Menschsein und Religion: Anthropologische Probleme und Perspektiven der religiösen Praxis des Christentums [1 ed.] 9783737005227, 9783847105220, 9783847005223

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Menschsein und Religion: Anthropologische Probleme und Perspektiven der religiösen Praxis des Christentums [1 ed.]
 9783737005227, 9783847105220, 9783847005223

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Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft / Vienna Forum for Theology and the Study of Religions

Band 11

Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien von Karl Baier und Christian Danz

Die Bände des Wiener Forums für Theologie und Religionswissenschaft sind peer-reviewed.

Wilfried Engemann (Hg.)

Menschsein und Religion Anthropologische Probleme und Perspektiven der religiösen Praxis des Christentums

V& R unipress Vienna University Press

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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0718 ISBN 978-3-8471-0522-0 ISBN 978-3-8470-0522-3 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0522-7 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Susan Gildersleeve Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort / Preface . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Vorträge / Lectures Wilfried Engemann 1. Als Mensch zum Vorschein kommen. Anthropologische Implikationen religiöser Praxis – Coming to the fore as a human being. Anthropological implications of religious practice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joachim Bauer 2. Die Entdeckung des „Social Brain“. Der Mensch aus neurobiologischer Sicht – The discovery of the “Social Brain”. Human beings from a neurobiological perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Wilhelm Gräb 3. Religion, eine Angelegenheit des Menschen (Spalding 1798) – Religion, a Matter for Humans (Spalding 1798) . . . . . . . . . . . . . . .

49

Ronald Grossarth-Maticek 4. Wahrnehmung der eigenen Gottesbeziehung und Gesundheit. Ergebnisse aus den Heidelberger prospektiven Interventionsstudien – Perception of one’s own relationship with God and health. Findings of the Heidelberg prospective studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gunnar Kristj‚nsson 5. Religiöse Wahrnehmung und Naturerfahrung. Anmerkungen zur lutherischen Glaubenskultur in Island – Religious perception and the experience of nature. Annotations to the Lutheran culture of belief in Iceland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Bent Flemming Nielsen 6. Körpervergessenheit? Eine Anfrage an das protestantische Religionsverständnis – Corporeal oblivion? Querying the Protestant concept of religion . . . . . 103 Christofer Frey 7. Welche Grundzüge eines Bildes vom Menschen setzt die Ethik voraus? Auswirkungen auf die soziale und die religiöse Praxis – What is the general outline of an idea of humanity implied by ethics? The effects on the social and religious practice . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Wilfried Engemann 8. Acquisition of freedom. Focusing on the art of living and the development of the will in pastoral care – Aneignung der Freiheit. Lebenskunst und Willensarbeit in der Seelsorge

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Bernhard Kirchmeier 9. “Promotion of life”. Reflections on the intentional character of religious practice – Lebensdienlichkeit. Erwägungen zum intentionalen Charakter religiöser Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Teil II: Workshops und Statements / Workshops and Statements Thomas Hirsch-Hüffell 10. Liturgische Körper : Arbeit am Gottesdienst. Überlegungen im Rückblick auf einen Workshop – Liturgical bodies: Working on worship services. Retrospective reflections on a workshop . . . . . . . . . . . . . 187 Annette Cornelia Müller 11. Schreiben als Medium einer befreienden religiösen Praxis. Überlegungen im Rückblick auf einen Workshop – Writing as a means of a liberating religious practice. Retrospective reflections on a workshop . 193 Michael Bünker 12. Evangelisches Brauchtum in Österreich. Anmerkungen zur religiösen Dimension ritueller Aspekte alltäglichen Menschseins – Protestant customs in Austria. Annotations to the religious dimension of ritual aspects of everyday human existence . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Vorwort / Preface

Wenn „der Mensch“ und „die Religion“ in einem Atemzug genannt werden, dauert es im Allgemeinen nicht lange bis davon die Rede ist, dass der Mensch zum wahren Menschsein die Religion brauche, die ihn orientiere und diszipliniere, ihn über das Klein-Klein seines Daseins hinausführe, auf Höheres und Größeres verweise und sein Leben erst zu einem erfüllten, sinnvollen Leben mache. Entsprechende Vorstellungen werden auch von der christlichen Religion seit fast 2000 Jahren Kirchengeschichte in Gottesdiensten, Seelsorge, Religionsunterricht, Schrifttum, Liedgut – und in den entsprechenden Theologien verschiedenster Epochen – vermittelt. Von daher ist es nicht überraschend und, was die moralischen und anthropologischen Implikationen dieser Sicht auf die Religion angeht, leider auch kein völliges Missverständnis, dass 500 Jahre nach der Reformation Christentum landläufig als Modus einer Problembehandlung verstanden wird: Das Problem ist der Mensch. Und die Behandlung setzt ontogenetisch an, d. h. sie nimmt sehr individuelle, existentielle Aspekte des Menschseins in den Blick: z. B. seine Schuld, seine Aussetzer in der Liebe, seinen Eigenwillen. Man versucht, durch Religion auf die innersten Entwicklungen des Einzelnen so einzuwirken, dass das „Problem Mensch“ nicht eskaliert. Jemanden für das Christsein zu gewinnen, wird häufig mit der Erwartung verbunden, ihn erst als Christen aus seiner autistischen Selbstbezüglichkeit herauslotsen zu können und ihm so die Möglichkeit zu geben, sich zu einem halbwegs verantwortlichen, sozial zumutbaren Wesen zu entwickeln. Das Christentum wird dementsprechend oft als ein komplexes Konzept der Einflussnahme auf den Menschen verstanden, das einerseits mit einem großen Repertoire von intellektuell anspruchsvollen Lehraussagen, traditionsreichen Ritualen und tiefsinnigen Texten verbunden ist, andererseits aber auch mit einem etwas mulmigen Daseinsgefühl. Dieses Gefühl kommt zum Beispiel von der zum regelmäßigen Programm gehörenden Thematisierung der unterstellten permanenten Beziehungsstörung zwischen Mensch und Gott, einem anscheinend ewig schwelenden Konfliktherd, um den man in so manchem Gottesdienst be-

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Vorwort / Preface

troffen herumsteht, den man im Abendmahl mit dem Blut Christi zu löschen versucht – um eine Woche später doch wieder damit konfrontiert zu werden, wie viel Mühe Gott mit dem Menschen hat. Es kommt vor, dass Menschen die Idee vom Menschsein, die sich in einer solchen kultischen Praxis niederschlägt, dankend ablehnen und sich von einer entsprechenden „Ausübung des Christentums“ fernhalten. Unter dem Einfluss der Emanzipations- und Säkularisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts haben sich die Bemühungen, Menschen das Christentum mit bestem Wissen und Gewissen als etwas für sie Unentbehrliches nahezubringen, stark modifiziert und in ihrem Anspruch scheinbar ermäßigt. Das schlägt sich unter anderem in einem bestimmten Konzept von Mission nieder : Viele amtliche Vertreter des Protestantismus sprechen heute fast nur noch von einem „großen Angebot“, wenn sie Menschen das Evangelium bzw. den Glauben nahebringen wollen. In Hunderten von Varianten begegnen wir immer demselben Argumentationsmuster : „Du bist angenommen wie du bist. Dafür musst du gar nichts tun. Um aber herauszufinden, wie gut das ist, musst du das alles nun auch annehmen, dich öffnen, in den Gottesdienst kommen usw.“ Wenn man dann freilich kommt, wird man früher oder später damit konfrontiert, dass mit dem eigenen Menschsein gar nichts stimmt, dass man als Mensch nicht ganz richtig ist, dass aber auch nichts so ist, wie es sein sollte. Man erfährt dann auch, dass jene Weite und Offenheit, das große Willkommen, die unendliche Liebe Gottes, gar nichts mit dem Menschen zu tun hat, der man ist, auch nichts damit, dass man mit Menschen aufgrund ihrer Würde grundsätzlich achtsam umzugehen hätte und ihnen mit einer liebenswerten Grundhaltung am ehesten gerecht würde. Jenes „große Angebot“ wird vielmehr als Ausdruck der Tatsache dargestellt, dass wir trotz unseres Menschseins – obwohl wir nicht so sind, wie wir sein sollten –, angenommen werden und deshalb, aller Wahrscheinlichkeit nach, mit dem Leben davonkommen – mit dem ewigen Leben, versteht sich. Als Zeichen der Dankbarkeit für diese Annahme wird erwartet, dass Menschen sich im Hinblick auf entscheidende Merkmale ihres Menschseins (wie Autonomie, Eigenwilligkeit und Selbstliebe) nun umso mehr bezwingen. Von daher erscheint es sowohl vielen Sympathisanten als auch den Kritikern des Christentums als schlüssig, dass einzelne Impulse der christlich-religiösen Praxis zu Haltungen und Handlungen animieren, die in einem spannungsvollen Verhältnis zum Menschsein des Menschen stehen. Diese Praxis ist zum Teil von Richtlinien durchwachsen, die voraussagbar mit dem Menschsein kollidieren; es kommt vor, dass Menschen im Laufe eines Gottesdienstes mit einem Daseinsverständnis und einem Verhaltenskodex konfrontiert werden, der sie schlechterdings nicht Mensch sein lässt.

Vorwort / Preface

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Wir kennen auch das andere: Liturgische Inszenierungen, in denen uns eine Rolle zugespielt wird, in der wir uns nicht verbiegen müssen, in denen es keinen Anlass gibt, sich mit den eigenen Empfindungen oder Gedanken fehl am Platze zu fühlen, Gespräche, in denen wir Klarheit darüber gewinnen, wer wir sind und was wir wollen, Begegnungen, nach denen wir aufrecht gehen können, Erfahrungen im Zusammenhang christlicher Religion, durch die wir als der Mensch zum Vorschein kommen, der zu unserer Identität gehört.1 Wenn das öfter geschehen soll, nicht nur zufällig oder aus Versehen, sondern bezogen auf eine entsprechende theologische Reflexion, bedarf es einer Bewusstmachung und Reformulierung einer Reihe von anthropologischen Prämissen, die in die Entwürfe von Agenden, in die Begründung sakramentaler Handlungen und in die Prinzipien seelsorglicher Gespräche eingegangen sind. Dabei geht es nicht zuletzt um den Versuch, Glauben selbst als Kategorie des Lebens im Menschsein des Menschen zu verankern und die Bedingungen einer Glaubenskultur zu benennen, die Menschen nicht nur nicht überfordert, sondern darauf angelegt ist, dass sie in ihrem Leben als Menschen zum Vorschein kommen. Ein solches Projekt versteht sich nicht von selbst. Es braucht Menschen, die die anthropologischen Unstimmigkeiten in der religiösen Praxis des Christentums aus eigener Erfahrung und Beobachtung kennen – und mit der sich darin abbildenden Entwicklung nicht zufrieden sind. Es braucht Kolleginnen und Kollegen an den Universitäten, in den Pfarrämtern, Akademien und sonstigen Praxisfeldern der Kirche, die bereit sind, sich gegebenenfalls gleich zwischen mehrere Stühle zu setzen und sich fächerübergreifend an bestimmte anthropologische Argumentationsmuster heranzuwagen, die so gut etabliert sind, dass man immer noch der Auffassung begegnet, es gäbe da gar kein Problem. Vor diesem Hintergrund hat das Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien einen internationalen Kongress veranstaltet. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen aus Deutschland, Österreich, Däne1 Es gehört zu den Anliegen des vorliegenden Buches, zu zeigen, in welchem Maße bzw. in welchem Sinne der Aspekt des Menschseins essentiell in das Selbstverständnis der Theorie und Praxis des Christentums hineingehört. Das ist einerseits in Richtung jener Bereiche von Theologie und Kirche gesprochen, die aufgrund ihres Involviertseins in die Ausbildung von Menschen für entsprechende Berufe einen Begriff von Religion haben müssen. Aber auch mit Bezug auf religionssoziologische Studien – die legitimerweise häufig mit religionskritischen Überlegungen verknüpft sind – ist es wichtig, daran zu erinnern, dass sich das Heilsinteresse des Christentums nicht auf ein eschatologisches Seelenheil reduzieren lässt, und dass „die Ideale eines gelungenen, gerundeten Lebens des Einzelnen, wie sie in der Antike verbreitet waren“, im Christentum keineswegs „annulliert“ worden sind. So zuletzt Wolfgang Eßbach: Religionssoziologie 1. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, Paderborn, 2014, 40f.

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Vorwort / Preface

mark und Island fanden sich unter dem Thema „Menschsein und Religion. Anthropologische Probleme und Perspektiven der Glaubenskultur des Christentums“ vom 9.–12. April 2014 an der Universität Wien zu Vorträgen und Workshops zusammen. Die dabei zusammengetragenen Beobachtungen, Analysen und Bewertungen waren der Anlass zu diesem Buch. Fast alle der auf dem Kongress vorgestellten Beiträge finden sich in diesem Band wieder, ergänzt um zwei weitere Texte, die in unmittelbarem inhaltlichen Zusammenhang zum Thema stehen. Der nun vorliegende Band enthält – aufgelistet entsprechend der Gliederung dieses Buches – folgende Beiträge: Von Wilfried Engemann, Praktischer Theologe an der Universität Wien, wird die These aufgestellt, dass es in der Praxis des Christentums im Kern um das Menschsein des Menschen gehe. Glauben schließe daher, recht verstanden, die Erfahrung ein, als Mensch zum Vorschein zu kommen. Der Vortrag markiert anthropologische Brennpunkte religiöser Praxis und fragt nach den Konsequenzen für eine zeitgenössische Theologie und Kirche. Joachim Bauer, Psychotherapeut und Neurobiologe an der Universität Freiburg, macht mit den Hintergründen der Überzeugung vertraut, dass das Bedürfnis nach Zuwendung, sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit zu den wichtigsten Handlungsmotiven des Menschen gehört. In seinem Beitrag mit Bezug auf die Aufklärungstheologie nimmt Wilhelm Gräb, Praktischer Theologe an der Humboldt-Universität zu Berlin, den theologischen Diskurs wieder auf. Er sieht den Sinn von Religion u. a. darin, dass diese dem Menschen eine Würde zukommen lasse, die er nicht erwerben, die er aber auch nie ganz verspielen könne. Religion ermögliche eine Art zu leben, die durch Gelassenheit, Freimut und Dankbarkeit gekennzeichnet sei. Mit Ronald Grossarth-Maticek aus Freiburg – zugleich Direktor des Belgrader European Center for Peace and Development für multidisziplinäre Studien – kommt ein Medizinsoziologe zu Wort, der sich in Langzeitstudien mit dem Zusammenhang zwischen dem Gesundheitszustand und der religiösen Praxis von Menschen befasst hat. Er legt dar, inwiefern Gesundheit und Wohlbefinden eines Menschen mit dem Selbst- und Gottesbild zusammenhängen, das die Partizipation an der jeweiligen religiösen Praxis faktisch impliziert. Gunnar Kristj‚nsson, Probst und Lutherforscher aus Reynivellir auf Island, erläutert mit Bezug auf die Glaubenskultur seines Landes, was es heißt, wenn Menschen die Aneignung von Religion mit Naturerfahrungen verbinden. Wenn diese Verbindung seitens der Theologie tabuiert wird, wird es Menschen unter Umständen erschwert, das Luthertum als lebensdienliche Religion wahrzunehmen. Zwei systematisch-theologische Beiträge stellen direkte Bezüge zu anthropologischen Diskursen in Dogmatik und Ethik her : Bent Flemming Nielsen, Systematischer Theologe der Universität Kopenhagen, geht der Körpervergessenheit des Protestantismus nach. Er versucht die daraus resultierenden Folgen

Vorwort / Preface

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für die liturgische Präsenz in den Blick zu bekommen und erläutert anhand von ritualtheoretischen Argumenten Möglichkeiten der Überwindung dieses Problems. Christopher Frey, Systematischer Theologe mit Schwerpunkt Ethik an der Universität Bochum, macht auf die ethischen Verwicklungen aufmerksam, mit denen wir zu tun bekommen, wenn wir das Menschsein des Menschen in den Fluchtpunkt religiöser Praxis stellen. Zu diesen Verwicklungen gehören die ebenso komplexen als auch widersprüchlichen Annäherungsversuche der Theologie an den Stellenwert des Willens für das Leben und die Freiheit eines Menschen. Wilfried Engemann weist in seinem Beitrag zur Relevanz der Aneignung des Willens für die Erfahrung der Gegenwärtigkeit des Lebens auf entsprechende Einseitigkeiten, Inkonsequenzen und Probleme seelsorglicher Theorie und Praxis hin – sowie auf deren Hintergründe in einzelnen Traditionssträngen des Christentums. Aus Interesse an der Offenlegung der möglichen Rolle der Religion für die Lebenskunst werden im Dialog mit dem Philosophen Peter Bieri Voraussetzungen formuliert und Vorschläge gemacht, die dazu beitragen sollen, die Auseinandersetzung mit dem Willen eines Menschen als einen unverzichtbaren Aspekt seelsorglicher Arbeit genauer in den Blick zu bekommen. Den Abschluss der Vortragstexte bildet ein Beitrag von Bernhard Kirchmeier, Assistent am Institut für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum. Er geht der Frage nach, wie der Zusammenhang von Glauben und Menschsein in Predigten zur Sprache kommt. Dabei werden zugleich einige der Konsequenzen benannt, die sich nolens volens aus den in Predigten jeweils abzeichnenden anthropologischen Prämissen für die faktische Empfehlung des Glaubens ergeben. Von den auf dem Kongress angebotenen Workshops sind zwei zu literarischen Beiträgen für dieses Buch umgestaltet worden: Annette Cornelia Müller, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Religionspädagogik des Institutes für Evangelische Theologie an der Universität Kassel, legt die Prämissen, Rahmenbedingungen und Ergebnisse eines Schreibworkshops dar, in dem die Wahrnehmung des Kontinuums zwischen Freiheit und (Selbst-)Beschränkung zum Ausgangspunkt für das Lösen von Problemen wurde. Thomas HirschHüffell, Pastor und Mitarbeiter des Gottesdienstinstituts der Nordkirche in Hamburg, erläutert im Kommentar zu seinem Workshop, was es heißt, wenn sich in einem Gottesdienst die exponierten und die mitgehenden Personen mit ihrer ganzen Figur in einen verdichteten Raum symbolischer Handlung und deutender Rede begeben. Von besonderer Bedeutung sind diejenigen körperlich-räumlichen Details liturgischer Gestaltung, die eine weichenstellende Wirkung haben, d. h. entweder zum Menschen hin oder an ihm vorbei führen. Das „Schlusswort“ dieses Buches kommt Michael Bünker, dem Bischof der Evangelischen Kirche A. B. in Österreich zu. Er weist in seinem Statement auf die

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Relevanz des Brauchtums für das Leben einer Gemeinde hin, wobei der persönlichkeitsprägenden und gemeinschaftsstiftenden Funktion des „Brauches“ eine besondere Bedeutung zukommt. Dies hat nach Ansicht Bünkers theologische Konsequenzen, nicht zuletzt im Bereich der Anthropologie. Angesichts der argumentativen Weite, die sich im Spektrum der Beiträge niederschlägt, ist von den in diesem Band versammelten Texten keine völlige Kohärenz zu erwarten. Dass „Menschsein und Religion“ für vier Tage in den Fokus der Betrachtung gestellt wurden, bedeutete erst recht nicht, dass sich die Referentinnen und Referenten schließlich zu einer „Kongressmeinung“ hätten durcharbeiten wollen. Wenn sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – zumal, wenn es sich dabei um Forscherinneninnen und Forscher verschiedener Provenienzen handelt – auf das Format eines Kongresses bzw. „Symposion“ einlassen, sich also „zusammensetzen“, um angesichts eines aufgeworfenen Problems die Fragestellung neu zu erkunden, mit der dieses Problem bearbeitet werden könnte, kommen sie zu verschiedenen Ansichten, mehr noch: Um der Vervielfältigung der Betrachtung willen trifft man sich. Übereinstimmung besteht allerdings in der Auffassung, dass seitens der Theologie und anderer Geistes-, Human- und Lebenswissenschaften, die sich den Menschen und seine Religion zum Thema machen, alles zu bedenken, zu sagen und, wenn möglich, zu veranlassen ist, dass die Praxis dieser Religion das Menschsein des Menschen nicht unterwandert, sondern ihm dient. Die „real existierende religiöse Praxis“ – einschließlich der des Christentums – ist keineswegs per se lebensdienlich, sondern kann die „Praxis des Menschseins“ auch erschweren und muss gelegentlich der Frage ausgesetzt werden, inwieweit sie der Würde des Menschen entspricht. Die damit einhergehende Vertiefung der im Zuge der Aufklärung mit Bezug auf das Menschsein des Menschen artikulierten bzw. transformierten Kriterien von Religion – unter anderem ihre Tauglichkeit für den Frieden, die Freiheit und Würde des Menschen – gewinnen auf dem Markt der Religionen mehr und mehr an Brisanz. In einer Zeit, in der die Erfahrungen von Bekenntnisfundamentalismus, von religiös begründetem Enthusiasmus, politischer Religiosität und anderer Formen und Facetten von Religion nicht nur wie ein Echo aus vergangenen Tagen präsent sind, sondern hier und da mit dem Anspruch auftreten, wahre Religion zu sein, genügt nicht der akademische Streit um die plausiblere Dogmatik. Es bedarf der kritisch-konstruktiven Begleitung religiöser Praxis im Interesse des Menschseins des Menschen. Theologie, Religionspsychologie, Religionssoziologie und angrenzende Wissenschaftsgebiete stehen gleichermaßen vor der Herausforderung, sich um den Bezugsrahmen von Religion zu kümmern, damit sie der Orientierung des Lebens dient. Das geschieht – struktural ausgedrückt – indem Religion einerseits „Erfahrungsräume“ (z. B. der Freiheit und der Liebe), andererseits aber auch „Erwartungsräume“ erschließt,

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die für die Neugier auf das eigene Leben unerlässlich sind, mit der Entwicklung der eigenen Identität zu tun haben und die Offenheit bzw. Zukunftsträchtigkeit des eigenen Leben implizieren. Christliche Religion kann dann auch zur „Bruchlinie der Erfahrung“2 werden, indem sie dazu herausfordert bzw. in der Praxis dazu führt, bestehende Erfahrungen und das daraus resultierende Wissen über sich selbst und die Welt in dem Maße zu hinterfragen, wie dessen „Stimmigkeit“ nachzulassen beginnt. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Instituts für Praktische Theologie und Religionspsychologie haben durch ihre Unterstützung bei den Korrekturarbeiten sowie bei der Vereinheitlichung der Beiträge großen Anteil an der Fertigstellung dieses Buches: Robin Bachmann, Birte Bernhardt, Bernhard Kirchmeier, Jeanine LefÀvre und Katharina Payk sei herzlich für ihre auf verschiedenste Weise zur Geltung gebrachte Unterstützung gedankt. Es bleibt zu wünschen, dass die Leserinnen und Leser das Ihre dazu beitragen, aus der Idee dieses Buches und den darin enthaltenen Texten etwas zu schöpfen, was über das auf diesen Seiten Geschriebene hinausführt – dass sie das Feld bereiten, auf dem einmal die Früchte einer zeitgenössischen Anthropologie zum Vorschein kommen. Wilfried Engemann Wien, im November 2015

2 Zum genaueren Verständnis der phänomenologisch konzipierten Begriffe „Erfahrungsraum“, „Erwartungshorizont“ und „Bruchlinie der Erfahrung“ vgl. Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a. M. 2002.

Teil I: Vorträge / Lectures

Wilfried Engemann

1. Als Mensch zum Vorschein kommen. Anthropologische Implikationen religiöser Praxis1 – Coming to the fore as a human being. Anthropological implications of religious practice

Zusammenfassung: In der religiösen Praxis und Anthropologie des Protestantismus kommt der Mensch vor allem in Gestalt des Sünders zum Vorschein, der zur Errettung aus seinem Elend nichts leisten kann und soll. Das Menschsein des Menschen wird dementsprechend entweder in seiner selbstzerstörerischen Dynamik vertieft oder als davon befreit, erlöst von Sünde, Tod und Teufel – und von der verhängnisvollen Eigenregie des Menschen. Was weithin fehlt, ist ein anthropologisch stimmiger Begriff vom Menschsein, der nicht nur soteriologisch durchdekliniert ist und einseitig gegen das Leistungsprinzip entfaltet wird, sondern der den Menschen als Subjekt seines Lebens in den Blick nimmt, wozu u. a. eigene Urteile, begründete Entscheidungen und ein geklärter eigener Wille gehören. Ohne diese Instrumente der Lebenskunst können sich Menschen ihrem Leben nicht mit Hingabe und Leidenschaft zuwenden, nicht wirklich in ihrem Leben präsent sein. Der Glaubenskultur des Christentums entspricht nur eine religiöse Praxis, die den Menschen als Menschen zum Vorschein kommen lässt. Der vorliegende Beitrag legt hierfür die Gründe und Perspektiven dar. Abstract: In the religious practice and anthropology of Protestantism humans mainly appear as sinners, who neither can nor should contribute anything to the deliverance from their misery. Thus, the personhood of humans is either intensified in its self-destructive dynamics or freed from sin, death and devil – and from fatally taking charge of their own lives. What is lacking is an anthropologically consistent notion of what it means to be human, which is not only soteriologically elaborate and unilaterally developed against the merit principle, but which considers human beings as the subjects of their lives, and that includes, amongst other things, their own judgements, reasoned decisions and a clarified (free-)will of their own. Without providing these tools for the art of living people cannot turn to their lives in a fully committed and passionate way, cannot really be present in their own lives. Only a religious practice that allows people to appear as human beings truly corresponds to the Christian culture of belief. The following chapter will discuss the reasons and perspectives for this.

1 Bearbeitete und erweiterte Fassung der Vorab-Veröffentlichung in: Wilfried Engemann (Hg.): Glaubenskultur und Lebenskunst. Interdisziplinäre Herausforderungen zeitgenössischer Theologie (= WJTh 10), Göttingen/Wien 2014, 27–50.

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1.

Wilfried Engemann

Prolog: Zum Vorschein kommen – ein Leben führen

Wenn im Alltag oder in der Wissenschaft davon die Rede ist, dass etwas zum Vorschein kommt, geht es um etwas, das zwar schon irgendwo irgendwie gegeben, aber bisher nicht präsent war. Wer oder was zum Vorschein kommt, tritt unerwarteterweise mit seiner eigenen Wahrheit und seinem eigenen Anspruch aus der Verborgenheit hervor, spielt plötzlich Rolle und wird unabweisbar Teil der Gegenwart. Wenn in der Literatur erzählt oder im Film gezeigt wird, unter welchen Umständen eine bestimmte Person zum Vorschein kommt, die verschwunden, vorher gar nicht bekannt war oder auch nur verkannt wurde, ist das ähnlich: Prinzessinnen, Schuldner, verschollen Geglaubte, Totgesagte, Rächer, Erlöser usw. – sie treten mit einem Mal mit ihrer wirklichen Identität aus dem Schatten hervor, erscheinen auf der Bühne und geben der Handlung eine neue Richtung.2 Dabei erwecken sie nicht selten den Eindruck, dass sie das, was gerade mit ihnen bzw. durch sie geschieht, auch selbst ein bisschen überrascht. Solche Akte des Wieder- oder Erstmals-zum-Vorschein-Kommens von Identitäten vollziehen sich in drei verschiedenen Stufen: – Oftmals fängt dieser Prozess damit an (1. Stufe), dass Menschen in ihrer eigenen, ganz persönlichen Welt, also mit sich selbst etwas Unerwartetes erleben. Sie werden aufgrund von Wahrnehmungen, Informationen, Irritationen, Konfrontationen, manchmal scheinbar auch „einfach so“, von eigenen Gedanken, Ideen, Worten und Sympathien überrascht, von denen sie nicht geahnt hätten, dass sie zu ihnen gehören. – Wenn man als „jemand Bestimmtes“ zum Vorschein zu kommt, ist es bei diesen Selbst-Wahrnehmungen nicht geblieben. Man versucht früher oder später (2. Stufe), sich auf das, was in einem vor sich geht, einen „Reim“ zu machen. Dazu muss man sich zum Beispiel mit widerstreitenden Empfindungen, Wünschen und Zukunftserwartungen, mit möglichen Entscheidungen und ihren Folgen auseinanderzusetzen, um so zu klären, was man eigentlich will, um herauszufinden, was zu dem Menschen gehört, der man geworden ist, zu der Identität, auf die hin man sich zu entwickeln scheint. Von alldem bekommt die Umwelt meist noch wenig mit. 2 Diese Erzählstrukturen finden sich wohl auch deshalb in vielen großen Erzählungen, Abenteuerromanen und in der internationalen Filmgeschichte wieder, weil sie eine biographische Notwendigkeit bzw. Grunddynamik menschlicher Existenz widerspiegeln, die von Moses über den Grafen von Monte Christo bis hin zu den frappierenden personalen „Offenbarungen“ in den Romanen Theodor Fontanes führt. Die Gebrüder Grimm führen ihrerseits illustre Beispiele dafür an, was es heißt, in einer bestimmten Rolle zum Vorschein zu kommen. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Leipzig/Mannheim 1995, Bd. 26, Sp. 1453.

Als Mensch zum Vorschein kommen

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– Das geschieht dann in der dritten Stufe dieses Prozesses: Wenn Personen mit einer bestimmten Identität zum Vorschein kommen, treten sie schließlich auch in einer bestimmten Haltung und mit einer entsprechenden Rolle auf. Sie handeln aus einem bestimmten Selbstverständnis heraus, weil sie es „müssen“, genauer gesagt, weil sie so sein wollen. Und weil sie gute Gründe dafür haben, an die sie sich binden. Sie leben als jemand Bestimmtes. Das macht Arbeit. „Wie schön wäre es,“ schreibt Martin Walser in seinem Bodensee-Roman, „wenn man sich allem anpassen könnte. Auf nichts Eigenem bestehen. Nichts Bestimmtes sein. Das wäre Harmonie. […] Ichlosigkeit. […] Aber nein, dauernd muss man tun, als wäre man der und der.“3 So ist es – und das ist noch nicht einmal alles: Indem wir im Laufe eines Lebens dies und das abwägen, um diese und jene Entscheidung zu treffen, dies und das wollen, so und so handeln, tun wir ja nicht nur so, als wären wir der und der. Wir werden der und der.

2.

Mensch sein und leben können. Zur Dimension der Lebenskunst

Was in Romanen, Märchen und biblischen Geschichten, in denen Menschen im Laufe der Handlung mit einer bestimmten Identität zum Vorschein kommen, erzählt wird, kehrt in modifizierter Form im Leben eines jeden Menschen wieder. Die Umstände am Tag unserer Geburt mögen sein, wie sie wollen – sie legen nicht fest, wer wir werden. Jeder von uns steht vor der Herausforderung, unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen, wobei er als ein ganz bestimmter Mensch zum Vorschein kommt. Für diesen Prozess ist es nicht unerheblich, – ob man sich darauf versteht, von Wünschen und Erwartungen begleitet zu leben, die von der grundsätzlichen Offenheit der eigenen Zukunft ausgehen, – ob man sagen kann, was man will, welche Gründe man dafür hat und in diesem Sinne eigenwillig ist, – ob man eingesehen hat, im Einklang mit eigenen Überzeugungen leben zu müssen, um gern leben und die Erfahrung von Freiheit machen zu können, – ob man dem Grundimpuls der Liebe Raum geben kann und weiß, auch selbst auf Zuwendung angewiesen zu sein, – ob man mit sich selbst befreundet ist und sich auf die Tugend der Selbstliebe versteht – oder ob dies alles nicht der Fall ist. 3 Martin Walser : Heimatlob. Ein Bodensee-Buch (mit Bildern von Andr¦ Ficus), Friedrichshafen 1982, 13.

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Wilfried Engemann

Damit stehen uns nicht nur elementare Facetten unseres Menschseins vor Augen, sondern gleichzeitig substantielle Aspekte der ars vitae, der Kunst namens Leben. Mensch sein und leben können sind untrennbar miteinander verwoben.4 Als Mensch zum Vorschein zu kommen heißt auch, sich nolens volens in der Kunst namens Leben üben zu müssen. Dabei geht es nicht um elitäre Zusatzoder Sonderkompetenzen des Menschseins in einer Zivilisation des Wohlstands, um die man sich erst dann kümmert, wenn man sonst keine Probleme hat. Im Begriff der Lebenskunst wird die einfache Tatsache auf den Punkt gebracht, dass sich jeder von uns insoweit auf sein Leben verstehen können muss, als er es führt, weil er Subjekt seines Lebens ist und sich in dieser Funktion schlechterdings nicht vertreten lassen kann. Als Subjekte sind wir – wie im Subjektbegriff selbst zum Ausdruck kommt – Bedingungen ausgesetzt und ihnen in dem Sinne „unterworfen“, als sie unserem In-Erscheinung-Treten objektiv vorausliegen. Wir müssen uns zu den Dingen verhalten, wie sie sind. Aber was dabei herauskommt, wer wir dabei werden, ist damit nicht festgelegt. Im Subjektbegriff kommen diese beiden Aspekte zum Tragen: sowohl unser Geworfen- und Bezogensein auf Vorgegebenes als auch die Unausweichlichkeit, unter diesen Umständen ein eigenes Lebens zu führen und dabei jemand Bestimmtes zu werden. Im Kern geht es dabei um die Herausforderung, das Leben jeweils als unser Leben zu führen, als zu uns gehörendes und insofern stimmiges, von uns verantwortetes Leben.5 Der vielleicht wichtigste Indikator für gelingendes Leben ist nicht die Kühnheit der Phantasie im Blick auf das Potential möglicher Identitäten, nicht ein eiserner Wille, nicht der fragwürdige Ruf der Unbeeinflussbarkeit oder einer ungehemmten Durchsetzungskraft im Handeln. Wer nur etwas davon kann, hat nichts gekonnt. Unverzichtbar für die Erfahrung gelingenden Lebens und eines leidenschaftlichen Lebensgefühls6, auch Glück genannt, ist die Erfahrung der 4 Zu den Basiskompetenzen von Lebenskunst sowie zur begrifflichen Klärung und systematischen Analyse der Standardsituation von Lebenskunst vgl. Wilfried Engemann: Acquisition of freedom. Focusing on the art of living and the development of the will in pastoral care, in diesem Band S. 143–164, bes. Abschnitt 1, 143–147. 5 Aus vielerlei Gründen, die das Auseinanderdriften von Theologie und Philosophie nach dem 1. Weltkrieg zur Folge hatten, war die Dimension der Lebenskunst nachhaltig aus den systematischen und praktisch-theologischen Diskursen um ein Leben aus Glauben verschwunden. Es erscheint mir dringender denn je, dieses Thema wieder stärker auch in der Theologie zu verankern. Zur theologischen Begründung sowie zu Orten und Wegen der Umsetzung dieses Anliegens Wilfried Engemann: Die Lebenskunst und das Evangelium. Über eine zentrale Aufgabe kirchlichen Handelns und deren Herausforderung für die Praktische Theologie, in ThLZ, 129. Jg., H. 9, 2004, 875–896 sowie ders.: Lebenskunst als Beratungsziel. Zur Bedeutung der Praktischen Philosophie für die Seelsorge der Gegenwart, in: Michael Böhme u. a. (Hg.): Entwickeltes Leben. Neue Herausforderungen für die Seelsorge. FS für Jürgen Ziemer, Leipzig 2002, 95–125. 6 Das Besondere an diesem Begriff ist die Doppelseitigkeit der emotionalen Erfahrung, auf die

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Stimmigkeit, der Kongruenz und Kontinuität zwischen dem, was wir für wünschenswert und sinnvoll halten, dem, wozu wir ja und nein sagen, dem, was wir daraufhin wollen – und dem Handeln, in dem wir uns schließlich wiederfinden. Menschen entgleitet der Begriff vom Sinn ihres Lebens auch aufgrund der hingenommenen Risse und Brüche dieses Zusammenhangs. Beim Thema Lebenskunst vom Begriff einer Handlung auszugehen bietet sich deshalb an, weil die Frage danach, was alles geschieht, wenn ein Mensch als Subjekt in Erscheinung tritt, sowohl Aspekte der Lebensführung als auch der Haltung dem eigenen Leben gegenüber einschließt. Mensch zu sein und leben zu können, dies gehört aufs Engste zusammen. Ich möchte das mit Bezug auf ein paar zentrale Aspekte der Lebenskunst kurz erläutern: Die Freiheit, ein Leben zu führen, das zu dem Menschen gehört, genauer gesagt, das zu der Identität passt, die man für sich in Anspruch nehmen möchte, weil sie den eigenen Vorstellungen und Überzeugungen entspricht, macht Arbeit. Freiheit setzt unter anderem voraus, sich mit den eigenen Wünschen auseinanderzusetzen, sie buchstäblich zu sondieren, sich nicht von ihnen treiben zu lassen, sondern herauszufinden, welche Wünsche nur abgeguckt, gerade in Mode oder nur vorübergehend von Bedeutung sind, und welche uns wirklich am Herzen liegen, weil in ihnen zum Ausdruck kommt, wer wir sind. Diese immer wieder übrig bleibenden, favorisierten Wünsche sind eine unverzichtbare Grundlage dafür, klären zu können, was wir schließlich eines Tages wollen. Um das herauszufinden, machen wir von unserer Phantasie einerseits und unserer Vernunft andererseits Gebrauch.7 Angesichts der grundsätzlichen Offenheit und Weite unseres Lebens stellen wir uns immer wieder die Was-Wäre-Wenn-Frage: Mit Hilfe unserer Phantasie versuchen wir, uns mit Bezug auf Märchen und Mythen, Geschichten und Gleichnisse, Zukunftsvisionen und Schreckensszenarien, Erfahrungen und Erwartungen ein Bild von der Zukunft zu machen, in der wir zum Vorschein kommen könnten. Damit wir uns dabei nicht verlieren, gleichen wir diese Optionen vernünftigerweise mit unseren äußeren und inneren, individuellen Voraussetzungen ab, die unser Leben gegenwärtig bestimmen. Diese Voraussetzungen sind nicht nur Ressourcen, sie ziehen uns auch Grenzen im Blick auf das, was wir allen Ernstes im Rahmen unseres Lebens wollen und wofür wir uns mit ganzer Kraft einsetzen können. Damit kommt unser Wille als eine der signifikantesten Äußerungsformen unseres Menschseins in den Blick. Er ist Ausdruck unseres Subjektseins und unserer Freiheit. er sich bezieht: Unser Lebensgefühl ist das emotionale Gesamtfazit unserer Selbst- und Weltwahrnehmung, und je nachdem wie es ausfällt, vermittelt sich Menschen der Eindruck, eher glücklich oder eher unglücklich zu sein, ein gutes oder ein schlechtes Leben zu führen. Zum Begriff des Lebensgefühls und seiner religionspsychologischen Relevanz vgl. Wilfried Engemann: Das Lebensgefühl im Blickpunkt der Seelsorge. Zum seelsorglichen Umgang mit Emotionen, in: WzM, 61. Jg., H. 3, 2009, 271–286, bes. 276f. sowie ders.: Lebensgefu¨hl und Glaubenskultur. Menschsein als Vorgabe und Zweck der religiösen Praxis des Christentums (Antrittsvorlesung an der Universita¨ t Wien vom 4. Juni 2012), in: WzM, 65. Jg., H. 3, 2013, 218–237. 7 Zur Dynamik dieser Spannung vgl. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien 2002, 281–290.

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Er ist eine bewegende Kraft unseres Tuns und hat eine bestimmende Funktion für die Haltung, die wir in konkreten Situationen einnehmen. Wir müssen wollen können, was wir tun, sonst stimmt mit unserem Tun etwas Entscheidendes nicht: Es ist dann nämlich nicht unser Tun, kein Handeln, das unserer Überzeugung entspricht – und das daher auch nicht die Qualität leidenschaftlichen Tuns gewinnen kann. Bei allem, was wir gleichsam willenlos tun – ohne sagen zu können, warum wir es tun sollten, wobei wir gegen bessere Einsicht und gegen den Willen handeln, den wir für unseren eigentlichen Willen halten –, machen wir die Erfahrung von Unfreiheit. Es ist die Erfahrung, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein, das Gefühl, im eigenen Leben ein Fremder zu sein, was ein flaues Gefühl hinterlässt. Wir sind dann „nicht ganz da“, nur halbherzig präsent und nicht in der Stimmung, uns erwartungsvoll in unser Leben zu werfen. Hier kommt die emotionale Dimension bzw. Grundierung unseres Daseins ins Spiel, die in der philosophischen und psychologischen Anthropologie unter anderem als Lebens- oder Daseinsgefühl bezeichnet wird. Dieses Grundgefühl hängt aufs Engste mit den gerade in den Blick genommenen Kategorien zusammen: Mit dem Subjektsein, mit der Neugier auf sich selbst, mit der Erfahrung der eigenen Freiheit und Würde, mit der Kohärenz zwischen dem, was wir tun, und dem was wir für wünschenswert halten sowie mit der Aneignung eines eigenen Willens und ihm entsprechenden, stimmigen Entscheidungen. Auch die Frage, ob wir in dem, was wir tun, ganz bei uns sind und darum mit bzw. aus Leidenschaft handeln können, ist ein Faktor des Lebensgefühls als Grundgefühl unseres Daseins.

Lebenskunst hat also nichts mit Erfolgsmaximierung in einem Leben ohne Scheitern und Krankheit zu tun, nichts mit Erstklassigkeit oder einer Meisterschaft im Umsetzen von Plänen. Im Gegenteil, Brüche, Misslingen, Richtungsänderungen, Irrtümer, das Verwerfen von Plänen, das Verlieren der Geduld, die Entscheidung für das geringere Übel – alles das kann Teil von Lebenskunst, von Unterwegssein, von notwendigem Innehalten und Nicht-Weiter-Wissen sein, ohne dass sich dabei je die Frage erübrigte, wer wir angesichts dessen sein wollen, welche Wünsche wir verwerfen, hintanstellen oder favorisieren – und wie der morgige Tag aussehen soll. Dass wir diese Fragen nicht immer wie aus der Pistole geschossen beantworten können, oder dass uns das, was wir einmal wollten, plötzlich nicht mehr stimmig erscheint, nicht mehr trägt, zeigt an, dass wir wieder einmal unterwegs sind – ohne schon sagen zu können, was wir stattdessen wollen. Das ist Bestandteil der Erfahrung von Freiheit.8 Nach einer wichtigen Entscheidung, nach einem großen Schritt, durch den wir uns wieder ein Stück weit verändert haben, werden wir in unserer Entwicklung nicht eingefroren. Die Zukunft bleibt offen. Die Erfahrung, dass Beweggründe, denen man einmal ein großes Gewicht beigemessen hat, an Bedeutung verlieren und dazu veranlassen, sich erneut damit zu befassen, wer man ist und wohin man unterwegs ist, ist freilich eine 8 Vgl. Wilfried Engemann: Acquisition of freedom, a. a. O. (s. Anm. 4), 162–164.

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grundsätzlich andere als die, sich im eigenen Leben als Fremder wahrzunehmen und gar keinen Anlass zu sehen, sich mit der Frage zu befassen, was man wollen könnte.

3.

Mensch sein und religiös sein. Zur Dimension der Religion

Für das Verständnis der Gründe und Absichten einer Tagung zum Thema „Menschsein und Religion“ ist es entscheidend, gelten zu lassen, dass das Christentum mit dem Menschsein des Menschen auch unter dem Gesichtspunkt der Lebenskunst zu tun hat. Ob man die gegenwärtig in den christlichen Kirchen der Welt begegnende Glaubenskultur theologisch empfehlen kann, ist stärker als das bisher geschieht danach zu beurteilen, ob sie das Menschsein des Menschen nicht nur respektiert, sondern dazu beiträgt, dass der Einzelne in seinem Leben als Mensch zum Vorschein kommt: nicht als „Übermensch“, nicht als sich selbst verachtender „Gehorsamsmensch“, sondern mit der ihm eigenen Würde, mit seinem göttlichen Faible für Freiheit und Liebe9, mit seiner Leidenschaft, zu leben. Angesichts der viel beklagten Schwammigkeit des Religionsbegriffs einerseits und seiner mannigfaltigen Profilierungen in diversen Geisteswissenschaften andererseits (insbesondere in der Religionssoziologie10) bin ich mir im Klaren darüber, dass das gerade skizzierte Erwartungsspektrum – „Mensch sein und leben können“ – in den Debatten um die Funktion religiöser Praxis nicht gerade im Vordergrund steht. Im Fluchtpunkt der Erklärungen des Phänomens „Religion“ steht die Beobachtung, dass sich Menschen durch Religion in die Pflicht genommen sehen, sei es für die rituell vorgeschriebene Inszenierung des Kultus, 9 Diese Anspielung auf den Topos der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Menschen ,ähneln‘ Gott gerade in den überwältigenden Erfahrungen von Freiheit und Liebe) habe ich an anderen Stellen anthropologisch vertieft: Vgl. z. B. zum „Respekt vor der Gottebenbildlichkeit des Menschen“ Wilfried Engemann: Vom Umgang mit Menschen im Gottesdienst. Probleme der impliziten liturgischen Anthropologie, in: EvTh, 72. Jg., H. 2, 2012, 101–117, hier 115–117. 10 Wolfgang Eßbach hat mit dem ersten Teil seiner umfangreichen Religionssoziologie auf sehr spezifische, geschichtlich je erstmalig auftretende gesellschaftliche Zeiterfahrungen aufmerksam gemacht, anhand derer er die Geburt und Ablösung verschiedener Religionstypen des Christentums nachzuzeichnen sucht. Das Bemerkenswerte an dieser historisch ebenso umsichtigen wie systematisch kühnen Art der Annäherung an das Spektrum von Religion ist u. a. die Feststellung, dass bestimmte Typenkennzeichen, die der (christlichen) Religion im Zuge ihrer Ausarbeitung als „Bekenntnisreligion“, „Rationalreligion“, „Kunstreligion“, „Nationalreligion“ usw. beigegeben worden sind, in modifizierter Form weiterwirken bzw. in neuer Gestalt aufgegriffen und zur Bewältigung neuer Herausforderungen benutzt werden können. Vgl. Wolfgang Eßbach: Religionssoziologie I. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, Paderborn 2014, 27–30.

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sei es für die aufwendige Aufrechterhaltung ihrer Gottesbeziehung.11 Dabei werden die Kategorien des Heiligen, des Transzendenten und Absoluten in Anspruch genommen, so dass die In-die-Pflicht-Nahme des Menschen etwas Zwingendes, Unerbittliches, Unabweisbares bekommt, was sich in der religiösen Praxis klassischerweise als kultischer Stress äußern kann.12 Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Menschen dabei eben auch zu Haltungen und Handlungen veranlasst werden, die sie – nimmt man die entsprechenden PraxisModelle von Religion ernst – quasi „über ihr Menschsein hinausführen“, die sie auf eine religiöse Daseinsstufe bringen sollen, die ihnen den Zugang zu einer Welt mit Sonderangeboten verspricht. Warum sind Menschen, seit es sie gibt, religiös? Menschen sind um ihres Lebens willen religiös, d. h., sie sind im Grunde um ihrer selbst willen religiös, auch wenn es oft so scheint, sie wären es der Götter wegen. Motivgeschichtliches „Urkriterium“ von Religion ist ihre Lebensdienlichkeit. Religionskulturen entstehen und entwickeln sich als Strategien der Bewahrung und Begleitung des Lebens von Gruppen und Individuen. Was allerdings im Einzelnen jeweils als „lebensdienlich“ empfunden und der Religionsgemeinschaft zugemutet wird und was nicht, hängt in starkem Maße von den Vorstellungen vom Leben, von der Welt und von sich selbst ab. Hierin vor allem unterscheiden sich die Religionen. Gleichwohl weisen die meisten von ihnen gemeinsame Merkmale auf, die den Bedarf an Religion als Ressource der Lebensführung erkennen lassen. Diese Merkmale sind insbesondere: 1. Eine an Wissen grenzende Erfahrung, in der Hierarchie der Mächte nicht die letzte Instanz zu sein. Menschen versuchen, etwaige Bedrohungen seitens dieser „höheren Gewalt“ nicht nur abzuwenden, sondern diese für das eigene Leben in Anspruch zu nehmen und dessen „Kontingenz“ zu bewältigen. 2. Religiöse Praxis impliziert verschiedene Techniken der Triangulierung: Da ist zum einen der Einzelne, da sind zum anderen die Dinge, die Welt als Summe der vorgegebenen Umstände, die sich als Bestandteil der „Situation“ des Menschen herauskristallisieren. Um zur Welt in Beziehung treten zu können, ohne ihr dabei frontal, unvermittelt, allein ausgesetzt zu sein, beziehen sich Menschen auf ein Drittes, auf ein virtuelles Regulativ13, auf Gott. Unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben führend, greifen Menschen auf religiöse Praxis als ein Ensemble von triangulierten Vorstel11 Zum Religionsbegriff vgl. Wilfried Engemann: Lebensgefühl und Glaubenskultur, a. a. O. (s. Anm. 6), 222–228. 12 Zu diesem verbreiteten Problem, das durchaus auch in gut gemeinten lutherischen Gottesdiensten begegnet, vgl. Wilfried Engemann: Vom Umgang mit Menschen im Gottesdienst, a. a. O. (s. Anm. 9), 109–114. 13 Zur Kategorie der Virtualität im Kontext von Theologie und Religion vgl. Ilona Nord: Realitäten des Glaubens. Zur virtuellen Dimension christlicher Religiosität, Berlin 2008.

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lungs-, Kommunikations- und Handlungsmustern zurück, von denen sie überzeugt sind, dass sie sich bei der Bewältigung des Lebens bewährt haben. 3. Dabei variiert nicht nur das Spektrum dessen, was man unter „vorgegebenen Bedingungen“ versteht, sondern im Vollzug religiöser Praxis tritt immer auch ein je eigener Spielraum hervor. Diesen sich in der religiösen Praxis zeigenden Spielraum wahrzunehmen, zu bewohnen und zu füllen ist mit der Herausforderung zu leben identisch. Es ist ein Spielraum, der beschädigt werden, erstarren und verloren gehen kann. 4. Von daher ist es verständlich, dass Religionen immer wieder die (vorgegebenen) Rahmenbedingungen des Menschseins einerseits und dessen (nicht vorgegebenen) Spielraum andererseits thematisieren. Die Rahmenbedingungen des eigenen Lebens und den eigenen Spielraum kann man nämlich sowohl unterschätzen als auch überschätzen. Wir unterschätzen ihn, wenn wir „den offenen Himmel über uns“ vergessen, und wir überschätzen ihn, wenn wir Grenzen nicht wahrnehmen und respektieren.14 Deshalb haben in der religiösen Praxis allgemein solche Kategorien ein besonderes Gewicht, mit denen Menschen ihre Daseinsbedingungen und Spielräume beschreiben und bewerten: Die Bedeutung der Zeitspanne des Lebens, die Relevanz des Vergangenen für die Gegenwart und der Gegenwart für die Zukunft, die Erfahrung von Grenzen wie Schmerz, Krankheit, Tod u.a.m. In diesen Zusammenhang gehört auch der Bedarf an (bzw. die Transformierung und der Gebrauch von) Religion bei der Bewältigung von „Widerfahrnissen“15. Religion hat auch mit Wissen „im Sinne von Vorräten von Deutungsmustern [zu tun], auf die vergesellschaftete Individuen zurückgreifen, wenn sie erlebte Situationen interpretieren, Fortsetzungen imaginieren und handelnd realisieren oder in Zuständen [z. B. der Angst oder des Enthusiasmus] verharren“16. Wolfgang Eßbach formuliert in diesem Zusammenhang sein Interesse an der Religionssoziologie. Ihn interessiert besonders „das pathische Moment der Erfahrung: So sehr Individuen stets mit der gesellschaftlichen Konstruktion ihrer Wirklichkeit befasst sind, sie erfahren bisweilen hinzukommend den Bruch von Bedeuten und Begehren sowie ein vorgängiges Getroffensein.“ Eßbach sieht dieses Moment v. a. dort, wo Erfahrungen „in ihrer Am14 Von daher ist es kein Zufall, dass dieser doppelte Fokus bei Immanuel Kant die Herleitung des moralischen Imperativs als religiöser Erfahrung bestimmt: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ (Immanuel Kant: Kritik der Praktischen Vernunft, Werkausgabe Bd. VII, Frankfurt a. M. 1968, Beschluss II, 205). 15 Vgl. Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a. M. 2002., 56. 16 Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe v. Helmuth Plessner, Frankfurt a. M. 1980.

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bivalenz eine Unruhe wachhalten, die so sehr zum fortgesetzten Austausch von Erfahrung nötigt, dass von einer beherrschenden Erfahrung gesprochen werden kann, die sich in den Vordergrund drängt“17.

Als Konzepte der Selbst-Triangulierung des Menschen – entwickelt im Wissen um die Wahrnehmung und Verantwortung eines eigenen Spielraums, angelegt als Bündnis mit der Macht hinter den Mächten – sind Religionen auf gelingendes Leben angelegt, wovon sie einen je eigenen Begriff haben. Der zeigt sich in ihren Urkunden, in den Inhalten und Formen der religiösen Kommunikation, in ihren Ritualen, Geboten und Geschichten. Die christliche Religion erschließt sich nur als Lebensreligion. Sie wird bestimmt – ohne mit der folgenden Aufzählung eine Hierarchie vorgeben zu wollen – (1.) vom Lebenswissen der jüdisch-christlichen Tradition, das sich aus der Summe der Erfahrungen, Überzeugungen und Einsichten speist, die ihre Spur in den Erzählungen, Geschichten, Gleichnissen und Bildern des Alten und Neuen Testaments hinterlassen haben. Dieses Wissen ist insofern „Lebenswissen“, als jegliche religiöse Haltungen, Anleitungen, Praktiken, Zeremonien, Bräuche usw. keinen Selbstzweck haben, sondern dem Leben-Können von Menschen dienen. Das gilt auch (2.) für die Art und Weise des Glaubens, für den Lebensglauben, den das Christentum implizit oder explizit nahelegt. Es dient der Stärkung eines Glaubens, der zum Leben und Überleben hilft. Die von Jesus anscheinend gern vorgenommene Aufklärung von Menschen über ihren Glauben – „Dein Glaube hat dir geholfen!“18 – entzieht ihre Religiosität jeder Selbstzwecklichkeit. Einer der roten Fäden dieser Religion ist (3.) die eigentümliche Lebenskunde Jesu. Sie ist „Kunde“ im Sinne einer eigensinnigen Botschaft vom Leben, wie sie z. B. in der Bergpredigt zum Tragen kommt, und sie ist „Lebenskunde“ im Sinne einer Unterrichtung, die darauf hinausläuft, dass Menschen sich eine bestimmte Art, ihr Leben zu betrachten und in ihm dazusein, zu eigen zu machen. Das Leitmotiv des Auftretens, Redens und Handelns Jesu – „Ich lebe, und ihr sollt auch leben!“ – hat nicht zufällig in der sonntäglichen Auferstehungsfeier seinen rituellen Ausdruck gefunden. Ein Leben aus Glauben geht (4.) zweifellos mit einem – im oben erläuterten Sinn – ,positiven‘ Lebensgefühl einher. Dies nicht nur, weil die Tiefe, Konsequenz und Echtheit des Glaubens schon in der biblischen Tradition mit Bezug auf Emotionen artikuliert wird (z. B. im Hinblick auf das Gefühl der Freude, der Hoffnung, der Zuversicht und des Mutes), sondern weil Glauben als Ressource der Freiheit und der Liebe nicht nur eine Kategorie der Gewissheit, sondern auch der Leidenschaft ist. 17 Wolfgang Eßbach, a. a. O. (s. Anm. 10), 19. 18 Vgl. z. B. Mt 9,22; Lk 7,50; Lk 8,48.

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Trotz dieser „im Prinzip“ aufs Engste mit dem Leben verbundenen religiösen Praxis des Christentums ist es kein Geheimnis, dass viele Menschen den christlichen Kultus nicht als lebensdienlich empfinden und dankend ablehnen; dies aber wohl nicht, weil sie etwas gegen Spielräume hätten oder nicht gern lebten, sondern weil sie die gottesdienstliche Kommunikation nicht mit entsprechenden Erfahrungen verbinden können. Lange Zeit hat man die Hürden und Herausforderungen des christlichen Glaubens bzw. der ihn kennzeichnenden ,Triangulierungen‘ darin gesehen, dass die Naturwissenschaften sowie die technischen Errungenschaften der Moderne dem Menschen die Ambitionen nähmen, über sich hinauszudenken. Doch die Dinge, wie sie sind, das mannigfaltige Wissen über Ursache und Wirkung sowie die bis in den Kosmos reichende Welt sind heute längst kein Grund mehr, mit der religiösen Musikalität aus dem Takt zu kommen. Im Gegenteil: Ernst zu nehmende Wissenschaftler aller möglichen Disziplinen setzen ein Geheimnis ums andere frei; sie arbeiten dem Verständnis von „Gott als Geheimnis der Welt“19 eher zu als entgegen. Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Glaube ist kein aporetisches mehr. Die Zugänglichkeit zur religiösen Praxis des Christentums wird heute viel mehr durch deren ,heidnischen Charakter‘ selbst erschwert, der Menschen vor die Alternative zu stellen scheint, entweder gerne Mensch oder religiös zu sein.

4.

Als Mensch zum Vorschein kommen. Zur Pointe des Evangeliums

Wenn das Neue Testament erzählt, wie Menschen in die Kommunikation des Evangeliums verwickelt werden, wird anhand von Begebenheiten, in Gleichnissen und mit Bildern vor Augen geführt, wie jemand als Mensch zum Vorschein kommt, wie jemand Schritte in die Freiheit geht und es genießt, Zuwendung sowohl zu erfahren als auch sie zu gewähren, wie ein Mensch anfängt, auf sein Gewissen zu hören und beispielsweise zu teilen und ein Fest zu feiern. Es sind immer Szenen, in denen sich Menschen auf eine neue Weise zu verstehen gegeben werden und sich als nicht nur zumutbar, sondern wertgeschätzt erfahren, Szenen, in denen Menschen endlich in ihre Gegenwart durchbrechen und zu einem eigenen Leben ermächtigt werden.20 Was „können“ diese Menschen am Ende all dieser Geschichten? Sie können leben. Es wäre eine ausgesprochene Verkürzung, nur davon zu sprechen, dass sie 19 Vgl. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 31978. 20 Zur theologischen Basis dieser hermeneutischen Annäherung an biblische Texte vgl. Wilfried Engemann: Das Lebenswissen des Evangeliums in seinem Bezug zur Seelsorge, in: Ders. (Hg.): Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 22009, 467–473.

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endlich glauben können. Indem diesen Menschen bescheinigt wird, „dass ihnen ihr Glaube geholfen hat“ (s. o.), wird explizit auf die dem Leben dienende Funktion des Glaubens hingewiesen. Im Modus des Glaubens werden Menschen nicht in eine Parallelwelt gelockt, in der es darauf ankäme, durch Beteiligung an religiöser Praxis und den Erwerb ritueller Kompetenz ein spezifisches Glaubensleben führen zu können, sondern sie werden zu einem Lebensglauben ermutigt. Dadurch werden sie plötzlich intolerant im Blick auf ihre Arrangements mit Erfahrungen der Unfreiheit, sie sehen ihre Zukunft wieder offen stehen, gewinnen die Neugier auf ihr Leben zurück, wie sie Kindern zu eigen ist. Sie legen die Hand an den Pflug und schauen nicht zurück, sie decken den Tisch ein – ohne die Sorge, dass es nicht reichen könnte, und erfahren in all dem etwas von ihrer Würde. Das Menschsein des Menschen in dem eben skizzierten Sinn steht im Fluchtpunkt des Evangeliums. In der christlichen Religion geht nicht um zusätzliche Sondererfahrungen, die den Einzelnen sozusagen über sein Menschsein hinausheben sollten. Die Praxis des Christentums rüttelt nicht am Menschsein des Menschen, sondern ermutigt ihn dazu, unter den Umständen, unter denen er lebt – sie mögen sein, wie sie wollen –, als Mensch zum Vorschein zu kommen. Das Besondere des Christentums als Religion liegt nicht zuletzt in unverwechselbaren „evangelischen“ Ideen, Handlungen und Ressourcen, die den Menschen Mensch sein lassen und ihm den Spielraum erschließen, den er braucht, um sich als Subjekt des eigenen Lebens zu erfahren. Diese Erfahrung – man kann es gar nicht oft genug sagen – hat nichts damit zu tun, sich als Macher seines Lebens zu profilieren, sondern damit, ganz gegenwärtig zu sein, gern zu leben, mit einer im positiven Sinn offenen Zukunft zu rechnen, sich öffnen und hingeben zu können. Aus Glauben leben zu können schließt aber auch ein, sich gegebenenfalls abzugrenzen und „Nein“ sagen zu können, sich an sein eigenes Urteil binden zu können, etwas Bestimmtes zu wollen und in diesem Sinne auch als „jemand Bestimmtes“ zu leben. Keinesfalls sollten Menschen durch den Glauben dazu animiert werden, ihren eigenen Willen zu übergehen, substantielle Wünsche und Erwartungen für Egoismus, oder einen rigorosen Umgang mit sich selbst für eine Tugend zu halten. Es gehört zur Grundbestimmung der christlichen Religion, dass Menschen an das ungeheuerliche Abenteuer ihres eigenen Lebens bzw. ihres Menschseins herangeführt und darin begleitet werden. Kurz, Religion ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch für die Religion.

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5.

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Menschsein und christlich sein. Ambivalente Beobachtungen 500 Jahre nach der Reformation

Es gehört zum Erfahrungskern der Reformation, dass Religion mit dem Menschsein zu tun hat, dass Religion für den Menschen da ist, und dass Menschen, die sich als Glaubende erfahren, nichts anderes zu sein brauchen als Menschen. Wie in den Anfängen des Christentums erstreckt sich das reformatorische Verständnis von „Gottesdienst“ als Inbegriff der religiösen Praxis des Christentums nicht primär auf kultische Handlungen wie Gebet und Opfer, sondern auf das ganze Leben eines Menschen, auf die Art und Weise seines Umgangs mit anderen, auf den Umgang mit sich selbst, auf Intention und Sinn der eigenen Arbeit u.a.m. Nicht nur in der Theologie Martin Luthers, auch in der Mystik Meister Eckharts, bei wichtigen Vertretern der theologischen Aufklärung, auch in einzelnen Impulsen des Pietismus, treten Konturen hervor, die auf das Menschsein des Menschen zugeschnitten sind, und seiner Veranlagung, Subjekt zu sein, zutiefst entsprechen. Wenn man den erwähnten, weiten Gottesdienstbegriff unterstellend, das vielfältige Spektrum an Formen religiöser Kommunikation des Christentums unter anthropologischen Gesichtspunkten betrachtet, kann man einen Verdacht schöpfen: Das erwähnte Prinzip, den Menschen um seines Menschseins willen „religiöse Praxis“ angedeihen zu lassen, wird in dem Maße vernachlässigt, je weiter man sich dem kultischen Kern des Christentums, dem Gottesdienst selbst, nähert: Im Bereich der Diakonie stehen die Würde des Menschen, das Eingehen auf seine Wünsche, größtmögliche Selbstbestimmung, sogar der Respekt vor Eigensinnigkeiten ganz oben an. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass die diakonische Dimension der religiösen Praxis des Christentums für viele Menschen für die bleibende Relevanz des Christentums überhaupt steht: Konsequente Lebensdienlichkeit, der vornehme Verzicht auf das Aufspalten von Existenzfragen in scheinbar nur geistliche und scheinbar nur alltägliche, unbedingte Annahme des ganzen Menschen. Diese durchaus wahrgenommenen Prinzipien tragen dazu bei, dass das Christentum als eine auf Gemeinschaftlichkeit angelegte Religion hervortritt, die Menschen mit besonderen Bedürftigkeiten und Behinderungen die Möglichkeit eröffnet, unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenen Leben zu führen und dabei von einem eigenen Spielraum Gebrauch zu machen. Seit Beichte und Vergebung nicht mehr generell als Inbegriff von Seelsorge gelten, seit Seelsorge als christliche Praxis explizit mit den Kategorien der Annahme, Wertschätzung und Aufmerksamkeit für den ganzen Menschen ver-

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bunden ist, seit Ratsuchende sich als eigentliches Subjekt der Seelsorge21 verstehen dürfen und das seelsorgliche Gespräch vereinzelt sogar als privilegierter Raum dafür verstanden wird, den eigenen Willen zu artikulieren22, seitdem ist es kein Tabu mehr, die Aufgabe der Seelsorge darin zu sehen, etwas dazu beizutragen, dass ein Mensch mit der ihm eigenen Identität zum Vorschein kommt, und ihm dabei zu helfen, sich und den anderen entsprechend zu begegnen. Gleichwohl stößt man auf dem Gebiet der Seelsorge auf anthropologische Modelle, die zu solchen Orientierungen ganz und gar nicht passen. Das zeigt sich zum Beispiel dort, wo Autoren versuchen, Intention, Aufgabe oder Methodik der Seelsorge kategorisch von anderen Bemühungen um das Menschsein des Menschen abzugrenzen. „Der Mensch“ wird dann kurzerhand in den Kontext dogmatischer Einsichten gestellt, von denen – wer wollte es leugnen – behauptet wird, dass sie für Bemühungen jenseits von Seelsorge nicht relevant seien. „Macht Logotherapie vertraut mit demjenigen, was dem Klienten natürlicherweise an Sinn in den Sinn kommen kann, so macht Seelsorge mit demjenigen vertraut, was dem Klienten natürlicherweise an Sinn niemals in den Sinn kommen kann.“23 Seelsorge erscheint hier als vages Sinnergänzungskonzept, von dem erwartet wird, dass es dem Einzelnen gewissermaßen mit einem fremdem Sinn aufhilft. Inwiefern allerdings ein Sinn, der dem Ratsuchenden kategorisch fremd ist und ihm nie in den Sinn kommen kann, lebensdienlich werden soll, bleibt im Dunkeln.

Dazu gehören die fortgesetzten Rechtfertigungen des „Bruchs“ im seelsorglichen Gespräch, die implizit davon ausgehen, dass der Bedarf zur Inanspruchnahme von Seelsorge primär aus dem Gotteskonflikt des Menschen erwachse, als hätten Probleme, die auf ein menschliches Urteil, gar auf ein eigenes Urteil in eigener Sache warten, in der Seelsorge nichts verloren. Ausgehend von der Prämisse, dass das Seelsorgegespräch alles Menschliche „dem Urteile des Wortes Gottes unterstellt,“ folgerte Eduard Thurneysen, dass „durch das ganze Gespräch eine Bruchlinie [geht], die anzeigt, dass das menschliche Urteilen und Bewerten und das ihm entsprechende Verhalten […] in seiner Vorläufigkeit erkannt ist. Da der Mensch sich diese Relativierung und damit gegebene Beschränkung seines natürlichen Urteils nicht gefallen lässt, sondern sich dagegen zur Wehr setzt, wird das Seelsorgegespräch zum Kampfgespräch, in welchem um die Durchsetzung des Urteils Gottes zum Heil des Menschen gerungen wird. […] Dieses Geltendmachen eines über allem Menschlichen im buchstäblichen Sinne als Vor-Urteil waltenden göttlichen Urteils und das dadurch bedingte Hineinstellen aller menschlichen Dinge in das neue

21 Vgl. Wilhelm Gräb: Ratsuchende als Subjekte der Seelsorge, in: Wilfried Engemann (Hg.): Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 22009, 128–142. 22 Vgl. Wilfried Engemann: Acquisition of freedom, a. a. O. (s. Anm. 4), Kapitel 4, 158–164. 23 Wolfram K. Kurz: Seel-Sorge als Sinn-Sorge. Zur Analogie von kirchlicher Seelsorge und Logotherapie, in: WzM, 37. Jg., H. 4, 1985, 225–237, hier 225.

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Licht dieses Urteils – das ist gemeint, wenn hier vom Bruch im seelsorgerlichen Gespräch die Rede ist.“24

Seelsorger werden dementsprechend darauf vorbereitet, sich auf „das menschliche Urteilen und Bewerten und das ihm entsprechende Verhalten“ als signifikanten Widerstand gegen Gottes Urteil gefasst zu machen, denn Menschen ließen sich die Relativierung und Beschränkung ihrer Überzeugungen, so die Argumentation, nicht gefallen. Dass Menschen gerade auf der Suche nach einer solchen Relativierung (im Sinne von „Triangulierung“) ein seelsorgliches Gespräch in Erwägung ziehen, kommt dabei nicht in den Blick. Kommunikationsmuster der Predigt gehen noch deutlicher als SeelsorgeKonzepte von anthropologischen Prämissen aus, die – als sie entworfen wurden – eigentlich die Heilslehre der christlichen Kirche plausibilisieren sollten. So bestehen z. B. viele Parallelen zwischen dem von Luther aufgegriffenen Konzept des incurvatus in se ipsum und den – meist im ersten Teil von Predigten auftretenden – Klischees über den „modernen“ oder „postmodernen Menschen“ als ein egoistisches, selbstverliebtes, konsumgieriges, unverbindliches und gleichgültiges Wesen. Dieser Identifikationsfigur wird alles das aufgebürdet, wovon das Evangelium im zweiten Durchgang der Predigt dann angeblich befreit. Die mangelnde Attraktivität der dabei eröffneten Identifikationsangebote ergibt sich daraus, dass Menschen schlechterdings so nicht sein können und wollen, wie es ihnen nahegelegt wird: Gutmenschen und Allesversteher sind frustrierende Optionen für Menschen, die einer Predigt in der Erwartung folgen, in Richtung Menschsein erbaut zu werden. Die Gottesdienstliturgie als kultischer Kern des Christentums steht am stärksten in der Gefahr, Menschen an eine Glaubenskultur heranzuführen, durch die sie in eine bizarre Zwickmühle geraten. Sie werden in endlosen Rechtfertigungsschleifen faktisch vor die Alternative gestellt, entweder gerne Mensch oder christlich zu sein. Das zeigt sich auch an dem nach wie vor dominanten moralistischen Sündenbegriff, der Menschen in allem, was an Gutem von ihnen erwartet wird (wie gut dieses „Gute“ tatsächlich ist, wäre im Einzelnen zu diskutieren), stereotyp ein „zu wenig“ unterstellt. Allsonntäglich wird Menschen vorgeworfen, sie hätten zu wenig geliebt, zu wenig Verständnis gezeigt, zu wenig geholfen, zu wenig Geduld aufgebracht und Gott damit gekränkt – der Eindruck muss entstehen –, dass es nicht ein bisschen mehr war. Gottesdienste können bisweilen den Eindruck erwecken, deswegen stattzufinden, damit Gott und die Menschen wieder miteinander ins Reine kommen. Abgesehen davon, dass das Motto „von allem Guten ein bisschen mehr“ die Sünde nicht aus der Welt schafft, wollen, können und sollen Menschen keine religiöse Entwicklung durchlaufen, 24 Eduard Thurneysen: Die Lehre von der Seelsorge, Zürich 1948, 114f.

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in deren Ergebnis sie immer das von sich geben, was gerade erwartet wird. Dann dürften sie nämlich keine Menschen mehr sein. Mit dem faktischen Vorwurf des Menschseins ist die Kultivierung eines permanent schlechten Gewissens verbunden, die die Auseinandersetzung mit wirklicher Schuld und die Erfahrung von Reue als Ausdruck von Freiheit geradezu verhindert. Die damit einhergehende Bemäkelung mangelnder Liebe vernachlässigt die Mannigfaltigkeit an Interaktionen sozialer Zuwendung, die sich zwischen Menschen im Laufe einer Woche ereignen, und macht dafür perfiderweise das Enttäuschtsein Gottes verantwortlich. Damit wird einem narzisstisch-religiösen Leistungsdenken Vorschub geleistet, bei dem stillschweigend davon ausgegangen wird, „bis nächste Woche“ mindestens das Prädikat „ausreichend“ schaffen zu können. Diese Beobachtungen, die sich anhand entsprechender Dokumente aus der Theorie und Praxis diakonischer, seelsorglicher, homiletischer und liturgischer Vollzüge noch zuspitzen ließen, ziehen einen Verdacht nach sich: Die den verschiedenen Bereichen der religiösen Praxis des Christentums jeweils zugrundeliegende Anthropologie – also auch der Umgang mit Menschen – wird um so kruder, je näher man dem Kern des religiösen Kultus kommt. Damit kommen diejenigen intimen Sequenzen des liturgischen Geschehens in den Blick, in denen die Glaubenshaltung von Menschen als Gesamtausdruck der Beziehungen artikuliert und bewertet wird, in denen sie sich Gott, den anderen und sich selbst gegenüber wahrnehmen. Zu diesen Passagen gehören insbesondere jene als Beichte, Bekenntnis oder Gebet gesprochenen oder gesungenen Texte, die mit einer expliziten Selbstthematisierung, mit ,lautem Nachdenken über sich selbst‘ und oft mit einer öffentlichen Bewertung des eigenen Lebens verbunden sind, sei es in Verbindung mit dem Vorbereitungsgebet, mit dem Kyrie oder mit dem Kollektengebet, sei es im Rahmen der Fürbitte oder bei der Einleitung und semantischen Akzentuierung der Mahlfeier. Auch die Predigt kommt in der Regel an einen für ihr Gesamtverständnis weichenstellenden Punkt, an dem der Mensch sich selbst zum Thema und auf eine ganz bestimmte Weise zu verstehen gegeben wird, nämlich im Horizont der Beziehung zu sich selbst, zu den anderen und zu Gott. Bei diesen Sequenzen des Gottesdienstes hängt alles davon ab, dass ein Mensch als der, der er ist, aus der Deckung kommen kann. Er soll zu sich selbst, zu den anderen und zu Gott in Beziehung treten können, ohne sich in der Glaubenshaltung, die sich in diesen Beziehungen manifestiert, verkrümmen zu müssen. Das gelingt aber nicht, wenn sich ein Gottesdienst als Anleitung dazu entpuppt, gleichsam mit sich selbst auf Kriegsfuß zu stehen. Nichts anderes wird gefordert, wenn man dazu angeleitet wird, den eigenen Willen gering zu schätzen und es für eine Tugend zu halten, ihn zu übergehen oder ihn am besten gar nicht zu kennen.

