt die Tage lesend in einem Café in Narbonne, während Nerval IIa auf der zweiten Fiktionsebene angibt, dass die Lektüre von Thomas Gages Voyages dans la Nouvelle-Espagne das Gefühl der Einsamkeit während der Reise verdrängt habe (vgl. QU: 135). Beide Protagonisten setzen Bücher mit ihren Autoren gleich und personifizieren sie. Nerval IIa spricht in der Bibliothek von Ignacio Cumplido in Bezug auf die Bücher von „cette surprenante compagnie réunie là sous mes yeux comme si elle eût été en chair et en os dans ce salon“ (ebd.: 172) und betont ihre tröstende Wirkung. Eine ähnliche Personifikation gebraucht der Protagonist der ersten Fiktionsebene, wenn er seine Schwierigkeiten anspricht, die Bücher und mit ihnen ihre Autoren in Kisten zu packen. Dieses Versenken in Kartons erscheint ihm wie eine Beerdigung, auch wenn er sicher ist, sie wieder hervorzuholen: [J]e savais qu’avec moi ces bouqins ne tarderaient pas à renaître, que sur des étagères accueillantes ils oublieraient vite leur brève nuit du tombeau et qu’à nouveau ils revivraient, couverture contre couverture. (QU: 242)

Die emotionale Bindung zu Büchern wird auch dadurch deutlich, dass der Pariser Autor seine Freundin Marguerite mit einem Buch vergleicht und als „Marguerite ma lecture silencieuse et jamais terminée“ (ebd.: 124) anspricht. Über derartige Parallelsetzungen zwischen den beiden Fiktionsebenen hinaus gibt es zahlreiche unterliegende Querverbindungen zwischen den Fiktionsebenen und dem Prätext. Neben der bereits genannten Mexiko-Reise Marguerites, die sich im Buchprojekt der Reise von Nerval Ia nach Mexiko widerspiegelt, wird auch explizit

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eine Parallele zwischen Marguerite und Nerval II gezogen. Der Schriftsteller der ersten Fiktionsebene fragt sich, welche Schutzengel Marguerite hat, nachdem er sich vorstellt, wie Soliman in Voyage en Orient über des Schlaf von Nerval IIwachte (vgl. QU: 212). Magini spielt jedoch – ähnlich wie Vaillancourt – mit der Konstruktion von Entsprechungen zwischen den verschiedenen Charakteren, indem er Widersprüche einbaut. Einer Parallelsetzung Marguerites mit Nerval I wirkt beispielsweise die Tatsache entgegen, dass Kontoabbuchungen fast die einzigen Lebenszeichen sind, die sie aussendet (vgl. ebd.: 124), während der in Frankreich verbliebene Schriftsteller mehrere Briefe verfasst, die unbeantwortet bleiben, genauso wie diejenigen von Nerval I an seinen Vater. Der Autor der ersten Fiktionsebene vergleicht darüber hinaus seine Wartezeit auf die Rückkehr Marguerites explizit mit derjenigen des realweltlichen Nerval auf das Wiedersehen mit seinem Vater (vgl. ebd.: 151).195 Insgesamt wird ein schwer durchschaubares Netz von Quasi- und Pseudo-Identitäten über die Korrespondenzen zwischen den Figuren des Prätextes und denjenigen der zwei Fiktionsebenen des Textes zweiten Grades gesponnen, wodurch eine eindeutige Zuschreibung unmöglich wird. Sehr eindeutig zu identifizieren ist dagegen das eklatante Displacement in Bezug auf den Prätext, denn der Mexikoreisende erreicht in Quenamican sein Ziel, das titelgebende Quenamican196, das hier in übertragener Form als ein Ort der Erfüllung der Existenz definiert wird, „où l’on vit selon ses désirs, où l’on existe de gré ou de force, qu’elle qu’en soit la manière, où l’on côtoie ses semblables sans façon“ (ebd.: 236). In Quenamican macht Nerval Ia eine Reise zu sich selbst und kann Mexiko-Stadt als sein Refugium kennenlernen, seine

195 Eine Identität zwischen dem Ich-Erzähler der ersten Fiktionsebene und Nerval IIa auf der zweiten Fiktionsebene deutet darüber hinaus die idiolektale Verwendung der italienischen Floskel „chi lo sa” (QU: 101, 238, Hervorhebung im Original) des Erzählers auf beiden Fiktionsebenen an. 196 Quenamican ist in der olmekischen Kultur eine der drei Ebenen der Existenz, „tlaltícpac, mictlán, quenamican ‚tierra, inframundo, cielo‘“ (Rodriguez 2008: 40, Hervorhebung im Original). Quenamican ist der Sitz des Gottes Ometéotl, der das Himmelsfeuer produziert, das wiederum den Regen erschafft. Um den Weg nach Quenamican zu finden, benötigen die Verstorbenen das Licht der Antorcha del Conocimiento, die eine dem Prometheus ähnliche Figur olmekischer Mythologie aus Quenamican geholt hat. Das Motiv der Erleuchtung des Wegs nach Quenamican ist auf vielen olmekischen Grabbeigaben zu finden (vgl. ebd.: 43f.).

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„demeure étincelante“197, die ihm die Selbstverwirklichung erlaubt: „[E]t, parvenu au terme d’un voyage fabuleux, déposer mon maigre bagage, enfin chez moi: quenamican“ (QU: 236, Hervorhebung im Original). Nach seiner Rückkehr nach Paris steht ihm eine neue Reise offen, diejenige des Schreibens eines roman-voyage: [U]ne chose est certaine, l’écriture est liée à ma vie, d’elle dépend ma destinée – car écrire, à mes yeux, signifie me perdre et me retrouver dans un même élan, me tourmenter et m’apaiser dans une identique jubilation. (Ebd.: 237)

Parallel zum Double von Gérard de Nerval kehrt auch Marguerite aus Mexiko zurück und der Aufenthalt des Ich-Erzählers in Fontjoncouse neigt sich dem Ende zu, wobei er in seinem F-Universum Nerval II ein positives Ende geschenkt hat und nun selbst einer neuen Periode in seinem Leben entgegen sieht. Hoffnungsvoll geht er davon aus, dass Marguerite ihn wie einen Schiffbrüchigen von seiner Insel retten werde (vgl. ebd.: 246). Marguerite, die ihr Kommen in einem Telegramm angekündigt hat, wird in Frankreich sehnsüchtig erwartet – ganz im Gegensatz zu Nerval I, der während seiner zwölfmonatigen Abwesenheit keinen einzigen Brief von seinem Vater erhalten hat (vgl. ebd.: 244). Der anonyme Schriftsteller hat somit die Periode der Einsamkeit überwunden – und dies mit Hilfe von Büchern. Auf Marguerites Frage hin erläutert er darüber hinaus, dass ein weiterer Bestandteils seiner Überlebensstrategie war, sich sein verbranntes Manuskript ins Gedächtnis zurückzurufen (vgl. ebd.: 236). Das Displacement bezieht sich insgesamt auch auf die Autorenfigur Nerval, denn diese positive Sinnstiftung ist Nerval I nicht gelungen. Die Literatur war lange für ihn eine Möglichkeit, seine Wirklichkeit aufzuwerten und in etwas Höheres zu transformieren: La littérature […] a longtemps été la clé magique qui déverrouillait la vision, et permettait le retour éternel, le surgissement des autres réalités, la présence immédiate des autres mondes, dans le corps de Nerval, s’incarnant en lui et autour de lui, s’infiltrant dans ce qu’on appelle la ‚vie quotidienne‘, la ‚vie de tous les jours‘. (Bourre 2001: 16)

197 Der Ausdruck scheint auf Nervals Übersetzung von Heines Lyrischem Intermezzo anzuspielen: „Une étoile tombe de son étincelante demeure, c’est l’étoile de l’amour que je vois tomber!“ (Heine 1978: 89, Hervorhebung v. MK) Ähnlich wie bei den wörtlichen Wiederaufnahmen aus Nervals Korrespondenz wird wieder eine Identität zwischen Nerval IIa und Nerval I suggeriert.

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In seinem Meta-Roman reflektiert Magini somit nicht zuletzt die Bedeutung, welche das Schreiben für Gérard de Nerval I hatte. Quenamican als Meta-Roman: Das Bild des Erzähllabyrinths Abschließend lässt sich sagen, dass Maginis Roman über verschiedene Wechselwirkungen ein komplexes Zusammenspiel zwischen den beiden Erzählebenen und dem Prätext entwirft, das sich nicht vollständig logisch entschlüsseln lässt. Obwohl sich der récriture-Text in Form der zweiten Fiktionsebene vor dem Leser entfaltet, steht im Vordergrund nicht der kreative Prozess der produktiven Lektüre. Dieser ist vielmehr dem Plot vorgelagert und nicht Bestandteil des Erzähluniversums. Im Fokus steht dagegen die Bedeutung der Erinnerung an das Schreiben, der eher einer mentalen réécriture des zerstörten récriture-Romans gleichzukommen scheint. Diese erzählerische Rekonstruktion hat eine therapeutische Wirkung, erlaubt sie dem Schriftsteller doch, die Einsamkeit bis zur Rückkehr Marguerites zu ertragen. Maginis Roman reflektiert somit über die Bedeutung des Erzählens für die Erzählinstanz, verfügt aber darüber hinaus über ein weitergehendes metatextuelles Potenzial, das sich auf beiden Erzählebenen verwirklicht. Die erste Fiktionsebene beinhaltet eine explizite Literaturkritik, denn der anonyme Ich-Erzähler beschäftigt sich eingehend mit Nervals Werk und Leben, die er kommentiert. Die zweite Fiktionsebene, die fiktive Mexiko-Reise des FUniversums, betont inhaltlich den Toleranzdiskurs Nervals und in Bezug auf die Vermittlungsebene die Integration einer Fülle von Intertexten, die Nerval heranzog, um seine voyage imaginaire zu erschaffen. Im Zusammenspiel der beiden Fiktionsebenen mit dem Prätext entsteht in gewissem Maße eine Reflexion der Welten erschaffenden Funktion des Schreibens. So wird die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktualität spielerisch aufgeweicht und in ein für den Leser nicht logisch auflösbares Weltensystem eingepasst. Maginis Meta-Roman spielt demnach anhand einer nicht eindeutig zu entschlüsselnden Verschachtelung von Fiktionsebenen mit der Aushöhlung des Gegensatzes zwischen Fiktion und Realität. Dadurch entsteht ein Roman, der den Leser wie in einem Labyrinth ohne Ausweg gefangenhalte, wie der der anonyme Erzähler selbstbetrachtend bemerkt: „[J]’ai toujours adoré ça, ce dédale entre l’imaginaire et le réel, je m’en délecte à m’y perdre, quel vertige.“ (QU: 62) Die fiktionale Welt wird in Maginis Roman zu einem Wert an sich, denn ihr ontologischer Status scheint für den Erzählprozess des Autors und die Lektüre des Rezipienten zweitrangig. Im Vordergrund steht das Erleben des Lesers, wie der Text anhand einer weiteren Selbstbetrachtung reflektiert, als Magini seinen fiktiven Gérard de Nerval konstatieren lässt: „Tout lecteur, il me semble, pénètre

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dans l’intimité de celui qui écrit, et, pour peu qu’il s’oublie, il lui arrive parfois de prendre sa place!“ (Ebd.: 55) Genau dies tut der intradiegetische Erzähler auf der ersten Fiktionsebene. Indem er sich dadurch nicht nur Gérard de Nervals Text, sondern auch dessen Leben aneignet, veranschaulicht er die Bedeutung des Schriftstellers hinter dem Buch, der eine imaginäre Welt erschafft, und verweist gleichzeitig auf die kreative Komponente des Leseprozesses, in dem das Bedeutungsangebot der Wirklichkeitskonstruktion aktualisiert und verändert werden kann. 4.3.3 Louise ou La nouvelle Julie: Rousseaus Julie ou La nouvelle Héloïse im Zerrspiegel der récriture Einführung Marc Gendrons 1981 publizierter Roman zeigt seine Beziehung zum Prätext schon sehr deutlich im Titel, Louise ou La nouvelle Julie an, der andeutet, dass seiner Protagonistin Louise ein ähnliches Schicksal widerfahren wird wie Julie aus Rousseaus Julie ou La nouvelle Héloïse (1761), wird sie doch als „neue Julie“ bezeichnet. Auch der Titel des Prätextes bedarf Erläuterung, denn er stellt einen intertextuellen Verweis auf die Korrespondenz zwischen dem berühmten Liebespaar Abélard und Héloïse dar. Dabei bezweifelt Laure Challandes (2002) die weit verbreitete These, Rousseau habe den Titelzusatz aus kommerziellen Gründen angefügt und wolle anhand der Parallelsetzung auf die Gemeinsamkeiten seiner Heldin Julie mit Héloïse hinweisen. Dagegen argumentiert sie auf struktureller und stilistischer Ebene, dass Rousseau vielmehr eine Umkehrung der Rollen durchgeführt habe, da sich Parallelen zwischen dem kompromisslos liebenden und unterwürfigen Saint-Preux und Héloïse sowie zwischen der nach „Heilung“ strebenden und die Vergangenheit verdammenden Julie und Abélard feststellen lassen. Dennoch lassen sich auch Gemeinsamkeiten Julies mit der weiblichen Protagonistin herausarbeiten, zum Beispiel die Liebe zu ihrem Lehrer, aber, so bemerkt Challandes (2002: 76): „[L]e succès de Julie est d’avoir, dans tout l’intervalle qui sépare le début de la fin de sa destinée, imité, non pas Héloïse, mais Abélard“. Auch in Bezug auf Louise ou La nouvelle Julie würde es zu kurz greifen, von einer reinen Imitation des Prätextes und damit verbunden von einer Parallelsetzung von Julie und Louise auszugehen. Die im Folgenden näher betrachteten Bezüge zum Prätext werden aufzeigen, dass auch Gendron sich nicht nur mit einem prestigeträchtigen und verkaufsfördernden Vorbild schmücken wollte, sondern in seinem vielschichtigen Roman eine komplexe Auseinandersetzung mit dem Prätext inszeniert.

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Ein bedeutendes Distinktionsmerkmal zum Prätext besteht zunächst darin, dass Gendrons Roman genauso wie Maginis Quenamican eine Schlusspointe aufweist, die den Status des wieder aufgenommenen Erzähluniversums als Produkt der Fantasie des Protagonisten beziehungsweise der Protagonistin enthüllt. In beiden Fällen stellt sich eine Figur als fiktiver Schriftsteller und damit als Urheber des gelesenen Textes heraus, wobei dies bei Gendron nicht nur eine Fiktionsebene, sondern das gesamte Erzähluniversum betrifft. Die titelgebende Protagonistin Louise entlarvt sich selbst als Schöpferin des Erzähluniversums und damit auch des Romans, wodurch das von Gendron praktizierte Displacement in Bezug auf den Prätext schon angedeutet wird. Eine weitere Gemeinsamkeit mit Maginis Roman besteht im Authentizitätsanspruch des Prätextes, denn sowohl Nervals Voyage en Orient als auch Rousseaus Julie ou La nouvelle Héloïse präsentieren sich als auf Tatsachen beruhende Texte. Während Nervals Reisebericht auf einer realweltlich existierenden Reise beruht, ist Rousseaus Roman jedoch ein fiktionaler Text. Dabei stellt sich Rousseau zwar im ersten Vorwort als Herausgeber vor, deutet jedoch die Möglichkeit an, die „Lettres de deux amants, habitants d’une petite ville au pied des Alpes“ selbst verfasst zu haben: „Ai-je fait le tout, et la correspondance entière est-elle une fiction? Gens du monde, que vous importe?“ (NH I: 71).198 In beiden Fällen ist somit die Grenzüberschreitung zwischen Fiktion und Realität bereits im Prätext angelegt. Im Gegensatz zu Magini und auch zu Vaillancourt199 transponiert Gendron das Geschehen insgesamt in das zeitgenössische Québec, entwirft somit keine Konkurrenz-, sondern eine Parallelwelt zu Rousseaus Prätext. Diese Transposition führt zu weiteren Umformungen auf der Selektionsebene, die zu signifikanten Abweichungen in Bezug auf die Themen führen, welche die Korrespondenten dieses äußerst komplexen und vielstimmigen Briefromans diskutieren. Die Handlung von Louise ou La nouvelle Julie umfasst die Zeitspanne von 1967 bis 1977 und ist in Montréal angesiedelt. Sie setzt mit einem Brief der achtzehnjährigen Clara an ihre feministische Philosophie-Lehrerin Louise Leroux ein, der sie einen Briefwechsel vorschlägt. Aus der Korrespondenz zwischen Lehrerin und Schülerin entspinnt sich eine Liebesbeziehung. Der Briefwechsel wird am Ende des ersten Teils damit beschlossen, dass die beiden während Claras späterem Psychologie-Studium eine gemeinsame Wohnung beziehen. 198 Auch im zweiten Vorwort antwortet Rousseau in seinem fiktiven Dialog nicht auf die Frage, ob die Korrespondenz eine Fiktion sei (vgl. Rousseau 1900: vii). 199 Siehe zu Vaillancourts Roman La source opale Kapitel 4.3.1 der vorliegenden Untersuchung.

