Menschen und Welten in Bewegung: Der Ostalpen- und Donauraum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert 9783534273720, 9783534273744, 9783534273737, 3534273729

Aus der Perspektive der globalen Migrationsgeschichte erzählt diese Studie die Geschichte des Ostalpen- und Donauraums b

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Menschen und Welten in Bewegung: Der Ostalpen- und Donauraum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert
 9783534273720, 9783534273744, 9783534273737, 3534273729

Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Einführende Gedanken und umfassende Danksagung
Eine umfassende Danksagung …
… und eine spezifische Danksagung
1 Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung
1.1 Ausgangsposition und Sprache
1.2 Konventionen: Zeitrechnungen und Periodisierungen
1.3 Wissenschaftler*innen mit und ohne Migrationshintergrund und pluralen Erfahrungen
1.4 Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften
1.5 Die Ostalpen- und Donau-Region über die Zeiten
Welt und Region von den Anfängen bis zum 8. Jahrhundert u. Z.
2 Naturregion und menschliche Besiedlung
2.1 Erdgeschichte und Naturgeschichte
2.2 Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen
2.3 Kulturentwicklungen: Am Anfang war das Handeln
2.4 Fruchtbarkeitsverehrung und weitläufiger Handel in donauländischen urbanen Kulturen
2.5 Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.
3 Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.
3.1 Bronze herstellende Gesellschaften: Neue Ressourcen, neue Hierarchien
3.2 Transeuropäische Kulturen, vielfältige lokale Eigenarten, veränderte Kontaktzonen
3.3 Salzbergwerker- und Handwerker-Familien: Lebens-, Arbeits-, Herrschaftsweisen
3.4 Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen
3.5 Körperlichkeiten und Spiritualitäten
3.6 Fernhandel und Nahmigration in vernetzten Ökumenen
4 Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.
4.1 „Völker“: Konstrukte ohne empirische Daten
4.2 Keltisch-sprachige Menschen bis zum 1. Jahrhundert v. u. Z.
4.3 Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert
4.4 Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum
4.5 Transmittelmeerisches Reich, 2. bis 5. Jahrhundert: Krisen, Neuerungen, Verschiebungen
4.6 Reichswirren, Großverbände, Verödungen: Die Krisenzeiten des 3. bis 5. Jahrhunderts
4.7 Keltisch-romanische Überlebende und bayerisch- sowie slawisch-sprachige Zuwander*innen
4.8 Macht über Menschen: Zuwandernde Militärführer etablieren „Grundherrschaft“
5 Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft
5.1 Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus
5.2 Gründungsmythen: Mensch (Adam) und Leben (Hawa) im Kontext
5.3 Die Entwicklung der „Israeliten“ und ihrer Narrative zu Gesellschaft und Geschlecht
5.4 Traditionelle und hellenisierte Juden, abweichende Christus-Gläubige
5.5 Von vielfältig gelebter zu staatlich akzeptierter christlicher Religion
5.6 Métissage in transeuropäischen Verflechtungen
5.7 Zuwandernde Kirchenmänner und Religiose im Voralpenraum
Die Entwicklung Lateineuropas im Kontext der „Alten Welt“ als Rahmen für Regionales
6 Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts
6.1 Kriegsherren, Magnaten und Bischöfe: Eliten zwischen Kontinuität und Neuerfindung
6.2 Die Institutionalisierung der Lateinischen Kirche
6.3 Fränkische Herrscher und ihre vielkulturellen Untertanen
6.4 Weltliche und kirchliche Herrschaft im Ostalpenraum, 7. bis 10. Jahrhundert
6.5 West-/ Lateineuropa in der tri-kontinentalen Welt
6.6 Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen?
6.7 Herrscher-Familien im ZWH und Kirchenherrscher in Rom bis zum 13. Jahrhundert
6.8 Herrschaft im Ostalpenraum, Ost- und Südostexpansion
6.9 Besitzverhältnisse und Konsolidierung in der Kirchenprovinz Salzburg
6.10 Herrscher und Territorien bis zum 14. Jahrhundert: Staufer, Přemysl, Habsburg
6.11 Kreuzkriege und Mongolenhorror: Attraktive Levante und Pax mongolica
6.12 Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug
Lebens- und Bewegungsweisen vom 8. bis zum 15. Jahrhundert
7 Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger
7.1 Chroniken ohne Menschen …
7.2 … und Schenkungen-Handel mit Menschen
7.3 Konzepte: Eigenleute und Sklaven in komparativer Perspektive
7.4 Konsolidierung von Grundherrschaft in der vielsprachigen Kirchenprovinz
7.5 Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/ Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben
7.6 Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen
7.7 Waldwirtschaft und Bergbau
7.8 Bevölkerung, Geldwirtschaft und Sozialstruktur: Entwicklungen bis ins 13. Jahrhundert
7.9 Widerständigkeiten selbstständig denkender Männer und Frauen
7.10 Neue Diskurse über ländliches Leben: Städter, Sänger, Wandermönche
7.11 Die Krise des 14. Jahrhunderts als demografische und alltagsweltliche Zäsur
8 Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten
8.1 Vernetzte Marktorte: Wege der Zirkulation von Menschen, Geld und Waren
8.2 Markt- und Ackerbürger-Städte
8.3 Zentraler und Residenz-Ort: Salzburg-Stadt
8.4 Handwerker*innen
8.5 Berufe und Prozesse: Haus-Werk-Stätten, Wohnräume, Stadtlandschaften
8.6 Elitenkonsum: Schreib-, Bekleidungs- und Dombau-Handwerk
8.7 Salzburg-Stadt: Soziale Schichtung, caritas, Selbstverwaltung
8.8 Alltagsmobilität und Fahrende, Reisende, Durchziehende
8.9 Fernes Nahes: Venedigerhandel und „Venediger“ in Erzählungen
8.10 Fernkaufleute: Transkontinentale Routen und Waren
9 Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege
9.1 Natur, Dämonen, Gottheiten: Überlagerungen und Verschmelzungen
9.2 Kirchenglaube: Praktische, erzählerische und visuelle Neuerungen
9.3 Helfer*innen und Mittler*innen: Die Besiedlung des spirituellen Zwischenraumes
9.4 Mönche, Nonnen, Priester: „Niedere“ Geistlichkeit im institutionellen Zwischenraum
9.5 Menschenbilder: Kindheiten, Emotionen, Gender
9.6 Totalitäre Kurie, „elende“ Humanität, neue Orden
9.7 Institution Kirche: Apparat und hohe Kleriker in der Kirchenprovinz Salzburg
9.8 Die Familie Habsburg nähert sich, Erzbischöfe reagieren
9.9 Fragen und Satiren zu rechtem Glauben und sozialer Gerechtigkeit
9.10 Eigene Wege und Bewegungen
9.11 Institutionelle Innenkämpfe: Konstanzer Konzil, viele Päpste, Scheitern
9.12 Religionskriege, Reformen und Judenvernichtung in Böhmen, Salzburg und Österreich
10 Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert
10.1 Wirtschaft und Herrschaft nach der Pest
10.2 Leben in kleineren Städten und Marktorten
10.3 Stadt und Land: Ordnungen, Weistümer, Bräuche
10.4 Gewerbetreibende und „Gemeine“
10.5 Ländliche und landstädtische Menschen
10.6 Wirtschaften in Wald und Gebirge
10.7 Die FEB-Krisen 1462 bis 1495
10.8 Gesellschaft und Machtstrukturen
11 Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre
11.1 Familie Habsburg, Herrschaft – Großreich – Kolonien, und FEB Matthäus Lang
11.2 Annäherung: Osmanisch-muslimische Heere und Herrschaft
11.3 Die „Last der Kirche“ und das „rechte“ Evangelium
11.4 Kritisches Denken und Befreiungsversuche seit 1462
11.5 Befreiungsforderungen: Von Beschwernissen zu Selbstbestimmung und gerechter Obrigkeit
11.6 Der FEB und seine Räte: Was tun?
11.7 Befreiungskriege 1525/26 und ihre Niederschlagung
11.8 Die Landesordnung von 1526: Weistum und Diktat
11.9 Bilder eigener und weiterer Welten
Veränderte Welten, 15./16. Jahrhundert
12 Globale Perspektiven bis zum 16. Jahrhundert, regionaler Ausblick bis 1803/16
12.1 Weltbilder: Geografie, Renaissance, seelenlose, aber arbeitsfähige Wesen
12.2 Fernes Nahes: Globale Veränderungen im 15. und 16. Jahrhundert
12.3 Europas weltweite „Vororte“ … und Küchen und Wohnzimmer im Ostalpen- und Donauraum
12.4 Ausblick: Vom Ende bürgerlicher Freiheiten bis zum Herrschaftsende, 1803/16
Knappe Hinweise zu Literatur und Abbildungsnachweisen
Literatur zur Ostalpen- und Donauregion und, herrschaftlich, zur Salzburger Kirchenprovinz
Zu „Salzburg“ im engeren Sinn
Teilregionen Österreichs, Österreich-Ungarn, Habsburger Vielvölkerstaat und Vorläufer
Benachbarte und entfernte Kontaktregionen und jüdische Diaspora
Entfernte Kontaktregionen
Europäische Geschichte
Weltgeschichte
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Dirk Hoerder

Menschen und Welten in Bewegung Der Ostalpen- und Donauraum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert

Dirk Hoerder Menschen und Welten in Bewegung

Dirk Hoerder

Menschen und Welten in Bewegung Der Ostalpen- und Donauraum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert

Gedruckt mit Unterstützung durch RD Foundation Vienna Gemeinnützige Privatstiftung

Land Salzburg, Abteilung Kultur und Wissenschaft

Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Abt. Wissenschaft und Forschung

Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, Abt. Kultur

Kulturland Oberösterreich

Institut für Historische Sozialforschung, Arbeiterkammer Wien

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Inhaltsverzeichnis

Einführende Gedanken und umfassende Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung . . . . . . 1.1 Ausgangsposition und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Konventionen: Zeitrechnungen und Periodisierungen . . . . . . 1.3 Wissenschaftler*innen mit und ohne Migrationshintergrund und pluralen Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Ostalpen- und Donau-Region über die Zeiten . . . . . . . .

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Welt und Region von den Anfängen bis zum 8. Jahrhundert u. Z. 2

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Naturregion und menschliche Besiedlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Erdgeschichte und Naturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen . . . . . . . . . . . . 2.3 Kulturentwicklungen: Am Anfang war das Handeln . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Fruchtbarkeitsverehrung und weitläufiger Handel in donauländischen urbanen Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z. . . 3.1 Bronze herstellende Gesellschaften: Neue Ressourcen, neue Hierarchien . . . . . 3.2 Transeuropäische Kulturen, vielfältige lokale Eigenarten, veränderte Kontaktzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Salzbergwerker- und Handwerker-Familien: Lebens-, Arbeits-, Herrschaftsweisen 3.4 Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen . . . . . . . . 3.5 Körperlichkeiten und Spiritualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Fernhandel und Nahmigration in vernetzten Ökumenen . . . . . . . . . . . . . .

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z. . . . 4.1 „Völker“: Konstrukte ohne empirische Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Keltisch-sprachige Menschen bis zum 1. Jahrhundert v. u. Z. . . . . . . . . . 4.3 Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert 4.4 Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Transmittelmeerisches Reich, 2. bis 5. Jahrhundert: Krisen, Neuerungen, Verschiebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Reichswirren, Großverbände, Verödungen: Die Krisenzeiten des 3. bis 5. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

4.7 Keltisch-romanische Überlebende und bayerisch- sowie slawisch-sprachige Zuwander*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.8 Macht über Menschen: Zuwandernde Militärführer etablieren „Grundherrschaft“ 112 5

Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft . . . 5.1 Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus . 5.2 Gründungsmythen: Mensch (Adam) und Leben (Hawa) im Kontext . . . 5.3 Die Entwicklung der „Israeliten“ und ihrer Narrative zu Gesellschaft und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Traditionelle und hellenisierte Juden, abweichende Christus-Gläubige . . 5.5 Von vielfältig gelebter zu staatlich akzeptierter christlicher Religion . . . . 5.6 Métissage in transeuropäischen Verflechtungen . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Zuwandernde Kirchenmänner und Religiose im Voralpenraum . . . . . .

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Die Entwicklung Lateineuropas im Kontext der „Alten Welt“ als Rahmen für Regionales 6

Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Kriegsherren, Magnaten und Bischöfe: Eliten zwischen Kontinuität und Neuerfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Institutionalisierung der Lateinischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Fränkische Herrscher und ihre vielkulturellen Untertanen . . . . . . . . . . . . 6.4 Weltliche und kirchliche Herrschaft im Ostalpenraum, 7. bis 10. Jahrhundert . . 6.5 West-/Lateineuropa in der tri-kontinentalen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen? . 6.7 Herrscher-Familien im ZWH und Kirchenherrscher in Rom bis zum 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8 Herrschaft im Ostalpenraum, Ost- und Südostexpansion . . . . . . . . . . . . . 6.9 Besitzverhältnisse und Konsolidierung in der Kirchenprovinz Salzburg . . . . . 6.10 Herrscher und Territorien bis zum 14. Jahrhundert: Staufer, Přemysl, Habsburg . 6.11 Kreuzkriege und Mongolenhorror: Attraktive Levante und Pax mongolica . . . 6.12 Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug . . .

151 153 156 163 170 173 177 183 187 193 196 202 207

Lebens- und Bewegungsweisen vom 8. bis zum 15. Jahrhundert 7

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Chroniken ohne Menschen … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 … und Schenkungen-Handel mit Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Konzepte: Eigenleute und Sklaven in komparativer Perspektive . . . . . . . 7.4 Konsolidierung von Grundherrschaft in der vielsprachigen Kirchenprovinz 7.5 Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben 7.6 Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Waldwirtschaft und Bergbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8 Bevölkerung, Geldwirtschaft und Sozialstruktur: Entwicklungen bis ins 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

7.9 Widerständigkeiten selbstständig denkender Männer und Frauen . . . . . . . . 262 7.10 Neue Diskurse über ländliches Leben: Städter, Sänger, Wandermönche . . . . . 266 7.11 Die Krise des 14. Jahrhunderts als demografische und alltagsweltliche Zäsur . . 271 8

Produzierende und Mächtige in Marktorten und Städten . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Vernetzte Marktorte: Wege der Zirkulation von Menschen, Geld und Waren 8.2 Markt- und Ackerbürger-Städte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Zentraler und Residenz-Ort: Salzburg-Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Handwerker*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Berufe und Prozesse: Haus-Werk-Stätten, Wohnräume, Stadtlandschaften . 8.6 Elitenkonsum: Schreib-, Bekleidungs- und Dombau-Handwerk . . . . . . . 8.7 Salzburg-Stadt: Soziale Schichtung, caritas, Selbstverwaltung . . . . . . . . . 8.8 Alltagsmobilität und Fahrende, Reisende, Durchziehende . . . . . . . . . . . 8.9 Fernes Nahes: Venedigerhandel und „Venediger“ in Erzählungen . . . . . . . 8.10 Fernkaufleute: Transkontinentale Routen und Waren . . . . . . . . . . . . .

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Alltagsglaube, Vermittler*innen, Institutionen, eigene Wege . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Natur, Dämonen, Gottheiten: Überlagerungen und Verschmelzungen . . . . . 9.2 Kirchenglaube: Praktische, erzählerische und visuelle Neuerungen . . . . . . . 9.3 Helfer*innen und Mittler*innen: Die Besiedlung des spirituellen Zwischenraumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Mönche, Nonnen, Priester: „Niedere“ Geistlichkeit im institutionellen Zwischenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Menschenbilder: Kindheiten, Emotionen, Gender . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Totalitäre Kurie, „elende“ Humanität, neue Orden . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7 Institution Kirche: Apparat und hohe Kleriker in der Kirchenprovinz Salzburg 9.8 Die Familie Habsburg nähert sich, Erzbischöfe reagieren . . . . . . . . . . . . 9.9 Fragen und Satiren zu rechtem Glauben und sozialer Gerechtigkeit . . . . . . 9.10 Eigene Wege und Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.11 Institutionelle Innenkämpfe: Konstanzer Konzil, viele Päpste, Scheitern . . . . 9.12 Religionskriege, Reformen und Judenvernichtung in Böhmen, Salzburg und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10 Wirtschaft, Alltagsleben und Herrschaft vom Großen Sterben bis zum 16. Jahrhundert 10.1 Wirtschaft und Herrschaft nach der Pest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Leben in kleineren Städten und Marktorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Stadt und Land: Ordnungen, Weistümer, Bräuche . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Gewerbetreibende und „Gemeine“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Ländliche und landstädtische Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Wirtschaften in Wald und Gebirge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.7 Die FEB-Krisen 1462 bis 1495 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.8 Gesellschaft und Machtstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

11 Ferne Kriege, Widerstand, Versuche der Selbstbefreiung, 1450er–1530er Jahre . . . . 11.1 Familie Habsburg, Herrschaft – Großreich – Kolonien, und FEB Matthäus Lang 11.2 Annäherung: Osmanisch-muslimische Heere und Herrschaft . . . . . . . . . . 11.3 Die „Last der Kirche“ und das „rechte“ Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Kritisches Denken und Befreiungsversuche seit 1462 . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Befreiungsforderungen: Von Beschwernissen zu Selbstbestimmung und gerechter Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6 Der FEB und seine Räte: Was tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7 Befreiungskriege 1525/26 und ihre Niederschlagung . . . . . . . . . . . . . . . . 11.8 Die Landesordnung von 1526: Weistum und Diktat . . . . . . . . . . . . . . . . 11.9 Bilder eigener und weiterer Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Veränderte Welten, 15./16. Jahrhundert 12. Globale Perspektiven bis zum 16. Jahrhundert, regionaler Ausblick bis 1803/16 . . . 12.1 Weltbilder: Geografie, Renaissance, seelenlose, aber arbeitsfähige Wesen . . . 12.2 Fernes Nahes: Globale Veränderungen im 15. und 16. Jahrhundert . . . . . . . 12.3 Europas weltweite „Vororte“ … und Küchen und Wohnzimmer im Ostalpenund Donauraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Ausblick: Vom Ende bürgerlicher Freiheiten bis zum Herrschaftsende, 1803/16

Knappe Hinweise zu Literatur und Abbildungsnachweisen

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Abkürzungen EB, FEB Erzbischof, Fürsterzbischof Hz, Ehz Herzog, Erzherzog a. amtierte, h. herrschte, d.G. der Große, a.D. außer Dienst a.d.F. auf der Flucht EBExil im Exil HB Herrschaftsbereich HRR Heiliges Römisches Reich RR Römisches Reich, westlich bis etwa 500 und östlich bis 1453 ZWH Zentraleuropäisch-Weltlicher Herrschaftsbereich ZWR Zentraleuropäisches Weltliches Reich, nach Goldener Bulle 1356 MGSL – Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburgische Landeskunde

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r.

regierte

EBKonkurrent Gegen-Erzbischof

Einführende Gedanken und umfassende Danksagung Gewidmet allen, von denen ich in meinem Leben gelernt habe Erarbeitet im Sinne einer chinesischen Weisheit: „Besser auf einem neuen Weg etwas stolpern, als in alten Pfaden auf der Stelle zu treten.“ Regionen und Orte, das heißt die Menschen in ihnen, sind Teile weitläufiger, mittlerer und kleinerer Gesellschaften in Beziehungen zu vielen anderen. Menschen handeln nicht in umgrenzten Staaten, ummauerten Städten, isolierten Dörfern. Der Donau- und Ostalpenraum, den ich hier untersuche, war Teil weltweiter, in die Anfänge menschlichen Lebens zurückreichender Entwicklungen. Die dort Lebenden stehen hier beispielhaft für „glokale“ – globale und lokale – Vernetzungen und Perspektiven. Kurz-sichtige Meinungen erklären die spezifische Globalisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem neuen und bedrohlichen Phänomen. Weit-sichtigere Perspektiven zeigen, wie seit dem Beginn menschlicher Geschichte Lokales und Regionales mit Makroregionalem und Transkontinentalem verbunden waren. Globalisierung ist die langanhaltende oder dauerhafte Verbindung zwischen großen Teilen der Welt in unterschiedlicher Intensität. Jede Entwicklung, die die Region – administrativ seit etwa 800 Salzburger Kirchenprovinz – erreichte, führe ich von ihrem Ausgangsort dorthin, von der Menschwerdung in Ostafrika über Religionsschaffende in dem Raum zwischen östlichem Mittelmeer, iranischem Hochland und Zwei- und Einstrom-Region bis zu denen, die Gesellschaften und Kulturlandschaften zwischen Pannonien und Adria, Tauern und Donau erschaffen haben. Ich stelle die Region natur- und humangeschichtlich von den Anfängen bis ins 8. Jahrhundert unserer Zeit dar (Kap. 2–5) und den mittelmeerisch-europäischen Rahmen für regionale Entwicklungen, 5. bis 15. Jahrhundert (Kap. 6). Danach konzentriere ich mich auf die Menschen der Region und ihre weitläufigen Vernetzungen bis zum Einschnitt der Krise des 14. Jahrhunderts (Kap. 7–9) und Entwicklungen von der Pest bis zu den Befrei-

ungskriegen (Kap. 10 und 11). Abschließend öffne ich die Perspektive auf die am Beginn des 16. Jahrhunderts erweiterte Welt (Kap. 12). Ich hebe die Leistungen der jeweils Lebenden in Landwirtschaft und Handwerk hervor: Mikrokosmos alltäglichen Lebens im Makrokosmos der Herrschaftsrahmen und Ökonomien der drei Kontinente. Angesichts der traditionellen Dominanz der Blickrichtung „von oben“ tue ich dies ausführlich, denn „oben“ umfasste nur etwa zwei Prozent der jeweils Lebenden. Doch mit diesen Macht- und Diskurs-Herrschern mussten alle „Unteren“ sich auseinandersetzen. Alle Menschen weltweit sind migratorischen Hintergrunds. In der Region, die noch nicht „Salzburg“ oder „Habsburg“ hieß, haben einst Zugewanderte Salz weitläufig gehandelt und fremde Güter und Bräuche eingeführt. Nachfolgende entwickelten eine keltische Kultur, romanisierte „Kelten“ und keltisierte „Römer“ sahen sich im 2. Jahrhundert durch angreifende „Germanen“ bedroht. Sie alle ahnten nicht, dass spätere Kulturfixisten sie mit diesen Gruppenetiketten versehen würden. Die Menschen schufen sich eigene lokale Glaubenswelten und adaptierten Religionen aus dem Orient. Im 6. Jahrhundert bedrohten „Awaren“ sie und „Franken“ nahmen ihr Land und machten sie „leib-“ bzw. „lebenseigen“. Erinnerer sprachen und sprechen von Awaren-„Einfällen“, aber vom merowingisch-karolingischen „Reich“. Selbstbezogene, das heißt parteiliche Bezeichnungen und Erzählungen übernehme ich nicht. Die Zwei-Prozent-Elite setzte nicht nur Rahmen, sondern ließ auch vieles zerstören. Herrscher ließen ihre Söldner Hütten, Äcker und Höfe brandschatzen, verpfändeten Kärntner*innen und Steirer*innen an Gläubiger, benachbarte Grafen ließen im 12. Jahrhundert Salzburg-Stadt niederbrennen, ein fundamentalistischer 1 Erzbischof 1731/32 an-

Als Fundamentalisten bezeichne ich Mächtige, Individuen oder Gruppen gleich welcher Religion oder politischer Linie, die ihre dogmatisierte Überzeugung anderen mit Gewalt aufzwingen.

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dersgläubige Christen vertreiben. 1934/38 vertrieben alteingesessene und zugewanderte Nazis alteingesessene Juden und Andersdenkende. „Einfache“ Menschen, nicht die Mächtigen, erschufen Schritt-weise Kulturlandschaften, Märkte und Zentralorte. Die Vernetzung des Lokalen und Globalen ebenso wie die Verankerung des Globalen im Lokalen war augenfällig. Keltische Magnaten erwarben Schmuckmuscheln aus dem Indischen Ozean; römische Legionäre an Donau und Rhein stammten aus Syrien; einheimische Säumer transportierten begehrte Güter aus Venedig über transalpine Saumpfade; dörfliche Familien in den „frühe Neuzeit“ genannten Jahrhunderten konservierten ihre Perchtenmasken mit Ölen aus Arabien. Ein Fürsterzbischof investierte am Ende des 17. Jahrhunderts in die Niederländisch-Ostindische Kompanie und den dafür abgeschöpften Mehrwert erwirtschafteten ländliche Menschen. Nach einem verbreiteten Narrativ war der Kleriker Rupertus, Zuwanderer aus Franken und später als „Heiliger“ bezeichnet, um 700 Gründervater von Salzburg-Stadt. Doch hatte die Siedlung bereits lange Geschichte. Die in Salzburg-Stadt residierenden Kirchenherren hatten sich um 800 unserer Zeitzählung (u. Z.) eine Provinz von der Donau bis zur Drau, von Isar und Etsch/Adige bis in die pannonische Ebene mit den Flüssen March, Wenia und Leitha als Grenzen erobert, von weltlichen Magnaten schenken lassen oder erkauft. Die Erzbischöfe selbst waren „Fremdarbeiter“ mit hohen Unterhaltsforderungen und teurer Esskultur. Im Osten waren Vindobona/Wien und Poetovio/Pettau, die zur Zeit römischer Herrschaft bis zu 40.000 Einwohner*innen zählten, zu kleinen Orten geschrumpft. Im Westen war das zukünftige Freising eine Burg, München eine kleine Siedlung, die erst im 12. Jahrhundert als Markt benannt wurde. Keine Entwicklung beginnt oder endet an nur einem Ort, in nur einer Region. 2 Menschen erscheint ihre „Muttersprache“ bodenständig und klar. Doch schon der Name der Kirchenprovinz, „Salzburg“, hat viele Bedeutungen.