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Die in einem Gottesdienst nahegelegte Glaubenshaltung hat auch dann eine Menschen verkrümmende Wirkung, wenn die Ressource der Selbstliebe als verbotene Droge diffamiert und mit Egoismus gleichgesetzt wird. Das vermeintlich christliche, aber im Kern religionspopulistische Dogma des von sich aus grundsätzlich nicht auf Liebe ausgerichteten Menschen, der – wo es ihm mit Gottes Hilfe doch gelingt, anderen mit Liebe zu begegnen – immer unter dem Soll bleibt, schickt die Menschen auf den Acker wie den Hasen im Wettlauf mit dem Igel: Es ist nicht zu schaffen. Wenn man schon mit der Argumentationsfigur des incurvatus in se ipsum liebäugelt und in der Kommunikation des Evangeliums eine privilegierte Möglichkeit dafür sieht, dass Menschen sich durch ihren Glauben aufrichten können (ich bin überzeugt, dass das so ist), dann sollte man auch die Verkrümmungen von Menschen im Blick haben, die sich im Mitvollzug eines Gottesdienstes einstellen können. Vielleicht ist die vielzitierte Selbstdiagnose aufgeklärter Zeitgenossen, religiös unmusikalisch zu sein, nicht die Folge davon, dass sie vom Glauben abgefallen wären, sondern davon, dass der Glaube von ihnen abgefallen ist, weil er ohne Anhaltspunkte an ihrem Menschsein auskommen musste. Die Ablösung des Glaubens(bewusstseins) vom Menschen hat auch mit der theologischen Ausdünnung der emotionalen Dimension des Glaubensbegriffs zu tun. Wenngleich sich gerade Wolfhart Pannenberg dafür eingesetzt hat, den Bereich der Affekte bei der Beschreibung der Identität und im Zusammenhang der Selbstwerdung des Menschen nicht außen vor zu lassen25, ist es doch problematisch, die damit verbundenen Erfahrungen nicht im Rahmen eines Aneignungsprozess zu reflektieren, sondern sie ganz zur Kategorie des Nehmens zu rechnen. Pannenberg meint, positive Gefühle wie Freude, Hoffnung, Liebe, die solche identitätsbildenden Vorgänge auslösten und begleiteten, gingen nur aus vorgängigen Beziehungen hervor, womit Pannenberg die „exzentrische Struktur“ nicht nur der (positiven) Gefühle, sondern auch der Glaubenserfahrung im Blick hat.26 Es ist zwar theologisch anregend, die Auseinandersetzung mit negativen Gefühlen faktisch im Kontext der Sündenlehre zu reflektieren und dabei die Selbstentfremdung des Menschen von seiner Gottesbeziehung im Blick zu haben, aber es ist höchst fragwürdig, zu meinen, stringent zwischen positiven und negativen Gefühlen unterscheiden zu können, um auf dieser Grundlage zu ermitteln, welche Gefühle letztlich glaubensstärkend und welche glaubensförderlich sein könnten. Denn auch Aggressionen können „positiv“ und unentbehrlich für das Ringen gerade um solche Beziehungen sein, von denen Zuwendung und Liebe zu erwarten sind. Überdies schafft die Klassifizierung von „negativen Gefühlen“ als Sünde neue 25 Vgl. Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1993, 257. 26 Vgl. a. a. O., 257–259. Negative Gefühle wie Furcht, Angst, Traurigkeit, Zorn usw. sind demgegenüber Ausdruck der Selbstentfremdung des Menschen, also der Sünde und widerspiegeln das Dilemma des incurvatus in se ipsum (259).

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Probleme, und zwar auch dann, wenn, wie bei Pannenberg, von Sünde durchaus nicht moralisch die Rede ist. Tiefe Traurigkeit oder starke Aggressionen wiederum sind keineswegs immer Akte der Selbstentfremdung, sondern können durchaus zur Identitätsbildung und Selbstwerdung beitragen.

Ich möchte die These eines sich in Richtung des kultischen Kerns ansteigenden Unter-Druck-Geratens des Menschen nicht generalisieren, sie aber doch als so offenbare Problemanzeige markieren, dass es gerechtfertigt erscheint, „Gegenmaßnahmen“ zu erwägen. Sollte nicht auch und gerade der kultische Kern des Christentums von einem Umgang mit Menschen geprägt sein, der sie in mindestens demselben Maße als Menschen zum Vorschein kommen lässt, wie das von diakonischen, seelsorglichen und homiletischen Prinzipien erwartet wird – natürlich mit anderen Mitteln bzw. auf je unterschiedliche Weise? Schließlich geht es bei der Kommunikation des Evangeliums nicht einfach um religiöse Agitation des Menschen zum Tun des Guten oder um bloße Appelle zu Umkehr und Veränderung: Für die Gottesdienstreform Martin Luthers vor 500 Jahren war es von zentraler Bedeutung, Menschen vor Gott dasein zu lassen, ohne ihnen für ihr Menschsein ein schlechtes Gewissen zu machen. Wie kommt es, dass diese Programmatik nicht so recht greift? Warum ist es so schwierig – und wird zudem unterschätzt –, die gottesdienstliche Praxis des Christentums so zu interpretieren, dass Menschen im Vollzug dieser Praxis etwas von der Weite und Tiefe ihres Lebens zu spüren bekommen? Warum kommt es immer noch dazu, dass Menschen ausgerechnet im kultischen Kernbereich der Glaubenskultur des Christentums zu Selbstverkrümmungen veranlasst und, der Selbstliebe entwöhnt, zu einem Marathon auf dem Endloslaufband geschuldeter Liebe animiert werden, für den immer nur dieselbe Urkunde ausgestellt wird: „Nicht genügend“. Warum misslingt es noch zu oft, einen Gottesdienst nicht „heidnisch“ aufzuziehen, ihn also nicht als einen Kult erscheinen zu lassen, der stattfinden muss, um die Beziehungsprobleme mit Gott zu managen? Und last but not least: Warum wird von den verantwortlichen Geistlichen oftmals kaum wahrgenommen, welchen Grad an Lieblosigkeit, Beschämung und Gängelung ein scheinbar harmloser Gottesdienst unter ihrer Leitung haben kann? Gelegentlich werden entsprechende Nachfragen mit dem „empirischen Argument“ zurückgewiesen, dass es „bei uns wirklich ganz nett“ sei und „alle gern kommen“. Es steht für mich außer Zweifel, dass eine gar nicht so ernst gemeinte liturgische Schelte tatsächlich „ganz nett“ klingen kann, was ihre ganze Problematik offenbart: Es gibt eine Fülle aufgegriffener liturgischer und homiletischer Sprachregeln, deren Schroffheit keiner mehr ernst nimmt, ohne diese gottesdienstlich inadäquate Annäherung an das Leben des Einzelnen als substantiellen Mangel zu empfinden. Im Gottesdienst soll es ja auch nicht vor allem „nett“ zugehen; schließlich ist das Führen eines eigenen Lebens eine großartige, einmalige, immer wieder überraschende Angelegenheit. Es geht es um

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etwas – nicht zuletzt um die Frage, wer wir eigentlich sind, wohin wir gehen, was wir wollen können usw.

Unter den vielen Ursachen für die skizzierten Beobachtungen dürften drei Entwicklungslinien von besonderer Bedeutung sein: 1. Die als „heidnisch“ diagnostizierte Bruchlinie in der religiösen Praxis des Christentums ist unter anderem das Ergebnis der latenten Fortwirkung eines Jahrtausende alten Grundprinzips der Religionen, Menschen zu disziplinieren und sie durch ihre Beteiligung am Kult in die Pflicht zu nehmen. 2. Wie alle Ausdrucksformen religiöser Praxis stehen auch die des Christentums in der Gefahr, sich im Zuge institutioneller Entwicklungen, z. B. durch die Verwaltung dieser Praxis durch die Kirche, zu verselbständigen und zum Selbstzweck zu werden. Dieser Fall ist z. B. dann eingetreten, wenn man nicht mehr erkennen kann, dass ein Gottesdienstes in erster Linie um der Menschen willen gefeiert wird, die tatsächlich da sind. 3. Die anthropologischen Hypotheken solcher Praxis sind aber auch auf eine geschichtliche Entwicklung der Kommunikationssituation des Gottesdienstes zurückzuführen. Durch unmittelbare Übernahme soteriologischer Aussagen und Formeln in die Kultsprache des Christentums wurden die komplexen Funktionen der gottesdienstlichen Feier auf Heilsvermittlung reduziert. Dementsprechend interessiert der Mensch vor allem als Mensch in der Krise, die als Folge seiner Sünde bewertet wird. Für die implizite Anthropologie des Gottesdienstes ist der Mensch folglich nur als Erlösungsbedürftiger relevant, als jemand, der den Glauben nur seiner Sünde wegen braucht. Weitere Anhaltspunkte für die auf den vorangegangenen Seiten skizzierten Zustände und Entwicklungen könnten unter anderem durch genauere religionssoziologische Analysen gewonnen werden: Das Repertoire dogmatisch-intellektueller Antworten, frömmigkeitstypischer Lebensmaximen oder diverser Konzepte des Glaubenskampfes aus der Geschichte des Christentums – um nur einige Strukturmerkmale christlicher Religion zu benennen – weist je spezifische, mit charakteristischen Zeiterfahrungen verschmolzene Formen eines „Lebens aus Glauben“ auf. Die „Antworten“ und „Lösungen“ der Reformatoren sind beispielsweise ohne ihre Verankerung im Wirkungsgeflecht von Staat bzw. obrigkeitlicher Gewalt und Kirche, Kirche und Theologie, Theologie und Religion, Religion und Menschsein usw. im 16. Jahrhundert kaum verständlich. In der späteren Epoche der Aufklärung, in der „machtgestützte Konfessionalität“27 ihre Plausibilität verliert und die Herausforderungen an Religion und Theologie sich wiederum ändern, funktionieren die zu diesem Zeitpunkt schon 200 Jahre alten „traditionellen“ Antworten nicht mehr so wie ehedem. Die erneut empfundene, aus „differenten Zeiterfahrungen“ resultierende, allgemeine Beunruhi27 Zur Terminologie vgl. Wolfgang Eßbach, a. a. O. (s. Anm. 10), 744.

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gung führt zu geänderten Fragen. Es ist gleichermaßen Anliegen der Religionskritik wie der Theologie, „die Rolle von Religion im Angesicht der jeweiligen vordringlichen Zeiterfahrung neu zu definieren“28 – oder diese Rolle zumindest zu erkunden.

In den Kirchenbänken sitzen sonntags viele Menschen, die um ihre Erlösung von Sünde, Tod und Teufel wissen bzw. dies in ihrer Art zu glauben voraussetzen, Menschen die nicht zuerst die Frage beantwortet haben wollen, wie sie gewiss sein könnten, dass Gott ihnen endlich gnädig ist und ihnen die Hölle wider Erwarten erspart bleibt. Es sind Menschen, die vielleicht nicht einmal körperliche oder seelische Schmerzen verspüren, die man lindern oder deretwegen man sie trösten könnte, Menschen, die überdies gern für ihre Nächsten da sind und nicht lange zögern, wenn sie um ein Opfer gebeten werden – Menschen, die trotzdem das Abenteuer zu bestehen haben, unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen. Was haben sie angesichts dieser Herausforderung davon, dass sie Christen sind?

6.

Mensch sein im Blickpunkt der religiösen Praxis des Christentums

Schon die Frage nach einem Idealtypus, einem Lernmodell oder einer Topographie christlichen Menschseins, an dem sich diejenigen orientieren könnten, die berufsmäßig mit der Gestaltung der religiösen Praxis des Christentums befasst sind, setzt sich dem Vorwurf der Blasphemie aus. Zumindest dann, wenn diese Frage über das einzige im Protestantismus akzeptierte Identitätskonzept hinauszielt, über das des simul iustus et peccator, des sich der Sünde und der Gnade gleichermaßen bewussten Menschen. Mit den dabei ins Feld geführten Argumenten (wie dem der hochmütigen Selbstbezüglichkeit, der verlogenen Werkgerechtigkeit oder des trägen Ungehorsams des Menschen) werden allerdings sekundär-anthropologische Aspekte zur Definition des Menschseins herangezogen. Sie sind deshalb sekundär-anthropologisch zu nennen, weil sie – wie man am Beispiel der Ablehnung der Willensfreiheit durch das Luthertum sehen kann – vor allem aus der Heils- bzw. der Gnadenlehre rekonstruiert worden sind. Die theologische Charakterisierung des Menschen als simul iustus et peccator, seine Verortung in den Koordinaten von Hamartiologie und Soteriologie, reicht aber nicht aus, um zu erörtern, wie dieser Mensch – von seiner Freiheit Gebrauch machend – sein nur von ihm zu verantwortendes Leben führen soll. Wo dieses Vermögen überhaupt in den Blick kommt, wird es häufig verdächtigt, dem 28 A. a. O., 26.

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Willen Gottes Konkurrenz zu machen. Oder es wird als Ausdruck der Heiligung des Menschen verstanden, wobei sogleich davor gewarnt wird, wieder unter das Gesetz zu kommen und sich die Zuwendung Gottes durch eine anständige Lebensführung verdienen zu wollen – oder gar der völligen Eigengesetzlichkeit zu verfallen, also weder aus der Gnade zu leben noch von der Erfüllung des Gesetzes etwas zu erwarten. In summa gewinnt man den Eindruck, dass die Persönlichkeit des Menschen einfach nicht dazu taugt, eine ernstzunehmende Rolle in einem „zusammenhängenden ethischen Lebensganzen“29 zu übernehmen. Das ist in zweierlei Hinsicht unbefriedigend: Zum einen, weil Theologie auch dann noch nach dem Menschen fragen muss, wenn seine Errettung von Sünde, Tod und Teufel gerade einmal nicht auf dem Spiel steht, und zum anderen, weil die Verkürzung der Erfahrung von Heil auf alles, woran der Mensch angeblich keinen Anteil hat, dazu führt, dass Glauben faktisch auf die Kategorie einer Gewissheit reduziert wird. Die daraus abgeleitete Heilsgewissheit wird weithin immer noch als ein Sich-Durchringen zu vernunftwidrigen Vorstellungen apostrophiert, als ein entschlossenes Für-Möglich-und-Wahr-Halten von Glaubenstatsachen, die ohne Zutun und Verdienst des Menschen um seinetwillen geschehen sind – in Predigten stereotyp verknüpft mit folgendem rhetorischen Muster : „Dies und das ist der Fall. Du musst es nur noch glauben. Dann wird sich dir das Heil erschließen“ – was immer man darunter verstehen mag. Ein protestantisches Identitätskonzept sollte dagegen anschlussfähig sein an Einsichten über den Menschen, die (auch) jenseits theologischer Wissenschaften gewonnen wurden und die falsche bzw. verkürzte Rezeption Darwins30 überwinden. Die vermeintlichen Fakten der Darwin’schen Anthropologie, auf die man sich gerade im Kontext der Inszenierung der gottesdienstlichen Praxis gern berufen hat, sind schnell benannt: Der Mensch, als Egomane geboren, ist von Natur aus notorisch auf sich selbst bezogen. Er ist von sich aus zu keiner Beziehung imstande. Er ist zuerst und zuletzt auf sein eigenes Fortkommen bedacht. Gegen die anderen zu obsiegen macht ihn glücklich. Seine Beweggründe sind daher feindlich. Gern wird in diesem Zusammenhang die „Fratze des Menschen“ als Ausdruck seiner Unnahbarkeit, Unberechenbarkeit und Unglaubwürdigkeit beschworen. Das Problem solcher, den Menschen als unberechenbares, triebgesteuertes Tier porträtierenden Anthropologien in der Theologie besteht u. a. darin, dass entsprechende Vorschläge einer Intervention (in die unberechenbar gefährlichen Pläne des Menschen) weitge29 Ernst Troeltsch in seiner Rezension zu G. Hoennicke: Studien zur altprotestantischen Ethik, Berlin 1902, in: GGA, Nr. 8, 1902, 577–583, hier 581. 30 Vgl. Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 22006, 95–132.

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hend auf Anknüpfungspunkte in der Daseinserfahrung und Lebensführung des Menschen verzichten und sich im Kern als Unheilsprophetien präsentieren. Der Topos von der „Fratze des Menschen“ erscheint – außer im Zusammenhang der in der Regel nachvollziehbaren Kommentierung der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ als Extremverhalten – vor allem in Beiträgen, die solche Konzepte skandalisieren, die beim Menschen als Adressaten aller Wissenschaft ansetzen und ihn in den Fluchtpunkt ihres Interesses stellen. Entsprechende philosophische, psychologische und theologische Modelle für das Dasein und Handeln des Menschen werden mit dem Hinweis auf die „Fratze des Menschen“ vom Tisch gewischt, freilich nicht ohne hinzuzufügen, dass man dem Menschen nur mit der vom Kritiker jeweils vorgeschlagenen Ausweg-Religion, Ausweg-Theologie oder Ausweg-Therapie beikommen kann. Zahlreiche Beispiele dafür finden sich in Texten zur theologischen Anthropologie. So ist etwa Bernhard A. Grimm – bezugnehmend auf die „dämonische Fratze des Menschen“ – der Auffassung, dass es zwar „keine Evolution im Psychischen“ gebe, aber die „diabolisch-destruktive Kreativität des Menschen […] nach immer neuen, subtileren Formen suche, „das Gegen, das sie im Herzen trägt, zu seinem vernichtenden Werk zu führen“.31 Eine Entwicklung des Psychischen, nämlich hin zum Negativen, gibt es also anscheinend doch. Im Hinblick auf den – von ihm falsch und unvollständig zitierten – Homo-Mensura-Satz32 spricht Grimm von einem „fatalen Motto“, das zu einer „verhängnisvollen Überschätzung des Menschen […] und zu einer fluchwürdigen Anthropozentrik geführt“ habe.33 Die in Protagoras’ Sentenz beschriebene Unausweichlichkeit, als Subjekt nolens volens immer in einer Relation zu Menschen und Dingen zu stehen, wird in dieser Kritik völlig übersehen bzw. ignoriert.

Es überrascht nicht, dass der Topos von der „Fratze des Menschen“ auch in Predigten zu finden ist, häufig eingebettet in die Attacken von Kanzelschelte, die vergeblich versuchen, den Boden auf diese Weise für die Kommunikation des Evangelium vorbereiten, ihn aber tatsächlich vergiften: Wenn der Mensch nicht so handelt, wie es Gottes Willen entspricht – und, so der Duktus, das sei das Dauerproblem des Menschen – ist er nicht mehr Ebenbild, sondern Fratze, die sich als Folge von „Fehlern“, „Schwächen“ und „Unzulänglichkeiten“ einstellt: „Sie erinnern sich an den ersten Schöpfungsbericht. Kurz vor Schluss heißt es da: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde. In uns spiegelt sich etwas von Gott. Wir sind nach dem Bilde Gottes gemacht. Das muss man sich nur überlegen. Mal ehrlich: Gibt es einen tolleren Anblick? Gibt es etwas schöneres, als Gottes Ebenbild? Welche Maske kann das bieten oder gar noch toppen? Nein, das ganze Sortiment des Maskenhändlers 31 Bernhard A. Grimm: In den Armen des Lebens. Reflexionen zum Menschsein, Berlin 2012, 94. 32 „Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Der seienden, dass sie sind, der nicht-seienden, dass sie nicht sind.“ Im Theaitetos legt Platon diesen Satz Sokrates in den Mund, der ihn – angeblich Protagoras zitierend [daher heute meist als „Protagoräischer Satz“ apostrophiert] – als Argument im Dialog mit Theaitetos benutzt (Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. II, hg. v. Erich Loewenthal, Wiesbaden 2001, 567 [= Platon, Theaitetos, 152 A]). 33 Bernhard Grimm: In den Armen des Lebens, a. a. O. (s. Anm. 31), 92.

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nimmt sich da aus, wie der letzte Ramschladen. Jede Maske kann im Vergleich zu Gottes Ebenbild nur eine entstellende Fratze sein. Gottes Ebenbild. Ist natürlich auch eine große Verantwortung. Wenn wir dieser Ebenbildlichkeit entsprechen, wenn wir so leben, handeln, reden, wie es dem Willen des Schöpfers entspricht, dann können andere Menschen in uns etwas von Gott entdecken – wie durch einen Spiegel. Doch da liegt natürlich der Haken. Wenn wir unsere Masken ablegen, entdecken wir genug Dinge, die nicht so toll sind, die nicht eben gottebenbildlich sind. Wenn wir die Maske ablegen und alles bloßlegen, dann kann es nicht anders sein, als dass auch unsere Fehler zu Tage kommen, unsere Schwächen, unsere Unzulänglichkeiten.“34 Zu den Aporien dieses „Argumentierens“ gehört es, dass solche Sätze im Allgemeinen natürlich nicht als gut gemeinte Empfehlung für den Umgang mit sich selbst wahrgenommen werden, obwohl sie von der Fratzenhaftigkeit des Menschen ausgehen, einem Zustand, dem man – nach eigener Logik – nur durch ethisch korrektes Verhalten oder durch ein Dennoch des Glaubens entkommt. „So dürfen wir zwar denken, was immer wir wollen, aber es darf nicht mehr alles gemacht werden, was wir können. Unsere Zukunft hängt auch davon ab, ob wir es lernen, das zu akzeptieren. Wo wir das nicht einsehen, wird unsere Ebenbildlichkeit mit Gott verzerrt: des Menschen Bild wird zur Fratze.“35 „Die weltweite Vernetzung des Menschen durch seine Arbeit, sein Freizeitverhalten und die vielfältigen neuen Kommunikationswege ermöglichen es, im Kontakt mit anderen Religionen und Kulturen deutlich zu machen, wofür wir Christen eigentlich einstehen und woran wir glauben. Wir geben der christlichen Ethik ihr Gesicht, oder wir zerstören es, deformieren es zu einer Fratze.“36 Letztes Beispiel: „Er sagt dir : Schau dich an. Dich gibt es nur ein einziges Mal auf der Erde. Du kannst etwas bewirken in deinem Leben. Höre nicht auf, nach deiner Aufgabe zu suchen. Hab keine Angst. Denn da ist einer, der dich immer begleitet. Er liebt dich selbst dann, wenn du im Spiegel nicht mehr als deine eigene Fratze erkennen kannst.“37 Weshalb aber sollte der Mensch eine Fratze haben, bekommen oder sein, nur weil er sich ungeschminkt sieht oder weil ihm nicht alles gelingt? Faktisch wird im Topos von der Fratze die Prämisse der Würde des Menschen in Frage gestellt.

Darwins Auffassungen, soweit sie die Beweggründe des Menschen betreffen, werden heute von namhaften Vertretern aus dem Bereich der Biologie und der Medizin in entscheidenden Punkten revidiert und in ihrem historischen Kontext aufgezeigt. Sie werden unter anderem als direkte Übertragungen von wirtschaftstheoretischen Begriffen wie „Konkurrenz“ und „Überlebenskampf“ in 34 Thomas Scheiner: Predigt zu Psalm 139 (14. Juni 2004) unter : http://www.predigtpreis.de/ predigtdatenbank/predigt/article/predigt-ueber-psalm-139-1.html (letzter Zugriff: 09. Oktober 2015). 35 Hanns-Heinrich Schneider : Predigt zu Gen 1,26–31 (16. Juli 2000) unter : http://www.punc tum.com/kirche/predigt/gen1_26.html (letzter Zugriff: 09. Oktober 2015). 36 Hanns-Heinrich Schneider: Predigt zu Heb 13,8–9 (31. Dezember 2001) unter : http://www. predigten.de/predigt.php3?predigt=2674 (letzter Zugriff: 09. Oktober 2015). 37 Verena Fries: Predigt zu Exodus 3, Ex 3,1–10 (11–14) (14. Juni 2004) unter : http://www. predigten.de/predigt.php3?predigt=3033 (letzter Zugriff: 09. Oktober 2015).

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anthropologische Zusammenhänge bewertet38 und z. B. von Beobachtungen über die Art und Weise ersetzt, wie und warum Menschen kooperieren oder unter welchen Bedingungen sie die Erfahrung von Freiheit machen. Viele der in diesem Zusammenhang formulierten Einsichten helfen zu verstehen, was in anthropologischer Hinsicht passiert, wenn Menschen nach dem Motto „Dein Glaube hat dir geholfen“ das Christentum als wichtige Ressource ihres Lebens erfahren und dabei nicht nur in Heilsgewissheiten schwelgen. Darunter sind Menschen, die so frei sind, im Einklang mit ihrem Willen, also eigenwillig zu leben, Menschen, die die Kraft ihres Glaubens nicht in Handlungen investieren, die sie für falsch und deren Wirkung sie nicht für wünschenswert halten. Es sind Menschen, die Glauben-Können eher mit einem leidenschaftlichen Lebensgefühl denn mit unausgesetzten Befreiungsakten oder mit dem ersehnten Ende lähmender Heilsungewissheit verbinden. Zu dieser sehr vorläufigen Skizze einer protestantischen Persönlichkeit gehört auch ein Nachfolgeverständnis, das nicht in einen rigorosen Umgang mit sich selbst mündet, sondern demzufolge der Vorstoß auf das Terrain der Selbstliebe als Form der Heiligung gelten kann, um nur einige Aspekte zu benennen. Diese als christliche Lebenskunst etablierten Facetten der christlichen Glaubenskultur legen es nahe, Anschlussstellen an eine zeitgenössische Anthropologie zu markieren, an denen die theologische Anthropologie neue Impulse sowohl empfangen als auch setzen dürfte. 1. Freiheit und Liebe sind primäre Beweggründe des Menschen, die ihm nicht erst durch Religion als Erfahrung, Emotion und Impuls zugänglich werden. Gleichwohl hängt die Lebensdienlichkeit der religiösen Praxis des Christentums in starkem Maße davon ab, ob Glauben selbst als eine Form der Zuund Aneignung von Freiheit bzw. des Empfangens und Gewährens von Liebe kommuniziert und empfohlen wird. 2. Weil Glauben-Können elementar mit den Erfahrungen von Freiheit und Liebe zu tun hat und insofern mit „großen Gefühlen“ verbunden ist, ist der emotionalen Dimension des Glaubens angemessen Rechnung zu tragen. Glaube kann Menschen nur dann zu eigen werden, wenn er sich auch emotional erschließt und nicht auf die Kategorie der Gewissheit reduziert wird. Bei der Kommunikation des Glaubens geht es also auch darum, dass Gefühle wie Erwartung, Neugier, Mut, Dankbarkeit, Freude oder Verantwortung als Ausdrucksformen des Glaubens verstanden werden. Glauben manifestiert sich im Lebensgefühl eines Menschen. Das Lebensgefühl, verstanden als gefühltes Gesamtfazit, in dem die Erfahrungen des Einzelnen mit der Welt, mit den anderen und sich selbst in einer Art emotionaler Gesamtbewertung

38 Vgl. Joachim Bauer : Prinzip Menschlichkeit, a. a. O. (s. Anm. 30), 18f.

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zusammenfließen, wird durch religiöse Praxis nicht nur artikuliert, sondern mitbedingt und beeinflusst. 3. Die Kommunikation des Glaubens wirkt sich nur dann positiv auf das Lebensgefühl eines Menschen aus, wenn sie die anthropologische Kategorie der „inneren Kohärenz“39 nicht gegen das Glauben-Können ausspielt. Mit „innerer Kohärenz“ ist jene Erfahrung der Stimmigkeit gemeint, die sich aus dem konvergenten Zusammenhang zwischen dem Wünschen, Entscheiden und Wollen eines Menschen einerseits und seinem Tun und Lassen andererseits ergibt. Sie ist die empirische Grundlage dafür, dass ein Mensch in dem, was er tut und lässt, zugleich ganz bei sich und ganz bei den anderen, ganz bei Gott und ganz in der Welt sein kann. 4. Diese Erfahrung wird in der religiösen Praxis des Christentums in dem Maße zum Problem, wie die Faktoren dieser Stimmigkeit – insbesondere ein eigener Wille als Konstituente der eigenen Subjektivität – als Ungehorsam, Egoismus, jedenfalls als Affront gegen einen imaginären Willen Gottes interpretiert werden. Schließlich hängt der Grad bzw. der Umfang der Erfahrung von Freiheit unmittelbar mit dem Grad der „inneren Kohärenz“ zusammen. Menschen durch religiöse Praxis dazu anzuleiten, eine nonchalante Haltung dem eigenen Willen gegenüber zu entwickeln und sie gleichzeitig zu ganzer Hingabe zu ermutigen, ist ein Widerspruch in sich. Umgekehrt ist die Erfahrung einer auf „innerer Kohärenz“ basierenden Freiheit von fundamentaler Bedeutung für die Erfahrung der Gegenwärtigkeit des Lebens. 5. Bis in die Gottesdienstkultur der Gegenwart hinein macht sich die Schwierigkeit bemerkbar, dem engem Zusammenhang von Glaube und Selbstliebe Rechnung zu tragen. Dazu wäre es erforderlich, das Verhältnis des Menschen zu sich selbst über das Stadium kritischer, schuldbewusster Selbstreflexion hinauszuführen und ihn unter anderem durch ein tieferes Verständnis liturgischer Formen zu einem rücksichts- und liebevollen Umgang, zur Freundschaft mit sich selbst, anzuleiten. Dabei kommt dem klassischen Topos der Heiligung eine besondere Bedeutung zu, denn „Heiligung“ hat zweifellos mit wachsendem Respekt gegenüber dem eigenen Leben zu tun.40 39 Vgl. Wilfried Engemann: Das Lebensgefühl im Blickpunkt der Seelsorge, a. a. O. (s. Anm. 6), 278–281. 40 Dies schließt wiederum die Herausforderung ein, aus Glauben leben zu können, weswegen „Heiligung“ der m. E. adäquate christliche Begriff für Lebenskunst werden könnte. In der religiösen Praxis des Christentums ist dieser Begriff allerdings semantisch ganz anders besetzt, als es in diesem Beitrag entfaltet wurde. Kirchliche Verlautbarungen zu diesem Thema und Gebetstexte, die es aufgreifen, sind in diesem Punkt noch ganz vom pietistischneuzeitlichen Verständnis von Heiligung als oboedientia activa, also von Heiligung als tätigen Gehorsam bestimmt. Immerhin wird darum ausgiebig gestritten: Vgl. dazu den Widerspruch zum Artikel „Vom Segen der Selbstvergessenheit“ (03. August 2012, http://www. theoblog.de/vom-segen-der-selbstvergessenheit/17950, letzter Zugriff: 09. Oktober 2015).

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6. Angesichts der Relevanz triangulierender Gottesvorstellungen für den Charakter der Religion gehört zu einer theologischen Anthropologie immer auch die Frage, wie die Beziehung des Menschen zu Gott gedacht wird. Die religiöse Praxis des Christentums repräsentiert sich, was die vorgesehene Rolle des Einzelnen bzw. der Gemeinde angeht, häufig in Einzelakten der Zuwendung des Menschen zu Gott, wozu im Rahmen von Predigten, Gebeten usw. mit Nachdruck aufgefordert wird. Dabei wird der falsche Eindruck vermittelt, dass Menschen erst oder vorrangig durch ganz bestimmt religiöse Akte eine Gottesbeziehung gewönnen, die sie sonst nicht hätten. Stattdessen sollte Menschen durch die Kommunikation des Evangeliums vermittelt werden, dass die ihnen entsprechendste Art und Weise, der eigenen Gottesbeziehung Ausdruck zu geben, auch darin besteht, im Führen des eigenen Lebens als Mensch zum Vorschein zu kommen. Wir sind von einer Betrachtung der Vorgänge ausgegangen, die ablaufen, wenn wir als jemand Bestimmtes zum Vorschein kommen und von diesem Prozess selbst als Erste überrascht werden. Im Sinne des Christentums religiös zu sein, hat viel damit zu tun, auch noch bis zuletzt davon überrascht werden zu können, wer wir sind. Die daraus resultierende Neugier auf sich selbst als Neugier auf das eigene Leben ist vielleicht eine der wichtigsten anthropologischen Kategorien, die in der religiösen Praxis des Christentums zur Geltung kommen muss.

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2. Die Entdeckung des „Social Brain“. Der Mensch aus neurobiologischer Sicht1 – The discovery of the “Social Brain”. Human beings from a neurobiological perspective

Zusammenfassung: Als neurobiologisch verankertes Grundmotiv des Menschen stellte sich das Bedürfnis nach Zuwendung, sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit heraus. Dies bedeutet allerdings keineswegs, der Mensch sei „gut“. Eine Voraussetzung für Beziehungskompetenz bildet die Fähigkeit zur Empathie, deren Grundlage durch das System der Spiegelnervenzellen gebildet wird. Zur prosozialen Orientierung des Menschen bedarf es jedoch mehr als lediglich zu fühlen was andere fühlen. Abstract: The need for affection, social acceptance and affiliation proved to be a neurobiologically grounded basic human motive. However, this does not mean that humans are „good“. One precondition for the competency in relationships is the ability for empathy, which is based on the system of mirror neurons. Nevertheless the prosocial orientation of humans requires more than being able to feel what others feel.

Neurobiologische Perspektiven können, auch wenn diese Anmaßung neuerdings gelegentlich durchklingt, keinen Anspruch auf einen Primat erheben, wenn es um die anthropologische Grundfrage geht, was der Mensch seinem Wesen nach sei. Sie können jedoch Mosaiksteine zu einem Bild beitragen, an welchem zahlreiche Disziplinen – und unter diesen die Philosophie sicher an herausragender Stelle – mitzuwirken haben. Der Einbruch der Biologie in unsere anthropologischen Grundüberzeugungen hat – ob wir dies begrüßen oder nicht – bereits vor Langem stattgefunden. In Deutschland begann er auf breiter Front mit der Rezeption Charles Darwins, die das Denken zwischen 1880 und 1930 revolutioniert hat.2 Anthropologische Grundüberzeugungen haben die Tendenz zu impliziten – und damit zu überwiegend unbewussten – Gewissheiten zu werden. Eine fundamentale Wiederbelebung der Überzeugung, der Mensch sei in seinen inneren Antrieben ein primärer Aggression verpflichtetes Wesen, erfolgte 1 Erstveröffentlichung dieses Beitrags in: Detlev Ganten u. a. (Hg.): Was ist der Mensch? (= Schriftenreihe Humanprojekt 3), Berlin 2008, 24–28. 2 Richard Weikert: From Darwin to Hitler. Evolutionary Ethics, Eugenics and Racism in Germany, New York 2004.

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durch die moderne Soziobiologie, und hier an erster Stelle durch das weltweit überaus einflussreiche Werk „Das egoistische Gen“ des britischen Zoologen Richard Dawkins. Wenn bereits unsere Gene „egoistisch“ sind, sind dann nicht alle anderen menschlichen Tendenzen bestenfalls Epiphänomene? Das Fatale der soziobiologischen Dogmen ist, dass sie – obwohl unhaltbar – zu einer weit verbreiteten Überzeugung und, mehr noch, zu einer pseudowissenschaftlichen Legitimation des derzeit weltweit herrschenden ökonomischen Systems geworden sind. Gene, so die in den letzten Jahren – nicht zuletzt aufgrund der vollständigen Analyse zahlreicher Genome – immer deutlicher hervortretende Erkenntnis, sind nicht „egoistisch“, sondern Kommunikatoren und Kooperatoren.3 Sie reagieren in ihrer Aktivität nicht nur fortwährend auf Signale, die sie aus der Umwelt erhalten, in sensiblen Phasen der biologischen Entwicklung eines Organismus eintreffende Signale können darüber hinaus eine Art biologischen „Fingerabdruck“ hinterlassen, indem sie einen überdauernden Einfluss auf die Aktivierbarkeit eines Genes ausüben, ein als „Epigenik“ bezeichnetes Phänomen. Als Kommunikatoren sind Gene alleine schon deshalb zu bezeichnen, weil sie, um aktiviert, abgelesen oder verdoppelt zu werden, unablässig auf kooperative Interaktionen mit zahlreichen anderen Molekülen angewiesen sind. Da Erleben und Verhalten des menschlichen Organismus mehrere Systemebenen über dem angesiedelt sind, was den Menschen mit Blick auf die Arbeitsweise und Funktion seiner Gene ausmacht, können von der Ebene der Gene allerdings keinerlei Schlussfolgerungen auf das Wesen des Menschen gezogen werden. Ein von der Biologie her auf den Menschen – als ein erlebender und sich verhaltender Gesamtorganismus – gerichteter Blick bedarf einer Perspektive, die über die Gene hinausweist. Es ist erst wenige Jahre her, dass von neurobiologischer Seite erkannt wurde, dass das menschliche Gehirn für das Erleben von „Antrieb“, „Vitalität“ und „Motivation“ ein spezifisches neuronales System zur Verfügung hat. Das Motivationssystem des Gehirns hat seinen Sitz im Mittelhirn und verdankt seine Bezeichnung der Tatsache, dass in ihm vorhandene Nervenzellen das Potential zur Synthese und Freisetzung von Botenstoffen haben, deren Wirkungen das biologische Korrelat dessen sind, was Menschen psychologisch als „Motivation“ und „Vitalität“ erleben.4 Die Aktivität der Motivationssysteme stellt sich nicht von alleine ein, sondern hängt von Stimuli ab, die das System von außen erreichen. Bekannt war in der neurobiologischen Forschung zunächst lediglich, dass Sucht erzeugende Sub3 Joachim Bauer : Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus, Hamburg 2008; James A. Shapiro: Genome Informatics: The Role of DNA in Cellular Computations, in: Biological Theory , 1. Jg., H. 3, 2006, 288–301. 4 Vgl. dazu Joachim Bauer : Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 2006.

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stanzen potente Stimuli dieses Systems darstellen: Ihr Suchtpotential verdanken Suchtmittel ausschließlich der Tatsache, dass sie Nervenzellen der Motivationssysteme unmittelbar zur Freisetzung von Dopamin und endogenen Opioiden stimulieren – weshalb die Motivationssysteme gelegentlich auch als „Suchtsysteme“ bezeichnet werden. Erst in den letzten Jahren ließ sich – vor allem unter Verwendung nicht-invasiver Methoden wie der funktionellen Kernspintomografie – klären, was der natürliche Stimulus der Motivationssysteme ist: Zwischenmenschliche Zuwendung, (lustvolle) Bewegung und Musik. Das menschliche Gehirn macht, etwas salopp gesprochen, aus Psychologie Biologie: Zwischenmenschliche Beziehungserfahrungen werden durch die fünf Sinne wahrgenommen, im so genannten limbischen System (einer Art System für „emotionale Intelligenz“) evaluiert und in biologische Signale „übersetzt“. Nachdem die Motivationssysteme zunächst nur als „Suchtsysteme“ Furore gemacht hatten, ließ der überraschende Befund, dass Zuwendung, „GesehenWerden“ und Anerkennung biologisch potente Stimuli der Motivationssysteme darstellen, den derzeitigen Direktor des National Institute of Mental Health, den Neurobiologen Thomas Insel, die ironische (von ihm bejahte) Frage stellen: „Is social attachment an addictive disorder?“5 Soziale Akzeptanz gehört – ausweislich der an den Motivationssystemen des menschlichen Gehirns erhobenen Befunde – zu den zentralen, biologisch verankerten Strebungen des Menschen. Dies ließ in der US-amerikanischen Hirnforschung den Begriff des „Social Brain“ entstehen. Vom Grundantrieb nach sozialer Akzeptanz weist eine neurobiologische Linie auch zum Phänomen der Aggression. Willkürlich zugefügter Schmerz zählt nicht nur beim Menschen, sondern bei allen Säugetieren zu den „zuverlässigsten“ Auslösern von Aggression. Aus evolutionärer Sicht dürfte die Bedeutung der Aggression daher vor allem darin zu suchen sein, den Organismus vor Beschädigung seiner Unversehrtheit und Schmerz zu bewahren. Nichts spricht aus neurobiologischer Sicht dafür, dass das Ausüben von Aggression ein primäres Bedürfnis ist. Das Miterleben des Leides anderer führt – wie entsprechende Untersuchungen zeigen – bei nicht traumatisierten, durchschnittlich gesunden Menschen zu einer durch das System der Spiegelnervenzellen biologisch getragenen Empathiereaktion.6 Die menschlichen Motivationssysteme sind durch die Aussicht, aggressiv handeln zu dürfen, jedenfalls per se nicht zu stimulieren (nur wenn damit soziale Anerkennung erworben werden kann relativiert sich dieses Statement). Beide Phänomene – Angst und Ag5 S. hierzu Thomas R. Insel: Is Social Attachment an Addictive Disorder?, in: Physiology & Behavior, 79. Jg., H. 3, 2003, 351–357. 6 Vgl. Joachim Bauer : Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Hamburg 2005.

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gression – sind neurobiologische und psychologische Signalgeber : Sie helfen uns, gefährliche Situationen zu erkennen und abzuwehren. Wie die Angst, so ist – bei psychisch gesunden Menschen – auch die Aggression aus heutiger Sicht kein „Trieb“, sondern ein bei Bedarf abrufbares, biologisch fundiertes Programm (niemand würde auf die Idee kommen, von einem „Angsttrieb“ zu sprechen). Was uns die Dynamik der menschlichen Aggression besser als bisher verstehen lässt, sind neuere neurobiologische Experimente, die zeigen, dass die Schmerzzentren des Gehirns nicht nur durch die Zufügung von körperlichem Schmerz aktiviert werden, sondern auch durch die Erfahrung sozialer Ausgrenzung. Wenn Schmerzen ein potenter Auslöser von Aggression sind, und wenn soziale Ausgrenzung „aus der Sicht des Gehirns“ wie körperlicher Schmerz erlebt wird, dann wird auch verständlich, warum nicht nur körperlicher Schmerz, sondern auch soziale Ausgrenzung als potenter Aggressionsauslöser fungiert. Tatsächlich ergaben auch aus der Sozialforschung kommende neuere Studien zu der Frage, welche Faktoren als Prädikatoren für gewalttätiges Verhalten bei Jugendlichen zu identifizieren sind, dass selbst erlittene Gewalt (also körperlich zugefügter Schmerz) und soziale Ausgrenzung (fehlende Bindungen) den statistisch stärksten Vorhersagewert hatten. Die Biologie ist keine Adresse, um die naive Frage beantwortet zu bekommen, ob der Mensch „gut“ sei. Abgesehen von der a priori fehlenden Zuständigkeit der Biologie für diese Frage könnte sie selbige wohl weder bejahen noch verneinen. Nur eines lässt sich experimentell zeigen: Menschen haben einen biologisch verankerten Sinn für soziale Fairness. Ein Experiment besteht darin, einen Spieler A mit einem festen Betrag (z. B. 200 Euro) auszustatten und ihn zu bitten, diesen Betrag mit einem – ihm bis dahin nicht bekannten – Mitspieler B nach eigenem Gutdünken zu teilen. Die an beide Spieler gehende Instruktion lautet: Stimmt Spieler B dem von Spieler A gewähltem Verteilungsmodus zu, können beide Spieler mit dem Betrag nach Hause gehen. Verweigert Spieler B jedoch die Zustimmung, dann wird der gesamte Betrag vom Untersuchungsleiter wieder eingesammelt. Beide Spieler werden dann ebenfalls verabschiedet, eine zweite Chance wird nicht gegeben (weshalb das Experiment als Bezeichnung „Ultimatum Game“ erhalten hat). Wie verhalten sich „normale“ Menschen im „Ultimatum Game“? Wie wir wohl bereits intuitiv vermutet hätten, stimmt Spieler B einer von Spieler A gewählten Verteilung im Verhältnis 50:50 in 100 % der Fälle zu. Eine Zustimmungsrate verringert sich nur unwesentlich, wenn Spieler A eine Verteilung von 60:40 oder 70:30 zu seine Gunsten wählt, sie nimmt ab einer Verteilung von 80:20 jedoch rapide ab, obwohl – unter der Annahme, der Mensch verhielte sich wie ein „homo oeconomicus“ – auch 20 Euro (oder selbst 10 Euro) für Spieler B gegenüber der Alternative, ganz ohne Geld nach Hause zu gehen, einen Vorteil

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bedeuten sollte. Wir fühlen jedoch zu Recht, dass Spieler B sich in der Regel nicht wie ein „zweckrationaler Entscheider“ verhalten wird. Doch was passiert im Gehirn von Spieler B in jenem Moment, in dem ihm Spieler A ein nicht akzeptables (weil von B als unfair empfundenes) Angebot macht (z. B. 90:10)? Die mittels funktioneller Kernspintomografie durchgeführte Analyse zeigt: Es kommt zu einer massiven Aktivierung der Ekelzentren,7 d. h. jener in einem Bereich der Hirnregion „Insula“ gelegenen Nervenzell-Netzwerke, die auch dann aktiv werden würden, wenn Proband B eine ekelerregende Substanz zu riechen bekäme. Was ist der Mensch? Drei zentrale Aussagen lassen sich von Seiten der Hirnforschung dem anthropologischen Mosaik aus heutiger Sicht hinzufügen: 1. Der Mensch ist ein in seinen innersten neurobiologischen Antrieben und Motivationen auf soziale Akzeptanz ausgerichtetes Wesen. Er ist aus diesem Grund auch bereit, für die Anerkennung seiner Mitmenschen erhebliche Mühen auf sich zu nehmen. 2. Soziale Ausgrenzung der Demütigung wird vom menschlichen Gehirn ähnlich wie körperlich zugefügter Schmerz erlebt und wird daher – ähnlich wie zugefügter Schmerz – mit Aggression (oder Depression) beantwortet. 3. Menschen haben ein körperlich (neurobiologisch) verankertes Gefühl für soziale Fairness. Soziale Akzeptanz wird dem Menschen – um es etwas salopp zu formulieren – nicht auf dem Tablett ins Haus geliefert. Die Evolution hat uns sozusagen „auf halber Strecke“ abgesetzt, nämlich einerseits als vital auf soziale Akzeptanz angewiesene, andererseits aber nicht mit natürlichen Automatismen für hinreichend prosoziales Verhalten ausgestatte Wesen. Ich meine, dass es gerade diese Lücke ist, die das Leben für den Menschen zu einem derart spannenden Projekt gemacht hat. Denn so sind wir gezwungen, die Lücke durch das, was wir Kultur nennen, zu schließen.

7 Vgl. Alan G. Sanfey : The Neural Basis of Economic Decision Making in the Ultimatum Game, in: Science, 300. Ausg., 2003, 1755–1758.

Wilhelm Gräb

3. Religion, eine Angelegenheit des Menschen (Spalding 1798) – Religion, a Matter for Humans (Spalding 1798)

Zusammenfassung: Aufgeklärte, zeitgenössische Theologie macht das Menschsein des Menschen nicht von der Akzeptanz theologischer Setzungen abhängig, sondern erklärt, weshalb es dem Menschen guttut, wenn er sich religiös versteht. Den Sinn der Religion sieht aufgeklärte Theologie darin, dass sie uns Menschen eine Würde zukommen lässt, die wir uns nicht erwerben müssen, die wir deshalb aber auch nie ganz verspielen können. Religion ermöglicht eine Art zu leben, die durch Gelassenheit, Freimut und Dankbarkeit gekennzeichnet ist. Was das für die christliche Religion heißt, kann mit Bezug auf die evangelische Rechtfertigungslehre deutlich gemacht werden. Abstract: Enlightened, contemporary theology does not condition the personhood of man on the acceptance of theological positing, but rather explains why it benefits people if they understand themselves as religious. According to enlightened theology the meaning of religion is that it gives dignity to people, which they do not have to earn and which therefore cannot be entirely lost. Religion facilitates a way of life that is characterized by serenity, frankness and gratitude. What this means for Christian religion can be explained with reference to the protestant doctrine of justification.

1.

Von einer aufgeklärten Theologie mit Leidenschaft für den Menschen

Vom Menschen gilt es auszugehen, in aller kirchlichen Praxis. Das ist es, wozu die Kirche da ist, dass die Menschen in eine tiefere Verständigung über sich selbst und die Bestimmung ihres Daseins finden. Dass der Mensch sein Leben in Würde zu führen vermag, dazu braucht er Religion und dazu ist die Kirche da. Das ist keine Entdeckung aufgeschlossener Theologie von heute. Es war bereits das Projekt der Theologie der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vorangetrieben von Theologen, die zugleich im kirchlichen Beruf standen. Die Erinnerung an die durch die Aufklärungstheologie betriebene Umformung des Christentums zur Humanitätsreligion, die dem Gedanken der unantastbaren Würde des Menschen und seiner unveräußerlichen Rechte auch von kirchlicher Seite den Boden bereiten half, soll deshalb in meinem Beitrag

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den Anfang machen. Eine Theologie und kirchliche Praxis, die heute ihr Bestreben wieder darauf richtet, zur Geltung finden zu lassen, dass der christliche Glaube eine bestimmte Kultur humanen Sich-selbst-Verstehens ermöglicht, kann sich durch Impulse der kirchlichen Aufklärungstheologie dazu anregen lassen. In seiner frühen Schrift „Die Bestimmung des Menschen“ (1748)1 ging der Berliner Aufklärungstheologe und Prediger an St. Nikolai, Johann Spalding, darauf zurück, dass dem Menschen nicht von einer höheren göttlichen oder weltlichen Instanz gesagt ist, weshalb er auf der Welt ist und wie er zu leben hat. Der Mensch ist vielmehr dasjenige Wesen, das sich selbst über seine Bestimmung Klarheit verschaffen muss. Er ist fähig, sich im Denken über seine Stellung in der Welt und den Sinn seines Lebens zu orientieren. Spaldings Betrachtung über die Bestimmung des Menschen nahm die Gestalt einer Selbstbetrachtung an. In der Achtung vor dem selbst entworfenen Gesetz des guten Lebens ist dessen Sinn und Ziel zu finden. Sie kommt der Achtung vor dem Wert des eigenen, vernünftigen Daseins gleich. Die Bestimmung des Menschen ist ein Leben, das aus der Kraft zur Selbstbestimmung geführt wird. Zu ihr fähig zu sein, ermöglicht dann auch die Selbstachtung, somit ein Leben, das im Gefühl der ihm eigenen Würde gelebt werden kann. Die Gefahr, sich selbst zu verfehlen, ist dabei immer mitgegeben. Vorzuwerfen habe ich mir, so meinte Spalding, aber nur dann etwas, „wenn ich nicht die ernsthafteste Überlegung auf dasjenige gerichtet hätte, worauf mein eigentlicher Wert und die ganze Verfassung meines Lebens ankommt. Es ist doch einmal der Mühe wert zu wissen, warum ich da bin und was ich vernünftigerweise sein soll.“2 Menschen zu solcher Selbstüberlegung zu befähigen, das ist jetzt die Aufgabe kirchlicher Predigt und Seelsorge, nicht ihnen von oben herab zu sagen, was sie zu glauben und wie sie zu leben haben. Schon die kirchlichen Aufklärungstheologen haben das Ende der heteronomen kirchlichen Autoritätskultur ausgerufen. Andere kirchliche Aufklärungstheologen wie Marezoll, Töllner, Teller und Jerusalem teilten Spaldings Auffassungen energisch und unternahmen den groß angelegten Versuch, das Verständnis vom Christentum in eine Religion der freien Einsicht in das Gute umzuformen. Einer Ethik der autonomen Selbstbestimmung sollte ein souveräner Glaube, der als der eigene aus persönlicher Überzeugung vollzogen wird, entsprechen.3 1 Johann J. Spalding: Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794, hg. v. Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1997 (Seitenangaben im Folgenden nach der Originalpaginierung). 2 A. a. O., 4. 3 Spalding hat in der Einleitung zur 13. und letzten, insgesamt erheblich erweiterten Ausgabe seiner Schrift über „Die Bestimmung des Menschen“ (so die neue Titelformulierung in der

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Johann Gottlieb Töllner brachte in seinen „theologische(n) Untersuchungen“4 das neue Verständnis vom humanen Sinn der christlichen Religion auf den Begriff, wenn er eine seiner Abhandlungen unter das Thema stellte: „Die ganze Religion Dank: und die ganze Religion Vertrauen“5. Auch Töllner ging es um das Verständnis vom Menschen und die Frage, wie er religiös so anzusprechen ist, dass ihm deutlich wird, es ist die christliche Religion, die der Selbstbestimmung keineswegs entgegensteht, sondern zu ihrer Wahrnehmung befähigt. Deshalb richtete Töllner sich gegen die Lehre der lutherischen Orthodoxie, wonach der Mensch von Natur aus böse ist, ein verlorener Sünder, dem mit der Predigt des Gesetzes ein heiliger Schrecken einzujagen sei, auf dass er mit der Botschaft von Gottes gnädiger Vergebung wieder erhoben werden kann. Nein, sagte Töllner, „ich glaube klar zu sehen, dass dieses gar nicht die wahre Methode sey, deren sich ein Seelsorger zu bedienen hat: und dass sein ganzes Bemühen dahin gerichtet seyn muß, Vertrauen zu Gott in seinen Zuhörern aufzurichten, wenn er von dem Wunsche belebt wird, wahrhaftig die Religion in ihnen aufzurichten.“6 Der Ausgabe von 1794) hinzugefügt, dass die überkommenen, „gewöhnlichen Grundsätze der Sittlichkeit und Religion“ (A. a. O. Ausgabe 1794, 1) in der neuen Zeit eines alles relativierenden Historismus und mit alternativen Lebensformen konfrontierenden Pluralismus keine hinreichende Lebensorientierung mehr zu geben vermögen. Das neue Bild vom Menschen, seiner ethischen Autonomie und der damit verbundenen Würde, ist – so wollte er sagen – im beschleunigten Kulturumbruch unumgänglich geworden, auch für Kirche und Christentum. Anders als im Versuch, „von vorn anzufangen; nichts als wahr anzunehmen oder als Vorurteil zu verwerfen, was ihm nicht bei dieser neuen und strengen Prüfung in seiner eigentümlichen Gestalt erscheinen würde“, kann es dem neuzeitlichen Menschen nicht mehr gelingen, wie der alte Spalding sagte, „ein System des Lebens bei sich festzusetzen, woran er sich zu allen Zeiten halten könne“ (A. a. O., 4f.). Von vorn anfangen, alles Überkommene einer kritischen Prüfung unterziehen, „das, was er auf die Art unleugbar findet, zu sammeln und zu verbinden“ (A. a. O., 4), war und blieb Spaldings Devise. Es stellte dies gewissermaßen die Aufforderung zu einem synkretistischen Verfahren beim Bau des „System(s) des Lebens“ dar. Der eigene Lebensentwurf sollte möglich sein, auf der Basis eben derjenigen Evidenzen, die sich im jeweils eigenen Innern einstellen. Was Eingang finden kann in das symbolische Gefüge der eigenen Lebensorientierungen, muss in kritischer Prüfung persönlich einleuchten. Und das gilt nun auch und gerade für die Religion, die kirchlichen Überlieferungen, die theologischen Lehrsätze. Auch die überkommene Symbolwelt des Christentums muss der kritischen Prüfung unterzogen werden. Und Maßstab der Kritik muss die Frage nach ihrer Lebensdienlichkeit sein. Sind die großen Erzählungen des Christentums hilfreich bei der Klärung der existentiellen Sinn- und moralischen Orientierungsfragen? Schenkt die christliche Religion Lebenserfüllung, nicht aufgrund autoritärer Vorgaben, was zu glauben ist und wie man sich verhalten sollte, sondern weil da in ihren heiligen Schriften subjektiv Evidentes überliefert ist, Erzählungen von Gott und seinem Handeln, die auf persönliche Resonanzen rechnen können, Vertrauen auf Gott und sich selbst entstehen und Dank empfinden lassen für das wunderbare Geschenk des Lebens? Das waren die Fragen, die Spalding sich vorgelegt und die er mit seinen populartheologischen Schriften, im Interesse auch einer neuen kirchlichen Publizistik, bearbeitet hat. 4 Johann Gottlieb Töllner : Theologische Untersuchungen, Riga 1772. 5 A. a. O., Erster Band, erstes Stück, 108–161. 6 A. a. O., 110.

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rechte Seelsorger vermittelt – wie Töllner weiter ausführte – das Vertrauen auf Gott, indem er zur Einsicht bringt, dass Gott Güte ist und die Menschen liebt.7 Damit ist die Anerkenntnis verbunden, dass der Mensch zwar nicht von Natur aus gut ist, wohl aber von Natur aus fähig zur vernunftbestimmten, freien Einsicht in das, was ihm und seinesgleichen guttut. Ein Gott, der Güte und Liebe ist, lässt dankbar sein für alle guten Gaben, mit denen er die Menschen geschaffen hat. Er hat die Menschen gut geschaffen und motiviert so auch das Vertrauen der Menschen auf des Menschen Güte. Wer nun aber auf die Güte von seinesgleichen setzt, der begegnet den anderen nicht mit „Gesetzespredigten“8, nicht nach der „gewöhnliche(n) Bekehrungsmethode“, nicht auf dem Wege der Einschüchterung und Anklage, sondern „sogleich“ mit „Liebe und Vertrauen“9. So soll daher der Seelsorger auch vorgehen. Dann lässt er die Menschen erfahren, wie Gott ist.10 Auf eine menschenfreundliche Anschauung des Menschen sowie den daraus folgenden anderen Umgangsstil unter den Menschen, wollte Töllner das alte Buß- und Bekehrungschristentum umgeformt wissen. Es sollte wegkommen vom Glauben an die dunkle Macht der natürlichen Sündhaftigkeit des Menschen. Statt die Lehre „Von der Erbsünde“11 weiterzuverbreiten, sollte das Vertrauen auf die „Güte der menschlichen Natur“12 treten. Die Menschen in ihrer Selbstgewissheit zu stärken, das sollte die Richtschnur für die aufgeklärte kirchliche Predigt und Seelsorge werden. Die Menschen sollten in der Kirche die Erfahrung machen können, dass sie anerkannt und geliebt sind, solche, die zum Tun des Guten aus eigener Einsicht fähig sind. Gott, so sagten es die Aufklärungstheologen in ihrer Predigt, ist derjenige, der zum Tun des Guten befähigt und die Erwartung künftigen Glücks bekräftigt. Dass dies beides, das Tun des Guten wie das zukünftige Glück aus einem vertrauensvollen Gottesverhältnis erwachsen kann, dafür hat Jesus das eindrücklichste Beispiel gegeben. Grundlegend für den Entwurf dieses Humanitätschristentums war ein theologisches Denken vom Menschen her, eine Anthropologie, so könnte man sagen, in theologischer Absicht. Nicht von Gott in seiner biblischen Offenbarung, nicht 7 8 9 10

Vgl. a. a. O., 142f. A. a. O., 137. A. a. O., 142. „Daher dazu lasset uns, Brüder im Herrn, unmittelbar handeln, und auch bei den lasterhaftesten Leuten handeln, dass dieses und jenes in ihnen werde. Lasset uns sie überzeugen, dass Gott die Menschen liebt und auch sie liebt. Ich sage überzeugen: Also es ihnen nicht bloß sagen und versichern, sondern zeigen und erweisen. Auch es nicht bloß mit einem Spruche aus der Bibel sagen und versichern. Die in derselben aufgestellten göttlichen Religionslehrer thun das selbst nicht bloß, sondern geben Beweise. Christus sagt nicht blos, dass Gott auch seine Feinde liebt; er beweiset es mit der Erfahrung.“ (A. a. O., 142). 11 A. a. O., Erster Band, drittes Stück, 105–159. 12 A. a. O., 159–200.

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von der Hl. Schrift als dem alleinigen Prinzip theologischer Erkenntnis gingen die Aufklärungstheologen aus. Sie setzten beim Menschen und seinem Gottesbewusstsein an, wollten zunächst einmal die Religion als eine konstitutive Dimension der humanen Natur verstanden wissen, bevor sie ihr christliches Proprium als die entscheidende Antriebskraft in der Perfektibilität, in der Vervollkommnung des Menschen explizierten. Die anthropologische Begründung der Religion und einer die christliche Religion in ihrer Lebensdienlichkeit explizierenden Theologie hat mit Breitenwirkung vor allem wieder Spalding dargelegt. Zu verweisen ist hier auf die zunächst anonym erschienenen „Vertraute[n] Briefe, die Religion betreffend“13, sowie seine Altersschrift „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“14. Schon mit diesem Titel seiner Schrift wollte Spalding darauf hinweisen, dass die Religion etwas ist, das wir uns angelegentlich sein lassen sollten, dass sie etwas jeden Menschen Angehendes ist. Insbesondere wenn vom Christentum die Rede ist, so Spalding, möge von etwas die Rede sein, „was uns angeht, wobey wir etwas zu gewinnen oder zu verlieren glauben, wodurch folglich auch unser Wille, unsere Neigung, unser Herz in Bewegung gesetzt und angezogen wird.“15 Spalding schloss mit seinen Religionsschriften direkt an seine über 40 Jahre hinweg in unzähligen Auflagen erschienen populäre Schrift „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“ an. Die Frage des Menschen nach sich selbst, nach dem, was ihn seiner Würde und seines Wertes gewiss macht, sollte nicht nur für Theologie und Kirche zur wichtigsten Frage werden, sie allein führt auch zum angemessenen Verständnis von der Religion und von dem Gott, zu dem die Religion die Beziehung herstellt. Die Religion aber, das ist die Beziehung des Menschen zum Göttlichen, die den ganzen Menschen ergreift und umwandelt, ihn in seinem Fühlen, Denken und Wollen bestimmt und zu einem Leben in vertrauens- und hoffnungsvoller Zuversicht befähigt. In seinen „Vertrauten Briefen, die Religion betreffend“ drückt dies Spalding so aus, dass er sagt: die „Religion enthält schon unstreitig solche Erkenntnisse und Überzeugungen, die, vermittelst einer anschauenden Betrachtung, nothwendig rühren, große Empfindungen aufwecken, Bewunderung, Andacht, Freude, Zuversicht und Hoffnung, überhaupt Bewegung, Erhebung und Veredlung der Seele wirken müssen.“16 Doch, damit wir Gott so als die innere Kraft unseres Lebensglaubens und unserer Ewigkeitshoffnung erfahren können, müssen wir, so Spalding, von „einer ernsthaften Nachfrage bey uns

13 Breslau 1783, 31788 (hier zitiert); erst am Ende der „Zugabe“ zur 3. Aufl. nennt sich Spalding als Verfasser. 14 Johann J. Spalding: Religion, eine Angelegenheit des Menschen, Berlin 1797, 41806. 15 A. a. O., 3. 16 Johann J. Spalding: Vertraute Briefe die Religion betreffend, a. a. O. (s. Anm. 13), 251f.

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selbst und der genauen Beobachtung unserer wesentlichen, von der menschlichen Natur untrennbaren Anlagen“17 ausgehen. Die Aufklärungstheologen haben Schleiermachers Apologie der Religion bereits kräftig vorgearbeitet.18 Gewiss, Schleiermacher vollzog in seiner Religionsschrift von 1799 sehr viel energischer die Unterscheidung von Religion und Moral. Auch zielte er im Gegensatz zu Spalding, von dem er freilich dennoch viele Anregungen, auch hinsichtlich der Bedeutung des Gefühls in der Religion, erlangt hatte,19 auf eine nicht-theistische Fassung des religiösen Bewusstseins.20 Aber auch Spalding hat die Religion keineswegs den Zwecken einer Glückseligkeitsmoral untergeordnet, sie nicht, was ihm oft vorgeworfen wurde, für den durchaus vorherrschenden Eudämonismus funktionalisiert. Er hat vielmehr deutlich gemacht, dass die Religion dem Menschen zu seiner Menschlichkeit verhilft. Sie tut dies, weil sie den Menschen auf Gott als den Sinn des Ganzen von Welt und Leben ausrichtet und in jedem Menschen das Gefühl einer unendlichen Bedeutung weckt. 17 Johann J. Spalding: Religion, eine Angelegenheit des Menschen, a. a. O. (s. Anm. 14), 10f. 18 Es ist zwar richtig, Spalding und die übrigen Aufklärungstheologen wiesen der Religion keinen eigenen anthropologischen Ort zu, obwohl sie auch schon erstaunlich viel von der Bedeutung des Gefühls für die Religion zu sagen wussten. Sie exponierten es noch nicht im Sinne der Erschlossenheit des Selbst im Ganzen der Anschauung einer Welt, wie dann Schleiermacher in seiner von romantischem Geist und transzendentaler Philosophie durchprägten Religionsschrift. Anders war auch, dass die Aufklärungstheologen das religiöse Bewusstsein nicht von den irrationalen Kontingenzerfahrungen des menschlichen Lebens und ihrer handlungssinntranszendenten Bewältigung her plausibel zu machen versuchten. Für Schleiermacher waren Geburt und Tod religiös relevant, die Erfahrung des unableitbaren Gegebensein des endlichen, menschlichen Lebens, der Faktizität seiner Freiheit. Da sah er die Unbedingtheitdimension der Wirklichkeit aufscheinen, sah ihren im Unendlichen zerfließenden Horizont. Auf irrationale Kontingenzerfahrungen, durch die religiöse Anschauungen und Gefühle ausgelöst werden, hat er die Aufmerksamkeit gelenkt. Demgegenüber sahen die Aufklärungstheologen das religiöse Bewusstsein aufs engste mit der dem Menschen natürlichen Treibfeder zum moralischen Handeln verknüpft. 19 Vgl. Albrecht Beutel: Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797), in: Ders.: Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, 266–298. 20 Schleiermacher wollte zeigen, dass das religiöse Bewusstsein des Menschen die Wirklichkeit anders ansieht als das moralische. Der Religion geht es um die Sinn erschließende Anschauung des Universums, um ein intuitives Erfassen des Ganzen der Wirklichkeit, dabei dann auch um die Stellung, sowie die Verfassung des individuellen, menschlichen Daseins in ihr. Die Religion schaut die Grundverfassung der Wirklichkeit. Die Moral weiß demgegenüber, dass sie zu bilden, vom Menschen Gutes getan werden muss. Der Moral geht es um die durch das Tun des Guten verbesserliche Welt. Deshalb braucht sie aber auch Religion, soll sie auch nach Schleiermacher zwar nicht aus Religion, aber mit Religion getan werden. Denn die Erkenntnis dessen was gut ist für Welt und Mensch, setzt deren Anschauung voraus. Die Moral braucht die Anschauung vom Ganzen der Wirklichkeit und ein Wissen um die Bestimmung des Menschen in ihr. Nur im Horizont einer letztinstanzlich religiösen, ganzheitlichen Weltanschauung kann das moralische Handeln für Schleiermacher Orientierung und Sinn erfahren.

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2.

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Vom heutigen Interesse an der Religion als einer Angelegenheit des Menschen

Der gesellschaftliche Resonanzverlust der Kirchen hält an. Dennoch stimmt die These nicht, die für die Auswertung der jüngsten EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung leitend war. Diese behauptet, es nähme die Indifferenz der Religion gegenüber immer weiter zu, nur die kirchlich Hochverbundenen wären noch an ihr interessiert. Ihr Engagement steigere sich angesichts der sonst dominierenden Indifferenz sogar noch, weshalb es kirchenstrategisch geboten sei, sich in Zukunft sehr viel stärker den Treusten der Treuen zuzuwenden.21 Religiöse Indifferenz bescheinigt man der Mehrheit der Kirchenmitglieder und man schreibt sie erst recht denjenigen zu, die der Kirche nicht oder nicht mehr angehören. Von der Überlegung, dass die Menschen sich von der Kirche abwenden, weil sie die kirchliche Religion nicht als lebensdienlich erfahren, ist die neue EKD-Studie zur Kirchenmitgliedschaftsentwicklung noch weiter entfernt als es ihre Vorgängerstudien auch schon waren. Dabei lässt sich das Interesse an einer Kirche, die die Menschen auf innerlich ergreifende Weise anzusprechen vermag, weil sie für die Rechtfertigung des Menschen eintritt, schon mit einiger Aufmerksamkeit auf literarische Zeitansagen feststellen. Zum Beleg verweise ich zunächst auf das Buch des französischen Sozialphilosophen Bruno Latour : „Jubilieren. Über religiöse Rede“22. Dieses Buch führt emphatisch Klage darüber, dass der Gesellschaft und dem einzelnen Menschen etwas Lebensnotwendiges fehle, wenn die Kirche sich nicht mehr auf eine die Menschen ansprechende religiöse Rede versteht. Was dann fehlt, sind „Worte, die wieder aufrichten“23, die „Leben spenden“24, Worte, die heilsam sind. Die Kirche, so meint Latour, hat diese Worte verlernt. „Die Worte, die Leben spenden sollen, werden (sc. in der Kirche) in einer fremden Sprache ausgesprochen, die sich an historisch, räumlich, kulturell entfernte Menschen richtet.“25 Die Kirche hat „die Worte, die Leben spenden“, davon zeigt sich der sich zu seinem Atheismus bekennende Philosoph überzeugt, aber sie findet die Sprache nicht mehr, nicht den richtigen Tonfall, nicht die richtige Tonart. Darauf, so Latour, käme es heute deshalb entscheidend an, dass die Kirche „dem religiösen Ausdruck wieder Bewegungsfreiheit verschaff[t], diesem so einzigartigen Brauch, der im Lauf der Geschichte Wort und Sprache gewann und der ihm 21 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.): Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, Hannover 2014. 22 Vgl. Bruno Latour : Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2011, franz. Original: Jubiler – ou les tourmentes de la parole religieuse, Paris 2002. 23 A. a. O., 80. 24 A. a. O., 82. 25 Ebd.

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heute so entsetzlich gehemmt vorkommt […] nur eine Ausdrucksform aus ihrer Verkapselung lösen, die, einst so frei und erfinderisch, fruchtbar und heilbringend, heute auf seiner Zunge zerfällt, wenn er ihren Schwung, ihren Rhythmus, ihre Artikulation wieder aufnehmen will.“26 Die Sprache der Religion zu finden ist aber eben keine bloße Formsache. An der religiösen Rede hängt die Wahrheit der Religion. Und die Wahrheit der Religion ist, so Latour, dass sie uns den Sinn für den Sinn unseres Daseins in dieser Welt eingibt. Sie lässt uns den Schmerz empfinden über das, was fehlt, sie stärkt ebenso unendlich die Hoffnung aufs Gelingen. Genau dafür gilt es, „die passenden, genauen, präzisen Worte zu finden, um die Rede heilbringend zu machen, um gut (sic!) über die Gegenwart zu reden“27. Würde sich die Kirche darum bemühen, „gut über die Gegenwart zu reden“, dann wäre sie heute nötiger denn je. Meinen zweiten Beleg für das heutige Interesse an der Religion als einer Angelegenheit des Menschen habe ich in dem Buch des Journalisten Jan Roß gefunden: „Von der Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird“28. Dass die Religion eine Angelegenheit des Menschen ist, die uns ganz wichtig sein sollte, macht Roß an der Präsenz der biblischen Metapher von der Gottebenbildlichkeit des Menschen im heutigen Diskurs über die Unantastbarkeit der Menschenwürde deutlich. Solche Rede, so meint er, lässt sich „nüchtern gesprochen, in ein hermeneutisches Prinzip übersetzen, in einen Verständnisschlüssel, eine Suchrichtung für die Deutung des Menschen: in ihm im Zweifel eher mehr zu vermuten als zu wenig, etwas Unausgeschöpftes, einen Überschuss“29. Jan Roß tritt für Gott ein, weil es ihm um die Verteidigung des Menschen geht, letztlich um seine Heiligung. Nur mit Gott, so meint er, sei ein ebenso realistischer wie universaler Humanismus möglich. Der Mensch, so fährt Roß fort, gerät dort, wo ihm Gottes Ebenbildlichkeit zugeschrieben und Gottes unbedingte Rechtfertigung zugesprochen wird, unter den „Schutz des religiösen Tabus“30. Genau das, meint er, ist heute so wichtig. Denn „ohne den Schutz des religiösen Tabus wird der Mensch berechenbar für die Wissenschaft, kontrollierbar für die Macht, eine Funktion der biologischen, psychischen und sozialen Realität. Warum nicht versuchen, ihn zu dressieren, zu verbessern oder abzuschaffen? Der geheimnislose Mensch ist der verfügbare Mensch.“31 Und er fügt sogar noch hinzu: „Noch heute, in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, wird von der Heiligkeit der menschlichen Person 26 27 28 29 30 31

A. a. O., 8f. Ebd. Jan Roß: Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird, Berlin 2012. A. a. O., 37. A. a. O., 38. A. a. O., 38f.

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als Grundlage der Menschrechte und der Menschenwürde geredet. Man kann offenbar kaum anderes, als für den letzten Schutz der Humanität auf ein religiöses Motiv zurückzugreifen. Das ist die Ausdrucksweise, in der die Kultur über die großen Fragen redet: Wenn sie ihren Mund auftut und das Allerwichtigste sagt, spricht sie die Sprache des Glaubens.“32 Die Kultur spricht die Sprache des Glaubens, sagt der Journalist Jan Roß. Die Menschen in ihrer Alltagswelt sprechen die Sprache des Glaubens. Was ist ihre Sprache des Glaubens? Es ist die Sprache, mit der sie ihre elementaren Lebensinteressen äußern, ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Sinnerfahrungen und Sehnsuchtsbilder. Die Sprache des Glaubens ist die Sprache, in der die Menschen selbst das aussprechen, was ihnen das Allerwichtigste ist. Die Sprache des Glaubens, so könnte man auch sagen, ja, so müsste die Theologie wieder zu sagen sich trauen, ist die Sprache der Menschenseele.

3.