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Im zweiten Teil taucht ein neuer Korrespondent auf, ein weiterer Schüler Louises, der sich mit ihr in Verbindung setzt, ohne dass sie ihn identifizieren kann. In seinen von Wortspielen und -verdrehungen durchsetzten Briefen, die er mit verschiedenen Pseudonymen wie, „jean-jacque“ (NJ: 73), „jean-jaime“ (ebd.: 95), „j.-jac“ (ebd.: 201), „marc dudding“ (ebd.: 277) oder auch in Anspielung auf die Liaisons dangereuses als „vice-comte valdement de merdeuil“ (ebd.: 127) unterschreibt,200 provoziert er mit sexuellen Anspielungen und kruden Fantasien, wobei er gleichzeitig ein großes Interesse an philosophischen Fragestellungen und eine fundamentale Orientierungslosigkeit anklingen lässt. In diesem zweiten Teil tritt zudem eine weitere Figur auf, Eduardo, ein Freund J.j.s und überzeugter Naturwissenschaftler. Da Louise auf wiederholte Aufforderungen zu einer sexuellen Initiation nicht eingeht, besucht J.j. am Ende dieses Handlungsabschnitts eine Prostituierte. Der dritte Teil des Romans ist drei Jahre nach dem vorangegangenen Briefwechsel angesetzt. Inzwischen ist Clara im Rahmen ihres Studiums nach Genf gezogen und J.j. hat ein Philosophiestudium aufgenommen, während Louise in Montréal am Cégep201 bleibt. Die verschiedenen Briefwechsel illustrieren Claras und Louises Liebeskummer und ihre Entscheidung, eine offene Beziehung einzugehen. Daneben entspinnt sich eine Diskussion über den Wert von Philosophie und Naturwissenschaften zwischen Eduardo und J.j. Außerdem werden Louises wachsende Zweifel an einer männlich dominierten Philosophie und einem ebensolchen Schulsystem laut. Zudem kündigt sich ein Treffen zwischen J.j. und Louise an, dessen Verlauf in einem retrospektiven Brief Louises an Clara erzählt wird, in dem die Philosophie-Lehrerin ihre Korrespondenz mit J.j. sowie ihr

200 Die häufige Verwendung von Abwandlungen von Jean-Jacques deutet darauf hin, dass dies der gemeinsame Vorname des Briefeschreibers und Rousseaus ist, so dass diese Figur im Folgenden in Anlehnung an Joly (2003) und an die Bezeichnung auf dem Klappentext als „J. j.“ bezeichnet wird. Ingesamt können die unterschiedlichen Namen, die sich die Figuren in Louise ou La Nouvelle Julie gegenseitig und selbst geben, auf den Prätext zurückgeführt werden, wird doch auch Saint-Preux nicht mit seinem richtigen Namen angesprochen, „car il n’était connu dans la maison que du seul Hanz dont j’étais sûre, et nous l’avions appelé devant nos gens d’un autre nom que le sien“ (NH I: 398). 201 Das Cégep (Collège d’enseignement général et professionnel) schließt sich in Québec an die Sekundarschule an. Die allgemeine Ausbildung zur Vorbereitung auf die Universität dauert zwei Jahre und wird mit dem Diplôme d’études collégiales (DEC) abgeschlossen.

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Treffen mit ihm Revue passieren lässt und ihre Meinung über den Schüler zusammenfasst: Imagine-toi saint-preux ou werther qui devrait se contenter du vocabulaire de l’anticulture, de la soi-disant révolution sexuelle et de la pornographie pour tenter d’exorciser sa turbulence intérieure. (NJ: 203)

Im vierten Teil erzählt Clara Louise von ihrer neuen (lesbischen) Freundin Silke, wobei diese Nachricht Louise seltsam unberührt zu lassen scheint. Dies hängt mit Louises Selbstzweifeln zusammen, die sich zu einer Lebenskrise auswachsen, aus der sie mit Hilfe einer einjährigen Auszeit zu entkommen hofft. Während Claras Briefe zwar Mitgefühl kommunizieren, aber immer seltener eintreffen und schließlich eingestellt werden, läuft die Korrespondenz mit J.j., der inzwischen nach Paris gegangen ist, auch im fünften Abschnitt weiter.202 Während Louise immer weiter in die Krise rutscht, kündigt J.j. an, einen Roman zu schreiben und – nach Abbruch seiner Philosophie-Promotion – auf Reisen zu gehen. Zwei Jahre später sendet er Louise seinen letzten Brief, der wie Joly anmerkt, eine „mise à mort de son objet le plus précieux, et donc de lui-même aussi“ (Joly 2003: 550) darstellt. J.j. argumentiert, die Reise, die ihn vor allem in den Nahen Osten geführt hat, habe ihm die Augen geöffnet und ihn von seinen Obsessionen befreit, so dass er nun nicht mehr auf Louise angewiesen sei und sich der Zukunft zuwenden könne. Anbei schickt er einen Reisebericht, „d’une rare bêtise“ (ebd.), wie Joly kommentiert, der J.j.s neue Philosophie des Lebens im Hier und Jetzt, des „Penser à rien…“ (NJ: 288), beschreibt. Louises letzter Brief enthält die Schlusspointe, in der sie sich als Autorin des vorliegenden Briefromans darstellt: „Manuscrit suit. Point final cette nuit. Je veux te l’offrir à toi d’abord, à toi seule. Louise-Clara c’est moi, j.j. c’est l’autre, la belle affaire. Bris-collage.“ (Ebd.: 290). Es bleibt unklar, wen Louise an dieser Stelle anspricht. Das Ende des Romans kündigt darüber hinaus eine zirkuläre Struktur an, denn im abschließenden Brief bittet eine Leserin des Romans Louise, mit ihr einen Briefwechsel zu beginnen (vgl. ebd.: 292). Die Beziehung von Gendrons sehr komplexem Roman, der zwar rezensiert,203aber wenig analysiert wurde, zu Rousseaus Prätext ist bisher erst Gegen202 Die oftmals nicht unterzeichneten Briefe erschweren in diesem letzten Teil die Zuordnung zu den einzelnen Figuren. 203 Monique Moser-Verrey (1987: 517) wirft den ersten beiden Kritikern des Romans, Reginald Martel (1981) und Madeleine Ouellette-Michalska (1981), vor, in ihren Besprechungen nur die ersten beiden von fünf Teilen des Textes zu behandeln. Bei-

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stand einer Untersuchung geworden. Den dominanten Prätext betrachtet Monique Moser-Verrey 1987 in ihrer Studie „Deux échos québécois de grands romans épistolaires du dix-huitième siècle français“204 näher. In seinem Eintrag im

de loben genau wie andere Kritiker den souveränen Umgang Gendrons mit der französischen Sprache, eine „magie du style“ (Ouellette-Michalska 1981), kommunizieren jedoch auch ein Gefühl der Perplexität in Bezug auf die Herausforderung, die der schwer zu fassende Roman darstellt. Normand Desjardins (1982) bezieht auch das Ende des Textes in seine Rezension ein und spricht dem Autor Genialität zu, betont dabei aber gleichzeitig seine Orientierungslosigkeit beim Lesen dieses „véritable délire et déluge verbal“ (Desjardins 1982). Ausgesprochen positiv fällt die Kritik Michel Beaulieus aus, der in dem Roman einen „coup de maître“ (Beaulieu 1981) sieht und Gendrons geschicktes Einstreuen von Ankerpunkten lobt, das die Rekonstruktion der Geschichte erleichtere. Ähnlich bewertet Roger Chamberland (1981) den Roman, indem er die Originalität und die gelungene Verwendung der Gattung Briefroman lobt, wobei er jedoch er genauso wenig wie die anderen Kritiker auf den Bezug zum Prätext eingeht. 204 Neben Gendrons Roman untersucht Moser-Verrey einen zweiten Briefroman mit berühmtem Prätext, Lise Gauvins Lettres d’une autre (1984), die Montesquieus Lettres persanes nachempfunden sind. Gauvins Buch enthält dreizehn Briefe, in denen die junge Iranerin Roxane ihrer im Heimatland verbliebenen Freundin Sarah ihre Eindrücke und Reflexionen über die Québecer Gesellschaft, Kultur und Politik berichtet. Der Blick von außen entwickelt sich dabei zu einem Identifikationsprozess, denn die Gastwissenschaftlerin beschließt, in Québec zu bleiben, wird zur „Persane d’origine et Québécoise d’adoption“ (Gauvin 1994: 143). Die Beziehung zum „illustre prédécesseur“ (ebd.), die der Text dabei autoreflexiv von der Briefeschreiberin Roxane thematisieren lässt, wird schon mit Hilfe eines aus dem Prätext entnommenen Motto eindeutig kommuniziert, so dass der Text der dritten Form der récriture zugeordnet werden könnte. Da die Gattungsbestimmung als „Essai/Fiction“ die essayistische Grundhaltung andeutet, in der die Fiktion eine untergeordnete Rolle spielt, und der Text zudem sehr ausführlich kommentiert wurde – vgl. neben MoserVerrey (1987) zum Beispiel Hogue (1985) und Whitfield (2003), wurde in der vorliegenden Studie von einer Analyse abgesehen. Aufgrund einer wenig intensiven Strukturalität wurde auch ein weiteres hochgradig intertextuelles Werk Lise Gauvins, die Erzählung Quelques jours cet été-là (2007) ausgeschlossen, die Marie, eine auf den Spuren von Camus wandelnde Literaturwissenschaftlerin, in den Mittelpunkt rückt. Bei einem Forschungsaufenthalt in Lourmarin geht sie eine Beziehung mit dem Schlossführer ein, der ihr Zugang zur Schloss-

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Dictionnaire des œuvres littéraires du Québec, in dem er als Grund für das relative Schweigen der Literaturkritik in Bezug auf den Roman anführt: „Gendron a surestimé la culture de ses lecteurs potentiels et leur goût pour les énigmes érudites“ (Joly 2003: 550),205 verweist Joly auf die späte Entdeckung dieser evidenten intertextuellen Beziehung. Moser-Verreys Untersuchungsergebnisse werden im Laufe der folgenden Analyse aufgenommen und vertieft. Die Verlagerung der récriture in das neue Erzähluniversum verweist auf die Bedeutung der genaueren Beschäftigung mit den (Briefe-)Schreibenden, die neben der Analyse des innovativen Umgangs mit der Sprache und der thematischen Verschiebung den Schwerpunkt der Untersuchung darstellt. Aufbau der Erzähluniversen: Die umkehrende récriture eines Briefromans Sowohl der Prätext als auch der Text zweiten Grades sind mehrstimmige Briefromane, deren Briefwechsel in mehrere Teile gegliedert sind. Dabei dreht sich der Briefwechsel jeweils um eine Figur, die im Titel mit Namen genannte Protagonistin Julie beziehungsweise Louise.206

bibliothek verschafft. Diese sehr diskrete, einer seltsamen Fatalität gehorchende Beziehung erlebt Marie in einer Haltung der Indifferenz, die an Meursault erinnert (vgl. Paré 2008) als „désir qui l’habite et qu’elle vit sans chercher à le comprendre“ (Gauvin 2007: 55). Der kurze Text lässt sich in Bezug auf die Makrostruktur der zweiten Form der récriture zuordnen, denn die lesende Protagonistin nähert sich dem Werk Camus’ und reflektiert es. Dabei stellt sie jedoch keine Parallelen zu ihrem eigenen Leben fest. Geschuldet ist dies der erwähnten Natur ihrer Beziehung zu einem Mann, der sich am Ende der Erzählung als Straftäter herausstellt, der auf seinen Prozess wartete. Neben L’Étranger verarbeitet Quelques jours cet été-là ein weites intertextuelles Netz, das sich vor allem auf Camus’ Schaffen konzentriert, so dass Gauvins Text eine Reflexion des Gesamtwerks und der Person Camus’ darstellt, ohne sich auf einen dominierenden Prätext zu beziehen. 205 Dafür sprechen auch die zahlreichen unübersetzten deutschen Zitate, die darauf hinweisen, dass Gendrons nur in Québec verlegter Roman ein fremdsprachlich versiertes Lesepublikum voraussetzt. 206 Als weitere strukturelle Ähnlichkeit, die den Wiedererkennungseffekt fördert, ist zu nennen, dass der erste Teil der Nouvelle Héloïse, der fast ausschließlich Briefe von Julie und Saint-Preux umfasst, ein Echo im ersten Teil des Textes zweiten Grades findet, der, wie angedeutet, einen sehr ausgeglichenen Briefwechsel zwischen Louise und Clara beinhaltet. Ein wiederkehrendes Strukturmerkmal der Briefromane ist

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Julies zentrale Rolle im Prätext wird durch die Überschriften der Briefe angezeigt,207 die häufig mit „De Julie“ oder „À Julie“ betitelt sind, wobei ein Wandel in der Benennung stattfindet. In der ersten Hälfte (Teil I-III) wird die Protagonistin mit ihrem Vornamen ‚Julie‘ bezeichnet, nach ihrer Heirat mit ‚Mme de Wolmar‘. Nur der allerletzte Brief (Teil VI, Brief XII), in dem sie zugibt, SaintPreux immer noch zu lieben, ist mit „De Julie“ überschrieben (vgl. Howells 1986: 67). Die Gruppierung in sechs Teile erfolgt bei Rousseau zur Strukturierung der Plotentfaltung und beinhaltet spannungssteigernde Elemente. Der erste Teil endet beispielsweise mit Saint-Preuxʼ erzwungener Abreise, der zweite damit, dass Julies Mutter Kenntnis der Briefe erlangt, der dritte mit Saint-Preux’ Weltreise. Neben diesen strukturierenden Peripetien kann eine Symmetrie festgestellt werden, denn die zweite Hälfte des Romans stellt eine Art Gegensatz und Kondensierung der ersten dar (vgl. Howells 1986: 32), zwingt doch Wolmar seine Frau und Saint-Preux dazu, die Orte ihrer Liebe noch einmal zu besuchen, um ihnen ihre Veränderung im Laufe der Zeit vor Augen zu führen. Die zentrale Stellung der Figur Louise in Gendrons Roman lässt sich vor allem quantitativ nachweisen, denn sie erhält über die Hälfte der verfassten Briefe.208 Darüber hinaus ist sie die einzige Korrespondentin, die in allen fünf Teilen209 vertreten ist. Das heißt, dass Gendron zunächst eine noch stärkere Konzentration als Rousseau vornimmt, indem er die Nebenfiguren anfangs aus der Konversation heraushält. Beinhaltet der erste Teil ausschließlich Briefe der beiden Liebenden, so tritt Clara jedoch ab dem zweiten Teil völlig in den Hintergrund zugunsten der – von J.j. dominierten – Korrespondenz zwischen Louise und ihrem Schüler, die nur von einem Briefwechsel Eduardos an seinen Freund J.j. unterbrochen ist (vgl. NH: 93-95 und 127-129). Der dritte Teil steht unter dem Zeichen der räumlichen Trennung – sowohl Clara als auch J.j. sind in Europa – und ist deutlich diversifiziert, denn alle vier Figuren schreiben und erhalten

auch jeweils ein unbeantworteter Brief eines Kindes (vgl. NH II: Brief XIV, NJ: 237). 207 Quantitativ lässt sich diese Protagonistenrolle nicht ganz nachweisen, liegt doch Saint-Preux als Versender von 65 und Empfänger von 62 Briefen zahlenmäßig vor Julie, die 53 Briefe schreibt und 60 erhält (vgl. Brady 1969: 208). 208 Louise ist die Adressatin von 49 der insgesamt 97 Briefe. 209 Auch der Prätext wies zunächst fünf Teile auf, die Aufteilung ist nach Jean-Louis Lecercle künstlich, was die fehlende Peripetie am Ende des nunmehr fünften Abschnitts erkläre (vgl. Lecercle 1969: 87).