Salz bauten Menschen in den zwei Jahrtausenden vor unserer Zeitzählung (v. u. Z.) an vielen Orten der Region ab, Zuwander*innen aus dem Süden nannten die Region Noricum und die Stadt Iuvavum, eine Burg als befestigte Wohnanlage ließen aus Westen herangezogene bayerische Herrscher erbauen. Das mittelalterliche „Salzburg“ war gleichzeitig Stift, Diözese und Kirchenprovinz von jeweils anderer, veränderbarer geografischer Ausdehnung und seit Mitte des 14. Jahrhunderts, weltlich, ein Fürstentum. Die Region war nach 800 Teil zentraleuropäischer Herrschaftsbereiche von wechselnder Ausdehnung und nach 1918 Teil eines kontrahierenden Staates. Die jeweils aktuellen Grenzen legten nahe und ferne Macht-Träger fest oder änderten sie; den flexiblen Wirtschaftsraum bestimmten natürliche Gegebenheiten und das Handeln arbeitender Menschen. Die Geschichte der Region ist schwierig zu schreiben: Erinnerer haben sie in „Bayern“ und „Österreich“ geteilt, haben sich auf Salzburg-Diözese oder auch nur Salzburg-Stadt konzentriert, Hierarchie-Liebhaber sie auf „Erzbischof“ reduziert, andere in der Gegenwart auf dahoam. 3 Reisende schufen sich Bilder: Gebirgsschönheit? Mozart-bezogene, intensiv vermarktete Musikkultur? Hirnforscher*innen wissen, dass Menschen Bilder sehr viel schneller aufnehmen als Wort und Text und dass im Gehirn Hunderte von Einzelwahrnehmungen zu einem schematischen Bild zusammengesetzt werden. Warum diese Region als Ankerpunkt für eine transkulturell-regional-globale Untersuchung? Für Regionen um Hafenstädte wie Triest oder Messestädte wie Leipzig wären globale Verbindungen sofort ersichtlich; für kleinere Industrieorte wie Wiener Neustadt oder Linz wären wirtschaftssektorale und migratorische Einbindungen ebenfalls selbstverständlich. Doch war auch die Ostalpen-Donauregion bereits in früher Zeit durch Stein- und nachfolgend Kupferhandel sowie, wiederum später, als Hallstatt-und-Dürrnberg-Kultur weitläufig vernetzt, als römische Noricum-Kultur Teil imperialer Kontexte, dann Teil europa- und westafrikaweiter Edelmetallproduktion. Am Nordrand floss ein

David Thelen, „Of Audiences, Borderlands, and Comparisons: Toward the Internationalization of American History“, Journal of American History 79 (1992), 432–462. 3 Die Provinzialität haben kritische, zum Teil verfolgte Schriftsteller*innen betont. Die Lokalzeitung publiziert seit Herbst 2013 das „Wohlfühlmagazin“ Dahoam, lokaler Dialekt für „Heimat“, und ein in Österreich weitbekannter Heimatsänger verkündet, „da bin ich geboren und da nur bin ich dahoam“. 2

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transeuropäischer Wasserweg, Pässe ermöglichten Süd-Nord-Verbindungen bis zur Adria, die Flüsse Mur, Drau und Save flossen west-östlich. Als Residenz des Erzbischofs war die Stadt Salzburg zentral, kleinere Städte jedoch auch von überregionaler Bedeutung. Der Raum kann als prototypisch für lokalmakroregionale Verbindungen gelten. Die Wahl des Blickpunktes setzt auch Perspektiven: Passau als Ausgangspunkt hätte Donauhandel und Pannonien stärker in den Vordergrund gestellt, Sabaria/Stein am Anger/Szombathely am östlichen Rand der Kirchenprovinz – Markt an der Römerstraße (später: Bernsteinstraße) von der Ostsee nach Aquileia; dann Siedlungsregion von Onoguren, Awaren und Slawen; nach 797 fränkische Grafschaft und ab 860 Besitz des Salzburger Erzbischofs; Zuwanderung deutschsprachiger Siedlerfamilien und, in der frühen Neuzeit, kroatischer – hätte eine bessere Hervorhebung der Beziehungen zwischen Ostalpen und Pannonien/Karpaten ermöglicht. Um die mikroregional-globalen Vernetzungen zu verstehen, muss der Blick auf handelnde Menschen aller Schichten, Kulturen und Berufsgruppen gerichtet werden und auf das, was nicht offensichtlich ist. Was ist wichtig, was unwichtig – und aus wessen Sicht? Wie würde eine Geschichte, wenn es sie gäbe, so gestaltet, geglättet, verwoben, strukturiert werden, dass sie alle Menschen der Region umfasst und doch lesbar ist? Die Region hat viele Aspekte – dies wird ein langes Buch werden. Damit es nicht zwei dicke Bände werden, ende ich die analysierende Erzählung am Übergang zum 16. Jahrhundert, als sich vom Rhein bis zur Steiermark ländliche und städtische Menschen gegen Mächtige wehrten und europäische Herrscher begannen, viele Menschen und ihr Dahoam in Südostasien und Südamerika zu annektieren. Kindeskindern der zeitgenössischen Bewohner*innen würden die von dort importierten Produkte neue Essgewohnheiten ermöglichen (Kap. 12). Für meine Analyse und Interpretation nehme ich Anregungen aus den mir bekannten englisch-, französisch- und deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskursen auf: Beginne ich meine Untersuchung mit Fragen und Hypothesen? Mit „je me pose la question“? Oder mit großem Theorierahmen? Die theoretischen Ansätze, die Studierende in den 1970er Jahren aus gutem Grund forderten, haben Adepten in Theoriegebirge gewandelt, in

die Daten oft nicht Einlass finden. Hypothesen ermöglichen es, Fragestellungen mit Ansätzen und Interpretationen zu verbinden – sie sind flexibel. Das schätze ich. „Ich stelle mir die Frage“ bringt die Position und Sozialisation des Autors/der Autorin ein. Das sollte selbstverständlich sein. Die deutsche Sprache lässt mit ihren Passivund Substantiv-Konstruktionen historisches Handeln kaum fassen; die Mehrzahl der Begriffe, die Historiker*innen und Schulbuch-Autor*innen verwenden, sind unhistorisch, denn vorangehende interessen-geleitete und zeitspezifische DiskursSchaffende formten sie. Der Herrscher Karl wurde erst im 10. Jahrhundert aus politischen Gründen zu „dem Großen“ stilisiert; von den vielen Menschen, die über Jahrhunderte ihre lokalen Priester und die Rom-Kirche kritisierten, hieß nur einer Martin Luther. Die Geschichte der deutsch-dialekt-sprachigen Ostsiedlung ist ebenso Geschichte slawisch-dialektsprachiger Westsiedlung. Ich werde die Sprache prozessangemessen verwenden und sie dafür, wenn notwendig, aktiv formen. Menschen machen ihre Geschichte selbst, jedoch unter Bedingungen, die nicht sie, sondern vorangehende Generationen, Oberschichten, Wirtschaftsordnungen, Normensysteme und Sprachregimes geschaffen haben. Im Rahmen von Naturgegebenen Einschränkungen und Herrscher-gegebenen Belastungen nutzen sie Optionen und setzen sich mit Beschränkungen auseinander, leisten Widerstand oder passen sich an. Wenn sie ihre Lebenswege gestalten, bedeutet jede Entscheidung für eine Option den Ausschluss anderer. Der Blick auf Optionen statt der Unterstellung, dass Leben linear verlaufen, erfordert differenzierte Formulierungen: Menschen „konnten“ etwas tun, doch nur manche – und nicht die Menschen – entschieden sich dafür: Bestimmte Artikel reduzieren Vielfältiges. Gesellschaftliche Schichtungen erfordern angemessene Formulierungen: Nicht ein Erzbischof baute den Dom, er ließ bauen und dafür Spezialisten aus der Ferne anwerben und ansässige Fronarbeiter*innen Fundamente ausschachten. Hierarchien, Gender und Intergenerationelles erfordern Sprachreflexion. Nach herkömmlichem Verständnis kontrollierten Salzherren den Bergbau – oder waren es Familien, die von Produktion und Vermarktung profitierten? Ansässige Männer und Frauen, Kinder als kommende Generation, Zu- und Abwandernde stelle ich in Familienkontexten ins Zentrum. Das ist 11

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schwierig. Die Einfluss-Reichen haben ihre Geschichte geschrieben – diese Texte dienten Erzählern oft als Quellen. Bauern- und Handwerkerfamilien schufen materielle Produkte – sie galten vielen nicht als Quellen. Kleriker änderten das Gebot der Bibel-Autoren, „du sollst vom Baum der Erkenntnis nicht essen“, zu „du sollst Lesen und Schreiben nicht lernen“. In diesem Denkrahmen hinterließen „einfache“ Menschen scheinbar so wenig Spuren wie ein Schiff im Wasser. Real veränderten sie die feste, physische Erdoberfläche, schufen durch zielorientierte Arbeit Kulturlandschaften und durch ihre vielen Lebenswege Gesellschaften. Ortsgeschichte beginnt nicht mit „der Kirche“ oder „der Burg“, sondern prozesshaft: Wer trägt die Steine heran? Wer baut? Wer richtet ein? Sie beginnt mit der Frage nach der Basis von Macht: Wer zahlte? Wie ernährten die Dom- und Wohnbauer sich und wie bauten sie ihre Unterkünfte? Ihre Welten schufen die Menschen mit Händen, Augen und mit Konzepten in ihren Köpfen. All dies machten die Herrscher über Erinnerung vergessen: damnatio memoriae 4. Mit ihren fest geknüpften Diskursen haben sie Geschichte zur Monokultur gemacht, glatt wie eine Wasseroberfläche, öde wie eine Plantage. Auch die Leben dieser Rahmen-Setzer werde ich behandeln. Die Leben der Menschen und die Gesellschaften, die sie entwickelten, waren hochkomplex. Im

Sektor Landwirtschaft mussten Haus- und Dorfgemeinschaften ein Gleichgewicht zwischen Ressourcen, Arbeitsaufkommen und Mindestbedürfnissen erreichen. Im Sektor Handwerk mit früher Spezialisierung arbeiteten Produzent*innen zusammen, sprachen Produktionsverläufe ab und gestalteten Familienarbeit. Für die Massenproduktion – Faustkeile in der Steinzeit oder Bogensteine in der Kathedralen-Zeit – mussten Produktion von Einzelteilen und zeitgerechte Anlieferung auf Markt oder Baustelle prozessangemessen sein. Beschicker*innen der Märkte für den täglichen Bedarf mussten diesen genau kennen und weder zu viel noch zu wenig anbieten. Diese Leistungen versuche ich ausführlich darzustellen. So, wie Entscheidungen von Menschen für eine Option Alternativen ausschließen, hängen Antworten und Schweigen von Historiker*innen davon ab, wie sie Fragen stellen und für welche sie sich entscheiden. Ich versuche darauf zu achten, dass Begriffskonstrukte und umgrenztes, zeitgebundenes und anderweitig vorbelastetes Denken das Stellen von Fragen nicht be- oder verhindert. Die Schuttschichten einseitiger Begrifflichkeiten und Erzählungen müssen abgetragen werden und diese Studie ist Stadium eines ebenso individuellen wie umfassenden Denk-, Erinnerungs- und Analyseprozesses. Sie bietet vielfache Optionen, sie weiterzuführen.

Eine umfassende Danksagung … Diese Untersuchung und Synthese sind das Ergebnis meiner Entwicklung und der Anregungen durch Kolleginnen und Kollegen, Familie, Studierende, Menschen aus meinen alltäglichen Begegnungen, denen ich umfassend danken will. Geboren wurde ich 1943 im Norden des faschistischen Großdeutschen Reiches. Die Großväter waren im Ersten Weltkrieg umgekommen. Mit sieben Jahren lebte ich, ohne nur einmal migriert zu sein, bereits im dritten Staatssystem: ephemere Systeme und Kontinuität in Einzelleben. Beeinflusst haben mich, Kind in bürgerlicher Familie, Mitschüler aus proletarischen Schichten in meiner Nach-

kriegsschulzeit am Hamburger Hafen; später Handwerker und Arbeiter, denen ich bei der Arbeit zugesehen oder geholfen habe; dann die kritischrebellierenden Studierenden der 1960er Jahre. Intellektuell befreiend war ein erster Studienaufenthalt an der Universität Minnesota 1966/67, wo Sozialgeschichte nicht aus der Disziplin „Geschichte“ ausgegliedert wurde; geholfen haben seit 1977 die kritischen Kolleg*innen der Universität Bremen und später in Toronto, Paris und anderswo. Feministische Freundinnen beförderten mein Verständnis für Geschlechterhierarchisierung 5 und gendered perspectives; unsere, einst kleine, Tochter

Durch damnatio memoriae ließen römische Herrscher die Erinnerung an missliebig gewordene Personen, zum Beispiel in der Kaiserzeit an einen Thronkonkurrenten, auslöschen. 5 Geschlechterhierarchie wäre eine statische Bezeichnung, der Prozess geschieht aktiv. 4

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weckte Verständnis für das Erschließen der Welt durch kindliche Augen und Denkformen, für intergenerationelle Entwicklungen. Beeinflusst haben mich intensive Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen in allen Kulturen, in denen ich gelebt habe – neben Deutschland und Österreich die USA, Kanada, Frankreich, England. In den 1960er und 1970er Jahren, als „einfache“ Menschen in der historischen Erinnerung (Singular) fehlten, haben wir uns sehr vieles selbst erarbeiten müssen. Damals haben auch wir sie als inarticulate bezeichnet, weil wir uns nicht vorstellen konnten, Quellen zu finden, die eine Annäherung ermöglichen würden. Nur in „Bauernkriegen“ und Revolutionen gäbe es Zeichen ihres Handelns. Dies wurde in der DDR erforscht. Doch die Menschen hatten sich sehr gut ausdrücken können, wir mussten lernen zuzuhören. Da die deutsche Sprache es zielbewusst schwer macht, Handlung auszudrücken, bin ich in die englische Sprache abgewandert und habe mich dort wohlgefühlt. Außerdem war die Diskussionskultur unter nordamerikanischen Kolleg*innen offener und zielführender. Anregungen gaben mir die vielen Fachvorträge, die ich irgendwo, irgendwann gehört habe und die so wichtig waren, dass sie mir in Erinnerung geblieben sind, wenn auch nicht mehr in jedem Fall mit Namen und Personen verbunden. Zu den hervorragenden Kolleginnen und Kollegen, die oft auch Freundinnen und Freunde geworden sind, gehören die der Netzwerke der Social Science History Association und der European Social Science History Conference sowie der vielen Symposien, an denen ich habe teilnehmen können oder die ich dank der Unterstützung von Stiftungen selbst habe organisieren können. Besonders wichtig waren und sind für mich Museen und Ausstellungen, Public History. Die Umsetzung von wissenschaftlichen Fachtexten in lesbare, präzise, zum Nachdenken anregende Kurztexte in Ausstellungsräumen ist eine hohe Kunst: Respekt den Kurator*innen. Ich versuche meine Darstellung so zu gestalten, dass sie für historisch Interessierte verständlich ist und die in zahllose Teildisziplinen aufgespaltenen Forschungen verbindet. Viele meiner Denkpartner*innen kamen aus anderen Fachgebieten, der Humangeografie, Öko-

nomie, Soziologie, der Alten Geschichte und der Byzantinistik. Das Schreiben war anstrengend, durch Illustrationen hoffe ich vieles anschaulicher zu machen. 6 In allen Bereichen waren Frauen aktiv und unsere Sprache wäre differenzierter, wenn sie ohne Einfügung von Sternchen Geschlechterdifferenzierung ermöglichen würde oder dies gar von Anbeginn getan hätte. „Historikerinnen“ generisch mit dem Zusatz „dies schließt auch Männer ein“ zu verwenden, ist ebenfalls keine Lösung. Zu erklären ist, weshalb Frauen gegebenenfalls in einzelnen Bereichen nicht aktiv sein durften und wer sie aus der Erinnerung ausgeschlossen hat. Unter Studierenden habe ich vor allem von jungen Frauen und Männern „mit Migrationshintergrund“ gelernt: In zwei Kulturen lebend, waren sie nicht der Gleichförmigkeit nationaler Monokultur verhaftet. Ohnehin sind „mono“ und „Kultur“ unvereinbare Gegensätze. Sie haben mich an der Reichhaltigkeit ihrer Geschichte und Geschichten teilhaben lassen, zeigten sich in Seminargesprächen freier von kulturellen Einbahnstraßen. Dies gilt für Teilnehmer*innen meiner Seminare an der Universität Bremen, der York University (Toronto) und der University of Toronto und vor allem an der Université de Paris 8 Vincennes-St. Denis. Dort waren 95 Prozent meiner Studierenden Zuwander*innen oder Söhne und Töchter zugewanderter Eltern überwiegend aus afrikanischen Ländern. Hervorheben will ich diejenigen, deren Dissertationen mich Neues gelehrt haben. Für all diese Austauschprozesse danke ich. Begonnen habe ich meine kritischen Fragen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mit einer Untersuchung der „kleinen Leute“ in Zeiten beschleunigter sozialer und politischer Veränderungen: crowd action in der Zeit der Revolution in dreizehn der nordamerikanischen Kolonien. Fortgeführt habe ich sie mit Recherchen zur Arbeiterbewegung, -kultur und -widerstand unter anderem als Mitherausgeber der Zeitschrift Gulliver sowie als Herausgeber von Struggle a Hard Battle und anderen kooperativ erstellten Bänden. Gemeinsam konnten wir mehr erreichen als jede*r einzelne von uns in einer Monografie-Einzelschrift. In einem nächsten Schritt habe ich für Creating Societies Lebens-

Ich werde Daten und Orte auch wiederholt benennen. „Eberhard II.“, dahoam gut bekannt, muss für jenseits regionaler und disziplinärer Grenzen Denkende eingeordnet werden.

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geschichten von Männern und Frauen gelesen und nach-gedacht. Sie haben als Zuwander*innen Kanadas viele Regionen gestaltet und gestalten sie weiter, haben eine transkontinentale Gesellschaft von unten her, „from the bottom up“, aufgebaut und bauen weiter an ihr. Auch diese begriffliche Konvention wirft Fragen nach Sprach- und Denkstrukturen auf:

Weshalb wird das Leben „einfacher“ Menschen „at the bottom“ lokalisiert, das der Herrschenden hingegen „at the top“? In meinem Denken wurden Migrant*innen immer zentraler. Nach einer globalen Perspektive, Cultures in Contact, war ein lokaltranskulturell-globaler Blick eine sinnvolle Option.

… und eine spezifische Danksagung An der Lebendigkeit meines Un-Ruhestandes hat die Migrationsforscherin Sylvia Hahn, die diese Studie angeregt hat, mitgewirkt. Sie hatte allerdings Salzburg-Stadt, nicht die Großregion, gemeint. Anregungen habe ich erhalten von Michael Brauer und Norbert Ortmayr (Universität Salzburg) sowie von Sabine Veits-Falk und Peter F. Kramml (Stadtarchiv Salzburg) und Stan Nadel (Historiker); an der Universität Wien von Karl Brunner (Historiker), Josef Ehmer und Ewald Kislinger (Sozial- und Wirtschaftsgeschichte), Johannes Koder (Byzantinistik), Claudia Theune (Archäologie), Johannes Preiser-Kapeller (Anatolien bis China), Claudia Rapp (Glauben und Mobilität in Spätantike und Frühmittelalter), Lioba Theiss (Kunstgeschichte);

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an der Oxford University von John Blair, Kate Cooper, Sarah Foot und Conrad Leyser. Frühe Fassungen einzelner oder mehrerer Kapitel haben, soweit nicht schon genannt, Ernst Langthaler, Reinhold Reith und Juliane Schiel gelesen. Geholfen haben mir Lukas Neissl, Christine Scholten und Rudolf Scholten, Johannes M. Tuzar, Susan Zimmermann und viele andere. Sie teilen nicht alle meiner Interpretationen. Für die große Hilfe, den Text lesbarer zu gestalten, danke ich ganz besonders Anne Kuhlmann, für das Erstellen der Karten Peter Hinterndorfer. Ich danke ganz besonders Claudia Rapp, die inmitten ihrer eigenen intensiven wissenschaftlichen Arbeit immer Ansprechpartnerin war.

1 Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

Menschen schaffen sich ihre Geschichte, spezifisch individuell und gemeinsam kollektiv. Umgangssprachlich „haben“ Institutionen – Staaten, Städte, umgrenzte Gesellschaften – eine Geschichte. Nur eine? Und wer gab sie ihnen? Erinnernde Menschen sehen sich oft als Maßstab und stellen sich selbst ins Zentrum. Diese Ausgangsposition ist verständlich, doch negativ, wenn Ausgangs- und Endpunkt identisch-identitär bleiben. Lineare Erinnerung und Selbstbezug lassen Denken und Handeln provinziell werden. 1 Menschen entwickeln Persönlichkeit und Gemeinschaft prozessual. Von Ostafrika über Anatolien und die Steppen kommende Männer, Frauen und Kinder erreichten vor vermutlich mehr als 200.000 Jahren die alpinen Welten Europas. Sie ernährten sich, schützten sich gegen Kälte und schufen Knochen- und Steinwerkzeuge; sie transportierten und entwickelten Vorstellungen von übermenschlichen Kräften und stellten wie Verwandte von Sibirien bis Palästina in weiblichen Figurinen Fruchtbarkeit dar (Kap. 2). Sie waren wenige, um 8000 v. u. Z. im Raum des heutigen Österreichs vermutlich 7000 Personen, weniger als 60.000 um 3000 v. u. Z., vielleicht 500.000 um das Jahr 0. Salz und Kupfer abbauende „Kelten“ und mittelmeerweit handelnde „Etrusker“ kannten sich, tauschten Produkte und verschmolzen Vorstellungen von Übernatürlichem (Kap. 3). Die Ostalpenund Donauregion annektierten kurz vor dem Jahr 0 u. Z. Soldaten des aus Stadt-Rom dirigierten mittelmeerweiten, vielkulturellen Imperiums. Dessen Kaufleute unterboten Dürrnberger Stein- durch billigeres Meersalz, kauften waffentaugliches norisches Eisen und verehrten neben den römischen Staatsgottheiten sowie Mithras und Isis später auch Christus. Linksdanubisch lebten „Germanen“ und später große Wanderverbände aus dem südlichen Ostseeraum. Im 6. Jahrhundert bewegten sich Sied-

ler*innen entlang der Donau, andere vom Peloponnes in die Tauern, wieder andere von der Weichsel zur Elbe: „Bayern“ scheinen ansässige „Keltoromanen“ in Abhängigkeit gedrückt zu haben, „Slawen“ siedelten bis zum Enns- und Pustertal sowie von Waldviertel und Böhmen bis zur Ostsee. Ein mit bewaffnetem Anhang heranziehender Herrscherclan, als „Franken“ ethnisiert, versklavte Ansässige und ansässig Gewordene. Zuwandernde fränkische und irische Bischöfe verkündeten ihre Version christlicher Religion und zogen Abgaben ein (Kap. 4 und 5). Der Metropolitanverband Salzburg, mit Kirchen zu „Sakrallandschaft“ gestaltet, umfasste um 800 die Suffraganbistümer Freising, Regensburg, Passau und Brixen. Bis ins 13. Jahrhundert hatten die Erzbischöfe sich in Salzburg-Diözese vier Unter-, sogenannte „Eigenbistümer“ eingerichtet – Gurk, Seckau, Lavant, Chiemsee – und unterstellten die südöstlich lebenden slawisch- und deutschsprachigen Menschen ihren Vizedomämtern in Friesach und Leibnitz. Nördlich der Tauern regierte ein Hofmeister in Salzburg-Stadt mit Ämtern vom steirischen Ennstal über Habsburg-Österreich bis Mühldorf und Zillertal am Inn (Habsburg-Tirol). Der Suffraganbischof in Passau regierte bis zum Rand der pannonischen Ebene. All dies umfasste strukturelle und individuelle Aspekte, wirtschaftliche und rechtliche. Bei denen, die der erzbischöflichen Macht ausgesetzt waren, konnten somatisch Magengrimmen und psychisch Wut entstehen. Oder nahmen sie Herrschaft unberührt, vielleicht dankbar hin? Nur in Meistererzählungen enden Nationen und Kirchenprovinzen an Grenzen, die Menschen beiderseits der gedachten Linien leben in Kontakträumen. Das Paradigma umgrenzter Geschichte entwickelten Nationalhistoriker 2 des 19. Jahrhunderts und (er-)fanden so in Zirkelschluss stabile

Die Rolle Europas, von dort sozialisierten Historikern als führend, modellhaft und implizit als „weiß“ dargestellt, wird seit der Dekolonialisierung in globale Entwicklungen eingeordnet. Bartolomé Bennassar und Pierre Chaunu sprechen von einem sich aus intellektueller Enge und Selbstisolierung lösenden Europa, désenclavement (L’ouverture du monde, XIVe–XVIe siècles, Paris 1977), Dipesh Chakrabarty von einer Makroregion unter vielen (Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, übers. von Robin Cackett, Frankfurt/M. 2010, amerikan. 2000); für den deutschsprachigen Raum vgl. besonders die Werke von Sebastian Conrad, Peter Feldbauer und Jürgen Osterhammel. 2 Für die Zeit, in der nur Männer Historiker werden konnten, benenne ich sie geschlechtsspezifisch. 1

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Abb. 1.1 Kirchenprovinz Salzburg mit Nachbar-erz-bistümern

nationale Identitäten. Da noch in der Gegenwart manche Schulbücher in „wir“ und „die Anderen“ trennen, werde ich nationale Versionen kritisch vermerken. 3 In deutscher Benennung gilt Historiografie oft als Geisteswissenschaft; doch da Geist Gesellschaft voraussetzt, heißt es in anderen Sprachkulturen humanities, sciences sociales, histoire des mentalités. Die Urheber*innen historischer Erzählungen in Wissenschafts- wie Alltagsdiskursen bezeichne ich im Folgenden als „Erinnerer“. Sie stehen – wie ich selbst – als Vermittelnde (negotiators)

zwischen einer Vielfalt von Daten und einer verständlichen, das bedeutet vereinfachten, Darstellung. Das Kernprinzip jeden Rechtssystems, dass beide – oder mehr – Seiten gehört werden müssen, audiatur et altera pars, ist unabdingbar für Gesellschaftswissenschaft. 4 Seit der oft punktuell als „1968“ bezeichneten Konzeptrevolution 5 hinterfragen Wissenschaftler*innen die „Meister“-Erzählung, die nie Meisterin-Erzählung war: „Grabe, wo du stehst“, „erinnere, wie du gelebt hast“ oder, statt steinerner Denk-

James W. Loewen fasste am Beispiel der USA die Wertlosigkeit nationaler Geschichtsschreibung zusammen, Lies my Teacher Told Me. Everything Your American History Textbook Got Wrong, New York 2007 (11995). Für Österreich Christiane Hintermann, „Eingrenzung und Ausgrenzung im Schulbuch […]“, in: Dirk Hoerder (Hg.), Humane Einwanderungspolitik – Ist sie zu schaffen? Von der Ankunft über die Teilnahme zur Integration, Frankfurt/M. 2019, 47–60. 4 Arno Borst, „Alpine Mentalität und europäischer Horizont im Mittelalter“, Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 92 (1974), 1–46, bietet eine mustergültige Verbindung von mentalen und sozialen, lokalen und weitläufigen Aspekten regional-menschlicher und praxisorientierter Vorstellungswelten. 5 Fragende Gesellschaftswissenschaftler*innen hatten viele der „neuen“ Konzepte Jahrzehnte früher entwickelt. Das war weder den Diskursmachern noch den Neudenker*innen bekannt. Ich werde sie nennen. 3