Von der Seele, durch die die Religion der Menschen ihre Sprache findet

Weil der Mensch eine Seele nicht nur hat, sondern ist, können wir von ihm reden als einem Wesen, das im bewussten Verhältnis zu sich steht. Als Seele ist der Mensch eins mit seinem Leib und in der Einheit von Leib und Seele sich in seinem Lebensvollzug immer auch selbst gegenwärtig. Als Seele ist der Mensch ein solcher, der sich selbst zu verstehen gegeben ist, auch und gerade in dem, was ihn auf unbedingte Weise angeht. Eine Theologie, die dem Menschen, seiner Verständigung über sich und seine elementaren Lebensinteressen gilt, muss den Seelenbegriff wieder konstruktiv aufnehmen. Damit könnte sie dann auch wirksam werden für eine Kirche, die sich darauf besinnt, eine seelsorgliche Kirche zu werden, eine Kirche für die Religion der Menschen. Wir meinen mit der Seele ja eben noch einmal etwas anderes als die „Psyche“. Zur Psyche gehört der Körper, zur Seele gehört hingegen der Leib. Wir haben einen Körper, aber wir sind in unserem Leib. Der Leib gehört zu uns wie die Seele. Mit der Seele wie mit dem Leib geht es gewissermaßen um den ganzen Menschen, Seele und Leib sind die beiden konstitutiven Dimensionen der Subjektivität des Menschen.33 Die Psyche und der Körper sind hingegen Subsysteme im Menschen als einem organischen System. Leib ist der Mensch im Außenverhältnis zu einer Umwelt, als existierend in einer Welt, als ein Wesen, das auf die Welt einwirken und sie erkennen kann, das wahrnehmbar ist für 32 A. a. O., 39f. 33 Vgl. Ulrich Barth: Selbstbewusstsein und Seele. Kant, Husserl und die moderne Emotionspsychologie, in: Ders.: Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 441–465.

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andere und sich zu anderen verhalten kann. Weil der Mensch Leib ist, kann er denken, reden und handeln, hat er Gefühle und kann sie äußern. Seele ist der Mensch im Innenverhältnis, als bewusste Beziehung auf sich, als Selbstbewusstsein. Alles das, was er als Leib im Außenverhältnis ist, ist ihm in der Einheit mit seiner Seele zugleich subjektiv auf privilegierte Weise zugänglich. Als Seele habe ich meine Gedanken, Absichten, Gefühle und Handlungen immer auch für mich selbst. Ich bin mir meiner selbst in meinen leibhaften Zuständen auf exklusive Weise bewusst. Ich denke mein Denken, fühle mein Fühlen, will mein Wollen. Als Seele gerate ich deshalb aber immer auch in Widerspruch zu mir selbst. Ich merke, dass mich bestimmte Gedanken, Gefühle oder Willensabsichten motivieren, oder auch dass sie mir unangenehm sind, sie mir Angst machen. Als Seele, der ich zugleich in meinem Leib bin, entstehen mir deshalb all die Fragen und Probleme, die mit meiner personalen Identität zu tun haben. Als Seele frage ich, wer ich bin und worauf ich hinauswill, was der Sinn meines Lebens ist, wie mein Leben gelingen kann. Als Seele wird mir bewusst, spüre ich, wenn ich den Kontakt zu verlieren drohe, zu mir selbst, zu anderen Menschen, zur Natur. Ich notiere den Resonanzverlust. Dann beschleicht mich vielleicht das Gefühl, dass ich eher gelebt werde als dass ich mein Leben selbstbestimmt führe. Von einem ,seelenlosen Betrieb‘, in den ich eingespannt bin, reden wir dann vielleicht und wenn alles viel zu schnell gegangen ist, sagen wir : „Die Seele geht zu Fuß“. Weil wir eine Seele nicht nur haben, sondern in der Einheit unseres Leibes sind, nehmen wir uns selbst und unsere Welt immer in einer bestimmten Färbung wahr, leben wir immer in einer gewissen Gestimmtheit, die uns gewissermaßen atmosphärisch ergreift und umgibt. Dieses Präsenzgefühl aber ist die Präsenz des Religiösen, ist die Erschlossenheit der Zuständlichkeit unseres Daseins für uns selbst. Weil wir in der Einheit unseres Lebens eine Seele sind, empfinden wir, etwa wenn wir krank werden, auch nicht nur die Defekte im Organismus unseres Körpers, sondern es stellen sich uns zugleich die Sinnfragen, die letztlich wiederum religiöse Fragen sind, Fragen, die auf die Einheit, die Bestimmung und das Ziel des Ganzen unseres Daseins gehen. Die Einheit unseres Selbstverhältnisses aber ist genau von der Art, dass sie uns, wie eben die Seele selbst, nicht gegenständlich gegeben ist. Wie sollte die Seele mir gegenständlich gegeben sein, so dass ich sie erkennen kann, wenn sie doch mein unmittelbares Wissen mit ihr davon, dass ich bin und dieses Leben habe, selbst umgreift. Ich kann mich gar nicht ohne sie denken. Daraus entspringen dann auch die Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele. Sie sind ein Resultat eben dessen, dass ich mein eigenes Nichtsein nicht denken kann. Die Seele, die ich bin, ist ein Gegenstand nicht des Wissens, sondern des Glaubens, so

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dann auch ihre Unsterblichkeit – aber kann es die Seele anders als in der Einheit ihres Leibes geben? Die Psyche und der Körper sind differente Systeme im menschlichen Organismus, der sich wissenschaftlich analysieren und therapieren lässt. Der Mensch als Seele in der Einheit seines Leibes ist der ganze Mensch in seinem bewussten Selbstverhältnis. Als solcher ist er für sich das in seinem Selbstgefühl, auf dessen Basis er seine Einheit spüren und dann auch im Geiste denken, aber eben nicht erkennen kann. Wir können jedoch in der Seelsorge nicht auf den Begriff der Seele verzichten. Aber auch in unserer Alltagssprache im Grunde nicht. Inzwischen wird die Seele besonders in der Philosophie auch wieder ernst genommen. Man erinnert sich nicht nur daran, dass der Begriff der Seele bis in die Neuzeit einer der wichtigsten Begriffe der Philosophie war, sondern auch heute durch Begriffe wie „Geist“, das „Subjektive“, das „Mentale“ oder das „Psychische“ ersetzt werden soll und doch nicht ersetzt werden kann. Der Grund dürfte eben der sein, dass alle diese Begriffe konstitutive Funktionen menschlichen Lebens beschreiben, aber nie das integrative Ganze eines individuell selbstbewussten Lebens in der Einheit seines Fühlens, Denkens und Wollens erfassen. Wir brauchen aber einen Begriff für dasjenige, was alle Lebensfunktionen im Innersten zusammenhält und zugleich das personale Bewusstsein ihrer Einheit begründet. Der Begriff der „Seele“ kann dies leisten. Weil wir eine Seele nicht nur haben, sondern sind, wissen wir um unsere Identität und sind doch zugleich immer um sie bemüht. Weil wir eine Seele sind, sind wir uns selbst zugleich ein Gegenstand der Sorge, brauchen wir ebenso andere, die unsere Sorgen zu teilen bereit sind. Die Regungen der Seele wahrzunehmen, heißt aufmerksam zu sein auf die tiefsten Ängste und mächtigsten Hoffnungen, auf das, was das Sinnvertrauen eines Menschen erschüttert und ihn in die Verzweiflung treibt. Die Regungen der Seele wahrzunehmen, heißt wahrzunehmen, was Menschen unbedingt angeht. In den Regungen der Seele stoßen wir auf die Religion, die eine Angelegenheit des Menschen ist. Eine Kirche, die die Regungen der Seele versteht und im Lichte des Evangeliums zu deuten unternimmt, wird zu einer Kirche für die Religion der Menschen.

4.

Von einer Kirche, die zur Kirche für die Religion der Menschen wird

Eine Kirche für die Religion der Menschen ist eine seelsorgliche Kirche, eine Kirche, die sich um die Seele der Menschen sorgt, damit um das, was sie in ihrem je eigenen Selbstverhältnis als sie unbedingt angehend betrifft. Sie redet die

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Menschen auf die Fragen des Lebens an, die ihnen in den Erfahrungen ihres Lebens entstehen. Ist das wirklich so? Spricht die Kirche die Menschen als die Subjekte ihres Lebens an? Oder meinen die professionellen kirchlichen Religionsagenten doch wieder oder immer noch, sie müssten den Menschen sagen, wie sie zu leben und was sie zu glauben haben? Bevor die Theologie der Aufklärung den christlichen Glauben auf die Füße des sein Glück erstrebenden Menschen stellte und die Religion zu einer Angelegenheit des zur Selbstbestimmung fähigen Menschen erklärte, hat die christliche Theologie ja doch eher ein negatives Menschenbild befördert. Sie tut es auch heute noch in kirchlichen Liturgien und der Moral frommer Gemeinschaften, nach denen Menschen sich allenfalls im Bewusstsein eigener Unwürdigkeit Gott zu nähern wagen dürfen. Schuld daran ist diese Sündentheologie, die behauptet, dass der Mensch, wie er von Natur aus ist, gar nicht in die rechte Beziehung kommen kann, weder zu sich, noch zu seinem Nächsten und schon gar nicht zu Gott. Als der Sünder hat er immer schon die Beziehung verloren, zu sich, zu seinem Nächsten und zu Gott. Nur das göttliche Gnadenwunder kann ihn retten. Mit einem solchen Menschenbild im Kopf können kirchliche Religionsagenten nur mit Mühe zu der Auffassung gelangen, dass sie die christliche Rechtfertigungsbotschaft Menschen zu sagen haben, die selbst schon die Subjekte ihres Glaubens wie ihres Lebens sind, in einem bewussten Verhältnis zu sich stehen, auf die Sprache ihrer Seele hören, ein Empfinden dafür haben, was ihnen fehlt, wie auch, dass ihr Leben gelingen könnte. Eine Kirche hingegen, die zur Kirche für die Religion der Menschen wird, ist eine Kirche, die mit Liebe und freudig interessiert den Menschen begegnet. Sie sucht das Gespräch mit ihnen, auf Augenhöhe, über die Beziehungen, die ihr Leben sind, die ihr Glück bedeuten und unter denen sie leiden. Und jetzt eben in Kontakt mit ihnen als Personen, als den souveränen Subjekten ihres Lebens und ihres Glaubens. Jeder und jede einzelne ist dann als Subjekt in Beziehungen gefragt. Wer für die christliche Religion spricht, sollte jedoch die Menschen eben als die souveränen Subjekte ihres Lebens und Glaubens auch explizit anerkennen. Das heißt nicht, sie als fertige Persönlichkeiten anzusehen, das bin ich ja selbst auch nicht, keiner ist je fertig, schon gar nicht fertig mit den Fragen, die die eigentlichen Lebensfragen und zugleich die zentralen Fragen der Religion sind. Eine Kirche, die Kirche für die Religion der Menschen ist, sucht das Gespräch über die Lebensfragen, auf die sie genauso wenig eine einfache und abschließende Antwort weiß wie sie: Woher die Liebe, warum dieser Hass, diese Rivalität, aber auch diese wunderbare Freundschaft? Wie kann zerstörtes Vertrauen wieder erneuert werden? Warum tun Menschen einander so vieles Böses an, Leid und Zerstörung? Warum müssen manche Menschen so früh sterben, warum muss das Sterben überhaupt sein?

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Sich in die Komplexität dieser Fragen zu verstricken, Fragen, bei denen die Antwort offen und der Ausgang ungewiss bleibt, das heißt, die Menschen als Subjekte ihres Lebens und Glaubens anzusehen. Wo das in der Kirche der Fall ist, dort werden Gottesdienst und Predigt Seelsorge und Unterricht als Beziehung, als offener Dialog realisiert. Da kommt es zum Hören und Reden auf beiden Seiten, wozu dann auch die Stille und das Schweigen gehören werden. Die Religion gehört zum Menschen. Sie ist die Dimension der Tiefe in allen Lebensfragen, die uns auf unbedingte Weise in unserer Existenz betreffen. Nur im religiösen Bezug kann überhaupt die Frage nach dem Sinn des Ganzen ernsthaft aufgenommen werden. Diese Frage führt uns in die Unendlichkeit einer Welt, die uns als Ganze nie gegeben ist. Aber aus dem religiösen Glauben, der auf Gott sein Vertrauen setzt, kann die Gewissheit in der Seele entstehen, dass wir aus dem unendlich Ganzen einer von uns nie fassbaren Welt auf uns selbst zurückkommen und somit nie verlorengehen.

5.

Von der Rechtfertigung des Menschen

Das ist die zentrale Botschaft des Christentums an den Menschen: „dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28). Die Rechtfertigungsbotschaft ist das befreiende Lebensdeutungsangebot des Christentums. Aber gerade sie wird in Theologie und Kirche immer noch dem menschlichen Selbstständigkeits- und Autonomiestreben entgegengesetzt. Immer noch gibt es eine Theologie, die das Evangelium so meint verstehen zu müssen, als würde es die Menschen vor die Alternative stellen, entweder zu glauben oder ein freier Mensch zu sein. Das will ich exemplarisch an Wilfried Härles Aufstellungen „Zur Gegenwartsbedeutung der ,Rechtfertigungs‘-Lehre“34 zeigen. 34 Vgl. Wilfried Härle: Zur Gegenwartsbedeutung der „Rechtfertigungs“-Lehre. Eine Problemskizze, in: ZThK, 95. Jg., Beiheft 10, 1998, 101–139. Härles Beitrag steht im Zusammenhang einer breiten Debatte um die Stellung der paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre im Ganzen der christlichen Lehre, die dann bald darauf durch die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (1999) noch einmal enorm verstärkt worden ist. Auf Härles Text nehme ich im Folgenden als einen solchen Bezug, der nicht nur eine breite Debattenlage gut darstellt, sondern dabei auch selbst eine Position vertritt, die von vielen geteilt wird. Ich beziehe mich auf Härle, weil er eine in der Systematischen Theologie dominant vertretene Position repräsentiert und ich an seinem Text zur Rechtfertigungslehre gut zeigen kann, dass eine systematisch-theologische Verhandlung der Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre, wie sie von ihm auf exemplarische Weise vorgenommen wird, zwar die Probleme richtig erkennt, dann aber, weil sie das praktisch-theologische bzw. homiletische Vermittlungsproblem doch gravierend unterschätzt, in eine Sackgasse läuft. Das gibt dann natürlich auch wieder zu kritischen systematisch-theologischen Rückfragen Anlass. Im Hintergrund der in diesem Text von Härle vorgetragenen und auf die „prinzi-

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Härle geht genau so vor, dass er dem Menschen, so wie er sich selbst erlebt, nicht das Recht zugesteht, ein angemessenes Verständnis von sich zu gewinnen. Wie er sich in Wahrheit, d. h. vor Gott zu verstehen hat, das muss er sich auf alle Fälle von der Bibel sagen lassen. Die Rechtfertigungszusage des Paulus, so wird er belehrt, gilt dem Sünder, der der Rechtfertigung Gottes in Jesus Christus bedürftig ist. Dass es so ist, kann der Mensch von sich aus gar nicht wissen, denn zu seinem Sündersein gehört es ja gerade, dass er sich selbst nicht als solcher erkennt. Sein Selbstsein, sein Selbstbestimmungsstreben sind insofern die ultimativen Ausdrucksformen seiner Sünde. Nur im Lichte der göttlichen Rechtfertigung kann er zu einem seiner wahren Situation angemessenen Selbstverständnis kommen. Obwohl Härle sich dafür interessiert, worin die „Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre“ besteht, darf der gegenwärtige Mensch doch nicht sagen, wie er zu seiner Art zu leben gefunden hat und wie er sich darin versteht. Härle sieht zwar, dass die Theologie heute sich als Anthropologie zur Durchführung bringen muss, wenn sie überhaupt eine Chance haben soll, den heutigen Menschen zu erreichen. Aber die Anthropologie, die er entwickelt, geht nicht vom heutigen Menschen, seinem Erleben und seiner Selbstdeutung aus. Härle konstruiert vielmehr, ausgehend von der paulinischen Rechtfertigungslehre und in deren weltbildhaftem Horizont, das christliche Wirklichkeits- und Menschenverständnis. In dieses muss der heutige Mensch sich einfügen. Nur dann kommt ihm zu, was der Mensch vor Gott ist, dass er sich als gerechtfertigt und in seiner Würde anerkannt wissen kann. Heutige Menschen nehmen sich zumeist selbst als das Zentrum ihres Erlebens wahr. Sie suchen aus sich selbst heraus danach, wie sie eine ihnen zustimmungsfähige Art zu leben finden können. Sie entwickeln ihre Vorstellungen davon, was für sie ein gelingendes Leben wäre. Sie reflektieren darauf, was sie tun können, um mit sich und ihrem Wollen in Übereinstimmung zu kommen. Für alle diese Menschen ist in dem christlichen Wirklichkeitsverständnis, das Härle im Anschluss an Paulus als für christlich Glaubende normativ setzt, kein Platz. pielle“ Bedeutung der Rechtfertigungslehre für das Gesamtverständnis des christlichen Glaubens ausgehenden Argumentation steht die 20 Jahre früher, gemeinsam mit Eilert Herms verfasste Schrift Wilfried Härle/Eilert Herms: Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, Göttingen 1979. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Versuch einer Aktualisierung der paulinischen Rechtfertigungslehre im Kontext des neuzeitlich-modernen Wirklichkeitsverständnisses, in Verbindung mit einer Reflexion auf die Konsequenzen, die dieses Unternehmen in der kirchlichen (Predigt-)Praxis hat bzw. haben könnte, habe ich damals bereits zusammen mit Dietrich Korsch vorgenommen, in: Wilhelm Gräb/Dietrich Korsch: Selbsttätiger Glaube. Die Einheit der Praktischen Theologie in der Rechtfertigungslehre, Neukirchen-Vluyn 1985. Dort liegt auch ausführlicher diejenige subjektivitätstheoretische Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre vor, an die hier mit knappen Bemerkungen angeschlossen wird.

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Die Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre besteht dort vielmehr gerade darin, dass sie dem Menschen seinen trügerischen Selbstbestimmungswahn austreibt. Es findet dabei natürlich auch keine Berücksichtigung, dass Menschen sich heute in viele Wirklichkeiten hineingestellt finden, in denen sich unterschiedliche Wirklichkeitsverständnisse zur Durchsetzung bringen. Gibt es das überhaupt, das christliche Wirklichkeitsverständnis? Müssten, wenn es das gäbe, nicht die vielen Differenzierungen, die moderne Gesellschaften formieren, zurückgebaut werden? Ist aber eine christentumskulturell integrierte, auf dem christlichen Wirklichkeitsverständnis aufgebaute Gesellschaft überhaupt vorstellbar – und wünschenswert? Solche Fragen interessieren den Dogmatiker des christlichen Wirklichkeitsverständnisses nicht. Vor allem, und das ist das eigentlich Schlimme, lässt er sich nicht darauf ein, den gegenwärtigen Menschen als einen solchen anzusehen, der immer schon sich selbst in seinem Erleben des Lebens wahrnimmt und darauf aus ist, sich in seinem Erleben auch zu verstehen, es ihm um ein Gelingen seines Lebens und deshalb auch die richtige Art zu leben geht. Einem solchen Menschen kann man nicht Bescheid geben wollen, wie er sich zu verstehen hat, wenn ihm denn das Evangelium soll gelten können. Dem seiner Freiheit bewussten Menschen sollte, so meine ich, auch das Evangelium als eine Möglichkeit in Aussicht gestellt werden, mit der er sich des Grundes seiner Freiheit gewiss werden kann, das ihm somit hilft, sein Leben selbstbestimmt zu führen.

6.

Von einer kirchlichen Praxis, die Gutes über den Menschen sagt

Die Rechtfertigungsbotschaft eröffnet die Chance, über den Menschen, wer er auch sei und was immer er auch getan hat, Gutes zu sagen. Er ist der, auf den Gott seine Hand gelegt hat. Er kann sich auf alle Fälle mit Gott verbunden wissen, denn der Gott Jesu ist Liebe, Gnade, Vergebung, bedingungslos. Dies ist das Evangelium, dass nur Gutes über den Menschen gesagt wird. Die Rechtfertigungsbotschaft gibt ihm die Möglichkeit sich auch noch in dem, was er an sich selbst als unannehmbar erlebt oder auch von anderem ihm zu Vorwurf gemacht wird, als anerkannt und akzeptiert zu verstehen. Der aus der Rechtfertigungszusage lebende Mensch ist der Mensch, der zu sich stehen kann und aus einer unwahrscheinlichen Freiheit zu leben vermag. Dass ein Mensch diese Botschaft annehmen kann, sich vertrauensvoll auf sie einzulassen bereit ist, also das tut, was die Theologie „glauben“ nennt, dazu gehört freilich, dass sie ihm nicht nur in dürren Worten und im Stil kerygma-

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tischer Zusagen begegnet. Er muss die Erfahrung dieser Zusage machen können. Für sie stehen die positiven Erfahrungen des Lebens. Worauf es daher in der Kirche ankäme, in ihrer Predigt und ihren Gottesdiensten, ihrem Unterricht und ihrer Seelsorge, ist, dazu beizutragen, dass Menschen dabei positive Erfahrungen machen. Positive Beziehungserfahrungen sind Erfahrungen des Beachtetwerdens, der Anerkennung, Erfahrungen eines liebevollen Interesses an der eigenen Person. Eine Kultur der Anerkennung, der Liebe und der Freundschaft, das ist die Glaubenskultur des Christentums. Jeder Mensch kann merken, trotz allem, was er in seinen Beziehungskonflikten an Bösem erfährt und selbst anrichtet, dass er ein unendlich liebenswertes Geschöpf ist. Die Glaubenskultur des Christentums ermöglicht einen unerschütterlich positiven, auch ungeheuer frustrationstoleranten Umgang der Menschen miteinander. Da kann Freiheitsluft geatmet werden. Da weht der Geist vorbehaltloser Anerkennung und wird göttliche Liebe empfunden. In Räumen und Atmosphären, in denen Menschen das erleben können, gewinnen sie ein positives Selbstgefühl, Selbstvertrauen und oft auch neuen Lebensmut. Da ist eine unbedingt gute Vorgabe, steht dann auch über der Kirchentür. Nenne sie Gott, Liebe, Geschenk des Daseins. Sein Leben von einer unbedingt guten Vorgabe her zu verstehen, heißt christlich glauben. Glaubst du, dann lässt du diese Vorgabe unbedingt für dich selbst wahr sein. Dann lernst du, dass das Wichtigste im Leben sich nicht deinem eigenen Tun und Leisten verdankt. Es wird dir klar, dass du dir das Wichtigste im Leben schenken lassen musst. Das heißt aus Gottes Rechtfertigung leben. Es heißt einfach nur Mensch zu sein, dankbar, gelassen, heiter und frei.

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4. Wahrnehmung der eigenen Gottesbeziehung und Gesundheit. Ergebnisse aus den Heidelberger prospektiven Interventionsstudien – Perception of one’s own relationship with God and health. Findings of the Heidelberg prospective studies Zusammenfassung: Eine von Liebe bestimmte Gottesbeziehung hat in unterschiedlichen Lebensbereichen eine starke Auswirkung auf Gesundheit, komplexes Denken und kreative Problemlösungsfähigkeit. Sie stimuliert Humanismus, Liebe zu Mensch und Natur, die allgemeine Toleranz und Versöhnlichkeit. Diese Haltungen stehen im Widerspruch zu einem an Schuld und Strafe orientierten Verständnis der Mensch-Gott-Beziehung. In unterschiedlichen von uns durchgeführten prospektiven Studien mit ca. 38.000 Männern und Frauen wurden von 1973 bis 2007 – im Rahmen einer multidisziplinären Präventivmedizin – auch Faktoren erfasst, anhand derer Menschen ihre eigene Gottesbeziehung beschreiben. Abstract: In many aspects of life a loving relationship with God has great effects on health, complex thinking and creative problem solving skills. It stimulates humanism, human kindness, love of nature, general tolerance and forgivingness. These qualities stand in contrast with an accusing, intolerant interpretation of the relationship of God and humans. Within the framework of a multidisciplinary preventive medicine aspects concerning the relationship of God and humans were recorded amongst other things from numerous different prospective studies that were conducted between 1973 and 2007, in which about 38,000 men and women were interrogated.

Vorbemerkung Eine liebevolle, sich auf Gegenseitigkeit stützende Gottesbeziehung, in der sich der Mensch in seinem Menschsein anerkannt und verstanden fühlt, hat in unterschiedlichen Lebensbereichen eine große Auswirkung auf Gesundheit, komplexes Denken und die kreative Problemlösungsfähigkeit. Sie stimuliert Humanität, Liebe zu Mensch und Natur, Toleranz und Versöhnlichkeit. Diese Eigenschaften stehen in Spannung zu einer stärker mit Schuldzuweisungen und Intoleranz einhergehenden Gottesbeziehung des Menschen, in der sich der Mensch nicht in seiner besonderen Individualität, seiner Lebensgeschichte und seinem typischen Verhalten verstanden fühlt; er sieht sich dann einem norma-

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tiven, übergeordneten System ausgeliefert, das vor allem den Einstellungen der Normen fordernden Instanzen entspricht. In verschiedenen von uns durchgeführten prospektiven Studien an ca. 38.000 Personen wurden von 1973 bis 2007 im Rahmen multidisziplinärer präventivmedizinischer Untersuchungen auch Faktoren der Mensch-Gott-Beziehung – soweit sie über die Selbstwahrnehmung bzw. Selbstauskunft der in die Studie involvierten Personen zugänglich sind – erfasst.

1.

Theoretische Grundlagen

1.1

Religiöse Einstellungen zwischen autonomer Selbstregulation und schuld- bzw. sündenorientiertem Verhalten

Sowohl im Alltag als auch in spezifischen Lebensbereichen wie z. B. im politischen Verhalten oder in religiösen Einstellungen sind zwei grundsätzliche Verhaltensmuster beobachtbar : a) Ein tolerantes, Individuen Rechnung tragendes Verhalten, das sowohl die eigene Selbstregulation und innere Autonomie als auch die Selbstregulation und Autonomie der Mitmenschen respektiert und unterstützt. Hier wird die menschliche Individualität und Eigenart wahrgenommen und berücksichtigt. b) Ein vor allem an Normen orientiertes, sich selbst und den Menschen Haltungen und Handlungen vorschreibendes, für „richtig“ gehaltenes Verhalten, dessen Abweichung vom Verhalten der vorgegebenen Normen mit der Erwartung von Strafe und Verurteilungen verbunden ist. Hier wird der Mensch nicht in seiner Individualität gesehen, z. B. unter Berücksichtigung seiner eigenen Überzeugungen, Zielsetzungen und Bedürfnisse, sondern wird an vorgegebenen normativen Strukturen gemessen, was dazu führt, dass der Einzelne letztlich an den ideologischen Werten des Betrachters gemessen wird. Solche Verhaltensmuster können z. B. durch Imitation des elterlichen Verhaltens oder durch traumatische Erlebnisse erlernt werden, ausgelöst durch einen strafenden Elternteil. Eltern, in deren religiöser Ideologie „absolute Gegner“ eine zentrale Rolle spielen, die damit gar eine utopische Vision verfolgen, sich besonders eigenkompetent erleben und aus diesem Grund zu wissen glauben, wie sie ihre Kinder erziehen müssen (z. B. zu absolutem Gehorsam), sind naheliegenderweise nicht in der Lage, kindliche Autonomie und Eigenart zu fördern, sodass sie letztlich das Gegenteil ihrer Erziehungsmaßnahmen erreichen.

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Personen, die sich auf Vorwürfe, Sünden und Strafen gegen abweichendes Verhalten konzentrieren, leben in einer überwiegend negativ wahrgenommenen Welt und haben meistens eine illusionäre Vorstellung von einem Zustand, in dem Bedürfnisbefriedigung, Glück und widerspruchsfreie Harmonie vorherrschen. Sie fühlen sich kompetent, die Schwächen von Menschen und Gesellschaften zu benennen, ohne in die Lage zu kommen, diese tolerant zu analysieren und möglicherweise zu verstehen. Sie schwanken zwischen einem idealisierten Verhalten (z. B. in der Rolle von guten Christen) und der Aversion zu einem negativ erlebten Verhalten, z. B. in Bezug auf Menschen und ihr Fehlverhalten. Dabei kompensieren sie in der Regel ihre eigenen Schwächen, Ängste und Befürchtungen. Dieses Verhalten erinnert sehr an das in der Psychiatrie bekannte Borderline-Verhalten, in dem häufig übermäßige Idealisierung und radikales Entsetzen in Bezug auf eine negativ erlebte Welt miteinander verbunden sind. Auch hier erlebt sich der Mensch in seiner Beurteilung kompetent und entwertet andere, nicht erwünschte Verhaltensweisen radikal. Er schwankt zwischen beiden Zuständen, ohne eine innere Stabilität durch Integration der Ambivalenz zu erreichen. In unseren Untersuchungen konnten wir nun zeigen, dass die Angehörigen von Menschen, die faktisch mit einer sünden-, schuld- und straforientierten Interpretation ihrer Gottesbeziehung leben, eher krank werden, weil sie deren übertriebene Erwartungen und permanente, angsterzeugende Kritik nicht ertragen. Unsere Ergebnisse zeigen ferner, dass sich auch in der religiösen Einstellung krankheitserzeugende Verhaltensmuster mit bestimmten religiösen Normen und Erwartungen verbinden können. Dabei wird natürlich nicht behauptet, dass ausschließlich eine bestimmte religiöse Einstellung Probleme erzeugt, sondern dass bestimmte Persönlichkeitsstrukturen, die z. B. zur Borderline-Symptomatik neigen, auch zu bestimmten religiösen Praktiken und Vorstellungen tendieren. Dabei besteht die Gefahr, dass der Mensch in seiner Eigenart nicht wahrgenommen und stattdessen mit Erwartungen und Kritiken konfrontiert wird, mit einer von außen konstruierten Beurteilung, die weniger mit der Person des Beurteilten als vielmehr mit der Person des Beurteilers und seiner normativen Vorstellung zusammenhängt. Personen, die eine liebevolle, tolerante und auf das Individuum bezogene Gottesbeziehung vertreten, erleben eher individuelles Glück, Wohlbefinden, Sinnerfüllung und Begeisterung, z. B. im Gebet. Hier kommt es offensichtlich zu einer Harmonisierung im zentralen Nervensystem, so dass negative Gefühle verringert und die positiven Gefühle stimuliert werden.

68 1.2

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Sündenverständnis und Selbstdeutung der Gottesbeziehung

In den zwei skizzierten Selbstdeutungen der Gottesbeziehung, also der eher von Liebe bestimmten Gottesbeziehung im Vergleich zur eher auf Sünde und Strafe bezogenen Gottesbeziehung, liegen unterschiedliche Auffassungen von Sünde und Strafe – das System der Mensch-Gott-Beziehung betreffend – vor. Diese Auffassungen stehen manchmal konträr zueinander, häufiger aber sind sie gleichzeitig in Bezug auf unterschiedliche Aspekte dieses Systems vorhanden. In der Vorstellungswelt einer streng normen- und sündenorientierten Person gibt es z. B. folgende charakteristische Akzente: a) Sündenfreiheit, Buße und Reue sind die einzigen Wege, um Gottes Zuneigung und Liebe zu gewinnen. Einen anderen Modus der Erfahrung der Zuneigung Gottes (der etwa allein in der Liebe Gottes gründete) gibt es nicht. b) Ein wesentliches Merkmal der entsprechenden Frömmigkeitskultur ist das Bewusstsein des Gläubigen vom eigenen sündigen Verhalten und den weitreichenden, schlimmen Folgen, die dem Einzelnen selbst („Verdammnis“), anderen Menschen und der Gesellschaft dadurch entstehen. c) Strafe und Strafandrohung für Schuld und Sünde werden als notwendig angesehen, um den Menschen von seinem Abgrund zu retten. d) Gottgefällige Menschen fühlen sich kompetent, Sünder und Sünden zu erkennen und auf die damit verbundenen Gefahren hinzuweisen. Die Vorstellungswelt von Personen, die für sich und ihr Leben eine primär auf der Liebe Gottes basierende und nicht grundsätzlich gefährdete Gottesbeziehung unterstellen, weist u. a. folgende Akzente auf: a) Gott ist zu groß und zu weitsichtig, als dass sich der Mensch anmaßen könnte, andere Menschen als Sünder zu identifizieren und sie mit den zwingenden Konsequenzen einer aus ihrem Verhalten angeblich hervorgehenden Gottlosigkeit zu ängstigen. b) Es wird als Erfahrung der Gottesbeziehung betrachtet, dass eine von Zuwendung getragene Gegenseitigkeit dem Menschen und der Gesellschaft hilft, glücklicher, gesünder und kreativer zu leben. Dies berichten Menschen, die sich als Gott Liebende betrachten und sich ihrerseits von Gott geliebt fühlen, die das Menschsein des Menschen schätzen und davon Abstand nehmen, „Abweichler“ vom eigenen Frömmigkeitsverständnis als Sünder zu diskreditieren. c) Die Sünde wird nicht als verhängnisvolles Abstraktum betrachtet, von dem der Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Handelns immer irgendwie markiert ist, sondern als konkrete Verletzung der Menschlichkeit z. B. in einer machtorientierten und ungerechten Gesellschaftsordnung.

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d) Dass die Sünde u. a. als Verletzung der Menschlichkeit betrachtet werden kann, bedeutet auch, dass die Auseinandersetzung mit ihr zur Entwicklung des Verständnisses von Gut und Böse beträgt und zu einer angemessenen Unterscheidung zwischen (bzw. zur Bewertung von) Verhaltensweisen führt, die das Menschsein des Menschen entweder unterstützen oder den Menschen verletzen. Dies trägt zur Präzisierung des Bewusstseins von einer liebevollen, Autonomie unterstützenden und sich in Krisensituationen bewährenden Gottesbeziehung bei.

1.3

Methodisch-theoretischer Hintergrund der prospektiven Interventionsstudie im Rahmen einer multidisziplinären, präventiven Verhaltensmedizin

Im Rahmen der Heidelberger prospektiven Interventionsstudie von 1973 bis 2007 wurden über 18.000 Personen und deren Angehörige bzw. ihnen nahestehende Personen untersucht. Dabei wurden unterschiedliche Aspekte erfasst, wie z. B. krankmachende und die Gesundheit aufrecht erhaltende Verhaltensmuster, physische Risiko- und protektive Faktoren, sozial-ökonomische Einflussgrößen wie soziale Integration oder Ausstoßung, traumatische Erlebnisse, Hoffnungen auf die Erreichbarkeit attraktiver Ziele usw. In diesem Rahmen wurde auch die Wahrnehmung der eigenen Gottesbeziehung sowie die unterschiedlichen Formen und Akzentuierungen dieser Beziehungsrelation berücksichtigt. Die gewonnenen Ergebnisse wurden zu anderen Untersuchungsfeldern in Beziehung gesetzt. In diesem Zusammenhang wurde eine Reihe randomisierter Experimente durchgeführt, wobei das Interesse an der Aufdeckung eventueller kausaler Zusammenhänge eine besondere Rolle spielte.1

2.

Beobachtungen zum Verhältnis von Menschsein und religiöser Praxis aus der Sicht eines Präventivmediziners

Die Ergebnisse zeigen, dass ein Leben aus einer (von den betreffenden Personen selbst) als liebevoll bezeichneten, von Vertrauen bestimmten und inspirierend verstandenen Gottesbeziehung ein zentraler Faktor für die Aufrechterhaltung und Wiedergewinnung von Gesundheit, für die Aktivierung menschlicher Kreativität und innovativer Problemlösungsfähigkeit ist. Ebenfalls zeigte sich, 1 Vgl. Ronald Grossarth-Maticek: Synergetische Präventivmedizin. Forschungsstrategien für Gesundheit, Heidelberg 2008.

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dass eine als zwanghaft empfundene, v. a. auf Dogmen fixierte und primär an Schuld und Sünde orientierte sowie mit (Selbst-)Vorwürfen verbundene Interpretation der Gottesbeziehung für Gesundheit und Innovation kontraindiziert ist. Diese Struktur von „Gottesbeziehung“ schadet eher der eigenen Gesundheit sowie der von nahestehenden Mitmenschen. Oft sahen sich die betreffenden Personen in ihrer Kindheit von Eltern bedroht, die Strafe und Ängstigung als selbstverständliche pädagogische Mittel ansahen. Die betroffenen Personen entwickeln später häufig einen massiven Widerstand gegen die Schuldzuweisungen der Eltern und werden nachweislich häufiger krank. Ein nicht zu vernachlässigender Teil der gegenwärtigen christlich-religiösen Praxis zielt auf die Vermittlung von Liebe bzw. grundsätzlich auf liebevolle Kommunikation. So gibt es selten eine Predigt, die nicht zumindest versuchte, mit Bezug auf Jesus Christus die Menschenliebe Gottes zur Geltung zu bringen. Auch in nicht-christlichen Bereichen, in denen „Gottesliebe“ kein explizites Thema ist, begegnen Toleranz, Menschenliebe, Akzeptanz individuellen Einstellungen gegenüber u.a.m. Gleichwohl wird die Individualität des Menschen im Allgemeinen nur sehr eingeschränkt wahrgenommen und akzeptiert; subtile Vorwurfshaltungen, die darauf abzielen, den Menschen von seinem Menschsein zu entfremden, indem Mensch zu sein oder religiös zu sein als Widerspruch erlebt wird, begegnen immer wieder. Im kirchlichen Kontext werden nicht selten diffuse Ängste und Schuldgefühle ausgelöst, ohne dass sich „der Sünder“ so recht bewusst wäre, was seine Sünde eigentlich beinhaltet. Entsprechende Vorwürfe können direkt wie indirekt kommuniziert werden, indirekt z. B., indem der Eindruck vermittelt wird, man gehöre nicht wirklich zur Gemeinde und werde nicht „selig“, wenn man den Sonntagsgottesdienst nicht besuche. Zugleich betonen solche Schuldgefühle erzeugenden Kommunikationen verbaliter oftmals die große, allumfassende göttliche Liebe, konditionieren diese aber faktisch so stark, dass sie nur als Folge von Verhaltensänderungen thematisiert wird. Die entsprechenden Akteure empfinden sich offensichtlich als kompetente Vertreter und Interpreten göttlicher Absichten. Personen mit abweichendem Verhalten werden genau genommen nicht toleriert und leben im Unheil.2 2 Dazu ein drastisches (und für die christlichen Kirchen gewiss nicht repräsentatives) Beispiel aus der eigenen Erfahrung: Im Zentrum Heidelbergs stehen Vertreter einer bekannten evangelikalen Religionsgemeinschaft und sprechen Menschen auf Gott, ihre Sünden und die bevorstehende Hölle an. Nur wenige Personen bleiben stehen und lassen sich in ein Gespräch verwickeln. Ich werde gefragt, ob ich an die Existenz der Hölle glaube. Was würde passieren, wenn ich die Frage verneine? Antwort: Dann kommen Sie in einen unaufhebbaren Widerspruch zur Bibel, zum Neuen Testament – und somit in direkten Widerspruch zu Jesus Christus. Auf ihn können Sie sich dann in der Zukunft nicht mehr berufen. Sie haben zu Jesus eine feindliche Einstellung eingenommen. Damit können wir Sie auch nicht mehr vor der Hölle retten.

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3.

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Wünschenswerte Ziele für Theologie und Kirche aus der Sicht eines Präventivmediziners

Wünschenswert wäre eine facettenreiche Förderung liebevoller, den Menschen seines Lebens vergewissernder Kommunikationen. Zu lebendiger, zum Leben motivierender religiöser Praxis gehört gewiss auch Faszination durch solche Praxis, die ja immerhin nicht mehr und nicht weniger als die Präsenz Gottes unterstellt und gegenwärtiges Dasein zu ihr in Verbindung setzt. Eine solche Praxis sollte auf ahndende, mit dem Strafgedanken operierende, auf Schuldgefühle (ohne Schulderkenntnis!) setzende Kommunikationsmuster verzichten und abweichendes Verhalten nicht nur aufgrund einer Abweichung von dogmatischen oder normativen Prinzipien zum Vorwurf erheben. Schuld sollte z. B. auch als „Vergehen“ am eigenen Menschsein in den Blick kommen. Wilfried Engemann betont in seiner Antrittsvorlesung an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien (Juni 2012), dass das Beste, was durch die religiöse Praxis geschehen könne, darin bestünde, dass ein Mensch als Mensch zum Vorschein komme – mit all dem, was zu seinem Menschsein gehöre, also z. B. samt seinen erfüllbaren und unerfüllbaren Wünschen und einem begründeten eigenen Willen, der ihm nicht als Affront gegen einen ominösen Willen Gottes ausgelegt werden dürfe. In dieser Konzeption wird der Mensch in seinen Eigenschaften, Bedürfnissen und psychosozialen bzw. psychobiologischen Determinanten ernst genommen. Überlegungen zur Gottesbeziehung des Menschen schließen sich daran an.3 Aufgrund unserer empirischen Studien wissen wir, dass ein Mensch, der sich gewissermaßen aus seinem ganzen Menschsein heraus – quasi in seiner einmaligen Komplexität – in einer liebevollen und von Vertrauen bestimmten Gottesbeziehung verankert sieht, in Bezug auf Gesundheit, Kreativität und soziale Beziehungen davon profitiert. Kirchliche Berufe, die sich helfend, lehrend oder heilend um den Menschen sorgen, stehen zunächst immer vor der Herausforderung, jeweils den Menschen als Ganzen in den Blick zu bekommen. Erst im zweiten Schritt sollte der Einzelne mit expliziten theologischen (dogmatischen oder ethischen) bzw. religiösen Fragestellungen konfrontiert werden, um ihm in seinem Menschsein, seinem Dasein beizustehen und ihm gegebenenfalls Entwicklungsmöglichkeiten zu erschließen. Dabei kommt es u. a. darauf an, die Lebens-, Daseins- und Handlungsmotivation des Einzelnen zu stärken, was unmittelbar auch auf die Struktur seiner „Gottesbeziehung“ sowie überhaupt auf seine Beziehungen bzw. seinen Standort in Kirche und Gesellschaft zurückwirken dürfte. (Wenn der 3 Vgl. Wilfried Engemann: Lebensgefühl und Glaubenskultur. Menschsein als Vorgabe und Zweck der religiösen Praxis des Christentums (Antrittsvorlesung an der Universität Wien vom 4. Juni 2012), in: WzM, 65. Jg., H. 3, 2013, 218–237.

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zweite Schritt vor dem ersten getan wird und zunächst religiöse bzw. theologische Inhalte vermittelt werden, besteht die Gefahr, dass sich – statt einer Stärkung der Motivation – eher Entfremdungserfahrungen einstellen.) Für W. Engemann ist die Entfremdung vom eigenen Leben u. a. Ausdruck einer „grotesken Alternative“, die vor die absurde Wahl stelle, „gerne Mensch oder religiös“ zu sein. „Sich für das Letztere zu entscheiden, hieße, sich mit einem dumpfen Lebensgefühl zu arrangieren und damit abzufinden, im eigenen Leben Gast zu sein.“4 Eine positive Theologie darf den Bezug zum Menschsein nicht verlieren. In einer entsprechenden theologischen Praxis sollten Phantasie, Kreativität und schöpferisches Tun nicht geringer bewertet werden als die Kultur der kritischen Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst, seiner Schuld, seiner Sünde (Beichte, Buße).

4.

Ausgewählte Zusammenhänge zwischen der Wahrnehmung der eigenen Gottesbeziehung und unterschiedlichen Variablen5

Personen, die sich ihre Gottesbeziehung anhand von Strukturen des Gewährens und Empfangens von Liebe vergegenwärtigen, haben ein deutlich höheres kreatives Potential, besonders in Bezug auf komplexe Problemlösungen, die die Berücksichtigung mehrerer Faktoren erfordern. Im Vergleich dazu verfügen Menschen mit einer Vorstellung von Gott als strafender oder Gehorsam fordernder Instanz, sowie Personen mit einer dezidiert atheistischen, Gott ausdrücklich verneinenden Haltung, über ein geringeres Potential an Kreativität sowie zur Lösung von Problemen. Atheistische Selbstdefinitionen und Lebenskonzepte sind zudem in stärkerem Maße mit Depressionen verbunden und effektiver, wenn es um monokausale Problemlösungen geht (s. Tabelle 1).

4 A. a. O., 219. 5 Ergebnisse einer prospektiven Studie an 318 Personen (142 Frauen, 176 Männer; Geburtsjahr 1920; Erstbefragung 1976/77, Endauswertung 2007).

73

Religion und Gesundheit

Tab. 1: Konzepte der persönlichen Gottesbeziehung in Bezug auf Kreativität bei komplexen Problemlösungen und monokausales Denken (Verhältnis von Flexibilität und Rigidität) N = Anzahl der in die Studie einbezogenen Personen

Konzepte der Gottesbeziehung

1. als liebevoll, toleranzbewusst, individualitätsfördernd erlebte Gottesbeziehung 2. als strafend und schuldorientiert erlebte Gottesbeziehung

Ausgeprägte Kreativität in Bezug auf komplexe Problemlösung (z. B. N = 318 unter Berücksichtigung psycho-physischer Zusammenhänge)

Monokausale (z. B. dogmatistische) Problemlösungen, verbunden mit der Hemmung, komplexe Zusammenhänge zu berücksichtigen

116 85 (36,5 %) (73,3 %)

31 (26,7 %)

41 4 (12,9 %) (9,6 %)

37 (90,2 %)

3. atheistisch, eine Got161 59 tesbeziehung vernei(50,6 %) (36,6 %) nende Einstellung

5.

102 (63,3 %)

Spezifische Verhaltensmuster als Risiko- und protektive Faktoren

Anhand der vorgenommenen empirischen Studien konnten wir Verhaltensmodelle identifizieren, die mit unterschiedlichen Erkrankungen zusammenhängen und mit physischen Risikofaktoren Synergieeffekte bilden. Chronisches Leid in der Isolation von einem ersehnten, aber nicht erreichbaren Mitmenschen oder wegen eines nicht erreichbaren, aber dauerhaft angestrebten beruflichen Ziels ist z. B. ein signifikanter Prädiktor für unterschiedliche Krebserkrankungen, indem dieses Leid beispielsweise das Zigarettenrauchen in seiner gesundheitsschädlichen Wirkung verstärkt. Chronische Übererregung, mit der das Gefühl einhergeht, einer als „negativ“ erlebten Person oder einem ungünstigen Zustand hilflos ausgeliefert zu sein, ist ein Prädiktor für Herzinfarkt und Hirnschlag; auch hier lassen sich Synergieeffekte mit physischen Risikofaktoren nachweisen. Chronische Anregungslosigkeit wiederum, Antriebslosigkeit und Resignation sind Prädiktoren für die Entstehung von Morbus Alzheimer, während chronische Angst häufig der Erkrankung an Morbus Parkinson vorausgeht. Auch die Dissoziation von extrem aktivierter Hemmung und chronischer Übererregung – ohne dass es dabei zu gegenseitiger Regulation und Abschwächung kommen kann – ist ein signifi-

74

Ronald Grossarth-Maticek

kanter Prädiktor für eine gewisse Form von Hirntumoren. Dagegen ist eine gute Selbstregulation, also die Fähigkeit, aus der individuellen Motivation heraus Eigenaktivitäten zu entwickeln, die zur Bedürfnisbefriedigung und Erreichung attraktiver Ziele führen, so dass sich Lust, Wohlbefinden und Sicherheit einstellen, ein signifikanter Prädiktor für Gesundheit bis ins hohe Alter. Tabelle 2 zeigt die oben erwähnten Risiko- und protektiven Faktoren in ihrem Verhältnis zu bestimmten Formen der Religiosität und des Atheismus. Unter anderem sind folgende Ergebnisse interessant: Ein Gottesbild, in dem Strafe und Schuld eine dominante Rolle spielen, geht oft mit einer sehr schlechten Selbstregulationsfähigkeit einher. Alle erfassten Risikofaktoren – insbesondere chronische Angst – sind in dieser Konzeption der Gottesbeziehung stärker ausgeprägt als im Falle einer auf Liebe und Vertrauen basierenden Gottesbeziehung. Tab. 2: Konzepte der persönlichen Gottesbeziehung in Bezug auf unterschiedliche, für die Gesundheit relevante Verhaltensmuster6 Konzepte der Gottesbeziehung N = 318 1. als liebevoll, toleranzbewusst, individualitätsfördernd erlebte Gottesbeziehung N = 116 2. als strafend und schuldorientiert erlebte Gottesbeziehung N = 41 3. atheistisch, eine Gottesbeziehung verneinende Einstellung N = 161

ÜberLeid in der erreIsolation gung

Anregungslosigkeit

Chronische Angst

13 (10,7 %)

14 (12 %)

11 (9,5 %)

12 6 (10,3 %) (5,2 %)

60 (51,7 %)

8 (19,5 %)

10 7 (24,4 %) (17 %)

10 5 (24,4 %) (12,2 %)

1 (2,4 %)

34 (21,1 %)

49 18 17 6 (30,4 %) (11,2 %) (10,4 %) (3,7 %)

Gute Hemmung Selbstund Überreguerregung lation

37 (23 %)

Tabelle 3 zeigt die Ergebnisse der prospektiven Auswertung 1977 bis 2007. Menschen, die für ihre eigene Existenz eine Gottesbeziehung unterstellen, in der Schuld, Strafe und Gehorsamsforderung im Vordergrund stehen, sind signifikant seltener bis ins hohe Alter gesund und entwickeln signifikant häufiger Morbus Parkinson. 6 Vgl. eine ausführlichere Bewertung dieses Konzepts in Ronald Grossarth-Maticek: Synergetische Präventivmedizin, a. a. O. (s. Anm. 1).

75

Religion und Gesundheit

Tab. 3: Konzepte der persönlichen Gottesbeziehung in Bezug auf Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson und andere chronische Erkrankungen sowie auf die Gesundheit bis ins hohe Alter Konzepte der Gottesbeziehung N = 318 1. als liebevoll, toleranzbewusst, individualitätsfördernd erlebte Gottesbeziehung N = 116 2. als strafend und schuldorientiert erlebte Gottesbeziehung N = 41 3. atheistisch, eine Gottesbeziehung verneinende Einstellung N = 161

M. Alzheimer

M. Parkinson

Gesundheit Andere bis ins chronische Erkrankungen hohe Alter

12 (10,3 %)

11 (9,5 %)

42 (36,2 %)

51 (44 %)

7 (17 %)

13 (31,7 %)

19 (46,3 %)

2 (4,9 %)

25 (15,5 %)

24 (14,9 %)

83 (51,6 %)

29 (18 %)

Tabelle 4 spiegelt Relationen zwischen der Art der empfundenen Gottesbeziehung und der Beziehung zu Kindern und Partner wider. Die Vertreter einer als liebevoll empfundenen Gottesbeziehung haben doppelt so viele Kinder wie die Vertreter einer als eher strafend bzw. kontrollierend empfundenen Gottesbeziehung. Dabei zeigt sich, dass die Kinder und die Partner von Menschen, die ihre Gottesbeziehung unter kontrollierend-strafenden Aspekten wahrnehmen, häufiger vor dem 35. Lebensjahr (Kinder) bzw. vor dem 55. Lebensjahr (Partner) erkranken oder sterben. Hier scheint sich die empfundene Fremdbestimmung als eine mögliche Blockierung der Selbstregulation gesundheitsschädlich auszuwirken. Auch die Distanzierung von den elterlichen religiösen Vorstellungen, die z. B. durch Kirchenaustritte dokumentiert wird, ist bei Menschen, die sich in einer von Strafe bzw. Kontrolle bestimmten Gottesbeziehung verorten, weitaus stärker als bei Vertretern mit einem liebenden Gottesbild (35 Fälle von 41 Personen gegenüber 19 Fällen von 116 Personen).

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Ronald Grossarth-Maticek

Tab. 4: Konzepte der persönlichen Gottesbeziehung in Bezug auf die Gesundheit der Kinder und des Partners Anzahl der Kinder

Tod der Kinder vor dem 35. Lebensjahr

Schwere chronische Erkrankung (Kinder/Partner) vor dem 35. Lebensjahr

Tod eines Partners des Befragten vor dem 55. Lebensjahr

483 (Ø 3)

1 (0,2 %)

1 (0,2 %)

11 (9,5 %)

78 (Ø 1,5)

6 (7,7 %)

7 (9 %)

15 (36,6 %)

3. atheistisch, eine Got177 tesbeziehung verneinende Einstellung (Ø 1,1) N = 161

5 (2,8 %)

8 (4,5 %)

21 (13 %)

Konzepte der Gottesbeziehung N = 318 1. als liebevoll, toleranzbewusst, individualitätsfördernd erlebte Gottesbeziehung N = 116 2. als strafend und schuldorientiert erlebte Gottesbeziehung N = 41

6.

Extreme Ambivalenz

Im Rahmen unserer empirischen Studien konnten wir zeigen, dass eine starke Ambivalenz in unterschiedlichen Lebensbereichen (z. B. in Bezug auf Personen aus der frühen Kindheit), ein Risikofaktor bei der Entstehung unterschiedlicher chronischer Erkrankungen ist. Die therapeutische Reduktion der Ambivalenz durch das von uns entwickelte Autonomietraining erwies sich als signifikant protektiver Faktor. Tabelle 5 zeigt nun, dass eine extreme und lang anhaltende Ambivalenz am geringsten bei Personen ausgeprägt ist, die ihrem Leben eine liebevolle Gottesbeziehung unterstellen – mit positiven Konsequenzen für das Berufsleben, für die Partnerbeziehung sowie in Bezug auf Personen aus der Ursprungsfamilie. Eine verständnisvolle, tolerante Aufhebung der Ambivalenzen ist ebenfalls bei den Personen am höchsten ausgeprägt, die in ihrem Tun und Lassen von einer liebevollen Gottesbeziehung ausgehen. Die geringsten Fähigkeiten, jene Ambivalenzen aufzulösen, zeigen Personen, bei denen das Konzept ihrer Gottesbeziehung strafende, kontrollierende und schuldorientierte Merkmale aufweist. Auch atheistische Personen leiden unter Ambivalenzgefühlen.

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Religion und Gesundheit

Tab. 5: Konzepte der persönlichen Gottesbeziehung in Bezug auf extreme Ambivalenz im Berufsleben, der Partnerbeziehung und der Ursprungsfamilie sowie die Fähigkeit zur Aufhebung dieser Ambivalenz (Mehrfachnennungen möglich)

Konzepte der Gottesbeziehung N = 318 1. als liebevoll, toleranzbewusst, individualitätsfördernd erlebte Gottesbeziehung N = 116 2. als strafend und schuldorientiert erlebte Gottesbeziehung N = 41 3. atheistisch, eine Gottesbeziehung verneinende Einstellung N = 161

Ausgeprägte Ausgeprägte Ambivalenz Ausgeprägte Ambivalenz gegenüber Ambivalenz in der der im BerufslePartnerUrsprungsben beziehung familie

Liebevolle, tolerante Aufhebung von Ambivalenz

8 (6,9 %)

7 (6 %)

5 (4,3 %)

79 (68,1 %)

5 (12,2 %)

8 (19,5 %)

8 (19,5 %)

3 (7,3 %)

35 (21,7 %)

40 (24,8 %)

51 (31,7 %)

35 (21,7 %)

Tabelle 6 verdeutlicht, dass die Opposition der Kinder gegen ihre Eltern am stärksten ausgeprägt ist in Bezug auf strafende Repräsentanten. Tab. 6: Konzepte der persönlichen Gottesbeziehung in Bezug auf die Erziehung der Kinder

Konzepte der Gottesbeziehung N = 318

Keine Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten mit Neigung zur Strafe

Kind in positiver, bejahender Beziehung zum Elternhaus

Kind in Opposition zum Elternhaus

27 (23,3 %)

75 (69,5 %)

13 (11,2 %)

1 (2,4 %)

40 (97,6 %)

1 (2,4 %)

34 (82,9 %)

47 (29,2 %)

59 (36,6 %)

24 (14,9 %)

52 (32,3 %)

Ausgeprägte Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten

1. als liebevoll, toleranzbewusst, indivi89 dualitätsfördernd erleb(76,7 %) te Gottesbeziehung N = 116 2. als strafend und schuldorientiert erlebte Gottesbeziehung N = 41 3. atheistisch, eine Gottesbeziehung verneinende Einstellung N = 161

78

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Tabelle 7 verdeutlicht, dass Menschen, die mit der Vorstellung einer von Strafe bestimmten Gottesbeziehung leben, oft auch selbst eher mit Bestrafung erziehende, schuldorientierte Eltern hatten. Tab. 7: Konzepte der persönlichen Gottesbeziehung in Bezug auf die eigene Kindheit liebevolle, tolerante Eltern

schlagende, strafende, intolerante Eltern

das Kind negierende, nicht anerkennende Eltern

„passive“ Eltern ohne erkennbare Erziehungslinie

84 (72,4 %)

11 (9,5 %)

8 (6,9 %)

13 (11,2 %)

1 (2,4 %)

26 (63,4 %)

12 (29,3 %)

2 (4,9 %)

3. atheistisch, eine Gottesbeziehung verneinen- 50 de Einstellung (31 %) N = 161

39 (24,2 %)

40 (29,8 %)

32 (19,9 %)

Konzepte der Gottesbeziehung N = 318 1. als liebevoll, toleranzbewusst, individualitätsfördernd erlebte Gottesbeziehung N = 116 2. als strafend und schuldorientiert erlebte Gottesbeziehung N = 41

7.

Veränderung der religiösen Einstellung durch Stimulierung der Selbstregulation und durch Reduktion der Ambivalenz im Autonomietraining

Das Autonomietraining ist eine Methode zur Reduktion destruktiver Ambivalenz im oben skizzierten Sinn und zur Anregung der eigenaktiven Problemlösung („Selbstregulation“). Die in den oben aufgeführten Tabellen zusammengefassten empirischen Untersuchungen zeigen, in welcher Weise unterschiedliche Formen von Religiosität mit der erlebten Kindheit und mit der Neigung zur Ambivalenz zusammenhängen. Aus diesem Grund kann angenommen werden, dass ein Training zur Reduktion der Ambivalenz und der erlebten Traumata in der Kindheit (z. B. erlittene Abweisung, als ungerecht empfundene Bestrafung usw.) auch eine Veränderung in der Wahrnehmung der eigenen Gottesbeziehung hervorrufen kann. Das hier angeführte therapeutische Experiment zeigt, dass nach dem Autonomietraining signifikante Veränderungen entstehen. Die erste Datenerfassung wurde vor dem Experiment, eine zweite sechs bis acht Monate nach dem Experiment durchgeführt. Die religiösen Einstellungen

79

Religion und Gesundheit

wurden u. a. durch folgende Fragen an die jeweilige Versuchsperson erfasst (Auswahl): Welchem der hier beschriebenen Typen von Religiosität und welcher Ausprägung Ihrer „Gottesliebe“ würden Sie sich selbst zuordnen? (Skala: 0 = überhaupt nicht, 1 = sehr schwach, 2 = schwach, 3 = mittelmäßig, eher schwach, 4 = mittelmäßig, eher stark, 5 = stark, 6 = sehr stark, 7 = äußerst stark.) 1. Atheistisch – mit Wut auf Gott und die Kirche 2. Atheistisch – aus rationalen Gründen 3. Kirchgänger, Befürworter der kirchlichen Traditionen, ohne tiefe Gottesbindung 4. In einer ausgeprägten Gottesbeziehung lebend, z. B. starke Liebe zu Gott, von Gott geliebt, die wohltuende Wirkung des Heiligen Geistes spürend. Diese Haltung schließt eher einen häufigeren als einen selteneren Besuch in kirchlichen Gemeinden mit ein. 5. Wie stark ausgeprägt ist Ihre Liebe zu Gott? Aus Tabelle 8 geht hervor, in welchem Maße sich eine psychotherapeutische Beeinflussung von krankheitserzeugenden Verhaltensmustern und eine Anregung der Selbstregulationsfähigkeit indirekt auch auf die vom Einzelnen für sich selbst unterstellte Gottesbeziehung auswirkt. Tab. 8: Veränderungen der Wahrnehmung der eigenen Gottesbeziehung durch eine therapeutische Intervention (Autonomietraining)7 1. Atheistisch mit Wut auf Gott und Kirche Vor dem 26 Training (83,87 %) Nach 7 dem (22,58 %) Training

2. Atheistisch aus rationalen Gründen 0 6 (19,35 %)

3. Kirchgänger und Befürworter d. kirchlicher Traditionen 3 (9,68 %)

4. Ausgeprägt gottbezogen, insgesamt starke Liebe zu Gott 2 31 (6,45 %)

10 (32,26 %)

8 (25,81 %)

31

Der Anteil der radikal atheistischen Haltungen wurde von 84 % auf 23 % gesenkt. Die Zunahmen verteilen sich recht gleichmäßig auf die drei übrigen 7 Vgl. auch Ronald Grossarth-Maticek: Formen der Religiosität und ihre Auswirkungen auf Gesundheit und Krankheit, in: WzM, 62. Jg., H. 4, 2010, 313-331.

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Einstellungen (2: +19 %, 3: +23 %, 4: + 19 %). Die Veränderung ist statistisch hochsignifikant. Der Mittelwert bei der Frage nach der Liebe zu Gott erhöhte sich von 1,8 (gerundet: schwach) auf 3,7 (gerundet: mittelmäßig bis stark). In der unbehandelten Kontrollgruppe kamen bei beiden Variablen nur geringe und statistisch nicht signifikante Veränderungen vor. Die Korrelation zwischen beiden Fragen betrug vor dem Training r = 0,65 und danach r = 0,74; der inhaltlichen Verwandtschaft entspricht also, wie zu folgern ist, auch eine statistische. In der prospektiven Untersuchung (in der nur einmal gemessen wurde) gilt sogar r = 0,86. Interessanterweise verringert sich bei der atheistischen Haltung die empfundene „Wut auf Gott“. Hier kann vermutet werden, dass diese Gefühle eher mit psychodynamischen Motiven zusammenhängen als dass sie rational abgeleitet sind. Gleichzeitig verstärkt sich bei einer kleinen Gruppe eine rationale Begründung. Dass sich die Empfindung und Artikulation der „Liebe zu Gott“ signifikant verbessert, kann bedeuten, dass diese auch einem Grundbedürfnis von sich selbst regulierenden Menschen entspricht. Unter dem gleichen Gesichtspunkt kann die Verbesserung der Motivation zum Kirchgang und die höhere Akzeptanz kirchlicher Normen betrachtet werden.

8.

Gottesbeziehung, Gesamtüberleben und Lebensqualität bei Krebspatienten

In die prospektive Interventionsstudie, über die hier berichtet wird, sind Krebspatienten der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg einbezogen worden. Es handelt sich um eine 35 Jahre dauernde prospektive Studie, wobei die Patienten von der Diagnosestellung bis zum Tode begleitet wurden. Die Erstbefragung erfolgte im Zeitraum von 1973 bis 1976, die letzten Nachuntersuchungen wurden 2008 bis 2010 vorgenommen. In diesem Zusammenhang wurde eine große Anzahl psychosozialer und physischer Risikofaktoren und protektiver Faktoren erhoben, mit dem Ziel, das Gesamtüberleben und die Lebensqualität vorhersagen und positiv beeinflussen zu können. Dabei wurde sowohl eine prospektive Studie als auch ein randomisiertes Interventionsexperiment durchgeführt. Das randomisierte Interventionsexperiment mit dem sogenannten Autonomietraining steht jetzt im Vordergrund des Interesses. Eine Gottesbeziehung, die nach Aussage der Patienten als „Wohlbefinden erzeugend“ erlebt wird und Beten um Heilung haben für die Lebensqualität und das Gesamtüberleben eine signifikante Wirkung. Diese beiden Variablen sind mit anderen protektiven psychosozialen Variablen eng vernetzt und stehen in negativer Korrelation mit psychosozialen Risikofaktoren.

Religion und Gesundheit

9.

81

Ergebnisse in Bezug auf religiöse Faktoren

Der Zusammenhang zwischen der Art der Gottesbeziehung und der Überlebenszeit ist signifikant, d. h. eine nach eigenen Angaben Wohlbefinden erzeugende Gottesbeziehung und das Beten um die Heilung haben sowohl das Gesamtüberleben als auch die Lebensqualität bei Krebspatienten positiv beeinflusst. Die beiden stärksten Variablen sind Selbstregulation und Typ-IVVerhalten (vgl. Tab. 8), mit denen die beiden religiösen Faktoren hoch signifikant korrelieren, d. h. es gibt eine gegenseitige Beeinflussung z. B. zwischen der Fähigkeit, Wohlbefinden erzeugende Zustände eigenaktiv zu erreichen, und einer Wohlbefinden erzeugenden Gottesbeziehung. Die Lebensqualität als abhängige Variable korreliert im multivariaten Verfahren am stärksten mit den Variablen Selbstregulation (eigenaktive Erreichung attraktiver Ziele) und Typ-IV-Verhalten (Wohlbefinden durch angenehme Anregungen), die wiederum positiv mit den zwei religiösen Variablen korrelieren, sich also gegenseitig beeinflussen. Für die physischen Risikofaktoren zeigt sich in der multivariaten Analyse, dass die beiden religiösen Faktoren signifikant bleiben, wenn einige relevante physische Wirkfaktoren gleichzeitig statistisch berücksichtigt werden. Die Ergebnisse, gewonnen auf Basis einer sogenannten Faktorenanalyse, besagen, dass religiösen Variablen in ein positives, heilendes interaktives Netzwerk eingreifen können, dass es aber nicht möglich erscheint, sie mit unterschiedlichen anderen psychosozialen Variablen derart zu verknüpfen, dass sich daraus eine nur für die Gottesbeziehung spezifische Verbindung von religiösen mit anderen psychosozialen Variablen ergibt. Es wurde auch die Frage gestellt, ob die eigene Gottesbeziehung eher gestärkt oder geschwächt, bzw. ob sich das Beten für Heilung nach dem Autonomietraining verändert (abgenommen oder zugenommen) habe. Die Antworten lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass in der trainierten Gruppe die religiöse Dimension in Bezug auf beide Fragen gestärkt wurde, kurz gesagt, dass durch das durchgeführte Autonomietraining die religiöse Einstellung bei den Krebspatienten gefestigt wurde.8

8 Vgl. Ronald Grossarth-Maticek/Hermann Vetter : Gottesbeziehung, Gesamtüberleben und Lebensqualität bei Krebspatienten im multifaktoriellen Zusammenhang. Ergebnisse einer prospektiven Interventionsstudie, in: WzM, 63. Jg., H. 6, 2011, 577-595.

82

10.

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Zusammenfassung

In einer großangelegten prospektiven Interventionsstudie wurden Menschen, die in einer von Liebe und Zuwendung bestimmten Gottesbeziehung zu leben meinen, mit Menschen verglichen, die die Art ihrer Gottesbeziehung als eher an Sünde, Schuld oder Strafe orientiert beschreiben – sowie mit Menschen, die sich als radikale Atheisten verstehen. Die Gruppen weisen in verschiedenen Bereichen markante Unterschiede auf: Die Vertreter der schuld- und straforientierten Haltung neigen zu einer von der individuellen Psychodynamik des Menschen absehenden Lebenspraxis, die an übergeordnete Forderungen im Sinne dogmatischer, überwiegend moralischer und „biblischer“, d. h. hier, unmittelbar den Texten entlehnten Richtlinien orientiert ist. Von 41 Personen, die ihre Gottesbeziehung eher unter den Gesichtspunkten von Schuld und Strafe interpretieren, verneinen z. B. 40 einen psychotherapeutischen Zugang zum Individuum, weil sie u. a. glauben, dass damit eine Verwässerung der allgemeinen göttlichen Prinzipien verbunden sei. Menschen, die davon ausgehen, aus einer liebe- und vertrauensvollen Gottesbeziehung heraus zu leben, neigen eher dazu, (auch) andere Menschen „ganzheitlich“ wahrzunehmen, deren emotionale und kognitive Beweggründe zu erkennen und sich zu ihrer Religion so in Beziehung zu setzen, dass sie sich selbst anerkannt, gewürdigt und motiviert fühlen. Diese Auffassung teilen 83 von 116 Personen (77,5 %). Dabei eröffnen sich wichtige Wege für Gesundheit, Wohlbefinden, eigene Kreativität und gute Beziehungen im Rahmen der familiären Kommunikation. Ein Blick auf andere Studien unterstützt die gewonnenen Ergebnisse in vielen Bereichen: Ca. 1200 unabhängige Studien der vergangenen 20 Jahre kommen zu dem Schluss, dass Menschen, die an Gott glauben oder überzeugt sind, dass es eine wirkungsvolle höhere Macht gibt, im Vergleich zu atheistisch eingestellten Personen ca. fünf bis sieben Jahre länger leben, weniger im Krankenhaus sind und eher einen normalen Blutdruck haben. Es wird auch vermutet, dass diese Menschen ein stärkeres Immunsystem haben.9 Dr. Ren¦ Hefti, Leiter einer Klinik und des „Forschungsinstituts für Spiritualität und Gesundheit“ im schweizerischen Langenthal, berichtet 2005 in einem Interview10, dass er in seiner Praxistätigkeit als Chefarzt beobachten konnte, dass sich gläubige Menschen mehr bewegen, nicht übermäßig viel Alkohol trinken, weniger rauchen usw. Außerdem könnten sie besser mit Stress 9 Vgl. Theresia Maria de Jong: Glaube, Hoffnung, Heilung, in: Psychologie heute, H. 3, 2005, 21–27; Wolfgang Kallibis/Angelika Kastner : Das Anti-Aging Lexikon, München 2007. 10 Das Interview wurde am 01. Oktober 2005 geführt und ist nur online abrufbar : http://www. jesus.ch/magazin/lifestyle/124890-laenger_leben_mit_jesus.html (letzter Zugriff: 30. Oktober 2015).

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umgehen und würden ihre Lebenskrisen erfolgreicher bewältigen. Dr. Michael Utsch von der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin geht davon aus, dass gerade die Absichtslosigkeit einer religiösen Handlung gesundheitlich relevant ist und zitiert den Harvardmediziner Dr. Benson: „Nur wer loslassen kann und sein Schicksal vertrauensvoll in die Hand Gottes legen kann, profitiert von der gesundheitsfördernden Kraft des Glaubens. Ein fordernder und auf Wirkung kalkulierter Glaube habe dagegen keine positiven Gesundheitseffekte“. Der Psychologe Dr. Utsch fasst zusammen: „Dem religiösen Menschen geht es primär nicht um seine Gesundheit, sondern um eine lebendige Gottesbeziehung, die sich gerade in Krankheitszeiten festigen kann.“11 Michael McCullough fand in seinen Metaanalysen heraus, dass Religiosität nur dann eine nachhaltige positive Wirkung auf die Lebensdauer hatte, wenn sie durch regelmäßige Gottesdienste öffentlich gelebt wurde. Die Schlussfolgerung: Nicht der Glaube an sich fördert die Gesundheit, sondern die mit der Ausübung der Religion verbundenen sozialen Kontakte und Aktivitäten, die besonders in Krisenzeiten Unterstützung bieten.12 Der Psychiater Herold G. Koenig von der Duke University of North Carolina untersuchte 1996 ca. 4000 repräsentativ ausgewählte Senioren und fand heraus, dass Personen, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, weniger depressiv und körperlich gesünder sind, als Personen, die zu Hause beten und den Gottesdienst nicht oder nur selten besuchen. Er fand ebenfalls heraus, dass religiöse Menschen besser mit Stress umgehen, gesünder leben, ein stärkeres Immunsystem haben und signifikant länger leben.13 Dr. Kenneth Pargment von der University of Ohio zeigt in einer Untersuchung, dass bestimmte Formen des Glaubens krank machen können und besonders mit psychosomatischen Störungen zusammenhängen. „Gläubige, die in der Furcht leben, für ihre Sünden von einem strengen Gott bestraft zu werden, und die diese Strenge auch in ihrer Glaubensgemeinschaft als emotionales Klima erleben, neigen stärker zu Depression und Ängsten als Nichtgläubige.“ Umgekehrt stellt dasselbe Forschungsteam fest, dass „der Glaube an einen freundlichen Gott, der Schwäche nachsichtig beurteilt, in Verbindung mit emotionaler Geborgenheit in einer Glaubensgemeinschaft psychisches und körperliches Wohlbefinden deutlich fördert.“14

11 Michael Utsch: Religiosität und Spiritualität, in: Ann Elisabeth Auhagen (Hg.): Positive Psychologie. Anleitung zum „besseren“ Leben, Weinheim 2004, 67–85, 72. 12 Vgl. Michael McCullough et al.: Religious Involvement and Mortality : A Meta-Analytic Review, in: Health Psychology, 19. Jg., H. 3, 2000, 211–222. 13 Vgl. Herold G. Koenig: The Healing Power of Faith. How Belief and Prayer Can Help You Triumph Over Disease, New York 2001. 14 Kenneth Pargment et al.: Religious Struggle as a Predictor of Mortality among Medically Ill

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Der allergrößte Teil der Studien zum Thema Glaube und Gesundheit wurde in den USA durchgeführt. Im europäischen Raum wurden nur sehr wenige empirische Studien durchgeführt, z. B. Sebastian Murken, „Gottesbeziehung und psychische Gesundheit“, 1998. Der Wissenschaftler erforschte als Religionspsychologe an der Universität Trier in verschiedenen bis 2008 laufenden Studien, wie kritische Lebensereignisse z. B. eine Brustkrebserkrankung, religiös verarbeitet werden. Im Gegensatz zu vielen amerikanischen Studien, die oft vorschnell und generalisierend nahe legen, dass Religiosität für alle Menschen und in jeder Situation eine gesundheitsfördernde Ressource ist, zeigen die Ergebnisse, dass gerade in dem Fall, wo die Beziehungen zu Gott negativ geprägt sind oder wo die Krankheit als Strafe Gottes verstanden wird, dies für die Krankheitsanpassung hinderlich sein könnte. Diese Ergebnisse decken sich mit den Ergebnissen von Pargment. Es gibt auch eine große Zahl deutscher Aufsätze, die sich differenziert, aus unterschiedlichen Blickwinkeln, aber ohne empirische Studien mit dem Thema Glaube und Gesundheit befassen.15 Zusammenfassend zeigt die internationale Literatur, dass unterschiedliche psychodynamische Wirkfaktoren (z. B. ob Gott schuldbetont oder liebevoll freundlich erlebt wird) oder soziale Komponenten, z. B. Unterstützung durch Gemeindemitglieder oder ein gesünderer Lebensstil, eine Rolle für gesundheitserhaltende oder sogar krankmachende Wirkungen der Religiosität spielen. Es wird auch angedeutet, dass bestimmte Haltungen, wie Loslassen-Können, das Schicksal annehmen können usw., ebenfalls eine Rolle spielen.