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Briefe. Am Ende des dritten Teils – an der im Prätext Julie Saint-Preux ihre Entscheidung für Wolmar mitteilt und sich verabschiedet – steht im Sekundärtext Louises Bekenntnis, mit J.j. einen Briefwechsel unterhalten zu haben, und ihr Wunsch, seine Briefe von der Psychologin Clara analysieren zu lassen. Der Übergang zum vierten Teil weist eine Ellipse auf, die analeptisch aufgeklärt wird, indem Louise ihr Treffen mit J.j. nacherzählt. Während der vierte Teil wiederum alle Figuren zu Briefsendern und -empfängern macht, reduziert sich der fünfte Teil mit Ausnahme des letzten Briefes auf die Korrespondenz zwischen J.j. und Louise, die sich im vorletzten Brief als Urheberin des gesamten Briefwechsels äußert. Eine Symmetrie ist somit weniger zwischen zwei Hälften des Romans als zwischen den ersten beiden Teilen zu entdecken, welche zwei Briefwechsel von Louise mit einer Schülerin beziehungsweise einem Schüler wiedergibt. Eine Weiterführung eines ähnlichen Briefwechsels kündigt sich mit dem Schreiben von Marthe Auger an, die nach der Lektüre des Romans eine Korrespondenz mit Louise wünscht. Die angedeutete Zweiteilung, welche in Rousseaus Roman den Übergang von einem Liebes- zu einem Roman der moralischen Erziehung markiert, wird in Gendrons Text durch eine zyklische Struktur ersetzt. Dabei wird der (Brief-)Roman bei Gendron zur Ausdrucksform einer psychologischen Entwicklung, zur Sozialkritik und zum Kommunikationsmittel, wie der letzte Brief aus Louise ou La nouvelle Julie andeutet, der einen weiterführenden Austausch mit einer Leserin des als Roman herausgegebenen Briefwechsels andeutet. Gerade diese letzte Öffnung legt in selbstbetrachtender Weise den Funktionsmechanismus des Romans als Text zweiten Grades offen, spiegelt sich darin doch die Auseinandersetzung mit Rousseaus Prätext. Gleichzeitig nimmt Gendron hier das Versteckspiel auf, das Rousseau wählte, als er sich als Herausgeber und nicht als Autor seines Textes ausgab.210 Konsequenterweise kann er als Reflexionsinstanz außerhalb der TAW mit kommentierenden Fußnoten in Erscheinung treten, so beispielsweise, um Julies plötzliche Hinwendung zur Tugend während ihrer Hochzeitszeremonie anzuzweifeln, indem er in einer Anmerkung ihre Wortwahl kritisiert: „Sainte ardeur! Julie, ah Julie! quel mot pour une femme aussi bien guérie que vous croyez l’être?“ (NH I: 419) Diese Eingriffe stellen keine Überschreitung von Textgrenzen dar, geriert sich Rousseau doch von Anfang an als Herausgeber der als authentisch präsen210 Ähnlich wie Choderlos de Laclos in Les liaisons dangereuses greift Rousseau auf die Herausgeberfiktion zurück. Auf der Titelseite der Garnier-Ausgabe steht zum Beispiel: „Julie ou La Nouvelle Héloïse. Lettres de deux amants receuillies et publiées par J.-J. Rousseau“ (Rousseau 1900). Siehe hierzu Picard 1971: 17, 71ff..

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tierten Briefe. Geschuldet ist diese Vorgehensweise dem schlechten Ansehen des Romans, einer Abwertung, der Rousseau aktiv Vorschub geleistet hatte, sodass die Literaturkritik auf das Gefühl der Verlegenheit und der Scham hinweist, das Rousseau aufgrund des unwiderstehlichen Impulses empfand, einen (Liebes-) Roman zu schreiben (vgl. Lecercle 1969: 70). Oft wird in diesem Zusammenhang auf die Identifikation Rousseaus mit seinem Protagonisten Saint-Preux hingewiesen: L’amant de Julie ressemble tellement à Jean-Jacques que le lecteur est naturellement conduit à penser qu’ils ne font qu’un. Rousseau le dit lui-même, il n’est pas auteur, mais éditeur. Et on peut en conclure que si ces lettres sont entre ses mains, c’est probablement parce qu’il a été l’un des correspondants. Le citoyen de Genève trouve ainsi le moyen de transformer un genre littéraire encore mal considéré, et condamné par les moralistes, en épreuve de vérité. (Cottret/Cottret 2005: 250f.)

Auch Gendron sät Hinweise, die eine Identifikation des Autors mit einer Figur nahelegen, denn der impertinente J.j. unterschreibt seinen ersten und seinen letzten Brief an Louise mit dem Pseudonym „marc dudding“ (NJ: 60 und 277), das Moser-Verrey auf den Autor Marc Gendron bezieht. Rousseau nannte sich zwar zeitweise „Mister Dudding“ (vgl. Marechel 1989), aber der angefügte Vorname verweist sehr deutlich auf eine Identifikation mit der Figur J.j. und damit auf eine autobiografische Komponente. Dennoch bleibt die Parallelsetzung hypothetisch, ist doch gleichermaßen eine Gemeinsamkeit mit der Protagonistin Louise festzustellen. Moser-Verrey deutet in diesem Zusammenhang auf die Biografie Marc Gendrons hin, der als „philosophe de formation“ (Moser-Verrey 1987: 521) mit Louise ou La nouvelle Julie seinen ersten Roman publiziert – genauso wie Rousseau beziehungsweise Mr. Dudding mit Julie ou La nouvelle Héloïse. Ein eklatanter Unterschied besteht jedoch in der Makrostruktur des Plots, denn Gendron arbeitet mit einem Displacement, indem er seine Protagonistin nicht sterben, sondern vielmehr an seine Stelle treten lässt.211 Damit schlägt er in

211 Genau genommen, stellt somit Gendrons Roman Louise ou La nouvelle Julie das realweltliche Äquivalent des fiktiven Romans dar, den die fiktive Louise verfasst hat, die wiederum von Gendron geschaffen wurde. Gendron hat darüber hinaus eine fiktive Leserin, Marthe Auger, kreiert, die den fiktiven Roman gelesen hat. Der Unterschied zwischen den beiden Werken liegt also neben ihrem ontologischen Status darin, dass Gendrons Roman im Gegensatz zu Louises Werk Marthe Augers Brief enthält. Die Tatsache, dass Louise ou La nouvelle Julie mit der Autorangabe Marc

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Bezug auf die Stellung des Autors genau die umgekehrte Richtung wie Rousseau ein, wie sich am besten anhand der zahlreichen thematischen Abschweifungen erläutern lässt, die beide Romane in unterschiedlicher Form und Ausprägung enthalten und die im Folgenden näher betrachtet werden. Rousseaus Roman wurde oft die mangelnde Kohärenz oder künstlerische Einheit vorgeworfen, die darauf gründe, dass er seine Figuren sagen lasse, was ihn bewege, und weniger, was die Logik ihrer Charaktere oder ihrer Situation erwarten ließe (vgl. Lecercle 1968: 72). In Bezug auf das sechste Kapitel bemerkt Patrick Brady: All the discussions […] are virtually irrelevant to the dramatic development; we can only say that they reflect Rousseau’s state of mind and stage of philosophical growth and indeed contain the essence of his thought, with very little adaptation to the needs of plot. (Brady 1969: 211f.)

Dennoch kann mit Robin Howells nachgewiesen werden, dass bezüglich des Gesamtwerks ein Zusammenhang zwischen den Abschweifungen und der Plotentfaltung von Julie ou La nouvelle Héloïse erkennbar ist. So lässt sich eine Entwicklung von einer ersten Ebene mit Themengebieten, die wie Eifersucht und Ehre das Individuum betreffen, über gesellschaftliche Problemstellungen – die schlechte Pariser Gesellschaft wird der guten in Clarens gegenübergestellt – hin zu transzendentalen Fragestellungen zum Thema Religion als dritte Ebene nachzeichnen (vgl. Howells 1986: 22).212 Problematisch in Bezug auf eine übergreifende Kohärenz erscheinen weniger die Themen an sich als ihre Darstellung in den Briefen der Charaktere. Denn die Äußerungen der Figuren lassen sich oft nicht mit den Informationen in Einklang bringen, über die der Leser in Bezug auf diese Figur verfügt. Das mentale Modell, das sich der Leser bildet, stimmt häufig nicht mit den verbalen beziehungsweise schriftlichen Handlungen der Figuren überein, so dass sich der Prozess des character building, das heißt das Zusammenfügen der im Text enthaltenen In-

Gendron und nicht etwa Louise Leroux versehen ist, entlarvt die fiktionsinterne Autorin als fiktive (Erzähler-)Figur. 212 Auch Raymond Trousson betont den Einfallsreichtum Rousseaus, der immer einen Vorwand finde, um weitergehende Reflexionen nicht willkürlich einbauen zu müssen. Dennoch behauptet auch dieser Literaturkritier, dass die didaktischen Abschweifungen der ästhetischen Einheit des Werkes schaden würden (vgl. Trousson 2003: 407).

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formationen über eine Figur zu einem kohärenten Modell,213 schwierig gestaltet. Lecercle führt hier beispielhaft die Moralpredigten Julies an, welche bei weitem die Reflexionsfähigkeit und das Wissen des jungen Mädchens übersteigen und wenig glaubwürdig damit gerechtfertigt werden, dass sie Saint-Preux’ gegenüber seine eigenen Worte wiedergäbe (vgl. Lercercle 1969: 72). Die Figur der Julie verliert wegen Rousseaus didaktischer Eingriffe ihre Konturen, wird in Lecercles Worten zu „un personnage inconsistant qui s’efface derrière son créateur“ (ebd.: 73). Der Roman scheint die für Rousseau wichtigsten Themen und Fragestellungen zu verarbeiten, wobei er sogar die Form eines Reflexionsmediums annehmen kann, wenn Saint-Preux und Milord Édouard über Selbstmord diskutieren: „Jean-Jacques étant en discussion avec lui-même fait soutenir les deux thèses opposées par deux personnages.“ (Ebd.). Rousseau lässt somit als Schöpfer seines Erzähluniversums seine eigene narratorial reference world durchscheinen – Erkennungsmerkmal sind die Diskrepanzen zwischen den mentalen Modellen der Figuren und ihren (verbalen) Handlungen. Der textexterne Autor wird somit über die expliziten Eingriffe in den Fußnoten hinaus auch implizit sehr deutlich in die TAW integriert. Gendron geht in Louise ou La nouvelle Julie in diesem Zusammenhang den umgekehrten Weg. Auch die Briefe seiner Figuren enthalten persönliche Reflexionen über Themen, die nicht der aktualisierten Handlungskette zuzuordnen sind. Dennoch unterscheiden sich diese Abschweifungen erheblich von denjenigen bei Rousseau. Dies gilt sowohl thematisch als auch diskursiv hinsichtlich der Integration in die jeweiligen Briefe. Zunächst umfassen die behandelten Inhalte keineswegs die Bandbreite der im Prätext behandelten Fragestellungen. Einige Themen kehren leitmotivisch wieder beziehungsweise verstärken sich. Im Einzelnen sind als Abschweifungen vor allem Louises bereits genannte wiederkehrende Überlegungen zur männlich dominierten Philosophie, die bereits im ersten Brief auftauchen und sich anschließend verstärken (vgl. NJ: 14, 192-195, 225-227), ihre Gedanken zur Sprache (vgl. ebd.: 15), ihre Kritik am Bildungssystem (vgl. ebd.: 188-190) sowie ihre Reflexionen zur Stellung der Frau (vgl. ebd.: 76, 195) und zu Musik (vgl. ebd.: 213-216) zu nennen. Des Weiteren sind J.j.s Ausführungen zu Philosophie (vgl. ebd.: 78, 94, 110, 146) und den Beziehungen zwischen Anglo- und Frankokanadiern (vgl. ebd.: 88) zu erwähnen. Zudem gibt es drei kontrastierende Gegenüberstellungen von Ansichten und Konzepten. Dies betrifft Louises Abgrenzung von körperlicher und ganzheitlicher Liebe (vgl. ebd.: 121-124), die Diskussion zwischen J.j. und Eduardo über Naturwissenschaft und Philosophie (vgl. 213 Siehe hierzu Margolin 1983: 4ff. sowie Kapitel 2.5 der vorliegenden Untersuchung.

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ebd.: 165-169, 174-177, 182-186) sowie die Kontrastierung von Poesie beziehungsweise Literatur und Philosophie, die Louise ab dem dritten Teil thematisiert (vgl. ebd.: 146- 151, 221-224), wobei J.j. schon im zweiten Teil urteilt: „[L]a philo est un amuse-ment [sic]214 superficiel, comparé à ce qui est en jeu dans la poésie.“ (Ebd.: 84) Inhaltlich können die Reflexionen jeweils mit den aus dem Text zu filternden Anlagen der Charaktere in Einklang gebracht werden. Überraschend erscheint jedoch, dass drei der Québecer Figuren, Louise, J.j. und Eduardo, Deutsch schreiben und lesen.215 Während Louises Kenntnisse sich leicht mit ihrem Philosophie-Studium erklären lassen, wirken sie bei J.j., der noch während seines ersten Briefwechsels mit Louise, also im Alter von achtzehn Jahren, Wittgenstein im Original zitiert (vgl. NJ: 86), und dem Naturwissenschaftler Eduardo unwahrscheinlich, der einen amerikanischen Nuklearphysiker auf Deutsch zitiert und anmerkt: „[J]e n’ai pas eu le temps de […] retrouver [la citation, MK] en anglais.“ (NJ: 184) Die Verwendung deutscher Zitate in den Ausführungen von drei Figuren erscheinen vielmehr als Hinweis auf die spätere Enthüllung, dass sie alle von Louise erschaffen wurden. Die deutsche Sprache stellt eine Verbindung zwischen den Figuren her, die als Signal für den Konstruktcharakter der Briefeschreiber wirkt. Louise, die textinterne Autorin, hinterlässt somit ähnlich wie Rousseau ihre Spuren im Text. Die Abschweifungen haben jedoch noch eine weitere Funktion. Zum Teil scheinen die Reflexionen als Ventil zu fungieren, um Gefühlswallungen abzuleiten, welche durch die Ereigniskette verursacht werden. So antwortet Louise auf Claras Ankündigung, eine neue Freundin zu haben, mit einer Kritik an der männlich dominierten Philosophie. Dennoch handelt es sich nicht um eine echte Abschweifung, sondern – wie der Schluss deutlich macht – um eine Bedeutungssteigerung der inneren gegenüber der äußeren Handlung. Die Schlusspointe mit der Enthüllung der textinternen Autorin wirkt dahingehend Kohärenz steigernd, als sie den Briefwechsel als fiktiven Dialog der unterschiedlichen Facetten eines Individuums, „louise-clara“ (NJ: 290), offenbart, das eine Entwicklung von der 214 Die typographisch nicht geforderte Silbentrennung deutet hier J.j.s Meinung an, dass Philosophieren aus Vergnügen und Lügen bestehe. Auf eine Kennzeichnung der Verstöße gegen das Regelsystem der französischen Sprache bei J.j.s sprachspielerischen Äußerungen wird im Folgenden verzichtet. Zu seinem kreativen Umgang mit der französischen Sprache, siehe das Unterkapitel „Darstellung der Sprache als Mittel der Macht“ der vorliegenden Analyse. 215 Claras Aufenthalt in der Schweiz erklärt dabei, dass sie ihre Briefe mit deutschsprachigen Einsprengseln wie „Grüß Dich Louise“ (NJ: 159) schmückt.