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mäler, lebendiges „denk mal lieber selbst“. Denk mal: In der Stadt Salzburg passieren am Beginn des 21. Jahrhunderts Einheimische und Besucher*innen, die sich an Straßennamen orientieren, auf dem kurzen Weg vom Hauptbahnhof zum Fluss Salzach oder zur Altstadt gesammelte Kriege: den Südtiroler Platz, die Kaiserschützenstraße, den Pioniersteg und den Gebirgsjägerplatz sowie die Rainerstraße 6. Welche Absichten hatten diejenigen, die diese Namensschilder annageln ließen? Nach Thomas Bernhard, der nach dem Faschismus und Zweiten Weltkrieg kritisch und bitter über die Stadt-Kleriker schrieb, ist eine Straße im abgelegenen Arbeiter- und Zuwanderer-Stadtteil Lehen benannt. 7 Bernhard arbeitete dort als Jugendlicher. Für die Opfer der faschistischen Machthaber der 1930er und 1940er Jahre werden nur kleine „Stolpersteine“ gelegt – und auch dies erst seit 2007 als Teil einer internationalen Aktion. Es gibt vieles zu tun, vieles Verschüttete auszugraben, sehr vieles neu zu denken und zu erinnern. Im Gebiet der ehemaligen Kirchenprovinz, das heute zu Österreich, Slowenien, Italien und Deutschland gehört, lebten 2015 viele Millionen Menschen, allein im Bundesland Salzburg 538.575 Individuen: Erinnerungen von 276.378 Frauen und 262.197 Männern aller Altersgruppen oder 460.710 Geschichten von Menschen mit österreichischer und 77.865 Geschichten von Menschen mit anderer Staatsbürgerschaft. Auch die Eltern vieler StaatsAngehöriger sind von anderswo zugewandert: Gehören Menschen dem Staat oder in einen Staat? Weshalb zählen Statistiker*innen einen Ausländer*innen- statt einen Zuwander*innen-Anteil? Wie ändert man die Kategorien? Staatsbürgerschaft wird „verliehen“ – über die Ethik des „Verleihens“, die Ideologien der Einordnung und die Ökonomie der Gebühren ließe sich debattieren. 8 Statistiken pauschalisieren Menschen als „Bevölkerung“. Das ist analytisch und kommunikativ notwendig: Einzelne ergeben weder Muster (patterns) noch Trends. Doch lassen sich die Katego-

rien, ebenso praktisch wie gefährlich, mit Eigenschaften verbinden: Der Salzburger ist verschlossen, der Jude treibt Handel, der Österreicher ist Almbauer – alle sind Männer. In einem nur kleinen mentalen Schritt wird aus oft notwendiger Zusammenfassung Vorurteil und gender-bias sowie, für ein zusammenfassendes Wir-Gefühl, „Nation“: Heimat, my home is my castle, dahoam. Wer nicht „wir“ ist, ist „anders“ – im Englischen ein Vorgang mit Täter*innen, othering, im Deutschen eine Eigenschaft, „seltsam“ oder, wenn sehr seltsam, „exotisch“. 9 Illustrieren will ich Urteile und Eigenheiten am Beispiel eines Ehepaars – und vernachlässige, dass es andere Lebensgemeinschaften gibt. 10 Die beiden kleiden sich gern in Dirndl und Lodenjanker, um zu zeigen, dass sie einheimisch sind und überkommene Kleidungsformen schätzen. Sie wachen morgens in einem Bett auf, dessen Grundform im östlichen Mittelmeerraum entstand. Ihre warme Decke aus Baumwolle, Leinen oder vielleicht Seide geht auf die Züchtung von Kulturpflanzen und ihre Veredelung zu Textilien durch Menschen in Indien, Westasien und China zurück; die Webtechniken stammen aus dem Vorderen Orient. Ihre „Pyjamas“ folgen indischer Bekleidungstradition, Filzpantoffeln oder Mokassins, die sie überstreifen, denen früher Kulturen Asiens oder pelzverarbeitender Kulturen Nordamerikas. Im Bad verwenden sie Seife, ein Reinigungsmittel, das Sumerer*innen und Menschen anderswo erfanden, und Armaturen, die vor nicht allzu langer Zeit in Europa und Nordamerika entwickelt wurden. Vor dem Frühstück gehen sie zur Trafik oder, in anderen Versionen der deutschen Sprache, zum Kiosk, persisch und türkisch für einen kleinen – französisch – Pavillon. Sie kaufen mit Münzen – eine Erfindung der Lydier*innen – eine Zeitung und lesen Buchstaben semitischen Ursprungs auf Papier chinesischen Ursprungs, erstellt mittels Buchdruck Mainzer Ursprungs. Sie trägt eine Brille mit Stahlrahmen, er eine Krawattennadel aus Gold: Stahl und Gold sind Produkte

Erzherzog Rainer (gest. 1913) war „Inhaber“ des k.u.k Infanterieregiments Nr. 59, von dessen Soldaten im Ersten Weltkrieg 5000 umkamen. Laut Denkmal „besiegelten unsere Landessöhne ihre Treue mit dem Blute“ (Stand 2016). Sie ließen geschätzte 15.000 „Hinterbliebene“ im Leben. Deren Ansichten wurden nicht erfragt. 7 Thomas Bernhard (1931–1989) erschien das (nationalsozialistische) Johanneum und nach 1945 das Humanistische Gymnasium als „Geistesvernichtungsanstalt“. Dafür verfolgte einer der Lehrer ihn gerichtlich. 8 Bevölkerung Land Salzburg. Stand und Entwicklungen 2015, hg. von Peter Kurz, Salzburg 2015. 9 Wolfgang Benz, Legenden, Lügen, Vorurteile: Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte, München 1990. 10 Teile der Beschreibung paraphrasieren Ralph Linton, „One Hundred Per Cent American“, The American Mercury 40 (1937), 427–429. 6

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

globaler Warenketten, die sich von Bergwerken mit Arbeitsmigrant*innen in Südamerika oder Südafrika über Verhüttung und Vermarktung irgendwo in der Welt, oft wiederum durch Arbeitsmigrant*innen, bis zur Verarbeitung und zum Endprodukt beim Optiker und Juwelier um die Ecke erstrecken. Wo die Pizza, die sie am Mittag essen, die Orangen am Nachmittag und die Gänseleberpastete, die sie sich abends gönnen, herkommen, lassen wir offen, um ihr Leben nicht zu komplex erscheinen zu lassen. Einfügen wollen wir, dass seine Krawatte eine adaptierte Lautfolge für „kroatisch“ ist, denn Kroaten trugen ihr Halstuch-Brauchtum an den Wiener Hof. Heimisch bleiben die beiden bei Getränken, sie trinken gern Zweigelt 11 oder Stiegl 12 und kaufen Käse auf „der Schranne“. Dies Wort müssten sie Sprecher*innen anderer deutscher Dialekte erläutern: Es ist, vereinfacht, der Markt- und Gerichtsplatz. Hier verlassen wir die beiden Heimatverbundenen, die von morgens bis abends, Tag für Tag, globale Verwobenheit leben, aber bei Spaziergängen skeptisch auf ihnen fremd erscheinende Einwohner*innen blicken. Die Mitarbeiterin ihres Zahnarztes in Salzburg-Stadt kommt aus Burkina Faso und ist, eigentlich, ganz nett. Sie kann sich in zwei Kulturen bewegen. Sie fühlen sich wohl in ihrem Leben; sie könnten sich ihre globale Verwobenheit bewusst machen. Traditionalisten lehnen Andere – „die Ausländer“ der Statistik, „die Fremden“ des Diskurses – ab und bewahren „die“ Tradition und nicht derer viele. Doch lehnen sie nur Humanes ab, materiell modernisierten sie immer dann, wenn es ihnen praktisch schien. Das traditionelle Leben, 1910 ohne Autos und 1950 ohne Fernseher, veränderten sie schnell, obwohl das Neue manchen anfangs bedrohlich schien. Wer entscheidet, welche Tradition zu bewahren, welche zu verändern ist? Wer hat das Kapital, Fabriken zu bauen, wer die Macht, Geschichtsbilder zu stanzen? Viele Fragen, wenig Antworten. Ich werde Fragen stellen, auch wenn ich sie nicht beantworten kann. Es ist besser Lücken zu erkennen, als blind hineinzustolpern. Tradition ist ein langsam fließender breiter Fluss, der sich zu immer neuen Ufern bewegt und

dabei Ufer verändert, Inseln entstehen lässt, Altes hinwegschwemmt. Bäche bringen Zufluss, sei es klares Wasser oder nach einem starken Regenguss herabgewaschenes Altholz, Gestein, ganze Baumstämme. Traditionsbauer leiten Wasser für ihre Zwecke ab, Propagandamühlen zum Beispiel, oder verlangsamen und kanalisieren den Traditionsfluss durch Dämme. Tradition ist schwer anzuhalten – von Vereisungen in kalten Wintern abgesehen. Aber auch unter dem Eis fließt die Tradition. Ständig angepasste Erinnerungen und ihre Umsetzung sind Teil der Gedanken und Gefühle, von Kopf und Herz jedes/r Einzelnen. Zusammen ergeben sie ein Selbstbild: „Ich bin“. Diese Individuen und Vielfältigkeiten haben Staatserzähler im Rahmen des Kampfes von Bürgertum versus Nobilität zu unveränderlicher, genetisch-blutsmäßiger Einheit verschmolzen und Salzburger Nazi-Identitäre haben zur Durchsetzung 1938 das Heer des faschistischen Dritten Deutschen Reichs gerufen: ein Volk, ein Staat, eine Geschichte. Nach 1945 riefen sie anders – „identitär“ ist flexibel, wenn nützlich. Archivare gingen umfassender und komplexer vor. Sie sammelten alles, auch die Lebensdaten von Frauen und Kindern, Gewöhnliches und Ungewöhnliches. Nebensächlichkeiten sind immer Teil der Hauptsache. Erzähltes „Ich bin“ oder „Wir sind“ erfordert ein Eingehen auf, Verständnis für oder eine Auseinandersetzung mit Zuhörer*innen: Geschichte soll und Geschichten sollen amüsieren oder lehrreich sein, Werte und Normen vermitteln, Leistungen hervorheben. Dafür geben die Erzähler*innen ihren Worten Struktur, Rhythmus, Reim. Sie gestalten sie. Auch reist Geschichte mit ihren Erzähler*innen. Sie wird verändert, wenn Reisende sich niederlassen und so von Besuchern zu Migrant*innen werden. Geschichten überschreiten mit ihren Bewahrern Grenzen und werden „übersetzt“, wie Fährleute Menschen an ein anderes Ufer über-setzen. Kleriker nannten dies für ihren Bereich translatio. Bevor Menschen beginnen, ihre individuellen Geschichten (Plural) zu erzählen, und Historiker*innen diejenige (Singular) ganzer Gesellschaften, müssten sie sich und den Zuhörenden Rechen-

Friedrich Zweigelt, ursprünglicher Züchter der Rebsorte, war frühes Mitglied der NSDAP und ab 1938 aktiver Faschist und Funktionär des Interessenverbandes der Winzer. Der große österreichische Weinbetrieb Lenz Moser benannte 1975 die Sorte nach ihm. 12 Ein im „Hauß by der Stigen auf der Gstetten“ gebrautes Bier. 11

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Ausgangsposition und Sprache

schaft ablegen. Wie sind sie dorthin gekommen, wo sie ihre Erzählung beginnen? Durch männliche oder weibliche Sozialisation? Aus Arbeiter*innenklasse, Mittelstand oder Patriziat? Als Migrant*innen oder Sesshafte? Fachleute, die sich mit der Entwicklung und den Problemen von Individuen beschäftigen, müssen im Rahmen ihrer Ausbildung zu Psycho-Analytiker*innen eine Selbstanalyse durchlaufen, um ihre unbewussten und unausgesprochenen Sichtweisen zu erkennen. Für Geschichts- und Gesellschafts-Analytiker*innen, die

sich mit der Entwicklung und den Problemen von Kollektiven beschäftigen, war und ist unabdingbar, sich vor Beginn ihrer Forschungen eigenes Werden, Standpunkte, Interessenlagen und Grenzen offenzulegen. 13 Es ist notwendig Zuhörer*innen Standpunkt und Ausgangsposition zu vermitteln und zu begründen, für welche Konventionen von Zeitrechnung, Periodisierung, Begrifflichkeiten sie sich entschieden, für welche Wege und Irrwege ihrer Sprache.

1.1 Ausgangsposition und Sprache Die Folgen nationalstaatlicher Sozialisation waren und sind gravierend, denn dem Anker-punkt „Nationalstaat“ – im Gegensatz zur Schifffahrt auch Endpunkt – fehlte von Beginn an Logik: „Staat“ postuliert seit dem Zeitalter der Revolutionen die Gleichheit aller vor dem Gesetz, „Nation“ stellt eine Mehrheit über sogenannte Minderheiten und basiert auf Ungleichheit. Die Beschränkung auf herrschende Schichten – „frauschende Schicht“ fehlt im Register der intendierten und deshalb sprachlich vorgegebenen Möglichkeiten – schloss proletarische Männer aus und Frauen hatten „Nationalität“ nur abgeleitet über den Vater- oder Ehe-Mann. Alte Menschen galten, abgesehen von Monarchen oder Staatsmännern, als unwichtig, Kinder als unreif. Empirische Untersuchungen zeigen, dass in der Zeit der karolingischen Herrscherfamilie weniger als zwei Prozent zur Elite zählten, etwa 200 Männer in der Ottonischen Zeit, und in der Residenzstadt Salzburg lebte der Erzbischof samt Dienstmannen und sechzig bis achtzig Mönchen und Nonnen neben 5000 Einwohner*innen. Die Einbeziehung des Alltagslebens zeigt, dass Küchengeschichtsschreibung, food history, lokale Land-Stadt-Verflechtun-

gen erkennt und für eine spätere Zeit globale – Zucker, Gewürze, Südfrüchte. Verflechten und Begrenzen sind Gegensätze. 14 Traditionelle Vertreter des methodischen Nationalismus, Elitismus und Territorialismus 15 betonen Quellentreue, doch sind Quellen interpretierbar und „Treue“ ist ein Postulat, dem die Entscheidung vorausgeht, wem Treue zu halten ist. Quellen sind zu befragen und ein nachdenklicher Historiker, der über Alltagskultur im antiken Rom forschte, unterschied zwischen intentional verfassten und zufällig entstandenen Zeugnissen: Erstere seien für eine Geschichte einfacher (ordinary) Menschen irrelevant, letztere wesentlich oder gar ausschlaggebend (crucial). Die „einfachen“ Menschen hatten vielfach besonders schwierige Lebensumstände zu meistern. In Staats- und Kirchenarchiven gelagerte Quellen ließen Institutionen anonym handeln: „Das Konzil beschloss“ – doch den Beschluss fassten als Konziliare – die es laut Duden (Stand August 2020) als Agierende nicht gibt. 16 Die Menschen in Herrschaftsbereichen waren nicht Einheit, sondern lebten lokal-regionale Kultur oder bildeten bei Wanderungen wechselnde Identi-

„The only choice we do have is whether we make our vision as explicit, coherent and compatible with available facts as we can, or whether we employ it more or less unconsciously and incoherently“, schrieb Ernest Gellner und zitierte John Maynard Keynes: „Practical men, who believe themselves to be quite exempt from any intellectual influences, are usually the slaves of some defunct economist“ (1936); Gellner, Plough, Sword and Book. The Structure of Human History, Chicago 1988, 11–12. 14 Pioniere der Alltagsgeschichte im deutschsprachigen Raum waren die Forschungsgruppe um Peter Kriedte, Alf Lüdtke, Hans Medick, Jürgen Schlumbohm (Göttingen) sowie Sigrid Jacobeit und Wolfgang Jacobeit (Berlin-DDR), der Arbeitskreis für Regionalgeschichte (Konstanz, Gerhard Zang u. a.) und das Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft (Salzburg und Wien) mit Gerhard Botz, Josef Ehmer, Helmut Konrad, Helene Maimann u. a. Wegweisend waren die Werke von Arno Borst (Konstanz), Heinrich Fichtenau (Wien), Caroline Ware (Westchester, NY, und Washington, D.C.) u. a. 15 Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller, „Methodological Nationalism, the Social Sciences, and the Study of Migration“, International Migration Review 37 (2003), 576–610. 16 Robert Knapp, Invisible Romans, Cambridge, MA 2011. Alltagsgeschichten der Antike verfassten Hans Kloft, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, 13

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

fikations- oder Schwur-Verbände (Kap. 4). Nach einem Zusammenschluss mag Vereinheitlichung stattgefunden haben, doch haben sich Menschen aus Verbänden immer wieder gelöst, andere sich ihnen angeschlossen. Im verschobenen 19. Jahrhundert von 1815 bis 1914, als methodischer Nationalismus üblich wurde, verließen etwa sechzig Millionen Männer und Frauen Europa, die Mehrzahl transatlantisch, etwa zehn Millionen transkontinental ostwärts. Für die Zeit des Römischen Reiches und des lateineuropäischen Mittelalters (und für andere Weltregionen) ist der Ansatz „interner Kolonialismus“ im Sinne eines Nettotransfers Wert-voller Ressourcen lokal Ansässiger zu nahen und fernen Eliten zielführend. Kolonialismus, seit den Unabhängigkeitsbewegungen der 1950er Jahre gut untersucht und theoretisiert, bedeutet, dass eine sich selbst hochstellende, bewaffnete, oft sehr kleine Gruppe eine andere Gruppe mit eigener Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur unterjocht, sie ausbeutet und kulturell unterdrückt. In Lateineuropa verschenkten oder verkauften weltliche und kirchliche Adlige Arbeitskräftige oder stifteten sie als „Seelgerät“ für ihr eigenes Seelenheil. Die MachtHabenden sahen sich mit den Unter-worfenen nie als Einheit. Sie bildeten eine transeuropäische, wenn auch oft fragmentierte Elite. Historiker*innen, auch umfassend vorgehende, verwenden die Sprache ihrer Zeit. Sie sind ihr verhaftet. Das ist so selbstverständlich wie problemschaffend. Begriffe und Namen suggerieren Gegenwärtiges, wo Historisches ausgedrückt werden soll, und Namengebende stehen in hierarchischem Verhältnis zu Benannten. Letztere verwendeten andere Sprachregister und Konnotationen. Um Handeln und Dynamik möglichst inklusiv wiederzugeben und um unbewusste Konnotationen und einseitige Perspektiven ins Bewusstsein zu heben, forme ich Worte gelegentlich neu oder zerlege sie in ihre Bestandteile. Umgangssprachlich ist es Ziel, die eigene Sprache zu „beherrschen“ oder „der Sprache mächtig zu sein“ – doch kann Sprache mentale Haftanstalt sein. Dass die „sekundäre Funktion der Sprache […] zur primären Kraft einer Weltdeutung“ wird, ist üblich, aber vermeidbar. 17

Eine Ver-ort-ung legt fest, eine Be-weg-ung zeigt Fortschreiten, aber nicht immer Fortschritt; Be-greifen macht etwas physisch anfassbar oder geistig fassbar. Eine Be-deut-ung ist immer auch eine Deutung, ein Moment ist ein aktiver AugenBlick. Diese Bindestrich-Schreibweise macht das Lesen nicht einfacher. Aber wie bei dem Wort Denkmal/denk-mal will ich unter die glatte Oberfläche unseres Sprachflusses schauen und zum Nach- oder Weiter-Denken anregen. Gelegentlich verwende ich Synonyme parallel, um unterschiedliche Konnotationen und Interpretationsmöglichkeiten anzudeuten. Schließlich teile ich zusammengesetzte Worte vielfach durch Bindestrich in die Bestandteile, um Bedeutungen hervorzuheben. In Abwandlung des Aphorismus „unter dem Pflaster liegt der Strand“ lässt sich formulieren: Unter der Sprache liegt die Vielfalt, das intentional Vergessene. Namensgebungen werfen die Frage auf, ob sie dem historischen Kontext angemessen sind. Mit Leib-/Lebenseigenschaft institutionalisierten frühe bayerische Herzöge Sklavengesellschaften und Erzbischöfe waren Menschenbesitzer mit Lebenseigenen. Oder handelte es sich – abmildernder Begriff – um „Unfreie“ (Kap. 7.3)? Was ist historisch, was un-historisch? Für Salzburg-Stadt beschrieb ein Autor den Bau des Chores der „Franziskanerkirche“ – doch war die Stadtpfarrkirche „Unserer Lieben Frau“ gewidmet und Kirche der Petersfrauen. Franziskanische Männer übernahmen sie erst später im Zuge der Gegenreformation. „Historisch angemessen“ erfordert Genauigkeit und Einordnung. In einer frühen Fassung dieses Textes hatte ich versucht, alle ein-seitigen Begriffe durch Anführungszeichen zu kennzeichnen. Das hat den Text unleserlich gemacht. Ich vermeide Etikette, welche „die Nachwelt“ – genauer: individuelle Legendenbildner oder Legendenbildner-Kollektive – historischen Akteuren aufgeklebt hat. Kaiser X „der Große“, Bischof Y „der Heilige“, Herzog Z „der Milde“. Frauen erhalten seltener lobende Beinamen. Wenn möglich erläutere ich, welcher Bio- oder Hagiograph die schmückenden Beinamen erfunden hat. Gelegentlich verwende ich eigene Schreibformen, EBKonkurrenz für sich be-

Mainz 2006; Johannes Koder, Die Byzantiner. Kultur und Alltag im Mittelalter, Wien 2016; und Viktoria Räuchle, Die Mütter Athens und ihre Kinder. Verhaltens- und Gefühlsideale in klassischer Zeit, Berlin 2017. 17 Horst D. Schlosser, Die Macht der Worte. Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert, Wien 2016, Zitat 10.

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kriegende Erzbischöfe, Karl d. G. für „den Großen“. Genau müsste es heißen Karl (seit dem 10. Jh. d. G.) oder Ludwig (seit dem 18. Jh. der Deutsche). Ich vermeide gängige Be-zeichnungen, die Sichtweisen bestimmen. Nahmen Kleriker an „bewaffneten Pilgerzügen“, „Kreuzzügen“ oder „Kreuzkriegen“ teil? In der Gegenwart gilt für Lebensmittel eine Deklarationspflicht des Inhalts, für intellektuelle Lebensmittel – Begriffe und Kategorien – sollte dies auch gelten. Beschönigende Fotos auf zum Beispiel Müsli-Packungen müssen als „Serviervorschlag“ gekennzeichnet sein; die Bezeichnung „Heiliges Römisches Reich“ ist ein Interpretationsvorschlag. Historiker*innen, sozialisiert in der Gesellschaftsform ihrer Zeit, erforschen eine vergangene Zeitebene und verwenden dabei Begriffe, die keiner der beiden Zeitebenen entsprechen, sondern in anderen Interessenlagen und Gesellschaftsformen erfunden und modelliert wurden. 18 Entsprechend „kontaminiert“ sind ihre Konzepte. Maurice Halbwachs hat dies bereits in den 1920er Jahren analysiert. Die faschistischen Diskursherrscher brachten ihn 1945 im KZ um. 19 Historiker*innen und Sprach-Macht-Haber konstruieren eine Sequenz von Ereignis oder Entwicklung zu Erinnerung → Namensgebung in sozialem und physischem Raum, lieu de mémoire, memory space. Dies führt alltagssprachlich zu generischer Verwendung ohne Trennung der Sozialebenen. „Die Tauern“ sind Gebirgskette, Ort von Ressourcen, Kontaktzone. Historiker*innen verwenden meist die Sprache der Kolonial-Herren und -Mächte, wenn sie in post-kolonialer Zeit in Europa oder den Amerikas die Geschichten der Kolonisierten schreiben. 20 Historiker*innen Europas verwenden die Sprache der Oberschichten. Es ist ein mühseliges Unterfangen, Sprache neutraler zu gestalten. Auch ich werde mich von den Sprachverhaftungen nicht immer lösen können. Ein weiteres Problem entsteht aus der Singularisierung und Personifizierung von Ereignissen: „Das Christentum kam nach Salzburg“ – doch gab es viele Versionen der Religion. Den Plural „Chris-

tentümer“ kennt die deutsche Sprache nicht und sie verschweigt, dass aktiv Handelnde die Gedanken weitertrugen. „‚Die Bayern‘ kämpften gegen ‚die Österreicher‘“ verkehrt erstens eine kommunikativ übliche Verkürzung pars pro toto ins Gegenteil: Das Ganze (die Bayern, die Österreicher) steht für einen Teil (die jeweiligen Herrscher). Zweitens verschleiert Territorialisierung (Bayern, Österreich) die kämpfenden Familien (Babenberg, Wittelsbach, Habsburg). Drittens handelte es sich nicht um Personen und Territorien, sondern um Heere, die speziell zu diesem Zweck aufgestellt und zum Töten ausgebildet worden waren. Auch implizite Hierarchien der Sprache bedürfen der Nachfrage: der Kleriker Burkhard von Weispriach, aber nicht der Handwerker Hans von Augsburg; neutraler wäre, zum Beispiel, „Rudolf, aus der einst auf der Habsburg ansässigen Familie“. Ich werde Herkunftsangaben („aus“) als Familiennamen verwenden. In vielen gängigen Sprach-Denk-Strukturen ist Handeln nicht vorgesehen. Dem Ausblenden dienen Passivkonstruktionen sowie Substantivierungen handelnder Sachen und Kräfte: Die Hohensalzburg „wurde gebaut“, Kriege „brechen aus“, „die Revolution begann“, „die Stadt entwickelte sich“. Intransitive Verben benötigen kein Objekt, sie beschreiben, was mit einer Sache (Nominativ) geschieht, ohne eine/n Akteur/in, der oder die das bewirkt. Viele Worte, wenig Klarheit. Mobilität, Migration, Dynamik sind oft nicht Teil der Umgangssprache. Lebensläufe sind dynamisch, aber sie laufen nicht selbst. Ist Kindheit Zustand, wie das Suffix suggeriert, oder Prozess? Ist Familienstand – Kindheit, Ehe, Verwitwung – Event, Sequenz oder Lebenslauf? Andere Sprachen sind weniger handlungs- und zukunftsfeindlich. Den englischen Begriff „transitory“ übersetzen Standardlexika mit „vergänglich“. Dies reduziert den Begriff auf Verlust und beraubt ihn seines zukunftsweisenden Aspektes. „Übergänglich“ wäre eine sinngemäße und sinnvolle Übersetzung. Wenn Menschen ihrem Leben Sinn geben, tun sie dies aktiv. Dem sollte Sprache gerecht werden.