Anhang: Fragebogen zur Art der „Gottesbeziehung“, die die Befragten für ihr Leben unterstellen Die unten aufgeführten Aussagen werden von den Befragten auf eine Skala von 0 bis 7 bezogen. Es geht jedes Mal darum, zu erkunden, wie stark die betreffenden Personen selbst den jeweils formulierten Aussagesätzen zustimmen: Frage: Wie stark stimmen Sie diesen Behauptungen zu? 0 = überhaupt nicht, 1 = nur äußerst gering, 2 = gering, 3 = mittelmäßig, eher gering, 4 = mittelmäßig, eher stark, 5 = stark, 6 = sehr stark, 7 = absolut

Elderly Patients: A 2-Year Longitudinal Study, in: Archive International Medicine, 161. Jg., 2001, 1881–1885. 15 Z. B. Simone Ehm/Michael Utsch (Hg.): Wie macht der Glaube gesund? – Zur Qualität christlicher Gesundheitsangebote, Berlin 2008.

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I. Fragen zur sündenorientierten Gottesbeziehung 1. Meine Gottesbeziehung ist an strengen gottgefälligen Normen und moralischen Vorstellungen ausgerichtet, auch dann, wenn diese mir und anderen Menschen nicht unmittelbar gut zu tun scheinen. 2. Ich bin davon überzeugt, dass Strafen bzw. Strafandrohungen für Sünder absolut notwendig sind, um dadurch Menschen vor der Hölle und dem eigenen Verderben zu retten. 3. Nur wenn ein Mensch seine täglich begangenen Sünden anerkennt und bereut, kann er zu Gott finden. 4. Die wichtigste Aufgabe gottesfürchtiger Menschen ist der ständige Hinweis auf Sünden und die daraus folgenden Strafen. 5. Die Erreichbarkeit der Gottesliebe ist erst die Folge von gottgefälligem und sündenfreiem Verhalten. 6. Wenn Kinder ungehorsam sind und sich nicht so verhalten, wie Gott es will, müssen diese von den Eltern zum Gehorsam ermahnt werden, notfalls auch mit Schlägen. II. Fragen zur liebeorientierten Gottesbeziehung 1. Die Vorstellung von Gott löst bei mir intensive Gefühle der Liebe, der Begeisterung, Bewunderung sowie Glücksgefühle aus. 2. Ich fühle, dass Gott mich liebt, führt und beschützt, z. B. in völlig aussichtslosen Situationen mir beisteht und mir hilft, Probleme in kreativer und intelligenter Weise zu lösen. 3. Ich glaube, dass eine liebe- und vertrauensvolle Gottesbeziehung, die den Menschen in seiner Eigenart respektiert, für die Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft notwendig ist. 4. Für mich sind Sünden dann gegeben, wenn der Mensch oder die Gesellschaft den Menschen in seiner Menschlichkeit verletzen, einerlei ob physisch oder seelisch. 5. Da Menschen sich meist nicht bewusst sündhaft verhalten, sind Sünden zwar eine Gefahr ; ihre Erkenntnis kann aber auch ein Anstoß zur persönlichen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung sein, z. B. indem das Böse mit dem Guten „vergolten“ wird, wodurch Menschlichkeit und Moral Gestalt gewinnen können. 6. Meine Gottesbeziehung ermöglicht mir einerseits, mein Leben aus einer autonomen Haltung heraus führen zu können, was Sünde nicht aus-, sondern einschließt; sie eröffnet mir andererseits ein tolerantes, anderen gegenüber offenes Verhalten. Andererseits ist auch die Erfahrung, dass Gott selbst in die persönliche Lebensgeschichte und in die Entwicklung der Gesellschaft be-

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wahrend eingreift, Ergebnis dieser Gottesbeziehung. (Gott ist also Förderer der Autonomie und Lenker der Entwicklung in Richtung mehr Menschlichkeit.) Zum Auswertungsschlüssel: Eine Person wurde in dieser Studie in die erste oder zweite Gruppe eingeordnet, wenn sie in dieser Gruppe eine höhere Punktzahl erreicht hatte. Weitere Auswertungen ermöglichen, den Grad der Zugehörigkeit in die eine oder andere Gruppe wahrzunehmen sowie das qualitative Verhältnis zwischen dem Ausprägungsgrad in beiden Gruppen zu bestimmen.

Gunnar Kristj‚nsson

5. Religiöse Wahrnehmung und Naturerfahrung. Anmerkungen zur lutherischen Glaubenskultur in Island – Religious perception and the experience of nature. Annotations to the Lutheran culture of belief in Iceland

Zusammenfassung: In der Glaubenskultur Islands sind verschiedene Komponenten miteinander verflochten. Zunächst ist Island eine Insel, deren Einwohner sehr engen Kontakt mit dem Meer gehabt haben. Dasselbe gilt auch für die Beziehung der Isländer zum Land. Darüber hinaus wurde die Glaubenserfahrung der Isländer durch das Luthertum geprägt. Noch heute wird die religiöse Erfahrung der Isländer durch beides, die Natur und das Luthertum, beeinflusst. Der Vortrag erörtert, auf welche Weise das geschieht. Abstract: Many different components are interwoven in the Icelandic culture of belief. First of all Iceland is an island, whose inhabitants have always been in close contact with the sea. The same is true for their relationship with the land. In addition to that Lutheranism shaped the Icelanders’ faith experience. Even today both, nature and Lutheranism, influence their religious experience. The lecture discusses how this occurs.

Der Gegenstand dieses Vortrags sind die anthropologischen Probleme und Perspektiven der christlichen Glaubenskultur in Island. Die Darstellung ist teilweise historisch, teilweise auch systematisch-theologisch.1 Meiner Meinung nach ist die Glaubenskultur in Island wesentlich durch eine primäre religiöse Erfahrung in der Natur geprägt. Ich werde aber auch kurz auf die sekundäre religiöse Erfahrung im Mitleid eingehen – ebenfalls ein wichtiges Thema in der isländischen Literatur. Beides, Natur und Mitleid, sind wichtige Komponenten in der Diskussion über Menschsein und Religion in Island. Das eine hat mit der äußeren Umgebung, das andere mit der inneren Motivation des Menschen zu tun.

1 Wichtig für meine theologische Sicht ist auch Wilfried Engemanns anthropologisch-theologisches Anliegen in der Predigtlehre. Der Titel der Veröffentlichung von 13 homiletischen Vorträgen, die er zwischen 2005 und 2011 vor Pfarrern in Island (Sk‚lholt) gehalten hat, lautete bereits: „Als Mensch zum Vorschein kommen“ (Wilfried Engemann: Ý mælikvarÅa mannsins. LeiÅir til samti´malegrar pre´dikunar, Mosfellsbær 2012).

88

1.

Gunnar Kristjánsson

Charakteristika der isländischen Glaubenskultur

Anfangs will ich auf ein paar Charakteristika der isländischen Glaubenskultur hinweisen. Weil Island eine Insel ist, hat die Nähe zum Meer das Volk von Anfang an sehr tief geprägt, auch heute noch. Dasselbe gilt auch für die Beziehung der Isländer zum Land, den Bergen, Gletschern und Vulkanen. Die Erwerbstätigkeit der Bauern und der Fischer ist nie fern von der Ambivalenz der Natur: Auf der einen Seite stehen Ergiebigkeit, Fruchtbarkeit, Reichtum und Schönheit, auf der anderen Seite das Gefährliche, das Unheimliche, das Ungewisse und das Furchterregende. In der Kunst, in Poesie und Prosa, wird die schöne und gute Schöpfung gelobt und gepriesen, trotz ihrer Nähe zum Unheimlichen. Das Land, die Gletscher, die Vulkane, die Flüsse, die Erdbeben, das alles bestimmt auch heute die Gegenwart der Isländer, ebenso das Meer, das so viele Menschenleben genommen hat. Das Meer, wo das Boot so klein und der Mensch noch kleiner wird. Im bekanntesten Seefahrtsgebet der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heißt es: „Wenn ich jetzt zum Meer hinaus rudere und meine Ohnmacht spüre und die Schwachheit des Bootes angesichts der heimlichen Kräfte der Luft und des Meeres, dann erhebe ich die Augen des Glaubens zu Dir …“2

Diese ambivalente Grunderfahrung in der Natur ist an vielen Stellen deutlich religiös. Die Natur stellt eine grundlegende Transzendenzerfahrung dar, die eine lockere Verbindung mit dem Kultus der Kirche der vergangenen Zeiten eingegangen ist. So ist die Glaubenskultur in Island aus verschiedenen Komponenten geflochten. Die Isländer sind eines der wenigen Völker der Welt, das über mehr als vier Jahrhunderte hinweg fast ausschließlich das lutherische Christentum kannte. Nach Einführung der Reformation durch den dänischen König im Jahre 1541 verschwand der römisch-katholische Glaube allmählich. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es wieder katholische Christen in Island, die allerdings bis heute eine kleine Minderheit darstellen. So hat das Luthertum die isländische Glaubenserfahrung geprägt, und die isländische Kultur wiederum hat dem lutherischen Bekenntnis eine eigene Prägung gegeben. Für die soziale Form des lutherischen Christentums ist wichtig, dass die isländische Gesell2 Hier der gesamte Kontext des Gebets bei SjûferÅabæn sr. Odds V. G†slasonar : š nafni GuÅs föÅur, sonar og heilags anda. / Alm‚ttugi GuÅ, ¦g Áakka Á¦r aÅ Áffl hefur gefiÅ m¦r l†f / og heilsu svo ¦g geti unniÅ m†n störf † sveita m†ns andlits. / Drottinn minn og GuÅ minn. Æegar ¦g nffl ræ til fiskveiÅa / og finn vanm‚tt minn og veikleika b‚tsins / gegn huldum kröftum lofts og lagar, / Á‚ lyfti ¦g upp til Á†n augum trfflar og vonar / og biÅ Áig † Jesffl nafni aÅ leiÅa oss ‚ djfflpiÅ, / blessa oss aÅ vorum veiÅum og vernda oss, / aÅ v¦r aftur farsællega heim til vor n‚um meÅ Á‚ björg / sem Á¦r Áûknast aÅ gefa oss. / Blessa Áffl ‚stvini vora, og leyf oss aÅ fagna aftur samfundum / svo v¦r fyrir heilags anda n‚Å samhuga / flytjum Á¦r lof og ÁakkargjörÅ. / ­, Drottinn, gef oss öllum gûÅar stundir, / skipi og mönnum † Jesffl nafni. Amen.

Religiöse Wahrnehmung und Naturerfahrung

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schaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine Dörfer und Städte kannte. Die Bauernhöfe lagen zerstreut in ländlichen Gemeinden, in deren Mitte die Kirchen standen. Ohne Dörfer und Städte entwickelte sich das Hauschristentum als zentrale Form der isländischen Glaubenskultur – sowie der Kultur überhaupt. Im Hauschristentum sind bis heute lutherisch-reformatorische Themen wie die Rechtfertigung durch den Glauben, der Zusammenhang von Gnade und Freiheit und das allgemeine Priestertum präsent. Allerdings war das Hauschristentum weder eine kirchlich orthodoxe noch eine pietistische Religionsgemeinschaft, auch kein biblisches Christentum. Das zentrale Element des Hauschristentums ist die Hauspostille und mit ihr ein Christentum, das eher individualistisch und ethisch-religiös, sowie unabhängig vom Kirchengebäude und dafür enger an die Familie gebunden ist. Die Hauptwerke der christlichen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts hatten durch die Hausfrömmigkeit guten Zugang zur Bevölkerung. Weit verbreitet waren einerseits die Passionspsalmen von Hallgr†mur P¦tursson (1614–1674) – Hauptthema: Leiden – und die Hauspostille von Bischof Jûn V†dal†n (1666–1720) – Hauptthema: Gerechtigkeit. Beide Werke sind mehrfach herausgegeben worden. Die Passionspsalmen sind in verschiedene Sprachen übersetzt worden, darunter auch in die deutsche Sprache.3 Die Hauspostille von Bischof V†dal†n ist nie in andere Sprachen übersetzt worden.4 Spiegelt sich in den Hymnen und Gebeten, die die Natur zu ihrem Gegenstand haben, die Glaubenskultur eines Ohnmachtgefühls wider, sind diese Gebete eine Glaubenskultur des Vertrauens, der Hoffnung und der Gelassenheit. Ich werde versuchen, die Hauptelemente der Glaubenskultur in Island im historischen Kontext darzustellen, sowie das Spezifikum dieser Glaubenskultur in der Wechselwirkung mit der isländischen Kultur aufzeigen. Leitend soll der Untertitel der Konferenz sein: Anthropologische Probleme und Perspektiven der Glaubenskultur des Christentums. Anthropologische Probleme, was könnten diese in Hinblick auf die Glaubenskultur in Island sein? Und welche Perspektiven gibt es innerhalb der Religionskultur eines Volkes, das so stark von der Abhängigkeit von der Natur geprägt ist?

3 Hallgr†mur P¦tursson: Die Passionspsalmen des isländischen Dichters Hallgr†mur P¦tursson 1614–1674. Unter Beibehaltung der Dichtungsform des Originals in deutscher Sprache, wiedergegeben von Wilhelm Klose, Reykjav†k 1974. 4 Jûn Æorkelsson V†dal†n: V†dal†nspostilla, hfflsspostilla eÅur einfaldar predikanir yfir öll h‚t†Åa – og sunnudagaguÅspjöll ‚riÅ um kring. Gunnar Kristj‚nsson og MörÅur Ýrnason s‚u um ffltg‚funa. M‚l og menning, Reykjav†k 1995.

90

Gunnar Kristjánsson

2.

Die Romantiker und die primäre Religionserfahrung in der Natur

2.1

Glaubenserfahrung – religiöse Erfahrung

Wenn man durch die Natur die Empfindung der Abhängigkeit so gründlich und tief erlebt hat, liegt es nahe, vor diesem Hintergrund auch nach der Gottesverbindung des Menschen oder dem Christusglauben zu fragen: – Könnte es sein, dass die Schöpfung dabei eine grundlegende Bedeutung hat? – Könnte es sein, dass vor allem hier das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit geweckt wird? – Und könnte es sein, dass der Mensch gerade an dieser Stelle ein Gefühl von ultimate concern erfährt? Ist es vor allem durch die Natur, dass der Mensch erfährt, was ihn unbedingt angeht? An dieser Stelle möchte ich an zwei Begriffe des Religionswissenschaftlers Theo Sundermeier erinnern, der zwischen primärer und sekundärer Religionserfahrung unterscheidet. Er hebt damit auf die Wirklichkeitsbewältigung von kleinen Gesellschaften ab, „in denen Menschen in einem geographisch begrenzten Raum leben, die gleiche Sprache sprechen, in einem bestimmten Verwandtschaftsverhältnis zueinander stehen, die gleichen grundlegenden Kulturtechniken verwenden und durch eine patriarchalische Herrschaftsform miteinander verbunden sind. ,Gesellschaft‘ und ,Religion‘ lassen sich in diesen Gemeinschaften nicht voneinander trennen, sondern gehen eine enge Symbiose ein und prägen die Bild- und Vorstellungswelt.“5 Mit seiner These, dass sich die sekundäre Religionserfahrung immer wieder in die primäre Religionserfahrung integriert und an der primären ausrichtet, gibt er den primären Religionen den nach seiner Auffassung angemessenen Platz in der Religionsgeschichte. Nach Sundermeier ist auch die individuelle Entscheidung von Menschen moderner Gesellschaften für eine Welt- oder Erlösungsreligion, die missionarisch Universalität für sich beansprucht und sich als „vera religio“ von falschen Religionen absetzt, nie vom Deuterahmen primärer Religion ablösbar. Durch Selektion, Interpretation, Transformation und Integration primärer Religionserfahrung reichert sich die sekundäre Religionserfahrung mit den Beständen primärer Religionserfahrung an. So können sich etwa christliche Glaubensüberzeugungen auf diese Weise „inkulturieren“ und auch in jeweils neuen Kontexten als lebensfähig erweisen.6 5 Theo Sundermeier : Religion. Was ist das? Religionswissenschaft im theologischen Kontext. Ein Studienbuch, Frankfurt a. M. 2007, 38. 6 Vgl. a. a. O., 40–42.

Religiöse Wahrnehmung und Naturerfahrung

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Die Naturerfahrung kann also als die primäre religiöse Erfahrung der Isländer gesehen werden. Das Meer hat allezeit die Ambivalenz des Lebens wach gehalten. Man konnte nie wissen, ob die Fischer am Abend zurück ans Land kommen würden. Dasselbe gilt für Erdbeben, die zeitweise häufig sind und die tiefe Unsicherheit wecken, dass die Erde doch kein so fester Grund ist, sondern letztlich auch wie das Meer ein Ort radikaler Unsicherheit. Die Vulkane und deren Zerstörungskraft kennen die Isländer seit Jahrhunderten, und die damit verbundene Gefahr für Leib und Leben, Hof und Vieh, Gut und Land. Im 19. Jahrhundert hatten solche Ereignisse die Auswanderung vieler Isländer nach Amerika zur Folge. Die Gletscher sind – wie z. B. in Volksmärchen – Orte des Unheimlichen, der Kälte und des sicheren Todes. In einigen Gebieten mussten Leute über die Gletscher wandern, um zu anderen Orten oder Gebieten zu gelangen. Auch Gletscherflüsse sind Teil der Gefahr durch die Gletscher. Wenn Vulkane unter der Schneedecke ausbrachen, schmolz diese teilweise, was die Strömung im Gletscherfluss verstärkte. Will man anthropologische Aspekte untersuchen, muss man an diese Naturerfahrung denken. Erfahrung ist ein breites Konzept.7 Bei Luther hat die Erfahrung eine grundlegende Bedeutung für den Theologen – wie es in seinen Tischreden heißt: sola autem experientia facit theologum [allein die Erfahrung macht den Theologen].8 Noch deutlicher betont Schleiermacher die Verbindung von Religion und Erfahrung. „[Er] bricht mit der mittelalterlichen und lutherischen Überzeugung, dass Religion und Erfahrung nicht identisch sind. Er restituiert die als unmittelbar empfundene Gottesverbindung der Autoren der mittelalterlichen Mystik, aber in einem Kontext, in dem das Subjekt jetzt autonom ist.“9 Religion trifft den Menschen existentiell, das Religiöse gehört den Tiefen der menschlichen Seele an.10

7 Vgl. Hans Geybels: Cognitio Dei experimentalis. A Theological Genealogy of Christian Religious Experience (= BEThL 209), Leuven 2007, 4: „Etymologically there are two possible aspects and approaches, an active and a passive. The Greek peira (Latin: esperiri/experientia, experimentum) as an active verb means the crossing of land or sea in order to explore and get to know them (compare the etymology of the German erfahren or the contemporary use of experiment). Metaphorically it means entering into an experience and taking the risk of being changed by it. Here lies the link to the passive meaning of the concept. Passively, experiencing means ,being moved, sensing, enduring‘.“ 8 Martin Luther : WA. TR. 1,16,13. 9 Hans Geybels: Cognitio Dei experimentalis, a. a. O. (s. Anm. 7), 446: „Thus Schleiermacher breaks with the medieval and Lutheran belief that religion and experience are not identical. He reinstates the immediate relationship with God of the medieval mystical authors, but in a context in which the subject is now autonomous.“ 10 Vgl. a. a. O., 446: „[R]eligion must touch man existentially. Schleiermacher locates this feeling in the innermost reaches of the soul.“

92 2.2

Gunnar Kristjánsson

Die Romantiker

Anfang des 19. Jahrhunderts gründeten vier isländische Studenten in Kopenhagen die Zeitschrift Fjölnir : Jûnas Hallgr†msson, Tûmas Sæmundsson, Konr‚Å G†slason, Studenten der Philologie und Brynjûlfur P¦turson, Student der Jurisprudenz. Bei ihnen handelt es sich um die sogenannten Fjölnismänner (Fjölnismenn). Die beiden ersten sind für meine Darstellung besonders wichtig. Jûnas Hallgr†msson (1807–1945) wurde ein renommierter Naturwissenschaftler in Kopenhagen und Island, und war schon in jungen Jahren auch ein beliebter Poet. Noch heute hat er in Island einen ähnlichen Status wie Goethe in Deutschland.11 Tûmas Sæmundsson (1807–1841) wurde Pfarrer in Südisland. Jûnas Hallgr†msson „entdeckte“ die Schönheit der isländischen Natur. Sie war für den Naturwissenschaftler aber mehr als Natur, sie war göttliches Heiligtum. Sie galt ihm als ein Ort, um zur Erfahrung des Göttlichen zu gelangen. Eine gute Schöpfung, die sowohl ergiebig als auch schön ist, das ist das Motto der Romantiker. Für sie ist die tiefste Realität der Natur göttlich. Die Natur lebt aus dem Geist Gottes. Die Natur als göttliches Heiligtum ist heute ein vielfältig beleuchtetes Thema in Island.12 Wichtig für die Prägung dieser Theologie – und auch der jungen Isländer in Kopenhagen – war der Pfarrer der Frauenkirche in Kopenhagen und ab 1834 Bischof von Seeland, Jacob Peter Mynster (1775–1854). Er war einer der Wegbereiter der Romantik in Dänemark, ein Zeitgenosse und Kontrahent von Søren Kierkegaard (1813–1855) und eher ein Vertreter der konservativen Richtung in der dänischen Kirche seiner Zeit.13 Theologische Interessen lagen den Fjölnismännern nicht fern. Jûnas Hallgr†msson und Brynjûlfur P¦turson wuchsen in einem Pfarrhaus auf. Der Bruder des letzteren war Bischof von Island. Jûnas Hallgr†msson hat sich gleichwohl dreimal erfolglos um eine Pfarrstelle in Island beworben. Im Jahre 1839 gaben Jûnas Hallgr†msson, Konr‚Å G†slason und der Verleger Æorgeir GuÅmundsson (1794–1871, später Pfarrer in Gloslunde, Lolland, Dänemark) Mynsters „Betragtninger over de christelige Troslærdomme“ in isländischer Sprache in Kopenhagen heraus.14 Das Buch wurde in Island sehr

11 Hier kann man z. B. daran denken, dass der „Tag der isländischen Sprache“ am 16. November, an Jûnas Hallgr†mssons Geburtstag, gefeiert wird. 12 Nicht ungewöhnlich in Island sind Sätze wie: „Ich brauche nicht in die Kirche zu gehen, um meinen Schöpfer zu finden, mein Gottesdienst findet in der Natur statt.“ In solchen Äußerungen begegnet uns die religiöse Erfahrung der Romantik. Vgl. Gunnar Kristj‚nsson: „Mynsters hugleiÅingar“, in: Æûrunn Valdimarsdûttir/P¦tur P¦tursson (Hg.): Til mûts viÅ nfflt†mann. Kristni ‚ šslandi, IV. bindi, ritstjûri Hjalti Hugason, Reykjav†k 2000, 33–37. 13 Martin Schwarz Lausten: Danmarks kirkehistorie, Kopenhagen 21987, 233–235. 14 Jakob Peter Mynster : Betragtninger over de christelige Troslærdomme I–II, Kopenhagen 1833 (deutsch 21840).

Religiöse Wahrnehmung und Naturerfahrung

93

beliebt und im Jahre 1853 zum zweiten Mal herausgegeben.15 In einem Brief an Jûnas Hallgr†msson vom 9. August 1938 heißt es bei Tûmas Sæmundsson: „Mir gefällt es gut, dass Ihr Mynsters ,Betragtninger‘ übersetzt habt.“16 Die Romantiker, bei denen die Natur vor allem schön ist und auch die Schönheit und Nähe der Gottheit birgt, haben tiefe Spuren in der kulturellen Vorstellungswelt der Isländer und in ihrem Verhältnis zur Natur hinterlassen. Poetische isländische Texte sind häufig Hymnen auf die Natur und ihren Schöpfer. In der Kirche waren die Lieder der Romantiker jedoch nie gern gesehen. Sie galten als Naturmystik der „weltlichen“ romantischen Dichtung. Gleichwohl haben sie die Einsicht vermittelt, dass der Mensch in der Schönheit der Natur seinem Schöpfer begegnet. Die Natur ist mysterium tremendum et fascinans und ein Urgrund des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit des Menschen.17 In jungen Jahren hatte der Rationalismus großen Einfluss auf Tûmas Sæmundsson, heißt es in der Biographie, die sein Schwiegersohn, Dr. Jûn Helgason (1866–1942, Bischof von Island), über ihn geschrieben hat. Im Kopenhagen der Fjölnismänner hat der Rationalismus aber seinen Höhepunkt überschritten. Gemäß der Biographie herrschte der Neu-Konfessionalismus vor. Die Romantik ist aber schon in der Zeit der isländischen Studenten eine starke Bewegung in der Literatur und auch in der Theologie. Als Pfarrer begab sich Tûmas Sæmundsson auf eine Europareise, auf der er 1832 in Berlin Friedrich Schleiermacher (1768–1834) traf. Die Begegnung beschreibt er in seinem Reisebuch, aus dem hervorgeht, dass Schleiermacher einen großen Eindruck auf den frisch gebackenen candidatus theologiae18 aus Island gemacht hat.19 Schleiermacher hatte auch in Dänemark großen Einfluss. Dies zeigt die Schilderung Tûmas Sæmundssons von Schleiermachers Besuch in Kopenhagen ein Jahr später – kurz vor seinem Tod: Die Studenten empfingen ihn mit einem Fackelzug durch die Stadt und ehrten ihn mit einem großen Fest. Allerdings befindet sich Tûmas Sæmundsson während des Besuches von Schleiermacher in Kopenhagen noch auf seiner Reise durch Europa.20

15 Hugtök og heiti † bûkmenntafræÅi. Eftir Jakob Benediktsson, Reykjav†k 1983, 224. 16 „Vel l†kar m¦r upp‚tæki ykkar meÅ aÅ ffltleggja Mynsters ,Betragtninger‘.“ Br¦f Tûmasar Sæmundssonar. Gefin fflt ‚ hundraÅ ‚ra afmæli hans 7. jffln† 1907. BffliÅ hefur til prentunar Jûn Helgason, Reykjav†k 1907, 246. 17 Hermann Fischer : Friedrich Schleiermacher, München 2001, 99f., 106f., 119. 18 Bezeichnet in Dänemark und Island nicht den studentischen Status in Vorbereitung auf die Abschlussprüfung, sondern einen akademischen Grad. 19 Tûmas Sæmundsson: FerÅabûk, Reykjav†k 1947, 142. 20 A. a. O., 144.

94 2.3

Gunnar Kristjánsson

Nachhaltiger Einfluss der Romantiker?

Der nachhaltige Einfluss der Romantiker in Bezug auf die Natur liegt im Gottesbegriff, der natürlich im starken Gegensatz zu dem des Rationalismus steht. Während man in der Romantik der Gottheit in der Natur begegnet, ist im Rationalismus die Gottheit nicht mehr in der Schöpfung wahrnehmbar. Die Schöpfung erscheint vom Schöpfer verlassen. Ähnlich wie der Uhrmacher, der, wenn die Uhr einmal läuft, nicht mehr gebraucht wird, hat die Gottheit die Welt ewigen Gesetzen überlassen. Dagegen sieht die Romantik in der Schöpfung die lebensspendende Nähe der Gottheit. Sie ist hier eine unaufhörliche kreative Macht.21 Diese Theologie findet sich auch in Mynsters „Betragtninger over de christelige Troslærdomme“ und in den Werken von Tûmas Sæmundsson. Um die Jahrhundertwende 1900 rüstete man die Boote mit Antriebsmaschinen aus. Von da an vergaßen die Fischer langsam die gemeinsamen Seefahrtsgebete vor ihrer Abfahrt. So meldete sich die Säkularisierung in Island. Die machina hat den deus abgelöst. Die Welt der Technik hat vieles geändert, aber nicht alles und – von einer postsäkularistischen Perspektive betrachtet – auch gar nicht so sehr. Im hochmodernisierten Island des 21. Jahrhunderts ist die Angst verloren gegangen, die man früher vor der Natur hatte. Die Natur ist ein Ort der Möglichkeiten: Die Rohstoffe sind wertvoll, die Schönheit der Natur kann man den Touristen gut verkaufen, die Wasserkraft ist bei ausländischen Großkonzernen begehrt, die Möglichkeit zum Verkauf von Elektrizität durch eine Kabelverbindung zum Kontinent ist offen. Die Natur als Erlebnisort ist ein begehrtes Ziel der Erlebnisgesellschaft, die Gletscher und die Vulkane, das Meer mit den Walen und anderen Meerestieren, auch die Dunkelheit des Winters, die Nordlichter und der Schneesturm im Hochland. Alles was früher so abschreckend und furchterregend war, ist jetzt interessant geworden und spült den Einheimischen noch dazu Geld in die Tasche. Welche Aufgabe hat die Religion in der neuen Situation, was für eine Glaubenskultur entsteht in der postsäkularisierten Welt?

2.4

Mögliche Perspektiven

Man kann fragen, ob die Theologie in den isländischen Kirchen zu christozentrisch ist, ob die Schöpfung und die mit ihr verbundene religiöse Erfahrung des Menschen in der Natur zu kurz kommen. In der schöngeistigen Literatur Islands braucht man nicht lange zu suchen, um auf Artikulationen von Got21 Vgl. Paul Tillich: Perspectives on 19th and 20th Century Protestant Theology, Norwich 1967, 77.

Religiöse Wahrnehmung und Naturerfahrung

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teserfahrungen zu stoßen. Diese werden natürlich nicht immer explizit als solche markiert, denn säkulare Literatur ist in dieser Hinsicht eher zurückhaltend, gleichwohl findet sich in diesen Texten religiöse Erfahrung deutlich artikuliert. In den Werken von Halldûr Laxness (1902–1998), dem isländischen Literaturnobelpreisträger von 1955, gibt es viele Anspielungen auf die religiöse Erfahrung des Menschen in der Natur, auch wenn nur wenige von der Literaturkritik als solche interpretiert werden. Die Werke von Laxness sind mit Abstand die beliebtesten Bücher im Island des 20. Jahrhunderts. Sein Buch Sein eigener Herr (erste Ausgabe 1933–1935, in vier Teilen) wurde von den Isländern zum „Roman des 20. Jahrhunderts“ gewählt. In diesem Roman stürmt an einer Stelle ein Kind eines abgelegenen Bauernhofs in den bergigen Höhen Ost-Islands in die Stube: „Der kleine Nonni brachte seine Beinknochen auf den Hügel. Eines Tages brachte er die Nachricht in die Stube, dass an der Hausmauer ein Löwenzahn aufgeblüht sei. Ein aufgeblühter Löwenzahn. Ein seltenes Ereignis in einem hochgelegenen Tal zu dieser Zeit des Jahres. Alle Geschwister und die Mutter gingen hinaus an die Hausmauer, um diesen kleinen Löwenzahn zu betrachten, der seine Blüte so fröhlich und kühn gegen die Wintersonne ausbreitete, diese junge, empfindliche Blüte. Ein Blümlein der Ewigkeit. Lange, lange blickten sie in andächtiger Bewunderung auf diesen neuen Freund, diesen zierlichen und liebenswerten Vorboten des Sommers inmitten der Winterstrenge. In schweigender Verehrung berührten sie ihn leicht mit den Fingerspitzen […]; es war als ob sie sagen wollten: Du bist nicht allein, wir sind auch da, wir versuchen auch zu existieren. Es war ein Tag mit heiterem Himmel.“22

Hier erleben Menschen „ein seltenes Ereignis“, das in ihnen eine „schweigende Verehrung“ hervorruft. Es verweist sie auf eine grundlegende existentielle Erfahrung, wie es im Text heißt: „Wir versuchen auch zu existieren.“ Hier erkennen Menschen ein Zeichen der Hoffnung und erfahren ein Gefühl von „ultimate concern“. Viele gute Beispiele religiöser Erfahrung finden sich auch im Werk Weltlicht von Halldor Laxness. Es erzählt von einem armen und leidenden Dichter – eine Art Christusfigur –, der beispielsweise Folgendes erlebt: „[­lafur] fühlt, wie sich die Gottheit in der Natur in einem unbegreiflichen Klang offenbart; das ist der Offenbarungsklang der göttlichen Allmacht. Ehe er es fassen kann, ist er selber eine bebende Stimme im herrlichen Klang der Allmacht. Ihm ist, als wollte seine Seele aufwallen, über seinen Körper hinausschäumen – wie kochende Milch über den Rand einer Schüssel –, als sollte sich seine Seele in das grenzenlose Meer eines höheren Lebens ergießen, das höher als Worte ist, jenseits des Gefühls. Den Leib durchströmt eine Lichtflut, strahlender als jegliches Licht. Seufzend wird er der eigenen Winzigkeit inne, umschlossen von diesem unermesslich herrlichen Klingen und 22 Halldûr Laxness: Sein eigener Herr (aus dem Isländischen von Bruno Kress), Göttingen 1998, 302.

96

Gunnar Kristjánsson

Leuchten. Sein Bewusstsein löst sich auf in ein heiliges, tränenreiches Sehnen: nicht mehr ein Teil des eigenen Ichs zu sein, eins zu werden mit dem Höchsten.“23

Hier wird ein Erlebnis im Sinne einer Naturmystik beschrieben. Der Dichter erlebt die Nähe des „Höchsten“, dass sich ihm „die Gottheit in der Natur“ in einem „unbegreiflichen Klang offenbart“. Er ist selbst Teil dieses Ereignisses, er ist „selber eine bebende Stimme im herrlichen Klang der Gottheit“. Interessant ist an dieser Stelle auch, dass das Erleben nicht nur Worte, sondern auch Gefühle übersteigt, es ist „jenseits des Gefühls“. Meine These ist, dass aufgrund der Nähe Islands zur Natur in der isländischen Kultur deutliche primäre religiöse Erfahrungen anzutreffen sind, in der Prosa wie in der Poesie, im Theater und im Film. Des Weiteren ist es meine These, dass eben diese primären religiösen Erfahrungen allgemein akzeptiert sind, wohingegen die sekundäre kirchliche Religion es weniger ist. An dieser Stelle lässt sich der nachhaltige Einfluss der Poeten und Theologen der Romantik des 19. Jahrhunderts erkennen.

3.

Die sekundäre Religionserfahrung im Mitleid

Die Tradition aber kennt noch einen weiteren Ton. Es ist das Element der Menschlichkeit, das sich in den schwierigen Zeiten der Armut und Abgeschiedenheit entwickelt hat. Es zieht sich durch die Christologie, die Gebete an den christlichen Gott und die lutherische Predigt und mag ebenfalls ein typisch isländisches Phänomen sein. Die Familie im schon oben erwähnten Roman Sein eigener Herr von Halldûr Laxness lebt in schwerer Armut auf einem abgelegenen Bauernhof. Im Kapitel „Die große Schwester“ unterhalten sich die Geschwister Nonni und Ýsta Sûllilja (Sonnenlilie). Der Lehrer ist fortgegangen und verstärkt die Einsamkeit, vor allem für Ýsta, die ihn geliebt hat. Sie weint, als ihr jüngerer Bruder Nonni zu ihr kommt. „,Warum weinst du?‘, fragte er. ,Wegen nichts‘, antwortete sie und zog die Nase hoch. ,Hast du etwas verloren?‘, sagte er. ,Ja‘, sagte sie. ,Was?‘ ,Nichts.‘ ,Wein doch nicht‘, sagte er. 23 Halldûr Laxness: Weltlicht (aus dem Isländischen von Ernst Harthern), Berlin 1956, 16. Vgl. auch Gunnar Kristj‚nsson: Religiöse Gestalten und christliche Motive im Romanwerk „Weltlicht“ von Halldûr Laxness, Bochum 1978.

Religiöse Wahrnehmung und Naturerfahrung

97

,Ich weine ja gar nicht‘, sagte sie und hörte nicht auf zu weinen. ,War Papa böse zu dir?‘ ,Ja.‘ ,Was sagte er?‘ ,Gar nichts.‘“24

Nonni versteht nicht, warum Ýsta Sûllilja weint, was mit ihr passiert ist. Er versteht nicht, als sie ihm erzählt, dass sie vor lauter Liebeskummer sterben möchte. Am Ende des Kapitels steht über den kleinen Nonni: „Es war das erste Mal, dass er in das Labyrinth der menschlichen Seele blickte. Er verstand es keinesweges. Aber was mehr war : er litt mit ihr. […] Die Quelle des erhabensten Gesangs ist das Mitleid. Das Mitleid mit Asta Sollilja auf Erden.“25

Als „Labyrinth“ bezeichnet Halldûr Laxness an dieser Stelle die menschliche Seele. Nonni versteht nicht, dass das Herz seiner Schwester wegen Liebe gebrochen ist. Doch er liebt seine Schwester und indem er in ihre Seele blickt, macht er eine wichtige Erfahrung: mit den Leidenden zu leiden. Liebe zu den Leidenden ist der Kern der Menschlichkeit, des Menschseins, und der Menschenwürde. „Die Quelle des erhabensten Gesangs ist das Mitleid.“ Laxness hat im Konzept des Mitleids eine Anknüpfungstheologie entwickelt, die an Tillichs Theologie des „ultimate concern“ grenzt.26 Es ist ein Wendepunkt christlicher Provenienz – katholischer Provenienz, wenn man an Laxness zweijährigen Aufenthalt als junger Novize im Benediktinerkloster Saint Maurice de Clairvaux in Luxemburg denkt, aber auch lutherischer Provenienz, wenn man an seine Kindheit und Jugend im isländischen Elternhaus denkt. Dort spielten die schon oben erwähnten Passionspsalmen von Hallgr†mur P¦tursson eine wichtige Rolle, in denen die Passion als compassio verstanden wurde.27 Die Passionspsalmen Hallgr†mur P¦turssons haben bis heute einen sehr großen Stellenwert. Beispielsweise wird am Ende fast jeder Beerdigung in Island ein Hymnus aus ihnen gesungen. Hier zeigt sich im Mitleid eine sekundäre religiöse Erfahrung in der isländischen Glaubenskultur.

24 Halldûr Laxness: Sein eigener Herr, a. a. O. (s. Anm. 22), 424. 25 A. a. O., 425. Das isländische Wort für Mitleid, saml†Åun, ist – gemäß dem Wörterbuch der Universität Islands – erst im 17. Jhd. in einem Buch von Pfarrer P‚ll Björnsson in Sel‚rdalur zu finden. 26 Tillich hat eine ausgesprochene Anknüpfungstheologie entwickelt. Das Konzept des „ultimate concern“ ist in dieser Hinsicht von grundlegender Bedeutung. 27 Vgl. Hjalti Hugaon: Kristnir trfflarhættir, in: Frosti F. Jûhannsson (Hg.): šslensk ÁjûÅmenning, bd V, Reykjav†k 1988, 75–339; LfflÅv†k Kristj‚nsson: šslenzkir sj‚varhættir, bd IV, Reykjav†k 1985.

98

4.

Gunnar Kristjánsson

Anthropologische Perspektiven: Subjektivität, Religion, Ritual

Was sagt das alles über die anthropologischen Perspektiven in der isländischen Glaubenskultur aus? Auch im Rückgriff auf die Begriffe primäre und sekundäre Religionserfahrung von Theo Sundermeier28 treten folgende Komponenten besonders hervor : Subjektivität, Religion und Ritual. Subjektivität ist von grundlegender Bedeutung für die religiöse Erfahrung in Island. Religion als anthropologisches Element ist meiner Meinung nach allgemein sehr eng mit subjektiver Erfahrung verbunden, was im Begriff der primären Religionserfahrung zum Ausdruck kommt. Und der Begriff der sekundären Religionserfahrung schließlich mündet für mich in der Frage nach bedeutungsvollen Ritualen in der kirchlichen Praxis.

4.1

Subjektivität

In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte heißt es bei Hegel: „Während die übrige Welt hinaus ist nach Ostindien, Amerika – mit dem Ziel, Reichtümer zu gewinnen, eine weltliche Herrschaft zusammenzubringen, deren Territorium sich über die ganze Erde erstreckt und wo die Sonne nicht untergehen soll – ist es ein einfacher Mönch, der das, was die Christenheit vormals in einem irdischen, steinernen Grabe suchte, vielmehr in dem tieferen Grabe der absoluten Idealität alles Sinnlichen und Äußerlichen, im Geiste findet und im Herzen zeigt […]. Luthers einfache Lehre ist, dass das Dieses, die unendliche Subjektivität, d. h. die wahrhafte Geistigkeit, Christus, auf keine Art in äußerlicher Weise gegenwärtig und wirklich ist, sondern als Geistiges überhaupt nur in der Versöhnung mit Gott erlangt wird.“29 Dieses Zitat nimmt Ulrich Barth als Auftakt für seine Lutherdeutung im Sinne der „Subjektivität des Glaubens“, die er an den drei Themen Buß-, Schrift- und Gnadenverständnis entfaltet.30 „Subjektivität des Glaubens“ bringt meiner Meinung nach Luthers theologischen Ansatz auf den Punkt. Dort muss die Erfahrung der Menschen am Anfang stehen, nicht die Glaubenslehre, sondern die Glaubenserfahrung. Es geht in 28 Vgl. Christian Grethlein: Grundinformation Kasualien. Kommunikation des Evangeliums an Übergängen des Lebens, Göttingen 2007, 42; Theo Sundermeier : Religion, a. a. O. (s. Anm. 5), 40–42. 29 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1970, 494. Zit. nach Ulrich Barth: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 27. 30 Ulrich Barth: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004.

Religiöse Wahrnehmung und Naturerfahrung

99

anderen Worten nicht nur um die sekundäre Religion, sondern auch um die primäre Religion.

4.2

Religion

Häufig wird der Begriff der „Religion“ in der Umgangssprache zu eng verstanden – meistens auch nur mit Bezug auf die „Weltreligionen“. In Island meint dies vor allem das Christentum – und zwar in einem engen, dogmatischen Sinn von „lutherischer Überlieferung“, in der in den letzten Jahrzehnten zumeist antiliberale und neukonservative Akzente gesetzt werden. Man kann den Begriff der Religion aber auch in einem weiteren Sinn verstehen, ganz im Sinne des Anfangs der „Betragtninger“ von Mynster. Dort heißt es unter der Kapitelüberschrift Religion. Christentum: „Meine Seele ist müde – wo kann sie Ruhe finden? Sollte ich ihrem Zustand beschreiben, müsste ich sagen, sie wäre wie der Vogel, den der Wind bis zum offenen Meer treibt: gegen den Himmel ist sein Kurs, seine Flügel aber werden müde.“31 Hier wird die Religion als eine anthropologische Angelegenheit interpretiert: Der Anfang ist beim Menschen zu finden. „Religion ist nicht nur Ritus, Kult und dadurch erzeugte Vergemeinschaftung, sondern auch rational kaum kontrollierbare Neigung zum Phantastischen, die außergewöhnliche Fähigkeit von Menschen, sich in heiligen Geschichten, Legenden und Mythen eine ganz andere Wirklichkeit als die hier und jetzt gegebene vorzustellen“, heißt es bei Friedrich Wilhelm Graf.32

4.3

Ritual

Hier stellt sich nun die Frage nach dem Anknüpfungspunkt zwischen primärer und sekundärer religiöser Erfahrung. Die Idee beider Erfahrungen ist hilfreich und wichtig. Dies gilt auch für die Pfarrer der Volkskirche in Island, die in Gottesdiensten und Amtshandlungen den Menschen einen Dienst erwiesen haben – anlässlich von Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung und für die ältere Generation vor allem auch in Hausandachten am Abend, Morgen- und Abendgebeten, sowie den Seefahrtsgebeten der Mannschaft auf den Ruderbooten. 31 „Önd m†n er Áreytt – hvar m‚ hffln finnar hv†ld? Ætti ¦g aÅ ly´sa ‚standi hennar yrÅi ¦g aÅ segja, hffln væri einsog fuglinn, sem ofviÅriÅ hrekur fflt ‚ hiÅ auÅa hafi: hann stefnir til himins, en vængir hans Áreytast …“ Jakob Peter Mynster : HugleiÅingar um höfuÅatriÅi kristinnar trfflar, Kaupmannahöfn 1839. 32 Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: Ders./Heinrich Meier (Hg.): Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart, München 2013, 9.

100

Gunnar Kristjánsson

Meiner Meinung nach passen die oben entwickelten Begriffe von Schönheit und Mitleid wunderbar in diese Kontexte. Sie weisen in zwei Richtungen: auf eine primäre und auf eine sekundäre Religionserfahrung. Ihre Wurzeln sind eben nicht ausschließlich innerhalb der christlichen Lehre zu finden, sondern auch im Leben von Menschen, die sich einer sekundären Religionserfahrung nicht bewusst sind. Elemente primärer Religionserfahrung finden sich in allen Kulturen. Es geht darum, die sekundäre Religionserfahrung immer wieder an der sich verändernden Welterfahrung auszurichten und in die primäre Religionserfahrung zu integrieren. Zwischen den zwei Typen von religiöser Erfahrung kann eine gewisse Spannung bestehen, wie sie sich immer wieder in den Amtshandlungen von Pfarrern zeigt.33 Sie besteht zwischen der Subjektivität der religiösen Erfahrung einerseits und der kirchlichen, d. h. gemeinsamen, religiösen Erfahrung, deren Inhalt und Wahrheit vom Pfarrer repräsentiert wird, andererseits. Beides sollte in einer Amtshandlung in einem bedeutungsvollen Ritual zusammenspielen. Dabei kommt der Wendung cognitio Dei experimentalis34 meiner Meinung nach heute große Bedeutung zu.

5.

Resümee

Die isländische Theologie schenkt der Naturerfahrung des Menschen noch zu wenig Aufmerksamkeit. Dabei ist die Naturerfahrung grundlegend mit existentiellen Empfindungen von Angst, Hoffnung und Vertrauen verbunden. Das Auseinanderreißen von menschlicher Erfahrung und religiöser Erfahrung hat meiner Ansicht nach mit dazu beigetragen, dass die Erfahrung des Unbedingten, des ultimate concern, seit Mitte des 20. Jahrhunderts keine nennenswerte Rolle mehr innerhalb von Theologie und Kirche gespielt hat. Dies ist unter anderem auch mit der offenkundigen Wende der isländischen Theologie hin zu einer antiliberal-neukonservativen Haltung verbunden. Hier muss man einen neuen Anfang setzen. Dieser sollte zum einen auf dem erläuterten Religionsbegriff beruhen. Zum anderen wäre es zu wünschen, dass die praktisch-theologischen Ansätze von Wilfried Engemann35 und Wilhelm Gräb36 im Blick auf das Ver33 Vgl. Christian Grethlein: Grundinformation Kasualien, a. a. O. (s. Anm. 32), 52; Theo Sundermeier : Religion, a. a. O. (s. Anm. 5), 38–42. 34 Hans Geybels: Cognitio Dei experimentalis, a. a. O. (s. Anm. 8). 35 Vgl. Wilfried Engemann: Ý mælikvarÅa mannsins, a. a. O. (s. Anm. 1); Ders.: Einführung in die Homiletik, Tübingen/Basel 22011, bes. 481–431 sowie ders.: Lebensgefühl und Glaubenskultur. Menschsein als Vorgabe und Zweck der religiösen Praxis des Christentums, in: WzM, 65. Jg., H. 3, 2013, 218–237. 36 Vgl. zuletzt Wilhelm Gräb: Predigtlehre. Über religiöse Rede, Göttingen 2013.

Religiöse Wahrnehmung und Naturerfahrung

101

ständnis von Religion weiter in die pastorale Alltagsarbeit integriert werden. Die entsprechenden Texte dieser beiden Theologen, die ins Isländische übersetzt wurden, sind bereits gut rezipiert worden. Sie sind durch den Gedanken miteinander verbunden, dass Religion unter anderem dazu dient, „als Mensch zum Vorschein zu kommen“, und setzen damit einen wichtigen Impuls für die „Glaubenskultur des Christentums“ heute.

Weitere relevante Literatur zum Thema Æorkell Bjarnason: „Trfflrækni og kirkjul†f fyr meir“, KirkjublaÅiÅ, Reykjav†k 1891, 51–52. Friedrich Schleiermacher : Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Stuttgart, 1969; Isländische Ausgabe: Um trfflarbrögÅin, Áy´Åing: Jûn Ýrni Jûnasson, HiÅ †slenska bûkmenntaf¦lag, Reykjav†k 2007. Paul Tillich: Systematic Theology, London 1968. P‚ll Valsson: Jûnas Hallgr†msson, ævisaga, M‚l og menning, Reykjav†k 2007.

Bent Flemming Nielsen

6. Körpervergessenheit? Eine Anfrage an das protestantische Religionsverständnis – Corporeal oblivion? Querying the Protestant concept of religion

Zusammenfassung: Das reformatorische Insistieren auf der Innerlichkeit des Glaubens hat – im Zusammenwirken mit einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber Ritual und Magie – zu einer regelrechten Körpervergessenheit innerhalb des protestantischen Selbstverständnisses geführt. Nichtsdestotrotz ist es jedoch unbestreitbar, dass der Körper eine nicht dispensierbare Rolle in der konkreten liturgischen Praxis spielt. Ausgehend von dem Riss zwischen Theorie und Praxis möchte der Vortrag den Versuch unternehmen, anthropologische und ritualtheoretische Vorschläge für eine Korrektur der herkömmlichen Sichtweise zu machen. Abstract: The reformatory insistence on the inwardness of belief – in connection with a deeply inherited skepticism about ritual and magic – has led to a corporeal oblivion within Protestant self-conception. Nevertheless the corporeal plays an indispensable role in liturgical practice. Starting from the rift between theory and practice, the lecture attempts at making anthropological as well as ritual-theoretic suggestions concerning a revision of the conventional perception.

Meine Überlegungen sind in drei Hauptabschnitte gegliedert: In einem ersten Schritt werde ich einige Beispiele skizzieren, die auf theologisch-theoretisch unbewältigte Dimensionen der herkömmlichen Religionspraxis aufmerksam machen. Es sei dabei dahingestellt, ob besagte Dimensionen aufgrund von bedauerlicher Vergesslichkeit oder aufgrund von Verdrängung – was ja hier in Wien ernstlich überlegt werden muss – bis dato nicht bewältigt wurden. Die Beispiele, die ich anführen werde, zeigen jedenfalls gewisse Dimensionen auf, die als Ausdrücke besonderer körperlicher Erfahrungen gedeutet werden können. Konkret wende ich mich exemplarischen Textpassagen aus Werken prominenter Repräsentanten protestantischer Theologie (Karl Barth, Rudolf Bultmann, Eduard Thurneysen und Søren Kierkegaard) zu. In einem zweiten Schritt nähere ich mich einem generellen Modell für eine mögliche Interpretation der skizzierten Beispiele an. Es geht mir dabei vornehmlich um das Verhältnis zwischen zwei (mehr oder weniger gegebenen) Größen: Das sind a) die herkömmliche Praxis protestantischer Religionsausübung besonders im Gottesdienst und in den Kasualien und b) die theologische

104

Bent Flemming Nielsen

Reflexion über diese Praxis. Es scheint eine Kluft zwischen diesen beiden Polen, der Theorie oder Theologie einerseits und der Religionspraxis andererseits, zu bestehen. Die Fragestellung berührt somit primär die protestantische Selbstreflexion hinsichtlich ihres eigenen Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis. In einem dritten Schritt werde ich einen Vorschlag für eine Deutung solcher Diskrepanzen im Theorie-Praxis-Verhältnis machen. Es geht mir um eine Korrektur der theologischen Anthropologie, die bis jetzt noch tief von der idealistischen Denkweise des 19. Jahrhunderts geprägt ist. Anthropologische Erkenntnisse im Hinblick auf die Leiblichkeit des Menschen, die die Erfahrungen protestantischer Religionspraxis besser zu bewältigen im Stande sind als herkömmliche protestantische Anthropologien, sollen dabei in den Vordergrund rücken.

1.

Beispiele protestantischen Denkens über religiöse Praxis

1.1

Karl Barth

Viele der späteren pointierten Argumentationen waren in der frühen Phase der dialektischen Theologie um 1920 noch offen für Reflexionen und Skepsis. Karl Barth setzt sich in seinem Vortrag Not und Verheißung der christlichen Verkündigung im Juli 1922 mit der Rolle der Bibel im sonntäglichen Gottesdienst auseinander. Damals hatte er gerade die Professur in Göttingen übernommen. Er schreibt: „Es lohnt sich wohl, hier einen Augenblick stehen zu bleiben, und uns klar zu machen, welch unermesslich Gefährliches damit geschehen ist, dass die Reformatoren es gewagt haben, als Grund und Ziel der Kirche das in der heiligen Schrift ausgesprochene Wort Gottes zu proklamieren. Wer darüber noch nie geseufzt hat, der hat nicht das Recht, reformationsfroh darüber zu jubilieren. […] Wie unvergleichlich viel gesicherter, kontinuierlicher und zuversichtlicher geht die andre Kirche ihren Weg, die dieses gefährliche Prinzip des Wortes wohlweislich unentdeckt gelassen hat! Und wir haben durchaus keinen Anlass über diese bekannte katholische Sicherheit ohne weiteres die Nase zu rümpfen.“1

Die Theologie des Wortes wird hier so verstanden, dass sie nicht selbst als Lösung eines Problems gelten kann, sondern vielmehr selbst als Problem erscheinen muss. Gerade als Kirchen des Wortes müssen die protestantischen Kirchen einer gewissen Art religiöser Sicherheit entbehren. Barth fährt mit folgendem Exempel fort: 1 Karl Barth: Not und Verheißung der christlichen Verkündigung, in: Ders.: Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1925, 99–124, hier 109.

Körpervergessenheit? Zum protestantischen Religionsverständnis

105

„Ich denke an das, was mir einst ein Benediktiner aus dem Elsass aus der Kriegszeit [1914–1918] erzählte: Er hat eines Abends als Singmeister seines Klosters eben mit seinen Confratres das Magnifikat intoniert, da durchschlägt plötzlich eine französische Granate das Dach und explodiert mitten im Schiff der Kirche. Aber der Qualm verzieht sich und das Magnifikat wird fortgesetzt. Man darf wohl fragen, ob die protestantische Predigt auch fortgesetzt worden wäre?“2

Hier setzt sich Barth als dezidierter reformatorischer Worttheologe einer bemerkenswerten Frage aus. Eine heutige Paraphrase dieser Fragestellung könnte wohl so lauten: Ist der Protestantismus dem, was wir die liturgische Gesamtsituation bezeichnen könnten, also der gesamten Breite liturgischer Erfahrungen von Stabilität, Sinn, Ruhe und Präsenz, wirklich gewachsen? Vermag das liturgische Singen des Magnifikats etwas, vielleicht etwas Unaussprechliches, das wir mit unserer Bibel und unserer Predigt gerade nicht vermögen? Gibt es hier irgendwie ein protestantisches Defizit? Mir scheint es, dass Barth sich in der Entstehungsphase der dialektischen Theologie dieser Fragestellung stellt, ohne sie jedoch vorschnell beantworten zu wollen. Das nächste Exempel stammt aus der Spätphase der Texte Karl Barths. Die Textpassage entstand etwa 40 Jahre später, bereits in der Nachkriegszeit. Die jahrzehntelangen Arbeiten an Barths umfassendem Hauptwerk, der Kirchlichen Dogmatik, waren damals bereits nahezu abgeschlossen. Das Textbeispiel ist den veröffentlichten Predigten Barths entnommen und dient als Spiegelung der Predigtpraxis des späten Karl Barth. Bekanntlich hat Karl Barth in den Fünfziger- und Sechzigerjahren mehrmals in der Strafanstalt in Basel gepredigt. Dreimal predigte er dort am Silvesterabend, nämlich 1960, 1961 und 1962. Anstelle der früher bevorzugten Homilie entwickelt Karl Barth in dieser Zeit einen eigenständigen Predigtstil, wonach er einen einzelnen, prägnanten Satz aus der Bibel zitiert, um diesem Satz dann Wort für Wort nachzugehen. Die Botschaft der Bibel wird dadurch ganz kurz und ohne jede historische Kontextualisierung als Satzwahrheit vorgeführt. Durch diese Methode wird das Wort der Bibel als eine Art Motto, ein Spruch oder Aphorismus geltend gemacht. Die Predigt reflektiert den biblischen Spruch, Wort für Wort. Zwei Gebete, am Anfang und am Schluss, dienen als Rahmen der Predigt. Dieser Aufbau wiederholt sich in den späten Predigten Barths; es lässt sich somit eine einfache und klare liturgische Struktur, ein liturgisches Ordo der Worttheologie, erkennen: Das Wort der Bibel wird in einen ganz besonderen Rahmen eingefügt, reflektiert und von Gebeten umschlossen. Das Gebet am Anfang führt zum biblischen Wort und zur Predigt hin, und nach der Predigt gestaltet sich der Gottesdienst „absteigend zum Schlussgebet, in welchem die Aussage der Predigt (nun wieder in Anrufung Gottes) straff zusammenzufassen ist, in welchem sich aber der Gottesdienst vor 2 Ebd.

106

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allem als möglichst ausgebreitete Fürbitte […] nach außen, nach allen anderen Menschen, nach der übrigen Kirche und Welt hin zu öffnen hat.“3 In den drei Predigten am 31. Dezember 1960, 1961 und 1962 geschieht jedes Mal am Ende der Predigt etwas Bemerkenswertes. Am Silvesterabend 1960 trägt Barth den „Predigttext“, die einzelnen Verse von Psalm 31,16, in seiner Predigt reflektierend, fast meditierend vor.4 Er verwendet jedoch nicht den hebräischen Text oder die LXX – er hat bei der Vorbereitung vermutlich überhaupt nicht in die altsprachlichen Texte geschaut, denn er benutzt die herkömmliche deutsche Übersetzung, wonach der Vers lautet: „Meine Zeit steht in deinen Händen“. Im hebräischen Text (Ps 31,16) und in der LXX fehlt jedoch das Verbum, welches in der Luther-Übersetzung als „steht“ hinzugefügt wurde.5 In den alten Texten lautet es ganz einfach: „Meine Zeit in deinen Händen“. Das Wort „steht“ ist Wahl des Übersetzers. Dieses Detail stellt für Barth jedoch kein Hindernis dar, auch das Wort „steht“ einer intensiven theologischen und homiletischen Bearbeitung in seiner Predigt zu unterziehen. Es geht um eine Interpretation des Wortes „steht“, dessen Bedeutung Barth zufolge bis in Gottes ewige Erwählung bleibt.6 In der protestantischen Predigtlehre bzw. in den evangelischen Kirchen generell – auch bei Karl Barth selbst kann man das so nachvollziehen – gilt die Bibel fraglos als Basis der Evangeliumsverkündigung. Im Unterschied zu (bzw. in Abweichung von) dieser theoretischen Grundüberzeugung fällt freilich auf, dass die Bibel zwar als Grundlage der Predigt propagiert wird, ihr tatsächlicher Gebrauch aber in eine andere, eigene Richtung geht. Der Gebrauch der Bibel scheint innerhalb eines vertrauten Rahmens „eingezäunt“, die Auswahl der Texte, die gelesen werden, ist verkürzt und ihre Deutung ist von der gängigen Übersetzung bestimmt. Zu fragen, ob das wirklich diesem „Gefährlichen“ entspricht, worum es Barth in seiner Frühphase ging, wäre also angebracht. Mit dieser Frage möchte ich Barth nicht den Vorwurf machen, er folge seinen eigenen protestantischen Prinzipien nicht. Mich interessiert vielmehr die Frage, weshalb bei einem Theologen vom Kaliber Barths in seiner religiösen Praxis (sit venia verbo) diese Art von Diskrepanz zwischen theologischem Programm und tatsächlicher Praxis zu beobachten ist. Mehr noch, am Ende der Predigt am Silvesterabend 1960 in der Strafanstalt sagt Barth: „Ich komme zum Schluss mit einem Rat oder einer Bitte: Wie wäre es, wenn wir – ein jeder und eine jede von uns – heute Nacht, bevor wir einschlafen, laut und leise das, was wir jetzt gehört haben, noch einmal zu Gott sagen würden: 3 Karl Barth: Predigten 1954–1967, in: Gesamtausgabe (GA) I/12, hg. im Auftrag der KarlBarth-Stiftung von Hinrich Stoevesandt, Zürich 21981, 285. 4 Vgl. a. a. O., 179–186. 5 Ich danke meiner exegetischen Kollegin, Prof. Gitte Buch-Hansen, dass sie mich bei einer früheren Gelegenheit über den Hintergrund dieser Übersetzung unterrichtet hat. 6 Vgl. a. a. O., 182f.

Körpervergessenheit? Zum protestantischen Religionsverständnis

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,Meine Zeit steht in deinen Händen‘? Wenn das dann das Letzte wäre im alten Jahr, so würde dessen Abschluss darin bestehen, dass wir die Wahrheit sagten. Denn das ist die Wahrheit: ,Meine Zeit steht in deinen Händen!‘ und Gott wartet darauf, dass wir endlich – und wäre es in der letzten Stunde – die Wahrheit sagen. Was für ein Jahresende! Und wie wäre es, wenn wir morgen früh, wenn wir erwachen, wieder laut oder leise, ganz dasselbe sagen würden. ,Meine Zeit steht in deinen Händen‘? Wenn also das das Erste wäre im neuen Jahr, dass wir noch einmal die Wahrheit redeten, jetzt im Blick auf die Zukunft. Gott wartet ja darauf, dass wir einmal anfangen, die Wahrheit zu reden, und das ist die Wahrheit: ,Meine Zeit steht in deinen Händen.‘ Was für ein Jahresanfang! Ja, wie wäre es? Was wäre das für ein Ende, was wäre das für ein Anfang. Amen.“7 In diesem rhetorisch eindrucksvollen Abschluss wiederholt Barth den „Predigttext“ viermal. Insgesamt wird der Vers zwölfmal in der Predigt zitiert. Die Wiederholungen im Zusammenhang mit der konjunktivischen Konstruktion der Sätze und dazu noch die Apelle, Gottes eigene Wahrheit zu sagen, geben der Gemeinde durchaus einen starken Impuls. Dieselbe Struktur, ein kurzes Wort aus der Bibel, Auslegung und Ermahnung zum Auswendiglernen, wiederholt sich beim Predigen am nächsten Silvesterabend 1961 und nochmal bei Barths letzter Predigt in der Strafanstalt in Basel, am Silvesterabend 1962. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Barth großes Gespür für die Situation seiner Zuhörer zeigte, er ging bewusst und mit großer Aufmerksamkeit auf die Gegebenheiten in der konkreten Gemeinde ein. Dennoch soll die Frage gestellt werden, was eigentlich bei solchen Predigten vor sich geht. Mir scheint, dass die Bewegung, die innerhalb einer jahrzehntelangen Predigtpraxis – wie der Karl Barths – zu erkennen ist, etwas ganz anderes beinhaltet als die bloße Auslegung des Wortes der Bibel. Ich denke sogar – und das ist nicht als Vorwurf gemeint –, dass diese Beobachtungen ein Beispiel sind für die Kluft zwischen dem sozusagen programmatischen Protestantismus, der sich vom Selbstbild her als Religion des Wortes versteht, und der konkreten Praxis der Religionsausübung. Gewissermaßen steht Barth – in seiner Praxis – mit seinen biblischen Aphorismen und wiederholten und eingeübten Sentenzen den singenden Benediktinern, die sich nicht von Granaten stören ließen, vielleicht näher als seiner eigenen protestantischen Theorie von dem „gefährlichen“ Wort der Bibel. Warum ist das so? Diese Frage wird noch zu beantworten sein. Als reformierter Theologe war Karl Barth jedenfalls kritischer gegenüber Agenden, Altären und Liturgien8 als der Lutheraner Rudolf Bultmann, dem wir jetzt zunächst unsere Aufmerksamkeit schenken. 7 A. a. O., 185. 8 „Von den ,Altären‘ der deutschen Kirchen wusste ich mich denn in der Tat, wenn ich dort zu

108 1.2

Bent Flemming Nielsen

Rudolf Bultmann

In drei Predigten aus der Sammlung Marburger Predigten widmet Rudolf Bultmann seine Aufmerksamkeit dem Problem der Zeit als einer vorgegebenen Struktur. Er verhandelt darin den vorfindlichen Rhythmus, der unsere Welt in Sinnzusammenhänge einteilt. Konkret geht es um den Sonntag, also die Woche als Zeitraum9, dann auch um den Abend, also die tägliche Zeit10, und zuletzt um das Jahr – besonders die Adventszeit, das Kirchenjahr11. Richten wir zu Beginn unsere Aufmerksamkeit auf Bultmanns damalige theologische Voraussetzungen. In Bultmanns existentialistischer Entscheidungstheologie heißt es 1931: „Der christliche Glaube hat darin seine Eigentümlichkeit, dass er von einem Ereignis redet, das ihm dazu das Recht gibt, dass er ein Wort hört, das die Anerkennung Gottes als eines Gegenübers sogar von ihm fordert. Für das Christentum ist Gottesglaube nicht Glaube und Gottvertrauen im Allgemeinen, sondern der Glaube an ein bestimmtes, ihm verkündigtes Wort. Das Ereignis ist Jesus Christus, in dem, wie es im Neuen Testament heißt, Gott gesprochen hat, den das Neue Testament selbst ,das Wort‘ nennt.“12 Damit zusammenhängend ergibt sich, dass „[e]chter Gottesglaube […] nicht eine allgemeine Wahrheit [ist]“13. Der Glaube ist keine „Weltanschauung“, sondern vielmehr redet der „Gottesglaube […] vom ganzen Menschen, der in der Welt und in der Zeit steht, in der Gemeinschaft und in der Verantwortung, der je im Ruf des Augenblicks den Ruf Gottes hören soll, und je im Entschluss, in der Tat seinen Gehorsam unter Gott durchführen soll.“14 Teilt man Bultmanns Sichtweise, wonach Glaube innerhalb dessen, was „nicht allgemeine Wahrheit ist“ zu finden ist und entsprechend auch nicht weltanschaulich, sondern vielmehr im unanschaulichen Augenblick (als „Tat“ der Entscheidung) verborgen ist, so muss man doch auch die Frage stellen können:

9 10 11 12 13 14

predigen hatte, immer nur ungeschickt zu bewegen. In alten Bonner Tagen habe ich mich einmal in entschlossener Eigenmächtigkeit hinter statt vor den ,Altar‘ gestellt, durfte das aber kein zweites Mal tun. (Nun ja: heute wird ja sogar die römische Messe nicht selten von dort aus zelebriert!).“ – A. a. O., 283f. Vgl. Rudolf Bultmann: Predigt zu Mt 11,28–30 am 24. Juli 1938, in: Ders.: Marburger Predigten, Tübingen 1956, 71–78. Vgl. Rudolf Bultmann: Predigt am 27. Juli 1938, in: Ders.: Marburger Predigten, a. a. O., 79–86. Vgl. Rudolf Bultmann: Predigt zu Mt 11,2–6 am 11. Dezember 1938 , in: Ders.: Marburger Predigten, a. a. O., 87–97. Rudolf Bultmann: Die Krisis des Glaubens (1931), in: Ders.: Glauben und Verstehen. Zweiter Band, Tübingen 41965, 10. A. a. O., 7. A. a. O., 9. Inwieweit diese tagtägliche und kirchliche Einteilung der Zeit eine kritische Distanz zu Martin Heideggers Verständnis der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins markiert, ist eine Fragestellung, die hier nicht weiter verfolgt werden soll.

Körpervergessenheit? Zum protestantischen Religionsverständnis

109

Wie steht es dann mit den anderen Erfahrungen der Zeit? Wie steht es mit Erfahrungen der sich wiederholenden Zeit, der Zeit des täglichen Lebens, der Zeit der Woche, des Verlaufs des Tages und der Jahreszeiten? Wie steht es also mit jenen Zeiten, die gerade nicht durch unsere Entscheidungen herbeigeführt werden? Wie steht es um jene Zeiten, die im Voraus gegeben sind und um jene Zeiträume, die unser Leben gestalten, indem sie eine Richtung und einen Rhythmus beinhalten? Es stellt sich also die Frage, ob Tag, Woche und Jahr sich eigentlich theologisch qualifizieren lassen, wenn die Prämisse der gesamten Theologie schon im Ausgangspunkt mit einer steilen Tat- und Entscheidungstheologie gegeben ist. Ich werde hier den Versuch machen, zwei der drei erwähnten Predigten Bultmanns aus einer solchen Perspektive heraus zu befragen. Die erste Predigt ist eine Predigt beim Semesterschlussgottesdienst, ein Abendgottesdienst. Die Predigt thematisiert eine Zeiterfahrung im Rückblick auf das vergangene Semester. Am Anfang, schon nach den ersten Zeilen der Predigt, heißt es: „Die Gliederung der Zeit, die durch unser Arbeitsleben und seine Organisation geschaffen wird, ist nicht eine Architektonik, die in den feststehenden Raum der Zeit hineingebaut wird, sondern ist verschlungen in den Rhythmus der dahineilenden Zeit.“15 Mir kommt es nicht ganz klar vor, was mit „dem feststehenden Raum der Zeit“ gemeint ist. Es geht vermutlich um die Illusion eines feststehenden Raums der Zeit, während „der Rhythmus der dahineilenden Zeit“ der tatsächlichen Realität unseres Lebens entspricht. Es geht um die Zeitlichkeit des Daseins. Dementsprechend heißt es im Rückblick auf das vergangene Semester : „Wir müssten sehr viel Zeit zur Verfügung haben, um alles Versäumte nachzuholen; und in Wahrheit: wir haben gar keine Zeit zur Verfügung. Jede Zukunft bringt ihre neuen Aufgaben, und was dahin ist, ist dahin. Unser Leben ist in den Strom der fließenden Zeit eingeschlossen.“16 Die dahineilende, fließende Zeit schließt in sehr unheilbarer Weise unser Leben in sich ein. Unsere Vergangenheit mit all den versäumten und misslungenen Projekten ist wirklich vergangen. Die Zukunft wird sie nicht nochmals zurückbringen, denn die Zukunft schafft nur neue Aufgaben. Aber damit nicht genug, denn es „kommt zutage, dass unsere Reue gar nicht die Kraft hat, uns besser zu machen. Wir bleiben immer dieselben; wir sind unsrer selbst nicht mächtig.“17 Eine solche Zeiterfahrung klingt schicksalhaft und drohend, was im Folgenden offen thematisiert wird. Die Überlegungen zur Zeitlichkeit dienen im 15 Rudolf Bultmann: Predigt am 27. Juli 1938, a. a. O. (s. Anm. 10), 79. 16 A. a. O., 83. 17 Ebd.

110

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Predigtzusammenhang eigentlich nur der Offenbarung unserer „Gespaltenheit“, der „unentrinnbare[n] Zweiheit unseres Wesens“18. Im Schlussabschnitt der Predigt wirft Bultmann einen Blick auf „[u]nsere Unruhe und Not in der Welt“19, die gerade zur damaligen Zeit (1938) ungeheuer war. Und der Prediger überlegt, ob wir „in all dieser bedrängenden Unruhe den inneren Friede bewahren [können]“. Die Antwort lautet, dass unser persönlicher Friede nichts hilft, sondern „[d]er Friede, den Jesu Wort verheißt, ist der Friede der Ewigkeit, der gerade in aller inneren Unruhe, in allen Stürmen der unsere bleibt, weil er nicht der unsere ist, sondern Gottes Friede […]“20. Die paradoxal klingende Formulierung „der Friede der Ewigkeit, […] der unsere[r] bleibt, weil er nicht der unsere ist“ formuliert das Kerygma als uns entzogene göttliche Zusage. Die Erfahrung des Zeitstromes und die Endlichkeit des menschlichen Lebens wird in dieser Predigt gut lutherisch als Verkündigung des Gesetzes in Anspruch genommen: Das tägliche Kommen und Vergehen der Zeit wird exklusiv als Zeichen der Vergänglichkeit und der Unruhe bewertet. Als Gegensatz hierzu dient die sonntägliche Ruhe, die etwas Verheißendes beinhaltet und von der später gesprochen wird. Die Zeit bedarf der Erlösung von Gott her durch „ein Wort […], das uns, deren Zeit dahinschwindet, der Ewigkeit jenseits der Zeit versichert, das in die Unruhe unserer Zeit Gottes Ruhe bringt“21. Wie bereits angedeutet, klingen bei Bultmann auch andere Töne im Hinblick auf die Erfahrung der Zeit an. Am besten gelingt es Bultmann, den Sonntag theologisch zu qualifizieren, und zwar in eine ganz andere Richtung als in der Rede von der erlösungsbedürftigen Zeit. Das beruht vermutlich darauf, dass gerade der Sonntag schon im Voraus einer theologischen und biblischen Bestimmung unterliegt. Bultmanns Text für die Predigt an dem Sonntag drei Tage vor dem Semestergottesdienst ist das Herrenwort: „Kommet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. […]“ (Mt 11,28–30). Bultmann beginnt die Predigt mit folgenden Worten: „Das Herrenwort, das wir hörten, ist eines der vertrautesten des Neuen Testamentes. […] Heute werden wir bedenken, wie es gerade durch den Tag, den wir feiern, den Sonntag, an uns ergeht. Sonntag: die alte Kirche sagte ,Herrentag‘. Es ist der Tag des Herrn, an dem die Glocken seinen Ruf erklingen lassen: ,Kommet her zu mir!‘. Was will uns der Sonntag als dieser Ruf des Herrn sagen?“22 Obwohl kein Wort über den Ruhetag in dem Predigttext steht, organisiert Bultmann die ganze Predigt um dieses Thema herum. Anfänglich werden unterschiedliche Reflexionen über den Sonntag eingeführt: Der Sonntag habe 18 19 20 21 22

Ebd. A. a. O., 85. Ebd. A. a. O., 81. Rudolf Bultmann: Predigt zu Mt 11,28–30 am 24. Juli 1938, a. a. O. (s. Anm. 9), 71.