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Philosophin zur Schriftstellerin durchmacht. Die Digressionen können nun als Modalitäten der TAW beschrieben werden, welche die Protagonistin in ihrer Entwicklung beeinflussen – und diese Entwicklung ist es, die den eigentlichen Plot darstellt. Die inneren Konflikte, die sich in den Reflexionen der Figuren äußern, werden somit durch den Schluss ins Zentrum der Geschichte geführt, die anscheinend realisierten Handlungen ins Reich der Fiktion innerhalb der Fiktion verbannt. Die lecture palimpsestueuse der beiden Briefromane betont im Rückschluss den prozesshaften, reflexiven Charakter des Prätextes, der sehr eng mit der Wirklichkeit Rousseaus zusammenhängt, was textintern anhand des Durchscheinens der NRW erkennbar wird. Der Briefroman erlaubt Rousseau, narrative Diskontinuitäten einzubauen und seine gesellschaftlichen, moralischen und kulturellen Reflexionen in die TAW zu integrieren, doch versteckt er sich dazu hinter den Lettres de deux amants. Gendron geht insofern die umgekehrte Richtung, als er hinter eine Figur zurücktritt, der er die Rolle des Autors beziehungsweise der Autorin zuschreibt. Indem er die Autorinstanz in die TAW verlagert, weist er indirekt auf die Konstruktionsmechanismen des Prätextes hin. Gendrons fiktive Autorin, die im Dialog mit dem anderen, „j.j., l’autre“ (NJ: 290), ihre Entwicklung zur Romancière durchläuft, spiegelt somit textintern Rousseaus Vorgehensweise beim Schreiben seines Briefromans und in gewisser Weise seine Entwicklung vom Philosophen zum Romanautor wider. Indem Gendron am Ende seines Romans den Eindruck der Authentizität und Unmittelbarkeit, welche das literarische Genre des Briefromans mit sich bringt, zerstört, verweist er metanarrativ auf den Konstruktcharakter des Prätextes, betont somit die illusionsstörenden Elemente, die im Prätext schon angelegt sind. Gendrons Roman ist darüber hinaus stark selbstbetrachtend, beinhaltet er doch eine Reflexion über Literatur: [L]le texte, n’est-ce pas une chance inouïe offerte à la gratuité ludique, un espace vierge où le luxe de l’improductif et de l’asignifiant peut se déployer; un lieu de liberté où un imaginaire tente d’échapper par et pour le plaisir au quotidien, à la limite à l’ordre. (NJ: 222)

Mit diesem Plädoyer für die spielerische Zweckfreiheit der (fiktionalen) Literatur läuft Gendrons Roman vollständig Rousseaus Konzept im Prätext zuwider, der den Roman als philosophisches Anschauungsmaterial zu instrumentalisieren scheint, um sich nicht komplett dem von ihm selbst geäußerten Vorwurf stellen zu müssen, eines dieser „livres efféminés qui respiraient l’amour et la mollesse“ (Rousseau zitiert nach Lecercle 1969: 70) geschrieben zu haben. Dennoch hat

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dieser romanesk-didaktische Ansatz (vgl. ebd.: 79) den Verkaufserfolg von Rousseaus Briefroman nicht schmälern können. Gendrons Roman ist dagegen eine vielschichtige produktive Lektüre des Prätextes, die bei den Lesern ein hohes Maß an Begeisterungsfähigkeit für die Dechiffrierung verschlüsselter und mit diversen Lesepisten versehener Texte voraussetzt. Die Auseinandersetzung führt Gendron jedoch nicht nur auf der Ebene des Aufbaus seines Erzähluniversums, das wie eine Art Zerrspiegel von Rousseaus Roman fungiert. Die im Erzähluniversum angelegten Verzerrungen beziehen sich auch auf ausgewählte Plotelemente. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass Gendron einzelne Elemente des Prätextes herausgreift und Motive wie Sexualität und Liebe sowie Sprache kontrastiv zum Prätext verarbeitet und diesen somit kritisch kommentiert. Julie ou La nouvelle Héloïse als subversive récriture Die Transposition in das ausgehende zwanzigste Jahrhundert und nach Nordamerika bringt in Bezug auf das Erzähluniversum von Louise ou La nouvelle Julie bei einer sehr ähnlichen Ausgangssituation – eine mit Hilfe eines Briefwechsels initiierte Beziehung zwischen Lehrer beziehungsweise Lehrerin und Schülerin – einen anderen Modalitätenrahmen als im Prätext hervor, der die Entwicklung des Plots entscheidend prägt. Der Tabubruch, den Louise und Clara begehen, ist daher anderer Natur als derjenige, der zwischen der adligen Julie und ihrem Hauslehrer Saint-Preux stattfindet. In der ab der Révolution tranquille in den sechziger Jahren zunehmend säkularisierten Gesellschaft Québecs spielen die Werte der Enthaltsamkeit und der Familienehre, die durch eine gute (Vernunft-) Heirat aufrechterhalten werden muss, keine Rolle mehr. Während der Prätext je nach Ausgabe über sechshundert oder achthundert Seiten Julies „combat continuel“ (NH II: 123) darstellt, den sie ausficht, um ihren Neigungen, die den Normverstoß herbeigeführt haben, zu widerstehen und ihr Glück gemäß den gesellschaftlichen Konventionen in der Ehe zu finden, ist die Beziehung zwischen Louise und Clara nicht der Grundkonflikt, welcher den Plot im Sekundärtext auslöst. Das Liebesverhältnis zu Clara spielt eine untergeordnete Rolle in der Entfaltung des Konflikts. Ersichtlich ist dies daran, dass es zwar Clara ist, die eine neue Beziehung eingeht, doch Louise, die sich eine Auszeit erbittet, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Der Konflikt ist in den Modalitäten des Erzähluniversums angelegt, die Louise mit einer Rolle versehen haben, die sie nicht mehr akzeptiert. Wo Figurendomäne und TAW zunächst übereinzustimmen schienen, entdeckt Louise nun im Laufe einer ständigen Reflexion Zwänge und Gegebenheiten, die es ihr unmöglich machen, weiterhin ihre Funktion zu erfüllen. Im Gegensatz zu Julie weigert sie sich, den Normen der

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TAW zu genügen. Der Text zweiten Grades baut mehrere Gegensätze auf, die Motive aus dem Prätext aufnehmen, modernisieren und umdeuten. Der Prätext konstruiert zunächst einen Konflikt zwischen der menschlichen Leidenschaft und der Gesellschaft, der sich auf der zwischenmenschlichen Ebene in der Opposition zwischen Liebe und Ehe niederschlägt, die Julie folgendermaßen zusammenfasst: L’amour est accompagné d’une inquiétude continuelle de jalousie ou de privation, peu convenable au mariage, qui est un état de jouissance et de paix. On ne s’épouse point pour penser uniquement l’un à l’autre, mais pour remplir conjointement les devoirs de la vie civile […]. Les amants ne voient jamais qu’eux, ne s’occupent incessamment que d’eux, et la seule chose qu’ils sachent faire est de s’aimer. Ce n’est pas assez pour les Époux qui ont tant d’autres soins à remplir. (NH II: 442, Großschreibung im Original)

Doch weder Julies moralisch motivierte Versuche, diesen tugendhaften Lebensentwurf vollständig zu erfüllen, noch die wissenschaftlich motivierte Herangehensweise Wolmars, der Julie und Saint-Preux testen will und ihnen erfolgreich den Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart vor Augen führt, können ihre Leidenschaft beziehungsweise ihre Suche nach Absolutheit in der Liebe völlig auslöschen. Ihr Tod ist ihr fast eine Erlösung (vgl. Howells 1986: 18) in diesem ständigen Kampf und bringt einen Sieg ihrer Gefühle für Saint-Preux mit sich: Oui, j’eus beau vouloir étouffer le premier sentiment qui m’a fait vivre, il s’est concentré dans mon cœur. Il s’y réveille au moment qu’il n’est plus à craindre. (NH II: 384)

In der individualistisch geprägten Welt, die Gendrons Erzähluniversum wiedergibt, ist ein derartiger Gesellschaftsvertrag, das heißt eine Unterordnung unter soziale Konventionen auf Kosten der individuellen Entfaltung und Erfüllung in diesem Sinne scheinbar nicht notwendig. Zwar halten auch Louise und Clara ihre Beziehung im ersten Teil geheim, doch ist dies eher der Stellung Louises als Lehrerin Claras geschuldet, die gegenüber anderen Schülern nicht den Anschein erwecken will, für Clara eine „sympathie particulière“ (NJ: 14) zu empfinden. Claras Eltern beeinflussen ihr Handeln nur insofern, als Clara einen Vorwand liefern muss, warum sie mit ihrer Lehrerin zusammenzieht (vgl. ebd.: 48f.). Eine Entsprechung zu Julies Vater, der aktiv in die Ereigniskette eingreift und eine Heirat seiner Tochter mit Saint-Preux verhindert, weil er seine Tochter schon einem anderen versprochen hat, findet sich bei Gendron nicht. Genauso wenig spielen das Verständnis der Ehe oder die Familienehre eine Rolle, so dass weder

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Louise noch Clara das Dilemma nachleben, in dem die zwischen ihren Pflichten als Tochter und ihrer Liebe zu Saint-Preux hin- und hergerissene Julie steckt. Louise, die neue Julie, stellt die Liebe vielmehr der auf rein körperlicher Anziehungskraft beruhenden Affäre gegenüber, die damit in ihrem Erzähluniversum den Gegenpol zur Liebe darstellt. Dabei schreibt sie in einem Brief an J.j. reinen Sex beziehungsweise die bloße Befriedigung der eigenen sexuellen Triebe der männlichen, Liebe als ganzheitliches Phänomen eher der weiblichen Sphäre zu: Nous sommes dépourvues de cette aptitude mâline à dresser des limites claires, l’érection et le désir, le corps et l’âme, la matière et l’esprit. […] Notre corps est omniprésent, nous sommes chair de la tête aux pieds; nous sommes plus conscientes de nos sensations, plus jouissantes, alors que vous autres vous avez toujours peur de vous perdre de vue. La raison veut dominer, le phallus cherche une cavité […]. (NJ: 121)

Auch wenn Rousseau in Julie ou La nouvelle Héloïse körperliche Liebe nicht völlig zu verdammen scheint,216 ist sie doch aufgrund der axiologischen Zwänge, welche in der TAW herrschen, immer mit Schuld verbunden. Eine Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Sexualität lässt sich insofern nachweisen, als weibliche Sexualität beziehungsweise der weibliche Sexualtrieb von den männlichen Figuren als tief verstörend (vgl. Howells 1986: 54) wahrgenommen wird und fast immer mit Schuldgefühlen verbunden ist. Dennoch gibt Claire ihr körperliches Hingezogensein zu Saint-Preux durchaus gegenüber Julie zu und spricht von einem „frémissement“ (NH II: 276), das sie bei einem Handkuss Saint-Preux’ empfunden habe. Gendron stellt die homosexuelle Liebe zwischen Louise und Clara, deren Name auf Claire verweist und die ihre Freundin mit Anspielung auf das literarische Vorbild als „hélouise des coteaux du lac“ (NJ: 50) nennt, wie Moser-Verrey (vgl. 1987: 519) anmerkt, an die Stelle derjenigen zwischen Julie und SaintPreux. Dadurch weist er auf eine weitere Veränderung in der axiologischen Architektur des Erzähluniversums hin: Homosexuelle Liebe wird erzähl- und erlebbar. Die Trennung, die im Prätext am Ende des ersten Teils erfolgt, wird bei Gendron damit kontrastiert, dass die Protagonistinnen in eine gemeinsame Wohnung ziehen, die bisherige räumliche Trennung also überwinden. Der Leser, der mit einer ähnlichen Peripetie wie sie den ersten Teil des Prätextes beendet, ge216 Trousson geht von einer Sublimierung körperlicher Liebe bei Rousseau aus: „[I]l le [l’amour, MK] veut seulement sublimé par le sentiment.“ (Trousson 2003: 399)

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rechnet hat, muss seine Annahmen über das neue Erzähluniversum revidieren, denn dieses sanktioniert die Beziehung zwischen Louise und Claire keinesfalls, da sie keinen Tabubruch darstellt. Somit spielt Gendron mit der Erwartung des Rezipienten, der eine Parallele zwischen Julies und Saint-Preux’ außerehelicher – und damit in der TAW des Prätextes unmoralischer – Beziehung und derjenigen zwischen Louise und Claire zieht. Diese Abweichung betont bei einer lecture palimpsestueuse somit einerseits die Rigidität des Normensystems des Prätextes und führt andererseits eine interpretierende Öffnung durch, indem eine erotische Beziehung zwischen der neuen Julie und Claire – Clara – denkbar wird. Gendron scheint hier Rousseaus Beschreibung Claires als „[l]a tendre amie et même quelque chose de plus“ (Rousseau zitiert nach Lecercle 1969: 93) nach einer „Was wäre, wenn…“-Logik in die Tat umzusetzen. Diese Modifikation des Erzähluniversums schließt die bei Rousseau dominant männliche Sicht aus: L’homosexualité fonctionne ici comme la figure d’une perversion qui se veut bien plus générale. Il s’agit de réécrire le monde en dehors des paradigmes de la société patriarcale et bourgeoise qu’exalte Rousseau et dont l’optique mâle est toujours dominante. (MoserVerrey 1987: 518)

Gleichzeitig deutet dieses Displacement wiederum an, dass die äußere Handlung eine untergeordnete Rolle spielt.217 Neben impliziten Rückwirkungen über Abweichungen im Handlungsfortgang beinhaltet Gendrons récriture-Roman auch explizit kommentierende Passagen, tauschen sich Louise und J.j. doch über Rousseaus Roman aus. Dabei steht das Thema ‚Sexualität‘ im Mittelpunkt der Interpretation des Prätextes, die J.j. durchführt. Implizit verweist das bereits erwähnte Pseudonym Marc Dudding auf dieses Thema im Zusammenhang mit dem Autor Rousseau, denn dieser Deck217 Ähnlich geht Gendron mit dem Handlungselement des Auffindens der Briefe um, das am Ende des ersten Teils des Prätextes dramatische Auswirkungen für Julie hat, die zunächst sogar davon ausgeht, durch ihr unmoralisches Verhalten für den Tod ihrer Mutter verantwortlich zu sein. Das Auffinden der Korrespondenz zwischen Louise und J.j. hat dagegen im Text zweiten Grades keinerlei Auswirkungen. Als die Gendarmerie Royale du Canada beziehungsweise Canadian Royal Mounted Police J.j.s Wohnung nach Drogen durchsucht, werden unter anderem Louises Briefe an ihn überprüft. Doch die Beamten verlieren jedes Interesse an der Korrespondenz, als sie eine kleine Menge Drogen finden (vgl. NJ: 198f.). Diese ungleich geringere Bedeutung der Briefe für den Fortgang der Ereignisse und betont wiederum die veränderte Handlungslogik im Text zweiten Grades.