Cláudio Costa Pinheiro, „Blurred Boundaries. Slavery, Unfree Labour and the Subsumption of Multiple Social and Labour Identities in India“, in: Marcel van der Linden und Prabhu P. Mohapatra (Hg.), Labour Matters. Towards Global Histories. Studies in Honour of Sabyasachi Bhattacharya, New Delhi 2009, 173–194, hier 173. 19 „KZ“, hier wie jetzt üblich verwandt, war ein bewusst geschaffener faschistischer Begriff. 20 Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925; Pierre Nora et al., Les Lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984–1992; Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Stuart Hall mit Bill Schwarz, Familiar Stranger. A Life Between Two Islands, London 2017, 24. 18

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

Sprachliche und konzeptionelle Genauigkeit wären ein Ziel, doch verwischt und verändert prozesshaftes Handeln alles kontinuierlich. Kann Wahrheit, Objektivität, Ziel sein? Schiffer verwendeten „Wahr-nehmen“ als „Wahr-schauen“: Ein Matrose im Ausguck am Mast eines Segelschiffes oder mit dem Senkblei am Bug eines Flussschiffes, also in Bewegung, wahrschaute Küstenlinien, Riffe, Wassertiefen und gab die Daten an den Steuermann weiter. Eine Fehlinformation hätte Schiff und Mannschaft gefährdet. Falsche Beschreibungen vergangenen Kursverlaufes steuern menschliche Gemeinschaften in falsche Richtungen und belasten und verwirren ihre Mitglieder. Auch dies will ich mit einem Beispiel aus dem maritimen Bereich erläutern. Beim Beladen großer Frachtschiffe vor Einführung der Container konnte ein Kranführer nicht in die Tiefe des Laderaums blicken. An der Ladeluke stand deshalb der Wahrschaumann, blickte hinab und informierte durch genau definierte Handzeichen („Kategorien“) den Kranführer, wie die Last am Haken zu bewegen sei, ohne Ladearbeiter zu verletzen oder ihnen durch Fehlplatzierung die Arbeit zu erschweren. Historiker*innen blicken in die Tiefe der Geschichte – ihre Texte dürfen nicht als fehlplatzierte Last Menschen erdrücken und ihnen Wege zur eigenen Erinnerung, zu Identitäten und Lebenszielen erschweren oder gar verstellen. In der Frühzeit war genaues Sehen – wahr schauen – für Menschen überlebenswichtig: Die falsche Beurteilung der Bewegung eines Beutetieres konnte für Jagende tödlich sein und für auf Nahrung Wartende Hunger bedeuten. Ihre Wandbilder in Höhlen geben die Bewegungsdynamik von Tieren genauer wieder als die Gemälde späterer Künstler. 21 Für Individuen beginnen Lebenserfahrungen

nicht an einem Ort oder enden dort, auch wenn – ereignisgeschichtlich – Geburt, Heirat und Tod an diesem Ort verzeichnet sind. Sie leben in Regionen, die als Arenen ihres Lebens Sinn-gebend oder Sinnfordernd sind: Lebenswandel und Erfahrungen. Selbstbilder – eigentlich Selbst-moving pictures – müssten ganzheitlich sein. Die um 1540 in der Diözese Salzburg lebenden etwa 60.000 bis 70.000 Menschen inkorporierten Praktiken aus vielen Teilen der Welt – universell – in ihr Leben. 22 Mit der Zeit erinnerten und erinnern sie sich an die Herkunft ihrer Lebensweisen nicht mehr, so selbst-, aber auch so un-verständlich sind sie geworden. In Salzburg-Stadt der Gegenwart gelten Mozartkugeln 23 als Kennzeichen. Das für sie verwendete Wort „Confiserie“ ist nicht urdeutsch, ihr Erfinder war Kind bayerischer Zuwander*innen und bildete sich nach seiner Lehre in Wien, Budapest, Paris und Nizza fort. Die im Osten der ehemaligen Kirchenprovinz verortete „Wiener Küche“ war Kreation zugewanderter böhmischer Köchinnen mit ungarischen Gewürzen und balkanische Rezepten für ansässige Mittelschichtsfamilien mit burgenländischen Dienstmädchen. Erinnerung schließt vieles aus, denn Differenzierung verwirrt. Wer „das Sagen hat“, hat die Macht, der „gezaghebber“ ist im Niederländischen auch der Boss. Die Umsetzung von Vielfalt führt, auch bei der Entwicklung meines Textes, zu Schwierigkeiten: Komplexität ebenso wie Vorsicht vor Generalisierungen erfordert komplexe Sätze – Schachtelsätze. Die deutsche Grammatik erlaubt und ermutigt sie, sie nehmen jedoch Leser*innen den Spaß. Schreiber*innen übrigens ebenfalls. Genauigkeit und Wahrheit sind ein schwieriges Gut.

1.2 Konventionen: Zeitrechnungen und Periodisierungen Menschen schaffen sich Strukturen als Referenzrahmen für ihre Kommunikation. Das heißt auch, dass sie Dynamiken kanalisieren. Was waren die Bauplä-

ne, Zeitrechnungen, Begriffskonstruktionen für die Architektur der Erinnerung? Waren sie zeitgebunden? Sind sie noch zeitgemäß? Ist historische Er-

G. Horvath u. a., „Cavemen Were Better at Depicting Quadruped Walking than Modern Artists: Erroneous Walking Illustrations in the Fine Arts from Prehistory to Today“, PLoS ONE 7.12 (2012): e49786, https://doi:10.1371/journal.pone.0049786 (6. Dezember 2012). 22 Kurt Klein, „Die Bevölkerung Österreichs vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts“, in: Heimold Helczmanovszki (Hg.), Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1973, 47–107, hier 72–73. 23 Für Fremde erläutert ein Hersteller: Ausgesuchte Pistazien, erlesene Mandeln und frisch geröstete Haselnüsse als Basis für die Kugeln aus feinstem Marzipan, heller und dunkler Nougatcrème und zartherber Edelschokolade. Ulrike Kammerhofer-Aggermann, „Die Mozartkugel. Von der lokalen Spezialität zum ‚nationalen Symbol‘ Österreichs“, Salzburg Archiv 15 (1993) 275–292. 21

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Konventionen: Zeitrechnungen und Periodisierungen

innerung ein Wabenbau mit gleichförmigen Wohnungen? Ist sie ein Gebäude mit feuchten Kellerwohnungen, lichten großen Räumen im Erdgeschoss, vielleicht gar Prunkräumen, kleinen Wohnungen mit niedrigen Decken, erreichbar über enge Stiegen, in oberen Stockwerken und unbeheizbaren Kammern für Dienstbot*innen unter dem Dach? Wie verhält sich die Fassade zum Hinterhof und das Fundament zum Dach? Der Zeitverlauf Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft scheint klar und doch gehen Menschen in ihrer Gegenwart konträr an Zukunft und Vergangenheit heran. Zukunft können sie aus ihrem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont nur vermuten, versuchen sie vielleicht gemäß ihren Hoffnungen zu planen oder durch Analyse vergangener Entwicklungen (unter großer Vorsicht) zu projizieren. Vergangenheit hingegen erscheint einfach und fest, sie kann sich nicht mehr verändern. Wieder weiß die Sprache nicht von Täter*innen. 24 Die Langzeitperspektive scheint eindeutig: Vorgeschichte, Stein-Bronze-Eisenzeit, Beginn der Zeitrechnung, Altertum, Mittelalter, Neuzeit. Doch beginnt dies mit einem Stolperstein: Weshalb Vorgeschichte? 25 Hatten die damals Lebenden keine Geschichte? Wer gab den Namen und nahm damit Erinnerung an sie weg? Sind nur Menschen mit Schriftsprache geschichtlicher Erinnerung würdig? 26 Der vertraute Ankerpunkt, Beginn der Zeitrechnung, ist trügerisch, denn es ist unsere und es gibt ihrer viele. Der im überwiegend christlichen Segment der Welt gefeierte Jahrtausendwechsel 1999/2000 fiel, zum Beispiel, ins jüdische Jahr 5760/5761, ins buddhistische 2544, ins islamische 1420/1421, und zu diesem Zeitpunkt lebten in den Regionen der Alpen und der Donau altkatholische, katholische und protestantische Christen, Muslime, Juden, Buddhisten – von Agnostiker*innen und Atheist*innen ganz zu schweigen. Zeitzählung be-

ruht, wie die Temperaturangaben Celsius, Fahrenheit oder Réaumur, auf Absprachen. Zudem berechnete der Komputistiker das Jahr Null, in dem Maria ihr später Christus genanntes Kind gebar, falsch. Ich verwende die Benennung „vor unserer Zeitzählung“ (v. u. Z.) und „unsere Zählung“ (u. Z.). 27 Auch die traditionellen Periodisierungen beruhen auf Problem-schaffenden Sichtweisen und Interessenlagen. Ist es richtig (oder fair), die Jahrhunderte nach dem (angeblichen) Ende des Italisch-Römischen Reiches und vor dessen (angeblicher) Renaissance in Norditalien ein knappes Jahrtausend später als ein „Dazwischen“, ein „Mittelalter“ abzutun? Zu behaupten, dass etwa vierzig Generationen vom 5. bis 14. Jahrhundert in einem Dazwischen lebten, erfordert sehr viel Überheblichkeit. 28 Die frühen Eliten von Gallien bis zur Steiermark kannten die Dramatisierung des Niedergangs des Römischen Reiches nicht, kauften Luxusgegenstände aus dem römischen Konstantinopel, wiesen oströmische Christlichkeit ab. Die nordalpinen christlichen Chronisten stellten sich und den karolingisch-ottonisch-staufischen Raum in die Mitte. Dies taten andere auch: Chinas Eliten sahen sich im „Reich der Mitte“, für Muslime ist Mekka die Mitte. Es gibt viele „Mitten“ und viele „Dazwischen“. Wer mit Worten spielt, spielt – meist unabsichtlich in je gegebenen mental frames – mit Leben. 29 Verortung in Raum und Zeit ist Festlegung. Jedoch entsteht der gegenwärtige Augen-Blick aus Vergangenheit und ist übergänglich in Zukunft. „Momentaufnahmen“ schaffen Zustand, indem sie ihn aus einem oder mehreren Prozessen herausreißen. Diese fallacy ist nach „Gesetzen“ suchenden, aber erkenntnistheoretisch vorgehenden Naturwissenschaftler*innen bekannt: In der Relativitätstheorie (A. Einstein) und der Unschärferelation (W. Heisenberg) zeigten sie, dass, erstens, Phänomene in Relation zueinander und nicht „objektiv“

Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979. Der deutsche Historiker Ernst Bernheim kritisierte den Begriff bereits 1908 in seinem Lehrbuch der historischen Methode und Geschichtsphilosophie, das in österreichischen Universitäten als Einführungstext verwendet wurde. 26 Hermann Parzinger, Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor Erfindung der Schrift, München 2014. 27 In anderen Konzeptionen, zum Beispiel einiger nordamerikanischer First Peoples, ist Zeit unveränderbar wie der Grand Canyon. Menschen entscheiden, ob sie schnell oder langsam hindurchgehen. 28 Patrick J. Geary und Gábor Klaniczay (Hg.), Manufacturing Middle Ages. Entangled Histories of Medievalism in Nineteenth-Century Europe, Leiden 2013. Noch im 20. Jahrhundert bezeichnete der niederländische Kulturwissenschaftler Johan Huizinga (1872–1945) das Mittelalter als „Kindheit der Menschen“; der bayerische Landeshistoriker Karl Bosl (1908–1993) sah mittelalterliches Volk als geschichtslos, da nicht staatsmächtig. 29 „Qui joue avec les mots joue avec les vies“, in: Aminata Traoré, Le viol de l’imaginaire, Paris 2002, 69. 24 25

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

beobachtet werden, und dass, zweitens, der beobachtende Blick den Prozess beeinflusst. Ort und Impuls bedingen sich. Dies gilt für Namensgebungen, Territorien-Umgrenzungen und erinnerte Zeitpunkte. Sie sind Kürzel und müssen dekodiert oder ent-ziffert werden, lassen sich nicht einfach be-greifen. Durch sie werden Ereignisse klar, doch Sichtweisen und Analyse unklar. Allerdings lassen die Erläuterung von Namen und die Auflösung von Kürzeln Texte langwierig werden. Narrative werden kommuniziert und jedes Wort, jeder Satz, jede historische Erzählung gehört zur Hälfte dem – oder den – Zuhörenden. Jede mit klaren Begriffen arbeitende Lokalgeschichte wird von vielen gelesen, von jeder/jedem mit eigenem Bezugsrahmen. Slowen*innen wunderten sich über die erzbischöfliche Darstellung der Christianisierung, die Kanzlisten des Metropoliten von Aquileia über die behaupteten Grenzen der Salzburger Kirchenprovinz. Die Einstimmigkeit eines Narrativs

legt die Frage nach anderen Stimmen nahe. Dies reflektierten bereits die Autoren des Talmud: Richter hatten Angeklagte freizusprechen, wenn sie einmütig deren Schuld feststellten. Ein-mut und Einstimmig-keit seien höchst verdächtig; moderne Mathematiker*innen wiesen die Wahrscheinlichkeit systemischer Fehler nach. „Zu schön, um wahr zu sein“, war volkstümlich lange bekannt. 30 Konventionelle Sprache und Denkformen, die vielfach als unverzichtbarer Bestandteil einer (je-weilig spezifischen) Kultur gelten, gleichen Treibsand: ständig sich verändernd, manchmal die Redenden verschlingend. Der Philosoph und Schriftsteller Fritz Mauthner (1849–1923), der im vielkulturellen Prag Rechtswissenschaft und Experimentalphysik studiert hatte, schrieb: „Die Sprache ist ein Werkzeug, mit dem sich die Wirklichkeit nicht fassen lässt“. Ich werde versuchen, mich ihr wenigstens anzunähern. 31

1.3 Wissenschaftler*innen mit und ohne Migrationshintergrund und pluralen Erfahrungen Das Spannungsverhältnis zwischen Sprache und der Viel-schichtigkeit oder -deutigkeit von Zeit und Ort wandelten nationale Erinnerer: eine Stimme, keine Stimmigkeit. Sie benannten zum Beispiel 1914 als „Schicksalsjahr“ statt als Jahr von Kriegserklärungen, deren Folgen 52,8 Millionen Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge als Untertanen der Familie Habsburg, darunter die in der vormaligen Salzburger Kirchenprovinz, erlebten. Nur wenige politisch-ökonomisch-soziologisch forschende Staatswissenschaftler und Statistiker stellten Daten zusammen, bezogen Frauen und Kinder ein und verstanden Ort und Region als entscheidende Größen für Sozialisation und Rechte. Der polnischhabsburgisch-jüdische, mehrsprachige Ökonom Leopold Caro (1864–1939) in Lwów-LembergLwiw fasste bereits 1909 zusammen, dass die – sich zu deutsch-österreichisch mutierende – Vielvölkermonarchie „Minderheiten“ Investitionen und

Schulbildung verweigerte, obwohl diese in ihrer Region die Mehrheit bildeten. Große Teile des Reiches wurden ökonomische Desaster-Regionen, aus denen Menschen intern oder überseeisch abwandern mussten: 32 Heimat ohne Nahrung, „Heimatrecht“ genanntes Abschubwesen für Verarmte. 33 Millionen Untertanen, das heißt Unter-getane, verwandelten sich in Selbst-Handelnde und wanderten zu besseren Bedingungen. In der gleichen Zeit verkauften Fotografen Bilder scheinbar statischer „nationaler Trachten“ als Postkarten. Plurale Lebenserfahrungen, wie in Mauthners und Caros Sozialisation, haben das empirische und theoretische Einbeziehen von Pluralität gefördert. Forscher*innen erlebten multiple Referenzsysteme, unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe, Bedeutungsmuster, Konnotationen und Kontexte. Unter frühen Gesellschaftswissenschaftlern konstatierten der irisch-englische George Berkeley (1684–1753)

Lachlan J. Gunn u. a., „Too Good to Be True: When Overwhelming Evidence Fails to Convince“, Proceedings of the Royal Society A, 23. März 2016, DOI: 10.1098/rspa.2015.0748. 31 Fritz Mauthner, „Kritik der Sprache“, in: ders., Erinnerungen, München 1918, 204–235. 32 Auswanderung und Auswanderungspolitik in Österreich, Leipzig/Lipsk 1909. 33 „Rückschub“ verarmter interner Migrant*innen in ihre Geburtsorte. Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2008. 30

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Wissenschaftler*innen mit und ohne Migrationshintergrund und pluralen Erfahrungen

und die schottischen Pragmatisten durch vergleichendes Vorgehen die Relativierung fester Positionen. Berkeley hatte als Missionar in den Gesellschaften Bermudas und in Rhode Island gelebt. Er beobachtete, wie englische Eroberer die irischen und schottischen Kulturen überlagerten und Gälisch Sprechende zwangen, englische Sprache und Bedeutungsstrukturen zu übernehmen. Wilhelm von Humboldt (1767–1835) setzte in seinen Sprachstudien in Java multiperspektivische Wissenschaft um; der Kommunikationsanalytiker Ferdinand de Saussure (1857–1913) lebte in der viersprachigen Schweiz. Historiker scheinbar besonders fremder, „exotischer“ Gesellschaften – als Ethnologen oder Anthropologen abgegrenzt – erkannten Vielfalt: Franz Boas, Marcel Mauss, Michel Leiris, Bronisław Malinowski, Claude Lévi-Strauss und viele andere warfen durch Analyse der Andersartigkeit ihrer Subjekte Licht auf das Eigene und verund entfremdeten „Normales“, das eigentlich Normiertes ist. Von den einflussreichen französischsprachigen Theoretikern lehrte Roland Barthes Französisch als Fremdsprache in Rumänien und Ägypten; Jacques Derrida und Pierre Bourdieu hatten in Algerien gelebt, letzterer sowohl als Soldat wie als Soziologe. Michel Foucault untersuchte die Vielfalt sexueller Ausrichtungen und entwickelte nach Aufenthalten in Schweden, Polen, Tunesien und anderswo eine „Archäologie“ impliziter Bedeutungsstrukturen und, mit psychiatrischen Patient*innen, eine Theorie vielfältiger Realitäten. Michail Bachtin und Antonio Gramsci, russisch- bzw. italienischsprachig, mussten Brüche in den Referenzsystemen ihrer eigenen Gesellschaften durch Stalinismus und Faschismus erleben. Englischsprachige Theoretiker*innen aus der New Left und, wie C. L. R. James und Stuart Hall, aus der Karibik 34 erhielten durch Kolonialisten und Dekolonisierung entscheidende Impulse und verweigerten hegemonialen Diskursen Loyalität oder Untertänigkeit. Raymond Williams untersuchte Referenzsysteme in der Sprache der Arbeiterklasse, Paul Willis jugendliche Kulturen. Ihnen und anderen war bewusst, dass unerwünsch-

te Teile der Gesellschaft unsichtbar gemacht wurden: Afro-Amerikaner*innen als invisible men and women (Ralph Ellison, 1952) oder Frauen aller Kulturen, „symbolisch vernichtet“ durch Männersprache (Luise Pusch, 1984). Die kanadische Autorin Miriam Toews bezeichnete in A Complicated Kindness (2004) monokulturelle Sozialisation als Lebensraum ohne Zäune und ohne sichtbaren Ausgang. Viele Menschen suchen Auswege aus monolingualen Narrativen. Einsprachigkeit ist Hindernis. Mehrsprachige Kontakte entstanden neben Kriegszügen, Handel und Reisen überwiegend durch Migration: oft massenhafte, gegebenenfalls aggressive Zuwanderungen (wave of advance-model) oder ein langsames Vordringen, um natürliche Ressourcen zu nutzen oder sich Techniken Ansässiger, oft zuvor selbst Gewanderter, anzueignen (acculturation model). Die Migrant*innen, die früh die Alpenregion erreichten, konnten, je nach Bedürfnissen und vorgefundener Natur, ein Gebiet durchqueren, durchstreifen oder bereisen, besiedeln und dauerhaft bewohnbar machen, von einem Ort aus bewirtschaften oder spezifische Ressourcen – Salz als Würzmittel, Erz als Rohstoff – nutzbar machen. Im Rahmen ihrer Fähigkeiten eigneten sie sich die physische und natürliche Geografie und Geologie an und gestalteten sie. Sie trugen nicht Wissensrepertoires mit sich, sondern veränderbare und erweiterungsfähige funds of knowledge, das heißt Erfahrungen und Fähigkeiten, oder savoir-faire als aktives Können, modern: Humankapital. Sozialkapital als kollektive Leistung und Fähigkeiten konnten nur Personenverbände transferieren. 35 Wenn Handwerker und Gelehrte oder Pilger*innen christliche Stätten Kleinasiens und Syriens weitläufig besuchten, bedeutete dies eine „Erweiterung ihres Horizonts“. Handwerker*innen zielten bewusst darauf, andere Methoden oder Ansätze kennenzulernen. Ihre natürliche, das heißt, in kindlicher Sozialisation akquirierte Sprache differenzierten sie durch Kennenlernen anderer Konnotationen und Betonungen. Das Instrument, das Identität begrenzte, wandelten sie zu Ausdrucksformen, die Optionen boten.

In der europäischen Zwischenkriegszeit kamen Söhne kolonisierter indischer, karibischer, westafrikanischer und vietnamesischer Eliten als Studierende in die imperialen Zentren, um die Überlegenheit westlicher Kultur kennenzulernen. Sie erfuhren Diskriminierung. Ihre Schriften beeinflussten die Theoretiker*innen der 1950er Jahre. 35 Christiane Harzig, Dirk Hoerder mit Donna Gabaccia, What is Migration History?, Cambridge 2009; Dirk Hoerder, „Transnational – Transregional – Translocal: Transcultural“, Handbook of Research Methods in Migration, hg. von Carlos Vargas-Silva, Cheltenham, UK 2012, 69–91. 34

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

Informierter als master-Märchen sind VolksMärchen und -Lieder. Die kollektiven Autor*innen bezogen Migration, Hunger, Brotherren und Netzwerke ein. Verzweifelte Eltern schickten Kinder in den Wald, weil sie sie nicht ernähren konnten. „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“, überlegten die Bremer Stadtmusikanten, bevor sie abwanderten. Emotionen waren Teil des Lebens: Der Abwanderer in „muss i denn zum Städtele hinaus“ ließ seinen „Schatz“ zurück, „Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein“ eine weinende Mutter – und vielleicht auch einen Vater. Selbst Kinder wussten Bescheid: „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, wo ist denn der Hans geblieben – ist nicht hier, ist nicht da, ist wohl in Amerika.“ Christliche Handwerker wussten: „Wem Gott will rechte Gunst

erweisen, den schickt er in die weite Welt!“ und ein „rechter Müller“ musste bewandert sein. Manche Erzählungen „einfacher“, aber komplex informierter Menschen beruhten auf Wissen um andere Gesellschaften: Unterschichten im katholischen Neapel war Mitte des 17. Jahrhunderts bekannt, dass im muslimischen Osmanen-Reich das Leben freiheitlicher und die Ernährungslage besser waren. Eine Aschenbrödel-Geschichte in Westafrika ging vermutlich auf eine chinesische Erzählung zurück. Auch die deutsche Sprache zeigt, dass Lebensgestaltung Bewegung erfordert. Menschen sind bewegt, wenn sie Eindrucksvolles wahrnehmen, kluge Menschen bewandert, da sie sich Anderes erschlossen haben. Das Kennenlernen eines Anderen schafft Erfahrung.

1.4 Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften „Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften“, in denen empirische Daten transdisziplinär mit theoretischen Ansätzen verbunden werden, bieten die Möglichkeit, Gesellschaften umfassend in ihrer Komplexität zu erforschen und zu verstehen. 36 Das Konzept Transkulturation entwickelten lateinamerikanische und kanadische Wissenschaftler*innen der 1930er bis 1950er Jahre. Der Soziologe Gilberto Freyre untersuchte in Brasilien, wie im Zusammenleben (mestiçagem) die Nachfahren afrikanischer Zwangsmigrant*innen und europäischer Kolonialmigrant*innen mit überlebenden Einheimischen eine neue Kultur entwickelten. Trotz rassistischer Hierarchien war ihr Handeln untrennbar verflochten. Fernando Ortiz analysierte wirtschaftliche und rechtliche, ethische und religiöse, institutionelle, sprachliche und künstlerische, psychologische und sexuelle transculturación in Kuba. Beteiligt waren Einheimische und Menschen von der iberischen Halbinsel, aus Afrika und Asien – unterschieden in

Ciboney, Taíno, Wolof, Katalonier, Genueser, Juden und Kanton-Chinesen nach Alter und Geschlecht. In rigorosen spanisch-kolonialen Ausbeutungsstrukturen entwickelten sie eine Agrarexport- und urbane Gesellschaft. 37 Im bi-kulturellen Montreal argumentierten Everett Hughes und Helen MacGill Hughes, dass keine Aufnahmegesellschaft Neuankommenden nur ein Akkulturationsmodell bietet: Nicht „sie sollen werden wie wir“, sondern Akkulturation an eine unserer zahlreichen Kulturvarianten und Einbringen ihres Eigenen bei gleichzeitiger Aufnahme des Neuen durch die Ansässigen. 38 Trotz dieser konzeptionellen Leistungen blieben im nordatlantischen hegemonialen Kerngebiet der Wissensproduktion „Assimilation“ an nationale Kulturen (Chicago Men’s School of Sociology) und Klischees „entwurzelter Migranten“ (O. Handlin, Harvard) Ton-angebend und Forschungsansatz-bestimmend. 39 Kultur umfasst komplexe Systeme, die im Ver-

Dirk Hoerder, „Transkulturelle Gesellschaftsstudien – Transcultural Societal Studies“, Sozial.Geschichte 21.1 (2006), 68–78; und Hoerder, „To Know Our Many Selves“: From the Study of Canada to Canadian Studies, Edmonton 2010, Kap. 14. 37 Gilberto Freyre, Casa-Grande e senzala (1933), engl. The Masters and the Slaves (1946), überarb. Aufl. Berkeley, CA 1986; Fernando Ortiz, „Del fenómeno de la transculturación y su importancia en Cuba“, Revista Bimestre Cubana 27 (1940), 273–278, engl. Cuban Counterpoint: Tobacco and Sugar (1947), Durham, NC 1995. 38 Everett C. Hughes, „The Study of Ethnic Relations“, Dalhousie Review 27 (1948), 477–482; ders. und Helen MacGill Hughes, Where Peoples Meet: Racial and Ethnic Frontiers, Glencoe, IL 1952. 39 Dirk Hoerder, „‚A Genuine Respect for the People‘ : The Columbia University Scholars’ Transcultural Approach to Migrants“, in: ders. (Hg.), „Reintroducing Early Transcultural Approaches: The Case of the Paradigmatic U.S. Scholarship in an Atlantic and Pacific Perspective“, Journal of Migration History 1.2 (2015), 136–170; Patricia Madoo Lengermann und Jill Niebrugge-Brantley, The Women Founders: Sociology and Social Theory, New York 1998. 36

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Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften

lauf der kindlichen und jugendlichen Sozialisation erworben werden, verbale und Körpersprache, Künste und Überzeugungen, materielle und immaterielle Produktion. Sie wird in geschlechts-, klassen- und altersspezifischen Varianten geschaffen von Menschen, die, um zu überleben, für ihre materiellen, emotionalen, spirituellen und intellektuellen Bedürfnisse sorgen müssen. Transkulturelle Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit, in zwei oder mehr Kulturen zu leben und grenzüberschreitende, verflochtene Kulturräume zu schaffen. Strategische transkulturelle Kompetenz bedeutet die Gestaltung von Lebensentwürfen in mehr als einer Gesellschaft und die Fähigkeit, zwischen Optionen zu wählen. Transkulturationen sind Prozesse, in denen sich Einzelne oder Gesellschaften an Berührungsorten oder in Kontaktzonen ändern, in denen unterschiedliche Lebensformen in ein dynamisches, plurales, neues Ganzes übergehen. Dieses ändert sich – in der transitorischen Eigenschaft aller Gesellschaften – durch nachfolgende interne Entwicklungen und durch Abwanderung Ansässiger oder Einflüsse Neuankommender. Transkulturation ist integraler Bestandteil von Kulturen: Metamorphosen im Griechischen, shapeshifting in ersten nordamerikanischen Kulturen, in modernen Sprachen Zusammengestelltes, mixté oder Mosaik, völlige Verschmelzung, fusion, oder eigenständiges creole. Im Deutschen ist „Mischling“ und „Kulturvermischung“ negativ konnotiert: nationalsozialistische Unsprache einerseits und Fehlen von „Übergänglichkeit“ im Sprachrahmen andererseits. Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften umfassen Gesamtheiten: Die Sozialwissenschaften im engeren Sinne erforschen Verhaltensmuster, Institutionen, Strukturen sowie Wirtschaft und politische Organisation; Diskurswissenschaften (humanities) analysieren alle Varianten der Selbst- und Fremddarstellung in literarischen und anderen Ausdrucksformen; way-of-life- oder Habitus-Wissenschaften tatsächlich gelebte Praxis im Kontext rechtlicher, religiöser und ethischer Normen (normative Wissenschaften Ethik, Theologie, Jura); somatisch-psychisch-emotional-spirituell-intellektuelle Aspekte von Individuen analysieren life sciences, Lebenswissenschaften; und natur- und sozialräumliche Kontexte die earth sciences oder Um40

weltwissenschaften. Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften behandeln geschlechtsspezifisch und intergenerationell das „Werden“, das heißt die historische Dimension, das „Sein“ in der Gegenwart, die Erwartungen und Ziele für die Zukunft. Menschen pro-agieren entsprechend ihren Lebensplänen, verwirklichen ihre Lebensziele oder re-agieren von Tag zu Tag auf Umstände. Sesshafte tun dies im Rahmen monokultureller Fähigkeiten, die durch ihr stationäres Leben vorgegeben sind, Migrant*innen nutzen vielfältige Fähigkeiten, die sie durch Erfahrung zwischen Orten und Räumen, cultural spaces, erworben haben. Regional gelebte Kulturräume sind meist innerhalb von Strukturen eines größeren Gemeinwesens (polity) angesiedelt, die ihrerseits prozessual sind. Bei Überqueren einer zwischenstaatlichen Grenze wechseln Männer und Frauen in eine andere Gesellschaft mit ihrerseits dynamischen Normen, Diskursen und Praktiken. Migrant*innen handeln in gegebenen sozialen Räumen – Unterdrückungsregimes, Arbeitsmarktzwänge und -optionen, Rassismus oder Offenheit. Gesellschaften können sich selbst transkulturieren, können Ungleichheiten verfestigen, können durch eine oft winzige, machtvolle Minderheit an Veränderung gehindert werden. Die polities der Vergangenheit – ob IuvavumSalzburgensis, Bavaria, Karolingia oder Pannonia – bestanden seit dem 6. Jahrhundert aus vielen Regionen mit dynamisch-vielfältigen Praktiken und Vermischung-métisage-mixté von einheimischen Romanen, zuwandernden Bayern und Slawen sowie gewaltsam die Herrschaft übernehmenden Franken. Wie später Brasilien und Nordamerika, waren die Alpen- und Donauregionen Kontaktzonen, frontier societies. Umfassende historische Erinnerung benötigt Daten, die jedoch oft fragmentarisch sind. Historiker*innen finden nicht immer Wege, um Lücken zu schließen. Notwendig ist eine sensible accurate imagination, ein akkurates Wiederherstellen des Ausgelassenen durch Vorstellungskraft. Der Soziologe C. Wright Mills und die Historikerin Louise Tilly forderten „a sociological and historical imagination“, französischsprachige Kolleg*innen ein „imaginaire social“, 40 um „Meistererzählungen“ von Burg-Ruinen-Landschaften mit Leben zu füllen. Akkurate Imagination ist das Gegenteil von

C. Wright Mills, The Sociological Imagination, New York 1958; Louise Tilly in einer persönlichen Information an Leslie Page Moch; Fernand Duval

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Standpunkte und Perspektiven in historischer Erinnerung

Fantasien, seien es Heiligenlegenden, Adelsgenealogien oder Heroengeschichten. Nur eine Historiografie, in der sich alle zeitgenössischen Akteure und

Akteurinnen in ihren spezifischen sozialen Räumen und natürlichen Umwelten wiederfinden, ist vertretbar.