Körpervergessenheit? Zum protestantischen Religionsverständnis

111

seinen Vorläufer im jüdischen Sabbat, der Sonntag sei ein Geschenk und eine erfreuliche Wohltat, er sei ein Ruhetag. Bultmann wiederholt die Metapher, dass „die Glocken rufen: Kommet her zu mir alle usw.“23 Der Sonntag „erinnert uns“ daran, dass das Leben mehr als Arbeit ist.24 Bultmann geht hier mit scharfer Kritik auf verschiedene Missverständnisse über die Bedeutung des Sonntags ein, und er schließt die Predigt mit einer Überlegung über den Sonntag als „neuen Anfang“25. Der Herrentag ist der Tag der Auferstehung bzw. der Tag, an dem Gott uns einen neuen Anfang schenken möchte: „Das ist ja der Sinn des Wortes Gottes, das uns jeder Sonntag neu verkündigt, dass wir dieses dürfen und sollen, dass unser Blick nicht auf unserm alten Leben haften bleiben soll, sondern auf seiner Gnade, die er uns in Christus schenkte.“26 Hier, am Ende der Predigt, wird der Sonntag, der bisher als Geschenk, Zeichengeber, als Ruf präsentiert wurde, als selbständiger Verkündiger eingeführt: „der Sinn des Wortes Gottes, das uns jeder Sonntag neu verkündigt.“ Somit ist die Methodik, mit der Bultmann den Lauf der Woche bewältigt, eine Metaphorisierung und Anthropologisierung der Wochenzeit. Der Sonntag tut verschiedene Dinge, die sonst nur Menschen oder Gott tun können. Der Sonntag ruft, schenkt und verkündigt. Warum aber diese Unterscheidung zwischen dem täglichen Leben, von dem wir in der ersten erwähnten Predigt hörten, und dem Sonntag? Es geht in beiden Fällen um Zeiträume. Es ist aber deutlich, dass Bultmann in dieser Predigt etwas mehr über die Zeit ausdrücken möchte. Er will den Sonntag nicht der Qualifizierung des Heideggerschen „Sein zum Tode“ unterstellen. Wie bereits erwähnt, findet sich in Bultmanns damaligem Predigttext jedoch nicht ein Wort über Sabbat oder Herrentag. Trotzdem bricht eine Erfahrung mit dem Phänomen „Sonntagsruhe“ die steile Systematik des im Voraus gegebenen theologischen Denkens und setzt sich als Verkündigung der göttlichen Verheißung durch. Wie bei Barth tauchen auch bei Bultmann Deutungen und Impulse auf, die die harte Schale systematisch-theologischer Festlegungen zu durchdringen vermögen.

1.3

Eduard Thurneysen

Nun möchte ich unsere Aufmerksamkeit Eduard Thurneysens Überlegungen über „das seelsorgerliche Tun“27 zuwenden. Wegen seines dialektisch-theolo23 24 25 26 27

A. a. O., 71.74. A. a. O., 73. A. a. O., 77. Ebd. Eduard Thurneysen: Die Lehre von der Seelsorge, Zollikon-Zürich 1946, 90ff.

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gischen Hintergrundes war Thurneysens Buch Die Lehre von der Seelsorge (1946) über Jahrzehnte Gegenstand sowohl großer Anerkennung als auch einer, sofern dies überhaupt möglich ist, noch größeren kritischen Bewertung.28 Nach einer Phase teilweiser Re-Evaluierung und Rehabilitierung scheint mir das Buch im Rückblick eine sachlichere Bewertung verdient zu haben. Ich möchte unsere Aufmerksamkeit auf eine gewisse Besonderheit dieses Buches lenken. Es geht um Thurneysens Gebrauch der Raum-Metapher. Im fünften Paragrafen von Seelsorge als Gespräch legt Thurneysen die von Schleiermacher herkommende Tradition auf ihre Behauptung einer „natürlichen Wortmächtigkeit“ des Menschen fest.29 Sich davon abgrenzend, behauptet Thurneysen, dass die Predigt und das Seelsorgegespräch auf „ein[em] besondere[n], vom profanen natürlichen Sprechen unterschiedene[n] Reden“ beruhen.30 Es gehe sowohl in der Predigt als auch in der Seelsorge zwar durch und durch um genuin menschliches Reden. Der Unterschied zwischen natürlichem Reden und Predigt und Seelsorge bestehe jedoch darin, dass das menschliche Reden, wenn es als Wort Gottes vernommen werden solle, „in Beschlag genommen“ werden müsse: „[E]s muss sich usurpieren lassen, es muss sich beherrschen lassen von diesem fremden Geist und Wort; es soll ein Nach-Sprechen sein wollen und nur ein NachSprechen dieses fremden, dieses anderen, dieses nie und nimmer von unserem Geist und aus seiner natürlichen Wortmacht heraus erzeugten Wortes.“31 Thurneysen beschreibt m. E. hier eine Erfahrung der Fremdheit des Predigers und Seelsorgers im Akt des Redens – gerade seinem eigenen Reden gegenüber. Das Gesagte gehört gewissermaßen nicht dem Redner selbst. Um dies näher zu erläutern, verweist Thurneysen auf den „Raum der Kirche“: „Kirche heißt und ist nichts anderes als der geistige Raum, in dem dieses Sprechen getätigt und geübt wird.“32 Thurneysen bestreitet, dass das Reden in der Kirche „monologisch“ aufzufassen sei, denn es gehe vielmehr um ein „Gespräch“ bzw. um „eine Aus-sprache […], die Antwort weckt“. Unter solchen Bedingungen der Rede kann ein menschliches Gespräch eine Rede sein, innerhalb derer ein Gespräch mit Gott selbst geführt wird. 28 Vgl. Jürgen Ziemer : Seelsorgelehre, Göttingen 2000, 82f. (Literatur); Michael Klessmann: Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 42012, 77; Wilhelm Gräb: Ratsuchende als Subjekte der Seelsorge, in: Wilfried Engemann (Hg.): Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 22009, 132–140; Reinhard Schmidt-Rost: Zwischen den Zeiten. Praktische Theologie im Umfeld der dialektischen Theologie, in: Christian Grethlein/Michael Meyer-Blanck: Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 2000, 501–530. 29 Eduard Thurneysen: Die Lehre von der Seelsorge, a. a. O. (s. Anm. 27), 94. 30 Ebd. 31 A. a. O., 96. 32 Ebd.

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Im nächsten Schritt bezieht sich Thurneysen auf Martin Luthers bekannte Rede bei der Kirchweihe in Thorgau, aus der er die Schlussfolgerung ableitet, dass die Situation der kirchlichen Rede grundlegend als Liturgie bestimmt werden könne. „Und nun tritt neben dieses liturgische Gespräch im eigentlichen Sinne das seelsorgerliche Gespräch.“33 Diese Argumentation ist von folgenden Elementen bestimmt: 1. Kritik des romantischen Verständnisses von der ,Wortmächtigkeit‘ des Menschen und der Behauptung einer Beschlagnahme des Menschenwortes „von diesem fremden Geist und Wort“, 2. Einsicht in den dialogischen Charakter der Rede als Anrede, soweit es um ein Hören des Wortes Gottes in der menschlichen Rede geht, 3. Behauptung der grundlegenden liturgischen Dimension auch des seelsorgerlichen Redens. Vor diesem Hintergrund meint Thurneysen, dass die liturgische Dimension „äußerlich gesehen“ den Kirchenraum nicht brauche, obwohl freilich jedes seelsorgerliche Gespräch theologisch gesehen im Raume der Kirche stattfindet.34 Und er fährt fort: „Der äußere Ort [des seelsorgerlichen Gesprächs] ist vielleicht der Wohnraum, der Spaziergang, die Straße, oder – warum nicht auch das? – sogar das Caf¦. Jedoch von innen gesehen ist es trotzdem die Kirche, die Gemeinde, in deren Raum, geistig gesprochen, dieses Gespräch stattfindet.“35 Was den Unterschied zwischen gewöhnlichem Reden und Seelsorge ausmache, sei „jenes umgreifende, uns mit unserem Gesprächspartner gemeinsam vor Gott umschließende und daher auch miteinander verbindende Kontinuum des Geistes, in dem wir uns erst in wirklicher Gemeinschaft begegnen können.“36 Durch vier bis fünf Schritte bewegt sich Thurneysen dezentrierend vom romantischen Inneren des Menschen bis zum liturgischen Raum der Kirche, welcher schließlich – wenn auch spiritualisierend – als nicht an den äußerlichen Raum gebunden gedeutet wird. Es geht ganz klar um die Gewinnung einer Differenz, durch die das theologische Selbstverständnis als Prediger, Seelsorger, Konfident und Hörer zuallererst gewonnen werden kann. So verstanden kann sogar das seelsorgerliche Gespräch als im Raum der Kirche stattfindend definiert werden. Mehr noch, es lässt sich als dialogisch-liturgisches Geschehen bestimmen. Damit wird die menschliche Macht dem Wort gegenüber gerade bestritten, und die Erfahrung des Predigens und das seelsorgerliche Tun werden als besondere Differenzerfahrung von Alterität annonciert. 33 34 35 36

A. a. O., 97. Ebd. Ebd. A. a. O., 99.

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Thurneysens Kritiker haben diese Ausführungen offenkundig als Ausdruck theologischer Heteronomie und eines erstarrten Ritualismus unschwer beiseitelassen können.37 Bei näherem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass sich Thurneysens Text auch in eine ganz andere Richtung interpretieren lässt. M. E. zeigen die Überlegungen Thurneysens ein sensibles Gespür für die sogenannte performative Dimension des mündlichen Redens.38 Es geht um ein Verständnis der Rede als konkret ausgeführter Akt bzw. um eine Rede, innerhalb derer die körperliche Stimme des Redners und die neu entstehende dialogische Räumlichkeit als implizite und sinnstiftende Momente wahrgenommen werden. Die heutige Praktische Theologie hat m.W. gerade erst begonnen, diese Dimensionen methodisch zu erforschen. Thurneysens Beschreibung des In-Beschlaggenommen-Werdens der menschlichen Rede mag Ausdruck dessen sein, was Mikhail Bakhtin als Polyglossie, Mehrstimmigkeit des Redens, bespricht. Es geht in aller Kürze gesagt um die inhärierenden Resonanzen der im Hintergrund jedes Gesprächs klingenden Stimmen der fremden Anderen, um die Echos des von Anderen und anderswo schon Gesagten. Es geht um aktuale Bedeutungen und Assoziationen, die sich erst in der Konkretion des Sprechaktes verdichten, wodurch neue und unvorhersehbare Sinneinheiten unter den Teilnehmern entstehen.39 Es geht weiter um die durch Ritualisierung entstehende neue, emergente Räumlichkeit, in der eine gewisse Destabilisierung festgelegter Bedeutungen und eingelagerter Gewohnheiten entsteht.40 Daraus entspringen Wahrnehmungen dichter Überschüsse von Sinn. In einer solchen Perspektive mag es bei Thurneysen um sachliche, theologische Erkenntnisse des Gespräches gehen, die sich zu seiner Zeit noch nicht methodisch ausführen ließen. Bis heute sind wir noch auf dem Weg. Mein Interpretationsvorschlag lautet demnach, dass Thurneysen durch seine tastenden Formeln eigentlich mehr sagen möchte, als er innerhalb seines eigenen theologischen Kontextes zu sagen im Stande war. Seine Argumentation deutet an einigen Stellen an, dass ihm etwas fehlte, das innerhalb des damaligen theolo37 Ich verweise hierzu auf die Rezeption Thurneysens in den in Anm. 28 gelisteten Titeln. 38 Gemeint ist Begrifflichkeit und Phänomenologie, wie sie sich seit der sogenannten „Ästhetischen Wende“ entwickelt hat, z. B. Richard Schechner: Performance Studies. An Introduction, New York 2002; Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, 31–41. 39 Marlene Ringgaard Lorensen: Dialogical Preaching. Mikhail Bakhtin, Otherness and Homiletics, Göttingen 2014. 40 Bent Flemming Nielsen: Erlebnis Predigt im Ritual des Gottesdienstes. In: Alexander Deeg (Hg.): Erlebnis Predigt. Eine Veröffentlichung des Ateliers Sprache e.V., Braunschweig. Leipzig 2014, 143–163; Bent Flemming Nielsen: Ritualization, the Body and the Church. Reflections on Protestant Mindset and Ritual Process, in: Bent Holm u. a. (Hg.): Religion, Ritual, Theatre, Frankfurt a. M. 2009, 19–45; Alexander Deeg: Fundierendes und Fundamentales im Wechselspiel von Theologie und Liturgie, in: Ders. u. a. (Hg.): Gottesdienst und Predigt – evangelisch und katholisch, Neukirchen-Vluyn 2014, 120–125.

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gischen Paradigmas nicht zu Worte kommen konnte – was ja nicht besagt, dass es sich nicht irgendwie spürbar war. Wie wir beim späten Barth eine überraschende Aufforderung zur mündlichen Repetition eines biblischen Spruchs lesen, finden wir bei Thurneysen die Suche nach etwas Äußerlichem, welches alsbald durch Spiritualisierung verinnerlicht wird: Trotz des Redens vom Raum geht es zu guter Letzt um einen metaphorisierenden Gebrauch des Wortes.

1.4

Søren Kierkegaard

Für Beicht- und Abendmahlsgottesdienste am Freitagabend hat Søren Kierkegaard einige erbauliche Meditationen geschrieben, in denen er die Situation am Fuß des Altars im Lichte eines Schriftwortes reflektiert. Er spricht dabei nicht von Predigten, sondern von Reden, da er selbst nicht ordiniert war. Zum Predigen bedürfe es des Wortes eines Beamten.41 Am Ende der dritten Abendmahlsrede reflektiert Kierkegaard den letzten Satz des Textes, Denn meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie; und sie folgen mir (Joh 10,27). Den letzten Satz, Sie folgen mir, unterstreicht Kierkegaard: „Denn am Altar bleibest du nicht und sollst du nicht bleiben. Du kehrest wieder zurück, zu deinem Tagewerk, zu deiner Arbeit, zu der Freude die vielleicht deiner harrt, ach, oder zum Leide – dies alles hast du für heute beiseite gelegt: wofern du aber sein bist, so folgest du Ihm. Und wenn du Ihm folgest, so verlässt du freilich den Altar, wenn du jetzt von ihm fortgehest, aber dann ist es so, als ob der Altar mit dir ginge; denn wo Er ist, da ist der Altar – und wenn du Ihm folgest, so geht Er mit dir mit. O, dieser Ernst der Ewigkeit: wo immer du gehest, was immer du dir vornehmest, Er geht doch mit dir mit; o, dieser selige Trost: Er geht mit dir mit; o diese wunderbare Verknüpfung: der Ernst der Ewigkeit ist auch der seligste Trost! Der Altar bleibt freilich stehen, darum gehst du zum Altar; indes, es ist doch nur der Altar, falls Er allda zugegen ist: mithin, wo er ist, da ist der Altar.“42

Wenn es nicht so wäre, räsoniert Kierkegaard, dann müssten wir ja beim physischen Altar bleiben, dort wohnen und nicht davon weichen: „Stünde es nicht so, dann müsstest du ja am Altar bleiben, allda deine Wohnung aufschlagen, niemals von da weichen; doch solch ein Aberglaube ist nicht Christentum.“43

41 Niels Jørgen Cappelørn: Die ursprüngliche Unterbrechung. Søren Kierkegaard beim Abendmahl im Freitagsgottesdienst der Kopenhagener Frauenkirche, übersetzt von KristaMaria Deuser, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 1996, hg. v. Niels Jørgen Cappelørn und Hermann Deuser, Berlin/New York 1996, 315–388. 42 Sören Kierkegaard: Christliche Reden 1848, in: Ders:, Gesammelte Werke Bd. 20, hg. v. Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Gütersloh 1981, 293f. 43 A. a. O., 294.

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Ich habe diese Stelle bei Kierkegaard ausführlich zitiert um zu zeigen, wie er ein gewisses Spiel mit dem physischen Altar und dem Altar als Christussignatur treibt. Ich lese Kierkegaard so, als versuche er den Unterschied zwischen physischem Altar in der Frauenkirche und Christi Opfer als geistliche Realität, zwischen physischer Stelle und religiöser Bedeutung, zu durchkreuzen. Christus ist für seine Glaubenden überall, deshalb sind auch Christi Altar und sein Opfer, die sonst physische und geschichtliche Wirklichkeiten waren, überall. Dennoch reflektiert Kierkegaard den Weg zum Altar, konkret und physisch gesehen, in seiner Meditation. Geistliches und Physisches durchkreuzen einander, und der Sinn der ganzen Reflexion entsteht durch ein metaphorisierendes Spiel zwischen Physis und Geist.

2.

Anthropologische Voraussetzungen und Konsequenzen religiöser Praxis. Versuch einer Interpretation mit Bezug auf das Verhältnis von Religion und Leiblichkeit

Sämtliche Beispiele im ersten Abschnitt dieses Beitrags sind liturgischer oder homiletischer Herkunft. Barth befürwortet eine Praxis des Rezitierens; er mahnt seine Zuhörer sehr intensiv und mit stetiger Redundanz, die Sprüche zu wiederholen. Bultmann erweitert seine Überlegungen zur Zeitlichkeit, indem er die sonntägliche Zeit bespricht, und er schreibt den Glocken und den besonderen Tagen gewisse Eigenschaften zu: sie mahnen, sie trösten, sie verkündigen. Thurneysen möchte das Selbstbild vom wortmächtigen Menschen durchbrechen, stattdessen befürwortet er ein Selbst- und Sprachverständnis, wonach der Mensch als der von der Liturgie neu konstituierte Mensch zur Sprache kommt. Søren Kierkegaard treibt sein oszillierendes, erbauliches Spiel zwischen dem physischen Altar und dem imaginativen, allgegenwärtigen Altar als Christussignatur. Er will die physische Realität, er geht (zumindest derzeit) zur Kirche, zum Altar. Dennoch durchbricht er die bloße physische Realität und behauptet eine Allgegenwart gerade auch des Altars. Meine These, die ich im Folgenden kurz präsentieren möchte, lautet, dass solche Beispiele, die alle etwas Unterdrücktes aufzeigen, ein anthropologisches Defizit dokumentieren. Es geht um das Defizit, das ich als „Körpervergessenheit“ in der Überschrift annonciert habe. Alle Beispiele zeigen Formen dezidierter liturgischer Praxis an, d. h. es geht um menschliches Tun und Reden, welche der Gestaltung der protestantischen Religionsausübung dienen sollen. Das heißt, dass der Ausgangspunkt nicht in der intellektuellen Reflexion zu sehen ist, sondern vielmehr in unterschiedlichen Formen der religiösen Praxis, die den menschlichen Körper involvieren. Solche körperlich vermittelten For-

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men der Praxis werden oft übersehen, wenngleich sie von höchster Bedeutung sind. Barths Empfehlung des Rezitierens Meine Zeit steht in deinen Händen involviert den Körper. Es wird die menschliche Stimme, die körperlich situiert ist, gebraucht. Barth empfiehlt wiederholte Übungen, abends und morgens. Solche Wiederholungen gehen unbedingt unsere leibliche Existenz an. Durch die Wiederholungen erfährt der Spruch eine kaum bewusste leibliche Einbettung, die unseren kognitiven Reflexionen vorausgeht. Dadurch bekommt der Spruch eine Art körperlich vermittelte externe Existenzweise; der Spruch existiert gewissermaßen äußerlich und wird auch als von außen her kommend vom Redner selbst vernommen. Das laut Gesagte steht dem Redner als etwas von außen auf ihn Zukommendes gegenüber. Anthropologisch gesehen lagert sich der eingeübte Spruch als Disposition im menschlichen Körper ein.44 Von dort her kommend wird er, durch konkrete Rezitation, dann als tragfähig, als fest und unerschütterlich wahrgenommen. Ein Exempel dafür mag die Rolle des Vaterunsers im alltäglichen Frömmigkeitsleben geben. Das Gebet ist einverleibt, es „betet sich selbst“, wiederholend, körperlich vermittelt. Diese Dimension des körperlichen Einlagerns, die ein unbestreitbares Faktum protestantischer Religionspraxis ist, wird nur sehr wenig von der herkömmlichen protestantischen Theologie berücksichtigt. Und wenn doch, dann oftmals mit Skepsis oder gar direkt verneinend. Dabei besteht die naheliegende Gefahr, die tatsächliche Praxis der protestantischen Religionsausübung falsch einzuschätzen. Es ginge doch vielmehr darum, Zugänge zur Interpretation der tatsächlichen Rolle des Körpers in der Liturgie zu eröffnen. Wir greifen zu kurz, wenn wir meinen, dass es nur darum gehe, Bewegungen und Körper als Zeichen ablesen zu lernen; es geht weniger um sogenannte Körpersprache als darum, die basale körperliche Involvierung in den liturgischen Prozessen und Aktivitäten in den Blick zu nehmen. Dort kommt zum Vorschein, dass die Religion uns auch „über den Körper“ trifft. In den letzten Jahren sind diese Überlegungen Gegenstand intensiver Analysen in der Anthropologie geworden. Methodisch wird oft an die Phänomenologie des Körpers und an verschiedene Arten der Ritualtheorie angeknüpft.45 44 Zur Rede von Disposition und Habitus wie zur Fragestellung im Ganzen: Pierre Bourdieu: The Logic of Practice, Oxford 1990. 45 Bent Flemming Nielsen: Kroppen i liturgien – teologiske og antropologiske perspektiver, in: Kirsten Busch Nielsen /Johanne Stubbe Teglbjærg: Kroppens teologi – teologiens krop, Kopenhagen 2011, 293–314. Aus der Literatur : Talal Asad: Remarks on the anthropology of the body, in: Sarah Coackley (Hg.): Religion and the Body, Cambridge 1997, 42–52; Catherine Bell: Ritual Theory, Ritual Practice, New York/Oxford 1992; Pierre Bourdieu: The Logic of Practice, Oxford 1990; Thomas J. Csordas (Hg.): Embodiment and Experience. The Existential Ground of Culture and Self, Cambridge 1994; Thomas J. Csordas: Embodiment as a Paradigm for Anthropology, in: Ethos 18. Jg., H. 1, 1990, 5–47; Gunter Gebauer : Habitus,

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Der amerikanische Anthropologe Thomas Csordas und andere reden sogar von „der Subjektivität des Körpers“. Damit deuten sie an, dass unser Körper durch die Sozialisationsprozesse in der Gesellschaft eine Art von Selbsttätigkeit gewinnt, die von höchster Bedeutung für unsere Gesamterfahrung ist, darunter auch für die Wahrnehmung von Sinn in liturgischen Praktiken. Als Beispiel möchte ich den Aufsatz von Kimerer LaMothe, What Bodies Know About Religion and the Study of It46 erwähnen. Interessanterweise gilt das Problem nicht nur einem „körperlichen Wissen“ über Religion unter den Teilnehmern irgendeiner religiösen Praxis, sondern gerade auch – laut […] the Study of It – dem wissenschaftlichen Studium der Religion, so LaMothe. Auch den Wissenschaftlern verberge sich nämlich im Studium der Religion die Rolle des Körpers. Grundlegend geht es LaMothe darum, eine Sensibilität dafür zu schaffen „how bodies are, in every moment of living, becoming by virtue of their – that is our – own self-creating movement. We can begin to discern how the bodily movements we humans make make us able to think and feel and act as we do“47. Einer solchen Auffassung zufolge sind unsere Denkweise und die Erfahrungen, die wir machen, unser Reflektieren, tief von unserem Leib beeinflusst. Liturgisch und rituell ist es nach LaMothe so, dass es in der Tat unser körperliches Teilnehmen in der religiösen Praxis ist, das zuallererst ein Verständnis des religiösen Inhalts ermöglicht. Erst von dort aus, von der Innenseite her, öffnet sich die körperlich vermittelte Wahrnehmung und ermöglicht neue Erfahrungen auch außerhalb der liturgischen Situation. Denken wir bei folgendem Zitat LaMothes an Eduard Thurneysen, der gerade die liturgische Situation als schöpferisches Muster für das seelsorgerliche Gespräch ins Spiel bringen wollte: „Participants [in ritual] generate patterns of sensing and responding that exist in them as capacities for sensing and responding in a range of contexts beyond the ritual itself.“48 Wenn dies so ist, dann wird die liturgische Gesamterfahrung auch von Relevanz für das seelsorgerliche Gespräch sein. In diese Richtung weiterdenkend, könnten wir sagen, dass damit die herkömmliche Innen-AußenSpaltung zwischen Bewusstsein und Körper in Frage gestellt wird. Denn unser Intentionality and Social rules. A Controversy between Searle and Bourdieu, in: Substance. A Review of Theory and Literary Criticism, 29. Jg., H. 2, 2000, 68–83; Niilo Kauppi: The Sociologist as Moraliste. Pierre Bourdieu’s Theory and the French Intellectual Tradition, in: Substance. A Review of Theory and Literary Criticism 29. Jg., H. 2, 2000, 7–21; Marcel Mauss: Die Techniken des Körpers, in: Ders.: Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt a. M. 1989, 199–226; Sherry B. Ortner : Theory in Anthropology since the Sixties, in: Comparative Studies in Society and History, 26. Jg., H. 1, 1984, 126–166; Daniel L. Pals: Eight Theories of Religion, Oxford 22006. 46 Kimerer LaMothe: What Bodies Know About Religion and the Study of It, in: JAAR, 76. Jg., H. 3, 2008, 573–601. 47 A. a. O., 575. 48 A. a. O., 587; Ähnliches bei Catherine Bell: Ritual Theory, a. a. O. (s. Anm. 45), 94–117.

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Körper lässt sich nicht wie etwas Externes isolieren, er nimmt sozusagen schon im Voraus Teil an den sozialen und religiösen Prozessen – auch solchen liturgischer Art –, die sich unserem bewussten Leben überwiegend entziehen. Der häufige Gebrauch der Metaphern „Raum“ und „Räumlichkeit“ in Theologie und protestantischer Tradition mag auch weiter als Signatur dafür stehen. Entsprechend muss geltend gemacht werden, dass in der Praxis zuallererst durch unseren Körper ein rezeptives und responsives religiöses Verhältnis in Erscheinung tritt: Die Liturgie, die Gewohnheiten, die feststehenden Ausdrücke und Formeln sind etwas anderes und mehr als „zufällige Ausdrücke“ geistlicher Wahrheiten. In der Tat erreicht unsere Religion die meisten von uns über den Körper, lange bevor wir geistlich gewachsen sind. Im Lichte solcher Überlegungen wollen wir einen letzten Hinweis auf die angeführten Beispiele geben. Was Barth mit seiner Rezitation, was Bultmann mit dem wöchentlichen Glockenklang, was Thurneysen mit seiner Emphase der liturgischen Dimension und was Kierkegaard mit der Rede vom Altar in der Kirche und überall außerhalb der Kirche meinten – das alles ließe sich wohl mithilfe einer profunderen Theorie der menschlichen Leiblichkeit transparenter machen. Die in diesem Artikel skizzierten Beispiele sehe ich als ungenügende Versuche an, eine nicht thematisierte Dimension der Körperlichkeit zu bewältigen. Theoretisch sind sie alle – und nicht nur sie, sondern letztlich die protestantische Tradition insgesamt – textuell und verbal konzipiert. Die Fragestellung, die sich daran knüpft, ist die, ob nicht solche Exempel ein methodisches Defizit anzeigen, das sich mit der herkömmlichen idealistisch geprägten Anthropologie und Methodik nicht bewältigen lässt. Obwohl die Beispiele der dialektischen Tradition entstammen, berührt das Problem nicht die dialektische Theologie als solche, während andere Arten protestantischer Theologie davon unberührt blieben. Das Problem betrifft m. E. das gesamte protestantische Erbe. Um hier weiterzukommen, brauchen wir vermutlich eine ganz andere, weitaus stärker körperlich orientierte Anthropologie. Sind wir als Theologen dazu bereit?

Christofer Frey

7. Welche Grundzüge eines Bildes vom Menschen setzt die Ethik voraus? Auswirkungen auf die soziale und die religiöse Praxis – What is the general outline of an idea of humanity implied by ethics? The effects on the social and religious practice Zusammenfassung: In diesem Beitrag werden ethische Positionen im Blick auf ihre Leitlinien für das menschliche Leben befragt. Basierend auf der Unterscheidung zwischen Erhaltung und Gestaltung wurden dem ersten Gesichtspunkt ursprünglich anthropologische, dem zweiten ethische Themen zugeordnet. Dem Themenbereich der Erhaltung gehören u. a. „Natur“, „Naturrecht“ und „Schöpfung“ an. Die damit verbundenen Konzepte haben sich jedoch vergeschichtlicht und bedürfen einer Hermeneutik, die von Zielvorstellungen der Ethik angeleitet wird. Diese befasst sich nicht nur mit Normen, sondern mit verhaltenssteuernden Wahrnehmungen der Lebenswirklichkeit in generellen Situationsdefinitionen. In diesem Zusammenhang ist die ,attention‘ vor der ,intention‘ ein wichtiges Kennzeichen menschlicher Existenz und besonders zu würdigen. Sie bedingt eine dynamische Anthropologie, die nicht bei den klassischen Trichotomien stehen bleibt, sondern Ratio, Affekt und Begehren verbindet. Abstract: This contribution examines ethical viewpoints to identify their guidelines for human living. On the basis of the distinction between preserving and shaping, issues that were originally anthropological have been assigned to the former and ethical issues to the latter. The range of issues under the heading of preservation comprises „nature“, „natural law“ and „creation“, among others. The conceptions related to these have, however, become historical and need an interpretation which is guided by the conceptual goals of ethics. The latter are not only concerned about norms but also about perceptions of the reality of life which govern behaviour in general definitions of situations. In this connection, ,attention‘ before ,intention‘ is an important characteristic of human existence and deserves special recognition. It conditions a dynamic anthropology which does not stop at the classical trichotomies but, on the contrary, connects reason, emotions and desires.

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1.

Christofer Frey

Die Fragestellung

Die Ethik – ob philosophisch oder theologisch – kann nicht (oder nicht mehr) von einer Ordnung oberhalb des menschlichen Lebens ausgehen und Normen oder Gebote aus ihr deduzieren.1 Deshalb erwarten Theologinnen und Theologen – zumal in der Praktischen Theologie – häufig von ihr Skizzen eines ,Menschenbildes‘, das gemeinsame Überlegungen tragen kann. In den Beiträgen dieses Bandes macht sich eine gewisse Konzentration im Blick auf das Thema der Sünde geltend und richtet sich Kritik auf eine zweifelhafte Art der Verkündigung, die das Bewusstsein über den Körper stellt und die Leiblichkeit des menschlichen Daseins verdrängt.2 Das darauf bezogene und zu diskutierende ,Menschenbild‘ bildet dann jedoch eher eine Problemanzeige als einen Wegweiser auf dem Pfad des Nachdenkens. Dass sich das Bewusstsein, das Denken oder der Geist vom Körper distanzieren oder sogar lösen könne, war Thema der cartesianischen Skepsis3 und hat sich bis in die vermeintlich radikale empirische Erkenntnis im Werk Humes und darüber hinaus fortgesetzt.4 Anders als Überlegungen, die Bewusstsein und Körper trennen, setzt der folgende Beitrag voraus, dass sich die Identität – das unmittelbare oder mittelbare Bewusstsein von sich selbst als leiblichem und sozialen Wesen – mit Zielen und Rechenschaften des Ethos bzw. der Moral verbindet und Folgen für die Lebensführung, für die Kultur und auch die Ökonomie von Gruppen und Gesellschaften hat.5 Sie wirkt sich deshalb auch in der Praxis der Kirche aus. Das soll der folgende Abschnitt verdeutlichen.

1 Hier geht es um mehr als einen Top-down-Ansatz, nämlich um die regulative Idee eines sog. „God’s eye view point“, wie er z. B. von Kurt Baier für die Moral reklamiert wird: The Moral Point of View, Ithaca, NY 41964. 2 Aus der Sicht der Ethik wäre v. a. an die moralische Walze zu denken, die über Gottesdienstteilnehmer rollen kann. Ein Klassiker der Religionssoziologie zeigt, dass während der wirtschaftlichen Depression der 30er-Jahre in Virginia in Kirchen der Arbeiter viele zum selbstbezichtigenden Sündenbekenntnis nach vorn traten, während der Pfarrer der bürgerlichen Gemeinde vergeblich zum öffentlichen Sündenbekenntnis aufrief: Liston Pope: Millhands and Preachers, New Haven, CT 1942. 3 Ren¦ Descartes: Meditationen über die erste Philosophie, übers. v. Ch. Wohlers, Hamburg 2009. 4 Populär für seinen Einwand gegen das Denken Descartes’: Antonio Damasio: Descartes Error, New York 1994. Dass auch der Empirismus diesem Irrtum aufsaß, beweist Antony Flew: David Hume, Oxford/New York 1986. Wie ist der Zusammenhang von Erfahrungen zu verstehen, wie leitet Hume die ,contiguity‘ ab? Um ihn sollte es auch der Ethik gehen, wenn sie nach dem Lebenszusammenhang fragt. Dann kann man von einer Identitätsethik sprechen. 5 Nach einer kritischen, moralische Dilemmata nicht verschleiernden Identitätsethik sucht Christofer Frey : Wege zu einer evangelischen Ethik, Gütersloh 2014.

Ethische Voraussetzungen der Anthropologie

2.

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Zur Einleitung: Ayetoro

Vor über 50 Jahren konnte der Verfasser auf etwas abenteuerlichen Wegen mit einer kleinen Gruppe eine christlich-kommunistische Siedlung besuchen. Sie heißt Ayetoro und liegt in den Mangrovensümpfen der nigerianischen Küste.6 Die gesamte, auf Pfosten im Wasser stehende, Siedlung war zweigeteilt: zum Süden hin lebten die Männer und Söhne, zum Norden hin die Frauen und Töchter. Alle Häuser waren nahezu gleichmäßig und sauber – mit einer Ausnahme, welche die Größe betrifft, die noch zur Sprache kommen soll. Die Siedlung war von Mitgliedern der ,Cherubim and Seraphim‘7 begründet worden; sie behaupteten, wegen Predigens gegen die rituelle Zwillingstötung aus ihren Stämmen vertrieben worden zu sein. Das Zusammenleben in Ayetoro schien von einem radikalen Prinzip der Gleichheit gestaltet zu sein. Den Besuchern wurde zuerst der Kindergarten vorgeführt, er strahlte militärische Disziplin aus, und hernach die Kirche, die sich nicht wesentlich von den Wohnhäusern unterschied. Den Eintretenden fiel eine Pfütze auf dem Boden auf – das Dach war undicht. Außerdem fehlte jegliches Mobiliar. Der Führer erklärte, dass die Gemeinde von ihrem Herrn8 die Offenbarung empfangen habe, dass man auch am Sonntag nicht untätig sein dürfe; denn die Faulheit sei eine Sünde. Diese Einstellung scheint eine Variation der bekannten Kapitalismus-These Max Webers anzudeuten,9 tatsächlich bewiesen die Bewohner einen kollektiven Kleinkapitalismus. Sie beherrschten mit ihren Booten die Küstenschifffahrt; ihre Wohlfahrt stach von der Armut anderer Siedlungen in der Umgebung ab. Setzte sich darin ein besonderes Menschenbild durch? Und doch wurde das Prinzip der Gleichheit durchbrochen. Denn im Hintergrund stand ein fensterloses Gebäude aus Beton. In seinem oberen Stockwerk residierte der Oba, der traditionelle Stammeskönig der Yoruba. Er lud zum Empfang in einen Raum hinter einer Vorhalle, gefüllt mit einer großen Zahl von altertümlichen Waschgeschirren, die er auf Reisen gesammelt hatte. Das eigentliche Empfangszimmer war mit großen Ledersesseln ausgestattet. Zwischen je zwei Sesseln stand jeweils ein riesiger Kühlschrank. 6 Vgl. Christofer Frey : Ayetoro, in: Dienste in Übersee 2, 1966, 10–11. Nachdruck in: Kommunität 10, 1966, 182–183. Eine geschichtliche Einordnung versucht Rotimi Omotoye: The Church and Economic Development in Southern Ondo State: an Examination of Ondo and Ayetoro Communities, in: The Nigerian Journal of Economic History, H. 2, 1999, 46–55. Den späteren Niedergang der Kommunität versucht zu erklären: http://www.tellng.com/news/ ayetoro-longing-paradise-lost (letzter Zugriff: 18. Mai 2014). 7 Es handelt sich um eine Untergruppe der Church of the Lord Aladura, einer ,native church‘, die 1925 gegründet wurde und den Pfingstkirchen nahesteht. 8 „The Lord“. 9 Vgl. Max Weber : Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders.: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. I, Tübingen 91988, 17–206.

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Christofer Frey

Fragt man nach Leitlinien der Lebensführung, die offenbar in dieser Siedlung galten, so könnten sie tatsächlich Max Webers berühmter und oft verzeichneter These zugeordnet werden.10 Aber sie wurden auf eine schwer nachzuvollziehende Weise durch einen hierarchischen Patriarchalismus durchkreuzt. Das erste Leitbild stützte die alltägliche Lebensführung, das zweite – in Gestalt des Oba – schien eher die kollektive Identität zu repräsentieren. Lebensführung und Identitätsbildung erschienen offenbar als eine Folge des im Hintergrund der Kommune wirkenden ,Menschenbildes‘. Aber was ist das: ein Entwurf, ein Fahrplan für das Leben, ein auf die Bewohner ausgelegtes Konzept? Die oft bemühten ,Menschenbilder‘ gelten als mehr oder minder geschlossene Konzeptionen; aber die Leitlinien dieses christlich-kommunistischen Experiments liefen auseinander und auch gegeneinander. Trotzdem kann dieses in bestimmter Weise diastatische Konzept einen anfänglichen Hinweis auf mögliche anthropologische Gesichtspunkte in sozialethischen Konzeptionen geben, wie sie in viele Lebenssituationen eingeschlossen sind.11

3.

Die problematische Rede vom ,Menschenbild‘ – eine Kritik

Der ursprünglich für diesen Beitrag angebotene Begriff des ,Menschenbildes‘ ist äußerst unscharf – und damit eigentlich kein Begriff. Ein deutlicher Hinweis darauf ist der manchmal geradezu fahrlässige Umgang von Politikern mit diesem Terminus. Nicht wenige berufen sich auf das ,christliche Menschenbild‘ des Abendlandes und versuchen damit, das Konzept der Menschenwürde als ein Spezifikum europäischen Denkens zu begründen.

10 Vgl. Troeltschs zurechtstellende Bemerkung: „Die Erkenntnis, dass in dieser Sondergestaltung zugleich erhebliche Annäherungen an die moderne Welt enthalten sind – wiederum im Gegensatz zum Luthertum –, knüpft sich an modernere Untersuchungen an: an Gierkes ,Althusius‘, an die durch Jellinek ,Die Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte‘ 1904 angeregte Kontroverse und an die Abhandlungen Max Webers ,Ueber den Geist des Kapitalismus und die prot. Ethik‘, Archiv XX u. XXI, die übrigens ausdrücklich nur eine der geistig-ethischen Voraussetzungen für den bürgerlichen Kapitalismus, nicht alle und am wenigsten den Kapitalismus selbst auf den Calvinismus zurückführt.“ Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1923, 605. 11 Sie hängen oft mit einer bestimmten Form von Religiosität zusammen, die sich vor allem mit der sozialen Identität (z. B. der Gruppenidentität in großen Gesellschaften) verbindet und nicht so sehr mit der Bewältigung bestimmter, oft schwieriger Lebenssituationen dient (instrumentelle Religiosität). Vgl. Will Herberg: Protestant, Catholic, Jew. An Essay in American Religious Sociology, Garden City, NY 1955. Herberg skizziert – für seine Zeit – drei Stadien der religiösen und kulturellen Bindung in den USA: Die erste Generation in der Fremdheit, die zweite in der Überanpassung und die dritte im Zuge der Vermittlung von Herkunft und neuer Welt.

Ethische Voraussetzungen der Anthropologie

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Das Eingangsbeispiel zeigt allerdings, dass mehrere Leitkonzeptionen der Lebensführung nebeneinander herlaufen können. Möglicherweise erzeugen sie nicht einmal bewusste Spannungen in der Lebensführung und in der eigenen Identität, weil Leitkonzeptionen den jeweiligen Situationen entsprechend unterschiedlich angewendet werden können. Zugleich erweitert sich die diesem Beitrag vorgegebene Fragestellung, denn jenseits von Instrumentalität (womit führen wir unser Leben?) und von Repräsentanz (worin erkennen wir uns?) geht es um eine beide Seiten tragende Identität, die sich auch in divergierenden – vielleicht sogar widersprechenden – Perspektiven durchhalten kann.12 Divergenzen können in eine Dialektik der Leitlinien des Lebens und der Identität umschlagen. Was trägt Menschen durch oft konfliktreiche Situationen oder Bruchzonen des Lebens und durch kulturell erzeugte Widersprüche? Diese treten in unseren Gesellschaften nicht nur bei Migranten hervor, man denke nur an männliche Jugendliche, die Ansprüche patriarchaler Gesellschaften an die Institutionen der Bildungs- und Arbeitsgesellschaften stellen, sondern auch an Einheimische, die je nach Situation anscheinend Züge eines kalten, berechnenden ,homo oeconomicus‘ übernehmen,13 aber in der engeren Familie völlig anders agieren. Ein besonders herausforderndes Modell solchen Widerspruchs zeigt sich im Weiterleben eines Clanethos in Konfrontation mit einer Gemeinwohlvorstellung, die es eigentlich verbieten sollte, die Mitglieder des eigenen Clans zu bevorzugen. Individuelle Ziele im Rahmen kaum verstandener gesellschaftlicher Verhältnisse und der darin möglichen, eigenen Beiträge klaffen oft auseinander. Deshalb muss die Annahme eines geschlossenen und konsequenten ,Menschenbildes‘ angesichts der Lebenswirklichkeit aufgebrochen werden. Stattdessen soll von häufig verborgenen Leitlinien menschlicher Lebensführung die Rede sein; sie artikulieren sich oft nur situationsspezifisch und können auch im Widerspruch zueinander stehen. Deshalb sind Unterscheidungen notwendig.

12 Ein Seitenblick: Für Divergenzen dieser Art gibt es Beispiele – zum Beispiel auf den Wirtschaftsseiten unserer Zeitungen, denn ,Banker‘ werden häufig im Blick auf ihr Berufsverständnis kritisiert und als Spieler gewertet, aber dann verteidigend auch als besonders ehrgeizige und deshalb als erfolgsorientierte Menschen dargestellt – das erstere vermutlich eher von außen, das zweite eher von innen. Selbstbilder widersprechen also Fremdbildern; und wenn die Verkündigung des Evangeliums eine Neubestimmung des menschlichen Lebens sucht, so müssen wohl beide Seiten kritisch und befreiend bearbeitet werden. 13 Dieses typisierende Bild darf nicht dazu führen, dass der Gesichtspunkt der Effektivität in der Wirtschaft vernachlässigt wird.

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4.

Christofer Frey

Gefahren einer Ideologie und Tiefenstruktur ethischer Reflexion

Beobachtungen wie diese nötigen zu einem genaueren Verständnis dessen, was mit den Leitlinien der Lebensführung oder der darunter liegenden Identität gemeint sein könnte. Den Weg dorthin soll nun die Ethik – vor allem in Gestalt der Sozialethik – weisen.14 Das geht nicht ohne epistemologische Vorüberlegungen, denn diese erlauben, das Zusammenspiel von Anthropologie und Ethik genauer zu erfassen. Sie bedürfen eines kritischen Zugangs, der das Verhältnis von Anthropologie und Ethik genauer bestimmt. Auf dem Weg des Nachdenkens fällt auf, dass der so weite, wieder in einer positiven Diskussion rezipierte Religionsbegriff15 ähnliche Probleme wie die Rede vom ,Menschenbild‘ erzeugt: Droht die Rede vom Menschenbild im politischen Jargon zu verschwimmen, so scheint der Religionsbegriff vor dem, was vor allem im 20. Jahrhundert als Ideologie16 – also politisch und sozial durchgesetzter Verhaltenssteuerung – diskutiert wurde, zu kapitulieren; und dieselbe Gefahr droht auch der Rede vom ,Menschenbild‘, weshalb sie im weiteren vermieden wird.

Die kritische Reflexion muss deshalb eine Tiefenstruktur aufsuchen, in der sich entscheidet, was Menschsein bedeutet oder – zweideutiger – Menschsein gelingen lässt.17 Sie sollte auch am Grunde der individuellen oder sozialpolitischprogrammatischen Orientierungen sichtbar werden. Die damit anvisierten Ziele müssten sich ethischer Reflexion öffnen. Anders als in der Antike muss die ethische Reflexion anthropologische Themen einbeziehen. Bei Aristoteles finden sie sich zunächst in seiner Lehre von der Seele, also 14 Eigentlich ist jede Ethik (auch) Sozialethik und nicht Individualethik, weil Personwerden durch Sozialwerden – und umgekehrt – erfolgt. Vgl. Peter L. Berger: Einladung zur Soziologie, München 1977; Ders./Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1969. 15 Das Thema der ,Religion‘ hat den Anlass der in dieser Monographie gesammelten Beiträge ebenso bestimmt wie das des ,Menschenbildes‘. 16 Die Diskussion der ,Menschenbilder‘ und der ,Religion‘ vermeidet neuerdings den Ideologiebegriff – vermutlich weil er mit ,linker‘ Kritik verbunden zu sein scheint, obwohl das für viele Fälle nicht gilt (vgl. Karl Mannheim). Die Praktische Theologie sollte allerdings durch Studien zu völkischen und totalitären säkularen Liturgien herausgefordert werden: Klaus Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971. Mannheim suchte lediglich die „Funktionalisierung der noologischen Ebene“ und somit eine mögliche Instrumentalisierung der menschlichen Fähigkeit zu erkennen (Ideologie und Utopie, Frankfurt a. M. 81995). 17 Die Formel des gelingenden Lebens weckt neuerdings Kritik. Einige Theologen übernahmen sie vom Philosophen Wilhelm Kamlah (Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim u. a. 1973, 164f.), um die Integration eines Lebens nicht als langfristige Summierung von Glücksmomenten denken zu müssen. Dann aber verschwamm ihre Bedeutung. Vgl. Christofer Frey : Wege zu einer evangelischen Ethik, a. a. O. (s. Anm. 5), 133, 180, 194, 251, 314, 417, 453.

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außerhalb der Ethik, während die von ihm initiierte Ethik die Fragen nach dem, was der Mensch sein soll oder werden kann, stellt.18 Deshalb werden die folgenden Argumente festhalten, dass die Ethik nicht nur Normen (bezogen auf das Sollen) benennt, sondern Wirklichkeit und Möglichkeiten des Lebens gerade auch in seinen Widersprüchen erheben soll. Eine strenge ethische Reflexion muss die Versuche einer Antwort auf die Frage nach ,dem‘ Menschen einbeziehen und sich daher kritisch mit Ideologien auseinandersetzen. Diese werden vor allem dann offenkundig, wenn die Freiheit zur Selbstkritik fehlt.

5.

Differenzierungen

Sowohl die Unterscheidung, als auch die Verbindung von Anthropologie und Ethik zeigen sich in einer doppelten Hinsicht auf menschliches Leben, die oft nur indirekt in ethischen Reflexionen zur Sprache kommt – in den Gesichtspunkten der Erhaltung und der Gestaltung.19 Wer von der Erhaltung des Lebens ausgeht, wird den Menschen zunächst in naturalistischer Perspektive betrachten und ihn als ein Triebwesen ansehen, das kultureller Steuerung bedarf. Der Missbrauch solcher Aussagen im Dritten Reich ist längst vergessen, obwohl sie gerade nach dem Zweiten Weltkrieg in einer vermeintlich konservativen Rückwendung vor allem der politischen Ethik große Bedeutung erlangt haben.20 Angemessener ist es, den Menschen als bedürftiges und verletzliches Wesen zu betrachten. Verletzlichkeit und Bedürftigkeit dürfen allerdings nicht nur naturalistisch verstanden werden, sie verlangen auch nach einer kulturellen Interpretation und werden heute oft mit Hilfe des Postulats der Menschenwürde bewertet. Sie richten sich nicht nur auf materielle Bedürfnisse21 wie die Stillung des Hungers, 18 Wer die Nikomachische Ethik genauer studiert und vielleicht auch einmal den griechischen Text hinzuzieht, muss erstaunt sein, dass sich heute sogar Philosophinnen zu einem ,Neoaristotelismus‘ bekennen. (Martha Nussbaum: Der aristotelische Sozialdemokratismus, in: Dies.: Gerechtigkeit oder das gute Leben, hg. v. Herlinde Pauer-Studer, Frankfurt a. M. 1998). Die ,Nikomachische Ethik‘ des Aristoteles bezieht sich ausdrücklich auf den erwachsenen Mann der Oberschicht, der glücklich werden kann (nicht glücklich werden können Kinder und Pferde). Vgl. NE 1099b–1100a. 19 Dietrich Bonhoeffer : Ethik (= DBW 6), hg. v. H. Eduard Tödt u. a., München 1992, 87ff. Bonhoeffer geht aus von der Gestalt Christi, vom Gestaltwerden Christi, und bezieht darauf die Ethik als Gestaltung. 20 Viele beziehen oder bezogen sich auf Arnold Gehlen: Der Mensch, aber nicht auf die erste Auflage dieses Werks. Ein später ersatzlos gestrichenes Kapitel darin handelte von den „obersten Führungssystemen“ und beschwor „Zucht“ und „Führerprinzip“ (Berlin 1940, 447–468). 21 Vgl. John Stuart Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1976, 18.

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sondern auf pragmatisch-kommunikative, wie das Bedürfnis, angenommen zu werden, das Bedürfnis nach Kommunikation, nach Schutz und Frieden und vor allem auf eine Sensibilität für die Balance von Ego und Alter.22 Dem letzten Gesichtspunkt widerstreitet ein blindes Machtstreben, das Vorteile der eigenen Position durchsetzen möchte. Das Thema der Erhaltung ist sowohl mit der Anthropologie als auch mit der Ethik durch das Thema der Ordnungen verbunden. Es wurde – besonders in konservativer protestantischer Ethik – in der Regel von der potenziellen Zustimmung der den Ordnungen Unterworfenen losgelöst. Zur Verteidigung des Anliegens der Ordnungen ist allerdings zu bemerken, dass es im 16. Jahrhundert – also in der Reformation – so schwer wog, weil gerade ein lange währender, friedloser gesellschaftlicher Zustand durch den Landfrieden nahezu überwunden war.23 Die Betonung von Ordnungen im 19. und 20. Jahrhundert hatte jedoch ein anderes Motiv : Der Protestantismus musste das klassische Naturrecht für sich neu auslegen; vermutlich wollte er zugleich die liberalen bürgerlichen Bestrebungen nach weitgehender politischer Mitbestimmung zurückweisen. Auch darin liegt eine Art ,Menschenbild‘. Es hat allerdings nicht mehr mit dem elementaren Bedürfnis nach gesellschaftlichem Frieden zu tun, sondern mit der Bewahrung von Macht.

Der Vorstellung vom Menschen als einem der Ordnung bedürftigen Wesen erschloss sich der Theologie und ihrer Ethik oft im Topos der Schöpfung – in der Regel war die durch die Sünde gebrochene Schöpfung gemeint.24 Deshalb muss die an der Schöpfung orientierte Theologie einer kritischen Sichtung unterzogen werden. Ihr Verständnis lässt sich an einem sehr klaren und einfachen Text darstellen, der zugleich Feststellung und Interpretation sein will: Luthers ,Kleiner Katechismus‘ legt die drei Stücke des Glaubensbekenntnisses so aus, dass man die drei Artikel zirkulär anordnen und lesen kann.25 Die folgende 22 Was in der christlichen Ethik mit Hilfe des Liebesgebots festgestellt wird, ist erst spät in der philosophischen Debatte aufgenommen worden. Vgl. Axel Honneth im Anschluss vor allem an Hegel: Das Ich im Wir : Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt a. M. 2010. An der Grenze zur Theologie argumentiert Paul Ricœur : Soi-mÞme comme un autre, Paris 1990. 23 Der Landfriede hatte sich Ende des 15. Jahrhunderts durchgesetzt; deshalb reagierten die Reformatoren so empfindlich auf Versuche, das eigene Recht durchzusetzen (Bauernkrieg!). 24 Merkwürdigerweise bedenkt die neuerliche Schöpfungstheologie überhaupt nicht mehr, wie fragwürdig der Rekurs auf die Schöpfung in der Schöpfungsordnungstheologie war – vgl. Paul Althaus: Gebot und Gesetz (= BFChTh 46.2), Gütersloh 1952; Werner Elert: Das christliche Ethos, Hamburg 1949. 25 BSLK, 510–512. Die Reihenfolge der Interpretation – vom dritten zum ersten Artikel – könnte sich der Sache nach bei Eilert Herms finden, etwa in: Offenbarung und Erfahrung, in: Ders.: Offenbarung und Glaube, Tübingen 1992, 246–272, v. a. 264. ,Offenbarung‘ wird dort als konstituierendes Geschehen der Gegenwart leibhafter endlicher Freiheit durch ihr eigenes Wählen aus Gewissheit verstanden; sie finde ihre Fortsetzung in der Erfahrung als eines Geschehens in der Praxissituation. Dann erst ist die Rede von der Endlichkeit der Existenz in der geschöpflichen Situation, und diese werde lediglich von ,Irritationen‘ ge-

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Interpretation soll deshalb mit dem dritten Artikel beginnen, denn er stellt neben einer Bestimmung der Grundsituation des Christen auch die epistemologische Bedingung für das, was als Schöpfung erfahren werden kann, bereit. Es geht darum, dass der von Gott angesprochene, aber immer noch dem alten Äon verhaftete Mensch nicht aus eigener Kraft an den Freispruch und die neue Perspektive in der als Person zu den Menschen kommenden Erlösung glauben kann.26 Damit ist bereits gesagt, dass Menschen, die im Glauben ihre Bestimmung suchen, auf ein fundamentales ,Extra‘ angewiesen sind. Das Glaubensbekenntnis lässt deshalb keine abgeschlossene Anthropologie zu, sondern nur eine hinreichende Bestimmung des Menschen. Vom dritten Artikel her erschließt sich der zweite, die Aussage, dass Jesus Christus Herr über diesen Menschen geworden sei – wobei die damit angesagte Herrschaft im Grunde eine Freiheit meint, die nicht als Beliebigkeit verstanden werden darf, sondern als Befreiung, die vom Alten ablöst und sich zum Neuen ausrichtet. Damit wird erst die Bestimmung gegeben, unter der die Schöpfung als eine im Grunde gute Gabe verstanden werden kann. Biblische Geschichten sind Wendegeschichten – vom Alten zum Neuen. So erschließt sich das rechte Profil des ersten Artikels. Er besagt, Luthers Erklärung mittelbar fortführend, dass trotz so vieler Situationen, in denen das Gute nicht ohne weiteres erkannt oder nicht unmittelbar erfahren wird, doch eine Teleologie der oft verdunkelten Schöpfung wahrgenommen werden kann. So erschließt sich eine christliche Hermeneutik des Widerspruchs zum Gewohnten: Wie der Bergpredigt zufolge Gesuchtes gefunden wird, Türen geöffnet oder hungrige Kinder von Vätern nicht mit Steinen abgefunden werden,27 so kann sich die gewohnte Wirklichkeit in neuen Perspektiven zeigen.28 Dieser kurze Blick auf einen reformatorischen Text beweist, dass die praktische Erkenntnis des Glaubens und die ihr verbundene Sicht des Menschen dynamisch und in vielen Fällen sogar dialektisch verstanden werden muss. Sie steht kennzeichnet. Luthers Sicht wird allerdings streng von der (semantischen und kommunikativen) Gegenständlichkeit des Glaubens geleitet; mit ihr sind nicht ,Irritationen‘, sondern Anfechtungen und pathische Situationen verbunden (iustitia passiva!). 26 Vgl. den zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses und Luthers Auslegung, die auf das paradoxale Herrsein des Gekreuzigten zielt. 27 Das zum Leben Notwendige war zu manchen Zeiten gar nicht gegeben. Vgl. Utta KimWawrzinek/Johann B. Müller: Art. ,Bedürfnis‘, in: Otto Brunner u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, 440–489. 28 Auch die Freiheit – gestern und heute in der Konfrontation mit Hirnforschern intensiv diskutiert – muss vor diesem Hintergrund anders als die Fähigkeit, aus Spontaneität zu handeln oder keine Opposition in der empirisch wahrgenommenen Welt zu finden (so Humes Interpretation), verstanden werden. Sie ist erst recht nicht die Beliebigkeit der Wahl von Möglichkeiten, sondern zeigt sich an der Befreiung von alten Lebensverhältnissen zu neuen Möglichkeiten und in einem Statuswechsel – von der nötigenden Herrschaft vieler Instanzen dieser Welt zu einer ganz anderen Herrschaft des dienenden Gottes, der den Menschen von sich selbst – als altem Menschen – freimacht und zu erneuerter Identität ruft.

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in einer gewissen Spannung zu einem anderen Modell, das sich aus antiken Erkenntnissen entwickelte und sich immer mehr in hierarchischer Anordnung verfestigte, einem trichotomen Grundriss aus Vernunft, Willen und Begehren. Dessen Einfluss zeigt sich im Protestantismus im 19. Jahrhundert noch einmal in Gestalt der geschichtlich wachsenden Herrschaft des Geistes über die Natur.29 Aber aus einer ,nachmetaphysischen‘ Perspektive können die drei Instanzen nicht als eigenständige Substanzen30 verstanden, sondern müssen als Indikatoren eines auf Integrität angelegten menschlichen Lebens in einer phänomenologischen Sicht erfasst werden.31 Deshalb braucht die ethisch reflektierte Gestaltung des Lebens Perspektiven, die entweder aus der bereits erschlossenen Wirklichkeit hergeleitet werden oder über sie hinaus zur Geltung kommen sollen. Wenn in der Ethik ,Leitlinien menschlichen Lebens‘ artikuliert werden, dann sind sie nicht einseitig am Sollen (das der Ethik zunächst am angemessensten scheint) ausgerichtet, sondern zuerst an einer umfassenderen Sicht der Wirklichkeit, die sich zunächst nicht apriorisch erschließt, sondern dank kritisch wahrgenommener Traditionen entschlüsselt wird und dann möglicherweise transzendentale Geltung gewinnt.32

29 Dieser Fortschrittsgedanke wird in der neuerlichen Rezeption Schleiermachers im Allgemeinen verschwiegen. Aber Schleiermacher spricht von den immer neuen Offenbarungen und der immer engeren Vereinigung von Gottheit und Menschheit (Friedrich Schleiermacher : Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. v. Hans-Joachim Rothert, Hamburg 1958, 160ff.). Ein Fortschrittsgedanke, der sogar das ,Tausendjährige Reich‘ aufnimmt, findet sich bei Richard Rothe in seiner ,Theologische[n] Ethik‘, 3 Bde., Wittenberg 1845–1848 (2. Aufl., 5 Bde., 1867–71). 30 Gemeint sind Substanzen im Sinne von Wesenheiten. Bei Aristoteles ist die ,usia‘ die erste der Kategorien (Top. I. 9, 103b, 20). Sie entspricht allerdings nicht dem ,Wesenswas‘ (to ti Þn einai). Im ,to ti Þn einai‘ tritt die ,usia‘ zutage – in der Form, die der gestaltlosen Materie Gestalt gibt. Aristoteles überträgt das von ihm benutzte Materie-Form-Schema auch auf das Leib-Seele-Verhältnis. Leib und Seele werden wie Materie und Form komplementär begriffen und nicht als zwei eigenständige, gänzlich heterogene Substanzen behandelt. Die Seele ist dabei in der Vorstellung des Aristoteles die Verwirklichung eines mit entsprechenden Organen ausgestatteten Leibes (De anima B 1, 412b, 5f.). Mit dem Thema der Seele verbinden sich die Gesichtspunkte der Entelechie und der Dynamis. 31 Aber die Betonung der Ganzheitlichkeit menschlichen Seins bleibt problematisch, weil sie die in kritischer Reflexion notwendige Selbstdistanz des Menschen verdrängen könnte. 32 So Christofer Frey : Wege zu einer evangelischen Ethik, a. a. O. (s. Anm. 5), 13 passim. – Schleiermachers ,Christliche Sitte‘ weist indirekt auf diese doppelte Sicht hin: Als deskriptive Ethik steht sie einer lebensweltlichen Sicht nahe, als Geschichtsmetaphysik könnte sie eine transzendentale Sicht enthalten: Der Logos (antiken Denkens) geht über in das Pneuma Jesu; sie lässt unter der Rubrik des ,verbreitenden Handelns‘ sowohl den Geist im allgemeinmenschlichen Sinn als auch das Pneuma als göttliches Prinzip zusammentreten, um die Gemeinschaft zu verbessern. Die niedere Potenz des allgemeinen Geistes wird in die höhere hineingenommen und fördert die Gesinnungen; Natur und Gnade stehen nicht im absoluten Gegensatz (vgl. Friedrich Schleiermacher : Die christliche Sitte, hg. v. Ludwig Jonas. Berlin 2 1884, 300ff.).

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Diese Traditionen helfen den Menschen zu bestimmen, der zur Verantwortung gefordert ist. Die ethische Reflexion sucht nicht nur nach Antworten auf die Frage „Was sollen wir tun?“, sondern „Wer können wir in unserem Verhalten sein, mit welcher Gesinnung und Intention begegnen Menschen ihren Mitmenschen, an welchen Maßstäben beurteilen sie die Folgen ihrer Vorsätze und Handlungen?“ Wie müssen sich Situationen erschließen und unter welchen Voraussetzungen kann sich das eigene Selbst ein Verhältnis zum anderen Selbst setzen? Die auf die Situationen angewandten Schemata müssen mit Hilfe generalisierender Vorstellungen dennoch konkrete (und kontingente) Konstellationen in Interaktionen erschließen. Das sind die eigentlichen Fragestellungen der Ethik; sie suchen nach einer transzendentalen und zugleich kommunikativ gewonnenen Identität, die sich in einem sozial zu interpretierenden Verhalten als wirksam erweist. Die deskriptiven Anteile einer reflektierten Ethik sind also groß. Aber sie könnten verloren gehen, falls der Systemtheoretiker Luhmann recht hätte, dass sich die Moral auf das Verhältnis von Ego und Alter bezieht33 und die Rekonstruktion der Wirklichkeit sozialer Systeme einer Systemtheorie überlassen bleibt, die den ,alteuropäischen‘ Gedanken der Person ablöst.34 Die öffentliche Verwaltung und ihre Funktionalität sind offensichtlich Luhmanns Vorlage für Systeme; aber das nötigt zur Rückfrage, ob die Wahrnehmung äquivalenz-funktional rekonstruierter Systeme35 nicht auf verborgene Normativitäten untersucht werden muss.

Die nun weiter zu erörternden ethischen und anthropologischen Grundzüge sind sicherlich vielen Kulturen, vielen Lebensformen und damit auch vielen Religionen bekannt und darum auch zuzumuten. Aber sie sind auch den Selbstwidersprüchen der Menschen in ihren Lebensweisen ausgeliefert. Einen solchen Selbstwiderspruch zeigte das eingangs vorgestellte Beispiel (Gleichheit versus Hierarchie). Die Theologie – und mit ihr die theologische Ethik – müssen auf einen grundsätzlichen Selbstwiderspruch achten, der zwischen Ego und Alter aufkommt und den das Neue Testament in besonderer Weise benennt: Meine Intentionen verlieren die gute Spur und verkehren sich.36 Jede Norm des Guten kann zu einem Instrument 33 Vgl. Niklas Luhmann/Stephan H. Pfürtner (Hg.): Theorietechnik und Moral, Frankfurt a. M. 1978. 34 Luhmanns Abwendung von dem, was er eine alteuropäische Sicht nennt, wird in vielen seiner Werke sichtbar, u. a. in: Soziologische Aufklärung, Bd. 1–3, Opladen 1970–1981. Oder in: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, hg. v. Dieter Lenzen, Frankfurt a. M. 2002. 35 Im Unterschied zur Systemtheorie Talcott Parsons‘, der Systeme auf feste Funktionen gründet, ist für Luhmanns Sicht wichtig, dass ,soziale Systeme‘ „[…] nicht unbedingt auf spezifische Leistungen angewiesen sind, mit denen sie stehen und fallen. Wichtige Beiträge zu ihrer Erhaltung werden durch Leistungen erbracht, die durch andere, funktional äquivalente Leistungen ersetzbar sind.“ Vgl. Niklas Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 1, Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Wiesbaden 72005, 143–172. 36 Vgl. Röm 7,7–12.

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der Herrschaft über andere verkommen; und die Bestimmung des Selbstverhältnisses aufgrund des Verhältnisses zum Anderen wird gestört. Die Freiheit kann aber nur im Mitsein und in der Mitwelt gedeihen.37 Solche Störungen produzierte in den vergangenen Jahrzehnten eine forcierte Moral von Kanzeln, in kirchlichen Versammlungen, in engagierten Gruppen. Sie äußerte sich allzu oft nur in Appellen und wollte die vielfältigen Brüche in der Lebenswirklichkeit auf diese Weise zudecken. Deshalb sollte sich die Ethik dem jeweiligen Entdeckungszusammenhang von Normen, Lebensperspektiven und Verantwortlichkeiten widmen.38 Wird er im Sinne von Röm 8 – der in Christus gewonnenen Freiheit – gedeutet, dann kommen sowohl Perspektiven der Lebensführung, aber auch der Einwilligung in Grenzen des Lebens, gefolgt vom Mut zum Leben auch in erfahrener Sinnlosigkeit, zusammen.39 Er zielt nicht nur auf die Bestimmung des einzelnen Menschen, sondern auf eine kommunikativ ausgelegte Wirklichkeit. Sie überbietet den öfter zitierten, meist subjektivistisch verstandenen Satz „Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, dann sind diese auch wirklich im Blick auf ihre Konsequenzen.“40 Die darin behauptete Situationsdefinition – als Grundlage menschlicher Orientierung – muss auf die soziale und individuelle Wirklichkeit zugleich blicken, in der Hoffnung, dass sie Perspektiven erschließen kann, woraufhin zu leben sei. Das wichtigste Anliegen einer ,Identitätsethik‘ liegt deshalb nicht in der Aufstellung von Normenkatalogen, sondern in der immer neuen Entdeckung einer Lebenswelt, in der Möglichkeiten des Verhaltens erschlossen oder versagt sind. Sie betreffen vor allem das Verhältnis zu anderen, aber auch das Verhältnis zu sich selbst, das mit den Anderen verbunden ist.

6.

Die Erweiterung der Thematik der Ethik um eine anthropologische Perspektive

Die klassische Ethik bestimmt die Ziele des Sollens und auch das Sollen selbst zum Thema und – sofern sie theologisch orientiert ist – die Gebote Gottes. Der Mensch wird dann vor allem im Blick auf seine Intentionen zum Gegenstand. 37 Vgl. Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (1932), Frankfurt a. M. 1974. 38 Im Anschluss an Hans Reichenbach: Erfahrung und Prognose: eine Analyse der Grundlagen und der Struktur der Erkenntnis, in: Ges. Werke, Bd. 4, Wiesbaden 1983. 39 Ohne diese Hinsichten sollte man nicht von ,gelingendem Leben‘ sprechen. Dazu s. Anm. 17. 40 Frei übersetzt aus folgendem amerikanischen Text: „Situations defined as real are real in their consequences“ [aus William I. Thomas/Dorothy S. Thomas: The Child in America (1928) – zit. nach: Gregory Prentice Stone/Harvey A. Faberman (Hg.): Social Psychology through Symbolic Interaction, Waltham, MA u. a. 1970, 154f.]. Dazu Robert K. Merton: The Thomas-Theorem and the Matthew Effect, in: Social Forces, 74/2, 1995, 379–424.

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Das oben zur Situationsdefinition Gesagte41 verändert jedoch den Blick auf ihn: Eine besondere Stellung gewinnt nun die attention42, die Achtsamkeit; sie sollte der intention vorausgehen. Das ist angesichts heutiger kosmischer und evolutionärer Entwürfe von besonderer Bedeutung, denn die ,intention‘ wird von Neodarwinisten aufs heftigste bekämpft.43 Sie interpretieren die umfassende Wirklichkeit der Evolution als einen gigantischen Zufallsgenerator, der die Sinnfrage suspendiert. Aber verantwortliches Verhalten, sei es aktiv oder passiv, kann der Sinnfrage nicht ausweichen, selbst dann, wenn es sich in sinnlosen Situationen bewähren soll. Es steht immer wieder vor der Frage „Wohin das alles?“44 Die ,attention‘ trägt also die ,intention‘; sie legt den Grund nicht nur des persönlichen Ethos und der individuellen Moral. Die Verbindung von ,attention‘ und ,intention‘ wird sich nicht nur intellektuell oder reflexiv ausweisen, sondern sich auch affektiv äußern. Damit wird eine wichtige Fragestellung erreicht: Affekte – bzw. die ihnen offenbar verbundenen Intuitionen – werden häufig gegen analytische und reflexive Wege der Orientierung ins Feld geführt.45 Die Intuition hat ihr Recht, weil viele Situationen kurze und schnelle Entscheidungen verlangen.46 Dann sollte sie jedoch als eine Abkürzung von Verfahren verstanden werden, die im Laufe einer Sozialisation eingeübt wurden.47 Aber sie wird fragwürdig, wenn sie im Kontrast zu differenzierenden Überlegungen verstanden werden soll. Affekte sollten also im Blick auf mitlaufende verschlüsselte Kognitionen verstanden werden. Dieses Argument folgt Sidgwick48, aber nicht Bultmann, der die Liebe gegen die Normen setzen will.49 In der Verabschiedung der Normen könnte die Versuchung liegen, den eigenen Geschmack und die eigenen Präferenzen unüberlegt in den Vordergrund 41 Vgl. dazu Abschnitt 5. 42 Vgl. Iris Murdoch: The Sovereignty of Good, London 1970, 34. Damit wollte Murdoch auch die Zurückhaltung analytischer Philosophen gegenüber der Frage nach dem Guten kritisieren. 43 Richard Dawkins lehnt nicht allein das anthropische Prinzip ab. Richard Dawkins: Der blinde Uhrmacher: Ein neues Plädoyer für den Darwinismus, München 1990. 44 Vgl. Wilfried Joest: Die Allmacht Gottes und das Leiden der Menschen, in: Ders.: Gott will zum Menschen kommen, Göttingen 1977, 140–155. 45 Johannes Fischer : Theologische Ethik: Grundwissen und Orientierung, Stuttgart u. a. 2002, 124–127. 46 Das wurde zuerst von Hermann Lübbe vorgetragen, in: Theorie und Entscheidung: Studien zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg i. Br. 1971. 47 Deshalb wurde bereits oben gesagt, dass Personwerden und Sozialwerden sich gegenseitig bedingen. 48 Vgl. Henry Sidgwick: The Methods of Ethics. Nachdruck der 7. Aufl., Indianapolis/Cambridge 1981, 77–104, 119–195. – Sidgwick galt als Utilitarist, aber er suchte universale Einsichten, die sich vom Hedonismus fernhielten. Auf diese Weise wollte er die Reflexion auf ein explizites Wissen der Konsequenzen einer Handlung einschränken und doch ein Rahmenwissen des Guten festhalten. 49 Vgl. Rudolf Bultmann: Das christliche Gebot der Nächstenliebe, in: GuV I, 228–244.

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zu spielen. Das gilt aber nicht für Bultmann; sein Verständnis der Liebe ist fern vom besinnungslosen Affekt in Massenveranstaltungen und Manifestationen voll politischer Suggestion.50

Aber das hier vorgeschlagene Verständnis des Affekts kann ein überliefertes Verständnis fortführen: Der vor allem von Melanchthon so hoch geschätzte Affekt der Stoiker und Humanisten müsste heute die Gesichtspunkte der ,attention‘ und der ,intention‘ einschließen und so eine verborgene kognitive Komponente enthalten. Sie würde Raum und Zeit mehr oder minder unmittelbar vergegenwärtigen – den Raum, bezogen vor allem auf das körperliche, die Zeit eher auf das geistige Sein. In Affekten kann der Leib Ausdruck des Geistes werden, das Lachen bewältigt eine logisch nicht auflösbare Situation, das Weinen gibt dem, was der Geist nicht auffangen kann, Ausdruck.51 Beim Anderen und bei sich selbst zu sein ist nicht zuerst eine Leistung der analytischen Vernunft, sondern wird sich häufig im Affekt äußern, wenn er als Ausdruck der fundamentalen Befindlichkeit einer Person in ihren sozialen Zusammenhängen verstanden wird. Die Kirchen und ihre Gemeinden bedürfen einer Kultur des Affekts, der aber nicht in einen Moralismus umschlagen kann.

7.