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name ist zum Teil sexuell konnotiert. So ist überliefert, dass Rousseau unter diesem Namen seine einzige gelungene sexuelle Erfahrung erlebt habe (vgl. Macherel 1989: 24). Die Korrespondenz im zweiten Teil, die mit J.j.s wenig geglücktem Abenteuer mit einer Prostituierten endet, fokussiert anhand des Pseudonyms J.j.s Hoffnung auf eine Verbesserung seiner Situation, das heißt vor allem eine „Entjungferung“. Indem J.j das Pseudonym verwendet, bettet er den Prätext in den biografischen Kontext des Autors ein. Bei ihrem Austausch über Julie ou La nouvelle Héloïse erkennen Louise und J.j. Parallelen zum Briefwechsel des Prätextes, setzen sich jedoch sehr kritisch mit ihm auseinander. Moser-Verrey bemerkt, dass dieser kritische Diskurs nicht zu einer Vereindeutigung des Prätextes führt: „Le discours analytique dénonce les équivoques, tandis que le style ludique du jeune homme les intensifie.“ (Moser-Verrey 1987: 519) J.j. grenzt seine Vorgehensweise zunächst vehement von derjenigen Saint-Preux’ ab, denn im Gegensatz zum Protagonisten Rousseaus sei er nicht in seine Lehrerin verliebt, wie er in dem ihm eigenen Stil anmerkt: Ensuite, si je l’étais, j’aurais fait usage d’un stylo saint-preustien mooderne et sentimenteur, fidèle en cela à j.j. de genève en gruyère qui confond un jeune homme amourut avec un pâle et étique powète du dimanche. (NJ: 59)

Schon in seinem zweiten Brief drückt er jedoch mit Hilfe einer Anspielung auf Saint-Preux sein Interesse an einer sexuellen Beziehung aus, indem er ‚disposition‘ und ‚Saint-Preux‘ in einem Neologismus zusammenzieht: [J]e continue à espèrer prendre la relève de votre amant […] et suis à votre dispreusition pour l’introïbelle qui saura nous relier l’un à l’autre sféeriquement. (Ebd. 65)

Auch Louise grenzt sich von ihrer literarischen Entsprechung aus dem Prätext, Julie, ab, als sie eine Episode aus ihrer Vergangenheit erzählt. Nachdem sie während ihrer Schwangerschaft von ihrem damaligen Freund verlassen wurde, spielt sie mit dem Gedanken, sich umzubringen, kommt aber davon ab: „Quoi, m’autopunir à cause d’une belle âme, à cause d’une belle gueule faire ma petite juliette au caractère trempé. J’avais déjà le romantisme de Rousseau derrière moi“ (NJ: 64). An dieser Stellt nimmt Louise eine Interpretation des Prätextes vor, denn Julie – „juliette“ – stirbt, nachdem sie ihren Sohn aus dem Wasser gerettet hat, an den Folgen dieser Handlung (vgl. NH II: 378), die Louise hier als selbstmörderisch auslegt. Die selbstlose Rettungsaktion Julies und ihre Gelassenheit in Erwartung des Todes scheinen dafür zu sprechen, dass Julies Motive komplexer Natur sind, doch der Prätext thematisiert dies nicht explizit. So wirft Louises

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Anspielung ein neues Licht auf Julies Handlung, die von der PhilosophieLehrerin als Selbstbestrafung einer Unschuldigen gedeutet wird. Indem die Szene in einen Kontext mit der schwierigen Situation von Louise gestellt wird, ergibt sich die Andeutung, dass beide Frauen Opfer einer männlich dominierten Gesellschaft werden, wobei Louise diese Rolle für sich ablehnt. Neben Anspielungen gibt es auch wörtliche Zitate, die direkt von den Figuren kommentiert und interpretiert werden. Als „joyeux drille onanirique“ (NJ: 82) bezeichnet J.j. folgende Passage aus einem Brief Saint-Preux’ an Julie: Si j’ose former des vœux extrêmes, ce n’est plus qu’en votre absence; mes désirs n’osant aller jusqu’à vous s’adressent à votre image, et c’est sur elle que je me venge du respect que je suis contraint de vous porter. (NJ: 81f. und (nicht kursiv) NH I: 98)

Er baut den Textteil in seinen Brief an Louise ein, die ihm ein Aktfoto geschickt hatte. Diese Parallele zum Amulett, das Julie Saint-Preux am Ende des zweiten Teils zukommen lässt, kommentiert er lakonisch: [Q]ue de salve regina et euphémismes attendrissants il [Saint-Preux, MK] employait pour faire savoir au lecteur et à son hadulcinée qu’il déchargeait en focusant une miniature de celle-ci. (NJ: 82)

Somit intensiviert der spielerische Diskurs J.j.s an dieser Stelle die Zweideutigkeit des Prätextes nicht unbedingt, sondern konkretisiert das Verdächtige an dieser Passage,218 indem er die metaphorische Ausdrucksweise denunziert, gleichzeitig jedoch ein ähnliches Verfahren anwendet. Er wendet die Metapher des Entladens für die Selbstbefriedigung an und deutet die imaginäre Komponente über die Kombination mit dem Lexem onirique an. Eine weniger sprachliche als inhaltliche Kritik übt Louise in ihrem ersten Brief an J.j., in dem sie einen Auszug aus dem Prätext abdruckt, der den ersten Kuss von Julie und Saint-Preux beschreibt: Le feu s’exhalait avec nos soupirs de nos lèvres brûlantes et mon cœur se mourait sous le poids de la volupté, quand tout à coup je te vis pâlir, fermer tes beaux yeux. (…) et tomber

218 Henri Coulet verweist in seiner Anmerkung zu dieser Passage in Rousseaus Briefroman auf die heikle Situation, in der sich Julie hier befindet: „[E]lle a bien décelé ce qu’a de suspect ce passage, mais la jeune fille doit se taire; devenue femme, elle pourra parler.“ (NH I: 474)

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en défaillance. Ainsi la frayeur étaignit le plaisir et mon bonheur ne fut qu’un éclair (NJ: 63 und (nicht kursiv) NH I: 110f.).

Louise hat in Bezug auf diese Darstellung zwei Kritikpunkte vorzubringen. Zunächst zweifelt sie aufgrund der Intensität des Dargestellten an, dass es sich nur um einen Kuss handelt.219 Zudem liest sie einen Machtanspruch des Mannes heraus, dessen Stärke und Virilität im Zitat kontrastiv zur Schwäche der Frau erscheinen. Louise zerlegt in einem Vergleich mit ihren eigenen Erfahrungen Rousseaus Passage auf sehr prosaische Weise in ihre Bestandteile und deutet damit ein umgekehrtes Kräfteverhältnis zwischen Mann und Frau an: Mais sur mes lèvres il n’y avait ni feu ni flamme et mon cœur ne ressentait si peu le poids de l’appréhension. Sans doute gardai-je les yeux fermés ou pâlis-je mais je ne tombai pas en défaillance, voulant éviter que sa frayeur ne le fît débander ou éjaculer prématurément. (NJ: 63)

Während Louise sich auf kritische Weise in Julies Rolle versetzt, stellt J.j. trotz seiner anfänglichen Abgrenzung einen Zusammenhang mit Saint-Preux dar und evoziert beispielsweise dessen Beschreibung seiner Gefühle in Julies Schlafzimmer, als er dort auf sie wartet.220 Er stellt dabei Gemeinsamkeiten fest: „Oh dans quel état chus-je. La mode change, le cul demeure.“ (NJ: 124) Auch wenn er seine sexuelle Begierde anders ausdrückt, ist er in einer ähnlichen Situation wie Saint-Preux, so dass auch an dieser Stelle der Diskurs des Prätextes als sexuell semantisiert offengelegt wird. Im Gegensatz zu Saint-Preux durchbricht Louise jedoch in diesem Fall das Lehrerin-Schüler-Verhältnis nicht und ist zudem aufgrund ihrer Ablehnung heterosexueller Beziehungen unerreichbar – J.j.s Vorbild ist somit Claire und nicht Saint-Preux: Restent les hormones. Et la pénisectomie. Oui. Vous serez julie, je serai clair, et nous enverrons promener jehan-jase chez les preux et de woolmar en orbite, vous voulez bien? (NJ: 125)

219 Sie drückt ihre Zweifel folgendermaßen aus: „Rousseau ne décrit ici que le premier baiser de l’amour. Je crois bien qu’il a dû confondre ses souvenirs!“ (NJ: 63) 220 „Toutes les parties de ton habillement présentent à mon ardente imagination celles de toi-même qu’elles recèlent: …; ces mules si mignonnes qu’un pied souple remplit sans peine […] Ô spectacle de volupté!“ (NJ: 124 und (nicht kursiv) NH I: 198)

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Schließlich verabschiedet sich J.j. mit einem wiederum „marc dudding“ gezeichneten Brief, dem er den bereits erwähnten Reisebericht und ein Gedicht von Hugo von Hofmannsthal beifügt, wobei „Die Beiden“ (vgl. NJ: 278) die unmögliche Annäherung beziehungsweise den unmöglichen Austausch zwischen Louise und J.j. auszudrücken scheint. Neben der Gegenüberstellung zwischen (natürlicher) Liebe und gesellschaftlichem Eheleben, die Gendron zu einer Reflexion über Liebe und Sexualität modifiziert, ist der zweite im Erzähluniversum des Prätextes angelegte Konflikt derjenige zwischen gläubigen Christen und (atheistischen) Philosophen, den Rousseau zu überwinden sucht, indem er sowohl Julie als auch Wolmar möglichst liebenswert und verständnisvoll zeichnet. Ziel ist es, Vorurteile abzubauen und eine Öffnung gegenüber der jeweils anderen Sichtweise zu erreichen: „Julie dévote est une leçon pour les philosophes, et Wolmar athé en est une pour les intolérants. Voilà le vrai but du livre.“ (Rousseau zitiert nach Trousson 2003: 400) Ob Wolmar durch Julies Tod zur Konversion angeregt wird, wie Rousseau angibt (vgl. ebd.: 401), bleibt offen. Die Religion spielt im Erzähluniversum des Textes zweiten Grades keine Rolle, doch scheint der Gegensatz zwischen der christlichen und der atheistischen Weltanschauung hier auf den Unterschied zwischen Literatur und Philosophie übertragen zu werden, die sowohl von J.j. als auch von Louise als Gegensatzpaar gebraucht werden. Auch wenn Louise keine existentielle Erfahrung durchlebt, die derjenigen Julies während der Hochzeitsfeier gleichkommen würde,221 scheint Louise beim Lesen von Claras Gedicht doch ein ähnlich durchdringendes Erlebnis zu haben, das ihre Entwicklung von der Philosophin zur Autorin zumindest beschleunigt. Immer wieder sagt sie sich das Gedicht vor, das in wenigen Versen das für sie Essentielle zu fassen scheint und dadurch in ihr einen Zweifel über ihre bisherigen Prioritäten auslöst: „Mais le doute s’est installé. Est-ce que je me retrouve vraiment dans ce que je fais?“ (NJ: 147) Zweifel, die vor allem durch ihre stärker werdende Kritik an einer männlich dominierten Philosophie genährt werden, die sie immer mehr als Irrtum ansieht, der sie vor sich selbst verbirgt:

221 Julie beschreibt ihre Trauung mit Wolmar als für sie revolutionäres Erlebnis: „La pureté, la dignité, la sainteté du mariage, si vivement exposées dans les paroles de l’écriture, ses chastes et sublimes devoirs si importants au bonheur, à l’ordre, à la paix […]; tout cela me fit une telle impression que je crus sentir intérieurement une révolution subite.“ (NH I: 422)

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Aujourd’hui je sais que la philo ne fut pour moi qu’un leurre, une tentative de masquer ma nudité derrière le masque du savoir, une façon d’égarer mon être dans les méandes de la pensée, de noyer mon âme dans l’objectivité des discours, d’étouffer avec une rigueur bien masculine mon imaginaire avec le garrot de la logique […] bref, un programme pour apprendre à me détourner de celle que je suis. (NJ: 223)

Mit ihrer Sinn- und Lebenskrise werden ihre Briefe poetischer und scheinen sich teilweise einer surréalistischen écriture automatique (vgl. zum Beispiel ebd.: 229f.), teilweise Kalligrammen anzunähern (vgl. zum Beispiel ebd.: 261f.). Im Laufe der Krise, die ihr regelrecht den Boden unter den Füßen wegzieht, so dass sie Clara schreibt, „[t]ous mes points de repère sont disparus. Crispée. […] L’insoluble de mon je éclatée fille de mon jeu éparpillée. […] Je cherche autre chose“ (NJ: 247), analysiert sie ihre Vergangenheit und schätzt ihre Liebe als Ausnahmesituation ein: l’amour notre exception qui contourna la règle de notre soumission ambivalences

parole de femme qui confirme la règle du silence de la femme […] (NJ: 259).

Ihre Liebe zu Clara wird zu einer Ausnahmesituation, die im sonstigen „Schweigen der Frau“ Worte möglich gemacht hat. Somit wird die Beziehung zwischen Louise und Clara zum Ausgangspunkt des Reflexionsprozesses, während dessen Louise sich bewusst wird, als Frau unterdrückt zu werden und sich nicht verwirklichen zu können. Die männlich dominierte Gesellschaft ist ein leitmotivisch auftretender Kritikpunkt in Louises Diskurs, den Joly in der Gleichung „mâle = mal“ (Joly 2003: 550) zusammenfasst. Ausdrucksform dieses männlich dominierten Systems ist für Louise nicht nur die Philosophie und das rationale Denken, sondern auch die Sprache. Darstellung der Sprache als Mittel der Macht Die Zitate aus J.j.s Briefen haben bereits gezeigt, dass Gendrons Figuren frei und spielerisch mit der französischen Sprache umgehen. Sprache wird gerade von Louise als Mittel der Perpetuierung eines männlich dominierten Systems wahrgenommen, das es zu hinterfragen und umzudeuten gilt. Auch die Beschäftigung mit Sprache findet ihren Ausgangspunkt im Prätext, denn Saint-Preux deutet an, dass Sprache nur auf inadäquate Weise seinen Zustand ausdrücken könne, doch müsse er mangels eines anderen Ausdrucksmittels

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weiterhin auf dieses zurückgreifen: „Non, dans la crainte de vous offenser encore, je n’écrirais point celle-ci, si je n’eusse écrit la première, et je ne veux pas redoubler ma faute, mais la réparer.“ (NH I: 77) Howells interpretiert diese Passage als ein Bewusstsein Saint-Preux’ beziehungsweise Rousseaus für Derridas Konzept der différance: We are constantly seeking a privileged or authentic language, which would vidicate what Derrida calls a ‚metaphysics of presence‘. But all expression is inadequate to our desire. (Howells 1986: 56)

Die Inadäquatheit von Sprache zur Übersetzung von Emotionen wird im Text zweiten Grades uminterpretiert, indem sie auf die Frau übertragen wird, die sich mangels Alternative einer für sie unpassenden, weil von und für Männern gemachten Sprache – und damit verbunden einer männlich dominierten Logik – bedienen muss, um sich auszudrücken. Schon in ihrem ersten Brief greift Louise die Kohärenz eines „texte mâle“ (NJ: 14) an und denunziert die Trennung zwischen Theorie und Praxis ironisch als „une belle fable mâle“ (ebd.: 15). Darüber hinaus kritisiert sie direkt die Sprache und zweifelt den Sinn von Claras Tagebuch an: Mais est-ce que tu ne surestimes pas la valeur des mots? Comment t’analyser en ayant recours à un outil étranger qui ne peut que ciseler davantage les angles qui depuis toujours nous blessent? Comment dévoiler cette statue soi-disant mutilée que tu es avec ton croquis mâlin! (NJ: 15)

Auch wenn sich Clara zunächst nicht vorstellen kann, wie eine „langage féminin“ (NJ: 17) beschaffen sein könnte, sieht sie die Möglichkeit, sich die Sprache anzueignen, sie umzulenken und sie für die eigenen Zwecke zu gebrauchen (ebd.). Genau dies tut sie, wenn sie, wie Moser Verrey vorhebt, beispielsweise bei der Beschreibung der gescheiterten Kommunikation mit ihrem Vater die weiblichen statt der grammatikalisch vorgeschriebenen männlichen Formen für den Plural mit zwei Subjekten unterschiedlichen Geschlechts benutzt: „Nous demeurons pourtant silencieuses l’une en face de l’autre, effrayées peut-être par les conséquences que pourraient entraîner nos confidences.“ (NJ: 28, MoserVerrey 1987: 518) Auch Louise drückt ihr Misstrauen gegenüber der Sprache aus, indem sie typographisch das weibliche Geschlecht in der Pluralbildung miteinbezieht, wo es grammatikalisch nicht vorgeschrieben ist, „[l]’enseignant-e est toujours paralysé-e, muselé-e, étouf-fé-e“ (NJ: 188), geht dabei aber nicht so weit, die gefühl-