1.5 Die Ostalpen- und Donau-Region über die Zeiten In dieser Studie blicke ich weit zurück. Die Region lag, wie viele Teile Europas, am Äquator, dann unter dem Pannonischen Meer oder unter Gletschern. Nach Jahrzehntausenden transkontinentaler Wanderungen eigneten sich Menschen Orte (place) an, machten sie zu Lebenzwecken nutzbar (gelebte Räume, space) und schufen sich Bilder von Zusammenhängen (scape, land-scape), von eigenen oder anderen Gemeinschaften (socio-scape) und von Unerklärlichem oder sogenanntem Übernatürlichen (spirit-scape). Es gab viel zu transkulturieren über die Jahrtausende, Jahrhunderte, Jahrzehnte und, in ihren Lebenszeiten, von Jahr zu Jahr. 41 Migration, Handeln und Handel, Kulturkontakt und Vernetzungen in Meso- und Makroregionen sind Themen meiner Darstellung. Transkulturation kann unmerkliches Hinübergleiten sein, glissement als sozialwissenschaftlicher Begriff im Französischen. Alles Neue erfordert Hinausschauen aus dahoam. Die indoeuropäischen Vorfahren der „Dahoam“-Sprechenden haben östlich von Anatolien und dem Schwarzen Meer gelebt, die von ihnen verehrte Maria und ihr Kind in der Levante: immer neues synkretisches Alltagsleben und Alltagskultur. Die schreibkundigen Chronisten der Religion (Singular), die zwischen 700 und 1500 in der Kirchenprovinz aktives Vergessen betrieben, wurden in einer Ironie des Erinnerung-Machens ihrerseits fast vergessen, denn sie lebten laut späteren NationalErzählern zwischen „Bayern“ im Westen und „Österreich“ im Osten. 42 Um diese Lücke zu schließen, ziehe ich Studien über vergleichbare Entwicklungen in anderen Teilen Lateineuropas heran. Für meine synoptische Darstellung fasse ich Forschungen vieler Spezialist*innen zusammen, de-

ren lebendige Details und oft faszinierende Anschaulichkeit ich nicht wiedergegeben kann. Ich beginne mit dem Naturraum und der Zuwanderung der frühen Menschen (Kap. 2) und den großräumlich vernetzten Gesellschaften bis zum 1. Jahrhundert vor unserer Zeitzählung (Kap. 3). Anschließend frage ich nach Besiedlung und Transkulturationen bis zum 6./7. Jahrhundert u. Z., dem geopolitischen Rahmen des Römischen Reiches und sozial-temporären Periodisierungen (Kap. 4) und stelle Verehrungsvarianten von Fruchtbarkeit und Gottheiten dar (Kap. 5). Die Periode vom 7. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts ist Thema der folgenden Kapitel: herrschaftsorganisatorischer und kirchenpolitischer Rahmen (Kap. 6), die ländlichen Menschen, etwa 95 Prozent der Gesamtbevölkerung (Kap. 7), und die noch kleine städtische Bevölkerung samt den winzigen Macht-Eliten (Kap. 8). Angesichts ihrer Wirkungsmacht behandle ich die sozial-spirituellen Welten einfacher Menschen und, mit ihnen, der Kleriker*innen separat (Kap. 9). Kapitel 10 ist den Entwicklungen vom Einschnitt der Pest bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gewidmet. Abschließend wende ich mich dem fälschlich als „Bauernkrieg“ bezeichneten Freiheitskampf der nach unten Geschichteten zu (Kap. 11) sowie dem westwärts gerichteten Ausgreifen der osmanischen Herrscher über balkanische in pannonische Gesellschaften und dem iberischer Herrscher über afrikanische Küsten- und transatlantisch-amerikanische Gesellschaften (Kap. 12). Letzteres war für Menschen zwischen Tauern und Donau nur scheinbar weit entfernt. Es würde ihr tägliches Essen, ihre Steuerlast und belastende Klischees, ihre Ästhetik und vieles andere beeinflussen.

und Yves Martin (Hg.), Imaginaire Social et représentations collectives, Quebec 1982; William Kilbourn in Literary History of Canada, hg. von Carl F. Klinck et al., 4 Bde., Toronto 1976, 21990, 2:22–52; vgl. Lawrence Buell, The Environmental Imagination, Cambridge, MA 1996. 41 Arjun Appadurai, „Global Ethnoscapes: Notes and Queries for a Transnational Anthropology“, in: Richard Fox (Hg.), Recapturing Anthropology: Working in the Present, Santa Fe, NM 1991, 191–210; Steve Pile und Nigel Thrift (Hg.), Mapping the Subject: Geographies of Cultural Transformation, London 1995; Allen F. Roberts, „La ‚Géographie Processuelle‘ : Un nouveau paradigme pour les aires culturelles“, Lendemains 122/123 (2006), 41–61. 42 In dem Standardwerk zur Diözese, Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs: Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, betont der Hauptautor H. Dopsch Institutions- und erzbischöfliche Kirchengeschichte. Wichtige wirtschaftshistorische Beiträge bieten die Direktoren des Landesarchivs Herbert Klein und Fritz Koller in Beiträgen in den Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburgische Landkunde.

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Die Ostalpen- und Donau-Region über die Zeiten

Durchgehend setze ich mich mit Wissenschaftsgeschichte, besser: Verständnisgeschichte, auseinander. Das Leben früher Menschen ist umfassend erschlossen durch transdisziplinäre Forschungen zu materieller Kultur. Mit der Etablierung christlicher Schriftlichkeit schrumpfte die Aussagebreite der Quellen massiv, mit monodisziplinärer Schriftquellen-basierter Historiografie auch die Interpretationsbreite. Ich suche die Perspektiven aus-

zuweiten, weiß aber, dass eine Hundert-ProzentGeschichte, histoire totale, nicht zu erreichen ist. Soweit sprachlich fähig, nehme ich den transeuropäisch-vielkulturellen Charakter von Erkenntnisgewinn und Erinnerung auf. Dem von mir geschätzten Ansatz, „je me pose la question“ mit großem Spannungsbogen, muss als Nachsatz leider folgen: „ich weiß, dass ich auf beschränktem Raum nur Teilaspekte abhandeln kann“.

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Welt und Region von den Anfängen bis zum 8. Jahrhundert u. Z.

2 Naturregion und menschliche Besiedlung

Praesapiens- und sapiens-Menschen erreichten vor etwa 210.000 bis 180.000 Jahren bzw. 40.000 Jahren Europa. Neu-Zuwander*innen siedelten sich um 9500 v. u. Z. in geeigneten Naturräumen separat von Ansässigen am nördlichen Alpenrand an. Über zehntausende Generationen hatten sie vom östlichen Afrika ausgehend Kontinente und Meere erschlossen und gelernt, die Ressourcen ihrer jeweiligen Umwelt zu nutzen und Werkzeuge herzustellen. Im Rahmen der Erd- und Naturgeschichte schufen sie Humangeschichte in Natur-gegebenen und Natur-dynamischen Räumen. Ich fasse die Nah- und Fernwanderungen zusammen und beschreibe die Handlungsoptionen am Übergang zu homo und femina sapiens. Dann wende ich mich am Beispiel der Gesellschaften des unteren Donauund Schwarzmeerraums Formen der Fruchtbarkeitsverehrung und großräumlichen Handels zu. Abschließend lenke ich den Blick auf die Kulturen im Voralpenraum im 1. Jahrtausend v. u. Z. Möglich ist dies dank interdisziplinär umfassender Forschung. Die Erdgeschichte stellt Fixpunkte geografischer Weltbilder und scheinbar selbstverständliche Standorte heutiger Menschen in Frage. Sicht-, Sprach- und Denkweisen setzen Gegebenheiten als unveränderlich – „Europa“ als Kontinent, die „Alpen“ als Gebirge – und verstecken Bewegung und Unbestimmtheit: Kontinente drifteten und ver-

formten sich, Meeresböden wurden Hochgebirge. In tiefer Zeitperspektive drifteten die physischen Standpunkte späterer Menschen. Dies beeinflusst das Leben in der Gegenwart. Die Prozesse des Erforschens und Verstehens der Erd-, Natur- und Humangeschichte verliefen im 19. Jahrhundert zeitlich parallel, aber in völligem Gegensatz zu dem methodischen Territorialismus der Historiker. 1 Den entscheidenden Perspektivwandel vollzogen Geografen und Geologen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Obwohl im Dogma eines Erschaffungsmythos mit fixiertem Zeitpunkt sozialisiert, lösten sie sich von „Fixismus“ und suchten Dynamik zu verstehen, statt Mythen zu glauben. Als Historiker Nationalterritorien und -identitäten festschrieben, entwickelten sie ein Verständnis für Mobilität. Ein Pionier der Geologie, Mineralienkunde, Botanik und des Bergwerkswesens in der Ostalpenregion war Belsazar de la Motte Hacquet (1739– 1815), ein Polymath und europäischer Kosmopolit, geboren in Frankreich, Studium in Wien, Chirurg und Geburtshelfer der Quecksilber-Bergwerker-Familien in Idrija und Professor in Ljubljana und Lwów. In der Wachau, im Kremstal und im Horner Becken, einst Rand des Pannonischen Meeres, begannen um die Mitte des 19. Jahrhunderts interessierte Laien Ausgrabungen. Ohne transdisziplinäre und transnationale Forschung gäbe es wenig Wissen über die Entwicklungsgeschichte der Region.

Richard Pittioni, Urzeit von etwa 80 000 bis 15 v. Chr. Geb., 2 Bde., Wien 1980; Otto H. Urban, Wegweiser in die Urgeschichte Österreichs, Wien 1989; Johannes-Wolfgang Neugebauer, Österreichs Urzeit. Bärenjäger, Bauern, Bergleute, Wien 1990 (erw. Aufl.); Amei Lang, „Die Vorzeit bis zum Ende der Keltenreiche“, in: Alois Schmid (Hg.), Das alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter, München 2017, 11–44; Franz Pieler u. a., Geschichte aus dem Boden. Archäologie im Waldviertel, Waidhofen 2013. Zur Kritik deutschsprachiger Forschung 1933/34–1945 Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014. Für Salzburg Robert Obermair, Kurt Willvonseder. Vom SSAhnenerbe zum Salzburger Museum Carolino Augusteum, Salzburg 2016, 155–158; und Forschungen Gert Kerschbaumers. Parallel zerstörte der stalinistische Partei-„Wissenschaftler“ T. Lysenko die sowjetische Forschung; der empirisch arbeitende Botaniker und Genetiker Nikolai I. Vavilov wurde umgebracht.

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Transstaatlich-kooperativ arbeitende Wissenschaftler*innen untersuchten Lebewesen vergangener Erdzeitalter (Paläontologie): Georges Cuvier (Frankreich, 1769–1832), in Bezug auf die Gattung homo korrigiert von Charles Lyell (Großbritannien, 1797–1875) und ergänzt durch Otto Hauser (Schweiz, 1874–1932) sowie Ernst Haeckel (Preußen/ Deutschland, 1834–1919). Obwohl die Idee einer „Urgeschichte“ von eingegrenzten Räumen keinen Sinn macht, behinderten Nationale und Klerikale den Wissensfortschritt: Französische Wissenschaftler lehnten die Arbeiten des Schweizers ab, preußische diffamierten Haeckel als „Affenprofessor“. Die Botaniker und Moorforscher Lennart von Post (Schweden, 1884–1951) und Carl A. Weber (Deutschland, 1856–1931) datierten durch Blütenstaubanalysen die Entwicklungen früher Kulturen; US-amerikanische Nuklearforscher*innen entwickelten diese Palynologie durch Messung radioaktiven Zerfalls (C14Methode) zur Ökostratigrafie weiter. Andere bearbeiteten den Abkühlverlauf von Gesteinen radiometrisch (Spaltspurdatierung) und entwickelten die Jahresringdatierung von Hölzern (Dendrochronologie). Im deutschsprachigen Raum verlief die kleinstaatlich fragmentierte Forschung langsam. Gustaf Kossinna (1858–1931) er-fand eine germanische Urheimat und scharf begrenzte Territorien und Rassen; Carl Schuchardt (1859–1943) verlegte den Beginn europäischer Kultur (Singular) ins Nordische (1919, letzte Neuauflage 1944); in Wien konstruierten Georg Heinrich Ritter von Schönerer (1842–1921) und Oswald Menghin (1888–1973) rassische-rassistische Ideologie. Faschistische Akademiker betrieben eine „Archäologie unterm Hakenkreuz“ und gruben für Germanien. In Wien musste 1938 der zwar empirisch arbeitende, aber einer „Stammeskunde“, indogermanischem Volkstum und „Rassendiagnostik“ verpflichtete Richard Pittioni wegen seiner katholischen Grundhaltung die Universität verlassen. Nach 1945 verschwanden seine Faschismus-verhafteten Kollegen nach Argentinien (Oswald Menghin), wurden verurteilt (Eduard Beninger) oder setzten ihre Karrieren einfach fort (die Salzburger Kurt Willvonseder, ehemals SS-Offizier, und Josef Brettenthaler, NSdAP-Parteimitglied seit 1931). In den 1980er Jahren publizierten Forscher an der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften faktografische, aber entsprechend ihrem intendierten Leserkreis und ihrer finanziellen Einbindung austrozentrische Überblicksdarstellungen. Ein „Österreich“ hatte es stein- und keramikzeitlich nicht gegeben.

2.1 Erdgeschichte und Naturgeschichte Die heutigen Alpen und der Donauraum lagen, völlig anders geformt, vor 250 bis 200 Millionen Jahren nur wenig nördlich des Äquators. Die beiden damaligen Kontinente, Laurasia und Gondwana, trennte ein (viel später) nach Tethys benanntes Meer. Tethys war, so dachten antike Griechen, eine der Titaninnen und die Göttin des Wassers und der Wasser der Welt. Sie war eine Tochter von Uranos, Urgott des Himmels, und Gaia, Urgöttin der Erde, und Mutter der größten, den Griechen bekannten Flüsse – Nil, Alpheios (Peloponnes), Mäander (südwestliche Türkei) – sowie zahlloser Töchter, der Okeaniden.

In diesem Urmeer lagerten sich Meeresorganismen ab, die, über Jahrmillionen versteinert, gegenwärtig im Dachsteinmassiv, Tennengebirge und im Horner Becken zu finden sind. Dort suchen heutige Fossiliensammler äquatoriale Lebewesen, in der Glasenbachklamm zum Beispiel Fisch- oder Ichthyosaurier aus anderen Erdregionen und Klimazeitaltern. 2 Als vor 65 bis 60 Millionen Jahren die Saurier ausstarben und Sande und Gesteine ihre Knochen einbetteten, driftete ein Teil der LaurasiaGroßplatte in einem Prozess neuer Kontinentwerdung nach Norden. „Fossil in Stein“ bedeutet pro-

Ben Thuy et al., „First Glimpse into Lower Jurassic Deep-Sea Biodiversity: In Situ Diversification and Resilience against Extinction“, Proceedings of the Royal Society: Biological Sciences 281, Nr. 1786 (21. Mai 2014), https://doi: 10.1098/rspb.2013.2624 (5. September 2020).

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Erdgeschichte und Naturgeschichte

Abb. 2.1 Kontinentaldrift: Trias vor 250–200 Mio. Jahren und Kreide vor 143–66 Mio. Jahren

zesshaftes Versteinern. Die Formen der heutigen Erdteile zeichneten sich seit der Kreidezeit ab und erreichten ihre gegenwärtige Form vor 16 Millionen Jahren im Miozän. Während des tektonischen Driftens entstanden in einem Quetschvorgang die Bergketten der Pyrenäen und des Atlas im Süden sowie die der Alpen im Norden über Pamir bis zum Himalaya. Als die Verbindung zwischen Alpen und Karpaten einstürzte, entstand die Pannonische Ebene – zeitweise Meer – mit dem Wiener und Horner Becken im Westen. In einer besonders bewegungsintensiven Phase drückten sich im Ostalpenraum Gesteine wie ein Keil aus der Tiefe durch die Kalke und die Tauern entstanden. Die heutige Region stammt also teils vom Äquator, teils aus dem Erdinneren. Allein im Gebiet des modernen Bundeslandes Salzburg bilden 42 unterschiedliche Gesteine und Erden den Rahmen für die Bodennutzung. Da die kristallinen Gesteine geologisch älter sind als die kalkigen Ablagerungen, schreiten Wander*innen auf ihrem Weg von den Nördlichen Kalkhochalpen in die Tauern Millionen Jahre in die Erdgeschichte zurück. Weltbekannt ist dieses Phänomen für den Grand Canyon. In der Wimbachklamm nahe Berchtesgaden durchschreiten Wandernde über rund 200 Meter etwa 50 Millionen Jahre des JuraZeitalters: Radiolarit aus Skeletten unzähliger mikroskopisch kleiner Lebewesen, Rotkalke mit weißen Kalzitkristallen aus Resten von Seelilien, rötli-

che Flaserkalke, graue verfaltete Hornsteinkalke des einstigen Meeresbodens. 3 Diese „Rohprodukte“ veränderten die Vereisungen in den Günz-, Mindel-, Riß- und Würmkaltzeiten. Der Meeresspiegel sank bis zu 120 Meter und die Landmasse „Europa“ wurde entsprechend größer. Die Schneegrenze lag etwa 1200 bis 1300 Meter niedriger als in der Gegenwart, Gletscher erreichten während der Weichsel-Würm-Phase vor ca. 75.000 bis ca. 12.000 Jahren 4 mit einem Kältehöhepunkt vor 21.000 Jahren am Gebirgsrand eine Dicke von 1400 Metern. Das bis zu dreißig Meter pro Jahr fließende Eis schliff Täler ins Gestein und schuf Abbruchkanten. Wo der Fluss des Eises endete und das Eis schmolz, sanken verschobene Schotter und Feinmaterialien zu Boden und formten Moränenhügel und Senken. Schmelzwässer der Salzachund Salach-Gletscher zum Beispiel bildeten einen etwa dreißig Kilometer langen und zehn Kilometer breiten See. Auf dessen Ablagerungen, einer achtzig Meter starken Schotterschicht, steht die heutige Innenstadt Salzburgs. Östlich hatte das Pannonische Meer Muscheln und Seetiere abgelagert. Steinzeitlich Werkende nutzten das entstehende Gestein, ihre Nachkommen in der Gegenwart betreiben dort Steinindustrie. Dadurch findet sich unter den Füßen der heutigen Menschen der Region eine sechsfache geologische Gliederung: (1) in den Tauern sehr alte kristalline Gesteine wie Gneise, Granite und andere, die

Egon Lendl mit Walter Pfitzner und Kurt Willvonseder (Hg.), Salzburg-Atlas. Bundesland Salzburg in 66 Kartenblättern, Salzburg 1955, Karten 4–8, Text 14–23. 4 Angaben zu Beginn, Dauer und Ende variieren je nach Forschungsstand und Definitionen. 3

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.2 Gesteinsvermischung vom Altpaläozoikum zu nacheiszeitlichen Sedimenten Die geologische Karte zeigt, dass ihre Wanderungen Menschen nicht nur durch unterschiedliche Vegetationszonen führten, sondern auch über verschiedene geologische Einheiten mit einer breiten Palette von Gesteinen. Diese boten Materialien für die Herstellung von Werkzeugen (Silex, Erze), die Gewinnung von Nahrungsmitteln (Salz) oder die Herstellung von Unterkünften (Baugesteine, natürliche Höhlen). Allein das inneralpine Becken (sog. autochthone Molasse) bestand aus Ton, Mergel, Mergelstein, Sand, Kies, Kalkstein (blassgelb); die oberostalpine Region aus mehr als drei Dutzend Gesteinssorten.

schwer zu bearbeitendes, haltbares Baumaterial liefern; (2) von Tirol im Westen bis Oberösterreich im Osten eine Grauwackenzone mit metallischen und mineralischen Einschlüssen, die den Erz- und Salzabbau ermöglichen. Es folgen (3) die Nördlichen Kalkhochalpen, hohe Plateauberge wie das Dachsteinmassiv, und (4) die mittelgebirgsartigen Formationen der Kalkvoralpen mit Baumwuchs und Almwiesen. (5) Eine Sandstein- oder Flyschzone 36

bildet den Übergang ins (6) hügelige Alpenvorland. Am Westrand des Pannonischen Meeres (Horner Bucht) leben Menschen der Jetztzeit auf Muschelablagerungen und auf Graniten, die vor ca. 550 bis 320 Millionen Jahren entstanden und verwitterten. Fossiliensammler finden dort Skelette von Krokodilen und Delfinen, Steinwerker Gesteinsmetamorphosen und Kristalle vieler Formen und Verwendungsmöglichkeiten. Jede Region bot und bietet

Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen

unterschiedliche Optionen oder Beschränkungen für die menschliche Nutzung: Ressourcen aus dem Erdinneren, abgelagerte Salze, in Adern erkaltetes Kupfer, Kristalle. Die Hügelgebiete und Ebenen bis zu den Karpaten entstanden, als vor zehn Millionen Jahren das Pannonische Meer abfloss, die SeenHügel-Landschaft des heutigen Alpen- und Donaulandes, als die Gletscherseen abflossen. Kontinuierlich wirkende Naturkräfte wie Wind, Schnee, Spaltenfrost und Wasserabfluss schufen kleinräumliche „Feinprodukte“. Verwehungen von Feinmaterial lagerten lösshaltige fruchtbare Böden ab, breite Schmelz- und Meerwasser schrumpften zu Bächen, die die Region be- und entwässerten. Die zuwan-

Abb. 2.3 Geologie der Wimbachklamm

dernden Menschen fügten der Erd- und Naturgeschichte ihre eigene Geschichte hinzu.

Abb. 2.4 Eis- und Tundrazeit, 25.000–12.000 Jahre vor heute

2.2 Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen 5 Menschwerdungen begannen im östlichen Afrika, afrogenesis, und seit der letzten Phase ist das Erbgut aller gegenwärtig weltweit lebenden Menschen zu mehr als 99 Prozent identisch. Einteilungen in

5

„Stämme“ oder „Rassen“ sind Ideologeme, „deutschstämmig“ ist Unsinn. Das Wissen um den Zeitverlauf der Menschheitsentwicklung verändert sich angesichts neuer Funde und Genanalysen

Dies Kapitel reflektiert den Forschungsstand von Ende 2017.