Das Gute und das Naturrecht – zwei fraglich gewordene Konzepte

Die Ethik sollte also dazu beitragen, die Lebenswirklichkeit so zu erschließen, dass Intentionen zum Zuge kommen können, weil sich neue – oder andere – Möglichkeiten des Verhaltens zeigen. Dann fördert sie die Einsicht in die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseinsvollzugs. Das betrifft zunächst das Gute, das oft ein abstrakter Grundbegriff bleibt. Von der Antike bis zur neuzeitlichen Ethik wurden Stufen des Guten erwogen, wobei die niedrigeren Stufen tendenziell von der später entwickelten Erhaltungsethik aufgenommen wurden, während die höheren dem Bereich der Gestaltung zuzuordnen wären. Die Wahl des Guten blieb nach dem älteren Utilitarismus dem jeweiligen Individuum frei, mit ihr wurde eine demokratische und liberale Ethik vorausgesetzt. In der zweiten Generation der Utilitaristen – bei Mill – findet sich jedoch bereits der Grundsatz, dass, jenseits einer gewissen Schwelle der Sättigung mit materiellen, die geistigen Güter einen besonderen Rang gewinnen sollten: „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenge-

50 Dazu s. Anm. 16. 51 Hellmuth Plessner : Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), München 2013.

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stelltes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr.“52 Heute würden wir jedoch argumentieren, dass diese ,höher‘ anzusetzenden Güter, zumal die des Rechts, auf allen Stufen mitspielen, denn es gibt – um ein Beispiel zu nennen – ein Menschenrecht auf Nahrung und gutes Wasser – zwar materiale, aber doch wohl auch transzendentale Güter.53 Nicht nur ein Übermaß an materiellen Gütern kann die Menschlichkeit des Menschen angreifen, sondern vor allem auch das ideologische, sogar oft religiös verbrämte und das politisch usurpierte Gute. Auf diese Erfahrung deutet – allerdings nicht von sich selbst aus – die Geschichte vom Fall des ersten Menschen hin: Die Schlange verspricht eine unerhörte, eine gottgleiche Souveränität der Erkenntnis im Blick auf den Unterschied von Gut und Böse. Sünde ist dann nicht moralistisch zu verstehen, sondern im Sinne einer über den anderen Menschen hinweggehenden Hybris, zu der auch die Hybris der Erkenntnis, wie vom absoluten Punkt herab, gehört. Im Zusammenhang dieser Überlegungen lässt sich auch das Naturrecht neu bewerten. Nach Thomas von Aquin fächert es die zugrunde liegende Natur in die sog. ,inclinationes‘54 auf, die erstens um der Selbsterhaltung willen in allen Lebewesen gegenwärtig sind, zweitens in Form der Generativität Menschen und Tiere betreffen und schließlich in der Suche nach der Wahrheit nur die Menschen angehen. Allerdings könnte mit dieser Stufenfolge die Gestaltung gerade auch der Aktionen und Muster der Lebenserhaltung vergessen werden. Für Menschen muss deshalb die Bindung der ersten und der zweiten Stufe an die dritte gelten. Es gibt keine menschliche Natur ohne Interpretation und ohne Einfluss der Kultur. Mit dem Wandel zur Neuzeit lässt sich ein zeitlos feststehendes Naturrecht nicht mehr behaupten; auch die Natur des Menschen steht zur Diskussion. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Päpstliche Verlautbarungen haben den unbedingten Lebensschutz geboten, der auch für Langzeit-Komatöse gelten soll. Demgegenüber erlaubt der naturrechtliche Ansatz die Frage zu stellen, ob nicht auch die Endlichkeit ein Grundzug der Natur des Menschen sei, der eine mit Hilfe der Medizintechnik errungene – oder erzwungene – Verlängerung des Lebens manchmal fraglich machen könnte.55

52 53 54 55

John Stuart Mill: Der Utilitarismus, Stuttgart 1976, 8. ,Transzendental‘ in dem Sinn, dass sie unabdingbar sind. Thomas von Aquin: STh, Ia–IIae q 92–95. Vgl. die Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Euthanasie von 1980: http:// www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_ 19800505_euthanasia_ge.html (letzter Zugriff: 09. Oktober 2015) sowie ,Gaudium et Spes‘, Abschnitt 27: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/ vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html (letzter Zugriff: 09. Oktober 2015).

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Dann gehören Leib, Seele und Geist nicht zu einer aufsteigenden Ordnung, sondern müssen als Daseinsäußerungen – oder auch Darstellungsweisen – des ,ganzen‘ Menschen angesehen werden.56 Affekte als Ausdruck der Selbstbefindlichkeit, sowie die Reflexion als Grundlage der Ethik bestimmen jeweils das In-der-Welt-Sein, legen das Im-Leib-Sein aus und decken die damit verbundene fundamentale Situation eines Menschen auf. Nur mit und in ihnen gewinnt die Vernunft Gestalt. Sie galt und gilt als das zentrale Thema der abendländischen Philosophie, ja, sogar der Theologie, und wurde als die höchste Fähigkeit des Menschen verstanden. Sie beherrscht insofern auch die gegenwärtige Ethik, als sie die Universalisierung als Probe auf die Geltung allgemeiner, die Humanität tragender Normen vorsieht.57 Aber die auf Universalisierung angelegte Ethik kommt an ihre Grenzen, wenn sich die Reziprozität, die unabdingbar zur Universalisierung gehört, verkehrt oder wenn sie vergessen oder verdrängt wird.58 Die Frage nach dem Guten betrifft auch das Problem des Rangs materieller und ,geistiger‘ Güter und nach deren ,Sitz im Leben‘ eines in und mit Leib, Seele und Geist lebendigen Menschen. Die ,Natur‘ des Menschen, der nach dem Guten fragt, kann nicht mehr wie die ,Natur‘ des vorneuzeitlichen Naturrechts verstanden werden.

8.

Fragliche Unterteilungen des Menschen

Deshalb bereitet die Vernunft ein Problem, wenn sie über der Seele und dem Leib stehen und nicht mit und in ihnen wirken soll.59 Im hierarchisch geordneten trichotomen Schema würde die pervertierende Lust, mit ihr die Sünde und das Böse von unten aufsteigen und Willen wie Vernunft überwältigen.60 Jedoch kann

56 Das gilt trotz der oben geäußerten Bedenken gegenüber der Redeweise von der Ganzheitlichkeit – vgl. Anm. 31. 57 Zwar beruft sich Kant auf den reinen guten Willen jenseits der empirisch wahrgenommenen Befindlichkeit und der Neigungen, aber er lehnt den Suizid aus Gesichtspunkten der Pflicht (!) ab. Also spielt der Leib – nolens volens – doch eine wichtige Rolle. Vgl. den § 4 „Vom Princip der Eintheilung der Pflichten gegen sich selbst“ in seiner ,Metaphysik der Sitten‘, in AA VI, 417. 58 Deshalb prallt die formale Auslegung des ,wie dich selbst‘ am hartnäckigen Faschisten ab, wie das Richard Mervyn Hare in ,Freedom and Reason‘, Oxford 1963, 112ff. gezeigt hat. Der Faschist würde nämlich sagen: Wenn ich der Jude wäre, würde ich der Sonderbehandlung zustimmen. 59 Die kritische Reflexion setzt schon immer eine Verbindung zum Reflektierten voraus, die allerdings nicht ungebrochen ist. 60 Das trichotome Schema kann Vernunft, Willen und Begehren über- bzw. unterordnen oder auch Geist, Seele, Leib.

Ethische Voraussetzungen der Anthropologie

137

bereits die Szene mit der mythischen Schlange61 zeigen, dass sich der Grundwiderspruch menschlichen Seins zuerst am Geist zeigt und in ihm darstellt; dieses Symbol kann sogar die Ideologien der Neuzeit und die Herrschaft einer die Menschen deklassierenden Moral enttarnen. Eine Dialektik, die ihre eigene Auflösung zum Ziel hat, kann diesen tiefen Selbstwiderspruch im Menschen nicht angemessen erkennen.62 Er kann vielleicht nur narrativ artikuliert werden: Das gute Gesetz wirkt als Stachel der Sünde63 ; durch sie muss auch die sorgende und achtende Reflexion auf den Mitmenschen, auf die Grenze des Selbstseins, verloren gehen; selbst die beste Moral kann im Spiel der Macht zur Fassade werden, hinter der sich falsche oder gar nicht legitimierte Herrschaft versteckt. Gerade die Ethik ist vielen Versuchungen ausgesetzt. Die Vorrangstellung der Vernunft lässt allzu leicht die Dialektik menschlicher Existenz übersehen. Aber diese sollte nicht zum Vorwand werden, statt einer äußerlichen eine psychische Herrschaft über Seelen gewinnen zu wollen.

9.

Ein phänomenologischer Ansatz

Die Ethik wird sich nicht nur an Daseinsäußerungen sozialen oder individuellen Lebens oder an Intuitionen binden, sondern sich auch einer theoretischen Herausforderung stellen – nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Philosophie. Beides – Leben und Theorie – sollten jedoch zusammengehören. Die Theorie darf den größeren Zusammenhang nicht ignorieren und sich nicht an transzendental-zeitlose Überlegungen verlieren.64 Und sie hat einen pragmatischen Sinn. Die Phänomenologie gewinnt so einen Vorrang vor Entwürfen, denen ein monistisches Prinzip zugrunde liegt. Sie sollte von Lebenssituationen ausgehen, in denen Prinzipien zunächst kontingent zur Erkenntnis kommen, aber dann einen transzendentalen Sinn gewinnen können. Beide – Theologie und Philosophie – könnten versucht sein, sich auf ein Prinzip zu stützen, das oberhalb konkreter Schlussfolgerungen steht und dessen Vermittlung in die Wirklichkeit konkreten menschlichen Lebens schwierig bleibt. „Gott, der Vater, und der unendliche Wert der menschlichen Seele“65 – in 61 Vgl. das ungeheuerliche Verbrechen in Gen 3,5 (Sein wie Gott; definitiv erkennen, was gut und was böse ist). 62 Hegels transzendentaler Idealismus lebte von der Überzeugung, dass die Widersprüche in die Einheit des Absoluten eingehen würden und dort im negativ-positiven Sinne aufgehoben seien. 63 Röm 7,8f. 64 Das wirft Blumenberg Husserl vor: Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen, Frankfurt a. M. 2006. 65 Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums, hg. v. Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999, 33.

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dieser Fundamentalaussage des Theologen Adolf von Harnack kehrt das alte Modell vom Kosmos außer mir – und zugleich in mir – wieder, aber es lässt offen, ob mit der ,Seele‘ auch eine konkrete leibhafte Existenz betroffen ist. In einer gewissen Analogie zur Phänomenologie steht hingegen der Ansatz Karl Barths, der nicht von Grundsätzen einer natürlichen Theologie ausgeht, sondern den Leser mit der Trinitätslehre konfrontiert. Liest man seine Prolegomena zur ,Kirchlichen Dogmatik‘ als eher narratives Analogon zu einer transzendentalen Grundlegung, so lehren sie, dass Nachdenken hier und jetzt in Situationen unserer Erfahrung niemals von einem einsamen Selbst ausgehen kann, sondern von der schon immer aktuellen Beziehung zum Anderen, jedoch in einer konkreten Situation, denn Gott ist nicht abstrakt.66 Anders sieht es der heute wieder zur Geltung gekommene Schleiermacher, der ebenfalls Grundlagen mit einem transzendentalen Status voraussetzt, die aber nicht mit logischer Notwendigkeit hergeleitet werden können. In seiner ,Christlichen Sitte‘ zeichnet er sehr kurz eine Theorie der Geschichte des Christentums vor, in der Jesu Geist (pneuma) den Logos der Antike beerbt und integriert. Ist das der Geist leibgebundener Kommunikation oder fällt er auf sich selbst zurück? Der Kerntext der neueren Schleiermacher-Rezeption ist wohl die zweite der ,Reden über die Religion‘ mit ihren Aussagen zur Anschauung des Universums – sowohl im Subjekt als auch über ihm.67 Wie steht es jedoch mit der fünften Rede, die wenig beachtet wird, aber auf eine Zeit blickt, in der kein Mittler mehr nötig sein wird?68 Intuitionen und Selbstsein des Menschen schwebten dann in sich; ein Anderer – im Sinne von Levinas69 – würde nicht mehr die apriorisch verstandene Grenze des Selbst bilden.

Wenn die Ethik nicht an erster Stelle ein Tableau von Normen anbietet, sondern die Lebenswirklichkeit erhellen will und ausrichten soll, dann grenzt sie an transzendentale Fragen und an theologische Prolegomena, sofern diese eine ähnliche Richtung einschlagen.

66 Das beweist Barth u. a. in KD IV 1, 55. Er spricht vom Inkarnierten, „[…] hinter dem wir also mit keinem Sohn Gottes an sich, gerade mit keinem logos asarkos, mit keinem anderen als dem fleischgewordenen Wort Gottes zu rechnen haben. Der ewige Sohn Gottes ist nach Gottes freiem gnädigem Willen Jesus Christus, wie er in der Zeit lebte, starb und auferstand, und nur er.“ Barths Entwurf ist also nicht postmodern, nicht ohne ein m¦ta-r¦cit. Zum Letzteren: Jean-FranÅois Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979. 67 Friedrich Schleiermacher : Über die Religion, a .a. O. (s. Anm. 29), 22–74. 68 A. a. O., 167ff. 69 Vgl. u. a. Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers., hg. und eingel. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg i. Br./ München 41999. Paul Ricœur diskutiert das Verhältnis von Ich (Selbst) und Anderem mit Levinas in: Soi-mÞme comme un autre (v. a. 387ff.).

Ethische Voraussetzungen der Anthropologie

10.

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Zwei Beispiele

Auf diese theoretischen Erörterungen sollen zwei Beispiele folgen, die sich mit der Frage, was den Menschen zum Menschen macht, sehr eng verbinden.

10.1 Kann die Menschenwürde mit Hilfe einer essentialistischen Vorstellung70 der menschlichen Natur begründet werden? Nach dieser Theorie, die vor allem in der katholischen Lehre gepflegt wird, wäre die Würde eines Menschen mit der Verschmelzung der Samenzellen wesenhaft gegeben. Die Konsequenzen sind für alle, die sich mit diesem Problem beschäftigt haben, deutlich, etwa im Vorsatz, Schwangerschaftsabbrüche mit Hilfe des Rechts zu verhindern. Als zweideutig oder unzulässig müsste allerdings die Möglichkeit pränataler Therapien beurteilt werden – greifen diese in die Wesensbestimmung ein? Die zu Grunde liegende aristotelische Auffassung (to ti Þn einai) einer in und durch sich selbst geltenden Wesenheit wird aber von der modernen Philosophie nicht mehr geteilt. Wird dann das Urteil der Menschenwürde beliebig? Neben dem Rückhalt in der Wesenhaftigkeit des Menschlichen und der widersprechenden ,Freiheit‘ im Umgang mit ihm gibt es einen dritten Weg, die Menschenwürde festzustellen: das Urteil auf Grund eines transzendental zu verstehenden Zuspruchs: Wir können Menschen als Menschen (und auch uns selbst) nur so begegnen, dass wir sie von vornherein als Menschen annehmen.71 Allerdings bleibt an den Anfängen des Lebens eine Grauzone.72 Die von ihr ausgehende Würde und menschenrechtliche Relevanz würde gerade im Blick auf die Probleme der Rechtssetzung zunächst nur schwach und ambivalent zu erkennen sein.73 Im Blick auf das Ende des Menschen könnte die essentialistische Sicht für ihre Vertreter geradezu gefährlich werden, sofern sie die Endlichkeit 70 ,Essentialistisch‘ ist eine Qualifikation, die gern von Vertretern der Gegenposition, v. a. eines empiristischen Utilitarismus, benutzt wird. 71 Das war Luther beim ,Wechselbalg von Dessau‘ nicht deutlich: Quia ego simpliciter puto esse massa carnis sine anima … (WATR 5, 8). 72 Diese These vertritt Christofer Frey : Pluralismus und Ethik. Evangelische Perspektiven, in: Reiner Anselm/Ulrich H. J. Körtner (Hg.): Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen 2003, 159–177. 73 Dieter Birnbacher vertritt ein schwaches Konzept der Menschenwürde im Blick auf den Embryo: „Kann die Menschenwürde die Menschenrechte begründen?“, in: Bernward Gesang/Julius Schälike (Hg.): Die großen Kontroversen der Rechtsphilosophie, Münster 2011; Ders.: Instrumentalisierung und Menschenwürde. Philosophische Anmerkungen zur Debatte um Embryonen- und Stammzellforschung, in: Jahrbuch der Universität Düsseldorf 2001, 243–257.

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Christofer Frey

des menschlichen Lebens als wesenhaft anerkennen oder sogar anerkennen müssen. Das machte dann so manche lebensverlängernde Maßnahme zweifelhaft. Die Leib- oder Körpergebundenheit menschlichen Daseins bedarf also der Interpretation.

10.2 Auch das Thema der Religion betrifft die angerissene Fragestellung, gilt doch die Religion in neueren Diskussionen – an Durkheim anknüpfend – als ein soziales Apriori.74 Das hat mit dem Leitbild menschlichen Lebens zu tun. Die Verbindung beider Themen wirkt bis in die Ethik hinein. Wir leben immer noch mit und von den Entscheidungen des 17. Jahrhunderts: Spinoza dachte über die eine Substanz nach: Wir seien alle Attribute des einen Gottes. Das hat einen materialistischen Philosophen wie Bloch inspiriert.75 Leibniz behauptete eine Vielzahl von rationalen Substanzen, die in einer kosmischen Ordnung zusammenspielten. Leibhafte Menschen brauchen aber Raum; wie in den beiden Konzeptionen die Raumfrage gelöst wird, möge in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben. Mit dem Raumhaben ist ein gewisses Quantum an Macht verbunden. Diese will sich legitimieren.76Aber geht eine gute Religion – und mit ihr die Anthropologie – nicht darüber hinaus? Schleiermacher benennt einen Grundsatz für alles Verhalten des Menschen: „Alles mit, nichts aus Religion.“77 Religion darf also nicht instrumental gesehen werden. So wird jedoch die mit ihr gesetzte Macht oder Machtkritik nicht kritisch reflektiert. Das kann nur geschehen, wenn sie in und zu sich selbst eine Distanz ermöglicht. Diese scheint in Religionen jedoch nur selten möglich zu sein. Vielleicht gibt es nur zwei Religionen, die eine solche kritische Kapazität in sich tragen: der ursprüngliche Buddhismus, der grundsätzlich der Welt entsagt, und das frühe Christentum, das in seinen Anfängen der Macht mit einer gewissen Gleichgültigkeit und ihrer religiösen Legitimation mit einem Widerspruch begegnet und 74 Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1992, 128. 75 Vgl. Ernst Bloch: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, in: Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1977; Ders.: Neuzeitliche Philosophie I. Von Descartes bis Rousseau. Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1985, 54–117. 76 Nach Max Weber als Herrschaft, nach Paul Tillich als Macht, überhaupt zu sein. Max Weber : Wirtschaft und Gesellschaft, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1956, 157–222; Paul Tillich: Der Mut zum Sein (=GW XI), 1950, 130–131. Dazu: Paul Tillich: Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens (= Tillich-Studien, Beihefte V), hg. v. Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Münster/Wien 2005. 77 Friedrich Schleiermacher, a. a. O. (s. Anm. 29), 39.

Ethische Voraussetzungen der Anthropologie

141

sie damit unterläuft. Dann würde eine selbstkritische Religion den politischsozialen Verhältnissen auch im Widerspruch gegenübertreten und Schleiermachers „alles mit Religion“ zurücknehmen. „Gott als Geheimnis der Welt“78 kann hingegen das Geheimnis des Menschen wahren helfen.

11.

Ein Rückblick

Ein reformatorisch orientierter Ethik-Entwurf würde den Menschen in der doppelten Perspektive von Gesetz und Evangelium erkennen und so die Freiheit im Sinne einer Wendung zum neuen Leben verstehen, das über sich selbst hinaus zum Nächsten führt. Ein naturrechtlich ansetzender Ethik-Entwurf würde nach universalisierbaren Aussagen über den Menschen als Glied der Menschheit suchen. Ersterer zielt auf die Gestaltung und setzt die Erhaltung menschlichen Lebens voraus. Er kann jedoch die Perspektive des Gesetzes isolieren und eine kirchliche Praxis stimulieren, die Menschen in einen Moralismus verstrickt, der die prekäre Freiheit von sich selbst und dennoch zu sich selbst sowie zum Andern erstickt. Deshalb gingen die Argumente auf den vorausgehenden Seiten über dieses Dilemma hinaus und suchten nach den quasi-transzendentalen Grundlagen einer moralisch-ethischen Orientierung, die weiterführende Perspektiven erschließt und vielleicht die Möglichkeit eröffnet, die am Anfang dieses Abschnitts genannten theologischen bzw. auch philosophischen Grundlagen neu zu verstehen.

78 Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1977.

Wilfried Engemann

8. Acquisition of freedom. Focusing on the art of living and the development of the will in pastoral care1 – Aneignung der Freiheit. Lebenskunst und Willensarbeit in der Seelsorge

Summary : The present text presents a discussion between pastoral care and practical philosophy and is therefore linked to the beginnings of Oskar Pfister’s pastoral psychology. It discusses the causes for the widely missing integration of practical-philosophical impulses into pastoral care. The article examines what it means to focus on the art of living within the field of pastoral care and how to work on basic skills, which are essential to living. In other words, how to lead a non-predetermined life under predetermined circumstances. In this context, nurturing an individual’s free and independent will plays an essential role, which in view of specific social-psychological changes in society presents a special challenge. Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag führt einen Dialog zwischen Seelsorge und Praktischer Philosophie und knüpft damit an die Anfänge der Pastoralpsychologie bei Oskar Pfister an. Dabei werden die Hintergründe für die weithin fehlende Integration praktisch-philosophischer Impulse in die Seelsorge diskutiert. Der Aufsatz erörtert, was es heißt, Lebenskunst ins Blickfeld der Seelsorge zu rücken und an Basiskompetenzen zu arbeiten, derer es bedarf, um leben zu können, d. h. unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen. In diesem Zusammenhang spielt die Aneignung eines eigenen Willens eine wichtige Rolle, die angesichts spezifischer sozialpsychologischer Veränderungen in der Gesellschaft eine besondere Herausforderung darstellt.

1.

Basic skills of the art of living

It is surprising that the theory and practice within the field of pastoral care – which is basically geared to the consultation for life’s sake – have been connected, throughout their history, to psychology, sociology and lately also to cultural studies, but have shied away from a dialogue with philosophy. But philosophy is, besides theology, the one discipline, which like no other has embraced the 1 For the English translation edited version of a lecture given at the German Society for Pastoral Psychology (Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie); German original version “Aneignung der Freiheit. Lebenskunst und Willensarbeit in der Seelsorge” published in WzM, Vol. 58, 2006, no. 1, 28–48.

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fundamental questions of a suitable form of human living. We have philosophy to thank for the idea of a skillful discussion of vital questions. Practical-philosophers regard it as their duty to support human beings with living. Pastors choosing the art of living as the topic of a conference presents a good reason to re-establish the dialogue, that stopped about 100 years ago, between (practical) theology and (practical) philosophy – between pastoral care and philosophical context. There are more than enough starting-points for this dialogue. One of them is human’s inspection of themselves, a cultural practice, which is equally rooted in the Jewish Christian as well as the philosophical tradition. Cm_hi seaut|m – Know thyself! –, is the motto of Socratic philosophy. Metamoe?te – Rethink radically, reflect, avail yourself of your leta–moOr, your Meta-reason! –, is the final call to repentance of Christianity in Late Antiquity. Furthermore there is an abundance of philosophical-theological parallels in the quest of the art of living, which I cannot discuss in detail here.2 In this context, one should also think of Jesus of Nazareth, whose gospel does not only contain faith, but also knowledge, which should be useful to life, a certain life-knowledge. And as it should be for a proper “knowledge”, it is taught in a philosophical manner, among other things, in conversation. Jesus chooses teaching as his main occupation.3 His motto goes as follows: “You will be living because I am living” (John 14,19). What this means and how it should be accomplished is not self-evident. To accomplish it, one needs to know a few things: “A man’s life is not made up of the number of things which he has” (Luke 12,15). “Blessed are those who let themselves not be dictated by the ‘Zeitgeist’ – for theirs is the kingdom of heaven” (loose translation after Matt 5,6). “He who is in love with life will have it taken from him; and he who has no care for his life in this world will keep it for ever and ever” (John 12,25). “But let your first care be for his kingdom and his righteousness; and all these other things will be given to you in addition” (Matt 6,33). There is a breakthrough into one’s own life, which cannot be directly attributed to salvation or healing, but to the passing on of a certain life knowledge, which aims at perceiving a previously unknown and more ample scope of action. 2 For further information see Wilfried Engemann: Die Lebenskunst und das Evangelium. Über eine zentrale Aufgabe kirchlichen Handelns und deren Herausforderung für die Praktische Theologie, in: ThLZ, vol. 129, 2004, no. 9, 875–896, esp. 875–879. Apart from these examples a special reference should be made to the analogy between philosophical and religious life practice, e. g. between meditation and prayer. 3 It is mentioned 54 times in the New Testament that Jesus taught (1d¸dasjem). In pastoral theology, the teachings of Jesus were mostly presented as passing on a message to the soul (!). E. g. see Eduard Thurneysen: Seelsorge und Psychotherapie, in: Volker Läpple/Joachim Scharfenberg (eds.): Psychotherapie und Seelsorge, Darmstadt 1977, 137–158, here 151. Given the fact that the message of Jesus aims at a radical rethinking (let\moia) and causes in a man a new understanding of himself, it needs to be noted that this is a clear functional shortening.

Willensfreiheit im Fokus der Seelsorge

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Human beings start to understand themselves and their existence in a new way and to live driven by their meta-reason,4 for which the Beatitudes and other worldly wisdoms do not present the end of reason, but a paradox of successful life. Provided that such teaching has its place in pastoral care, too, one could talk about a teaching dimension or philosophical dimension within pastoral care. The reference to the teaching dimension of Christian religion in this context is not a symptom for yet another neo-kerygmatic sudden feeling of faintness of pastoral care. Instead it reflects the fact that inexperience in questions of selfawareness, helplessness in view of contradicting wishes or unreasonable ideas about a fulfilled life are not illnesses.5 An unskillful life-style does not require healing or alleviation, nor simply forgiveness, but a discussion looking at life and aiming at being able to lead it. This includes strengthening humankind’s self-awareness and thus their faculty of judgment and their ability to make decisions, helping them to assess their desires and to develop a (free) will in order to be able to live. With that said, there are various possibilities to further develop the theory and practice of pastoral care in connection to practical philosophy : Starting with the aforementioned culture of critical self-perception, to the common basic elements in conversation in the field of Socratic philosophy and pastoral care, to the unique, almost singular culture of conversation within a community, as a privileged place to learn about the ars vivendi et moriendi – just to name a few possibilities. One possibility to reawaken this dialogue is to pose the question of the meaning of free will in the life of a man. This question focuses on a topic that has been widely discussed in philosophy, has been dismissed and forgotten by Protestantism, and fallen from view in pastoral care. Oskar Pfister, the founder of pastoral psychology, ascribed such an importance to this question that he dedicated a whole book to it.6 In it he explains what it means, if human beings – in consideration of their outer circumstances7 and their inner, personalityspecific conditions8 – strive to deal9 with their emotions and wishes and to 4 At this point, existential hermeneutics aiming at the understanding of the “Holy Spirit” could be further developed. 5 Preliminary considerations in: Wilfried Engemann: Lebenskunst als Beratungsziel. Zur Bedeutung der Praktischen Philosophie für die Seelsorge der Gegenwart, in: Michael Böhme et.al. (ed.): Entwickeltes Leben. Neue Herausforderungen für die Seelsorge. FS für Jürgen Ziemer, Leipzig 2002, 95–125. 6 Oskar Pfister : Die Willensfreiheit. Eine kritisch-systematische Untersuchung, Zürich 1904. In this book he presents a theory of the freedom of will, which overcomes the false alternative between naturalistic determinism and radical indeterminism. Pfister also examines the principles of naturalistic determinism on the basis of physiological research. His subtle, nonpolemical critique has not lost any of its actuality, in view of the neo-deterministic, philosophical thesis from the field of neuroscience (loc. cit., 130). 7 Loc. cit., 29–115. 8 Cf. loc. cit., 2f., 8, 10, 27f., 135, as well as altogether 115–223.

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practice how to want something. As a result he develops the idea of “organic determinism”, which posits that for any manifestation of will to count as my own, it must be an integral part of my personality and relate to the environment in which I live.10 Why should we occupy ourselves with such questions in pastoral care? One reason is, that the question of a human being’s will touches, in its core, the question of their identity. The will – according to Pfister – “ist meine im Wollen sich betätigende Persönlichkeit”11 [is my personality engaging in wanting something]. Whenever we do things in accordance with our own will, when everything is clearly ‘up to us’, as we say, and when we are ready to give reasons underpinning a certain manifestation of our will, we are wholly ourselves, and we can recognize ourselves in the activities we intentionally engage in. Humans gain profound insight into themselves when they know what they want and what reasons there are for a specific aspiration. Thus they can account for all their doings, unless we need to deny somebody his predictability for very special reasons, for example because he has lost his mind, in other words his ability to want something for a reason and to act according to understanding. Another reason to be concerned with a person’s will in pastoral care is its significance for the question of freedom. Personal freedom and freedom of will belong together – also according to Pfister’s summary12 – as long as we understand freedom not only as freedom of something, but also as freedom to do something – all this stemming from the experience that we are the originators of our own actions and that we understand our future as open.13 If we act as subjects, we are determined in our actions by what we want; and we are unhappy, desperate, despondent – and perceive ourselves as not free –, if we do not manage that. The more we succeed in it, the bigger share of our present we gain, the more we get the feeling of living our life, the more passion enters into our lives, the freer human beings we are. – The more we succeed in “it”? What is this “it” that needs to be mastered? We could call it basic skills of the art of living and thus focus on the following abilities: to discover our wishes, to perceive scopes of action and their borders, to make decisions, to stand up for a wish which as a consequence takes on the 9 Loc. cit., esp. 119–122, 130. 10 Cf. loc. cit., 138, 141. What Pfister describes as “organic determinism” shows many similarities to the concept of “limited freedom” that Peter Bieri developed about a 100 years later. Cf. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien 2001, 27–151. 11 Oskar Pfister : Die Willensfreiheit, loc. cit. (s. note 6), 136. 12 Cf. loc. cit., 12, 29. 13 Because the exercise of one’s own will implies “self-perpetration”, it is – for ethical reasons – very important to Pfister to strengthen the organic “causality of the will”, in other words its connection to the whole person. Cf. loc. cit., 147.

Willensfreiheit im Fokus der Seelsorge

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quality of our will, to weigh possibilities, to give shape to our will, to take the initiative, to step out of the process of pondering into acting. Such basic skills require a lot of things, which can be practiced, acquired and strengthened through pastoral care and consultation: Sufficient knowledge about oneself, self-perception and self-awareness, but also creative imagination, which is needed to develop ideas about one’s own future in the course of a conversation and – last but not least – the appropriation of one’s own will. In the Berlin-based philosopher Peter Bieri’s understanding this signifies the “Gesamtheit der Dinge, die man unternehmen kann” [totality of things, that one can undertake], in order to live according to one’s own will, that is not perceived as alien, but as a will that one wants to have, that one can identify with.14 It is no secret that this can cause problems. They manifest themselves in the impression to do something under coercion and in absence of expectations towards one’s own future – or in the impression of experiencing one’s own actions as alien: “I did not want that.” “I had no choice”. “I did it against my will”. With sentences like these we express that our doings are not in accordance with our self. – Does this have anything to do with difficulties with regard to those basic skills of the art of living? The answer to that question requires a closer look at the term art of living.

2.

Curiosity about the self. The beautiful art to live

My working hypothesis is: The art of living is the art to lead a non-predetermined life under predetermined circumstances by discovering a scope of action and making free decisions based on one’s own judgment, which reflect my own will and determine my behavior. All this can be reached through the analysis of my possibilities and borders on the one hand and my wishes on the other hand. The use of this art is linked to an intensive experience of the present and enables us to lead a life out of passion.15 Let’s have a closer look at the elements of this definition: 1. The predetermined circumstances: The art of living is connected to living with knowledge of my borders. Whatever can happen in my life through me is limited by the circumstances as they are: Starting with the reality the world provides, to my social context, the family situation in which I grow up, to my financial resources, to my individual conditions, for example my talents. These facts lead to a certain determination in my doings; what I can want in 14 Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, loc. cit. (s. note 10), 383f. 15 Cf. the “idea of an action” according to Bieri, loc. cit., 31–36.

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and with my life, I want in relation to prevailing circumstances and not ‘just like that’. The way I behave necessarily bears relation to the circumstances as they are. It would be nonsense to want something regardless of prevailing conditions. Nevertheless it is possible that I am mistaken with regard to these conditions and that virtually I am living ‘under false prerequisites’.16 But prevailing conditions are no determinants. This leads us to the second element of this definition: 2. The non-predetermined life: It would not be possible to predict a person’s life in the year to come and his or her decisions in this or that situation, based on details about his or her marital status, ownership, and talents. This is where our “scope” shows, this free space that requires skill if we want to stimulate it: We cannot do otherwise but to act ourselves under the predetermined circumstances and to show ourselves as willful individuals who are in charge of their own lives. In real life, nobody will ever say “I” in our place and by doing so suspend us from our effective autonomy. Sometimes this is strenuous indeed. “Wie schön wäre es” [How beautiful would it be] – writes Martin Walser –, “wenn man sich allem anpassen könnte. Auf nichts Eigenem bestehen. Nichts Bestimmtes sein. Das wäre Harmonie. […] Ichlosigkeit. […] Aber nein, dauernd muss man tun, als wäre man der und der.”17 [if one could adjust to anything. Not insisting on anything that is one’s own. Not being anything in particular. This would be harmony. […] Egolessness. […] But no, constantly we have to act as if we were this one and that one]. That is precisely it. And we are adding something more: By deciding this or that in the course of our life, by acting one way or another, we do not only pretend as if we were this one or that one; we become this one or that one. 3. Dealing with our wishes: To a certain degree we can express who we are by telling about our wishes: About substantial wishes – they concern family, partnership, occupation, politics – and about instrumental wishes, which reveal something about our favored means and ways to reach our goals. Then there are those wishes, that accompany us like the stars in the sky – wishes that we do not want to tick off ever, on the contrary, wishes whose presence we would miss, if they ever became true. It is necessary to assess and evaluate all these different wishes, to determine to what extent we want to give them room in our lives. Besides, this analysis is also important, because we can only really want what we consider as desirable.

16 Our behavior or our life does not reflect, as is known, the objective conditions, but we behave according to how things are from our point of view. 17 Andr¦ Ficus/Martin Walser : Heimatlob. Ein Bodensee-Buch, Friedrichshafen 1982, 13.

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“Gewolltes ist Gewünschtes, und was sich zu wollen lohnt ist wünschenswert. […] Dass ein Wunsch das Verhalten im Sinne eines Willens zu lenken beginnt, bedeutet, dass ein gedanklicher Prozess in Gang kommt, der sich mit der Wahl der Mittel beschäftigt.”18 [Something wanted is something desired and what is worth wanting is desirable. […] A wish starting to direct behavior in the form of the will means that a thought process has gotten under way, which occupies itself with the choice of means.] One of the most remarkable analogies between O. Pfister’s approach and P. Bieri’s is the emphasis on continuity between the will and a sort of fundamental basic impulse, which can intentionally be strengthened or pushed back by our will. According to Bieri the wish is precursor to will. Pfister describes feeling as “nichts anderes als ein Anfangsstadium der Willensentwicklung”19 [nothing else but an initial stage of willdevelopment].

4. The basis of own opinions: Since there are always several possibilities to act in different situations in life, we try to form an opinion about a specific situation by searching for reasons that tie our will. In the course of this process we do not only use our analytical intellectual capacities. Thanks to our imagination we can anticipate situations and therefore judge in a better way, whether this or that situation ‘suits’ the person that we have become. By using pure intellect on the one hand and fertile imagination on the other, we look at ourselves from a certain distance. If we managed that, then we were ‘able’ to do something. Now it is important that we do not keep this distance, that we do away with this willfully created state of uncertainty of our will, but come to a decision. 5. Coming to free decisions which reflect my own will: Being able to tie our will to certain reasons is an expression of our freedom. An unlimited will without reason would be an accidental, impelled and compulsive will, in any case it would be no developed will, not my own will and neither an instrument of my own freedom, nor a characteristic of my personality. Somebody, who has not been witness to our inner development, who has not noticed the changes in our forming an opinion, somebody, who does not know the interior view of our behavior, maybe tells us one day : “But I don’t recognize you anymore!” This is linked to the fact that when we make this or that decision for our life, we do something to ourselves. After a difficult decision we are someone different than before. As a consequence, who we become is also linked to the decisions that we take in the course of our life. But of course developing a will of our own entails more than just being able to say which inherent wishes we have, or what we would write to Santa Claus, if someday we really had enough time for it. Wanting something means to turn to an option for one’s own life, to give it a form. The art of living therefore entails: 18 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, loc. cit. (s. note 10), 37. 19 Oskar Pfister, Die Willensfreiheit, loc. cit. (s. note 6), 123.

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6. The congruence of wanting and acting: After we have got it clear in our mind what we want, it is important that we also act upon our insight. To the same degree as we manage to do that, we will perceive our actions as free and meaningful at the same time. We can quite possibly live trough experiences with breaks and turns, with wrong decisions, with self-over- and underestimation, but still have the feeling that we are responsible for our actions, that we live in our own time and with open future prospects. 7. Passion and present: Since the continuation of our individual personal-story is open, we can never know beforehand what we are going to want and to do in the end – until the time has come.20 But this preserves our curiosity about life, the curiosity about ourselves, the contact to our current present. “Nichts schafft so intensive Gegenwart wie eine Leidenschaft.”21 [Nothing creates a more immediate present than passion.] The better we manage to want and to do what corresponds to our insight, the more passionate we will live, the more the life that we lead will become a life in which we recognize ourselves. Isn’t the art of living, looked at it this way, the most beautiful art among the fine arts and the secret queen among the artes liberales22, not only an expression of the freedom of humankind, but the instrument of freedom, used out of curiosity about the person that I am becoming by living? How could one not develop a passion for this art? What on earth could keep us from thriving in this metier, what could make us live our life without participation, putting it off and constantly doing things that “actually” we do not want to do? That we cannot answer that by frankly saying “Nothing, of course!” is linked to contradicting experiences, during the course of which we see – with sorrow and resignation, sometimes with anger and self-hatred – that our actions are not corresponding with our convictions. No matter whether we perceive this as an attack against our personhood or not – we then experience ourselves as not free, we feel impelled or forced or overlooked. We get the impression of not living our life but to be in a “geborgte Gegenwart”23 [borrowed present].

20 Still while carrying out an action we can realize that a decision, which is leading us, does not suit the person that we have become. As a result we can judge our possibilities differently and therefore start to want something else. Cf. a corresponding example mentioned by Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, loc. cit. (s. note 10), 77f. 21 Loc. cit., 126. 22 The influence of Christianity on the Hellenistic culture of science led to the following change: the artes liberales were not understood only as a canon of subjects anymore, which a free man could occupy himself with, but more and more the freeing effect of studying the artes liberales on a man’s soul became the centre of interest. Cf. HWR, vol. 1, 1992, 1080 as well as Augustin: De doctrina christiana, II 60. 23 Cf. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, loc. cit. (s. note 10), 127–151.

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Provided that ‘the art of living’ is an expression of appropriated freedom, the art not only to be alive, but to lead a life in relative autonomy, there needs to be a stronger integration of the will as a category of personal identity into the theory and practice of pastoral care. Pastors are becoming the advocates of freedom for a person by helping them to acquire a free will. Thus they contribute to lift a man’s alienation towards his own life. The fact that the skill to develop a free will hardly plays a role in pastoral care has many reasons. Hereafter I want to name a few and link them to a needs assessment for focusing on the will24 in pastoral work.

3.

The free, but exhausted self. The bipolar discourse of pastoral care in the 20th century and the psychosocial challenges of the present

In a certain way the obvious distance to deal with (free) will in pastoral care is linked to the Lutheran dogma of the unfree will,25 or rather to the dreadful reception of this temptingly unclear idea. As interesting as it would be at this point to further discuss the weaknesses of this idea, the aforementioned problem does have deeper roots that go back to the doctrine of creation, to soteriology and to the study of humans: Protestant anthropology, for example, is particularly interested in man as – above all – man in crisis, whereby the individual, allegedly diseased with his own autonomy, seems to be a particularly interesting case.26 There is nothing to say about a healthy personality, which, having escaped sin, death and disease, needs nothing more but to devote itself to life.27 A healed, saved and freed man does not present a fruitful topic anymore. There is a lack of perspectives for an art of living that is more than the overcoming of a crisis. 24 The notion of working on one’s own will is hardly established. It appears occasionally in cognitive psychology or in Integrative Therapy according to Hilarion G. Petzold. The therapy he developed is one of the few forms of therapy that – especially on the basis of the analysis of consciousness – considers the issue of the individual will. Cf. especially Hilarion G. Petzold (ed.): Wille und Wollen, Göttingen 2001. 25 In this context, some problems need to be pointed out, that among other things have to do with the reception of the doctrine of the unfree will. Cf. Wilfried Engemann: Die Lebenskunst und das Evangelium, loc. cit. (s. note 2), 883–885. 26 In particular there is a lack of a positive term of autonomy, in which man’s self-determination is not only played off against God’s will, but in which it forms part of the freedom that man is destined to have. 27 “Rebirth” and “new beginning” are to that effect central categories of therapeutic and pastoral pragmatism. There is certain pretence that the freed self – just after having been born and having taken the first steps – can already dance, live in community with other people and things and lead a life under ever changing circumstances. But this skill needs to be acquired.

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Even if the practice of pastoral care, common here in these parts, cannot be reduced to nonsensical alternatives of salvation and healing, “therapy and annunciation” have been, without any doubt, two decisive focuses, that have shaped the work of pastors down over several generations. In this tradition, on the one hand it was tried to stimulate a healing process together with the client, to overcome crises or to quasi-therapeutically accompany processes of mourning in face of suffering, disease and death. On the other hand, at the kerygmatic pole of the poimenic practice, man has been lead with “law and gospel” to a specific engagement with himself. If things were going well, he realized parts of his own wrongdoing in the actual state of his life and could then possibly have the experience of forgiveness and maybe be convinced that he cannot continue like that. The art of living, however, has hardly been discussed in the bipolar discourse of pastoral care in the 20th century.28 This does not mean that there was no successful fighting for freedom together with the clients and that there were no major improvements in their experience of a more bearable life. On the contrary, the motive of liberation is one of the few indestructible threads that until today holds together the different perspectives of reflection of pastoral care. Nevertheless it comes to attention that it primarily has to do with the liberation and the overcoming of something, with the liberation of sin or the overcoming of feelings of guilt, with the liberation from the superego and the neuroses linked to it. In this context there was a bigger interest for the being able to live again than for the being able to continue to live or the being able to live at all. From a therapeutic point of view it was sufficient that the patient was healthy ; from a kerygmatic point of view it was sufficient that the sinner had been absolved. If somebody experienced both, salvation and healing in the course of pastoral care, it was marked as “successful pastoral care”. With reason! I am way too attached to the therapeutic tradition of pastoral care as to mark the aforementioned possibilities of pastoral acts as unsuitable.29 But what do we do in pastoral care, if there is

28 We find exceptions in those approaches to pastoral care theory, in which the conveying of life competence beyond the overcoming of a crisis is already in sight. In that context I particularly think of the impulses given by Albrecht Grözinger: Geschichtenlos inmitten von Geschichten. Die Erlebnisgesellschaft als Herausforderung für die Seelsorge, in: WzM, vol. 48, no. 8., 1996, 479–487; Heribert Wahl: Seelsorge in der Individualisierungsfalle. Pastorale Zu-Mutungen in der Spätmoderne, in: TThZ, vol. 107, 1998, 262–282; Hermann Kochanek: Die Erlebnisgesellschaft. Eine postmoderne Herausforderung für Seelsorge und Pastoral, in: Hermann Kochanek (ed.): Religion und Glaube in der Postmoderne, Nettetal 1996, 151–218. 29 Referring to the kerygmatic tradition, there are a number of pastoral elements which do not have an imposing character and which can belong – a corresponding theological competence provided – to the repertoire of professional pastors.

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nothing more to treat and if moreover we are dealing with a justified sinner, who on top everything believes that he is justified? A hundred years ago the answer to this question was clear. But not because pastoral care in those times was more professional, but because it was natural to rely on a third dimension of pastoral acting: Besides healing and consolation in view of the suffering man, besides admonition and forgiveness in the face of a sin, there was an emphasis on teaching “in Beziehung auf den irrenden Menschen” [in relation to the erring man], on “didaktische Seelsorge” [pedagogic pastoral care], as Christian Achelis called it.30 On the one hand he supposed that “Unwissenheit” [ignorance] could turn out to be a secret “Macht der Trostlosigkeit” [force of miserableness], on the other hand that “klare Erkenntnis” [clear insight and understanding] is paving the way for consolation. In relation to the realization of the didactic dimension of pastoral care he naturally thought about the pastor’s advice as an answer to the ignorance and the “Zuvielwissenwollen”31 [wanting to know too much] of the person in need of pastoral care. Soon pedagogic pastoral care had a bad reputation. Achelis had in mind to put advice seekers on the right track and to give peace to their doubts – first by teaching catechism, then through his own praxis pietatis, then trough his own testimony of faith. Here the mixing of a pedagogic dimension in pastoral care with a paracletic dimension is already in the making, which has helped during the exposure of its teaching dimension. In the times of the so-called theology of the Word of God, the understanding of pastoral care as an instructive discourse was reduced to a subtle strategy of the instruction of the Word of God and misunderstood as a personal form of the annunciation. This development reached its peak in the 1950s: “Seelsorge ist Ausrichtung der Botschaft des Evangeliums an den einzelnen […] Seelen sollen gerettet werden, wenn Seelsorge geübt wird.”32 [Pastoral care is the telling of the message of the gospel to the individual. […] Souls are to be saved, when pastoral care is being practiced.]Here, the pedagogic interest of an instructive discourse in a philosophical sense – counting on logical thinking and insight, on understanding and rethinking – is not important anymore. The bipolar character of pastoral care has been introduced. From now on it revolves around body and soul.33 Where holistic pastoral 30 Ernst Christian Achelis: Lehrbuch der Praktischen Theologie, Bd. III (Poimenik), Leipzig 1911, 132–157. Achelis falls back upon Otto Baumgarten: Beiträge zu einer psychologischen Seelsorge, in: MkP, vol. 6, 1906, 468–477. 31 Loc. cit., 132f. 32 Eduard Thurneysen: Seelsorge und Psychotherapie, loc. cit. (s. note 3), 144f. 33 Pastoral care “erstreckt sich auf die Ganzheit der Existenz des Menschen” [extends over the entirety of the existence of the human being], i. e. over “Seele und Leib” [soul and body]. Therefore, the pastor “wird also fragen nach den seelischen, aber auch nach den ganz gewiss damit verbundenen körperlichen Ursachen der Verschlossenheit” [is going to ask for the psychological reasons, as well as the connected physical reasons for the taciturnity] of a human being (loc. cit., 148, 150). The understanding of the “Ganzheitlichkeit” [entirety], which has been reduced to the double perspective of body and psyche, is particularly

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care is being discussed, contemplation, collective thinking or forming of an opinion by the individual are not looked at anymore, but it has become about the perception of complex fields of experience, whereby the rediscovering of the human being as a living body and a social being plays an important role.

In view of the subsequently following kerygmatic reduction of the teaching dimension of pastoral care, it is not surprising that in the last third of the twentieth century there was a move away from the idea of imagining pastoral care also as an educational conversation. This meant that the elements of an in effect – not in form34 – consultative conversation well known from philosophical as well as pastoral practice are being put into the service of the art of living: an encounter among equals, raising awareness of problems, bringing into question pre-existing convictions, working on preserving insights, and the demand for changes.35 As far as working on the will is concerned, it would be essential in such educational conversations to enable people, who are driven through life by the chaos of their wishes – wishes that partly originate from One Thousand and One Nights, partly from a conscience controlled by the superego, and partly from the “Willenskitsch” (will rubbish)36 of a TV series – to live according to their own will, for which they are able to give their reasons. These people would have learned something important in life, without having the dull feeling of simply having to apply the knowledge of others to their own lives. It appears to me that the demand for conversations of such kind has largely increased, whereby – due the context of consulting at university – I particularly think of the growing feeling of a loss of orientation among many students on the one hand, as well as of the cultural-sociological and social-psychological diagnoses of society of the past 15 years. Both reveal in their specific way the difficulties people have mastering their lives in a postmodern world: common in the publications of integrative orientated pastoral care (which also includes body-experience and -work), as for example in the early works of Hilarion G. Petzold: Integrative Gestalttherapie in der Ausbildung von Seelsorgern, in: Joachim Scharfenberg (ed.): Freiheit und Methode, Freiburg i. Br./Basel 1979, 113–136, here 119. 34 Examination talks on questions about pastoral care are frequently opened by students with an enthusiastic monologue, in which they state that it is not allowed to give any advice to or to instruct others. The teaching dimension of pastoral care is widely merely known as instructing others. Pastoral care that serves the art of living is, however, always also “instructive”. But this means by no means that one has to give advice in order to be there for someone, in order that the other one leaves the conversation “well-advised”. 35 Cf. Wilfried Engemann: Lebenskunst als Beratungsziel, loc. cit. (s. note 5), 114–125. 36 Cf. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, loc. cit. (s. note 10), 426–428. According to Bieri a kitschy will is a will without “Innenweltgeschichte” [an inner-world story], a will, “den man hat, weil man glaubt, ihn haben zu müssen” [that people have because they think they need to have it] (loc. cit., 426).

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Ulrich Beck talks about a Risikogesellschaft (risk society), in which individuals constantly face the agony of choice and which makes them aware of the risk of life.37 Uncertainty and overload concerning the judgment of risks have become, according to Beck, a fundamental experience of our daily life. The individual is free. People are free to do whatever they want. Against this background the art of living requires to be able to live with risks, and this also includes living with the risk of taking far-reaching wrong decisions. A similar perspective is offered by the theory of the Erlebnisgesellschaft38 (experience society), which puts the individual under continuous time pressure. One could attend so many events, just not at the same time, which leads to an uneasy feeling of probably being “at the wrong party” or “kostbare Zeit mit Uneigentlichem zu verplempern, während irgendwelche beneidenswerten anderen […] den richtigen Riecher hatten”39 [to waste precious time with unessential matters, while some enviable others […] had a good nose for the right things]. According to this, those who manage to consume as many highlights as possible in as little time as possible are most successful. Thus the value of life becomes quantitatively measurable.

For our context a study by Alain Ehrenberg, which was published in German in 2004, is particularly interesting. It starts from the observation that by the start of the 21st century individuals are hardly under the pressure of having to conform to norms of society any longer. The dilemma of having either to adapt to these norms or to rebel against them has become unfamiliar to them. School, friends and even employees constantly call on individuals to be inventive and proactive, to take their own decisions and act on their own responsibility instead of working to the rule. Those who act in a self-determined and autonomous way and who relate themselves to the world in a self-referent manner are considered as being clever and efficient. Not too much but too little individuality makes people outsiders. Bearing all this in mind, Ehrenberg developed the term “das erschöpfte Selbst”40 [the exhausted self]. To begin with, he portrays a change in mental disorders: in the 20th century neuroses that were caused by a conflict between social restraints and personal wishes were the prevalent disorders. However, due 37 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1986. 38 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. 5 1995. More detailed information on the practical-theological relevance of the diagnosis of an experience society in: Wilfried Engemann: Praktische Theologie und gesellschaftliche Realität. Zur Bedeutung der ästhetischen Perspektive, in: Wilfried Engemann: Personen, Zeichen und das Evangelium. Argumentationsmuster der Praktischen Theologie, Leipzig 2003, 213–231, here 218–223. 39 Marianne Gronemeyer : Das Leben als letzte Gelegenheit, in: Michael Schlagheck (ed.): Leben unter Zeit-Druck. Über den Umgang mit der Zeit vor der Jahrtausendwende, Mühlheim 1998, 34–53, here 41–45. 40 Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004.

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to profound socio-economic changes, the demands on the individual have changed, too: being bound to permanent self-reference, individuals have to work hard in order to prove their autonomy to themselves as well as to others, to increase their self-esteem and to be perfect in their self-fashioning. This constant self-preoccupation is exhausting and causes depression – the disease of freedom. People are worn out and tired of persistently having to be themselves,41 despite having been told that the whole thing was so easy, that it would happen automatically, as soon as they can do as they please, as soon as they cross certain boundaries and get rid of all outer influences. Obviously this was a mistake. Within the course of the progressive liberation from social, moral and religious restraints, the self was apparently deprived of that vital conflict that – in the blissful times of Sigmund Freud – resulted from the tension between what was desired and what was allowed, a conflict through which the self grows and becomes a subject. Whereas nowadays, the self cracks up and has to turn to antidepressants, in order not to freak out. These social-psychological diagnoses are well in line with those rapidly spreading relieving messages from brain research, according to which our doings are by no means the result of mature reflection and even much less the expression of a free will. Whatever we do is rather orchestrated and controlled by our limbic system, which is programmed by physical and chemical processes and which has to be regarded as the real cause of our actions. According to this, our behavior is actually determined.42 The alleged evidence for this physicalistic argumentation is brought forward in a language and based on examples that have to do only little with the notions of freedom or unfreedom.43 A lot could be said about associated procedural and reasoning errors that would expose the thesis that our willing is determined as fallacy. Just one remark here: Benjamin Libet’s experimental design is a merely physical one. He bases his results on a series of experiments that are geared to reactive body movements. Libet experiments with ar41 This comes across much better in the French original title of the book (La Fatigue d’Þtre soi) than in the German translation. 42 Even Hitler did what he did because he was “psychisch schwer krank war, […] [und] wie seine kranke Psyche ihm das vorgeschrieben hat” [severely mentally ill and what his diseased psyche dictated him to do]. Gerhard Roth in an interview with Frank Gerbert in: Kants großer Irrtum, in: Fokus, no. 24, June 7, 2004, 142–145, here 145. See also Gerhard Roth: Worüber Hirnforscher reden dürfen – und in welcher Weise?, in: DZPhil, vol. 52, no. 2, 2004, 223–234. The lesson of all these texts is clearly a physicalistic causalism: mental processes are entirely based on physiological causes (cf. loc. cit., 231). 43 Cf. Benjamin Libet: Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, Frankfurt a. M. 2005. Here terms, such as ‘to decide’, originally from the linguistic world of the humanities are being smuggled into the talk about the brain, in order to declare that there are no such things as decisions, a free will or a self, but that the brain, as a secret homunculus, is in control of our wanting and doing (Peter Bieri: Untergräbt die Regie des Gehirns die Freiheit des Willens? Manuscript, March 2005, 9).

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tificially created stimuli without any situational context that amount to totally abstract decisions (such as stretching out one’s hand) and have nothing to do with the conditions of an action.44 To bring up the question of whether we have a free will or not in connection with such an experimental design has to be regarded as scientifically incongruent.45 Because the notion of free will necessarily implies the notion of action, and the notion of decision implies that it is bound to reasons. Weighing reasons against each other is a complex process, which implies taking into account different alternatives – and certainly also perceiving one’s own feelings in view of these alternatives etc. This form of reasoning of brain research is not suited to address the question of the freedom of will or to doubt the notion of a free will, just because a brain participates in the complex decision-making process and brains unwittingly operate on physical natural laws. For the category of freedom it is relevant, “was der Handelnde absichtlich tut, was ihm freisteht und für dessen Ausführung er angemessene Gründe hat”46 [what people do on purpose, what they are free to do and what they have adequate reasons for].

Even more remarkable and significant for the demand for pastoral care dealing with the art of living is the enormous public response these theses have triggered. A great many of popular scientific publications have since then propagated the end of having to think and to will: If my brain being on autopilot does the job that otherwise “I” would have to do “myself” – to painstakingly struggle for decisions – it is much easier to turn to gut decisions, as these “Bauchentscheidungen funktionieren viel besser als alle rationalen Entscheidungsstrategien. […] Denken ist gefährlich, weil man zu viel abwägt, auf zu viele Möglichkeiten kommt”47 [gut decisions work much better than all those rational decisionmaking strategies anyway. Thinking is dangerous, because it means that we consider too many possibilities far too carefully]. Here the baby is not thrown out with the bathwater, the baby is drowned in the bathtub: Because the self is called upon to no longer grapple with alternatives, 44 Benjamin Libet: Mind Time, loc. cit. (s. note 43), 57–122. See also the control experiment by Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt a. M. 2003, 518–528. 45 Loc. cit., 159–199. In fact Libet represents the idea of a moderate determinism by admitting that “die meisten von uns das Gefühl haben, dass wir eine Art von freiem Willen haben, zumindest bei einigen unserer Handlungen und innerhalb bestimmter Grenzen, die uns vom Status unseres Gehirns und von unserer Umgebung auferlegt werden” (197) [most of us have the feeling of being in possession of a sort of a free will, at least in connection with certain actions and within certain limits that are imposed on us by the state of our brain and our environment]. However, what Libet signifies as limitations here, are in fact factors of the necessary conditions of our will, without which it would be neither free, nor unfree, but no will at all! 46 Donald Davidson: Handlungsfreiheit, in: idem: Handlung und Ereignis, Frankfurt a. M. 1985, 99–124, here 114. For more about this debate, see also Jürgen Habermas: Freiheit und Determinismus, in: DZPhil, vol. 52, no. 6, 2004, 871–890. 47 This is the conclusion the mathematician Laura Matignon comes to in a dossier by Heike Winnemuth: Was soll ich bloß tun?, in: Amica, no. 9, 2002, 54–60, here 59.

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but to decide with gut instinct according to their perceived wishes, the exhausting symptom is even increased: the self is continuously kept running by feelings and wishes that come and go just as they want. They – and this is their purpose – drive and stop, torment and please the self. Life becomes one great experience, without any scope of action. It only remains for me to wait and see what happens to me. One wish, one feeling follows the next. My presence loses every depth. I just stumble somehow towards my future. In order to end this condition, I could resort to an antidepressant therapy. But I could also take a closer look at all these worrying feelings and wishes, with the objective of developing and acquiring a free will of my own.

4.

The emerging self and the acquisition of a will of one’s own

One reason for focusing on one’s own free will within the scope of pastoral care is the fact that we cannot help but repeatedly be an issue to ourselves, because we are constantly faced with the question of what we want in life. This is not a merely pragmatic, but a profoundly creative one, provided that – by wanting and deciding on certain things – we do something to ourselves. When we clarify what our will is, we sound out who we want to be and thus work on and with our selfperceptions. Is this expecting too much of the exhausted self ? Let us have a look at what this could be all about.48

4.1

Clarifying one’s wishes and articulating one’s will

“Ungewissheit über das, was man will, [kann] wie ein Gefängnis sein” [Uncertainty about what we want can feel like prison] and can be experienced as a lack of freedom.49 Thus a critical stock taking of our own wishes, of the intentions that determine us, as well as of the ideas and assumptions that guide us has to be regarded as a step into freedom. The content of our will is by no means self-evident or clear. Inasmuch as people change, their will changes, too, as well as their ideas of how they want to live in the long run and the wishes they want to be guided by. Such a change of will can come to light in a time of crisis, when someone experiences that the will they once had does not support them any longer.

48 In the following I refer to the ‘strategy’ for appropriating one’s will outlined by Peter Bieri (cf. Bieri, Handwerk der Freiheit, loc. cit. [s. note 10], 381–415). 49 Loc. cit., 384.

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For example there is this student, in the fourth year of his study of Protestant theology, who seeks advice in order to assure himself whether it is possible that the profession he once chose could suddenly turn out to be the wrong one. He does not know how to carry on, or what will could possibly take the place of the previous one. The faculty and the time he spends there suddenly feel so unfamiliar to him. He senses that something has changed within the ensemble of his wishes – that he has become someone different over the course of the past two years. One could literally feel his embarrassment and his worries to disappoint others as well as his hesitation to give up on a self-perception he has obviously enjoyed – the picture of himself standing at the pulpit in his preaching gown. Now what? Certainly there are many different ways to continue this (also therapeutic) conversation. One possibility would be the concise analysis of his will. (Of course there would have been no sense in committing himself to know what he wants: to complete the degree or to drop out.) Instead we tried to describe his not wanting anymore in as much detail as possible: What is it that you don’t want anymore? Is it the church? Is it the profession, the prospect to go into ministry etc.? In further talks we precisely tried to take into account other aspects of this choice of profession as well as alternative choices that seemed desirable to him, to call into question the reasons for these sympathies, to compare them to previous expectations – and to put into words how reality appears to him in each of the cases gone through: after a possible drop-out, when taking up a new study, in another profession, in (newly understood) ministry. They were difficult talks, because articulating one’s will includes the revelation of life-lies and self-deceptions, of that Sartrian “mauvaise foi”50, those “interessegeleiteten Irrtümer über uns selbst”51 [errors about ourselves directed by our own interests]. The troubles of this young man were at least partly linked to the fact that he was mistaken about his will, which originally strove for appreciation of the religious group he belonged to. By the time of our talks he was about to abandon this piety that had been the main cause many years ago for his desire to enter the ministry and had substantially filled his will. He was not yet aware that the will to become a pastor could be motivated differently and related to a different self-perception. Finally the student developed another relationship to his studies as well as to his profession and it seems that he feels more ‘at home’ in the faculty again.52 50 Cf. Jean-Paul Sartre: L’Þtre et le n¦ant. Essai d’ontolologie ph¦nom¦nologique, Paris 1943, esp. 87, 94, 111. 51 Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, loc. cit. (s. note 10), 387. 52 Pfister put on record: “Ich habe oft gesehen, wie gewaltig der Wille zur analytischen [Mit] arbeit gesteigert wurde, wenn der Klient erkannte, dass es sich um den Kampf mit […] Lebenslügen und unwürdigen Fesseln, um die Durchsetzung der Wahrheit […] handle”

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As a qualified place of dealing with oneself, pastoral care is a suitable place for working on how to articulate one’s will. Therefor the current practice of pastoral care has a whole range of “exercise elements” at hand: I am thinking here of the practice of systemic pastoral care, in which clients are encouraged to anticipate concrete changes in the system they live in, to ‘concoct’ their world for testing purposes, in order to visualize what they really want. Concerning the articulation of one’s own will one could also think of non-verbal symbolic acts, as they exist in gestalt therapy, painting pictures and much else. For a long time psychoanalysis made use of imagination especially as a reproductive means for understanding one’s own personality or experiences in past and presence. Initially the tenor was that happy people do not need to fantasize about anything; reality is their preferred world. However, O. Pfister and later also A. Mitscherlich argued that imagination as a future creating reservoir of perspectives is virtually a productive force that can create new realities.53

If and when people are able to articulate their will, the odds of gaining a new, adequate relationship towards it increase. By knowing what they want, they experience their present as a part of something that extends to the future. Their present is no longer the mere presence of events, that fit their expectations or not. Their experience of time gains depth. It gives it the “Echo eigener Gegenwart”54 [echo of their own present]. Working on the articulation of one’s own will won’t exhaust the “exhausted self” even more, as it aims at the abolition of the infinity of people’s wishes, at the resubjectification of the self. In this process people are encouraged not to let themselves – stimulated by the imperative of experience and consumption – be created a product any longer. It does not allure the exhausted self with a new make-a-wish and want-as-you-please, but helps shape himself.55

[Very often I could observe how the own will was enhanced for the analytic work and collaboration, when the client realized that it was all about a fight with life-lies and unworthy shackles as well as about the assertion of the truth] (Oskar Pfister: Psychoanalyse und Weltanschauung, Leipzig/Wien/Zürich 1928, 89). 53 Cf. Alexander Mitscherlich: Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomatischen Medizin I, Frankfurt a. M. 31968, 131f., 159, 166. 54 Cf. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, loc. cit. (s. note 10), 127–130. 55 Taking up the suggestion developed by Scharfenberg following Pfister, to understand i. e. prayers as an education of desire, M. Klessmann discusses resulting pastoral-psychological aspects. Cf. Michael Klessmann: Das Gebet als Erziehung des Wunsches. Eine religions- und pastoralpsychologische Perspektive, in: PTh, vol. 94, no. 3, 2005, 73–82.

Willensfreiheit im Fokus der Seelsorge

4.2

161

Interpreting wishes and understanding one’s will

People’s unfreedom can be caused by their will being opposed to their understanding and thus appearing unfamiliar to them: “Ihn sich anzueignen bedeutet dann, den Eindruck der Fremdheit aufzulösen, indem man nach einer Betrachtungsweise sucht, die ein neues Verstehen möglich macht. […] Die Anstrengung, das Verständnis des eigenen Willens zu vergrößern, ist oft das einzige Mittel, um eine Lebenskrise zu bewältigen.”56 [To adopt it means to solve this impression of unfamiliarity by searching for a perspective that allows for a new way of understanding. […] The struggle to increase one’s understanding of one’s own will very often is the only way to cope with a life crisis]. As for example when somebody says: “I really don’t understand why I want this or that. It doesn’t suit me at all.” In order to assist this person with clarifying his problem, it is not enough to explain to him that the superego has once again taken control or that the Id has once again outwitted the judgment of the I. It is important to understand the deeper meaning of that wish, to perceive its “verborgene Stimmigkeit”57 [hidden coherence], to realize to what extent it – surprisingly – fits me quite well. In doing so, people might realize that they know much less about the landscape of their own wishes than they are aware of. In order to adopt a will that fits their personality, they have no option but to get things straight concerning the operating system of their wishes. When, and only when people take up this challenge, there is a chance that their previously unfamiliar will becomes more familiar to them through a growing understanding.58 Here, too, it is about people, who are uncertain about their will and thus feel unfree, understanding and realizing the “Logik der Unfreiheit” [logics of unfreedom] and “warum es nötig war, sich etwas vorzumachen”59 [why it was necessary to deceive themselves]. For Pfister dream analysis was a particularly appropriate means to gain an adequate insight into someone’s wishes, in order to come closer to desirable solutions and to overcome conflicting wishes.60 Thereby he argued against the antagonistic tension between wish and reality (in other words between pleasure principle and reality principle). According to him, wishes can definitely serve as ideals for orientation.61 56 57 58 59 60 61

Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, loc. cit. (s. note 10), 384, 388. Loc. cit., 395. Loc. cit., 392. Loc. cit., 396. Oskar Pfister : Wahrheit und Schönheit in der Psychoanalyse, Zürich 1918, 21f. Cf. Eckart Nase: Oskar Pfisters analytische Seelsorge. Theorie und Praxis des ersten Pastoralpsychologen, dargestellt an zwei Fallstudien (= APrTh 3), Berlin/New York 1993, 486.

162

Wilfried Engemann

Whatever people come to know within this process of clarifying their will: The growing awareness that is based on the articulation and understanding of their own will means an increase in freedom. In a way “Selbsterkenntnis [ist] ein Maß für die Willensfreiheit”62 [self-awareness is a measure for the freedom of will]. The detection of conflicting wishes as well as the interpretation of my own wishes enables me to form an opinion about for which reasons I espouse some wishes and stand back from others.

4.3

Judging wishes and affirming one’s own will

As important as it is not to judge the utterances of those who come to seek advice, it is essential to support them in judging their own wishes, in order to enable them to approve their will and to come to their own decisions. The interest in judging my own will can – as is recommended in many self-help books – be driven by an interest to find out, which of my own wishes are a potential source of friction with my environment and which of them are advantageous for an efficient advancement. A little more might be expected of a pastoral conversation. After all, the question of which will I would like to adopt, and which not, again has to do with my personality and self-perception. I want to recognize myself in the will I approve. The appraised and finally adopted will is – eventually – the one I would like to have, regardless of whether it is advantageous or not.63 Whenever something is judged good or bad, moral values are required. One of the values related to working on one’s own will is freedom. Thus, when judging one’s will, it seems legitimate to focus on the question whether the will in question really is an expression of freedom or rather perpetuates the experience of not willfully participating in what happens in one’s life. Is it presumptuous to declare the question of the free will a moral issue of pastoral care? This would mean that the self-perception that someone has acquired within the consultation process, would have to be regarded as part of a developed conscience that could lead to such insights as: “I cannot want that. That’s not me – or rather : that’s not me anymore! The will I have to abandon is not in line with my judgment anymore.” The attitude gained within this process would not be an egocentric one, but a necessary result of a potentially hurtful confrontation that is associated with leaving behind a wrong self-perception. Given the bad reputation of the notion of free will in Protestantism as an allegedly latent slight against God,64 this attitude of solidarity seems all the more important to me. 62 Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, loc. cit. (s. note 10), 397. 63 Cf. loc. cit., 398f. 64 There are still voices that claim that the purpose of pastoral care is to overcome the in-

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163

Although times are over, in which living with a broken will was considered as a virtue in pastoral care, experiences with the exhausted self foster the traditional Protestant ideology that working on one’s own free will is the expression of a selfish, postmodern identity management and thus to be condemned.

The analysis of one’s will can lead to a detection of wishes that no longer fit one’s old self-perception, but still do not feel unfamiliar. Such wishes provoke a reconsideration of one’s self-perception and thus raise awareness of how it has changed over the course of time – of how we have become someone else. In such times, in which we work our way from an old to a new self-perception, it is not possible to tell whether it is more apt to speak of freedom or unfreedom regarding one’s own existence.65 We merely sense that certain changes are in progress, which also affect our will and which only come to rest once we readopt it. Maybe the “Rich Young Ruler” was in a similar situation. Driven by the desire for a fulfilled existence he asks Jesus about eternal life and begins to understand why he has still not arrived in his life: because his goods still take top priority. However, this judgment begins to appear strange to him, he can no longer identify with it. Otherwise he would not have walked away sadly. And what if you have managed to develop the will you want to have? One possible option could be that you are so proud of it that you never ever want to give it away anymore. We can easily fall in love with a will that significantly represents our freedom and want to preserve. However, this would mean to “freeze”66 the results of the previous confrontation with the self and to cease the process of working on the self. This would come close to locking the studio of the art of living, because the freedom, of which we make use in our wanting and doing, is – referring to people and things – a relative and limited freedom. It is not about always wanting the same in future, but about a consistency between our will and the rest of our self, especially in view of the ever-changing content of our will. This consistency is only maintainable or restorable, respectively, on the basis of an ever emerging self,67 that can experience continuity despite wanting different things in different decision situations. educable, egoistic will of the individual and to replace it with the will of God. Cf. recently Jay A. Adams: Nuthetische Seelsorge am System, in: Michael Dietrich (ed.): Der Mensch in der Gemeinschaft, Wuppertal/Zürich, 1998, 209–217, here 211f. 65 “Sich einen Willen anzueignen, ist ein holpriger Prozeß mit Rückschlägen. […] Man gerät stets von neuem in den Strudel des Erlebens, die einen Willens taumeln lassen und dazu zwingen, die Anstrengung der Aneignung zu unternehmen” [To develop and adopt a will of one’s own is a rough process full of throwbacks. One constantly gets caught in a whirlwind of experience that leaves the will tumbling and forces us to take on the effort of adopting it.] (Bieri: Handwerk der Freiheit, loc. cit. [s. note 10], 3, 415). 66 Loc. cit., 408. 67 For more information about the “fluid self” cf. loc. cit., 408–415.

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Wilfried Engemann

In view of the permanent return to freedom that is deeply anchored in Christian faith, it goes without saying that conversations about such questions should find their way into the context of pastoral care. Wherever such conversations succeed, they contribute to people arriving in their own time and their lives gaining in presentness. By the end of the 1920s Pfister argued in favor of a pastoral care that works under the premise of regarding life itself as a piece of art, rather than pondering how art could be instrumentalized for the purpose of counseling. One of the most important elements in this process of continuously working on this piece of art is the “Erziehung des Wunsches” [education of desire], which he considered as the essential task of pastoral care. According to Pfister this task is necessary “für den Gewinn wahren Lebens” [for the gaining of true life] and contributes to “dass das Leben ein Kunstwerk der höheren Ordnung werde”68 [life turning into a piece of art of a higher order].

68 Eckart Nase: Oskar Pfisters analytische Seelsorge, loc. cit. (s. note 61), 517 with reference to Oskar Pfister : Wahrheit und Schönheit in der Psychoanalyse, loc. cit. (s. note 60), 113f., similarly 90, 111f.

Bernhard Kirchmeier

9. “Promotion of life”. Reflections on the intentional character of religious practice1 – Lebensdienlichkeit. Erwägungen zum intentionalen Charakter religiöser Praxis

Abstract: This article deals with issues and problems in the horizon of a specific hermeneutics of religious practice. The core thesis is that religious practice can be understood as a form of recommendation for individual believing. Thus, the article raises the question of what forms of believing could be considered recommendable under contemporary conditions. Overall, it is a plea for a more anthropologically oriented Practical Theology. Zusammenfassung: Dieser Artikel beschäftigt sich mit Fragen und Problemen im Horizont eines Verständnisses religiöser Praxis als Glaubensempfehlung und versucht Auskunft darüber zu geben, welcher Glauben unter zeitgenössischen Bedingungen als empfehlenswert gelten könnte. Insgesamt handelt es sich um ein Plädoyer für eine stärker anthropologisch orientierte Praktische Theologie.

1.

Starting situation

Wherever the Christian belief of an individual expresses itself within his or her real life, something is indicated, something is suggested beyond the factual level, something is advised in the sense of a recommendation. Whoever perceives believing people, their way of living and their religious practice (i. e. their embodiment in the widest sense), is instantly provided with conspicuous possibilities, which could be discovered, experimentally reenacted or adopted as a part of one’s own lifestyle. I write could because a recommendation never forces, but only, explicitly or implicitly, suggests something; hence, in some cases, one will gladly follow the recommendations that are inherited within the religious 1 This article results from the opening lecture of the young academic’s symposium “RELIGIÖS: empfehlenswert? praktisch?” [“RELIGIOUS: advisable? useful?”] at the University of Vienna, 11. 04. 2014, contains preliminary considerations of my dissertation project and was translated by Anna Walchshofer. A more detailed version of my lecture (in German) is published here: Bernhard Kirchmeier : Zweck und Wirkung religiöser Praxis. Ein Plädoyer für lebensdienliche Glaubensempfehlungen, in: idem (ed.), Empfehlenswert und praktisch! Perspektiven junger Theologinnen und Theologen auf die Lebensdienlichkeit christlicher Religionskultur, Leipzig 2015, 11–38.

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Bernhard Kirchmeier

practice of people – in other cases (often for a good reason) not. Besides, an appreciation of the perceptible religious practice of people as recommendation for Christian believing is already established in the New Testament: in the Second Epistel to the Corinthians Paulus interprets his addressees as a letter of recommendation, considers them as a text written by Christ and supposes, that it can be read and understood by everyone.2 My considerations are not only based on an understanding of practical theology as hermeneutics of Christian practice,3 that has to explore the specific, and not the fundamental, constitution of Christian belief4, but also on a certain concept of belief/believing (chapter 2), on a certain theological appreciation of the church (chapter 3), on a certain perspective on human communication processes (chapter 4) and on the important, as well as difficult question of criteriology concerning the evaluation of what should be recommended within a culture of belief – and what should not be recommended (chapter 5). In the end, my considerations lead to a demand on the scientific theology and its disciplines (chapter 6). – It is the aim of this article to turn to the aspects mentioned above in order to show and to highlight the backgrounds and consequences of an understanding of religious practice as a recommendation for Christian belief/ believing.

2.