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te Unterdrückung über die Sprache umzukehren, da sie über den Bindestrich explizit beide Geschlechter benennt. Den freiesten Umgang mit der französischen Sprache pflegt J.j., der sich genau wie Clara nicht mehr nur seinem Tagebuch anvertrauen will: „Pour la première fois, je le concèdre, je suis anheureux de ne plus confier mon absolaide puissance à mon seul journal.“ (NJ: 58) In einer Wortneubildung drückt er dabei gleichzeitig sowohl aus, dass er Bedenken hat (anxieux) als auch, dass er glücklich ist (heureux). Seine Wortneuschöpfungen sind meist kreative Wortkombinationen, die mehrere Bedeutungen vereinen, wie Moser-Verrey feststellt: „Le sentiment et le mensonge font bon ménage dans sentimenteur, tandis que le mot amourut relie l’amour et la mort.“ (Moser-Verrey 1987: 519) Die letzte Kombination lässt sich darüber hinaus auf den Prätext übertragen und fungiert als Metakritik, betont sie doch, wie eng die Liebe Julies mit ihrem Tod verbunden ist (vgl. ebd.). Im Laufe des Romans machen J.j. und Louise im Hinblick auf die Sprachverwendung eine gegensätzliche Entwicklung durch. Während ihrer Krise wendet sich Louise immer mehr von ihrer analytischen und exakten Sprachverwendung ab, zieht eine poetische und mehrdeutige Ausdrucksweise vor. Sie entzieht sich somit immer mehr der vorher denunzierten langage mâlin. Dabei imitiert sie in geringem Maße auch J.j.s Tendenz zur Wortneuschöpfung: „Moi je vis dans l’effroid.“ (NJ: 229) Um ein Gefühl auszudrücken, das sich mit Worten nicht fassen lässt und außerhalb des genau definierten Rahmens ihrer Rolle liegt, erfindet sie die „[i]ncoerrance“ (NJ: 291), welche sie mit Hilfe ihres Romans zu erkunden scheint. Der orientierungslose J.j. hingegen gibt nach zwei Jahren Asienreise222 seinen spielerisch-kreativen Stil auf und dekretiert: „Le temps du délire est chose du passé. Beaucoup d’illusions se sont dissipées. Je sais maintenant ce que je peux espérer. Cela me suffit.“ (NJ: 276) In seinem Reisebericht, der diesem letzten Brief angefügt ist, scheint er sich konsequenterweise entsprechend einer logique mâle zu verhalten, indem er von oberflächlichen Erfahrungen, Klatsch223

222 Die Orientreise, während der J.j. sich von der Obsession der unerreichbaren Frau befreit, die Louise für ihn darstellt, scheint ein Echo auf Nervals in 4.3.2 behandelte Reise zu beinhalten, basiert aber auch auf dem dominierenden Prätext, denn SaintPreux unternimmt zwischen dem dritten und dem vierten Teil eine von Milord Edouard initiierte Weltreise, um seinen Selbstmordneigungen entgegenzuwirken. 223 So berichtet J.j. Louise bespielsweise: „Amusé par ailleurs d’apprendre que quelques jours auparavant un Allemand de 22 ans, après avoir poignardé son amie

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und diversen Sex-Abenteuern berichtet, die seine Indifferenz und Respektlosigkeit gegenüber Frauen ausdrücken: [J]e fis connaissance de Tang […], jeune vierge réservée qui séduite par ma gentillesse européenne (ah ah ah) ne dut pas répéter 2 fois sa demande de me visiter le lendemain à mon hôtel. […] Tendresse grande. Je lui fis quand même un peu mal. […] Je ne la revis pas. Si tu ne me crois pas, tu peux toujours lui écrire à l’adresse suivante: […]. (NJ: 289)

Seine Zeit des Hinterfragens überkommener Normen und Überzeugungen ist scheinbar vorbei, die Annahme der konventionellen Sprache, der langage mâlin, ist der Schlusspunkt einer Entwicklung: „Le passé est mort et enterré.“ (Ebd.)224 Gleichzeitig kann diese Aussage J.j.s in anderer Bedeutung als Selbstbetrachtung des Romans gelesen werden, wenn die Unterschrift des besagten Briefes, „marc dudding“, auf Marc Gendron übertragen wird. Gendron begräbt mit seinem Roman, in dem er Rousseaus Entwicklung vom Philosophen zum Romancier nachzeichnet, im Alter von 33 Jahren seine Vergangenheit als Philosophielehrer, um sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen und sich genau wie seine Protagonistin dem Schreiben zu widmen.225 Louise ou La nouvelle Julie wird zum Roman des Schreibens, einer „[b]ris-collage“ (NJ: 190), in der Louise beziehungsweise Marc mit ihrem/seinem bisherigen Leben bricht und mit Hilfe der verschiedenen Figuren alternative Lebensentwürfe, Zweifel, Gedanken und Erinnerungen wie eine Collage zu einem neuen Gesamtwerk diskordanter Stimmen zusammenfügt. Das Schreiben der Vielstimmigkeit äußert sich im metatextuellen Potenzial des subversiven récriture-Romans, der sich einerseits kritisch auf das Wertesystem des Prätextes bezieht. Andererseits setzt Gendron Rousseau eine existentielle Notwendigkeit des Schreibens gegenüber, wenn Louise abschließend ihren Figuren eine Eigenständigkeit und Körperlichkeit zuspricht: Ils se trouvaient rarement là où je les croyais. Ils ont tellement de facilité à sauter d’une page à l’autre, à se dissimuler entre les lignes, à se réfugier dans le bavardage de la mémoire ou dans l’abri que les louanges du silence amoureusement leur tissent. J’ai pourtant

de 19, l’avait veillée pendant 3 jours, jusqu’à ce que les résidants de l’hôtel, intrigués par une certain odeur…“ (NJ: 285) 224 Die Gleichung „mâle = mal“, der J.j. nach seiner Asienreise entspricht, bezieht sich in der Ansicht der fiktiven Autorin Louise somit nicht auf das biologische, sondern auf das soziale Geschlecht. 225 Vgl. http://www.alalettre.com/international/gendron-intro.htm vom 15.02.2010.

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la certitude qu’il fallait les pourchasser et les nommer pour que, le compte rendu achevé, je sache mieux où il ne résident pas. (NJ: 290)

Indem Gendrons vielschichtiger Roman einerseits die Wirkkraft explizit als fiktional entlarvter Figuren für die (fiktive) Autorin betont und zudem über den abschließenden Eingriff der fiktionsinternen Leserin Literatur als Möglichkeit des zwischenmenschlichen Austausches darstellt, erschöpft er sich nicht in einer kritischen Auseinandersetzung mit seinem dominanten Prätext, Rousseaus Julie ou La nouvelle Héloïse, sondern inszeniert sich als Reflexionsmedium über die Funktion des Schreibens (und Lesens) fiktionaler Texte im Allgemeinen.

5. Schlussbetrachtung

In seiner Analyse der „postmodern rewrites“ sieht Lubomír Doležel das zentrale Merkmal der récriture darin, dass fiktionale und historische Persönlichkeiten in zum Teil schockierend neuen Umfeldern und Konstellationen gezeigt werden können. Seine Studie schließt mit einer kritischen Evaluation dieses Verfahrens, das er als wenig innovativ ansieht: But the current boom in transworld travel, and transhistorical parties has made it easy for a writer to move a fictional person from one world to another as it is for a child to move a Lego piece from one tower to another. The game is no longer exciting, and it is time to invent a new one. (Doležel 1998: 226)

Die Untersuchung der récriture im Québecer Roman ab 1980 hat jedoch gezeigt, dass die verschiedenen Verfahren zur Wiederaufnahme und Inszenierung eines Erzähluniversums in einem neuen Text in ihrer Komplexität das Versetzen einer Figur in einen anderen Text beziehungsweise eines Legosteins auf einen anderen Spielzeugturm weit übersteigen. Dies liegt daran, dass die Elemente des Textes eben nicht einem Rohmaterial „Erzähltext“ entnommen und in einen anderen versetzt werden, sondern dass es sich um einen zweistufigen Prozess handelt, der in eine Phase der Interpretation und in eine Phase der (Neu-)Kreation unterteilt werden kann. Nach der Beschäftigung mit dem ersten Erzähluniversum werden Elemente aus diesem in einem neuen Erzähluniversum noch einmal aufgenommen und verarbeitet. Zur Beschreibung dieser Bewegung wurde der Begriff der ‚inszenatorischen récriture‘ herangezogen, denn ähnlich wie Bühnenaufführungen von Schrifttexten bilden récriture-Texte eine neue Gestaltung eines bereits vorhandenen Textes. Im Gegensatz zum Bühnentext, der den Schrifttext auf die Theaterbühne bringt, verbleiben die récriture-Romane jedoch im gleichen Zeichensystem, um den Prätext in Szene zu setzen. Sie existieren dabei nicht an Stelle, sondern neben dem bereits bestehenden „Erzählgebäude“ und kommuni-

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zieren ihren Status als Text zweiten Grades ausdrücklich, verstehen sie sich doch als offene Erzähluniversen, die das Bedeutungsangebot eines Prätextes reflektieren. Dass es sich bei der récriture um die literarische Rekonstruktion eines Primärtextes handelt, wird dabei über Intertextualitätssignale, die sowohl explizit als auch implizit auf den Prätext verweisen, angezeigt. Diese Markierungen sind es, die beim Leser zu einer Aktivierung von Schemata führen, welche die lecture palimpsestueuse ermöglichen. Folge ist, dass der récriture-Roman auf der Folie seines Prätextes rezipiert wird. Ähnlich wie der theaterkundige Zuschauer Schrift- und Bühnentext vergleicht, erfolgt bei der Lektüre eines récriture-Romans ein ständiger Abgleich mit den Begebenheiten aus dem vorgelagerten Erzähluniversum. Das metatextuelle Potenzial der récriture-Romane realisiert sich in einem Kommunikationsprozess, da der Leser die Interaktion und damit das Reflexionspotenzial zwischen den Texten verwirklicht. Dabei zeigt der erste Typ der erarbeiteten Typologie die Verarbeitung der Botschaft durch den Empfänger, das heißt des Primärtextes durch den Autor des Sekundärtextes, in ihrem Resultat. Der zweite Typ spiegelt darüber hinaus den Prozess der Interpretation im Resultat wider, indem die Rezeption anhand eines textinternen Lesers verdoppelt wird. Die dritte Form spinnt die Kette weiter und vereinigt als Produkt der récriture sowohl den Prozess als auch des Resultat durch die fiktionsinterne Abbildung des Schreibprozesses. Insgesamt verkörpert die dritte Form der récriture durch die textinterne Abbildung der produktiven Lektüre an sich somit den kommunikativen Aspekt von Romanen, stellt sie doch textintern die Einbettung eines Romans in einen Kommunikationsprozess dar. Das Ergebnis der Auseinandersetzung mit Prätexten ist trotz der unterschiedlichen Mechanismen in allen drei Fällen der récriture ein Meta-Roman, weil eine kognitive Aktivität angeregt wird, die auf die kritische Auseinandersetzung mit Literatur im und durch den Roman abzielt. Diese erschöpft sich, wie gezeigt, nicht in der Zurschaustellung der Fiktionalität (Metafiktion) oder der Thematisierung des Erzählprozesses (Metanarration) des jeweiligen Romans beziehungsweise seines Prätextes. Vielmehr konnte, wie bereits angedeutet, für die récriture in Québec ab 1980 eine starke Diversifizierung des metatextuellen Potenzials festgestellt werden, dessen wichtigste Spielarten im Folgenden typübergreifend zusammengefasst werden. Die Formen der Reflexion des Romans im und durch den récriture-Roman umfassen einerseits eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den unterliegenden Werte- und Normensystemen des Prätextes und andererseits in literaturtheoretischer Hinsicht Elemente der Produktions- und der Rezeptionsebene. In Bezug auf die inhaltliche Beschäftigung mit dem Prätext können für die untersuchten Romane zwei Erscheinungsformen unterschieden werden, die da-

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nach differenziert werden können, ob die Kritik den Prätext betrifft oder als übergreifende Zeitkritik auftritt, wobei diese Stoßrichtungen in den einzelnen Romanen ineinandergreifen. Die récriture kann, wie gesehen, über eine Transposition rückwirkend und kontrastiv die Gegebenheiten im Prätext des Erzähluniversums evaluieren. Diese inhaltlich-subversive Ausprägung, die eine Normenkritik des Prätextes durchführt, ist im Untersuchungszeitraum zwischen 1980 und 2007 vor allem in Form einer (r)écriture au féminin aufzufinden. So konnte eine primär kritische – verstanden im normativen Sinne – Herangehensweise in Monique LaRues Roman Copies conformes nachgewiesen werden, der die Darstellung der femme fatale im Primärtext The Maltese Falcon parodiert. In ihrer den Untersuchungszeitraum einleitenden Umdeutung von Platons Gastmahl, Le pique-nique sur l’Acropole, kritisiert Louky Bersianik einen patriarchalischen Diskurs und greift dabei zwei Komponenten auf, die auch in späteren dominant subversiven récriture-Romanen verhandelt werden. Die kritische Hinterfragung von überkommenen Rollenmustern, die es zu überwinden gelte, findet sich auch in Sylvie Desrosiers’ Romanpaar, in dem die weibliche mit einer männlichen Hauptfigur ausgetauscht wird und Rollenzuschreibungen auf spielerische Weise in übergeordneten Werten aufgelöst werden. Das zweite Element der feministisch orientierten Kritik, das der Sprache als Werkzeug eines dominant männlichen Diskurses gilt, ist auch in Gendrons Louise ou La nouvelle Julie nachzuweisen. Gleichzeitig legt dieser Text die Zwänge offen, denen die Frauenfiguren in seinem Prätext, Rousseaus Julie ou La nouvelle Héloïse unterworfen sind. Eine negative Rückwirkung auf den Prätext kann somit entstehen, wenn anhand der récriture unterliegende Werturteile offengelegt werden, die einer späteren Lektüre des Prätextes abträglich sind, da sie nicht mehr den vorherrschenden Normen entsprechen. Gerade die Beispiele der Sonderform récritureréécriture fordern diese negative Rückwirkung heraus, indem sie paratextuell als Ersatz für den Prätext bezeichnet werden. So macht schon der Titel von Ferrons Sekundärtext, Les confitures de coings (anciennement, la nuit) et autres textes, deutlich, dass er an die Stelle des Prätextes gestellt wird, dessen politische Implikationen Ferron, wie gezeigt, nicht mehr teilte. Eine Sonderrolle in Bezug auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Prätext stellt Maginis Quenamican dar, bekräftigt der Roman doch den Toleranzdiskurs, den Gérard de Nerval in Voyage en Orient an den Tag legt, und ist somit nicht als subversive, sondern als bestätigende Form der récriture einzuordnen, die zudem die Aktualität der im Prätext dargestellten Problematik unterstreicht, das heißt eine allgemeinere Zeitkritik skizziert. Eine explizite Zeitkritik, die über die zeitliche Transposition des Prätextes erreicht wird und über den Anpassungsmechanismus auf der Selektionsebene