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.5 Pannonisches Meer vor ca. 10 Mio. Jahren (Miozän)

schnell 6 und von Anfang an arbeiteten Forscher transkulturell zusammen: Die empirische Evolutionslehre Charles Darwins (1809–1882) beruhte auf der Systematisierung lebender Organismen durch Carl von Linné (1707–1778). Nationalideologen kategorisieren Darwin als britisch und Linné als schwedisch – doch ersterer entwickelte seine Gedanken während einer weltumspannenden Forschungsreise, letzterer lebte in Holland, England und Frankreich und unterhielt Kontakte im gesamten Europa. T. H. Huxley („Engländer“) begründete die Primatenlehre 1863, während in den USA – in weiße, diskriminierte schwarze und marginalisierte indigene Gesellschaften gespalten – Rassisten die Erforschung des afrikanischen Ursprungs noch im

späten 20. Jahrhundert bekämpften. Die Evolutionsanalytiker ersetzten Fixismus und Schöpfungsmythen durch die life sciences. Die Vorgänger der Menschen in Alpen, Donauraum, Pannonien und anderswo hatten eine Evolution verwirklicht, die sich in sechs Phasen zusammenfassen lässt: (1) Lebewesen in Ostafrika teilten sich vor etwa 17 bis 5 Millionen Jahren in die Entwicklungslinien der great apes, im Deutschen unglücklich als „Menschenaffen“ bezeichnet, 7 und der aufrecht gehenden Hominini oder „Vormenschen“. (2) Letztere erschlossen sich Regionen in Afrika, passten sich Umwelten an und differenzierten sich. (3) Ihre Kinder und Kindeskinder entwickelten sich in einer Art Experimentierphase vor etwa 3,4 bis

Steve Olson, Mapping Human History. Genes, Race, and Our Common Heritage, New York 2002; Herbert Thomas, L’Homme avant l’homme. Le scénario des origines, Paris 1994; Johannes Krause, „Ancient Human Migrations“, in: Reinhard Neck und Heinrich Schmidinger (Hg.), Migration, Wien 2013, 45–63; Miriam N. Haidle, „Homo migrans: Spuren menschlicher Expansionen von 7 Millionen bis 5000 v. Chr.“, in: Robert Rollinger und Harald Stadler (Hg.), 7 Millionen Jahre Migrationsgeschichte. Annäherungen zwischen Archäologie, Geschichte und Philologie, Innsbruck 2019, 41–90; Merry E. Wiesner-Hanks, A Concise History of the World, Cambridge 2015, 11–68. 7 Namensgebungen idiosynkratischer Wissenschaftler wie die römische Amtsbezeichnung „Proconsul“ für eine Meerkatzen-ähnliche PrimatenGattung verwirren zusätzlich. 6

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Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen

2,1 Millionen Jahren zur Gattung homo, zu den Urmenschen homo erectus, aufrecht, und homo ergaster, arbeitend. Ihre Beine wurden länger. (4) Sie wurden innerhalb Afrikas mobiler und erreichten out-of-Africa vor zwei bis einer Million Jahren Südwestasien und von dort Europa und Ostasien. (5) Vor ca. 380.000 Jahren erreichten Frühmenschen Europa von Marokko (Jebel Irhoud) über die Meerenge von Gibraltar und, über die Levante (Misliya, Berg Carmel), Balkan und Ostalpen. Dort entwickelten sich homines heidelbergenses und neanderthalenses 8, auf dem Weg in den Süden Afrikas naledi und in Südostasien floresienses. Sie hatten Stimm- und Hörapparate und kommunizierten miteinander. (6) Vor mehr als 300.000 Jahren entwickelten sich, ebenfalls in Ostafrika (Äthiopien), homo und femina sapiens, einsichtsfähige Frauen, Männer und Kinder. Da ihre Körperbehaarung abnahm, mussten sie sich kleiden und für Kleinkinder wurde es schwieriger, sich an ihre Mütter zu klammern. 9 Kleinverbände gestalteten jedes Teilstück ihrer Wege. Jede Herausforderung verlangte Überlegungen und intelligente, praktikable Lösungen. Sie ertasteten schrittweise Nachbarlandschaften – ein Weg über 10.000 Kilometer in 10.000 Jahren bedeutet rechnerisch nur einen einzigen Kilometer pro Jahr –, doch ihre Schweifgebiete um Siedlungen waren weitläufig. Manche querten die Flachwasser zwischen Djibouti und Jemen (später: Rotes Meer) oder bewegten sich durch das Niltal zur Sinai-Halbinsel. Von Südwestasien wanderten Verbände entlang der Küsten des Indischen Ozeans und weiter über den eiszeitlichen südostasiatischen Teilkontinent Sunda zu Inseln (Sahul Teilkontinent) oder nach Ostasien. Dort entschieden einige, sich nach Westen zu wenden und erreichten über Steppengebiete Europa, andere sehr viel später über eine Landbrücke (später: Beringstraße) den amerikanischen Doppelkontinent. Wissenschaftler*innen debattieren die Gründe für die Migrationen: Neugier und Suche, Erschöpfung lokaler Ressourcen, Zwist innerhalb von Gruppen? 10 Praesapiente Sammler- und Jäger*innen aus

Abb. 2.6 Siedlungswanderung des homo sapiens < 300.000 Jahre vor heute

dem Nildelta, dem Zweistromland oder dem nördlichen Südasien bewegten sich entlang der östlichen Mittelmeerküste durch Palästina-Anatolien, über das Kaukasus-Gebirge oder von Osten durch die Steppen nördlich des Balkhash-Sees (Denisova-Kultur) und erreichten die Steppen nördlich des Schwarzen Meeres. In dem tundren- und steppenartigen Flachland und in alpinen Gebieten ernährten sie sich von Pflanzen und Tieren. Vor etwa 210.000 Jahren nutzen sie die Repolust-Höhle bei Peggau an der Mur und stellten durchbohrte Wolfszähne als Schmuck her. Andere nutzten über Jahrtausende (vor etwa 130.000–45/30.000 Jahren) die Gudenus-Höhle im Tal der Kleinen Krems und später die Ramesch-Höhle im Toten Gebirge. Sie waren nicht „Höhlenmenschen“, sondern erhielten diese Bezeichnung von Forscher*innen der Gegenwart, denen die Höhlen – klimatisierte Räume – gewissermaßen zu Museumsmagazinen wurden. Modellbildende Sprachforschung und, seit kurzem, Genetik können Wanderungsrichtungen und Aspekte sozialen Lebens rekonstruieren: Menschlich-kulturelle Entwicklung ist eine Geschichte dynamischgroßräumlicher Bewegungen. 11 Homo und femina sapientes aus Kenia und Äthiopien, die wirkende Dinge, also Werkzeug, Speerspitzen und Schmuck entwickelt hatten, agierten und ernährten sich in vielen Um-Welten. Sie

Die ersten Fossilien wurden 1856 im Tal der Neander (heutiges Nordrhein-Westfalen) gefunden. Die Gemeinschaften lebten im gesamten Europa und Zentralasien. 9 Immanuel Ness u. a. (Hg.), Encyclopedia of Global Human Migration, 5 Bde., Oxford 1913, bes. Bd. 1, hg. von Peter Bellwood, 9–48. 10 Separat und früher erreichten Menschen aus Sibirien das nördliche Nordamerika, wie DNA-Untersuchungen der Inuit zeigen. 11 Zu Forschungsmethoden vgl. Patrick Manning, Migration in World History, New York 2005. DNA-Untersuchungen zeigen, dass traditionellklischeehaft als „Jäger“ identifizierte Bestattete oft Frauen waren. 8

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Naturregion und menschliche Besiedlung

suchten diese durch innewohnende oder übernatürliche Kräfte zu erklären und schufen sich einen animistischen Referenzkosmos. Ihre spirituellen Welten bildeten sie oft an Höhlenwänden ab, so in der dicht besiedelten Dordogne in Lascaux, in der ägyptischen Sahara bei Uweinat und im Gilf elKebir, im südlichen Afrika in der Apollo-11-Höhle sowie auf der Insel Sulawesi (Maros Karst). An offenen Felswänden hinterließen Männer und Frauen farbige Handabdrücke. War dies, wie vermutet wird, eine Form der Kommunikation mit unerklärbaren Kräften? In der vereisten Alpenregion überdauerten Zeugnisse zum Beispiel in der Schlenken-Durchgangs-Höhle auf 1600 m Höhe und in der wärmebegünstigten Wachau an der Donau. Als sapientes mit ihren Fähigkeiten vor etwa 80.000 bis 60.000 Jahren das westliche Europa erreichten, 12 lebten sie meist parallel zu den praesapientes, doch belegen DNA-Analysen auch gemeinsame Kinder. 13 Viele siedelten in Mittel- und Südfrankreich, wo überhängende Felsen (abri) Schutz und Wohnraum boten und Höhlenwände Platz für Zeichnungen geistig-spiritueller Bedeutung. In Willendorf (Wachau) und in Westpannonien (Niederösterreich) lebten sapientes seit ca. 30.000 Jahren. Ihre Geschichte wird gemäß ihren Werkstoffen in Lithikum (griech. Stein), Keramikum (griech. Lehm, Erde, ab ca. 5000 v. u. Z.) und Metallikum (ab ca. 3900 v. u. Z.) unterteilt. Allerdings wäre besser von Holz- und Knochenzeiten zu sprechen: Holzhütten und, vereinzelt, Langhäuser, Holzfeuer, Holz- und Knochengeräte. Beginn und Dauer der Perioden variierten zwischen Großregionen nach Ankunftszeitraum, Klima und natürlichen Ressourcen. Wissenschaftler benannten Kulturepochen nach Fundorten spezifischer Werkstücke, Gravettien nach dem Abri Gravette (Dordogne, 30.500– 22.000) zum Beispiel oder Lepenski Vir (Serbien, 20.000–8000). Doch lebten die Menschen transmitteleuropäisch und bis nach Zentralasien: Man fand gleichartige, oft ritz- und farbverzierte Werkstücke in Sibirien und, später, in der Wachau-Region und am Don bei Kostënki. „Wachau-Kostënki“ könnte Epochenname sein und andere Konnotationen hervorrufen. Die Wandernd-Sesshaften lernten auf

ihren Wegen Verbände mit anderen materiellen Praktiken, kollektiven Mentalitäten und Identifikationen kennen. Sie unterhielten Kontakte, steinerne Artefakte belegen den Austausch zwischen Regionen des Steinabbaus und der Bearbeitung. Mit der Berechnung der durchschnittlichen sommerlichen Sonnenstrahlung, die der serbischhabsburgische Natur- und Technikwissenschaftler Milutin Milanković (1897–1958) und nachfolgend Klimaforscher*innen entwickelten, lässt sich nachvollziehen, wann sich Menschen während interglazialer Wärmeperioden ausbreiten konnten, wann sie sich mit erneuter eiszeitlicher Kälte auseinandersetzen mussten und sich wieder zurückzogen oder vielleicht in der Kälte zugrunde gingen. Frauen mussten Schwangerschaften und Geburten auch während Wanderungen und in großer Kälte gestalten oder ertragen. Historiker*innen der französischen Schule der Annales haben auf die Bedeutung von Umwelt, Strukturen, Traditionen und Diskursen in der Perspektive der longue durée hingewiesen, marxistische Kolleg*innen die ökonomische Basis, gesellschaftliche Hierarchien und Machtverhältnisse untersucht. Sie haben das Leben von Menschen umfassend betrachtet. Im Vergleich zu den Pyrenäen und dem Dordogne-Plateau waren die Regionen der Alpen, der Donau und Pannoniens dünn besiedelt. Jede Mikroregion, seien es einzelne Alpentäler und in ihnen Nord- und Südhänge, seien es Hügel wie im Bayerisch-Böhmischen Wald, seien es Seen, Flüsse oder geschützte Täler wie an der Donau in den südlichen Karpaten, bot unterschiedliche Rahmen und Ressourcen. Die Menschen entwickelten mentale Karten der Fundorte von Rohmaterialien in ihrem Schweifgebiet (Abb. 2.2). Die mehrgenerationellen (Familien-) Verbände erschlossen sich Neues, wandelten es in Habitate und machten sich zu Einheimischen. Natur veränderte sich schnell, die Durchschnittstemperaturen zum Beispiel stiegen über nur wenige nacheiszeitliche Generationen um sechs Grad und durch die erneute Wirkung des Golfstroms stiegen Niederschläge. Enorme Klimaschwankungen zwischen 8500 und 5500 veränder-

Nach neuen Funden (Juli 2019) erreichten sapientes den Peloponnes bereits vor 210.000 Jahren. T. Higham et al., „The Timing and Spatiotemporal Patterning of Neanderthal Disappearance“, Nature 512 (August 2014), 306–309, https://doi.org/ 10.1038/nature13621 (5. September 2020); und Iosif Lazaridis et al., „Ancient Human Genomes Suggest Three Ancestral Populations for Present-Day Europeans“, Nature 513 (September 2014), 409–413, https://doi.org/10.1038/nature13673 (5. September 2020).

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Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen

ten Landschaftsformen und erforderten schnelle Anpassungen. Die wenigen Menschen 14 in den Ostalpen siedelten auf hochwassersicheren Terrassen nahe Gewässern. Sie gaben den Dingen Namen, erzeugten Geräte aus Feuer- und Hornstein, bauten Fischreusen, nutzten Werkzeug, um feineres Werkzeug herzustellen und ernährten sich von Früchten, Nüssen, Körnern, Wildgemüsen, Wurzeln und Knollen, von Kleintieren und Großwild sowie Fischen. Sie bestatteten ihre Toten, hatten also Vorstellungen eines Jenseits-dieser-Welt, einer Anderwelt. Alle erbrachten in der Gegenwart unvorstellbare Leistungen, um in (nach-) eiszeitlicher Umgebung Kinder großzuziehen. Weisen Kindergräber auf Emotionen der Eltern und, vielleicht, der Gemeinschaft? Anrührend ist ein Doppelgrab, in dem zwei Kinder sich in den Armen zu liegen scheinen. 15 Zwischen Eis- und Besiedlungszeit „wanderten“ aus Rückzugsgebieten überlebende Floren und Faunen wieder zu: aus dem Mittelmeerraum Gehölzpflanzen, aus der Wärmenische der Wachau-Region zwischen Melk und Krems anfangs Sträucher, dann Marillen (Aprikosen), im Osten aus der Schutzzone des Djerdap (südwestliche Karpaten). Die Wiederbewaldung begann im Boreal ca. 9600 v. u. Z. mit Rosskastanien und wohl auch Fichten. Eichen und Buchen aus Südeuropa sowie Linden; Eschen, Ahorn und Erlen kamen später. Als Pflanzen Nahrung und Schutz boten, folgten Tiere. Doch lange blieb die Artenvielfalt geringer als vor der Eiszeit. Optionen der Menschen nahmen zu, als die Atlantikum genannte feuchtwarme Mittlere Wärmezeit von ca. 8000 bis, im nördlichen Europa, ca. 4000 v. u. Z. die Lebensbedingungen verbesserte. Jede Klimaveränderung beeinflusste die Wassermengen in Flüssen und Seen und die Lebensbedingungen in Uferzonen. Eine intensivere Bewaldung mit dichtem Laubdach nahm Sträuchern und manchen Tierarten das Licht. 16 Die post-glazialen Veränderungen forderten von den Menschen Entscheidungen über ihre Ernährung: Großsäugetiere wie das Mammut zogen ab, Rentiere verbreiteten sich – Menschen fertigten

Abb. 2.7 Emotion, Ritual, Zufall? Doppelkindergrab, Unterhautzenthal, Niederösterreich, frühbronzezeitlich

vor ca. 20.000 Jahren Flöten aus Rentierknochen – und verschwanden, als Steppen zu Mischwäldern wurden. 17 Männer und Frauen, die ihre Lebensform beibehalten wollten, mussten dem Großwild folgen; diejenigen, die sesshaft bleiben wollten, mussten sich dem neuen Klima anpassen. Sie entwickelten neue Nahrungspraktiken oder übernahmen sie von Neuzuwander*innen aus dem Südosten. Statt der Umzingelung riesiger Tiere entwickelten sie die Technik der schnellen Verfolgung kleinerer Tiere und andere Formen der Fellverarbeitung. Zur Herstellung von Werkzeugen und Kultgegenständen verwendeten sie Knochen, Stoßzähne und Geweihe. Im Unterschied zum Mammut konnten die Menschen sich Rentiere gefügig machen („domestizieren“). Die neue Jagdkultur erforderte auch eine spirituelle Neuorientierung, denn Beutetiere waren Nahrung und wurden verehrt – je nach Kleinregion Bison, Braunbär, Rothirsch, Gämse, Steinbock,

Eine Schätzung der Bevölkerung in der Region Krems bis Horn ergab nur etwa 450 Personen. Pieler u. a., Waldviertel, 124. Ein reich ausgestattetes Doppelgrab von zwei Säuglingen aus der Gravettien-Periode wurde nahe Krems/Donau gefunden. 16 Andreas Lippert, Wirtschaft und Handel in den Alpen: Von Ötzi bis zu den Kelten, Stuttgart 2012, 10–15. 17 Manche Forscher*innen argumentieren, dass die fleischhungrigen Menschen mit ihren verfeinerten Jagdinstrumenten die Großsäugetiere vernichteten. Die irreführende Bezeichnung „Jagdkultur arktischen Typs“ erfanden Gelehrte in einer Zeit, als Rentiere nur im hohen Norden lebten. Überreste von Sumpfschildkröten bis Südskandinavien deuten auf Warmperioden in diesen Regionen. 14 15

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.8 Zeitleiste: Klimaabschnitte und Kulturperioden, 425.000 v. u. Z. bis 0

Wildschwein, Marder, Wildkatze, Biber, Fischotter. Die Menschen jagten viele Arten von Vögeln und sammelten Schnecken und Muscheln. Sie schufen sich in Holz oder Knochen gefasste, also mit Griff versehene Steinklingen. Pfeile mit Steinspitzen ermöglichten die Jagd aus der Distanz und, als Waf42

fen verwendet, eine aggressivere Kriegführung. Ritzverzierungen deuten auf eine geometrisch orientierte Ästhetik. Vermutlich legten die Menschen bei ihren Lagern, meist auf Süd- und Osthängen oder an Wildwechseln, kleine Wildgras-Felder an. Sie lebten in Verbänden und begannen einen öko-

Von Ostafrika zum Mondsee: Die Ankunft von Menschen

Abb. 2.9 Frauenfigurinen, (a) Willendorf, Wachau, vor 30–25.000 Jahren (Oolith-Kalkstein vermutlich aus Mähren, Rötelbemalung, 10,5 cm); (b) Stratzing/ Krems-Rehberg, vor 32–29.000 Jahren (7,2 cm) Die in Willendorf gefundene Figurine haben Interessierte retrospektiv als „üppig“ bezeichnet und zur Standardabbildung für die frühzeitliche Verehrung erhoben. Zeitgenoss*innen stellten zahlreiche andere Figurinen her, darunter eine als „tanzend“ bezeichnete Frau mit erhobenem Arm. Die Interpretation „kultisch“ schließt Sex ein. Haben andere Figuren sich auf Sex beschränkt? Ein im Waldviertel (Niederösterreich) gefundenes „Amulett“ (?) stellt zwei Frauenbrüste und einen Penis dar (Krahuletz-Museum).

logischen Fußabdruck zu hinterlassen. Auch wussten sie um andere: Am Horner Becken lebende Gemeinschaften bezogen ihre Feuersteine aus Südmähren und nutzten die kürzeste Verbindung dorthin. 18 Frühe Menschen nahmen ihre eigene Körperlichkeit wahr und töpferten und schnitzten anthropogene Figurinen. 19 Fruchtbarkeit sahen sie als weiblich: Neue Lebewesen kamen aus der Vulva in die Welt und nährten sich an Brüsten. Dies war

Überlebens-wichtig und deshalb Verehrungs- sowie spirituell-künstlerisch Darstellungs-würdig, so vor etwa 37.000 Jahren die Vulva-Darstellungen im südwestlichen Frankreich 20 und Frauenfigurinen von der Wachau bis zum Burgenland zwischen 30.000 und 7000 v. u. Z. Vergleichbare andere Kulturverbände von den Pyrenäen bis Sibirien und vom östlichen Mittelmeer bis zur Wolga formten über Jahrzehntausende meist 5 bis 30 cm hohe Figurinen. 21 Neuzeitliche Kunstinteressierte etiket-

Dorothee Brantz (Hg.), Beastly Natures: Animals, Humans, and the Study of History, Charlotteville 2010. Figurinen in Berakhat Ram (Golanhöhen) und Tan-Tan (Marokko) stammen aus über 230.000 bzw. 200.000 Jahre alten Erdschichten. Francesco d’Errico und April Nowell, „A New Look at the Berakhat Ram Figurine: Implications for the Origins of Symbolism“, Cambridge Archaeological Journal 10.1 (2000), 123–167, https://doi.org/10.1017/S0959774300000056 (5. September 2020); Jenifer Neils, Women in the Ancient World, London 2011; Jill Cook, Ice Age Art. Arrival of the Modern Mind, London 2013. 20 Forschungen am Centre National de la recherche scientifique (Jean-Michel Chazine, Arnaud Noury, Jean Courtin und Luc Henri Fage), an der University of Central Lancashire (John Manning) sowie von Randall White (New York University) mit 15 Kolleg*innen, „Context and Dating of Aurignacian Vulvar Representations from Abri Castanet, France“, Proceedings of the National Academy of Sciences, United States 109.22 (29. Mai 2012) 8450–55, https://doi.org/10.1073/pnas.1119663109 (5. September 2020). Die Grabung bei Willendorf (Wachau) leitete Josef Szombathy (1853–1943), habsburgischer und österreichischer Prähistoriker mit internationaler Erfahrung durch die Wiener Weltausstellung von 1873. 21 Abbildungen von Figurinen in Pieler u. a., Waldviertel, 59, 88, 159, 163. 18

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Naturregion und menschliche Besiedlung

tierten sie mit dem Namen der römischen Göttin der Schönheit, Liebe und Erotik, „Venus“. Doch werden weder Antikisierung – die in diesem Fall Modernisierung war – noch moderne Erotik der frühzeitlichen Spiritualität gerecht. Gender war eine zentrale Kategorie der Weltbilder, Schaffensgeschichte (s. Kap. 5) ist „gendered“ – ein Konzept, für das die deutsche Sprache kein Wort hat: „geschlechtsspezifisch“ drückt Zustand, nicht Prozess aus. 22 Diese anpassungs- und neuerungsfähigen materiell-spirituellen Kulturen sind nicht „Vorgeschichte“, sondern vor-textliche Geschichte. Interdisziplinär rekonstruieren Wissenschaftler*innen mit Hilfe mikroskopischer Untersuchungen Herkunftsorte und Verarbeitungstechniken („Technokomplexe“) von Rohstoffen. Herstellungs- und Nutzungsprozesse erschließen sie experimentell durch Nachbau und Nachahmung. Materielle Zeugnisse, zum Beispiel Begräbnisbeigaben, und Fundorte wie am Kalenderberg (Wienerwald und Burgenland) dienten der Namensgebung. Die flexiblen Mentalitäts- und

Identitätsverbände entwickelten Netzwerke und Kontaktzonen und nutzten aus anderen Regionen und Kulturen entlehnte Materialien und Techniken. Grabbeigaben und Skelette ermöglichen die Rekonstruktion von Lebens- und „Jenseits“-Vorstellungen. Personen am Übergang in eine Anderwelt (Verstorbene) und ihre Beigaben, die aus dem Wirtschaftskreislauf der Lebenden ausschieden, als „Spiegel des Lebens“ zu sehen, ist eine notwendige, aber bedenkenswerte Methode. Sie erfasst nur Männer und Frauen der Funktionsoberschicht, denn nur sie konnten materiellen Besitz zur Repräsentation aufbringen. Archäobotanik und -zoologie untersuchen Lebensweisen anhand von Alltagszeugnissen in Abfallgruben und Misthaufen – Getreidereste, Tierknochen, fossile Fäkalien und Haushaltsgegenstände wie Getreidemühlen. Holzund Metallwerkstätten hinterließen Erkenntnis-liefernde Produkte ebenso wie Ausschussware, die fehlgelaufene Prozesse bezeugen. All dies ist aussagekräftiger als der Schmuck der wenigen Magnaten. 23

2.3 Kulturentwicklungen: Am Anfang war das Handeln Die frühen Menschen bemühten sich, ihre Lebensumstände in die Hand zu nehmen und entwickelten kleinschrittig und doch umfassend händisch, intellektuell und spirituell Sichtweisen und Neuerungen. Wo immer die durchaus klugen „Vorwissenden“ ankamen, machten sie die Umwelt mit ihren Händen für sich verwendbar, begriffen sie. Am Anfang stand nicht „das“ Wort (Singular), sondern kontinuierliches händisches Tun, Beobachten und Verarbeiten von Eindrücken im Gehirn, das ähnlich komplex war wie das der sapientes. Handfertigkeiten und Denkfähigkeiten sicherten in immerwährenden Adaptionen das physische Überleben und soziale Leben. Scheiterte dies, mussten die Menschen weiterwandern oder umkehren – wenn sie denn ihr Scheitern überlebten. Sie begannen das Feuer zu verstehen und lernten, es selbst zu entzünden sowie, ebenso wichtig, es

wieder zu löschen. Wärmende Feuerstellen wirkten gemeinschaftsbildend. Die heute als „vorwissend“ Bezeichneten eigneten sich die Beherrschung des Feuers selbst an; heute als „wissend“ eingeordnete „antike“ Menschen glaubten noch Hunderttausende Jahre später, das Feuer sei den Gottheiten vorbehalten gewesen und ein Prometheus habe es ihnen an mythischem Fixpunkt gebracht. Mit ihrem Handeln entwickelten sich ihre Körper: Angesichts der Herausforderungen, die sie bewältigen wollten, expandierte ihre Gehirngröße. Allerdings verengte der aufrechte Gang den Geburtskanal und je größer der Kopf, desto schwieriger die Geburt. Im Vergleich zu Tieren war bei den frühen Menschen das Verhältnis von Gehirn- zu Körpermasse siebenfach größer und, noch wichtiger, die Vernetzung der Zellen – 16 Milliarden bei modernen Menschen – durch Neuronen wurde

Auch auf einem Kegelhalsgefäß (Maiersch) stellte ein*e Töpfer*in eine tanzende Frau dar. Pieler u. a., Waldviertel, 213. Susanne Brather-Walter und Sebastian Brather, „Repräsentation oder Religion? Grabbeigaben und Bestattungsrituale im frühen Mittelalter“, in: Niklot Krohn und Sebastian Ristow (Hg.), Wechsel der Religionen – Religionen im Wechsel, Hamburg 2011, 117–139; Andrea Augenti und Roberta Gilchrist, „Life, Death and Memory“, in: M. Carver und J. Klapste (Hg.), The Archaeology of Medieval Europe, Bd. 2: 12th to 16th Centuries, Aarhus 2011, 494–515.