To exist visually as a human being within a lived-in world – Reflections on the concept of belief

Birgit Weyel assumes that there are various types of individually lived religion, that have not been examined by Practical Theology yet, and have therefore been completely deprived from critical practical-theological reflection so far, which is the reason why she pleads in favour of a ‘visualisation strategy of invisible religion’ in terms of an evaluation of the religion at the individual’s place.5 It is certainly possible to agree with her findings. Likewise, one can also agree with Wilhelm Gräb, who points out that how and to what extent lived religion is or can be visualized depends on the theological perspective one takes; thus, for ex2 2 Cor 3,2f.; cf. for example Ulrich H. J. Körtner : Historischer Jesus – geschichtlicher Christus. Zum Ansatz einer rezeptionsästhetischen Christologie, in: Klaas Huizing u. a.: Lesen und Leben. Drei Essays zur Grundlegung einer Lesetheologie, Bielefeld 1997, 99–135, here 131f. 3 Cf. Michael Meyer-Blanck: Theorie und Praxis der Zeichen. Praktische Theologie als Hermeneutik christlicher Praxis, in: Eberhard Hauschildt/Ulrich Schwab: Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 121–132. 4 Cf. Michael Meyer-Blanck: Theorie und Praxis der Zeichen, loc. cit. (s. note 3), 122f. 5 Cf. Birgit Weyel: “Kenntnis des wirklichen Lebens”. Von der Empirie in der Praktischen Theologie, in: PTh, vol. 97, no. 9, 2008, 328–341, here 338.

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ample, the focus of a theological scientist with a traditional-ecclesiastical approach will tend to narrow, whereas the focus of a cultural theological scientist will probably widen, therefore in the first case less phenomena will be visualized lived religion as compared to the latter.6 Since I endorse Weyel’s demand on the one hand, but on the other hand also share Gräb’s insights, I will first of all outline the theological perspective by use of which I a look at religious practice; this hermeneutical groundwork is necessary in order to be able to reasonably evaluate and assess the visible forms and shapes of lived religion in a second step. The following description of my theological perspective is to be regarded as clarification of (my own) preconceptions.7 First of all I would like to state, that I prefer the German term “Glauben” (belief/faith) to the term “Religion”. I normally do not speak of lived religion (“gelebte Religion”) but of lived belief (“gelebter Glauben”). I appreciate the German term “Glauben”, since this nominalisation of a verb does not only suggest ideas (images) but also behaviours and is theologically as well as secularly connoted. The term “Glauben” connects belief/faith and believing/having faith – fides qua creditur und fides quae creditur. Concerning the current practical-theological critique of the term “Religion” I exemplarily refer to Christian Grethlein,8 regarding the – somewhat pathetically speaking – potential renaissance of the term of “Glauben” I refer to Wilfried Engemann.9 To me, belief in a broader sense can be defined as the relation between picture(s) and behaviour(s) that is accomplished by subjects and that can be considered as the expression of their self-conception; by a Christian belief/Christian believing in the narrower sense, on the other hand, I understand: the lived-in existence of a human being, which is explicitly or implicitly shaped by a relationship of image(s) and behaviour(s) that is accomplished by the subject in the religious system as an expression of his or her self-conception and stands in referential context to Jesus Christ (e. g. in the sense of an ‘imaging image’).10 6 Cf. Wilhelm Gräb: Predigtlehre. Über religiöse Rede, Göttingen 2013, 160f. 7 Cf. Rudolf Bultmann: Das Problem der Hermeneutik (1950), in: idem: Glaube und Verstehen (vol. 2), Tübingen 51968, 211–235; and Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik und Historismus (1965), in: idem: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register (Gesammelte Werke 2), Tübingen 21993, 387–424, here 406, esp. note 55. 8 Cf. Christian Grethlein: Praktische Theologie, Berlin/Boston 2012, 170–175. 9 Cf. Wilfried Engemann: Die emotionale Dimension des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge, in: WzM, vol. 61, no. 3, 2009, 287–299; also idem: Lebensgefühl und Glaubenskultur. Menschsein als Vorgabe und Zweck der religiösen Praxis des Christentums, in: WzM, vol. 65, no. 3, 2013, 218–237, esp. 230–237. 10 This “defining formula” implies a triple reduction (which is also encountered in the thinking of Rudolf Bultmann): an effective reduction, in which God is thought as being primarily experienced through His ministries (“imaging picture”); an anthropological reduction in which these ministries refer to human beings; as well as an aesthetic-hermeneutic reduction in which the effects on people are solely understood as a result of perceptual processes and

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This means, that for me Christian believing (1) is always connected to human beings and their way of living, it is, because of its place, (2) an occurrence within the individuals’ lived-in world, (3) it has to be classed among the context of the social system “religion” in which subjects (inter-)act, (4) does not simply fall from heaven, but is based on subjective signification processes, (5) stands in a context with human self-understanding, (6) can be explained particularly by the inseparable dimensions of form and content and (7) cannot be thought without the conceptual connection of (figurative) extra nos conveyed by Jesus Christ. In order to address the topics of the young academic symposium against this background, for example the particular awareness of an individual to be perfectly “normal”, despite certain differences in comparison to others, can become visual as a form of Christian believing (Urte Borchardt). The same is true when people indulge in certain acts of prayer during a service/mass (Christian Walti), when people proselytize because of certain considerations and insights (Katharina Krause); when someone allows himor herself to take some time out (Franziska Grießer-Birnmeyer); when people grieve because of participating in a virtual culture of memory (Swantje Luthe).

The idea, that people are visualized as believing people before others, because they make themselves visible as such and announce themselves as (Christian) believers and/or are perceived and understood as such by others, leads to the heart of the Christian Ecclesiology how it has been understood since Friedrich D. E. Schleiermacher.

3.

To get sight of and gain insight into each other’s Christian belief – Reflections on the community of believers

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher characterizes church as a community of individual symbolizing action or a community of mutual revelation of Christian religious self-consciousness;11 thus in church service, as the prototypical place of church, people gather in order to mutually put before their eyes their Christian religious self-consciousness, because no one is fully aware of an overall and encompassing notion of Christ12 – i. e. church is regarded as communicatively processes of understanding in terms of an existential-involving self-understanding based on signs in concrete lived-in contexts. – Cf. Hartmut von Sass: Gott als Ereignis des Seins. Versuch einer hermeneutischen Onto-Theologie, Tübingen 2013, esp. 225–227. 11 Cf. Hans Joachim Birkner : Schleiermachers christliche Sittenlehre. Im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems (= TBT 8), Berlin 1964, 114–127, here 114. 12 Cf. Friedrich D. E. Schleiermacher : Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (vol. 2), ed. by Martin Redeker, Berlin 7 1960, 215 (§ 115.1); and also Michael Moxter : Urteilskraft und Intersubjektivität. Zur Eigenart theologischer Reflexion, in: Klaus-M. Kodalle/Anne M. Steinmeier (ed.): Subjektiver

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qualified community, in which people (can) get sight of and gain insight into each others’ belief. I chose the terms to ‘get sight of ’ and ‘gain insight into belief ’, but one could just as well call it the “Circulation des religiösen Bewusstseins”13 [circulation of religious consciousness] or a hermeneutic and aesthetic process of imagination. The act of getting sight of beliefs refers to an aesthetic dimension, which underlies the communication of the gospel: recommendations of beliefs always imply a sensually perceptible representation on the part of those providing signs and cannot be understood without perceptual processes on the part of those reading the signs;14 in other words: church is always characterized by concrete human examples of Christian believing that people (can) get sight of. Schleiermacher’s term of representing action (“darstellendes Handeln”) expresses what this aesthetic dimension of the concept of church means. To Schleiermacher a community of believers is unthinkable without this representing action of believers, who, in doing so, make their Christian religious self-consciousness visible to others; to him representing action is the actual basis of every religious community.15 In this aesthetic dimension of getting sight especially optical visibility16 plays an important role, even though perception and understanding cannot be separated from one another. The act of gaining insight17 refers to the hermeneutic dimension that underlies the communication of the gospel. In ecclesiastical rites and practices people do not only perceive external representations (see above); in the act of understanding they also go through a process of an individual acquisition of what

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Geist. Reflexion und Erfahrung im Glauben (FS Traugott Koch), Würzburg 2002, 25–36, here 33–35. Friedrich D. E. Schleiermacher : Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (Sämtliche Werke I/13), ed. by Jacob Frerichs, Berlin 1850, 201–221, here 216. “Von Schleiermacher bis in die jüngsten Veröffentlichungen zu praktisch-theologischen Fragestellungen hinein ist die Frage nach unserer Wahrnehmung […] das zentrale Thema der Praktischen Theologie. Es ist an der Zeit, die Frage nach der Wahrnehmung von einem impliziten zu einem expliziten Thema der Praktischen Theologie zu machen.” – Albrecht Grözinger : Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995, 65. Cf. Friedrich D. E. Schleiermacher : Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen (Sämtliche Werke I/12), ed. by Ludwig Jonas, Berlin 1843, 147 (Annex B §6). For optical and hermeneutical visibility, cf. Claudia Welz: Menschenwürde, Blickwechsel und Schamgefühl. Ethische Implikationen menschlicher Un-Sichtbarkeit, in: ZEE, vol. 58, no. 1, 2014, 21–39, here: 21.24–29. As insights cannot be caused deliberately but are more likely to present themselves, the term revelation can be regarded as a traditional-theological counterpart to this hermeneuticanthropological term; cf. Ulrich Körtner : Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994, 43–49, here 47.

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(allegedly) was given to understand; in other words: church is also characterized by deep (inner) insights that people generate on the basis of perception. In the context of this dimension of gaining insight hermeneutic visibility is of significant meaning, although in many cases optical visibility plays a role here, too.18 The fact that church is about a mutual perception and understanding of what individual believing is (or seems to be constituted of) and about a mutual presentation of the characteristics of individual believing, illustrates the dialogical dimension of the communication of the gospel as well as the egalitarian dimension of Protestant church. For church service this means that not only ministers are to be regarded as the communicators of the gospel, but in fact all worshippers. More generally speaking this means: all those who believe can become communicators of the gospel in every condition of their life without explicitly having to call into play their own faith; the communicative interaction of believers is not only a necessary but also a sufficient criterion for defining the quality of representing action19 – there is no need for doing or explicitly communicating ‘anything additional’ or ‘special’; after all Schleiermacher emphasizes that believers continue with this representing action throughout all their active life and thus imprint it with a representing character20 – just because; this means: examples of Christian belief cannot only be found where Christian belief/faith is explicitly addressed, but wherever believers are (or can be) perceived as such. Thus church, as the place of mutual sight of and insight into Christian belief, happens also (or precisely because of that) in the context of everyday life, so that church is to be understood (also and precisely) as a phenomenon (in the midst) of the world.21 According to Schleiermacher church is not to be confined to Christian church in the narrower sense; due to its interconnection with Christian belief, as a phenomenon of human life and culture, church is initially not a specifically Christian, not a theological but an ethico-cultural-philosophical-sociological term.22 18 Cf. Claudia Welz: Menschenwürde, Blickwechsel und Schamgefühl, loc. cit. (s. note 16), esp. 21.24–29. 19 “Die christliche Kirche bildet sich durch das Zusammentreten der einzelnen Wiedergebornen zu einem geordneten Aufeinanderwirken und Miteinanderwirken.” – Friedrich D. E. Schleiermacher : Der christliche Glaube, loc. cit. (s. note 12), 215 (§ 115.1). 20 Friedrich D. E. Schleiermacher : Die christliche Sitte, loc. cit. (s. note 15), 536. 21 Birgit Weyel takes that line when she points out that – unlike what strategy papers concerning mission and evangelisation suggest – religious symbolisation that appropriately describes what “gospel” means can be expected outside institutional church, too; cf. Birgit Weyel: Mission oder Kommunikation? Zur prinzipiellen Wechselseitigkeit protestantischer Kommunikationskultur, in: Wilhelm Gräb/idem (ed.): Praktische Theologie und protestantische Kultur (= PThK 9; FS Peter C. Bloth), Gütersloh 2002, 249–266, here 256f. 22 Cf. Hans Joachim Birkner : Schleiermachers christliche Sittenlehre, loc. cit. (s. note 11), 115.

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In practical terms, for homiletics this means: there is no need to explicitly speak about God, to refer to Him and His traces in the world, to name His concrete ministry in life or the parish or to call on Christians to reveal something of their own faith (and much else)23 for the sake of church – in fact the gospel is communicated wherever believers simply live their life; their whole way of life may provide opportunities for me to get sight of (external) beliefs and gain concurrently insight into my own personal believing. This is the reason why Schleiermacher does not feel called upon to accomplish any educational or missionary task. The elevating function24 of the communication of the gospel is always based upon the representing action, so that church always reaches beyond (seemingly) existing borders; in other words: representing action always implies effective expansive action (as well as effective purifying action).25 In the tradition of Schleiermacher the gospel is communicated, Christian believing is articulated in terms of a recommendation and church is realized (anew) wherever people can witness and experience the believing of others. – The systematic theologian Ingolf Dalferth stresses that the gospel is always communicated where (1) Christians simply live their life, where (2) Christians explicitly reveal their life as believer’s life to others and finally where (3) Christians reveal the gospel as the reason for their believing in plain language. Wherever believers make this lastnamed interpretation or symbolization, they communicate the gospel explicitly rather than “merely” implicitly (as in the other two cases mentioned), but in fact not more/less or better/worse.26

4.

To make and adopt recommendations – Reflections on the concept of communication

What has been said so far points to a second problem: My thesis is that wherever Christian belief becomes visible it is a recommendation for individual believing. As making a recommendation is a certain mode of communication, in the following this thesis should be further supported by means of communication theory ; all the more because contemporary Practical Theology is increasingly guided by the central concept of the communication of the gospel. The different, increasingly semiotically oriented communication theories basically agree on the assumption that in referring to something “visible” (i. e. 23 A different position can be found here: Reiner Knieling: Was predigen wir? Eine Homiletik, Neukirchen-Vluyn 2009, 174–177. 24 Cf. Friedrich D. E. Schleiermacher : Die praktische Theologie, loc. cit. (s. note 13), 201–221, here 216f. 25 Cf. Friedrich D. E. Schleiermacher: Die christliche Sitte, loc. cit. (s. note 15), 526. 26 Cf. Ingolf U. Dalferth: Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008, 336.

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the signifier) communicators try to make something “invisible” (i. e. the signified) accessible to others.27 If it is true, that Christian belief becomes or can become visible in life, because it is, in theological language, consistently understood as fides quae and fides qua and not reduced to an “eternal truth” (i. e. fides quae in its purest form, see above), then it is not only possible to (vaguely) communicate about it (i. e. in the sense of a signified), but also through it (i. e. in the sense of a signifier). This means that Christian belief can be practicaltheologically reflected upon as a medium of communication as well as a (potential) content of communication. Furthermore, Christian belief should be reflected upon as an (intended) purpose and (possible) effect of any communicative process; something which practical-theological research has – not only with regard to homiletics – always been interested in; I refer here to the aspect of Schleiermacher’s effective expansive action mentioned above. Bearing all this in mind, communication of the gospel can be understood as the (implicit) attempt of those providing signs to express ‘a Christian belief ’ (signified) by means of their (own, concrete) believing (signifier) in order to ‘bring about’ – what Schleiermacher calls edification – (concrete) Christian belief on the part of those (potentially) reading the sign (purpose). At the very latest now we arrive at the crucial question of contemporary communication science, the question of the intention of communicators.28 With regard to the issue of this article, this question is relevant for two reasons: on the one hand because the author suggests understanding the (religious) practice of people as a recommendation for individual believing and the term ‘recommendation’ already connotes an intentional aspect and on the other hand because the author regards even such personal manifestations as recommendations for believing (see above), in which speakers are not aware of any intentions and certainly do not intend or consciously want to recommend anything to others by behaving in a certain way. The central point of contention concerning the question of intention can be illustrated by outlining and explaining the two most important, competitive positions that underlie this debate in different variations. The first position is: Communication always means intentional behavior and does not exist without the intention of “speakers” (in the broadest sense). According to this position the crucial question mentioned above is answered by a narrower concept of communication; intention is the general criterion for communication. Reading definitions like, for example the one given by Rudi 27 Cf. Wilfried Engemann: Predigen und Zeichen setzen. Eine homiletische Skizze mit Beispielen, in: Uta Pohl-Patalong/Frank Muchlinsky (ed.): Predigen im Plural. Homiletische Perspektiven, Hamburg 2001, 7–24, here 8. 28 Cf. Jo Reichertz: Kommunikationsmacht. Was ist Kommunikation und was vermag sie? Und weshalb vermag sie das? Wiesbaden 2009, 124.

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Keller, who regards communication as intentional behavior that is demonstrated and used in order to signify something to others, emphasizes the essence of this position.29 The second position is: Communication happens already where speakers do not intend to suggest anything, probably do not even speak, but (in the broadest sense) act or behave. The widespread assumption, which is usually traced back to Paul Watzlawick, that one cannot not communicate, illustrates this position.30 One could possibly answer the crucial question mentioned above by arguing that both positions have some merit – however, only when perceiving them as specifically context-related perspectives. Concerning the second position it is to be noted that not every human behavior is eo ipso communication; if actually every kind of behavior really was to be understood as communication, it would make no sense to classify certain kinds of behavior as “communicative”, as everything at any time would have to be regarded as communication;31 thus this position has to be narrowed down insofar, as communication only takes place where the behavior of a certain person (A) is (or can be) perceived by someone else (B) and A is aware of this (potential) perception; only in such a situation he or she cannot not communicate; basically everything that A does in such a situation may be perceived (by B) as communicative behavior or action – whether the corresponding action was intended by A or not32, as the (potential) observer (B) would start to decode (allegedly) provided signs. On the other hand – and this is where the first position comes into play – the (potentially) observed person A will always start to consciously provide signs, once he or she realizes that he or she is (potentially) being observed; as soon as the person starts to consciously provide signs, he or she will (also) pursue a certain purpose and want to influence the other person (B) in a certain way.33 At this point it is important to mention that communicative processes cannot be reduced to consciously provided signs; despite the acting person (A) consciously providing signs in order to pursue certain purposes, he or she simultaneously unconsciously provides further signs; basically all observable behavior can (and will be) understood as signs – which of course includes behavior that is not carried out consciously. To ignore these ‘additional’ and ‘merely perceived’ signs as an 29 Cf. Rudi Keller : Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens, Tübingen 1995, 104f. 30 Cf. Jo Reichertz: Kommunikationsmacht, loc. cit. (s. note 28), 124–132; Reichertz shows that this thesis had already been presented several times before Watzlawick, for example by Jürgen Ruesch and Gregory Bateson. 31 Cf. the objection by Hans Hörmann: Meinen und Verstehen. Grundzüge einer psychologischen Semantik, Frankfurt a. M. 1976, 319. 32 Cf. Jo Reichertz: Kommunikationsmacht, loc. cit. (s. note 28), 132–137, esp. 136f. 33 Loc. cit.; 198f.

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important part of communication would not only mean that the corresponding research was one-sided but also that underlying paradigms of power and doability were to be criticized, as such a view would grant all power of control over the communication process to those providing the signs.34 Thus the first position supports the perspective of the “speakers” or those providing signs: it shows that people, who recommend something simultaneously, always pursue a certain purpose, because they expect positive effects by suggesting certain things as desirable. On the other hand the second position gives more weight to the perspective of the “listeners” or those reading the signs: Every behavior, every act can become a communicative sign where it is perceived (and understood) as such. Theologically responsible homiletics will always have to capture both positions. To ensure that – besides the first position – the second one is captured, too, means – in a homiletic context – trying not to lose sight of the listeners as being part of the communicative process of preaching and correspondingly not to misunderstand homiletics as a science that “only” serves (the interests of) preachers.35 Thus the understanding of communicating the gospel from the perspective of those providing the signs mentioned at the beginning has to be supplemented by the following defining formula: communicating the gospel (also) describes the perception of the (concrete) Christian believing (of others) (signifier) and understanding it as ‘Christian belief ’ (signified) by the sign reading subject with possibly resulting in acquiring it as one’s own, concrete Christian believing (effect).

5.

Test them all; hold on to what is good (1 Thess 5, 21) – On the life-promoting aspects and humaneness of religious practice

Now that the thesis, that (religious) practice is to be understood as explicit or implicit recommendation for believing, has been reflected regarding the aspect of recommendation as communication theoretical question of intention, in the following I shall turn to the question of the evaluation criterion of such a recommendation: On what basis should recommendations for Christian believing, regarded as processes of communication that explicitly (from the perspective of those providing signs) as well as implicitly (from the perspective of those 34 The demand for the author’s death has its place in this context of problem; cf. Umberto Eco: Nachschrift zum Namen der Rose, transl. by Burkhart Kroeber, München 1984, 14; and also Roland Barthes: La mort de l’auteur, in: idem: Œuvres complÀtes. Edition ¦tablie et pr¦sent¦e par E. Marty (vol. 2), Paris 1994, 491–495. 35 Cf. Michael Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre, Tübingen 2011, 6; and Wilfried Engemann: Predigen und Zeichen setzen, loc. cit. (s. note 27), 7–24, here 8–12.

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reading signs) aim at believing, practical-theologically be judged? On the one hand the question of a guiding criterion for the judgment of religious practice as (implicit) recommendation for believing results from the “empirical” experience that Christian recommendations for believing are turned down every day and on the other hand it results from the theoretical determination of the task of practical-theological research to critically support and accompany religious practice. Regarding the first point: Everyone who observes and perceives concrete manifestations of religious practice finds him- or herself asking not only the (semantic) question what it is that he or she is confronted with (“What or which belief is it that I am suggested here?”) but also the (pragmatic) question of how to react towards it (“How do I react towards this recommendation?”).36 The answers to both questions depend on the asking subject and are furthermore openended; open-ended and subjective in the first case not least because of the factual ambiguity of signs in general and in the second case mainly because of the fact that even words of commands have no force by themselves; that even correct, clear and intentional utterances do not always bring about what they intend; in other words: very often speech acts have to be regarded as ‘felicitous’, yet ‘unsuccessful’.37 – This means: wherever recommendations for believing become visible, they will provoke acceptance as well as rejection.38 Friedrich Nietzsche is commonly known as a prime example for not following the implicit recommendations for believing of his fellows and for even vehemently rejecting such recommendations. Whenever he was faced with recommendations for believing perceived in religious people, he came to the conclusion to better not adopt the perceived belief. In this regard a passage from ‘Thus Spoke Zarathustra’ is frequently quoted, in which he states that he would indeed believe if Christians looked more redeemed and sang better songs.39 To me this passage is not simply a matter of ridiculing the Christian culture of belief,40 but the expression of an independent, self-responsible attitude, that culminates in the rejection of perceived concrete manifestations of religious 36 Cf. Henning Luther : Predigt als Handlung. Überlegungen zur Pragmatik des Predigens, in: Albrecht Beutel (ed.): Homiletisches Lesebuch, Tübingen 21989, 222–239, here 233. 37 Cf. Jo Reichertz: Kommunikationsmacht, loc. cit. (s. note 28), 242–246; also Wilfried Engemann: Einführung in die Homiletik, Tübingen 22011, 223–246, esp. 243. 38 Cf. for example Ulrich Körtner : Der inspirierte Leser, loc. cit. (s. note 17), 43–49. 39 Cf. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: idem: Werke in drei Bänden (vol. 2), ed. by Karl Schlechta, München 1954, 274–560, here 349. 40 Cf. for example Ottokar Basse: Von der Meisterung des Lebens / Taufe. Sermon about Romans 12,12 (17. 1. 1993), in: idem: Das Evangelium in Zeit und Ewigkeit. Ausgewählte Predigten (vol. 2), ed. by Ursula Basse-Soltau, Münster 2003, 44–46, here 45; also Eugen M. F. Rosenstock-Huessy : Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen (vol. 4), Heidelberg 1963, 209.

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practice. In my opinion this rejecting behavior is to be understood as the result of a judgment based on reasons. However, then the question is: Upon which “principles” are such judgments of different recommendations for believing explicitly and implicitly based? And: Are these criteria permissible and valid from the perspective of Practical Theology? Regarding the second point: According to Michael Meyer-Blanck Practical Theology derives from Christian Practice and aims at a new, modified Christian Practice.41 – If this is the case, representatives of this discipline will have to strive for a new practice that brings along improvement compared to the older one – or at least not lead to change for the worse. However, then the question is, which ethical or practical-theological criteria can be applied for the judgment of the “quality” of religious practice. Currently there seems to be broad agreement that the theological correctness of theological utterances – as for example in sermons – alone meets practical-theological requirements only to a limited extent.42 The times of dialectical theology, when consistency and conformity of facts were the all-dominating criterion, when “the matter with the facts” had to be considered during practical-theological analysis at all times, seem to be gone.43 Sometimes one gains the impression that nowadays “being life-promoting” has become the prevalent criterion for judging the religious practice of people. But: Is this rather vague term44 really an appropriate criterion? Taking into consideration these two perspectives and partly in anticipation of what will be said below, it is to be noted: ‘life-promoting’ remains – despite the widespread use of this term in the academic context – a contentious criterion for theological judgments and the exact meaning of the term is difficult to capture; at the same time there is hardly any doubt in the academic context anymore that people refer to this very criterion at the marketplace of religious opportunities, in order to opt for or against certain offers of the different cultures of belief.45 The 41 Cf. Michael Meyer-Blanck: Theorie und Praxis der Zeichen, loc. cit. (s. note 3), 124. 42 “Predigen Sie nichts, was Ihnen nichts bedeutet, nur weil es theologisch richtig ist.” – Evangelische Kirche Online: Wilfried Engemann: “Predigt darf kein lauer Kompromiss sein”. Predigen Sie sich selbst, rät der Praktische Theologe, Wien 2012, http://www.evang.at/ themen/nachrichten/detail/article/engemann-predigt-darf-kein-lauer-kompromiss-sein (retrieved: October 9, 2015). 43 Cf. Ulrich H. J. Körtner : Die Sache mit der Sache oder wovon in der Theologie (nicht) die Rede ist. Ein Beitrag zum Gespräch mit Falk Wagner, in: Martin Berger/Michael MurrmannKahl (ed.): Transformationsprozesse des Protestantismus. Zur Selbstreflexion einer christlichen Konfession an der Jahrtausendwende (FS Falk Wagner), Gütersloh 1999, 144–165. 44 “Bei alledem ist der Umstand der Beachtung wert, dass mit dem Begriff des Lebensdienlichen sich nicht die Vorstellung verbindet, es stünde bereits in jedem Falle und in jeder Situation fest, was das Lebensdienliche sei.” – Christian Walther : Eschatologie als Theorie der Freiheit. Einführung in neuzeitliche Gestalten eschatologischen Denkens (= TBT 48), Berlin/New York 1991, 43. 45 Cf. Albrecht Grözinger : Homiletik. Lehrbuch Praktische Theologie (vol. 2), Gütersloh 2008,

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thesis of this article that will be further developed below is: cultures of belief cannot escape from the “play of traditions” (Grözinger) in which people only follow those (religious) traditions that they perceive as gain or support for their lives;46 this is true for the culture of belief called ‘Protestantism’ as well as for the culture of belief called ‘Practical Theology’. This shall now be explained in more detail, by, firstly, clarifying the origin of the term ‘life-promoting’, by, secondly, taking a closer look at its varied, contemporary use and by, finally, outlining my own position. The criterion of promotion of life (“Lebensdienlichkeit”) goes back to Friedrich Nietzsche;47 his well-founded religious criticism is not least to be understood against the background of the question of ‘promotion of life’. Since the beginning of its use in the scientific context, the term, which is usually connoted with subjectivity, is characterized by its peculiar relationship to the term ‘truth’, which is traditionally connoted with objectivity : promotion of life and truth just did not seem to get along with each other ; Nietzsche was often criticized for making the criterion of truth redundant by introducing the criterion of promotion of life;48 accordingly whoever uses the term ‘life-promoting’ today does not seem to be capable of calling something ‘true’. And yet, the criterion of promotion of life as evaluation criterion for the (religious) practice of people – as coined by Nietzsche – can no longer be found in philosophical religious criticism only. It is encountered in (1) the context of sociology and philosophical ethics, in (2) dogmatic concepts and the context of theological ethics, in (3) official statements of church organizations and textbooks for denominational religious education and (4) in the framework of practical-theological reflections that cannot do without perspectives from non-theological areas of science49 and always aim at mediating between systematic-theological reflection on the one hand and empirical culture of belief on the other hand. ad (1): The philosopher Hermann Lübbe interconnects the criterion of promotion of life to the expectation that its application would lead to a pragmatic

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31–36; also Wilhelm Gräb: Die Bibel und die Predigt. Homiletische Hermeneutik zwischen Textauslegung und religiöser Selbstauslegung, in: Wilfried Engemann (ed.): Theologie der Predigt. Grundlagen – Modelle – Konsequenzen (= APrTh 21; FS Bieritz Karl-Heinrich), Leipzig 2001, 323–336, here 324. Cf. Albrecht Grözinger : Homiletik, loc. cit. (s. note 45), 32. Cf. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe III/1, ed. by Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1972, 241–330; and also Kurt Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft. Ein Menü der Sinne nach Kant, Bielefeld 2009, 89, esp. note 81. Cf. Jürgen Habermas: Zu Nietzsches Erkenntnistheorie, in: idem: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt a. M. 21977, 239–263, here 256f. This is proved impressively by the contemporary practical-theological central concept of “communication of the gospel”. Here, a term of the biblical tradition meets a central concept of modern communication theory.

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handling of different – also religious – truth claims, which could eventually bring about a better life.50 In his work ‘Religion und Modernität’ [Religion and Modernity] the sociologist Franz-Xaver Kaufmann immediately refers to Lübbe’s view: He doubts that in the horizon of contemporary individualized and pluralized society it is possible to find any agreement on what ‘good life’ really means and unmasks Lübbe’s point of view as subjective; furthermore Kaufmann points out that the talk of good life and its characteristics (in general) is always based on particular subjective value judgments.51 Kaufmann regards the individual and how he or she understands him- or herself as the essential criterion for what may (or may not) be considered as life-promoting. Since human beings are increasingly deprived of their cultural selection criteria, the individual is more and more thrown back ‘on him- or herself ’ as the criterion for promotion of life.52 – But would that not mean that basically everything could be considered life-promoting that fits the individual’s self-perception – and thus entirely arbitrary? Would that not mean that humaneness and promotion of life were to be understood as synonyms? And: Is it sufficient if the question of validity is ‘merely’ addressed to and answered by individuals, as a question of their own humanity? – Kaufmann’s thesis can be understood as the expression of the special difficulty of the criteriology of promotion of life under contemporary conditions:53 Because humans are deprived of all firm selection criteria they have to, increasingly insecure,54 ‘set’ themselves unstable and basically arbitrary criteria for what could be life-promoting. Peter Ulrich, too, puts the criterion of promotion of life at the center of his ethical reflections, which basically deal with all sorts of human action in the context of economic ethics. To him the criterion of promotion of life is a means for the achievement of higher, literally vital purposes, which are only determinable from the entirety of a subjectively correct, cultivated life practice.55 Thus Ulrich’s reflections reveal what Christian Walther saw as well and what he called the critical function of the promotion of life: the assumption that this term could

50 Cf. Lübbe Hermann: Religion nach der Aufklärung, München 32004, 251. 51 Cf. Franz-Xaver Kaufmann: Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen 1989, 229f. 52 Loc. cit., 261. 53 Kaufmann explicitly refers to the postmodern state of discussion, according to which a transcendental beliefs have become unimaginable. Cf. loc. cit., 260f. 54 Cf. Stuart Hall: Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt (Ausgewählte Schriften 3), ed. and transl. by Nora Räthzel, Hamburg 2000, here 56; and also Jean-FranÅois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (Edition Passagen 7), ed. by Peter Engelmann, Wien 62009, esp. 131–143. 55 Cf. Peter Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, Bern 32001, 208.

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contribute to the differentiation of purposes.56 Furthermore Ulrich illustrates that promotion of life and humaneness are semantically interconnected. According to Ulrich everything that can be expected to positively influence people’s life can be regarded as life-promoting. Focus should be placed on the human being with all his or her needs for self-preservation and quality of life.57 Ulrich emphasizes that thereby the entirety of the individual life has to be kept in sight. This entirety discloses itself only to indivduals; or, more precisely : to living subjects, who always have already had a specific notion of a correct life, since they are faced with the challenge of living their own lives before they are able to reflect upon the entirety of their lives. ad (2): Is it possible that even God’s judgments are based upon the criterion of promotion of life? This question can be asked with reference to the remarkable but also irritating article of Brigitte Boothe and Philipp Stoellger, who suggest that God Himself/Herself, as the sovereign of law, relativized the law on the basis of the criterion of promotion of life.58 In his ethics, Wilfried Härle also refers to promotion of life, though in a less spectacular manner. In the context of his reflections on various forms of living, Härle semantically interconnects lifepromoting and love-promoting, in order to express the special meaning of emotional security, affinity and sexual love for the ethical judgment of forms of living.59 Ulrich Körtner also addresses promotion of life, though he is rather skeptical towards this criterion – not least because of its vagueness. As systematic theologian, he points out that wherever promotion of life is applied as a criterion for the evaluation of the Christian culture of belief, the life-promoting aspects of Christian believing should not be made obvious exclusively through moral, but via the differences between gospel and law.60 Many ethicists and dogmatists use the criterion of promotion of life mostly implicitly and hardly ever explicitly, so that rarely any information is provided, what should be taken into account by referring to the term.61 ad (3): The criterion of promotion of life is often explicitly encountered in official church statements which becomes particularly obvious from a series of thesis, published by the Protestant Church of Kurhessen-Waldeck in 1998 under 56 Cf. Christian Walther : Eschatologie als Theorie der Freiheit, loc. cit. (s. note 44), 42f. 57 Cf. Peter Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, loc. cit. (s. note 55), 11f. 58 Cf. Brigitte Boothe/Philipp Stoellger : Einleitung, in: eadem (ed.): Moral als Gift oder Gabe? Zur Ambivalenz von Moral und Religion, Würzburg 2004, 1–15, here 13. 59 Cf. Wilfried Härle: Ethik, Berlin/New York 2011, 347f. 60 Cf. Ulrich Körtner : Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen 3 2012, 40; cf. also idem: Religion und Gewalt. Zur Lebensdienlichkeit von Religion in ihrer Ambivalenz, in: Adel Theodor Khoury/Hans-Peter Müller (ed.): Krieg und Gewalt in den Weltreligionen. Fakten und Hintergründe, Freiburg i. Br. 2003, 99–124. 61 Cf. for example Hedwig Porsch: Sexualmoralische Verstehensbedingungen. Gleichgeschlechtliche PartnerInnenschaften im Diskurs, Stuttgart 2008, 128–129.

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the title “Was dem Leben dient. Familie – Ehe – andere Lebensformen” [What life serves. Family – marriage – other forms of living together]. In this series, the criterion of promotion of life becomes the central reference point for reflection. On altogether 56 pages, the term is mentioned nearly 30 times and is specifically emphasized already in the preface by Bishop Christian Zippert.62 Promotion of life was also the central criterion for how to evaluate social life in the guidelines published by the Council of the EKD in 1996 under the title “Mit Spannungen leben” [Living with Tensions].63 However, the guidelines published by the same council in 2013 under the title “Zwischen Autonomie und Angewiesenheit” [Between Autonomy and Dependence], which were vehemently discussed to the end, explicitly refer to promotion of life only once, namely where it states that any kind of violence objects the promotion of life.64 The term is, however, encountered much more often in the immediate context of the debate on this document.65 The question of promotion of life also plays an important role in contemporary religious education: one of the learning goals that are mentioned in a commonly used teacher’s manual is that students should develop criteria by means of which the life-promoting aspects of a religion can be determined.66 This corresponds to the thesis of Uta Pohl-Patalong, who states that one of the most central tasks of religious education is to make students understand the lifepromoting aspects of the handed down Christian cultures of belief.67

62 Cf. Was dem Leben dient. Familie – Ehe – andere Lebensformen, ed. by Theologische Kammer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (= Didaskalia 49), Kassel 1998. 63 Cf. Mit Spannungen leben. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema “Homosexualität und Kirche”, http://www.ekd.de/familie/spannungen_1996_3.html (retrieved: October 9, 2015). 64 Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 22013, here 114 (emphasis added by B. K.). 65 Within the official paper of the EKD, where the critical reception of the guidelines is recorded in detail, the term “Lebensdienlichkeit” [promotion of life] is used explicitly in the contributions of Wilfried Härle (2x; 14), Peter Dabrock (2x; 40.42), Ulrich Eibach (5x; 61.62), Alexander Foitzik (1x; 95); all citations refer to: Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Die Orientierungshilfe der EKD in der Kontroverse, ed. by Kirchenamt der EKD, Hannover 2013. 66 Cf. Alfred Weymann: Religion wahrnehmen und deuten, in: Gerd-Rüdiger Koretzki/Rudolf Tammeus (ed.): Religion entdecken – verstehen – gestalten (Werkbuch 11+), Göttingen 2003, 33–45, here 35. 67 “Insofern lautet meine zweite These: Aufgabe des Religionsunterrichts ist es, die Lebensdienlichkeit der christlichen Tradition erfahrbar werden zu lassen.”– Uta Pohl-Patalong: ‘… sed vitae discimus’. Religionsunterricht zwischen Religiosität und christlicher Tradition – didaktische Orientierungen in: IJPT, vol. 11, no. 2, 2007, 173–192, here 186 (emphasis in original).

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ad (4): Many representatives of Practical Theology, including Alexander Deeg, mention ,promotion of life’ as only one criterion amongst others.68 This is, however, different in the branch of contemporary Practical Theology that is strongly influenced by cultural theology. This branch of Practical Theology understands promotion of life as being the crucial point of contemporary, religious needs and makes it the most important criterion for the academic judgment of religious practice. After all it regards the contemporary human being as an individual, who is thrown back to him- or herself, who is the interpreter of his or her own life and as a judging and choosing customer at the religious marketplace, who increasingly resorts to individual life-promoting as evaluation criterion for judging the different offers. What goes along with this image of humanity, is the strengthening of a biography-integrative function of religion (as compared to the traditionally socially-integrative function), as well as the strengthening of the role of the religious subject in a largely economized context.69 Wilhelm Gräb summarizes his position, which is typical for this theology, as follows: “It is more important that the religious contents of interpretation are life-promoting in particular situations of life than that they are free of contradiction. Sermons are being understood and judged according to whether their content seems useful, beneficial and helpful in existentially understandable situations of life.”70

Finally it has to be said that the criterion of promotion of life plays an essential role in the academic as well as the everyday judgment of religious practice; however, what thereby actually is regarded as life-promoting varies to a great extent. Christian Walther points out that what is considered as ‘life-promoting’ differs from case to case and has to be judged individually in each situation;71 which is not only unsatisfactory, but also totally plausible (not to say ‘true’) – not least because of the findings above. Under contemporary conditions it is not (or no longer?) possible to generally define what is to be considered life-promoting always and everywhere, because this question confronts individuals with their own subjectivity and contextuality, i. e. with the factuality of their own human existence. What promotion of life really means can be captured only by moving away from trying to 68 Cf. for example Alexander Deeg: Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik, Göttingen 2012, 501. 69 Cf. Jürgen Schönwitz: Religion – Identität – Bildung. Ein Konzept religiöser Selbstbildung (= Praktische Theologie und Kultur 23), Freiburg i. Br. 2012, 161–165. 70 Wilhelm Gräb: Die Bibel und die Predigt, loc. cit. (s. note 45), 324 (emphasis added by B. K., translated by Anna Walchshofer); German original: “Es kommt darauf an, dass die religiösen Deutungsgehalte […], in einer bestimmten Lebenssituation als lebensdienlich erscheinen, nicht ob sie sich ohne Widerspruch zusammendenken lassen. […] Was die Predigt zu sagen hat, wird nach Maßgabe des in existentiell nachvollziehbaren Lebenssituationen förderlich, dienlich, gut Erscheinenden verstanden und bewertet.” – ibid. 71 Cf. Christian Walther : Eschatologie als Theorie der Freiheit, loc. cit. (s. note 44), 43.

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find a general, ‘scientific’ definition and by questioningly turning to the entirety of one’s own life and what it takes instead. What can be learned from Ulrich and Kaufmann is that promotion of life always refers to individuals, who are challenged to judge what could be life-promoting for their concrete lives; they have to reflect on their existence, consider their lives as a whole and understandingly behave towards it. This is also what Gräb, a prominent advocate of the criterion of promotion of life (see above), means, when he suggests his colleagues within the field of (Practical) Theology, no to impose their standards of criticism in a revelation-positivist manner to lived religion from the outside.72 Nietzsche, who ultimately coined the term “Lebensdienlichkeit” (promotion of life), also emphasized that certain things can only be properly understood by turning to one’s own personal life and subjective experience instead of relying on conventional terms or following the thoughts of others.73 This rise of the criterion of promotion of life, which has started with Nietzsche and goes along with the fall of the criterion of truth, affects the (religious) question of promotion of life itself: It is not possible (anymore) to make ‘true’ generalizations about what ‘life-promoting’ is, but (at most) ‘only’ subjective statements on what could be ‘life-promoting’ in view of my own, personal life. I try to make a virtue out of necessity and present the following position: To me the question of promotion of life, being a subjective question that asks for one’s own personal life and its constitutive conditions and demands, is already ‘life-promoting’ in itself, because it is literally the origin of all opportunities of human life that can potentially be considered as life-promoting; after all it is this question that makes visible what could be life-promoting for the individual. In my opinion the central criterion of promotion of life consists in the individual asking for it. This means that a Christian belief, in which the question of the promotion of life is not asked, because it is e. g. forbidden, can certainly not be ‘life-promoting’. Wilhelm Gräb even goes a step further by arguing that a religious belief that does not ask for the promotion of life anymore is actually no religious belief anymore – but “simply dead“. If under contemporary conditions religious belief is all about giving people the opportunity to gain clarity about themselves and their way of living and about the attempt to control the many dangers of our fragile life as well as the numerous opportunities it entails,74 the 72 Cf. Wilhelm Gräb: Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006, 24. 73 Cf. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, loc. cit. (s. note 47), 323–325. 74 Cf. Wilhelm Gräb/Christian Modehn: Theologie für die Öffentlichkeit? Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Theologe an der Humboldt Universität zu Berlin (21. März 2014), in: Religionsphilosophischer Salon (Online), http://religionsphilosophischer-salon.de/5194_ theologie-fuer-die-oeffentlichkeit-ein-interview-mit-prof-wilhelm-graeb_fundamental-ver nunftig-religios-aus-freier-einsicht-interviews-mit-prof-wilhelm-grab (retrieved: October 9, 2015); Christian Walther : Eschatologie als Theorie der Freiheit, loc. cit. (s. note 44), 44.

Zur Lebensdienlichkeit der Religion

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question of promotion of life has to be an ‘essential feature’ of individual believing. Against this background, all attempts to separate belief from life and to suppress the vital question of what could promote this life are implausible.75 If it’s true that those who practice (Practical) Theology do not only deal with (Christian) belief as a part of certain (contemporary) cultures of belief, but, being ‘practical-theological existences’, actually are themselves believing (as part of a culture of Christian belief that is called theology),76 the fundamental question of religion ‘What is this life that we are supposed to live as humans?’ and the problem of ‘promotion of life’ arise not only on the level of the issue of analysis, but first and foremost on the level of the analyzing subjects.

6.

A postulation

It is up to us as theologians to turn to the different shapes of Christian believing as the expressions of a broad culture of belief, in order to describe, understand and contextualize it – but also in order to (subjectively) evaluate what they recommend explicitly and implicitly on the basis of the criterion of promotion of life. One of the specific challenges, yet very important tasks of practical-theological research is, besides making Christian believing visible, to ask the question: Can such a belief really be recommended in good conscience to others? – A Practical Theology that locates itself at the interface of perception and action science and critically and reflectively supervises the activities of church and its believing subjects,77 may never forsake this task; however, to fulfill it, it depends on subjects who are considerate of the entirety of their Christian life. With that said I argue in favour of practical-theological research that takes a closer look at anthropological problems when reflecting on its subject; that is not afraid of drawing on insights from neighboring disciplines for this purpose; that perceives itself as a contextually conditioned communicative process between concrete subjects that participate in the different cultures (of belief) through their own life rather than as an abstract discipline; and that deals with the implicit character of recommendation for contemporary Christian believing in all its facets in an increasingly critical-reflective way.

75 For a different position cf. Michael Korthaus: Kreuzestheologie. Geschichte und Gehalt eines Programmbegriffs in der evangelischen Theologie (= BHTh 142), Tübingen 2007, 218. 76 Cf. Martin Harants: Religion – Kultur – Theologie. Eine Untersuchung zu ihrer Verhältnisbestimmung im Werke Ernst Troeltschs und Paul Tillichs im Vergleich, Marburg 2008, esp. 27. 77 Cf. Klaus Raschzok: Kunstlehre der Gestaltung des Glaubens, in: Georg Lämmlin/Stefan Scholpp (ed.): Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen/Basel 2001, 297–315, here 307.

Teil II: Workshops und Statements / Workshops and Statements

Thomas Hirsch-Hüffell

10. Liturgische Körper: Arbeit am Gottesdienst. Überlegungen im Rückblick auf einen Workshop1 – Liturgical bodies: Working on worship services. Retrospective reflections on a workshop

Zusammenfassung: Im Gottesdienst zeigt sich alles: die Kirche, der Mensch – und das, was „klemmt“. Man merkt es an den Formen und Körpern intuitiv – und an den gelesenen oder gesungenen Texten explizit. Im Workshop wurden gewissermaßen in Zeitlupe konkrete liturgische Passagen erprobt, und es wurde nach ihrer Wirkung gefragt: Was lässt aufatmen, was bedrückt? Und woran liegt es jeweils, dass es so ist? Am Menschenbild? An der Stimme? An Gott? Eine Gelegenheit, neu ins Innere geistlicher Vollzüge zu schauen. Abstract: Through worship services everything becomes apparent: the church, the people and where it “snags”. Intuitively it is noticed by forms and bodies, explicitly it shows by the texts that are read and sung. During the workshop concrete liturgical passages were put to a test virtually in slow motion and were queried concerning their effects: What is it that relieves us, what is it that afflicts us? And what are the reasons therefor? The conception of human beings? The voice? God? An opportunity to take a new look inside spiritual processes.

1.

Zur Person

Gottesdienst aller Art lebt von den Menschen, die ihn teilen, leiten, feiern. Die exponierten und die mitgehenden Personen begeben sich mit ihrer ganzen Figur in diesen verdichteten Raum symbolischer Handlung und deutender Rede. Damit sind sie selbst liturgische Ausdrucks-Körper mitsamt ihren wechselnden Zuständen. Sie stecken einander an mit Affekten aller Art, mit Konzentration oder Langeweile, Freude oder Depression. Wie von dem Arzt Prof. Joachim Bauer ausgewiesen, kann man diese ,Ansteckung‘ biologisch durch die Anregung der sog. Spiegelneuronen erklären. Das zieht dieses Phänomen aus dem Bereich des esoterisch Spekulativen. Man weiß längst, dass aus Reiz und Reaktion, Gegenreaktion usw. eine Dynamik entstehen kann, die ihrerseits eine Art

1 Der Vf. hat während des Kongresses einen Workshop angeboten und fasst im Folgenden die Grundideen dieser Veranstaltung zusammen.

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Thomas Hirsch-Hüffell

Eigenleben entfaltet. Diese Regungen sind nicht Thema des Gottesdienstes, aber sie wirken in hohem Maß – oft mehr als die gesetzten Inhalte. Die Übungen und Forschungen zur liturgischen und geistlichen Präsenz gelten Gruppen und Einzelpersonen. Diese Disziplin nimmt ernst, dass alle Beteiligten sich prinzipiell mit ihrer spirituellen Haltung sichtbar für andere aussetzen – dies aber graduell verschieden. Sie verlassen die Intimität der privaten Frömmigkeit bewusst, sodass man ihnen ,beim Frommsein zuschauen‘ kann. Der klassische Raum der Prozessionskirche schützt die Gläubigen vor zudringlichen Blicken, indem er alle nach vorn ausrichtet, aber er exponiert umso mehr die frontal agierenden Personen. An ihnen soll sichtbar und spürbar werden, ,wie man geistlich ist‘. Die Leitenden sind stellvertretend und ausgesetzt fromm. Von ihrer Art, temperamentvoll, langsam, schlicht, üppig, nervös, bewegt zu agieren nimmt die fromme Seele in der Bank das menschlich-geistliche Muster ab, das in diesem Raum gilt. Und das überträgt sich nicht nur durch die Worte, sondern oft sehr viel schneller, direkter und unbewusster über den Körper. Allein die Stimme bereitet z. B. Wohlbehagen, Kopfweh, Nervosität o. ä. Der körperliche und mentale Zustand der Leitung ist also ein wichtiges Instrument. Es kann umfassend von Freude gesprochen worden sein, aber die führenden Personen waren dabei müde, und es wird als Ergebnis Müdigkeit aus dem Raum getragen – oder Ärger über die Müdigkeit oder Einverständnis oder was immer, aber wenig Freude. Die Arbeit an den Personen will diese Zustände bewusster machen und nutzen. Denn unbewusste Mentalitäten können der ,Sache‘ schaden, egal welche es sind; sie können den Inhalten ,ins Wort fallen‘. Besser agiert, wer weiß, was er tut und wie er wirkt. Das gilt ja nicht nur im Gottesdienst. Ein wesentliches Element ist die Reaktion der übenden Gruppe (Vikarinnen und Vikare, Pastorinnen und Pastoren, Ehrenamtliche) auf im Labor präsentierte liturgische und homiletische Stücke. An ihnen kann sich die Protagonistin orientieren. So genau wie von dieser ,Laborgruppe‘ bekommt sie sonst selten Auskunft in der Gemeinde. Aufgrund der Resonanzen kann jemand also Haltungen korrigieren und versuchen sie dem Inhalt anzupassen. Das heißt sich von außen nach innen formen zu lassen. Oder sie kann die momentane persönliche Stimmung bewusst aufnehmen und in eben diesem Zustand eine Geste, ein Wort oder einen Gesang zelebrieren, also von innen nach außen ein vorgeformtes Teil ,einfärben‘. So entsteht in beiden Fällen mehr Kongruenz. Und die wird in der Regel als befreiend erlebt – allein schon deshalb, weil man als Hörer die Diastase aus Befindlichkeit und Aussage bei der Pastorin nicht mühsam kompensieren muss. Die Übungen erlauben weiterhin, geistliche Aspekte im Raum abzubilden. Jemand kann sich z. B. beim Segen hinter die Agierende stellen und sie unterstützen. Mit etwas Fantasie kann man sich diese Figur als eine Art ,Engel‘ vor-

Liturgische Körper

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stellen, die den mit den Händen segnet, der seinerseits die Gemeinde segnet. So wird die spirituelle Logik in diesem liturgischen Teil etwas deutlicher : Der Segnende gibt weiter, was er gleichzeitig empfängt. Das alles ist als übendes Verfahren bekannt aus den darstellenden Künsten. Neu ist, dass Gottesdienst-Leitende sich in großer Zahl dem interessiert aussetzen und daraus Gewinn für ihre Berufs- oder Rollenidentität ziehen. Man kann das ausweiten zu einem Lehrgang in Mystagogie (z. B. nach Manfred Josuttis) oder es einfach als Handwerkszeug auffassen. Im Ergebnis zieht der so gebildete Geistliche keine neuen Massen an, nur weil er oder sie virtuoser zelebriert. Aber die eigene Zufriedenheit wächst und meist auch die der Gemeinde. Jedenfalls kann man merken: Frömmigkeit ist nicht zweigeteilt, sondern sie hat einen kongruent agierenden liturgischen Leib. Und es besteht die Chance, dass im Raum des Gottesdienstes nicht nur etwas behauptet oder zitiert wird (,Freude!‘), sondern dass es im selben Raum eintritt. Das wäre an vielen Orten eine neue Erfahrung.

2.

Zum Raum

Der Raum ist ein anderer wesentlicher liturgischer Körper. Er prägt das Geschehen mindestens so stark wie die Personen. Der Raum ist zu Stein geronnene Theologie bzw. Ekklesiologie. Ob man direkt oder indirekt kommuniziert beim Gottesdienst, in welchen Abständen man vom Zentrum sitzt, welche Gebets- und Gesangsrichtungen u. a. durch den Raum festgelegt sind – all das prägt die geistliche Praxis spielentscheidend. Seit ca. 30 Jahren, also ähnlich lange wie um die Wachheit des geistlichen Personals, kümmert sich die Evangelische Theologie um Begründungen für Raumkonzepte – auch weil Kirchbauten neu genutzt oder umgebaut werden (müssen). Der frontale Aufbau des Raums mit seiner hierarchischen Struktur und seiner Distanz zum Zentrum ist der im Kirchenbau vorherrschende. Er erlaubt einfach zugängliche und altbewährte Meditation. Man kann auch für sich allein sein, selbst wenn andere da sind – ähnlich wie im Wald. ,Dasein‘ ohne Leistung oder Beobachtung ist eine Sehnsucht, der dieser Raum entgegenkommt. Man nähert sich – so die Logik der Prozessionskirche – durch das Schiff von hinten nach vorn dem ,Heiligen‘ an – das tut auch die Liturgie durch ihren Eingangs- und Wortteil bis hin zum Mahl, das die größtmögliche Nähe zelebriert. Faktisch sitzt man aber fixiert auf Abstand. Wenn sich fünf bis 30 Menschen im 100-Menschen-Kirchenschiff in homogener Dichte verteilen und auf freier Platzwahl bestehen, dann muss die Frage erlaubt sein, ob das noch Sinn macht. Gemeindegesang ist z. B. dann kaum noch

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Thomas Hirsch-Hüffell

möglich. Diese Form wird aber als so selbstverständlich empfunden, dass allein die Frage irritiert, ob man auch anders sitzen und damit ein anderes Bild von Gemeinde (und von Gott) abbilden könnte. Jahrhundertealte Gewohnheiten nordeuropäischer Frömmigkeit wirken. Hier gibt es noch viel zu entdecken. Das ist ein Generationenprojekt. Einige weitere Andeutungen im Hinblick auf den Raum mögen hier genügen. Manche Gemeinden haben sich bereits (mindestens in der Winterkirche) auf den Weg gemacht. Um es deutlich zu sagen: Die Frontal-Form ist sinnvoll. Es wird sie zu Recht immer geben. Wenn Gemeinden aber keine anderen Raum-Formen denken können, die ihrer und der Wandlung im Gottesbild auch entsprechen, dann ist es bedenklich.

Tabellarischer Überblick der gängigsten Raum-Konzepte – Der frontale Aufbau der Sitzanordnung. Bänke stehen ausgerichtet nach Osten, dem Ort der aufgehenden Sonne – gleichbedeutend mit dem auferstehenden oder wiederkehrenden Christus: Orient – Orientierung. Diese Ordnung deutet das ausstehende Heil an und provoziert den Gestus von Ehrfurcht vor dem Unzugänglichen und Erwartung in Gesang, Anbetung und Ausrichtung ,nach vorn‘ oder gar ,nach draußen‘ in die Ferne der ausstehenden Ankunft. Diese Anordnung inszeniert Abstand. Es gilt eine klare Hierarchie der Werte: Was vorne ist, ist wichtiger als das hinten. Deshalb setzen sich Leute in solchen Kirchen instinktiv nach hinten. Gleichzeitig ordnen die Bänke den Raum so zwingend, dass es kein Ausweichen gibt. Das diszipliniert und entlastet – und ergibt bei ungeübten Menschen oft den Eindruck, man werde hier ausgerichtet und indoktriniert. Die Distanz zwischen hinten und vorn hat eine Entsprechung untereinander : Man schaut sich bei der Glaubensausübung nicht zu, sondern nimmt einander eher indirekt wahr. Der Mitchrist dient meiner Erbauung nicht oder nicht direkt, höchstens dadurch, dass er gekommen ist und im Gesang. Klassisches Argument: „Das ist auch gut so, das würde mich nur ablenken, wenn ich andere genauer sehen könnte.“ – Der Aufbau im Halbkreis deutet die Präsenz des Heils (meist durch den Altartisch bezeichnet) in unserer Mitte an – bei offener Haltung hin zum Unverfügbaren dahinter (Kruzifix, Fenster usw.). Das inszeniert Halbdistanz. Menschen reagieren darauf instinktiv mit der Platzwahl weiter vorn. Nach vorne hin ist auch Aufbruch denkbar. Gleichzeitig kann von da etwas einfallen. Man nimmt die anderen und sich darin deutlicher als Gemeinschaft wahr. Die Mitchristin kann mir möglicherweise durch ihren liturgisch mitagierenden Körper zur Erbauung dienen. ,Das Heilige‘ rückt näher und gerät

Liturgische Körper

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eher in eine Art ,Wohnzimmer-Atmosphäre‘. Es ist habhafter, kleiner und provoziert weniger Ehrfurcht. Man muss anderen gelegentlich beim Glauben zusehen und kann dadurch abgelenkt werden. – Der Kreis feiert das Heil in der Mitte, fokussiert die Gemeinde und hält das Unverfügbare quasi über allen offen – meist in entsprechend konstruierten Kirchen durch einen Lichtschacht über dem Altar. Das inszeniert Nähe – auch Nähe zueinander. Ihm entspricht ein Gottesbild, das uns aus der Mitte eint (z. B. im Mahl). Die symbolisch dargestellte Transzendenz ist auf der horizontalen Ebene schwer zu ermitteln. Da sitzen andere Menschen neben dem Altar. Kreisräume lösen das gelegentlich, indem sie über der Mitte den Raum als Kuppel oder Zelt aufsteigen lassen. – Die Ellipse hält die Spannung offen zwischen rechts und links, zwischen vorn und hinten. Altar und Ambo auf den Brennpunkten der Ellipse zeigen die Polarität und Einheit von Wort und Sakrament. Diese Anordnung inszeniert Dialog innen und außen. Das Bild der Gegenwart Gottes ist der Dia-Logos, also das trinitarische Gespräch, in das man als Gemeinde gerät. Das ist eine spannungsreiche Figur, die Vertrautheit mit dem Heiligen voraussetzt und fördert, es aber gleichzeitig in einer Art fließenden Hin- und Her-Prozess darstellt. Man trifft sie in Predigerseminaren und anderen konventikelartigen Versammlungen. Die Hierarchie ist hier fast aufgehoben. Die katholische Kirche in Westerland auf Sylt ist als ,Schiff-Ellipse‘ gebaut und hat in der Mitte – außer Ambo und Altar – ein begehbares Taufbecken in der Erde. Ein Beispiel von Neuorientierung des Raumes und im Raum ist die „Kirche der Stille“ in Hamburg (www.kirche-der-stille.de). Man hat diese Kirche 2008 verkürzt, neu zentriert, alle Sitzmöbel herausgenommen und die Erde als Platz eröffnet. Man kann Stühle oder Kissen nach eigener Wahl aufstellen. Von ca. 300 Erziehenden (u. a. aus Schulen und KiTas), die dort in Methoden für Stille mit Kindern unterrichtet wurden, äußerten sich ca. 250 ungefragt sehr angetan über die Freizügigkeit dieses Raumes. Hier ,müsse‘ man ja nichts, sondern hier ,dürfe‘ man sein. „So ist Kirche schön für mich!“ Etliche nutzen den Ort nun als ,ihre‘ Kirche, kommen auch außerhalb des Dienstes wieder, begehren Taufen usw. Bislang haben die kirchentreuen Menschen mit ihrer (meist distanzierten) Frömmigkeit das frontal orientierte Raumerleben geprägt. Ein Erlebnis wie das in der Kirche der Stille zeigt: Es gibt offenbar eine ernst zu nehmende Zahl von Menschen, die berührt und agil auf eine andere Raumaufteilung reagiert. Weiß die Gemeinde das? Kennt sie diese Menschen überhaupt?

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3.

Thomas Hirsch-Hüffell

Weitere Arbeitsfelder

Die Arbeit an der Gestalt des Gottesdienstes steckt in den Kinderschuhen. Person und Raum sind nur zwei von unzähligen Aufmerksamkeitspunkten, die man bedenken kann. Weitere Themen – in Auswahl: – Die Sprache des öffentlichen Gebets – eine nahezu verwahrloste Zone – Die Sprache der Predigt im Kontakt mit Konfessionslosen (z. B. bei Kasualien) – es gibt keinerlei Ausbildung für diese Aufgabe – Die Kultur des Gebets außerhalb des Gottesdienstes – nur langsam entwickeln sich Anleitungen für geregelte ,Spiritualität im Alltag‘, auf die der SonntagsGottesdienst angewiesen bleibt, weil er eine Spitzenform von geregelter Spiritualität ist – im Gegensatz zur Event- und Missionskultur – Die Logik von Gottesdienst-Teams – mehr Ehrenamtliche mögen gern mitmachen, aber wie installiert man die auf der Mittelstrecke? – Die Logik von Gottesdiensten des sog. ,zweiten Programms‘ – sie wachsen wild im gesamten deutschsprachigen Raum, aber was wird daraus? Und in welchem Verhältnis stehen sie zum Regel-Gottesdienst? – Die Instrumentierung der Musik – Menschen fühlen sich von der Orgel erdrückt. Andere lieben sie. Was fördert den Gesang? Und vor allem welchen? – Die Predigt als Monolog wird gewünscht, gleichzeitig entstehen nicht ohne Grund andere Formen – Bibliolog, Interview, Anspiel, Gespräch, Meditation usw. – wie fügt sich die homiletische Phase im Gottesdienst im Jahrkreis in einen guten Wechsel-Rhythmus? – ,Kirche aus dem Häuschen‘ – die Kirche, die zu den Leuten geht, ist sehr beliebt und im Kommen – bis hin zur alten Hauskirche. Wer unterrichtet, wie das geht? – Die Praxis des Abendmahls ,lüften‘ mit der bleibenden Aufgabe, es aus der Zone der Sperrigkeit und Verkrampfung zu holen, vielleicht sogar Ansätze einer vitalen eucharistischen Frömmigkeit zu wagen.

Annette Cornelia Müller

11. Schreiben als Medium einer befreienden religiösen Praxis. Überlegungen im Rückblick auf einen Workshop1 – Writing as a means of a liberating religious practice. Retrospective reflections on a workshop

Zusammenfassung: Dieser Schreibworkshop eröffnet einen Experimentierraum, um Erfahrungen, Beobachtungen, Reflexionen und Fiktionen Ausdruck zu verleihen. Ziel ist es, mithilfe kreativer Schreibmethoden Miniaturen zu komponieren, die das Kontinuum zwischen Freiheit und (Selbst-) Beschränkung ausleuchten. Eine freiwillige Präsentation der entstandenen Werkstücke ist vorgesehen. Abstract: The writing workshop makes room for experimentation in order to put down in writing experiences, observations, reflections and fictions. The aim is to compose miniatures that illuminate the continuum between freedom and (self-) restriction with the aid of creative writing methods. Furthermore a voluntary presentation of the results is planned.

1.

Schreiben als Ausdruck des Menschseins

Es ist eine Besonderheit der Spezies Mensch, nicht nur über verbale Kommunikationsformen, sondern auch über komplexe Zeichensysteme wie die Schrift zu verfügen.2 Schreibend können sowohl Emotionen zum Ausdruck gebracht werden (Liebesbriefe) als auch komplexe Zusammenhänge hergestellt werden (wissenschaftliche Aufsätze). Schreibend wird reflektiert (Tagebuch) und kommuniziert (E-Mail).3 Dem Schreiben wohnt ein „gewaltiges Potential an Lebenshilfe und Lebenskunst“ inne.4 1 Die Vfn. hat während des Kongresses einen Workshop angeboten und fasst im Folgenden die Grundideen dieser Veranstaltung zusammen. 2 Vgl. Jürgen Baurmann u. a. (Hg.): Homo scribens. Perspektiven der Schriftlichkeitsforschung, Tübingen 1993. In diesem Sammelband sind Aufsätze aus der ertragreichsten Phase der deutschen Schreibforschung zusammengetragen. Für die Theologie besonders bedeutsam erachte ich die Beiträge, die das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit thematisieren. 3 Zu den Funktionen des Schreibens siehe: Annette Cornelia Müller : Predigt schreiben. Prozess und Strategien der homiletischen Komposition, Leipzig 2014, 101–114. 4 Jürgen vom Scheidt: Kreatives Schreiben. Texte als Wege zu sich selbst und zu anderen, Frankfurt a. M. 1989, 13.

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Annette Cornelia Müller

Wenn Trauernde kleine Zettel beschreiben, die neben der Urne im Grab mit Erde bedeckt werden, wenn Touristen ihre Herzensangelegenheiten in ein großes Gebetsbuch im Kirchenraum eintragen, wenn Pastorinnen und Pastoren mit Papier und Stift an ihrer Predigt laborieren und dabei existentiell in Resonanz gehen mit einem Bibeltext, wird das Schreiben zum Medium einer religiösen Praxis. Ziel meines Aufsatzes ist es, zu zeigen, dass das Schreiben Mittel einer befreienden und heilsamen religiösen Praxis sein kann. Dazu soll sowohl das private Schreiben in den Blick genommen werden als auch das gemeinschaftlich praktizierte Schreiben. Ich möchte Anregungen geben, wie man die Potentiale der Schriftlichkeit zur persönlichen Seelenpflege und zu einer liebevollen SelbstSorge nutzen kann. Darüber hinaus möchte ich zeigen, wie das Schreiben eingesetzt werden kann, um Menschen in der Entfaltung ihrer Wahrnehmungs-, Sprach- und Handlungsfähigkeit zu unterstützen. In Einkehrtagen, im kirchlichen Unterricht, im Frauenkreis, in der pastoralen Weiterbildung, in der Ausbildung von Prädikanten können, so behaupte ich, Impulse zum Schreiben genutzt werden, damit Menschen im kirchlichen Raum auf behutsame und wachstumsfördernde Weise in Kontakt mit sich selbst, miteinander und mit dem Grund des Seins treten können.

1.1

Schreiben als Selbstreflexion und Gebet

Das Gedicht „Wer bin ich“ verfasste Dietrich Bonhoeffer am 9. Juli 1944, während er in der Militärabteilung des Gefängnisses Berlin-Tegel inhaftiert war. In introspektiven Fragen nimmt der Theologe einen Abgleich von Innen- und Außenwahrnehmung vor. Er beschreibt, dass Gefängnisbedienstete seine ruhige, kraftvolle Ausstrahlung bewundern, während sein inneres Erleben eher von Selbstzweifeln geprägt ist. In dem Gedicht wird ein intensives Ringen um seine Identität sichtbar : „[…] Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg? Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“5

Bonhoeffer wird hier sichtbar als Mensch, dessen aufrechte Haltung angesichts des nahen Todes – zumindest aus der Innenperspektive – empfindlich ins 5 Dietrich Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Eberhard Bethge, mit einem Nachwort von Christian Gremmels, München 141990, 187.

Schreiben – Medium einer religiösen Praxis

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Schwanken kommt. Die im Band „Widerstand und Ergebung“ gesammelten Briefe, Gedichte und Gebete legen Zeugnis ab, auf welche Weise das Schreiben für ihn ein Mittel der Aufarbeitung und Bewältigung der allgemeinen politischen, aber auch seiner persönlichen Situation ist. Die hier zitierten Zeilen könnte man als schreibende Orchestrierung seiner inneren Stimmen bezeichnen: Widersprüchliches wird wahrgenommen und schreibend integriert. Der entscheidende Perspektivenwechsel geschieht in der letzten Zeile, in der Hinwendung zu dem Gott, der „für Christen und Heiden den Kreuzestod“ stirbt:6 Das Schreiben dient nicht länger der quälenden Selbstbefragung, sondern verleiht einem tiefen Gottvertrauen Ausdruck.

1.2

Lesen und Schreiben als Mittel der Selbsthermeneutik und Selbstkonstitution

Das Schreiben fungierte von Platon bis in die Frühe Neuzeit als Mittel der Selbstverschriftlichung, der fortgesetzten Selbsterprobung und manchmal auch der Selbstbetäubung.7 In seiner Habilitationsschrift „Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne“ zeichnet Christian Moser nach, dass Lesen und Schreiben über Jahrhunderte hinweg nicht nur der Selbsterkenntnis, sondern auch der Selbstbearbeitung und Selbstformung dienten. Kirchenväter, Mönche des Mittelalters, humanistische Wissenschaftler und puritanische Prediger transformierten ihre Persönlichkeit mittels Lektüre und Schriftlichkeit, so Moser. Mit akribischer Sorgfalt zeichnet er nach, wie sich in der Literatur- und Geistesgeschichte Subjektsein in einer kontinuierlichen literalen Praxis konstituierte: „Durch Lesen und Schreiben erlangt das Individuum nicht bloß Einsicht in die Beschaffenheit der Welt und seiner selbst, lesend und schreibend macht es sich diese Wahrheiten vielmehr auch zu eigen, identifiziert sich mit ihnen, und bringt sie in seiner Psyche zur Wirkung. Lesen und Schreiben figurieren für lange Zeit als die wichtigsten Instrumente der Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung.“8

Anhand der „Confessiones“ des Augustinus zeigt Moser, wie durch das Lesen Text in Leben verwandelt wurde (durch Aneignung und Verkörperung des Gelesenen), und daran anschließend, wie das Leben schreibend wiederum in einen

6 Vgl. das Gedicht „Christen und Heiden“, a. a. O., 188. 7 Christian Moser : Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne, Tübingen 2006, 710. 8 A. a. O., 727.

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Annette Cornelia Müller

Text übersetzt wurde, der anderen Lesern als Anreiz zur Selbstbeobachtung und Selbstreform dienen sollte.9 Dass diese Phänomene der reflektierenden Lektüre und Selbstverschriftlichung nicht nur bei großen Persönlichkeiten der antiken Philosophie, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu beobachten sind, wird deutlich, wenn man Werke der neueren deutschen Literatur in die Betrachtung mit einbezieht. In ihrem großen Entwicklungsroman „Das verborgene Wort“ erzählt Ulla Hahn die Geschichte des Mädchens Hildegard Palm, das in einem Arbeiterhaushalt im Rheinland der 1950er-Jahre mit Hilfe des Lesens und des Schreibens zu sich selbst findet. Das teilweise in Dialekt formulierte Buch gewährt tiefe Einblicke in einen Emanzipationsprozess, bei dem eine jubilierende Lust am Umgang mit geschriebener Sprache eine befreiende Funktion erfüllt. „Für fünfzehn Pfennig, heimlich aus dem Sparschwein gefischt, kaufte ich mir bei Kaisers Karl ein Schreibheft. Ist denn das erste schon voll, staunte der. Ich errötete. Kleiner Vorrat, was? scherzte der schlaksige dunkelhaarige Mann. Ich nickte. Ja, ich wollte mir einen Vorrat anlegen. Einen Vorrat schöner Wörter, wie ,Bimsstein‘ oder ,Bambusrohr‘, ,Pfauenschweif‘ oder ,Frauenzimmer‘. Vor allem aber eine Sammlung schöner Sätze wollte ich zusammentragen, Sätze, die immer stimmten, Sprichwörter. SCHÖNE WÖRTER, SCHÖNE SÄTZE, schrieb ich aufs Deckblatt. FÜR HILDEGARD PALM: Großgeschriebenem traute ich mehr zu. Ich teilte das Heft in der Mitte, füllte es mit schönen Wörtern vom Ende her, ,Glasbläser‘ schrieb ich, ,Bunsenbrenner‘, ,Meerjungfrau‘. Und an den Anfang: ,Hilf dir selbst, so hilft dir Gott.‘“10

Das (fiktive) Mädchen Hildegard Palm entwächst durch die Lektüre klassischer Werke und in intensiven eigenen Schreibversuchen der Enge ihres restriktiven Elternhauses. Der Umgang mit der geschriebenen Sprache fungiert als Medium der Selbstwerdung. Der Großvater, der das Mädchen anleitet, „Buchsteine“ zu entziffern, weckt die Phantasie und die Lust am Ersinnen von Geschichten. Das Erlernen fremder Sprachen bietet der Heranwachsenden die Möglichkeit, sich über ihr bildungsfernes Milieu zu erheben. Der gesamte Roman Ulla Hahns ist durchdrungen von einer intensiven Auseinandersetzung mit der christlichen Religion, und diese Auseinandersetzung ist von Faszination und Ekel geprägt: „Jesus verwandelte Wasser in Wein, mit fünf Broten und zwei Fischen machte er fünftausend Menschen satt; ,Tischlein, deck dich‘, sagte das Schneiderlein; Sterntaler regnete es Geld ins Hemd, und die Müllerstochter spann Stroh zu Gold. Die Geschichten waren es nicht. Es waren die Sätze. ,Ich bin das Brot der Welt‘, sagte Jesus. ,Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.‘ […] Wo immer ich das Buch aufschlug, seine Wörter und Sätze waren schön und geheimnisvoll, voller Zauber und Kraft. […] ,Denn von ihm und durch ihn und in ihm ist alles. Mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise, 9 A. a. O., 6. 10 Ulla Hahn: Das verborgene Wort, München 72010, 90.

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und mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm. Wer mich isst, wird durch mich leben.‘ Es lief mir kalt den Rücken herunter, so wie damals bei der Geschichte von der bösen Stiefmutter, die den Stiefsohn zu Schwarzsauer verkocht und dem Vater als Leibgericht aufgetischt hatte. […] Es war schauerlich schön, diese Sätze wieder und wieder zu lesen, bis es mir beinahe den Magen umdrehte von so viel Fleisch und Blut. Später lief alles auf eine markstückgroße Oblate im Mund hinaus; die Wörter so viel wunderbarer als die Wirklichkeit.“11

Ritual und Symbol wecken hier weniger das Interesse der Heranwachsenden als vielmehr der Umgang mit der schriftgebundenen Sprache als solcher. In großer künstlerischer Freiheit stellt die Autorin hier biblische Wundererzählungen neben blutrünstige Märchen. Respektlosigkeit und Begeisterung mischen sich, wenn die Brotvermehrung durch Jesus von Nazareth mit Geschichten der Brüder Grimm verglichen wird. Die somatische Reaktion der Protagonistin steht für ihr ungefiltertes Erleben: Die gelesenen Sätze, Bilder und Geschichten verursachen dem Mädchen Übelkeit und entfalten zugleich eine belebende Wirkung. Ob es sich bei dem Roman Ulla Hahns um eine „narrative Form der Selbstverschriftlichung“12 handelt, ist offen. Dass das (auto-)biographische Ich der Autorin und das Ich der Protagonistin Hildegard Berührungspunkte aufweisen, kann nur vermutet werden. Die Art und Weise, mit der die faszinierte Respektlosigkeit der Hildegard Palm inszeniert wird, ist jedenfalls geeignet, eine tiefe, ehrliche und frische sprachliche Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition anzuregen.