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neue Themen aufwirft, kann in Désalliers’ Roman, Un monde de papier, festgestellt werden, der Goethes Faust als Rettungsanker inszeniert und sich als Plädoyer für den Wert der Hochkultur lesen lässt. Es entsteht eine positive Rückwirkung auf den Prätext, wenn dieser durch die Aufnahme in einem zeitgenössischen Werk bekräftigt wird oder seine Aktualität bestätigt, wie die Identifikation des Protagonisten aus Vaillancourts La source opale mit Buzzatis Leutnant Drogo illustriert. Überdies können bisher verborgene Bedeutungsdimensionen hervorgehoben werden, so dass eine Lektüre des Prätextes unter neuen Gesichtspunkten herausgefordert wird. Nicht nur herausgefordert, sondern durchgeführt wird beispielsweise die psychokritische Lektüre von La Rocques Serge d’entre les morts in Bessettes den Untersuchungszeitraum einleitenden Roman Le semestre. Insgesamt stellt diese Form einer auf extensities (vgl. Moraru 2001) basierenden récriture aber keinesfalls die vorherrschende Dimension im Untersuchungskorpus dar. So positionieren sich die untersuchten récriture-Romane vor allem als literarische „critique en acte“ (Genette 1982: 450), indem sie im Roman in unterschiedlicher Intensität Fragen zu verschiedenen Aspekten narrativer Literatur aufwerfen. Reflektiert oder betrachtet werden in den untersuchten Romanen insbesondere die Gattungszuordnung und die Komponenten der Makrostruktur fiktionaler Erzähltexte, die Unterschiede zwischen faktualen und fiktionalen Texten, die Ausmodellierung literarischer Figuren, das Wirkungspotenzial von Literatur für die Leser, die Bedeutung des Autors sowie die Annahme einer Abgeschlossenheit und Originalität literarischer Werke. So bieten Dany Laferrières Vers le sud und Robert Lalondes L’Ogre de Grand Remous eine Reflexion über die Gattungsproblematik an. Während Laferrière mit der rezeptionslenkenden Wirkung von Gattungsangaben spielt und in einer Art Stilübung Kohärenz stiftende Strategien erprobt, um aus vielen Geschichten eine Geschichte entstehen zu lassen, lässt Lalonde ein Märchen mit einem Roman zusammenprallen. Die realistische Interpretation, die sein Protagonist Perraults „Le Petit Poucet“ angedeihen lässt, verdeutlicht im Kontrast zum Erzähluniversum des Romans die unterliegenden Funktionsmechanismen der Gattung Märchen. Den hybriden und Gattungsgrenzen überschreitenden Charakter des Romans als „Laboratorium des Erzählens“ (Bauer 2005: 9) verdeutlicht Hubert Aquin schon in Neige noire, einem vor dem Untersuchungszeitraum entstandenen Text, der unter der Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ ein fiktives Drehbuch präsentiert, das wiederum auf einem Drama basiert. Weitere Gattungen, deren Implikationen über die récriture offengelegt werden können, betreffen den autobiografischen Reisebericht sowie den Briefroman. Sowohl in Maginis Quenamican als auch in Gendrons Louise ou La nouvelle Héloïse wird dabei der

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im jeweiligen Prätext angelegte ambivalente Faktualitätsanspruch, der schon in Voyage en Orient und Julie ou La nouvelle Héloïse problematisiert wird, auf spielerische Weise ausgehebelt. Neben Gattungsspezifika kann anhand der récriture über veränderte Makrostrukturen die Vielgestaltigkeit der Gattung des Romans betrachtet werden. Die Mehrzahl der untersuchten Romane führt erhebliche Modifikationen auf der Konfigurationsebene ein und verdeutlicht dadurch die Untrennbarkeit von Vermittlungs- und Geschichtsebene bei der Entfaltung eines Plots. Dieses Verfahren wendet schon Le semestre von Bessette, indem die assoziative Struktur des Prätextes, Serge d’entre les morts, über die explizit argumentative Erzählweise seines bilanzierenden Sekundärtextes betont. Die Konfigurationsebene steht zudem beispielsweise im Mittelpunkt der Abweichungen, die Les fous de bassan im Vergleich zu The Sound and the Fury aufweist. So fasst Hébert wichtige Elemente aus Faulkners Prätext in die Makrostruktur eines Detektivromans ein und lenkt dadurch die Aufmerksamkeit auf das Prinzip der Unausweichlichkeit, welches im weniger zielgerichteten Prätext Faulkners postuliert wird. Auffällig ist Bezug auf die Reflexion der Makrostruktur, dass beide untersuchten Wiederaufnahmen von Alice in Wonderland beziehungsweise Through the Looking-Glass, Sénécals Aliss und Désalliers Un monde de papier, eine im Kontrast zu den Prätexten deutlich teleologische Konfiguration verwenden. Diese ist jedoch von einer signifikanten Änderung auf der Selektionsebene nicht zu trennen, denn indem das übernatürliche Element reduziert und gleichzeitig die Grausamkeit gesteigert wird – dies bei Aliss bis in die Perversion –, entsteht eine Such-Struktur, in der beide Helden zielgerichtet vorgehen. In den Erscheinungsformen des dritten Typs der récriture verändert sich die Makrostruktur im Vergleich zum Prätext schon allein über die Aufspaltung des Erzähluniversums in mehrere Fiktionsebenen, die vom textinternen récritureProzess gefordert wird und zu einem komplexen Ineinandergreifen des Erzähluniversums des Prätextes mit den beiden Fiktionsebenen des Sekundärtextes führen kann. Am wenigsten ausgeprägt ist die Abweichung in Gendrons Louise ou La nouvelle Héloïse. Der Sekundärtext nimmt die Form des Briefromans auf und führt eine zweite Fiktionsebene nur über den letzten Brief ein, der von einer Leserin des – soeben als fiktional entlarvten – Briefwechsels verfasst ist. Im Gegensatz dazu inszenieren Magini und Vaillancourt die récriture auf zwei quantitativ in etwa gleichwertigen Textebenen und führen über eine „Was wäre, wenn…“-Logik spielerisch die Möglichkeit unmöglicher, das heißt in sich widersprüchlicher fiktionaler Welten vor. Die Linearität des jeweiligen Prätextes betont beim virtuellen Mitlesen die Brüche und Abwandlungen, die im Text

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zweiten Grades durchgeführt werden. Rückwirkend wird gerade in Vaillancourts La source opale die Unvollständigkeit von Erzähluniversen betont, die eine Fülle alternativer Handlungsverläufe über virtuelle Plotelemente andeuten. Auch die Perspektivenstruktur des Romans kann hinsichtlich ihrer Funktion reflektiert werden. Die veränderte Perspektivierung, welche die récriture der Alice-Romane im Vergleich zu den Prätexten jeweils auszeichnet, wirkt beispielsweise spannungssteigernd, da mit der nun internen Fokalisierung jeweils ein Eindruck der Unmittelbarkeit entsteht. Die beschränkte Wahrnehmungsperspektive ist zudem für die Form der Initiationsgeschichte, die Aliss darstellt, unabdingbar. In L’Ogre de Grand Remous werden die Mit-Sicht und die damit einhergehende limitierte Wahrnehmung überdies eingesetzt, um die innere gegenüber der äußeren Handlung hervorzuheben und so auf die fehlende psychologische Dimension des Märchentextes aufmerksam zu machen. Gleichzeitig entsteht durch die interne Fokalisierung bei homodiegetischem Erzählen die Möglichkeit, einen unzuverlässigen Erzähler einzusetzen. In L’Ogre de Grand Remous entsteht mit Hilfe eines derartigen unzuverlässigen Erzählers Unsicherheit über den (fiktionsinternen) Wahrheitsgehalt der getätigten Aussagen beim Leser und eine verstärkte Betonung des Konstruktcharakters des Romans, da die Kongruenz zwischen TAW und NRW der Vermittlungsinstanz laufend überprüft werden muss. Eine Reflexion über Plotmuster, die sowohl die Konfiguration und die Perspektivierung beinhaltet, stößt beispielsweise Desrosiers’ spiegelbildliches Romanpaar an, indem eine weiblich konnotierte Plotstruktur mit einem männlichen Protagonisten wiederholt wird. In den Vordergrund rückt durch dieses Verfahren, inwiefern Geschlechterrollen auch in Bezug auf die erzählerische Vermittlung und Fokalisierung tradiert werden. Den Plot in seiner Gesamtheit betreffen Reflexionen über den ontologischen Status des Erzähluniversums. So kann die récriture auf die Charakteristika von fiktionalen Welten und die Unterschiede zu faktualen Texten einerseits und zur „Realität“ andererseits aufmerksam machen, indem explizit konkurrierende Erzähluniversen entworfen werden. Dies ist einerseits bei der récriture-réécriture der Fall, andererseits aber auch bei den untersuchten Formen der makrotextuellen récriture, die in experimentell anmutender Form nur ein Element der Selektionsebene modifizieren. Die Übereinstimmungen auf der Handlungsebene führen trotz der spiegelbildlichen Figurenkonstellation in Desrosiers’ Romanpaar genauso zu einem Fiktionsbruch wie die veränderte Konfiguration in Laferrières récriture von La chair du maître. Die Fiktionalität des Erzähluniversums kann noch deutlicher angezeigt werden, wenn metafiktionale Verfahren wie Widersprüche und Brüche die Möglichkeit der Unmöglichkeit fiktionaler Erzähluni-

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versen demonstrieren. Während jedoch die fiktionsinternen Widersprüche in La source opale und die Metalepse in Gagnons Almazar dans la cité den fiktionalen Status des jeweiligen Erzähluniversums bloßlegen, gebraucht der letztgenannte Roman darüber hinaus Strategien, die die Abgrenzung zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf spielerische Weise problematisieren, indem das Konzept einer „echten Fälschung“ eingeführt wird. Noch deutlicher wird die Grenze zwischen fiktionalen und faktualen Texten in Maginis Quenamican untergraben, der über die Inszenierung einer fiktionsintern zunächst als authentisch präsentierten Reise Nervals nach Mexiko den Wahrheitsgehalt des Prätextes hinterfragt. Neben Gattungszuordnungen sowie der Konfiguration und Perspektivierung des gesamten Plots und seiner Stellung in Bezug auf die außertextuelle Welt können auch einzelne Elemente des Erzähluniversums kritisch reflektiert werden. Es hat sich gezeigt, dass in allen drei Formen der récriture die Figuren ein beliebter Ansatzpunkt für Modifikationen sind, so dass sich eine Reflexion über die Ausmodellierung literarischer Figuren als wesentliches Merkmal der récriture erweist. Dabei siedelt sich das Verhältnis zwischen den Figuren aus dem Prätext und den Charakteren im Text zweiten Grades in einem weiten Spektrum an. Das Konstrukt eines Geschlechterkontrastes in Retour à Lointainville bildet dabei eine Ausnahme genauso wie die fiktive Identität des Mexiko-Fahrers aus Quenamican mit Gérard de Nerval. Maginis Roman zeigt jedoch, dass Reflexionen über Bewohner der Erzähluniversen die Person des Autors einbeziehen können, wobei die interpretationslenkende Reflexion zur Intention des Autors des Prätextes, wie sie im ersten Typ in Aliss anhand des Alter Egos von Lewis Carroll eingeführt wird, einen Einzelfall darstellt. Die häufigsten Relationen betreffen eine ausschließlich namentliche Übereinstimmung, das heißt eine Pseudo-Identität oder eine Homonymie beziehungsweise Quasi-Identität, die erst im Laufe der Plotentfaltung widerlegt werden kann. Die charakterlichen Abweichungen in der Figurenanlage, auf die der Leser im Laufe der Lektüre stößt, stehen dabei meist übereinstimmenden Elementen gegenüber. Indem an mentale Modelle literarischer Figuren aus dem Prätext angeknüpft und gleichzeitig Distanz zu ihnen hergestellt wird, können im Sinne des Dialogizitäts-Prinzips die Eigenschaften der entsprechenden Figur aus dem Prätext umso deutlicher hervorgehoben werden. Hier kann zunächst Kritik an der unrealistischen Ausgestaltung einer Figur geübt werden. Dies betrifft beispielsweise die groteske Überzeichnung der unnahbaren femme fatale Brigid O’Shaugnessy aus The Maltese Falcon in der alternden Brigid O’Doorsey in Copies Conformes. Explizit äußert Julien, die Entsprechung von Petit Poucet in L’Ogre de Grand Remous, derartige Zweifel, wenn er die fehlende Angst der Märchenfigur, mit der er sich identifiziert, als

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unmöglich ansieht. Eine vereindeutigende Charakterisierung des Protagonisten aus dem Prätext führen insbesondere Gagnons Almazar dans la cité und Vaillancourts La source opale durch. Indem Gagnons Protagonist sich Don Quichotte auf sehr rationale Weise aneignet, um seine Machenschaften zu rechtfertigen, betont er rückwirkend und implizit die Menschlichkeit und den Idealismus Don Quichottes, der nicht aus Eigennutz handelt. Vaillancourt inszeniert in seinem konkurrierenden Erzähluniversum zu Le désert des Tartares einen Leutnant Drogo, dem es gelingt, seinem Leben einen Sinn zu geben, so dass rückwirkend das Augenmerk auf die Chancen auf sinnstiftende Erfahrungen gelegt wird, die Buzzatis Drogo ungenutzt verstreichen lässt. Darüber hinaus kann über die Inszenierung einer Figur, die sich mit einem literarischen Vorbild identifiziert, auch das Wirkpotenzial fiktionaler Welten in der außertextuellen Welt veranschaulicht werden. Gerade im zweiten Erscheinungstyp der récriture, der die Rezeption des Prätextes inszeniert, können die Figuren über die Auseinandersetzung mit dem literarischen Vorbild Erkenntnisse generieren, die die Figurendomäne und damit das eigene Handeln beeinflussen können. Somit positionieren sich die untersuchten récriture-Romane gerade des zweiten und dritten Typs als Fürsprecher für die Wirkmächtigkeit fiktionaler Texte und inszenieren das Lesen als sinnstiftend oder sogar als lebensrettend, wie im Falle von Désalliers’ Un monde de papier. Auch im dritten Typ der récriture finden sich Reflexionen über den Leseprozess, denn in Maginis Quenamican wird insbesondere die kreative Komponente des Lesens hervorgehoben und explizit darauf hingewiesen, dass der Leser das im Text angelegte Erzähluniversum im Rezeptionsprozess aktualisieren und damit „in die Wirklichkeit“ überführen kann. Die kreative Komponente des Leseprozesses kann sich dabei in einer Instrumentalisierung des Prätextes äußern, wie unter anderem in Aliss und in Almazar dans la cité dargestellt, deren Protagonisten das Bedeutungsangebot des jeweiligen Prätextes in einer Form aktualisieren, die ihren eigenen Bedürfnissen entgegenkommt. Die récriture als produktive Lektüre bietet darüber hinaus die Möglichkeit, das kreative Potenzial des Leseprozesses in einem neuen Roman zu materialisieren, was im dritten Typ der récriture die Gestalt einer Inszenierung des (Wieder-)Schreibprozesses im Text zweiten Grades annimmt. Gerade die gesteigerte Metaisierungsbewegung in dieser hochgradig selbstreflexiven Erscheinungsform der récriture kann als ein Plädoyer für die „Wiederauferstehung“ des Autors unter verändertem Vorzeichen gelesen werden, führt sie doch eine Reflexion über den Anteil des Autors am Erzähluniversum ein. Diese demonstrative Zurschaustellung der eigenen Funktionslogik klärt sich in Quenamican und Louise ou La nouvelle Julie erst am Ende der Lektüre auf, wodurch jeweils der fiktionsinterne

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Urheber in seiner Rolle als Schöpfer des Erzähluniversums in den Vordergrund gerückt wird. Der Text zweiten Grades veranschaulicht jeweils den Prozess des Wirksamwerdens des Prätexts innerhalb eines neuen Erzähluniversums und rückt den Erzählprozess in den Vordergrund, dessen Sinnstiftungspotenzial hervorgehoben wird. Das Schreiben erweist sich als identitätsstiftend für die Protagonisten, die jeweils eine Krise bewältigen, indem sie sich einen Prätext für ihre Zwecke aneignen. Die Reflexion über die Funktion des Erzählens, das heißt über das Kreieren eines fiktionalen Universums, die in Quenamican inszeniert wird, ist dabei nicht unbedingt an die Materialisierung in einem Schrifttext gebunden. Indem der Protagonist sein zerstörtes Manuskript, eine récriture von Voyage en Orient, mental neu erschafft, zeigt sich die schöpferische Leistung und die nahezu therapeutische Wirkung des Erzählprozesses an sich. In diesem Zusammenhang ist auch das Zustandekommen der Erzähluniversen als Reflexionsgegenstand zu nennen, da es Aufschluss über das Selbstverständnis einiger Romanautoren geben kann. Wenn die Bedeutung der Lektüre und der eigenen Erlebnisse für die eigene Kreation inszeniert wird, können récriture-Romane als Plädoyer für ein Verständnis des Schreibens als produktive Lektüre gelesen werden. Der Status dieser Publikationen als Literatur zweiten Grades erfährt dabei oft eine Reflexion, die sich beispielsweise in La source opale in den Skrupeln äußert, welche der schreibende Protagonist empfindet, als er Buzzatis Prätext in seiner récriture verändert, um sie an seine Bedürfnisse anzupassen. Verbunden ist mit dieser Fragestellung der Rechtmäßigkeit einer modifizierenden Wiederaufnahme in einem neuen Erzähluniversum eine Reflexion über den Status der Abgeschlossenheit eines literarischen Werks und der Möglichkeit eines „Originalwerks“. Die Kategorien des positiv besetzten Originals und des negativ besetzten „Abklatsches“ beziehungsweise des kreativen Autors und des parasitären Nachahmers wurden teilweise ausgehebelt, problematisiert oder kommentiert. Besonders eindringlich konnte dies an Laferrières spielerischer Wiederaufnahme eines eigenen Textes in Vers le sud nachgewiesen werden, die sehr provokativ einem Verständnis des fiktionalen Textes als in sich abgeschlossenes Werk eine Absage erteilt. Gleichzeitig kann eine lecture palimpsestueuse von Laferrières Textpaar eine Reflexion über den Status des literarischen Werkes als kommerzielles Produkt anregen, dessen Verkaufserlös den Lebensunterhalt des Autors sichert. Die Untersuchung der neuesten Ausprägungen der récriture in Québec ergibt somit in ihrer Gesamtschau eine Reflexion der einzelnen Bestandteile eines Erzähluniversums und ihres Zusammenspiels auch mit außertextuellen Komponenten. Dabei zeichnen sich die Beispiele des ersten Typs durch ihre weitgehend