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Kulturentwicklungen: Am Anfang war das Handeln

Abb. 2.10 Zentren intensiver agrarischer Entwicklungen: im Niltal und Zweistromland, Südostasien mit Südchina, Ost- und Westafrika, westliches Mesoamerika, Neu-Guinea sowie später Nordchina und Regionen der Amerikas

weit komplexer. Dieses Denkorgan benötigte Treibstoff in Extra-Qualität und mit Hilfe des Feuers begannen die Menschen Rohnahrung aufzubereiten und deren Nährwert zu verbessern, die Anfänge der Kochkunst. Ihre Geräte verzierten sie ästhetisch-kunstvoll. Seit dieser Phase aßen nicht mehr fleischfressende Tiere Menschen, sondern die Menschen konnten die Fleischfresser mundgerecht zerlegen. Um den Wert von Zusammenarbeit statt Konkurrenz oder Kampf zu nutzen, schufen sie offenbar ein Konzept von community und entwickelten als Kernpunkt der Evolution kooperative Intelligenz. Hatten sozial Fähige bessere Überlebenschancen als risikobereite, un-vor-sichtige AlphaMännchen? 24 Diese habilis (lat. geschickt, fähig, begabt) genannten Frauen und Männer verbesserten über Jahrzehntausende ihr körperliches Universalwerkzeug, die Hände, durch seitlich flexiblere Daumen und durch den Faustkeil als Universalhilfsmittel. Sie wurden Werkzeugmacher*innen und fertigten Utensilien zum Schaben, Schneiden und Stechen, Spezialwerkzeuge mit Breitklingen und Nadeln mit Öse und Spitze für die Fellbearbeitung. Sie stellten Holzkohle her und bearbeiteten Knochen, Geweihe,

Mammut- und andere Zähne. Sie erfanden die biface-Technik zweiseitiger Kantenschärfung für SilexWerkzeug. Weit verstreute Personenverbände verfeinerten auch unabhängig voneinander ihre Techniken; werkkulturelle „Gerätereihen“ belegen Ähnlichkeiten und deuten auf großräumliche Austauschbeziehungen, Migration und kontinuierliche Vermischung. Um ihren geringen Besitz während Fort-Bewegungen effizient tragen zu können, begannen Männer, Frauen und Kinder Körbe zu flechten, Tücher zu weben, Garne und Seile herzustellen. Gab es bereits eine Arbeitsteilung nach Geschlecht? Ausgehend von der Fähigkeit der Frauen, Leben zu geben und die Säuglinge durch ihre Milch am Leben zu erhalten, ließe sich vermuten, dass stillende Frauen weniger umherstreiften und dadurch Fähigkeiten wie das Flechten entwickeln konnten. Stunden, Tage und längere Zeiten von Ortsfestigkeit hätten dies erleichtert. Wir wissen es nicht. 25 In einer zweiten Phase schneller Entwicklung, etwa 15.000 bis 10.000 v. u. Z., begannen experimentierfreudige Gemeinschaften in Natur-gegebenen, besonders günstigen Regionen, Pflanzen und Tiere nutzbar zu machen. Dies war „Kunst“ und

Suzana Herculano-Houzel, The Human Advantage. A New Understanding of How Our Brain Became Remarkable, Cambridge, MA 2016; Martin A. Nowak mit Roger Highfield, Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, übers. von Enrico Heinemann, München 2013 (amerikan. 2011); Lee A. Dugatkin und Lyudmila Trut, How to Tame a Fox (and Build a Dog): Visionary Scientists and a Siberian Tale of Jump-Started Evolution, Chicago 2017; Richard Wrangham, „Feuer fangen“: Wie uns das Kochen zum Menschen machte, übers. von Udo Rennert, München 2009 (engl. 2009). 25 Alice Roberts, Evolution: The Human Story, New York 2011; Richard Potts und Christopher Sloan, What Does It Mean to Be Human?, Washington 2010; J. M. Adovasio, Olga Soffer und Jake Page, The Invisible Sex: Uncovering the True Roles of Women in Prehistory, New York 2007. 24

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.11 Migration von Menschen mit landwirtschaftlichen funds of knowledge und know-how

„Tun“: von natürlicher zu gestalteter (art-ificial) Umwelt. 26 Regional differenziert gingen sie von sammelnden zu produzierenden Lebensweisen über. Sie züchteten aus Süßgräsern (Gramineen) Getreidepflanzen, deren Samen in einer Ähre blieben, besonders Roggen und Hafer, und sie adaptierten den Anbau der Cerealien während ihrer Wanderungen unter immer neuen Bedingungen. Ihre Erfahrungs-bedingte Boden- und Klimakunde ist in der Gegenwart ein komplexes interdisziplinäres Forschungsfeld. 27 In dem klimatisch günstigen fruchtbaren Bogen (fertile crescent) – von der Euphrat-Tigris-Ebene über das iranische Hochland und vom Roten Meer und der Straße von Hormus über die Levante bis Anatolien – „domestizierten“ Menschen zwischen ca. 10.500 und 9000 v. u. Z. Wildtiere wie Esel und einhöckerige Kamele zu nutzbaren Arbeitstieren und erreichten durch Züchten höhere Milchpro-

duktion sowie größere Zug- und Tragfähigkeit. Domestizierung ist Beherrschen. Milch konnten sie nur verwenden, wenn sie Laktosetoleranz entwickelten (seit dem 5. Jahrtausend). Migrant*innen trugen ihre Fähigkeiten zur westeuropäischen Halbinsel des Großkontinents, besonders als eine temporäre Abkühlung des Klimas in Westasien zu einer langen Dürrezeit führte, in West- und Mitteleuropa jedoch zu höheren Niederschlägen. Ab 8000 v. u. Z. trugen sie Hühner aus Südostasien und Samen aus dem südwestasiatisch-nordostafrikanischen Raum (zum Beispiel Emmer, Weizen, Gerste) oder aus Zentralasien (zum Beispiel Buchweizen) über Anatolien und die Mittelmeerinseln in ostmitteleuropäische Regionen. Dort hatten Ansässige Ur- und Auer-Rinder sowie das Wildschwein nutzbar gemacht, andere den Wolf zum Hund adaptiert, wieder andere in den Bergen Ziegen zu Nutztieren gezüchtet. Sie verbesserten ihre Werkzeuge, ent-

Peter Bellwood, „Neolithic Migrations: Food Production and Population Expansion“, in: Encyclopedia of Global Human Migration, 1:79–86; Manning, Migration in World History, 59–76. Sehr differenziert zu Forschungsgeschichte und -stand David R. Harris, The Origins and Spread of Agriculture and Pastoralism in Eurasia, London 1996, 1–9 und 552–571; Colin Renfew, „Language Families and the Spread of Farming“, in: ebd., 70–91; und Julian Thomas, „The Cultural Context of the First Use of Domesticates in Continental Central and Northwest Europe“, in: ebd., 310–322. 27 Pionierarbeit leisteten der russische Geograf und Geologe Wassili W. Dokutschajew (1846–1903) und die Universität für Bodenkultur Wien (gegr. 1872). 26

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Kulturentwicklungen: Am Anfang war das Handeln

wickelten feuerfeste Keramik zum Kochen und die Steinbohrung zur Herstellung von Schaftäxten. 28 Die Menschen lernten haltbare, witterungsbeständige Behausungen und mobile transportable Unterkünfte zu bauen und erwarben experimentell Kenntnisse über die verschiedenen Erden: Feuchte ließen sich verdichten, viskose zu Baumaterial verarbeiten, plastische für Gefäße verwenden. Fußboden, Wände und Dach erforderten unterschiedliche irdene Materialien und Stützvorrichtungen. Das Formen von Ziegeln bedeutete, modern ausgedrückt, Modulverwendung. Die um 10.000 v. u. Z. in Südostanatolien errichtete Kultstätte Göbekli Tepe erforderte die koordinierte Arbeit von vielen Hunderten. Die Menschen erweiterten zwischen 5500 und 2000 ihre Handlungsfähigkeit erheblich. War dies eine „landwirtschaftliche Revolution“ 29 oder eine politische? Die Änderung mag bedeutet haben, dass Mächtigere den Anbau kontrollierten, um Abgaben zu erheben, denn die Großproduktion von Getreide mit kurzer Erntezeit und Messbarkeit des Ertrags ermöglichte Steuerschätzung und -einhebung. Subsistenz-wirtschaftende Menschen in Verbandsökonomien auf der Grundlage von bedarfsgerechtem Sammeln und Leguminosen-Anbau hatten möglicherweise kein Interesse an einer Herrschafts- und Abgaben-Revolution. 30 In Regionen mit dünner Vegetation boten Hügel als Siedlungsorte Aussicht auf Wild als potenzielle Nahrung. In solchen mit Flüssen, Seen oder am Meer lernten Uferanrainer Fische zu angeln, zu speeren oder mit Flechtreusen und geknüpften Netzen zu fangen. Wasser beschleunigte die Fortbewegung, vorausgesetzt die Menschen lernten, Hölzer in Transportmittel umzuwandeln. Aus Garnen stellten sie Netze her und verbanden mit Seilen Hölzer zu Flößen. Kinder bezogen sie vermutlich in ihre Tätigkeiten ein. Gruppengröße, Friedfertigkeit oder Gewaltbereitschaft, Interessen und Intentionen beeinflussten das Leben und Überleben der frühen Menschen. Ein Aufeinandertreffen, das eine Bedrohung knapper Ressourcen oder Optionen bedeutete, erforderte Entscheidungen: Kampf, unsicheres Beäugen, kos-

tenneutrale, Konkurrenz vermeidende Änderung der Wanderungsrichtung oder ein Zusammengehen zur Verbesserung der Ressourcen? Ein Zusammenschluss konnte auf Augenhöhe erfolgen oder, wenn ein Verband einen anderen in Arbeitsverhältnisse zwang, in Hierarchisierung münden. In den Gemeinschaften blieben Menschen beieinander, wenn es nützlich war, und mussten sich trennen, wenn Ressourcen knapp wurden. Sie konnten sich trennen, wenn sie unterschiedlicher Meinung waren über die Wanderungsrichtung oder, unter Sesshaften, über Anbaumethoden, oder wenn entstandener Streit sich nicht schlichten ließ. Unterschiedliche Meinungen eröffneten unterschiedliche Möglichkeiten. Einzelne Familien und ganze soziale Schichten wanderten ab oder flohen, um sich Unterdrückung und Ausbeutung durch entstehende Oberschichten, durch kulturell Andere oder durch mobile Krieger zu entziehen. Viele suchten Zugang zu Ressourcen für ihre arbeitsteilige Produktion von Keramik und ab etwa 2300 v. u. Z. von Kupfer und Bronze. Ästhetisch und spirituell produzierten sie Flechtwerke mit Mustern und brandverzierte Keramik. Ihre spirituellen Konzeptionen stellten sie in Bildern dar und sie schufen symbolhaft vereinfachende oder realistisch abbildende Tierfiguren, Nachbildungen von Mond oder Sonne als Objekte der Verehrung oder als Versuche ritueller Beeinflussung. In der Wieselburg- oder Gáta-Kultur waren offenbar Frauen für die Berechnung des Mondkalenders zuständig. Materielles und Geistiges bildeten eine Einheit. Männer und Frauen testeten Möglichkeiten zielgerichtet oder erkannten Neues durch Zu-fall. Innovative Menschen nahmen mehr Optionen wahr als Traditionalisten; manche übersahen Optionen, die andere realisierten. Nicht jede Innovation war erfolgreich oder für alle Beteiligten zweckmäßig. Hierarchisierung, in der einige sich zu Kriegern und Führern erhoben, konnte dem Interesse der gesamten Gemeinschaft, eines Segments oder dem Eigeninteresse dienen; auch benötigten die Herrscher Unterhalt. Der Übergang von sammelnder zu sesshafter Lebensweise mit systematisierter

Zu den engmaschigen Handelswegen zwischen etwa 2600 und 2200 v. u. Z. und früher siehe Michele Massa, http://www.archatlas.dept.shef.ac. uk/workshop09 (26. März 2013). 29 Forschung und Begriff durch den australischen Archäologen Gordon V. Childe, New Light on the Most Ancient East: The Oriental Prelude to European Prehistory, London 1934, und den russischen Botaniker und Genetiker Nikolai I. Vavilov, Origins and Geography of Cultivated Plants, aus dem Russischen von der schwedischen Botanistin Doris Löve, Cambridge 1992 (russ. 1926). 30 James Scott, Against the Grain: A Deep History of the Earliest States, New Haven 2017. 28

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Landwirtschaft bedeutete höheren Arbeitsaufwand, die Gefahr einer Kontrolle „von oben“ und die Ge-

fahr der Abschöpfung von Teilen der Ernte oder anderer Produkte (J. Scott).

2.4 Fruchtbarkeitsverehrung und weitläufiger Handel in donauländischen urbanen Kulturen In dicht besiedelten Räumen differenzierten die Menschen ihre Fertigkeiten und lebten in konzentrierten Ansiedlungen: städtische Kulturen in der Region des Gelben Flusses (ca. 4000–2000 v. u. Z.), die Harappa-Lebensweise im Industal (ab ca. 3300), in Mesopotamien und der Levante (ca. 3000). Eine Kultur in den mikroklimatisch geschützten Seitenschluchten der Donau mit Zentrum in Lepenski Vir begann um 7000 und erreichte größte Intensität 5300 bis 4800 v. u. Z. 31 und eine Donauländische Kultur mit Blütezeit von 5000 bis 4300 v. u. Z. erstreckte sich von den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres über den unteren Donauraum und die Karpaten bis zur Pannonischen Ebene. Die Kulturschaffenden bildeten von einem anatolischen Entwicklungskern aus zahlreiche meso- und mikro-regionale Gesellschaften in fruchtbaren Lössebenen, erzhaltigen Gebirgen und an fischreichen Küstengewässern. Intensiv betrieben sie agrarische und handwerkliche Produktion sowie Fernhandel und verehrten weiterhin die Fruchtbarkeit. Ihre Güter und Impulse erreichten Menschen im mittleren Donau- und Voralpenraum (s. Kap. 3.5, 5.1). 32 Die Menschen dieses „Alten Europas“ errichteten sowohl offene, geräumige Flachlandsiedlungen wie konzentrisch um einen Kern geplante Städte, insgesamt mehr als 600, die größten mit bis zu 4,5 km2 Ausdehnung. Letztere erhoben sich nach und nach auf Hügeln (engl. tell) von bis zu zwanzig

Metern Höhe, da die Bewohner*innen ihre Häuser – aus rituellen Gründen? – nach etwa zwei Generationen abbrannten, den Schutt planierten und neu bauten. 33 In der Kultur von Cucuteni-Tripol’ye bedurften „Megastädte“ mit 5500 bis 7700 Einwohner*innen hoch entwickelter Logistik für die Versorgung. Wohnbauten deuten auf egalitäre Strukturen, Begräbnisbeigaben und manche Stadtstrukturen hingegen auf soziale Hierarchien. Die als Ursprung des abendländischen Europas herangezogene minoische Kultur begann um etwa 3600 v. u. Z. (Kreta), die dorischen und ionischen Wanderungen, aus denen später „griechische Antike“ (konstruiert) werden würde, um 1000 v. u. Z. 34 Die Großregion bot zahlreiche, weitläufig handelbare Rohstoffe und an deren Fundorten errichteten Menschen Werk- und Wohnstätten, so zum Beispiel die Hersteller*innen messerscharfer Obsidian-Klingen in den Karpaten (Tokaj-Berge) und auf der Insel Melos (Ägäis) sowie von SpondylusMuschelschmuck an den Küsten von Ägäis und Adria. Andere bauten in den Karpaten unterschiedliche Steinsorten ab und bereiteten Erze auf. Landwirtschaftliche Haus-, Dorf- und Stadtgemeinschaften (communities) nahe den Zuflüssen von Theiß und Velika Morava in die Donau waren Pioniere in der Herstellung von Keramik seit etwa 5600 und anschließend während der Starčevo-Körös-CrişKultur bis 4400 v. u. Z. Mit Hilfe von Blasebälgen erreichten sie 800 bis 1100 oC Hitze und erweiter-

Die dort Lebenden handelten bis zum Schwarzen, Ägäischen und Adriatischen Meer. Als Pionierin forschte dazu Marija Gimbutas (geb. in Litauen, Studium in Kaunas, Vilnius und Tübingen, Auswanderung in die USA 1949), Göttinnen und Götter im Alten Europa. Mythen und Kultbilder 6500 bis 3500 v. Chr., übers. von Baal Müller, Uhlstädt-Kirchhasel 2010 (amerikan. 1974, rev. 1982), 9–144. Ihre Thesen, anfangs oft rigoros abgelehnt, haben Archäolog*innen modifiziert. Douglass W. Bailey, A. Whittle und D. Hoffmann (Hg.), Living Well Together: Sedentism and Mobility in the Balkan Neolithic, Oxford 2008; David W. Anthony mit Jennifer Y. Chi, The Lost World of Old Europe. The Danube Valley, 5000–3500 BC, New York 2010; Barry Cunliffe, Europe between the Oceans. Themes and Variations: 9000 BC–AD 1000, New Haven 2011, 19–29, 88–119, 140–177; Cyprian Broodbank, Die Geburt der mediterranen Welt. Von den Anfängen bis zum klassischen Zeitalter, übers. von Klaus Binder und Bernd Leineweber, München 2018 (engl. 2013); Katalin T. Biró u. a., An der Grenze von Orient und Okzident: Die Geschichte der Völker auf ungarischem Boden, 400.000 v. Chr.–804 n. Chr., Budapest 2003; Mehmet Özdoǧan, „Anatolia and the Balkans: Archaeology“, in: Encyclopedia of Global Human Migration, 1:135–149; Agathe Reingruber, „Mobilität an der Unteren Donau in der Kupferzeit: Pietrele im Netz des Warenverkehrs“, Altertum 52 (2007), 81–100. 33 In der altägyptischen und griechischen Mythologie existierte der Sonnenvogel Phönix, der flammend oder sich selbst verbrennend und neu entstehend dargestellt wurde. 34 Robert Hoffmann, Fevzi-Kemal Moetz und Johannes Müller (Hg.), Tells: Social and Environmental Space, Bonn 2012. 31

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Fruchtbarkeitsverehrung und weitläufiger Handel in donauländischen urbanen Kulturen

Abb. 2.12 Erzfunde und -verarbeitung sowie Spondylus- und Bernstein-Handel nach 3500 v. u. Z. und Donauländische Kulturkreise

ten ihre Linearband-verzierte Produktpalette ab etwa 4750 durch Farbverzierung. 35 Gemeinsam entwickelten gewerblich-kulturell Schaffende und ihre mehrheitlich agri-kulturell arbeitenden Nachbar*innen eine exportorientierte Produktion westwärts über den kostengünstigen Wassertransport Donau-aufwärts und weiter durch das Alpenvorland bis zur Seine, ostwärts über ein Netzwerk von Routen bis an die Wolga und den Ural (Abb. 3.22). 36 Spirituell stellten die Menschen Fruchtbarkeit ins Zentrum. Bedeutete dies eine hohe Wertschätzung für Frauen? Standen Göttinnen im Zentrum einer Religion (s. Kap. 5.1)? Waren die Figurinen Ikonisierungen des reproduktiven Körpers von Frauen für Frauen? Handelte es sich um Symbole des eigenen Lebens, die – vielleicht bei Tod – zerbrochen wurden, wie unter Menschen im KamptalHorner Becken-Komplex üblich? Die Figurinen

wurden in den oft mehrräumigen Wohnhäusern verwendet, nicht in Kultzentren. Andererseits statteten die Menschen nur die Gräber weniger Männer reichhaltig aus. Besaßen Frauen einen hohen Rang in der materiell-spirituellen Lebenswelt und einzelne Männer Kontrolle über Rohmaterialien, Handwerk und Fernhandel? 37 Die Verehrungspraktiken, über die Wissenschaftler*innen debattieren, waren Teil makroregionaler Vorstellungen. Manche ältere Forscher mit Kirchen-christlichem Standpunkt sahen „Götzen“ und Darstellungen weiblicher Fruchtbarkeit als Idole, männliche Fruchtbarkeit als Zeichen von Transzendenz. Empirisch standen den vielen weiblichen wenige männliche Figurinen gegenüber. Marija Gimbutas sah in der donauländischen magna mater „das schöpferische Prinzip der Quelle und AlleinSpenderin verleiblicht“, das männliche Element seien „lebensfördernde – nicht aber lebensschaffende

Hämatit (rot), Gips (weiß), Grafit (grau). Ioan Opriş und Cătălin Bem, „A History of Archeology and Museography in Romania“, in: Anthony und Chi, Old Europe, 59–72; Michel L. Séfériadès, „Spondylus and Long-Distance Trade in Prehistoric Europe“, ebd., 179–190. 37 Cook, Ice Age Art. 35

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.13 Transeuropäische Schmuckbedürfnisse, a) Spondylus-Kette, b) Produktpalette, c) Werkstücke

Abb. 2.14 Vermutete Handelswege in und aus Pannonien sowie um Wien und um Langenlois, Kamptal

– Kräfte“. War die matrifokale und vermutlich matrilineare Kultur egalitär und friedlich? Fruchtbarkeit – ebenso wie Sexualität und Gewalt – würde am Beginn vieler Ursprungslegenden stehen: Zeus, athenische und römische Krieger raubten Frauen. In manchen levantinischen und östlichen Erzählungen zeugen sich liebende Männer und Frauen 50

Kinder als Beginn eines Identifikationsverbandes. Menschen der nachfolgenden pannonischen Kulturen schufen Vorratsgefäße für lebenserhaltende Nahrung und, zur Anderwelt übergänglich, Urnen in anthropomorpher Form.

Fruchtbarkeitsverehrung und weitläufiger Handel in donauländischen urbanen Kulturen

Abb. 2.16 Nähnadeln aus Tierknochen, Ösen mit feinen Steinbohrern erzeugt (vor ca. 20.000 Jahren, Grubgraben bei Krems)

Abb. 2.15 Männlich-anthropomorphes Gesichtsgefäß vermutlich keltischer Scordisker aus dem römischen Kastell Viminatium an der Donau (östlich Sirmiums) seit Beginn des 1. Jahrhunderts

Werkzeuge und Harpunen aus Geweih oder Meißel mit Geweihgriff erscheinen in heutiger Ästhetik als formschön. Kupfer (ab 4400 und bis 4300 v. u. Z.) und Bronze ermöglichten verfeinerte Werkzeuge und exquisiten Schmuck. In hochkultureller Rückschau dominiert der Schmuck; überlebenswichtig waren jedoch Äxte, mit denen Holz behauen werden konnte, und Schlagsteine, um Werkzeuge und Mahlsteine herzustellen. Werkzeughersteller*innen waren lebens- und kultur-wichtig. 38 Als das Klima ab 4000 v. u. Z. abkühlte, sank die Bedeutung der donauländischen Kultur. Aus den bereits kühleren Steppen, in denen Menschen der Botai-Kultur (Nordkasachstan) das Pferd nutzbar gemacht und gezüchtet hatten, erreichten Hirtenverbände der Suvorovo-Novodanilovka-Kultur das nördliche Donaudelta, dessen riesige Schilf-Flächen

Winterfutter boten. Weder archäologische noch mythologische Zeugnisse deuten auf gewaltsame Auseinandersetzungen, Vertreibung oder Flucht. Hatten Händler die Neuankömmlinge über das Kupfer der Karpaten informiert? Die Verbände waren nicht „Reitervölker“, denn ihre Pferde konnten Menschen noch nicht tragen. Östlich des Kaspischen Meeres entstand die Oxus-Zivilisation (Gonur Depe) mit Blütezeit um 2300. Die Frauen und Männer der Großregion entfalteten eine sprachschaffende Kreativität. Um 8500 v. u. Z., so der gegenwärtige Forschungsstand, entwickelten Ackerbauende mit proto-indoeuropäischer Sprache in Nordostanatolien, vielleicht gemeinsam mit Menschen der Jamnaja-Kultur, in den Steppen des unteren Don-Wolga-Ural-Gebietes die Basis der indoeuropäischen Sprachfamilie. Aus ihr gingen südöstlich das Indo-Iranische und westwärts das Griechische, Keltische, Romanische, Germanische und Slawische hervor. Die Europäer*innen der Gegenwart, die ihren Ursprung in Ostafrika haben, sprechen in Ostanatolien und Zentralasien entstandene Sprachen. Sprachvermittelnd wirkte vermutlich unter anderem eine – für die Zeit – Massenwanderung von Männern aus den Steppen (Ukraine) nach Westen ca. 3000 bis 2500 und von Frauen ca. 2500 bis 1700 v. u. Z. 39

Frühe Menschen haben, um Geweihe einsammeln zu können, vielleicht Rotwild in Großgehegen gehalten. J. D. Vigne, „Domestication ou appropriation pour la chasse: historie d’un choix socio-culturel depuis le Néolithique. L’example des cerfs (Cervus)“, in: Exploration des animaux sauvages à travers le temps, Juan-les-Pins 1993; Frans W. M. Vera, Grazing Ecology and Forest History, Wallingford/Oxford 2007. 39 Wolfgang Haak, Iosif Lazaridis und 37 weitere, „Massive Migration from the Steppe Was a Source for Indo-European Languages in Europe“, Nature (März 2015), https://doi.org/10.1038/nature14317 (5. September 2020); Eske Willerslev, P. de Barros Damgaard und 49 andere, „The First Horse Herders and the Impact of Early Bronze Age Steppe Expansions into Asia“, Science (9. Mai 2018), DOI: https://doi.org/10.1126/science.aar7711 (5. September 2020). 38

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.17 Geräte und Werkzeuge aus Stein und Knochen geschliffen, südliches Waldviertel

Abb. 2.18 a) und b) Bearbeitung von Silex (rekonstruiert): Die Steinwerker stellten Klingen, nicht größer als ein Fingernagel, mit einer Stärke von < 1 mm her

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Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.

Abb. 2.19 Ausgangsregion und migratorische Verbreitung der indoeuropäischen Sprachen

2.5 Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z. Unter den Verbänden, die das Voralpenland in der Mittleren Stein-Knochen-Geweih-Holz-Zeit erreichten, mögen karpatische Migrant*innen gewesen sein. Sie erlebten um die Mitte des 4. Jahrtausends einen Rohstoffengpass, da sie Oberflächenvorkommen von Erzen und Gesteinen erschöpft, aber noch nicht gelernt hatten, Stollen abzuteufen. In der March-Ybbs-Region entstanden Kulturen und überlagerten sich, zum Beispiel die kupferzeitliche Jevišovice-Kultur, 3100 bis 2600 v. u. Z. Sammler- und Jäger*innen aus der Tardenoisie (Nordfrankreich) ließen sich an der Glan, einem Nebenfluss der Salzach, nieder und entwickelten in der Hügel- und Seenlandschaft die voralpin-alpinen Altheimer (3800–3300 v. u. Z.) und Mondsee-Attersee-Alltagswelten (2800–1800 v. u. Z.). Sie stellten Geräte aus lokal reichlich vorhandenem Material her, importierten spezielle Steinsorten aus den Karpaten und der Ägäis und erhandelten Tierzahn-Elfenbein.