2.

Schreibwerkstätten als Experimentierfelder

In verschiedenen Kontexten werden mittlerweile Werkstätten zum kreativen und literarischen Schreiben angeboten.13 Mal geht es darum, den spielerischen Umgang mit Sprache zu erproben, mal steht intensive Textarbeit im Vordergrund.14 Kennzeichen prozessorientierter Schreibwerkstätten ist, dass die Arbeit am Text zwar dazu gehört, wichtiger allerdings ist der Akt des Schreibens selbst, 11 A. a. O., 91–92. 12 A. a. O., 6. 13 Von literarischem Schreiben spreche ich hier, wenn es stärker darum geht, Texte in eine ausgearbeitete literarische Form zu überführen. 14 Eine wissenschaftlich fundierte Einführung in das kreative Schreiben bietet: Barbara Glindemann: Creative Writing in England, den USA und Deutschland. Kulturelle Hintergründe, Literaturwissenschaftlicher Kontext, institutioneller Bezug, Frankfurt a. M. u. a. 2001. Einen Überblick über Themen und Probleme des institutionalisierten literarischen Schreibens liefern Josef Haslinger und Hans-Ulrich Treichel (Hg.): Schreiben lernen – Schreiben lehren, Frankfurt a. M. 2006.

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das experimentelle Hervorbringen von Gedanken und Texten, das Arrangieren, Gestalten, das Neu- und Umschreiben des gewonnenen Materials. Vielfältige Impulse zum Schreiben erhöhen die Produktivität und Kreativität der Beteiligten.15 Der Austausch in der Gruppe ermöglicht eine Erweiterung der eigenen Perspektive. Im Gespräch erfahren Schreibende, wie andere vorgehen, wenn sie Texte komponieren, sie tauschen sich aus über das Erfüllende, Berauschende und Belastende der Textkomposition und setzen sich mit Texten auseinander, mit ersten Entwürfen und mit entwickelten Versionen.16 Brenda Ueland thematisierte bereits 1938 das, was in der pädagogischen und psychologischen Forschung mehr als 60 Jahre später unter dem Stichwort „selfefficacy“ bzw. „Selbstwirksamkeitserwartung“ verhandelt wird. In ihrem programmatischen Aufsatz mit dem Titel „Everybody is talented, original and has something important to say“ legt Ueland dar, dass verfrühte oder unsensible Kritik das Selbstvertrauen Schreibender nachhaltig beschädigen und die Freude an der Textproduktion zum Erliegen bringen kann.17 Dagegen könne, so die Autorin, ein Klima der Ermutigung und des wachen Interesses Menschen darin unterstützen, eine authentische und kraftvolle eigene Stimme im Schreiben zu entwickeln.18 Ueland ermuntert Schreibende, sich mit ihrer ganzen Person in den Schreibprozess einzubringen: „Work with all your intelligence and love.“19 Die Creative-Writing-Bewegung in den USA, die in den 1970er- und 1980erJahren nach Deutschland getragen wurde, verfolgte ein emanzipatorisches Interesse.20 Das Schreiben sollte nicht länger Privileg gebildeter Minderheiten sein, sondern als vielseitiges Ausdrucks- und Kommunikationsmittel genutzt werden. Das gemeinsame lustvolle Tun steht im Mittelpunkt, wenn in Schreibgruppen oder Schreibwerkstätten der phantasievolle Umgang mit Sprache praktiziert wird. Eine Heterogenität in der Zusammensetzung der Gruppe wird dabei nicht als Erschwernis, sondern als Bereicherung betrachtet. 15 Exemplarisch sei hier auf folgende Sammlungen von Schreibimpulsen verwiesen: Natalie Goldberg: Schreiben in Caf¦s, Berlin 2003; Bonni Goldberg: Raum zum Schreiben. Creative Writing in 200 genialen Lektionen, Berlin 22005; Jack Heffron: The writer’s idea book. How to develop great ideas for fiction, nonfiction, poetry and screenplays, Cincinnati, OH 2000. 16 Das Schreiben in selbst organisierten Gruppen wird im deutschsprachigen Raum vor allem von Katrin Girgensohn gefördert. Katrin Girgensohn und Ramona Jakob: 66 Schreibnächte. Anstiftung zur literarischen Geselligkeit. Ein Praxisbuch zum kreativen Schreiben, Eggingen 2001. 17 Brenda Ueland: Everybody is talented, original and has something important to say, in: Sondra Perl (Hg.): Landmark essays on writing process, Davis, CA 1994. 18 Auch Peter Elbow verfolgt die Intention, Menschen, die sich persönlich als wenig talentiert erachten, zum Schreiben zu ermutigen: Peter Elbow: Everyone can write. Essays to a hopeful theory of writing and teaching writing, New York u. a. 2000. 19 Brenda Ueland: Everybody is talented, a. a. O. (s. Anm. 17), 238. 20 Lutz von Werder: Lehrbuch des kreativen Schreibens, aktualisierte und neu gesetzte Ausgabe, Wiesbaden 2007, 9–15.

Schreiben – Medium einer religiösen Praxis

2.1

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Therapeutisches und seelsorgerliches Schreiben als Mittel der heilsamen Selbstbegegnung

Das therapeutische und seelsorgerliche Schreiben dient der Introspektion sowie der Aufarbeitung belastender Erfahrungen und Ereignisse.21 Basierend auf der Erkenntnis, dass dem Schreiben eine psychohygienische und kathartische Funktion inne wohnt, werden in geschützten therapeutischen bzw. seelsorgerlichen Kontexten Übungen angeboten, die Schreibende auf dem schmerzhaften, aber heilsamen Weg der Selbstbegegnung und Selbstwerdung begleiten. Schreibend können abgespaltene Teile der Persönlichkeit integriert werden, können verdrängte Erlebnisse durchgearbeitet und Visionen einer hoffnungsvolleren Zukunft entworfen werden. In ihrer Veröffentlichung „Schreib dich gesund!“ legt die Psychologin und Traumatherapeutin Sulamith Sommerfeld dar, wie sie das Schreiben als therapiebegleitendes Reflexionsinstrument einsetzt.22 Im Umgang mit traumatischen Erfahrungen kann das expressive Schreiben eine wichtige Ergänzung zum Therapiegespräch sein, so Sommerfeld. Eine Besonderheit ist, dass in ihren Untersuchungen eine Unterscheidung vorgenommen wird, auf welche Weise dieses Schreiben bei männlichen und bei weiblichen Klienten wirkt. „Auf die Frage nach den Unterschieden zwischen Reden und Schreiben sehen die Männer im Schreiben eine Art praktischen Zwischenschritt: Reden – Schreiben – Handeln. Das Aufschreiben wird als Verstärkung der Verbindlichkeit und der Selbstverpflichtung zur therapeutischen Eigenarbeit erlebt. Die Frauen sahen das Schreiben als Ergänzung zur Therapie, zum Beispiel das Tagebuch als ,vertrauten Begleiter‘, als zusätzlichen Raum zum Nachdenken. Sie betonen den Vorteil des Alleinseins und das ,Zeithaben für sich selbst‘.“23

Interessant ist hier, dass bei Sommerfeld das Reden, das Schreiben und andere Lebensvollzüge nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern in wechselseitiger Verschränkung gedacht werden. Der Gefängnisseelsorger Ulrich Tietze legt in seinem Aufsatz „Rede von Gott im Gefängnis“ dar, wie er das szenische Schreiben nutzt, um im restriktiven Alltag des Maßregelvollzuges Freiräume zu eröffnen.24 Strafgefangene formulieren eigene Texte, die sie dann als Theaterstücke selbst inszenieren: Das ei21 Eine knappe Übersicht über die Entwicklung des therapeutischen Schreibens bietet: Silke Heimes: Kreatives und therapeutisches Schreiben. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 22009, 10–34. 22 Sulamith Sommerfeld: „Schreib dich gesund!“ Expressives Schreiben als Ressource bei Frauen und Männern im Umgang mit traumatischen Belastungen, in: WzM, 65. Jg., H. 4, 2013, 320–329. 23 A. a. O., 327f. 24 Ulrich Tietze: Rede von Gott im Gefängnis. Gefangene schreiben eigene Texte zum Thema, in: WzM, 65. Jg, H. 4, 2013, 330–345.

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genverantwortliche Schreiben sowie die Verkörperung des Geschriebenen auf der Bühne ermöglichen eine Identifikation der Gefangenen mit dem Dargestellten. Die Schilderungen Tietzes lösen beim Lesen eine tiefe Resonanz aus, da er die Lebensbedingungen im Gefängnis so anschaulich beschreibt. Die Menschen, die dort eine Freiheitsstrafe verbüßen, sind einem System totaler Kontrolle unterworfen. Suchtprobleme, körperliche und seelische Erkrankungen sind an der Tagesordnung. Dementsprechend berührend sind die abgedruckten Texte, die eine intensive Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben widerspiegeln. Sarkasmus und beißende Kritik sprechen aus manchen Szenen, die die Häftlinge auf die Bühne bringen, aber auch eine tiefe Gottessehnsucht sowie das Verlangen nach erfülltem Leben: „Ja, Freunde – Beten und Lesen werde ich lernen. Und wenn nur ein Funken Hoffnung besteht, werde ich dafür kämpfen!“25

2.2

Schreibworkshops in der pastoralen Aus-, Fort- und Weiterbildung

Schreibworkshops im Rahmen pastoraler Aus-, Fort- und Weiterbildung gewinnen, dank des Schriftstellers Heinz Kattner und des Ateliers für Sprache in Braunschweig, in den vergangenen zehn Jahren zunehmend an Bedeutung. Impulse des kreativen Schreibens werden genutzt, um (angehende) Pastorinnen und Pastoren darin zu unterstützen, ein Gefühl für die eigene sprachliche Ausdruckskraft zu entwickeln.26 In seinem Seminar „Mit eigenen Texten wirken. Die eigene Predigtsprache: stark und glaubwürdig“ formuliert Kattner Ziele und Grundsätze seiner Arbeit mit Predigenden.27 Neben konkreten Schreibimpulsen, die die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung betonen, arbeitet er mit Übungen zur Selbstreflexion: „Was hat meine Sprache geprägt? Was weiß ich darüber?“28 Ebenso werden Informationen zu den Sprachverarbeitungsprozessen im Gehirn und den Wirkungsweisen verschiedener sprachlicher Ausdrucksformen vermittelt: „Was zeigt Wirkung bei wem und warum?“, „Wie wirken Metaphern und Geschichten?“29 Im Zentrum steht aber das konkrete sprachliche Experiment mit dem Ziel, nicht nur das schriftsprachliche Ausdrucksvermögen zu schulen, sondern vor allem die „Freude an der Sprache“ zu vermitteln: „Davon muss in den kreativen Schreibprozessen viel zu spüren 25 A. a. O., 340, Hervorhebung im Original. 26 Vgl. Helga Kamm: Predigen lernen im Predigerseminar, in: Erich Garhammer u. a. (Hg.): Kontrapunkte. Katholische und protestantische Predigtkultur, München 2006, 310–315. 27 Heinz Kattner : Mit eigenen Texten wirken. Die eigene Predigtsprache: stark und glaubwürdig, unveröffentlichtes Manuskript, Braunschweig 2010. 28 A. a. O., 4. 29 Ebd.

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sein.“30 Die begeisterte Resonanz, auf die die Arbeit Kattners stößt, ist darauf zurück zu führen, dass durch das Schreiben ganzheitliche Wachstumsprozesse angestoßen werden: „In der Werkstatt, die kein Ernstfall ist, sondern Labor, fangen die einzelnen Predigtpersönlichkeiten an, anders zu leuchten.“31

3.

Schreibräume als Orte der Selbstbegegnung, der Kommunikation und des geistlichen Wachstums

Dem Schreiben wohnt ein befreiendes Potential inne. Wenn Menschen schreibend zu sich selbst finden, wenn sie einander aufrichtig begegnen, wenn sie sich in ihrem Fragen, Suchen und Zweifeln an den wenden, dessen Friede größer ist als unsere Vernunft, dann kann das Schreiben zur stärkenden religiösen Praxis werden. Durch Schreibgruppen, Schreibwerkstätten und Schreibpartnerschaften im kirchlichen Raum können Räume eröffnet werden, in denen durch Experiment und sensible Rückmeldung auf Texte eine Sprache ertastet und erahnt werden kann, die dem Leben selbst auf der Spur ist. Um dies zu erreichen, müssen allerdings einige Rahmenbedingungen gegeben sein. Das konkrete Tun steht im Vordergrund: Im Schreiben wächst man in erster Linie durch das Schreiben, deshalb sind Schreibwerkstätten niemals Kurse im „Trockenschwimmen“. Die Analyse von Texten ist zwar Bestandteil von Schreibwerkstätten, allerdings immer erst in einem zweiten Schritt. Im Vordergrund steht die Textproduktion selbst, das expressive, möglichst freie Produzieren von Texten. Wenn das Schreiben eine wachstumsfördernde Kraft entfalten soll, ist es die vorrangige Aufgabe der anleitenden Person, eine Atmosphäre der Wertschätzung und des unbedingten Respekts herzustellen. Dagegen wäre es der aufrichtigen Innenschau und dem Ausdruck Schreibender abträglich, würde ihnen in irgendeiner Weise ihr eigenes Menschsein zum Vorwurf gemacht.32 Schreibwerkstätten sind Orte (möglichst) gleichberechtigter Begegnung. Erst wenn Schreibende einander auf Augenhöhe begegnen, kann gut, wahr und offen kommuniziert werden – auf schriftliche und mündliche Weise.

30 A. a. O., 5. 31 Anne Gidion: Predigtwerkstatt als Spiel- und Sprachraum, in: Cura homiletica. Erfahrungen und Perspektiven aus dem Predigtcoaching am Zentrum für evangelische Predigtkultur, Wittenberg, o. J., 32. 32 Vgl. dazu den Beitrag von Wilfried Engemann in diesem Band: Als Mensch zum Vorschein kommen. Anthropologische Implikationen religiöser Praxis, dort Abschnitt 5, 29–36.

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Anleitende fungieren in Schreibwerkstätten als „interagierendes und integratives Medium“33. Es ist notwendig, dass sie sich selbst als Personen begreifen, die sich in einem immerwährenden Lern- und Wachstumsprozess befinden. Personen, die andere im Schreiben anleiten, sollten sich dessen bewusst sein, dass sie sich selbst in sprachlicher Hinsicht immer wieder neu erfinden müssen.34 Für die Moderation von Schreibgruppen oder Schreibworkshops halte ich die Grundsätze der Themenzentrierten Interaktion (TZI) auch heute noch für gewinnbringend.35 Die Regeln der TZI stehen für eine Balance zwischen den Interessen Einzelner und der Gruppe.36 Das zeitnahe Ansprechen unterschwelliger Spannungen führt dazu, dass diese sich nicht zum Konflikt ausweiten („Störungen haben Vorrang“). In einem TZI-basierten Schreibsetting steht das Schreiben selbst im Mittelpunkt („themenzentriert“), allerdings vor dem Hintergrund der Anliegen und Bedürfnisse der schreibenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit („Be your own chairman“) fördert die Mündigkeit sowie das Artikulationsvermögen der Teilnehmenden und damit auf lange Sicht auch deren Selbstwirksamkeitserwartung. Im Folgenden werde ich einige Formate antizipieren. Ich werde Orte und Settings skizzieren, in denen Menschen im kirchlichen Kontext auf heilsame Weise sich selbst, einander und der großen, uns umfassenden Kraft begegnen können. Das Schreiben fungiert dabei als Katalysator des Denkens, Fühlens und Betens.

3.1

Schreiben in Gottes Angesicht. Liturgische Texte verfassen – Workshop für Ehrenamtliche

Ehrenamtliche übernehmen eine wichtige Aufgabe, wenn sie im Gottesdienst stellvertretend für die Gemeinde Gebete artikulieren. Wenn dabei agendarische Gebete verwendet werden, ist diesen oft eine gewisse Abständigkeit zu eigen. Viele Formulierungen klingen hölzern, abgegriffen, abstrakt oder pauschal. Dass der Pfarrer für den mitwirkenden Liturgen Gebete formuliert, ist oft nur eine Notlösung, da die gewählten Worte nicht dem Sprachgebrauch der anderen 33 Michael Lenz: Schreiben lernen! Haben andere nicht nötig!, in: Josef Haslinger/Hans-Ulrich Treichel (Hg.): Schreiben lernen – Schreiben lehren, a. a. O. (s. Anm. 14), 35. 34 Vgl. Gerd Bräuer : Schreiben als reflexive Praxis. Tagebuch, Arbeitsjournal, Portfolio, Freiburg i. Br. 2000, 159. 35 Auch Jürgen vom Scheidt zieht die Grundregeln der TZI für die Moderation von Schreibgruppen heran. Jürgen vom Scheidt: Kreatives Schreiben, a. a. O. (s. Anm. 4), 215–221. 36 Vgl. Uwe Sielert: Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn (TZI), in: Volker Buddrus (Hg.): Humanistische Pädagogik, Bad Heilbrunn 1995, 249–265.

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Person entsprechen. Außerdem kann es auch an Entmündigung grenzen, wenn Ehrenamtliche um 9:55 Uhr fertig ausformulierte Fürbitten auf ihrem Sitzplatz in der Kirche vorfinden, um diese dann möglichst empathisch und ohne Stocken im Gottesdienst vorzulesen. Abhilfe könnten Workshops zum Schreiben liturgischer Texte schaffen. Eine Begrüßung, ein Gebet oder gar einen Segen selbst zu formulieren, erhöht das innere Engagement, die Identifikation mit den jeweiligen Worten. Es geht nicht länger darum, etwas abzulesen, sondern in die innere Bewegung des jeweiligen liturgischen Stückes hinein zu finden. „Wenn Sie beten, dann beten Sie!“, mahnt Peter Bukowski in der Ausbildung junger Pastoren.37 Er weist damit auf die Problematik hin, dass es beim Beten im Gottesdienst nicht in erster Linie darum geht, Texte in einer geschliffenen Sprache effektvoll zu inszenieren. Ein Gebet ist Anrede an Gott. Deshalb hat es Vorrang, dass man in einem Workshop zum Schreiben liturgischer Stücke beim inneren Erleben der Teilnehmenden ansetzt, also bei dem, was sie selbst Gott zu sagen, zu klagen oder von ihm zu erbitten haben. Es geht darum, sich zur Sprache des Glaubens vorzutasten, von der Wilhelm Gräb sagt: „Es ist die Sprache, mit der sie ihre elementaren Lebensinteressen äußern, ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Sinnerfahrungen und Sehnsuchtsbilder. Die Sprache des Glaubens ist die Sprache, in der die Menschen selbst das aussprechen, was ihnen das Allerwichtigste ist. Die Sprache des Glaubens, so könnte man auch sagen, ja, so müsste die Theologie wieder zu sagen sich trauen, ist die Sprache der Menschenseele.“38

Sicherlich ist an dieser Stelle ein sensibles seelsorgerliches Agieren der Anleiterin/des Anleiters nötig, da hier an der Existenz der Teilnehmenden und an ihrer Gottesbeziehung gearbeitet wird. Workshops, in denen liturgische Elemente kreiert werden, sind dazu da, Menschen in eine Produktivität hinein zu führen. Anleitende geben Impulse, wie man zügig, vorerst möglichst unter Ausblendung innerer Zensurmechanismen, ins Schreiben kommen kann. Um dies zu erreichen wird es hilfreich sein, zuerst mit nicht-liturgischen Textformen zu experimentieren. Geschichten oder Gedichte können entworfen, Briefe oder kurze journalistische Texte skizziert werden, um ein Gefühl für die unterschiedlichen Genres und deren Sprachduktus zu gewinnen. Materialsammlungen zum kreativen Schreiben können hier Impulse vermitteln und die Phantasie der Beteiligten anregen. In einem zweiten Schritt erst gilt es zu überlegen, in welchen Lebens- und Glaubenssi37 Mündliches Zitat von Peter Bukowski im Rahmen eines Liturgikseminars am Predigerseminar Wuppertal. 38 Wilhelm Gräb: Religion – eine Angelegenheit des Menschen (Spalding 1798), in diesem Band, 49–64, 57.

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tuationen sich wohl die Personen befinden, die zum Gottesdienst versammelt sind. Welche Worte könnten diesen Menschen wohl „aus der Seele sprechen“? Zum Schreiben von Gebeten erscheint es sinnvoll, sich differenziert mit tradierten Sprach- und Handlungsmustern auseinander zu setzen, um sich voller Experimentierfreude an deren kreative Fortschreibung oder an eine Neuschöpfung heran zu wagen.39 Die Arbeit an positiven Modelltexten hilft, wirkungsvolle sprachliche Muster zu identifizieren. Die Auseinandersetzung mit problematischen Gebetsvorlagen kann dagegen einen Beitrag leisten, Stereotype wahrzunehmen und Formulierungen zu erkennen, die in theologischer oder anthropologischer Hinsicht schwierig sind. In der Phase der Textarbeit ist es wichtig, die Teilnehmenden in der Entwicklung ihrer liturgischen Urteilsfähigkeit zu unterstützen. Hier geht es um eine Ermutigung, dem eigenen Empfinden zu trauen und die eigene Wahrnehmung in Worte zu kleiden: „Wenn beim Beten vom Weltfrieden die Rede ist, fühle ich mich immer total ohnmächtig“, oder : „Die Gottesnamen in den Gebeten klingen, als würde man Gott mit ,Sie‘ ansprechen. Ich fände es besser, eine Anrede zu finden, die nach mehr Vertrauen klingt.“

3.2

„Wenn das Beten sich lohnen würde“ – Portfolioarbeit im kirchlichen Unterricht

Das Schreiben ist hervorragend geeignet, Lernende in eine substanzielle Auseinandersetzung mit Inhalten und Themen zu verwickeln.40 Das Portfolio ist ein wirkungsvolles Mittel, um diese schreibende inhaltliche Auseinandersetzung über einen längeren Zeitraum hinweg zu praktizieren. In Portfolios können Produkte zusammengestellt werden (Fotos, Texte, Bilder, Skizzen usw.). Darüber hinaus sind sie nicht nur dazu geeignet, Entwicklungsvorgänge zu dokumentieren, sondern auch, diese zu katalysieren,41 sie bieten Raum für „Wendepunkte im Erkennen und Verstehen von Dingen, Zusammenhängen und Prozessen“42. 39 Eine pauschale Abqualifizierung tradierter liturgischer Sprach- und Handlungsmuster halte ich für wenig hilfreich. Lobpreis und Klage, Bitte und Dank beispielsweise werden immer ihre Berechtigung haben, wenn es darum geht, Themen und Anliegen vor Gott zu bringen. Zur Funktion traditioneller Sprach- und Handlungsmuster im Bereich der Homiletik siehe Frank M. Lütze: Absicht und Wirkung der Predigt. Eine Untersuchung zur homiletischen Pragmatik, Leipzig 2006. 40 Vgl. Katherine Gottschalk/Keith Hjortshoj: The elements of teaching writing. A resource for instructors in all disciplines, Boston/New York 2004, 14–28. 41 Vgl. Gerd Bräuer: Keine verordneten Hochglanz-Portfolios, bitte! Die Korruption einer schönen Idee?, in: Ilse Brunner u. a. (Hg.): Das Handbuch Portfolioarbeit. Konzepte, Anregungen, Erfahrungen aus Schule und Lehrerbildung, Seelze 2006, 257–261. 42 Gerd Bräuer: Schreiben als reflexive Praxis, a. a. O. (s. Anm. 34), 106.

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Portfolios erfordern Kreativität und ermuntern zu eigenständigem Denken, überdies sind sie dazu geeignet, spirituelle Aspekte zu integrieren, da hier persönliches und kommunikatives Schreiben zusammen geführt werden können. Eine Schwierigkeit, mit Konfirmanden zu schreiben, liegt in den negativen Erfahrungen, die viele von ihnen in der Schule sammeln. Das Schreiben im Deutschunterricht ist meist dezidierten Normen unterworfen, es wird vermittelt in Orientierung an curricularen Vorgaben, weniger an persönlichen Neigungen und Interessen der Schülerinnen und Schüler.43 Wenn im Kirchlichen Unterricht geschrieben wird, ist es deshalb besonders wichtig, auf phantasievolle Weise zum Experiment zu motivieren sowie eine Atmosphäre von Offenheit und Freundlichkeit herzustellen. Leistungsmentalität hat hier hingegen keinen Platz. Für Jungen und Mädchen, die eine ausgeprägte Abneigung gegen das Schreiben verspüren, kann man über Formen nachdenken, wie man ihre Gedanken über Spracherkennungssoftware in geschriebenen Text überführen oder mit Hilfe digitaler Aufnahmegeräte oder Videokameras aufzeichnen kann. Wichtig ist das Erfassen des individuellen Prozesses, die Veränderung in der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie in der Entwicklung und Ausdifferenzierung der eigenen Glaubensvorstellungen. Über knapp zwei Jahre hinweg, also vom Beginn der Konfirmandenzeit bis zum feierlichen Abschluss, können in einem Portfolio des kirchlichen Unterrichts Gedanken expliziert, Zweifel geäußert, Kritik formuliert und Hoffnungen zum Ausdruck gebracht werden. Die Jugendlichen werden auf diese Weise nicht als Empfänger ewiger Wahrheiten angesehen, sondern als Subjekte, die eigenständig denken, fühlen und glauben.44 Durch Schreibimpulse und animierende Leitfragen wird die selbständige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Themen angeregt. „Was habe ich geglaubt, als ich sieben Jahre alt war? Und was glaube ich jetzt?“45 oder : „Wenn das Beten sich lohnen würde, dann …“ Oder

43 In der Literatur des kreativen Schreibens ist Kritik an der schulischen Schreibdidaktik weit verbreitet. Vgl. Natalie Goldberg: Schreiben in Caf¦s, Berlin 2003, 13–18; Jürgen vom Scheidt: Kreatives Schreiben, a. a. O. (s. Anm. 4), 38–39. Wenn ich hier eine Normorientierung des Schreibenlehrens im Deutschunterricht problematisiere, geschieht das in differenzierender Wertschätzung. In diesem Unterricht haben vielerorts schon prozessorientierte Ansätze Einzug gehalten. Nicht zu verachten ist überdies die Herkulesarbeit von Lehrkräften, die Schülerinnen und Schülern die Grundlagen einer komplexen Sprache vermitteln ohne zugleich ihre sprachliche Produktivität zum Erliegen zu bringen. 44 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz: Schüler/innen als kompetente Gesprächspartner/innen wahrnehmen: Das Anliegen theologischer Gespräche im Religionsunterricht, in: Martin Rothgangel u. a. (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 72012, 252–264. Was die Autorin hier zur Subjektorientierung des RU äußert, lässt sich vollständig auf die Arbeit mit Konfirmanden übertragen. 45 Zur Rekonstruktion der eigenen Glaubensgeschichte siehe: Petra Freudenberger-Lötz:

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gar : „Angenommen, es gäbe Gott wirklich, dann …“ Ziel solchen Fragens ist, die Jugendlichen in eine existentielle Auseinandersetzung zu involvieren. Fragen der Rechtschreibung und Zeichensetzung haben in diesem Zusammenhang keinerlei Bedeutung, stattdessen kommt es auf eine offene, mutige und konstruktive Beschäftigung mit der christlichen Tradition und mit grundlegenden Fragen des Menschseins an. Anleitende und Begleiter stehen zur Verfügung als informierte Gesprächspartner, um explizierte Vorstellungen zu diskutieren, den Umgang mit aufgeworfenen Fragen zu moderieren und gemeinsam mit den Jugendlichen die generierten Inhalte zu elaborieren. Ziel ist es, dass Konfirmandinnen und Konfirmanden sich ihr Leben zu eigen machen und den großen Fragen des Lebens standhalten können: „Woher kommen wir und wohin gehen wir?“ „Welchen Sinn hat mein Leben?“ „Wieso lässt Gott zu, dass es Krieg gibt?“ Dabei gilt es, vorschnellen und lapidaren Antworten zu wehren. Der reiche Schatz der christlichen Tradition kann eingebracht werden, in der Hoffnung, Deutungs- und Interpretationshilfen zu liefern oder Erfahrungsräume zu eröffnen. Möglicherweise erfährt der eine oder die andere, dass der christliche Glaube Antworten bietet auf einige der existentiellen Fragen.46 Im besten Fall erfahren Jugendliche, dass ihre Zukunft „nach vorne hin offen“ ist,47 dass eigenständiges Denken in der Kirche nicht nur erlaubt, sondern erwünscht ist, und dass auch ihr Suchen aufgehoben ist im Frieden dessen, der höher ist als unsere Vernunft. Wichtig beim Einsatz von Portfolios im kirchlichen Unterricht ist, die Privatsphäre Jugendlicher zu achten. Es gilt, das Schreiben für sich und das Schreiben für andere sorgfältig voneinander zu trennen. Gerade bei der Auseinandersetzung mit existentiellen Themen ist es notwendig, dass die Mädchen und Jungen zuerst vollkommen für sich alleine schreiben, ohne jegliches Verwertungsinteresse. Nur im absolut bewertungsfreien Raum kann Wahrheit gedeihen. In einem zweiten Schritt erst gilt es zu entscheiden, welche Texte und Reflexionen der Öffentlichkeit in der Gruppe zugänglich gemacht werden. Ganz intime, persönliche Texte können auch vergraben oder verbrannt werden, anonymisiert ausgestellt oder als Flaschenpost dem Meer übergeben werden.

Theologische Gespräche mit Jugendlichen. Erfahrungen – Beispiele – Anleitungen. Ein Werkstattbuch für die Sekundarstufe, München 2012, 64–71. 46 Vgl. Paul Tillich: Systematische Theologie I, Berlin/New York 1978, 15. Hier stellt Tillich die These auf, dass die christliche Botschaft Antwort ist auf die grundlegenden Fragen des Menschseins. 47 Vgl. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a. M. 22013, 73–79; Wilfried Engemann: Aneignung der Freiheit. Essays zur christlichen Lebenskunst, Stuttgart 2007, 7–13.

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3.3

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„Leben heißt, langsam geboren werden.“48 – Das spirituelle Tagebuch als Medium pastoraler Selbstsorge

Die berufliche Belastung von Pastorinnen und Pastoren ist immens.49 Unklare zeitliche Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit, diffuse Rollenzuweisungen sowie die wachsende Zahl an zu betreuenden Gemeindemitgliedern führen zu Ermüdungserscheinungen der Pfarrpersonen und bergen das Risiko ihrer dauerhaften Erschöpfung.50 Ich behaupte, dass das Führen eines spirituellen Tagebuches einen wesentlichen Beitrag leisten kann, das herausgeforderte pastorale Ich zu pflegen und zu regenerieren. Tagebücher sind Stätten der Ehrlichkeit und der ungeschminkten Selbstbegegnung.51 Sie dienen der Selbsthermeneutik und der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Ambivalente Gefühle können im Schutz des Privaten ungestraft geäußert werden, Belastungen larmoyant ausgebreitet und Triumphe genussvoll zelebriert werden. Das Tagebuchschreiben hat eine lange Tradition. Mitte der 1940er Jahre begann die mexikanische Künstlerin Frida Kahlo, private Aufzeichnungen vorzunehmen.52 In ihrem Tagebuch vereint sie Gemälde und reflektierende Texte mit Poesie. Die Malerin skizziert, kritzelt, schmiert und dichtet. Inspiriert durch Surrealismus und Dadaismus praktiziert sie das automatische Schreiben wie auch das automatische Zeichnen. „Die Kahlo hält sich an keine Ordnung: Sie stellt Profanes neben Sakrales, Naturhaftes neben Technisches, verbindet das Reale mit dem Ideellen, das Schöne mit dem Häßlichen, das Private mit dem Öffentlichen.“53 Malend und schreibend setzt sie sich mit dem auseinander, was sie bewegt, mit ihrem von Kinderlähmung und einem schweren Verkehrsunfall gemarterten Körper, mit den Unruhen in ihrer Heimat (sie hat einige Monate lang ein Verhältnis mit Leo Trotzki!) und mit ihrer großen Liebe, Diego Rivera, von dem sie auch nach ihrer Ehescheidung im Jahr 1939 nicht loskommt. Am 11. Februar 1954 arbeitet sie schreibend eine schwere Operation auf. Sie vergleicht die damit verbundenen Schmerzen mit einer lang anhaltenden Folter, die ihr fast den Verstand raubt. Sechs Wochen später, am 21. März, vermerkt sie mit einem gewissen Stolz: „Ich habe viel erreicht. Sicherheit beim Gehen Sicherheit 48 Antoine de Saint-Exup¦ry : Worte wie Sterne, hg. v. Maria Otto, Freiburg i. B. u. a. 71999, 148. 49 Vgl. Alexandra Eimterbäumer : Pfarrer/innen: Außen- und Innenansichten, in: Jan Hermelink/Thorsten Latzel (Hg.): Kirche empirisch. Ein Werkbuch, Gütersloh 2008, 386. 50 Andreas von Heyl: Zwischen Burnout und spiritueller Erneuerung. Studien zum Beruf des evangelischen Pfarrers und der evangelischen Pfarrerin, Frankfurt a. M./New York 2003. 51 Marianne Soff zeichnet dies in diachroner Perspektive nach. Marianne Soff: Jugend im Tagebuch. Analyse zur Ich-Entwicklung in Jugendtagebüchern verschiedener Generationen, München 1989. 52 Frida Kahlo: Gemaltes Tagebuch, mit einer Einführung von Carlos Fuentes und Kommentaren von Sarah M. Lowe, München 1995. 53 A. a. O., 203.

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beim Malen. Ich liebe Diego mehr als mich selbst. Mein Wille ist groß. Mein Wille bleibt.“54 Auch die deutsche Bildhauerin Käthe Kollwitz führte Tagebuch, allerdings wurde dieses erst nachträglich mit Bildern ihrer Kunstwerke und mit Fotos illustriert.55 Kollwitz beschreibt in ihrem Tagebuch alltägliche Begebenheiten, aber sie kommentiert auch ihren künstlerischen Schaffensprozess und verarbeitet auf schreibende Weise die politischen Unruhen der Weimarer Zeit, beispielsweise ist es ihr erlaubt, im Leichenschauhaus den erschossenen Karl Liebknecht zu portraitieren.56 In knappen Worten beschreibt Kollwitz in ihren Aufzeichnungen, wie Liebknechts Ehefrau ohnmächtig wird, während ihr Mann neben dem leeren Sarg Rosa Luxemburgs beigesetzt wird. Kollwitz dokumentiert, was sie liest (viel Goethe!) und schreibt an manchen Tagen nur zwei Worte: „3. Juni 1932 Leerer Zwischentag.“57 Schreibend verarbeitet sie Privates, Politisches und Religiöses. Ihre Piet—, die sie in den Jahren 1937/1938 als Bronzeguss erschafft, beschreibt sie mit den Worten: „Meine Mutter bleibt im Sinnen darüber, dass der Sohn nicht angenommen wurde von den Menschen. Sie ist eine alte einsame und dunkel nachsinnende Frau.“58 Der Schriftsteller und Pilot Antoine de Saint-Exup¦ry vergleicht das Wachstum der Seele mit einem Geburtsvorgang. „Leben heißt, langsam Geborenwerden. Es wäre allzu bequem, fixfertige Seelen auszuleihen.“59 Ich möchte im Folgenden Pfarrerinnen und Pfarrer anregen ihr Tagebuch zu nutzen, um sich in ihrer Persönlichkeit und in ihrer Beziehung zu Gott und ihren Mitmenschen kontinuierlich weiter zu entwickeln. Das Führen eines spirituellen Tagebuches kann der aufmerksamen und liebevollen Selbstsorge der Seelsorgerin/des Seelsorgers dienen. Das private, persönlich bedeutsame Schreiben gewährt einen Schutzraum inmitten der vielfältigen Anforderungen des pastoralen Alltages. Manchmal reicht es, kurz in Kontakt zu treten mit sich selbst: „Wie geht es mir eigentlich gerade?“ Tief Luft holen, einige wenige Sätze notieren, zur Ruhe kommen. Das Schreiben für sich selbst eröffnet einen Raum, in dem keine Erwartungen zu erfüllen sind und kein Amt bekleidet werden muss. Einen Ort, an dem man nicht frommer erscheinen muss, als man sich fühlt und nicht vorbildlicher, als man ist. Einen Raum vorbehaltloser Aufrichtigkeit. Wenn das Tagebuchschreiben als Mittel des umsichtigen und ressourcenorientierten Selbst-Coachings praktiziert wird, kann es der Professionalisierung 54 55 56 57 58 59

A. a. O., 278. Vgl. Käthe Kollwitz: Die Tagebücher, hg. v. Jutta Bohnke-Kollwitz, Köln 1988. A. a. O., 402. A. a. O., 661. A. a. O., 697. Antoine de Saint-Exup¦ry : Worte wie Sterne, a. a. O (s. Anm. 48), 148.

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im pastoralen Amt dienen. Wem es gelingt, auf schreibende Weise eine gewisse Distanz zu den systemischen Verstrickungen in der Gemeinde zu gewinnen, kann klarer sehen: „Das geschieht gerade hier und jetzt.“ Oft hilft es, für kurze Zeit einfach nur genau wahrzunehmen, was ist, und zu beschreiben, ohne eine Bewertung vorzunehmen. Wer schreibt, verlangsamt das Geschehen und funktioniert nicht länger auf Autopilot. Aus der Vogelperspektive des schreibenden Betrachtens wird es möglich, bewusstere Entscheidungen zu treffen. Wer sich für eine gewisse Zeit zurückzieht, kann danach wieder in Kontakt treten zu den Menschen im privaten und beruflichen Umfeld. Das Führen eines spirituellen Tagebuches kann dem Sammeln von Gedankenund Sprachmaterial dienen. Unter der Leitfrage: „Wovon ernähre ich mich in geistlicher Hinsicht?“ können heilsame Wörter und Sätze zusammen getragen werden. Wer sich regelmäßig fragt: „Welches Gedicht berührt mich, welches Zitat ,energetisiert‘ mich, welches Gemälde tröstet mich?“, hortet einen Schatz zur Pflege der eigenen Seele und für den nächsten Seniorinnenkreis, den Geburtstagsbesuch, die Sonntagspredigt. Das Führen eines spirituellen Tagebuches ist die Selbsterlaubnis zum betenden Schreiben und zum schreibenden Beten. „Ich kann nicht mehr, Gott, erbarm Dich meines furchtbaren Kirchenvorstandes!“, darf nicht nur gedacht, sondern auch ausgesprochen werden – im Schutzraum des nicht-öffentlichen Schreibens. Oder : „Halleluja. Meine Predigt war heute großartig!“, darf gejubelt werden, ohne dass ein Mahner den Zeigefinger erhebt. Belastendes kann schreibend an die höhere Instanz abgegeben werden, Fragmentarisches darf der großen Liebe anempfohlen werden.

Michael Bünker

12. Evangelisches Brauchtum in Österreich. Anmerkungen zur religiösen Dimension ritueller Aspekte alltäglichen Menschseins – Protestant customs in Austria. Annotations to the religious dimension of ritual aspects of everyday human existence Zusammenfassung: Vieles von dem, was im Leben einer Gemeinde praktiziert wird, lässt sich auch als Brauchtum beschreiben. Die persönlichkeitsprägende und gemeinschaftsstiftende Funktion des „Brauches“ ist in den evangelischen Gemeinden in Österreich an verschiedenen Beispielen zu erkennen. Es ist lohnend, die theologische Relevanz dieses weithin unbeachteten Phänomens zu prüfen. Abstract: Much of what is practiced in congregational life can be described as customs. The personality-forming and community-building function of “customs” can be seen from many examples in Austrian Protestant communities. It is worth taking a look at the theological relevance of this widely unnoticed phenomenon.

Brauchen wir Bräuche? Religiöse? Gar evangelische? Haben Bräuche etwas mit dem Thema dieses Kongresses zu tun, mit der Verbindung von Menschsein und Religion? Sie merken schon, mein Statement wird aus Fragen bestehen. Auf meinem täglichen Weg zur Arbeit überquere ich die Floridsdorfer Brücke und sehe, dass dort am Geländer Vorhängeschlösser befestigt sind. Es werden Tag für Tag mehr. An manchen Brücken in Wien sind es schon mehr als tausend. Bei näherer Betrachtung sehe ich: Die Schlösser sind verziert, meistens mit Herzen, und es stehen häufig Namen darauf, manchmal auch ein Datum. Es sind sogenannte „Love Locks“. Das geht so: Ein Paar befestigt das Schloss, der Schlüssel – oder die beiden, die meisten Vorhängeschlösser werden ja mit zwei Schlüsseln verkauft – werden anschließend in den Fluss, in meinem Fall in die Donau, geworfen. Oder in den Rhein, wie von der Hohenzollernbrücke in Köln, in die Elbe wie von der Loschwitzer Brücke in Dresden. Love Locks und Liebesbrücken gibt es in London, Paris, Sydney und eben auch in Wien und Graz und was weiß ich noch wo. Richtig populär und ein weltweiter Brauch wurden diese Liebesschlösser durch einem Roman aus dem Jahr 2006, er heißt „Ho voglia di te“1, zu Deutsch: „Ich steh auf dich“2 und stammt von Federico Moccia. 1 Federico Moccia: Ho voglia di te, Mailand 2006. 2 Federico Moccia: Ich steh auf dich, übersetzt von Brigitte Lindecke, Berlin 2008.

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In dem Buch befestigt ein Liebespaar ein Schloss an der Milvischen Brücke – was für ein geschichtsträchtiger Ort! – in Rom, schwört sich ewige Liebe – wie passend in der ewigen Stadt – und versenkt anschließend den Schlüssel im Tiber. Ein Brauch ist geboren! Ja, es ist ein Brauch. Auch dass dieser Brauch offenkundig erfunden oder gestiftet wurde, also ein festes Anfangsdatum hat, widerspricht dem nicht. Die romantische Überzeugung, dass Bräuche immer aus dem Dunkel der Vergangenheit stammen, aus verschütteten, dennoch lebendigen Traditionen, gleichsam aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit geschöpft werden, hat sich als irrig herausgestellt. Sie sind zumeist weder altes Volksgut noch Relikte vergangener Religionen, Adventkranz und Christbaum stehen dafür. Religion und Brauch sind eng miteinander verbunden. Manfred BeckerHuberti versammelt in seinem bei Herder im Jahr 2000 erschienen „Lexikon der Bräuche“ über 3.000 Einträge, von „Aba Noel“, dem Weihnachtsmann bis zum Los- und Orakelbrauch mit den „Zwölf Zwiebelschalen“. Bräuche sind wieder „in“, schreibt er im Vorwort und meint: Die Welt braucht Bräuche, auch religiöse Bräuche, die den Alltag mit Sinn grundieren, die gemeinschaftliches Agieren ermöglichen und den Glauben im Alltag verwurzeln. Was in der Kirche durch Rituale und liturgische Vollzüge Gestalt gewinnt, ist im alltäglichen Leben der Brauch.3 Aber was im Leben der Menschen so abgesichert erscheint, erfährt durch den Protestantismus von Anfang an eine radikale Infragestellung. Als Beleg findet sich am Ende der „Schmalkaldischen Artikel“ Martin Luthers aus dem Jahr 1537 die folgende Passage: „Zuletzt ist noch der Geukelsack des Bapsts dahinden von närrischen und kindischen Artikeln als von Kirchweihe, von Glocken täufen, Altarstein täufen und Gevattern dazu bitten, die dazu gaben etc. Welchs Täufen ein Spott und Hohn der heiligen Taufe ist, dass man’s nicht leiden soll. Darnach von Licht weihen, Palmen, Wurz, Hafern, Fladen weihen etc., welchs doch nicht kann geweihet heißen noch sein, sondern eitel Spott und Betrug ist. Und des Gaukelwerks unzählich viel, welche wir befehlen ihrem Gott und ihnen selbs anzubeten, bis sie es mude werden, wir wollen damit unverworren sein.“4

Was sich wie eine Generalabrechnung mit der damals üblichen, von der Kirche getragenen Volksfrömmigkeit liest, ist auch so aufgefasst worden und hat sich auch ausgewirkt. Friedrich Fürstenberg kommt in seiner Analyse der protestantischen Volksfrömmigkeit zu dem Schluss, dass im Protestantismus eine allmähliche, aber unaufhaltsame Reduktion der Religion auf den individuellen Glauben stattfand. Die zentrale Stellung der Rechtfertigungslehre führte „zwangsläufig“ zur Privatisierung und Verinnerlichung, das Spirituelle gewann 3 Manfred Becker-Huberti: Lexikon der Bräuche und Feste, Freiburg i. Br. (2000) 42007, 5f. 4 BSLK: 462,9–463,3. Dazu: Erika Kohler : Martin Luther und der Festbrauch, Köln/Graz 1959.

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gegenüber dem Rituellen, für das in erster Linie die katholische Volksfrömmigkeit steht, die Oberhand.5 „Es bleibt also festzuhalten, dass die Entwicklung der protestantischen Religiosität durch den fortschreitenden Abbau traditioneller Bindungen an weltliche Daseinsformen gekennzeichnet ist, der auch nicht durch die Pflege des Kirchenlieds, Hausandachten und Betstunden ausgeglichen wurde. So wurde eine Spiritualisierung der Volksfrömmigkeit gefördert, die entweder eine Sublimierung naiver ,Gotteskindschaft‘ oder Dauerreflexion voraussetzt.“6

„Volksfrömmigkeit“, religiöses und kirchliches „Brauchtum“, „populare Religiosität“ oder „Leutereligion“, wie Paul Zulehner zu formulieren pflegte – die Begrifflichkeit ist ungenau und schwankend. Gemeint ist (ich greife auf eine allgemeine Definition des Brauchtums zurück7) ein gemeinschaftliches Handeln, das von einer Konstanz der Form und von einer Sinnorientierung geprägt ist. Die wissenschaftliche Erforschung ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Nach der Destruktion des religiösen Brauchtums in der Aufklärung – bleibend verlorengegangen ist da etwa das geistliche Volksschauspiel – und unter dem Einfluss der sich zunehmend ausdifferenzierenden modernen Industriegesellschaft wuchs das Interesse am Brauchtum, allerdings zumeist ideologisch punziert. Dafür steht der Boom, den das Brauchtum, auch das religiöse bzw. kirchliche und speziell evangelische Brauchtum in der Zeit des Nationalsozialismus erfahren hat.8 Die bäuerliche Lebenswelt wurde idealisiert und der städtischen Gesellschaft gegenübergestellt. Für Rasseideologien anfällig wurde nach den vorchristlichen, germanischen Wurzeln des Brauchtums gesucht. In Österreich war religiöses Brauchtum immer auch ein Instrument der politischen Herrschaft mit gegenreformatorischen bzw. antiprotestantischen Interessen, von den Habsburgern und ihrer Favorisierung von Maria Zell bis hin zum Ständestaat des Engelbert Dollfuss.9 Bräuche entpuppen sich bei näherem Hinsehen nicht selten als „invented traditions“, zu denen Herrschende greifen, um unter dem Anschein des Althergebrachten ihre Interessen durchzusetzen.10 Aber auch der 5 Etwa: Alfred Läpple: Kleines Lexikon des christlichen Brauchtums, Augsburg 1996; Theodor Schnitzler : Kirchenjahr und Brauchtum neu entdeckt, Freiburg i. Br. u. a. 1977. 6 Friedrich Fürstenberg: Protestantische Volksfrömmigkeit im Strukturwandel Deutschlands, in: Michael N. Ebertz/Franz Schultheis (Hg.): Volksfrömmigkeit in Europa. Beiträge zur Soziologie popularer Religiosität aus 14 Ländern, München 1986, 53–64 (Zitate: 56f.). 7 Vgl. Walter Hartinger : Art.: Brauch, Brauchtum, in: LThK 2, Sp. 656. 8 Dazu beispielhaft: Albrecht Jobst: Grundzüge evangelischer Volksfrömmigkeit (= Studien zur religiösen Volkskunde 4), Dresden/Leipzig 1937; Albrecht Jobst: Sammlung kirchlicher Sitte (= Studien zur religiösen Volkskunde 7), Dresden/Leipzig 1938. 9 Vgl. Ingo Mörth: Zwischen „Aberglauben“ und „Ideologie“. Aspekte von Alltagsreligiosität am Beispiel Österreich, in: Michael N. Ebertz/Franz Schultheis: Volksfrömmigkeit in Europa, a. a. O. (s. Anm. 6), 88–98. 10 Vgl. Eric Hobsbawm/Terence Ranger : The Invention of Tradition, Cambridge 1992.

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Protestantismus konnte sich dem Trend zum Brauchtum nicht ganz entziehen. 1903 verfügte der großherzogliche sächsische Kirchenrat in Weimar die flächendeckende Aufzeichnung der kirchlichen Sitten und Bräuche. „Je schmerzlicher die Verarmung unseres Volkslebens an heimatlicher Sitte zu beklagen ist, um so mehr erscheint es als unabweisbare Pflicht aller, die unser Volk liebhaben, und zumal derer, die zu seiner geistigen Pflege berufen sind, hier helfend einzutreten und, weil Sitte nicht gemacht werden kann, aus dem vergessenen Gut vergangener Zeiten wieder hervorzuholen, was verdient, der Vergangenheit entrissen zu werden, und von dem manches wertvolle Stück geeignet erscheinen wird, in Sitte und Brauch der Gegenwart wieder aufgenommen zu werden.“11

Diese Verfügung korrespondiert mit dem etwa zur selben Zeit erwachenden Interesse an „gelebter Religion“ (so erstmalig bei: Ernst Troeltsch, 1865–1923)12 oder der „religiösen Volkskunde“, ein Begriff, den Paul Drews (1858–1912) 1901 geprägt hatte.13 Das Organ dieser Bewegung war die Zeitschrift „Die Dorfkirche. Illustrierte Monatsschrift zur Pflege des religiösen Lebens in heimatlicher und volkstümlicher Gestalt“, die von 1907 bis 1934 erschien. Das restaurative Interesse der Kirchenleitungen fiel mit dem Entstehen der theologischen Kulturhermeneutik zusammen. Heute werden Brauch und Brauchtum in der Ethnologie und Kulturwissenschaft bzw. Kulturanthropologie erforscht. Gibt oder besser : gab es in Österreich spezifisch evangelische Bräuche? Hingewiesen wird etwa auf die Segnung des Brotlaibs beim Anschneiden, wo für die Gegend von Gröbming im steirischen Ennstal als für Evangelische typischer Brauch belegt ist, beim Anschneiden des Brotes drei Kreuze auf den Laib zu zeichnen.14 Eine reiche Quelle bieten die Lebenserinnerungen des Kärntner Bauernkindes Michael Unterlercher. In Bezug auf Weihnachten hält er fest: „Vom Nikolotag wußten wir wenig. Wir hörten nur, dass in den Nachbarhäusern – in den katholischen – die Kinder an diesem Tage Geschenke bekamen.“15 Und wir haben weiter aus dem Jahr 1866 als Beleg, dass der Weihnachtsbaum nicht nur von Evangelischen nach Österreich gebracht, sondern von diesen auch im Land verbreitet wurde: „Noch schöner und lichter wurde uns das Weihnachts11 Zitiert nach: Wolfgang Hartinger : Religion und Brauch, Darmstadt 1992, 67. 12 Vgl. Wolf-Eckart Failing/Hans-Günter Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis, Stuttgart 1998. 13 Zu Drews: Volker Drehsen: Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie, Band 1, Gütersloh 1988, 349–513; Christian Grethlein: Praktische Theologie und Empirie, in: Ders./Helmut Schwier (Hg.): Praktische Theologie. Eine Theorie- und Problemgeschichte, Leipzig 2007, 309–312. 14 Vgl. Gerda Grober-Glück: Zur Heiligkeit des täglichen Brotes in den bäuerlichen Familien Österreichs um 1930, in: Helmut Eberhart u. a. (Hg.): Volksfrömmigkeit. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1989 in Graz, Wien 1990, 285–300 (291). 15 Michael Unterlercher : In der Einschicht. Das Leben eines Kärntner Bergbauernbuben, Klagenfurt 1932 (Nachdruck 1976), 153.

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fest, als Pfarrer Tillian den Lichterglanz des Christbaumes in das Tal brachte – noch nicht in die Häuser – so schnell lassen sich gute Gebräuche nicht in das Volk verpflanzen, nein, zuerst nur ins Wiedweger Kirchlein.“16 Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein galt der Christbaum als etwas typisch Evangelisches und stand zuerst in der Kirche oder der Schule, noch nicht in den Privathäusern. Die Bäuerin Barbara Stich erinnert sich, dass die ganze Weihnachtsfeier im evangelischen Haus im Jahr 1922 einfach „Christbam“ genannt wurde.17 Am eindrücklichsten aber die Schilderung Unterlerchers des Ostertages mit der häuslichen Andacht, diesmal in Kärntner Dialekt: „n’Oastersunntig wert n”chn Hausgottesdeanst, d”s is n”chn Prödiglesn, Betn und Heilige-Liader-Singen, a bsunders guats Essn ”fn Tisch gstöllt: Rahmsuppm, Fleisch, Bratl, Kraut, Kreansoß, Kr”pfn, alls miglane und ummiglane Guate. N”chn Essn geaht n”cher aniads mit an Buach in sei Winkele, der ”lte M”tl mit Luthers Hauspostille, der V”ter mit Arndts ,Wahrem Christentum‘, die Schwöster mitn Gs”ngbuach. G”r der junge M”tl nimmp a Gebetbüachl, w”nn ers a umgekehrter vor seinder h”t. Es is still in g”nzn Haus.“18 Ob auch das „Klöckeln“, ein in den evangelisch geprägten Gegenden Kärntens bis heute beliebter adventlicher Brauch mit Heischegang, als evangelisch gelten kann, muss wohl dahingestellt bleiben.19 Die Wiener Ethnologin Helga Maria Wolf hat in den 1990er Jahren alte und neue Bräuche in Wien dokumentiert.20 Sie nennt es „Rituale der Lebensfreude und Lebenshilfe“. Dafür hat sie die katholischen und evangelischen Gemeinden befragt, und zwar einmal im Jahr 1990 und dann wieder sieben Jahre später. In Wien werden Bräuche „gemacht“, sie entstehen und verschwinden wieder. Wenig überraschend orientieren sie sich am Jahreslauf, vor allem an Weihnachten und Ostern, aber auch am Lebenslauf. Insgesamt zeigt sich eine Zunahme der Bräuche im evangelischen Bereich bis hin zu den „liturgienahen Bräuchen“, etwa bei Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen. Während in der agrarischen und industriellen Gesellschaft die Güter im Vordergrund standen, sind es in der postmodernen Wissensgesellschaft die Erlebnisse. Der Gestalter des Brauches wird zum Arrangeur, der bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten inszeniert. Die Teilnehmenden an den Bräuchen verstehen sich als Gäste. 16 A. a. O., 154. 17 Vgl. Berta Schachner : Aus dem Leben meiner Großeltern. Geschichten und Gedichte von Barbara Stich, Wien 2006, 14. 18 Michael Unterlercher : In der Einschicht, a. a. O. (s. Anm. 15), 43. 19 Vgl. Franz Franzisci: Kulturstudien über Volksleben, Sitten und Bräuche in Kärnten, 1879, Neuauflage hg. v. Günther Biermann (= Das Kärntner Landesarchiv 36), Klagenfurt 2009, 44f. 20 Vgl. Helga Maria Wolf: Das BrauchBuch, Freiburg i. Br. u. a. 1992; dies.: Das neue BrauchBuch, Wien 2000.

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Auffällig ist eine sichtbare evangelische Markierung von bislang üblicherweise katholisch dominierten Bräuchen. Das betrifft den Christbaum und den Adventkranz, der zu einem jahreszeitlichen Kennzeichen der Diakonie gemacht wurde. Es lässt sich aber auch an der Einkehr des katholischen Martinsfestes in die evangelischen Kindergärten beobachten. Dabei wird die evangelische Herkunft des Lichterumzuges betont. Der inszenierte Erlebnischarakter des neuen Brauchtums verlangt nach ungewöhnlichen Zeiten. Insgesamt nimmt die Inanspruchnahme der Nacht zu. Dies ist an den nächtlichen Feiern zu Weihnachten und Ostern ablesbar, an den Gebetsnächten, die in manchen Gemeinden durchgeführt werden, am ökumenischen Projekt der „Langen Nacht der Kirchen“, am „Kirchenschlaf“, der schon beinahe zur Zeit der Konfirmationsvorbereitung dazugehört wie die Freizeiten und selbstgestalteten Gottesdienste. Zur ungewöhnlichen Zeit kommt der ungewöhnliche Ort. Ganz bewusst feiern Evangelische in den letzten Jahren vermehrt in der Öffentlichkeit. Da gibt es Gottesdienste im Einkaufszentrum ebenso wie Reformationsfeiern auf den Plätzen der Stadt. In der Diözese Steiermark haben Gemeinden im Jahr 2013 gemeinsam an drei Orten große öffentliche Reformationsfeiern mit Gottesdiensten durchgeführt. Die Erfahrungen waren durchwegs positiv. Ich versuche eine Zwischenbilanz: Menschen haben Bräuche und wenn sie keine bekommen, erfinden sie selbst welche. Bräuche ermöglichen ein gemeinschaftliches Handeln im öffentlichen Raum. In Ansätzen entwickeln sich evangelische Bräuche unter heutigen Lebensbedingungen. Sie sind es wert, gefördert und wissenschaftlich begleitet zu werden.

Die Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. med. Joachim Bauer, Jahrgang 1954, Universitätsprofessor für Psychoneuroimmunologie und Sachbuchautor, Facharzt für Innere Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik für Psychosomatische Medizin, Universitätsklinikum Freiburg im Breisgau, Deutschland. Hon.-Prof. Dr. Michael Bünker, Jahrgang 1954, Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich. Prof. Dr. Wilfried Engemann, Jahrgang 1959, Professor für Praktische Theologie am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien, Österreich. Prof. Dr. Christofer Frey, Jahrgang 1938, Professor für Systematische Theologie (Schwerpunkt Ethik) an der Ev.-Theol. Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Deutschland. Prof. Dr. Wilhelm Gräb, Jahrgang 1948, Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Extraordinary Professor an der Universität von Stellenbosch, Südafrika. Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr. h.c. Ronald Grossarth-Maticek, Jahrgang 1940, Professor für präventive Medizin, Direktor des zwischenstaatlichen Programmes des European Center for Peace and Development (ECPD) für multidisziplinäre Studien (Belgrad), Leiter des multidisziplinären Forschungsprogramms „Religion, Mensch und Gesellschaft“ am Diakoniewissenschaftlichen Institut der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg, Deutschland. Thomas Hirsch-Hüffell, Jahrgang 1954, Pfarrer, Leitender Mitarbeiter am Gottesdienstinstitut der Nordkirche in Hamburg, Deutschland.

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Die Autorinnen und Autoren

Mag. Bernhard Kirchmeier, Jahrgang 1989, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praktische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Deutschland, bis Herbst 2015 Assistent am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Österreich. Dr. Gunnar Kristj‚nsson, Jahrgang 1945, Propst der Evangelisch-Lutherischen Volkskirche in Island, Publizist, Luther-Forscher, Mosfellsbær, Island. Dr. Annette Cornelia Müller, Jahrgang 1971, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Religionspädagogik des Institutes für Evangelische Theologie an der Universität Kassel, 2008–2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum Schreiben der Universität Paderborn, Pastorin der Lippischen Landeskirche, Deutschland. Prof. Dr. Bent Flemming Nielsen, Jahrgang 1949, Professor für Dogmatik am Department für Systematische Theologie der Theologischen Fakultät der Universität Kopenhagen, Dänemark.

Personenregister

Achelis, Ernst Christian 153 Adams, Jay A. 163 Althaus, Paul 128 Anselm, Reiner 139 Aristoteles 126f., 130 Ýrnason, MörÅur 89 Asad, Talal 117 Augustin 150 Auhagen, Ann Elisabeth 83 Baier, Kurt 122 Bakhtin, Mikhail 114 Barth, Karl 103–107, 111, 115–117, 119, 138 Barth, Ulrich 57, 98 Barthes, Roland 174 Basse, Ottokar 175 Basse-Soltau, Ursula 175 Bateson, Gregory 173 Bauer, Joachim 10, 37, 40, 44f., 88, 187 Baumgarten, Otto 153 Baurmann, Jürgen 193 Beck, Ulrich 155 Becker-Huberti, Manfred 212 Bell, Catherine 117f. Benediktsson, Jakob 93 Benson, Herbert 83 Berger, Martin 176 Berger, Peter L. 25, 126 Bethge, Eberhard 194 Beutel, Albrecht 54, 175 Bieri, Peter 11, 21, 146f., 149f., 154, 156, 158–163, 206 Bieritz, Karl-Heinrich 177

Biermann, Günther 215 Birkner, Hans Joachim 168, 170 Birnbacher, Dieter 139 Bjarnason, Æorkell 101 Björnsson, P‚ll 97 Bloch, Ernst 140 Bloth, Peter C. 170 Blumenberg, Hans 137 Böhme, Michael 20, 145 Bohnke-Kollwitz, Jutta 208 Bonhoeffer, Dietrich 127, 194 Boothe, Brigitte 179 Borchardt, Urte 168 Bourdieu, Pierre 117f. Bräuer, Gerd 202, 204 Brunner, Ilse 204 Brunner, Otto 129 Buch-Hansen, Gitte 106 Buddrus, Volker 202 Bukowski, Peter 203 Bultmann, Rudolf 103, 107–111, 116, 119, 133f., 167 Bünker, Michael 11f. Cappelørn, Niels Jørgen 115 Coackley, Sarah 117 Cohn, Ruth 202 Colli, Giorgio 177 Csordas, Thomas J. 117f. Dabrock, Peter 180 Dalferth, Ingolf 171 Damasio, Antonio 122 Darwin, Charles 37, 39, 43

220 Davidson, Donald 157 Dawkins, Richard 44, 133 de Jong, Theresia Maria 82 de Spinoza, Baruch 140 Deeg, Alexander 114, 181 Descartes, Ren¦ 122, 140 Deuser, Hermann 115 Dietrich, Michael 163 Drehsen, Volker 214 Drews, Paul 214 Durkheim, Emile 140 Eberhart, Helmut 214 Ebertz, Michael N. 213 Eco, Umberto 174 Ehm, Simone 84 Ehrenberg, Alain 155 Eibach, Ulrich 180 Eimterbäumer, Alexandra 207 Elbow, Peter 198 Elert, Werner 128 Engelmann, Peter 178 Engemann, Wilfried 10f., 13, 17, 20–24, 27, 30, 41, 71f., 87, 100, 112, 144f., 151, 154f., 167, 172, 174–177, 201, 206 Eßbach, Wolfgang 9, 23, 25f., 35 Faberman, Harvey A. 132 Failing, Wolf-Eckart 214 Ficus, Andr¦ 19, 148 Fischer, Hermann 93 Fischer, Johannes 133 Fischer-Lichte, Erika 114 Flew, Antony 122 Foitzik, Alexander 180 Fontane, Theodor 18 Franzisci, Franz 215 Frerichs, Jacob 169 Freudenberger-Lötz, Petra 205 Frey, Christofer 11, 122f., 126, 130, 139 Fuentes, Carlos 207 Fürstenberg, Friedrich 212f. Gadamer, Hans-Georg 167 Ganten, Detlev 43 Garhammer, Erich 200

Personenregister

Gebauer, Gunter 117 Gehlen, Arnold 127 Gerbert, Frank 156 Gerdes, Hayo 115 Gesang, Bernward 139 Geybels, Hans 91, 100 Gidion, Anne 201 von Gierke, Otto Friedrich 124 Girgensohn, Katrin 198 G†slason, Konr‚Å 92 Glindemann, Barbara 197 von Goethe, Johann Wolfgang 92, 208 Goldberg, Bonni 198 Goldberg, Natalie 205 Gottschalk, Katherine 204 Gräb, Wilhelm 10, 30, 62, 100, 112, 166f., 170, 177, 181f., 203 Graf, Friedrich Wilhelm 99 Gremmels, Christian 194 Grethlein, Christian 98, 100, 112, 167, 214 Grießer-Birnmeyer, Franziska 168 Grimm, Bernhard A. 38 Grimm, Jacob 18 Grimm, Wilhelm 18 Grober-Glück, Gerda 214 Gronemeyer, Marianne 155 Grossarth-Maticek, Ronald 10, 69, 74, 79, 81 Grözinger, Albrecht 152, 169, 176f. GuÅmundsson, Æorgeir 92 Habermas, Jürgen 157, 177 Hahn, Ulla 196f. Hall, Stuart 178 Hallgr†msson, Jûnas 92f. Harants, Martin 183 Hare, Richard Mervyn 136 von Harnack, Adolf 137f. Härle, Wilfried 61f., 179f. Harthern, Ernst 96 Hartinger, Walter 213 Hartinger, Wolfgang 214 Haslinger, Josef 197, 202 Hauschildt, Eberhard 166 Heffron, Jack 198 Hefti, Ren¦ 82

221

Personenregister

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 137 Heidegger, Martin 108 Heimbrock, Hans-Günter 214 Heimes, Silke 199 Helgason, Jûn 93 Herberg, Will 124 Hermelink, Jan 207 Herms, Eilert 62, 128 von Heyl, Andreas 207 Hirsch, Emanuel 115 Hirsch-Hüffell, Thomas 11 Hitler, Adolf 43, 156 Hjortshoj, Keith 204 Hobsbawm, Eric 213 Hoennicke, Gustav 37 Holm, Bent 114 Honneth, Axel 128 Hörmann, Hans 173 Hugason, Hjalti 92 Huizing, Klaas 166 Hume, David 122, 129 Husserl, Edmund 57, 137 Insel, Thomas R.

98, 128,

45

Jakob, Ramona 198 Jellinek, Georg 124 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm Jobst, Albrecht 213 Joest, Wilfried 133 Jûhannsson, Frosti F. 97 Jonas, Ludwig 130, 169 Jûnasson, Jûn Ýrni 101 Josuttis, Manfred 189 Jüngel, Eberhard 27, 141 Kahlo, Frida 207 Kallibis, Wolfgang 82 Kamlah, Wilhelm 126 Kamm, Helga 200 Kant, Immanuel 25, 57, 136, 156, 177 Kastner, Angelika 82 Kattner, Heinz 200f. Kaufmann, Franz-Xaver 178, 182 Kauppi, Niilo 118

50

Keller, Rudi 173 Kress, Bruno 95 Khoury, Adel Theodor 179 Kierkegaard, Søren 92, 103, 115f., 119 Kim-Wawrzinek, Utta 129 Kirchmeier, Bernhard 11, 13, 165 Klessmann, Michael 112, 160 Klose, Wilhelm 89 Knieling, Reiner 171 Koch, Traugott 169 Kochanek, Hermann 152 Kodalle, Klaus-M. 168 Koenig, Herold G. 83 Kohler, Erika 212 Kollwitz, Käthe 208 Koretzki, Gerd-Rüdiger 180 Korsch, Dietrich 62 Korthaus, Michael 183 Körtner, Ulrich H. J. 139, 166, 169, 175f., 179 Krause, Katharina 168 Krewani, Wolfgang Nikolaus 138 Kristj‚nsson, Gunnar 10, 89, 92, 96 Kristj‚nsson, LfflÅv†k 97 Kurz, Wolfram K. 30 Lämmlin, Georg 183 LaMothe, Kimerer 118 Läpple, Alfred 213 Läpple, Volker 144 Latour, Bruno 55f. Latzel, Thorsten 207 Laxness, Halldûr 95–97 Leibniz, Gottfried Wilhelm 140 Lenz, Michael 202 Lenzen, Dieter 131 Levinas, Emmanuel 138 Libet, Benjamin 156f. Liebknecht, Karl 208 Lorensen, Marlene Ringgaard 114 Lowe, Sarah M. 207 Lübbe, Hermann 133, 177f. Luckmann, Thomas 25, 126 Luhmann, Niklas 131 Luthe, Swantje 168 Luther, Henning 175

222 Luther, Martin 29, 31, 34, 91, 98, 113, 128f., 139, 212, 215 Lütze, Frank M. 204 Luxemburg, Rosa 97, 208 Lyotard, Jean-FranÅois 138, 178 Mannheim, Karl 18, 126 Marezoll, Johann Gottlob 50 Marty, Eric 174 Matignon, Laura 157 Mauss, Marcel 118 McCullough, Michael 83 Meier, Heinrich 99 Merton, Robert K. 132 Meyer-Blanck, Michael 112, 166, 174, 176 Michel, Karl Markus 98 Mill, John Stuart 127, 134f. Mitscherlich, Alexander 160 Moccia, Federico 211 Modehn, Christian 182 Moldenhauer, Eva 98 Montinari, Mazzino 177 Mörth, Ingo 213 Moser, Christian 195 Moxter, Michael 168 Muchlinsky, Frank 172 Müller, Annette Cornelia 11, 193 Müller, Hans-Peter 179 Müller, Johann B. 129 Müller, Wolfgang Erich 50 Murdoch, Iris 133 Murken, Sebastian 84 Murrmann-Kahl, Michael 176 Mynster, Jacob Peter 92–94, 99 Nase, Eckart 161, 164 Nielsen, Bent Flemming 10, 114, 117 Nielsen, Kirsten Busch 117 Nietzsche, Friedrich 175, 177, 182 Nord, Ilona 24 Nussbaum, Martha 127 Omotoye, Rotimi 123 Ortner, Sherry B. 118 Otto, Maria 207

Personenregister

Pals, Daniel L. 118 Pannenberg, Wolfhart 33f. Pargment, Kenneth 83f. Parsons, Talcott 131 Pauer-Studer, Herlinde 127 Perl, Sondra 198 P¦turson, Brynjûlfur 92 P¦tursson, Hallgr†mur 89, 97 P¦tursson, P¦tur 92 Petzold, Hilarion G. 151, 154 Pfister, Oskar 143, 145f., 149, 159–161, 164 Pfürtner, Stephan H. 131 Platon 38, 195 Plessner, Hellmuth 25, 134 Pohl-Patalong, Uta 172, 180 Pope, Liston 122 Porsch, Hedwig 179 Protagoras 38 Ranger, Terence 213 Raschzok, Klaus 183 Räthzel, Nora 178 Redeker, Martin 168 Reichenbach, Hans 132 Reichertz, Jo 172f., 175 Rendtorff, Trutz 137 Ricœur, Paul 128, 138 Rivera, Diego 207 Roß, Jan 56f. Rosenstock-Huessy, Eugen M. F. Roth, Gerhard 156f. Rothe, Richard 130 Rothert, Hans-Joachim 130 Rothgangel, Martin 205 Röttgers, Kurt 177 Ruesch, Jürgen 173

175

Sæmundsson, Tûmas 92–94 Saint-Exup¦ry, Antoine 207f. Sanfey, Alan G. 47 Sartre, Jean-Paul 159 von Sass, Hartmut 168 Schachner, Berta 215 Schälike, Julius 139 Scharfenberg, Joachim 144, 154, 160

223

Personenregister

Schechner, Richard 114 vom Scheidt, Jürgen 193, 202, 205 Scheiner, Thomas 39 Schlagheck, Michael 155 Schlechta, Karl 175 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 54, 91, 93, 101, 112, 130, 138, 140f., 168–172 Schmidt-Rost, Reinhard 112 Schneider, Hanns-Heinrich 39 Schnitzler, Theodor 213 Scholpp, Stefan 183 Schönwitz, Jürgen 181 Schultheis, Franz 213 Schulze, Gerhard 155 Schüßler, Werner 140 Schütz, Alfred 132 Schwab, Ulrich 166 Schwarz Lausten, Martin 92 Schwier, Helmut 214 Shapiro, James A. 44 Sidgwick, Henry 133 Sielert, Uwe 202 Soff, Marianne 207 Sommerfeld, Sulamith 199 Spalding, Johann J. 49–51, 53f., 203 Steinmeier, Anne M. 168 Stich, Barbara 215 Stoellger, Philipp 179 Stoevesandt, Hinrich 106 Stone, Gregory Prentice 132 Sturm, Erdmann 140 Sundermeier, Theo 90, 98, 100 Tammeus, Rudolf 180 Teglbjærg, Johanne Stubbe 117 Teller, Wilhelm Abraham 50 Thomas, Dorothy S. 132 Thomas, William I. 132 Thomas von Aquin 135

Thurneysen, Eduard 30f., 103, 111–116, 118f., 144, 153 Tietze, Ulrich 199f. Tillich, Paul 94, 97, 101, 140, 183, 206 Tödt, Eduard 127 Töllner, Johann Gottlieb 50–52 Treichel, Hans-Ulrich 197, 202 Troeltsch, Ernst 37, 124, 183, 214 Trotzki, Leo 207 Ueland, Brenda 198 Ulrich, Peter 178f., 182 Unterlercher, Michael 214f. Utsch, Michael 83f. Valdimarsdûttir, Æûrunn 92 Valsson, P‚ll 101 Vetter, Hermann 81 V†dal†n, Jûn Æorkelsson 89 Vondung, Klaus 126 Wagner, Falk 176 Wahl, Heribert 152 Waldenfels, Bernhard 13, 25 Walser, Martin 19, 148 Walther, Christian 176, 178f., 181f. Walti, Christian 168 Watzlawick, Paul 173 Weber, Max 123f., 140 Weikert, Richard 43 Welz, Claudia 169f. von Werder, Lutz 198 Weyel, Birgit 166f., 170 Weymann, Alfred 180 Winckelmann, Johannes 140 Winnemuth, Heike 157 Wolf, Helga Maria 215 Ziemer, Jürgen 20, 112, 145 Zippert, Christian 180