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unidimensionale Herangehensweise aus, wobei die teilweise geringe Kommunikativität gerade der makrotextuellen récriture-Romane dadurch wettgemacht wird, dass die récriture sich auf eine dominante Strategie beschränkt, so beispielsweise die geschlechtliche Umkehrung der Figurenkonstellation in Retour à Lointainville und die veränderte Konfiguration in Vers le sud. Trotzdem ist bei einer sehr gering ausgeprägten Kommunikativität, wie sie in Laferrières Vers le sud und Héberts Les fous de bassan nachzuweisen war, die Rezeption in Form einer lecture relationnelle nicht unbedingt die häufigste Lesart. Indem diese Werke demonstrieren, dass sie sowohl unabhängig als auch in ihrer Funktion als Romane zweiten Grades rezipiert werden können, verdeutlichen sie die Vielfalt der möglichen Lesarten, die für die vielschichtige Gattung des Romans charakteristisch ist. Genau wie ihr Prätext sind diese Romane keine gesetzten Einheiten, sondern konstruierte und reichhaltige Bedeutungsangebote. Dieses vielgestaltige Interpretationsangebot des Prätextes nehmen die récritureRomane an, um es zu illustrieren, zu kommentieren, zu hinterfragen oder zu bestätigen, stellen jedoch für den Leser wiederum ein Bedeutungsangebot dar, das verschiedentlich realisiert werden kann. Die Romane des ersten Typs werden nur dann zu Meta-Romanen, wenn der Leser die implizite Selbstreflexion als solche erkennt. Ob sich diese Werke also eher am Pol der Heteroreferenz ansiedeln oder am Meta-Pol bewegen (vgl. Wolf 2007: 31), das heißt, ob sie als Wirklichkeitskonstruktion oder als eine Zurschaustellung dieser gelesen werden, entscheidet der Rezipient, dem es in diesem Fall auch offensteht, den Roman ausschließlich als „Literatur ersten Grades“ zu lesen. Die Romane des zweiten Typs der hier betrachteten récriture erfahren dahingehend eine Steigerung des metatextuellen Potenzials, dass hier der Prätext innerhalb des Romans zweiten Grades auch kommentiert und kontextualisiert werden kann. Beim dritten Typ der récriture ist eine Ansiedlung am ReferenzPol nicht mehr möglich, kommt es doch zur unübersehbaren Abbildung des Schöpfungsprozesses im Roman. Die récriture des dritten Typs ist insgesamt die am breitesten aufgestellte Form der Metaisierung im Untersuchungskorpus, spiegelt sie doch den Schreib- und Leseprozess wider und bewirkt Reflexionen über verschiedene Komponenten der Romanproduktion und -rezeption. Im Gegensatz zu den anderen Typen führt sie diese darüber hinaus gleichzeitig anhand des schreibenden und lesenden Protagonisten vor, spiegelt somit ihren Konstruktionsmechanismus textintern wider. Die récriture wird im dritten Fall zu einem Handlungsmuster, das heißt zu einem Bestandteil der TAW, indem sie – zumindest in den beiden ersten Untersuchungsbeispielen, La Source opale und Quenamican, – über die wechselweise Entfaltung mit der TAW in Interaktion

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tritt und damit über die Bedeutung von Literatur im Leben eines Protagonisten reflektiert. Es bleibt jedoch offen, ob diese vielschichtigen Meta-Romane des dritten Typs eine genauso starke kognitive Aktivität anregen wie die Romane des ersten Typs. Während bei ersteren die récriture textintern verdoppelt wird, müssen letztere auf die Mitwirkung des Rezipienten setzen, der über eine lecture palimpsestueuse das metatextuelle Potenzial aktualisiert. Indem die Wirkung des metaisierenden Potenzials bei den anderen beiden Formen anhand einer Leserund/oder Schriftstellerfigur dargestellt wird, erfolgt eine Vereindeutigung. Die Auffächerung metatextueller Strategien in der zweiten und dritten Spielart der récriture führt damit zu einem Verlust an Virulenz für den Leser, dessen interpretatorische Eigenleistung weniger gefordert scheint als beim ersten Typ. Doch kann die Metatextualität gerade im dritten Typ besonders konkret ausfallen oder den Roman in einen größeren Zusammenhang stellen und übergeordnete Fragestellungen über Literatur verhandeln. In Bezug auf die Ausprägungen der récriture in Québec kann zunächst Lamontagnes Beobachtung, dass in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Internationalisierung und Diversifizierung intertextueller Bezüge eintritt (vgl. Lamontagne 2004), auch für die récriture bestätigt werden. Neben dem US-amerikanischen Intertext, der in zwei Fällen gewählt wurde, konnte im Untersuchungszeitraum die récriture von einem deutschen, einem italienischen, einem spanischen, zwei britischen und drei französischen Prätexten nachgewiesen werden. Abgesehen von den makrotextuellen Wiederaufnahmen der Québecer Texte gelten alle Prätexte als kanonisiert. Dabei spielt die Bekanntheit des Prätextes beim Hereinspielen in ein neues Erzähluniversum eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Kanonisierte Texte der Weltliteratur, wie beispielsweise Lewis Carrolls Alice-Romane, können aufgrund ihres hohen Bekanntheitsgrades weitgehend unmarkiert die unterliegende Struktur des neuen Erzähluniversums bilden. In Aliss führt die Tatsache, dass die homodiegetische Erzählinstanz die Intertextualitätssignale, die sich ihr gegenüber als Elemente ihrer TAW äußern, nicht entschlüsseln kann, gar zu einem Effekt der dramatischen Ironie. Als in Bezug auf das Québecer Lesepublikum weniger bekannt eingestufte Prätexte wie Buzzatis Tartarenwüste oder Goethes Faust werden für den Leser fiktionsintern rekapituliert, um eine lecture palimpsestueuse zumindest ansatzweise auch Lesern zu ermöglichen, die den Prätext nicht kennen. Insgesamt konnte anhand der Untersuchung der récriture eine Strömung des Québecer Romanschaffens betrachtet werden, die sich einem Einschreiben in die Weltliteratur nach Goethe’schem Verständnis widmet. Sie schafft eine grenz-

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überschreitende Literatur, die sich völlig vom nationalliterarischen Denken eines Camille Roy oder Abbé Casgrain gelöst hat. Gleichzeitig verdeutlicht die Auswahl der neugeschriebenen Werke eine Konzentration auf Europa und Nordamerika, wobei es im Untersuchungskorpus nicht zu einer Auseinandersetzung mit anglokanadischen Autoren kommt. Hier stellt sich die Frage, ob diese Aussparung eine Eigenart der récriture als tiefenintensive Sonderform der Intertextualität ist oder ob dieser Befund für intertextuelle Beziehungen zwischen der anglophonen und frankophonen Literatur Kanadas im Allgemeinen gilt, ob die beiden Literaturen somit im Hinblick auf die Intertextualität im übertragenen Sinn immer noch mit Hugh MacLennan (1945) als Two Solitudes zu bezeichnen sind. Die Beschäftigung mit dem Québecer Intertext beschränkt sich im Untersuchungskorpus – abgesehen von Bessettes kritischer Auseinandersetzung mit La Rocques Serge d’entre les morts, deren literatursoziologische Implikationen angedeutet wurden – auf die makrotextuelle Ausprägung der récriture, das heißt auf das Wiederschreiben eigener Werke im ersten Modus der récriture. Die kreativen Umformungen von Laferrière und Desrosiers verfügen jedoch über ein sehr viel höheres metatextuelles Potenzial als die schon früher nachgewiesene Grenzform der récriture-réécriture, bei der ein Autor ein eigenes Werk umschreibt, da es nicht mehr seinen Ansprüchen genügt oder seinen Überzeugungen entspricht. Im historischen Überblick konnte darüber hinaus anhand von Savards Menaud, maître-draveur (1937) gezeigt werden, dass die Literatur aus Québec in Québec nicht erst seit den sechziger Jahren kreativ verarbeitet wird. Die summarische diachrone Betrachtung der verschiedenen Ausprägungen der récriture hat darüber hinaus ergeben, dass der dritte Typ der récriture vor 1980 eine Ausnahme ist, während die Darstellung einer Textrezeption innerhalb eines Erzähluniversums, die im zweiten Typ vorherrscht, beispielsweise schon in Savards Menaud, maître-draveur nachzuweisen ist. Dennoch kann auch für die zweite Form der récriture eine zeitliche Entwicklung festgestellt werden. So scheint sich die kritische Rezeption im engeren Sinn, welche in Le semestre fast die Grenze zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung überschreitet, erst ab den achtziger Jahren zu etablieren. Diese Romane situieren sich in einer oft als postmodern bezeichneten Auseinandersetzung mit bestehenden literarischen Werken und durchbrechen beziehungsweise dramatisieren die Grenze zwischen Fiktion und Literaturkritik. Dies tun sie, indem sie ihren Konstruktcharakter deutlich herausstellen und sich selbst als fiktionale Texte markieren. Dabei reihen sich die Meta-Romane, die in der Untersuchung der récriture in Québec analysiert wurden, in eine übergreifende Metaisierungsbewegung des Romans ein. Zwar ist die Einführung einer Meta-Ebene innerhalb des Romans keine Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts, konnten doch metafiktionale und me-

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tanarrative Elemente schon in Don Quijote nachgewiesen werden. Dennoch tritt sie verstärkt in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf (vgl. Waugh 1995: 42). Die Thematisierung des Romans im und durch den Roman beziehungsweise des Erzählens im und durch das Erzählen in der Québecer Literatur ist dabei kein Phänomen, das auf récriture-Romane beschränkt bliebe. Davon zeugen die zahlreichen schreibenden Protagonisten in den Romanen von Québecer Schriftstellern wie Jacques Godbout, Régine Robin, Jacques Poulin oder Madeleine Ouellette-Michalska. Robin und Ouellette-Michalska verfolgen dabei den Ansatz einer „historiographic metafiction“1 , wie sie Linda Hutcheon (1985) als Prototyp des postmodernen Schreibens definiert hat: Historiographic metafiction […] keeps distinct its formal auto-representation and its historical context, and in so doing problematizes the very possibility of historical knowledge, because there is no reconciliation, no dialectic here – just unresolved contradiction. (Hutcheon 1985: 106)

Das kontradiktorische Element, das den historiographischen Metafiktionen laut Hutcheon inhärent ist, und dazu genutzt wird, einer einheitlichen Repräsentation der Welt im Sinne eines grand récit zuwiderzulaufen, findet sich auch in récriture-Romanen. Ähnlich wie zum Beispiel der Nouveau Roman formulieren diese Romane in Form von in sich widersprüchlichen Erzähluniversen eine Absage an die realistische Abbildungsfunktion des Romans. Anhand von unmöglichen fiktionalen Welten, wie sie beispielsweise in La source opale und Quenamican abgebildet werden, veranschaulichen diese Romane die Eigengesetzlichkeit fiktionaler Literatur, die nicht an den Modalitäten der außersprachlichen Realität festhalten muss, und verweisen gleichzeitig auf die Relativität der Wahrnehmung der Realität als narratives Konstrukt. Die Auflösung einer kohärenten Geschichte (Histoire) zugunsten von vielen Geschichten (histoires), wie sie typisch für historiographische Metafiktionen nach Hutcheon ist, verlagert sich in den untersuchten Meta-Romanen darüber hinaus auf das Spannungsfeld zwischen Literaturkritik und Fiktion, stellen die récriture-Romane doch eine „critique en acte“ (Genette 1982: 450) dar, das heißt eine Kritik eines fiktionalen Textes in fiktio-

1

Der unscharfe Gebrauch des Begriffs ‚historiographische Metafiktion‘ bei Hutcheon wird beispielsweise bei Nünning (1995) kritisiert. Für die vorliegende Studie ist eine scharfe Abgrenzung zu anderen Formen des historischen Romanes jedoch weniger relevant als die Fragestellungen, die derartige hochgradig selbstreflexive Romane aufwerfen.

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nalisierter Form. Indem sie auf die narrative Ausgestaltung der Literaturkritik verweisen, heben sie die Trennung zwischen Primär- und Sekundärliteratur auf. Es würde sich anbieten, das vorgeschlagene Modell auf die Romanliteratur anderer Sprachräume zu übertragen, um einerseits die Internationalisierung von häufig als postmodern bezeichneter Literatur zu überprüfen und andererseits der Frage nachzugehen, ob derartige kritische Auseinandersetzungen mit Vorläufern auch in anderen Medien in einer hochgradig selbstreflexiven Form auftreten, oder ob bei der Rekonstruktion – wie beispielsweise im filmischen Remake oftmals der Fall – die kritische gegenüber der kommerziellen Komponente eine untergeordnete Rolle spielt. Die Untersuchung der récriture im neuesten Québecer Roman hat damit das vielgestaltige kreative Potenzial der Metaisierungstendenzen im Roman illustriert. Gerade die dritte Form der récriture stellt eine Weiterentwicklung der Spielarten der Metaisierung dar, geht sie doch weit darüber hinaus, literarische Figuren wie Legosteine aus einem fiktionalen Universum in ein anderes zu versetzen. Gleichzeitig erschöpft sich diese besonders selbstreflexive Form der récriture auch nicht in einem impliziten Diskurs über den Roman als produktive Lektüre, sondern spielt den Mechanismus der Auseinandersetzung mit bereits publizierten Texten in verfremdeter und zugespitzter Weise durch. Die entstehenden Textkompositionen veranschaulichen die Wirkkraft fiktionaler Texte auf den Leser. Indem sie die kreative Komponte der Lektüre realisieren, heben sie nicht nur die Grenze zwischen Fiktion und Kritik, sondern auch diejenige zwischen Leser und Autor auf, wie Roger Maginis Double von Gérard de Nerval bemerkt: „Tout lecteur, il me semble, pénètre dans l’intimité de celui qui écrit, et, pour peu qu’il s’oublie, il lui arrive parfois de prendre sa place!“ (Magini 2005: 55)

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Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

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Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Februar 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Roger Lüdeke (Hg.) Kommunikation im Populären Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen Oktober 2011, 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1833-4

Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6

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Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne Mai 2011, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3

Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4

Sabine Frost Whiteout Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800

Kentaro Kawashima Autobiographie und Photographie nach 1900 Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald August 2011, 314 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1764-1

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Philipp Schönthaler Negative Poetik Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész August 2011, 348 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1721-4

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Franziska Sick (Hg.) Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett

Astrid Henning Die erlesene Nation Eine Frage der Identität – Heinrich Heine im Schulunterricht in der frühen DDR

Februar 2011, 244 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1515-9

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Norbert Wichard Erzähltes Wohnen Literarische Fortschreibungen eines Diskurskomplexes im bürgerlichen Zeitalter Dezember 2011, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1899-0

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