Die Lösszone von Pannonien und voralpinem Flachland ist Teil des Lössgürtels vom Don bis zur Nordseeküste. Die Menschen ernährten sich von selbst Angebautem und konnten durch kleine Überschüsse Spezialist*innen, zum Beispiel Töpfer*innen aus der Donau-Velika Morava-Region, unterhalten. Prospektoren erkundeten inneralpine Gebiete und erkannten verwertbare Erze durch salzhaltiges oder gefärbt austretendes Wasser und Mineral-aufnehmende „Zeigepflanzen“. Die Menschen errichteten ca. 2300 v. u. Z. eine metallerzeugende und -verarbeitende Industrie-Kultur und benötigten Logistik und Mobilität für die Zulieferung von Nahrungsmitteln und den Abtransport ihrer Produkte. Über zehn Jahrhunderte nahm die Bevölkerung zu, Händler*innen verbreiteten das Wissen über Ressourcen entlang ihrer Wege. Menschen gingen zu Orten, über die sie Informationen hatten, selten oder nie orientierungslos „in die Fremde“. Migrant*innen verließen differenzierte Sozial53

Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.20 Kulturwandel: Formgebungen der Keramik-Spezialist*innen nach 4500/ 2000 v. u. Z.

räume und entwickelten bei Niederlassung je nach Umwelt spezifische Kulturpraktiken: die westpannonische (Proto-) Lengyelkultur seit ca. 4700/4300, die mährisch-niederösterreichische Střelice (Strelitz)-Kultur, Kontakte zur Bükk- und nachfolgenden Theiß/Tisza-Kultur im heutigen Ungarn und westlich die großräumlichen Rössener und Michelsberger sowie die kleinräumlichen Chamer und Munzinger Kulturen (heutiges Bayern). In den Gebieten zwischen Enns und Inn besiedelten Zuwander*innen zuerst und langfristig Höhenzüge sowie Inselberge entlang der Salzach und der Saalach. Archäologen benannten die etwa ein Jahrtausend später lebenden ostpannonisch-karpatenländischen Kulturschaffenden (bis ca. 2800 v. u. Z.) je nach Perspektive und Nationalität als Badener Kultur (österreichisch), Péceler Kultur, Baden-Pécel, als BolerázGruppe (ungarisch) oder Promienista-Kultur (polnisch). Die Gemeinschaften beeinflussten materielle Kulturen bis in Drau-Save- sowie Elbe- und donauaufwärts liegende Gebiete. Über anderthalb Jahrtausende schufen und lebten die Menschen eine reiche kulturelle Vielfalt. Transkontinental und zirkumliteral handelten 54

Kleinhändler*innen, Flussschiffer, Großhändler, Seeschiff-Investoren und Seeleute mit Praktischem ebenso wie Schönem. Baltischer Bernstein – fossiles Harz, dem auch medizinische Wirkungen zugeschrieben wurden – fand zahlungskräftige Abnehmer*innen an Donau, Rhône und südlich der Alpen; Perlen aus dem ägyptisch-levantinischen Raum und Schmuck-Muscheln von vielen Orten begehrten Käufer*innen bis an die Atlantikküste. Um 3000 v. u. Z. lernten die Menschen vierrädrige Karren zu bauen und Rinder als Zugtiere einzuspannen sowie, beeinflusst durch östliche Hirtengemeinschaften, größere Pferde zu züchten. Später lernten sie massive Holzräder durch leichte Speichenräder zu ersetzen. Kulturräume waren nicht „globalisiert“, aber Menschen an spezifischen Orten wussten um wertvolle Rohmaterialien und Fertigprodukte an fernen anderen. Obsidian-Klingen erleichterten im Vergleich zu zerbrechlichen Knochengeräten die Fellbearbeitung und Fleischverarbeitung. „Ausgetretene“ Wege verwandelten Naturlandschaften in mentale Öko-scapes. Wie die Karpaten-Bewohner*innen vor ihnen, handelten Alpen-Ansiedler*innen die wertvollen,

Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.

Abb. 2.21 Kulturwandel: Lengyel- und Theiß-Kulturraum nach 4700 v. u. Z.

Abb. 2.22 Isolationistische Sicht: Keramiker*innen-Kulturen in „Österreich“, 17.–15. Jh. v. u. Z. Diese aus einem national vorgehenden Standardwerk zitierte Karte (J.-W. Neugebauer, Österreichs Urzeit. Bärenjäger, Bauern, Bergleute, Wien 1990, 113) reproduziert Information korrekt, aber losgelöst von ihrem räumlich-humangeschichtlichen Kontext.

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.23 Kulturen in transeuropäischer Sicht, 2200–2000 v. u. Z.

wenn auch schweren Rohstoffe und Halbfertigprodukte über große Entfernungen: Silex (Feuerstein, Flint) aus den Kalkalpen; Bergkristall, dessen Schneidkraft seit Jahrzehntausenden bekannt war; Werkzeug-tauglichen Grünstein aus Höhenlagen im Kleinwalser-Tal und den Allgäuer Alpen; das seltene Jadeit vom Monte Viso und Monte Begua (Piedmont). Bis über 2000 m Höhe sprengten sie durch Feuersetzen Material und schlugen Rohstücke für Beile; die Endfertigung erfolgte in Talsiedlungen. Aus Silex-Rohlingen fertigten sie in Zuschlagtechnik Faustkeile, später durch Abschlagtechnik messerscharfe Klingen und Mikroklingen. Händler vermarkteten Jadebeile bis in die Bretagne 40 und trugen Kupfergeräte von transsylvanischen „Nachbarn“ zu Menschen in Alpentälern. Spezialist*innen verfeinerten das Töpferei-

Handwerk, auch „Hafnerei“ genannt, zu hoher Perfektion. Ihre Wahr-nehmung ließ Naturgegebenes zu Roh-Stoff zum Ver-Arbeiten werden: Sie erkannten Fixes und Ton als formbar; erprobten das Trocknen ihrer Produkte in der Sonne; lernten, dass sie durch mineralische Zuschläge härten und einfärben konnten; experimentierten, wie sie mit Feuer härten und nach Investition in Öfen Eigenschaften durch Temperaturvariation und Atmosphäre im Brennraum beeinflussen konnten. Sie produzierten „brandneue“ Gefäße für Vorräte und als Kultobjekte. Da ihre Produkte zerbrechlich und Transport zeit- und kostenaufwändig waren, wanderten Töpfergemeinschaften zu Abnehmer*innen, denn Tonvorkommen gab es an vielen Orten. Die Bandkeramiker*innen im Voralpenland waren, wie DNAUntersuchungen zeigen, nicht mit den Sesshaften

Silex: aus Meerestierchen vor Jahrmillionen entstandenes spaltbares Kieselgestein; Grünstein: basaltisch mittelkörnig, schleifbar; Jadeit: kristallines Silikat, oft mit faseriger oder verfilzter Struktur. Lippert, Wirtschaft und Handel, 93–94; Jean-Pierre Mohen und Christiane Eluère, L’Europe à l’âge du bronze, Paris 1999.

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Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.

verwandt. Anhand ihrer Produkte können moderne Forscher*innen den meso- und makroregionalen Austausch von Form- und Dekorationsstilen nachvollziehen. Mitteleuropäische Töpfer*innen begannen ab 2600/2500 eine neue „Glockenbecher“Formgebung. Sie war begehrt und lokale Fachleute ahmten aus der Ferne erhandelte Gefäße nach. 41 Alle trafen Entscheidungen: Die Menschen der Badener Kultur adaptierten die neuen Formen, die der Mondsee-Kultur blieben traditionell, die des inneralpinen Raums scheinen, vielleicht angesichts der längeren Wege, eigenständig geblieben zu sein. Die Herstellung zunehmend großer Vorratsgefäße seit 1500 v. u. Z. erforderte wachsendes fachliches Können und entsprechend große Öfen. In Individualisierungsprozessen entwickelten Keramikwerker*innen komplexere und fantasievollere Dekorationen, setzten künstlerische Empfindungen und spirituelle Vorstellungen in Gegenständlichkeit um und verbanden Ornamentales und Kultisches. 42 Hatten Töpfer*innen angesichts ihrer Kreativität spirituelle Aufgaben? Anthropomorphe Gefäße deuten auf eine Verwobenheit von Alltag und Kult. Schufen auch Holzwerker*innen kultische Gegenstände, die die Zeiten nicht überdauert haben? Funde im Handelszentrum Roseldorf (Niederösterreich) deuten darauf hin. Überfamiliäre Verbände gewährleisteten wirtschaftliche Sicherheit, Perspektiven und Austauschbeziehungen, Verwandtschaftsökonomien das physische Überleben. Über zweieinhalb Jahrtausende verbesserten sie gemeinsam Wohnstätten, Nahrung und Kleidung. Die Gemeinschaften der MondseeAttersee-Kultur und im Gebirge bauten sich bis zu 6 x 4 m große Häuser, landseitig auf Steinsockeln, an Seeufern auf Pfählen. Sie behauten Stämme zu Balken und fügten sie zu Rahmen und Dach, verbanden sie durch Kerben, Schlitze, einfache Zapfen und Scherzapfen 43, Dübel und Holzstifte. Sie legten Fußböden aus waagerechten Grundschwellen und errichteten Wände aus Flechtwerk mit Lehmverstrich. Die sehr solide Konstruktion erforderte gute

Zimmereikenntnisse und lokal hergestelltes oder importiertes, scharfkantiges und aufgabenspezifisches Werkzeug. Die Menschen ernährten sich weiterhin von Wildfrüchten und -samen und begannen Gemüseund Obstanbau (Horti-Kultur) sowie Getreideanbau (Agri-Kultur). Sie höhlten Einbäume aus und lernten Harpunen und Angelhaken aus Hirschgeweih, Reusen aus Korbgeflecht und unterschiedliche Netze mit Nadeln herzustellen. Die feinen und wertvollen Nadeln bewahrten sie in ausgehöhlten Knochen auf. Da Jagd zeitaufwändig war, trugen Jäger im Vergleich zu Sammelnden wenig zum Kalorienbedarf bei. Geweihe und Knochen waren jedoch unabdingbare Rohmaterialien für Werkzeug und Schmuck, die besonders harten Gämsenknochen für Spezialwerkzeuge, feuergehärtetes Hirschgeweih zum Spalten von Feuersteinen für Äxte und Messer, hartes Bergahornholz für Schäfte. 44 Fleisch lieferten Rind und, je nach Region, in zweiter Linie entweder Schwein und Schaf oder Ziege. Mangels Winterfutter mussten die Menschen Vieh, mit Ausnahme von Zuchttieren, im Herbst schlachten. 45 Kleidung nähten sie sich aus Fellen und für die Verarbeitung von Wolle, Lein und Flachs erfanden sie Webstühle; Arbeitsgeräte für Küche und Feld stellten sie aus Holz her: Quirle, Löffel, Schalen, Schaufeln, Spindeln, Spinnrocken und andere. Sie konnten zählen, abstrakte Zeichen verwenden und nutzten Kerbhölzer für Abrechnungen. Kühle Erdgruben dienten der Vorratshaltung. Sie nahmen Praktiken aus dem östlichen Mittelmeerraum auf und entwickelten eigene: Ihre Fähigkeiten mussten genau auf lokale Böden und das jeweilige Klima abgestimmt werden. Abfallgruben der Zeit sowie luftlos abgeschlossene Seeufer- und Moorablagerungen geben Forscher*innen Aufschluss über ihre Lebensweisen. Am Mondsee Lebende betrieben im 4. Jahrtausend v. u. Z. eine Steinwerkzeug-Manufaktur für die gesamte Region. Sie ließen sich aus Moränen-Ablegungen Steine in etwa anderthalb Dutzend Sorten

Andere Forscher*innen vermuten den Beginn der Neuerung im Rheintal. Da nachfolgend Bronze-Werkstücke nahe an Erzvorkommen gefertigt wurden, waren sie europaweit relativ gleichförmig. 42 Die kreative Verbindung von Praktischem und Schönem ist im Englischen deutlich: Die Künste (arts) Ausübenden sind „art-isans“ und „art-ists“, Handwerker und Künstler. 43 Zapfen eines Balkens, eingepasst in den gegengleichen Schlitz eines anderen. 44 M. R. Jarman, „European Deer Economics and the Advent of the Neolithic“, in: E. D. Higgs (Hg.), Papers in Economic Prehistory, Cambridge 1972. 45 Am südwestlichen Alpenrand – den zentralfranzösischen Höhlenkultorten am nächsten gelegen – stellten sie ihre landwirtschaftliche Tätigkeit in Felszeichnungen dar. 41

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.24 a) Getöpferte Gebrauchsgegenstände

liefern, bearbeiteten sie durch Schlagen und Schleifen zu Äxten, Hobelmessern, Sägen und Sägeplättchen mit unterschiedlichen Schäftungsformen und boten Griffe aus gegabelten Zapfen aus zehn Holzarten an. Die Herkunft ihres vulkanischen Gesteins ist nicht geklärt; Serpentinit verwendeten sie wegen der hervorragenden Schleifeigenschaften besonders oft. Ferne „Kolleg*innen“ in Rijckholt (Limburg, Niederlande) analysierten nach ca. 4000 v. u. Z. die Feuersteinqualität unterschiedlicher Kreideschichten und ergruben in anderthalb Jahrtausenden etwa 20.000 Tonnen Silex der höchsten Qualität, verarbeiteten die Rohlinge zu Klingen und Halbfertigprodukten und belieferten einen überregionalen Markt. Nicht weit entfernt, im Hennegau (Spien46

nes, Belgien), betrieben Steinwerker*innen der Michelsberger Kultur (Pariser Becken bis MittelrheinGebiet, 4400–3500) etwa 8000 Schächte von bis zu 15 m Tiefe. 46 Am Beispiel eines Mannes, dessen gefrorene Leiche 1991 gefunden wurde, lässt sich eine Vorstellung vom Leben im Alpenraum um etwa 3250 v. u. Z. gewinnen. Seine Mutter war alpiner, sein Vater asiatischer Herkunft. Er war etwa 1,60 m groß, wog zwischen 50 und 60 kg und fand, ca. 45 Jahre alt und vermutlich von Süden kommend, seinen Tod in der eisigen Gletscherlandschaft der Ötztaler Alpen (Südtirol). Seine nur gering abgenutzten Gelenke zeigen, dass er keine schwere Arbeit hat leisten müssen, die Metallkonzentration in seinen Haa-

Violetta Reiter, Ressourcenmanagement im Pfahlbau. Technologie und Rohmaterial der Steinbeilklingen vom Mondsee, 2 Bde., Wien 2013.

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Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.

Abb. 2.24 b) ritzverzierte Tontöpfe und Schalen mit plastischem Dekor, eiserne Pfeilspitzen, Messerklingen (Horner Becken, Waldviertel) Vielfach werden als Illustration für die töpferischen Leistungen der Frühzeit gut erhaltene und schöne Gefäße gezeigt. Die hier gewählten scheinen eher im Alltag gedient zu haben – oder verweisen auf soziale Differenzierung: Wer konnte sich wieviel Dekor leisten?

ren, dass er vermutlich in der Nähe von Kupferverhüttung gelebt hatte; die Mineralien seiner Zähne deuten auf das Eisacktal, 47 ihre Abnutzung auf Getreide- und Fleischnahrung. Tätowierungen, zum Teil an therapeutischen Punkten, mögen auf Akupunktur-Kenntnisse deuten. Er trug einen Fellmantel, mit Tiersehnen genähte Beinlinge und gepolstertes Schuhwerk, darüber einen Schutzmantel aus Grasbinsen. Derartigen Witterungsschutz, leicht im do-it-yourself-Verfahren herzustellen, trugen mobile Schafhirten im Balkan bis zum Beginn des

20. Jahrhunderts. Die Klinge seines im Süden hergestellten Beils mit Knieholzschaft bestand aus Kupfer; sein Bogen aus Eschenholz ermöglichte eine Jahresring-Datierung; Spitzen und Befiederung seiner Pfeile waren mit Birkenpech verklebt, die Köcherklappe kunstfertig genäht. Sein Magen- und Darminhalt zeigte die in den letzten Lebenstagen aufgenommene Nahrung, Vitamine bezog er aus der Frucht der Schlehe. Er trug einen Glutbehälter, um Feuer entzünden zu können, hatte also einen längeren Weg geplant. Eine schwere Verletzung be-

Die Analyse des Vorkommens von Strontium- und Sauerstoff-Isotopen, abgelagert im Zahnschmelz, zeigt die Strahlungsintensität der Umwelt, kann also besonders kindliche Aufenthaltsorte identifizieren.

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Naturregion und menschliche Besiedlung

Abb. 2.25 „Ötzi“, multidisziplinär rekonstruiert (Stand 2011)

legt eine Verwicklung in Gewalt. „Ötzi“ hatte als handelndes und denkendes Individuum gelebt. 48 Der Fokus auf die in Donau- und Alpenregion und im gesamten Europa Lebenden und sich Bewegenden darf nicht zu einem lokal oder eurozentrisch verengten Blick führen. Aus dem Lechtal südlich von Augsburg wanderten junge Menschen of-

fenbar ab und kamen später zurück, exogam heiratende Frauen wanderten zu. Ein in den Alpen geborener Mann wurde bei der Kreisanlage Stonehenge (England, ca. 2350 v. u. Z.) begraben, eine aus dem Schwarzwald stammende Frau in Dänemark. Frauen aus Steppenkulturen wanderten von ca. 2800 bis etwa 1500 v. u. Z. in das Voralpenland und transferierten Metalltechnologie. Sie alle müssen entlang ihrer Routen Unterkünfte gefunden haben und, vermutlich gemäß zwischen Verbänden geteilten Protokollen über die Beherbergung Fremder, Sicherheit haben erwarten können. 49 Andere Menschen entwickelten gleichermaßen komplexe Kulturen weltweit. Als Beispiel mögen Gesellschaften im nordöstlichen Thailand und Vietnam dienen: Um 3000 v. u. Z. verwendeten die Menschen Bronzegeräte; um 500 v. u. Z. betrieben Spezialist*innen bei Non Nok Tha (Khon Kaen Provinz) Eisenmanufakturen und stellten Querhacken in wiederverwendbaren Sandstein-Gussformen für den Export her. Zur gleichen Zeit exportierten Bewohner*innen von Dong-son (am Ma-Fluss) Trommeln für rituelle Zwecke in den südostasiatischen Raum bis nach Neu-Guinea. Sie hatten regional spezifisch um 7500 v. u. Z. gelernt Leinen herzustellen, um 7000 Wolle, um 5000 Baumwolle, um 2640 Seide. 50 Europa-zentrische Historiker-Ideologen haben diese globale Vielfalt nicht verstanden; ihre Griechenland-Hellenismus-Verehrung, die Martin Bernal schon 1987 kritisierte, verdeckt, versteckt und vergisst vieles. Ihre weiß-häutige, griechische Athene als Trägerin von Erkenntnis und Weisheit hatte in der „schwarzen Athene“ Ägyptens eine Schwester. 51 Dort erprobten um 2900 v. u. Z. Handwerker*innen die Herstellung von Glas und ihre Nachkommen stellten um 2700 Bronze her; diejenigen im Ostseeraum erlangten diese Fähigkeit erst 1000 Jahre später. Um 2500 errichteten sie Großgräber, sogenannte Pyramiden; um 1450 entwickelten sie Bla-

Lippert, Wirtschaft und Handel, 45–46. Südtiroler Archäologiemuseum (Bozen), Naturhistorisches Museum (Wien), Freilichtmuseen im Ötztal und Schnalstal. 49 Robert Schumann und Sasja van der Vaart-Verschoof (Hg.), Connecting Elites and Regions. Perspectives on Contacts, Relations and Differentiation during the Early Iron Age Hallstatt C Period in Northwest and Central Europe, Leiden 2017; Corina Knipper u. a., „Female Exogamy and Gene Pool Diversification at the Transition from the Final Neolithic to the Early Bronze Age in Southern Germany“, PNAS, 5. September 2017, https://doi.org/10. 1073/pnas.1706355114 (2. Oktober 2019). 50 Colin Mason, A Short History of Asia, Houndmills 32014, 31–32; Donn T. Bayard, „Excavation at Non Nok Tha, Northeastern Thailand, 1968. Interim Report“, Asian Perspectives 13 (1970), 109–143. 51 Martin Bernal, Black Athena. The Afroasiatic Roots of Classical Civilization: The Fabrication of Ancient Greece, 1785–1985, 3 Bde., New Brunswick 1987– 2006. Bernals Argument löste eine intensive, zum Teil rassistisch-ablehnende Debatte aus. Seither ist cross-fertilization weitgehend akzeptiert. Edith Hall, „When Is a Myth Not a Myth? Bernal’s ‚Ancient Model‘“, in: Thomas Harrison (Hg.), Greeks and Barbarians, New York 2002, 133–152. 48

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Agri-Kultur und Arte-Fakte: Dynamische Menschen bis zum 1. Jahrtausend v. u. Z.

sebalg und Wasseruhr. Keramiker*innen in der benachbarten südwestasiatisch-iranischen Hochebene entwickelten die Töpferscheibe. Levantinisch-urbane Seehändler befuhren im 1. Jahrtausend v. u. Z. mittelmeerische Routen und atlantische Küstengewässer. Für die notwendige Tele-Kommunikation entwickelten sie Alphabet und Zeitrechnungen. Wollten sie, wenn sie sich im Westen befanden, an ihr Zuhause, ihre Familien erinnern, dann blickten sie nach Osten – sie orientierten sich. Sterngucken als Methode der Ortsbestimmung entwickelten sie zur Astronomie. Kreisförmige, auf Himmelsphäno-

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mene ausgerichtete Anlagen am Rand des Waldviertels (5000 v. u. Z. bis zur keltischen Eisenzeit) deuten auf entsprechende Kenntnisse dort. 52 Karawanen-Händler erreichten in China Menschen, die komplexe Bewässerungsanlagen geschaffen hatten, in Südostasien solche, die komplexe Stoffe webten, und im östlichen Großraum Handwerker*innen, die das Brennen von Keramik und ihre Vertrautheit im Umgang mit hohen Temperaturen zum Schmelzen von Eisen- und anderen Erzen nutzten. Erst sehr viel später lernten Erzwerker-Familien in der Alpenregion, norisches Eisen zu produzieren.

Pieler u. a., Waldviertel, 160–166.

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3 Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z. Die Topografie des Voralpen- und Alpenraums bot wie gebirgige und hügelige Gebiete weltweit den Menschen Vor- und Nachteile. Hügel waren schwerer zu bewirtschaften als Flachland, ermöglichten aber, je nach Höhe, die Nutzung unterschiedlicher Pflanzen und Erntezeiten. Auch konnten die Menschen nahe Berge erkunden und sie sich neu-gierig

Abb. 3.1 Metall- und Bernsteinhandel in West- und Nordeuropa, um 2000 v. u. Z.

aneignen. Für Bergkristall, Kupfer, Silber, Gold und anderes mussten sie ihren Blick entwickeln und probieren, diese Kuriositäten in Rohstoffe und in einem weiteren Schritt in Gebrauchsgegenstände zu ver-wandeln. Sie traten Pfade aus und Flüsse erleichterten den Transport. Für die Lebenden zählten Endprodukte, für die Zukunft ihrer Kinder war ein kontinuierliches Erproben, Entwickeln, Verfeinern von Fähigkeiten entscheidend. Von Natur zu Hand-werk, Kunst-fertigkeit und Verfahrens-technik: lat. genius als erzeugende Kraft. Bei ihrem Suchen fanden sie, wie andere in den Karpaten und im nahen und fernen Osten, Kupferkies und erkannten, dass sich dieser Rohstoff durch

Wärme in verwendbare Materialien umwandeln ließ. Fachleute für Hochtemperaturprozesse übertrugen um 3400 v. u. Z. ihre Fähigkeiten von der Keramik- auf die Kupferbearbeitung: vom Begehen der Bergwelt zu ortsfester, chemisch-physikalischer Metallverhüttung. Kupfer war weich und für Werkzeuge brauchten die Menschen ein härteres Metall: Sie experimentierten und „produktive Fehler“ halfen. Um 2300/2200 gelang es ihnen, Bronze als Legierung aus Kupfer und Zinn herzustellen. Doch Zinn gab es in ihrem Wirtschaftsraum nicht. 1 Mittelmeerisch-urbane phönizische Seehändler und Seeleute, die Routen zu reichen Vorkommen in Cornwall entwickelten, 2 verbanden dortige Zinnbergwerker-Familien mit Bronzegießer-Familien in den Alpen. Statt „Familien“ wäre Haus- oder Wirtschafts-Genossenschaft die ökonomisch und sozial angemessenere Bezeichnung, drückt aber weder die emotionalen Bindungen noch die Fürsorge für Kinder innerhalb der Gemeinschaften aus. Die Menschen der Alpenregion lernten zwischen etwa 1300 bis 750 v. u. Z. Eisen herzustellen. Andere in Anatolien hatten dies ein Jahrtausend früher erreicht, doch ihr Wissen, ihre „Patente“, geheim gehalten. Ihre nützlich-ornamentierten Geräte und Gegenstände ermöglichen die Rekonstruktion und Periodisierung von Kulturen, benannt nach den ersten wichtigen Fundorten: Hallstatt (Region Salzburg) oder Kalenderberg (Westrand Pannonische Ebene), 8. bis 6./5. Jahrhundert v. u. Z., und Latène (Westschweiz), Mitte 5. bis Ende 1. Jahrhundert v. u. Z., beide von trans-, aber nicht gesamteuropäischer Ausdehnung. Die materielle Kultur bis zum 5. Jahrhundert ist Thema dieses Kapitels, die Latène-Kultur und die vielkulturellen Zuwanderungen und Ansiedlungen bis ins 7. Jahrhundert u. Z. das des nachfolgenden. Ihre spirituellen Vorstellungen stelle ich im 5. Kapitel in den Vorder-

Kleinere Vorkommen im Harz, Erzgebirge und Mittelitalien waren noch nicht bekannt. Die Emissionsspektralanalyse der Zusammensetzung von Erzen, Schlacken und Werkstücken analysiert Fundort-spezifische Spurenelemente, die sich im Schmelzprozess nicht ändern. Die Herkunft des verwendeten Zinns wird weiter debattiert. Heide W. Nørgaard, Ernst Pernicka und Helle Vandkilde, „On the Trail of Scandinavia’s Early Metallurgy: Provenance, Transfer and Mixing“, PloS ONE 14(7): e0219574, 24. Juli 2019, https://doi.org/ 10.1371/journal.pone.0227504 (6. September 2020).

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Bronze herstellende Gesellschaften: Neue Ressourcen, neue Hierarchien

grund. Waren Materielles und Spirituelles eine Einheit? Die nordische Mythologie und ihre englische Adaption kannten die magischen Kräfte des Schmiedes Völundr/Wayland; Grob- und Schwertschmiede waren Töpfern in Griechenland um 500 v. u. Z. darstellungswürdig. In Kulturverbänden der Sahelzone arbeiteten Frauen als Töpferinnen und

Männer als Schmiede gemeinsam, denn beide benötigten hohe Temperaturen und letztere Gussformen aus Ton. Schmiede hatten angesichts ihres Umgangs mit der Kraft des Feuers oft kultisch-religiöse Funktionen, Töpfer*innen in Pannonien schufen dreigesichtige und anthropomorphe Gefäße mit spiritueller Bedeutung.

3.1 Bronze herstellende Gesellschaften: Neue Ressourcen, neue Hierarchien Anders als Keramikwerker*innen waren Bergwerker- und Schmelzer-Familien ortsgebunden. In der Großregion fanden sie gediegenes Kupfer und Freigold zuerst im ressourcenreichen Transsilvanischen Erzgebirge. „Finden“ und „Nutzen“ sind Kürzel für die Erkenntnis- und Arbeitsschritte Aufsuchen, Aufschließen, Abbau, Aufbereitung der Stein-, Erzoder Salzbrocken, Grubenausbau mit Fahrung, Förderung, Wasserhaltung, Wetterführung, Beleuchtung, Weiterverarbeitung durch Schmelzen – all dies eingebettet in Weltbilder und mental maps der umgebenden Kräfte. Aus dem Erzgebirge belieferten Händler-Familien Mitteleuropa bis Südskandinavien. Um 1600 v. u. Z. erschlossen Zuwander*innen die Kupferfundstätten der alpinen Grauwackenzone. An der ergiebigsten, Mitterberg am Hochkönig an der Südseite des Salzachtals, arbeiteten in etwa 1400 m Höhe um 1250 v. u. Z. bis zu 1000 Bergleute (gender- und generationsneutral) in Schächten von bis zu 180 m Tiefe. Kinder mussten Erze in engen Strecken hauen und transportieren: schmale Gänge, geringerer Aufwand. 3 Brechen und Scheiden – wie der Rücktransport tauben Materials zum Versetzen der Gänge – war meist Frauenarbeit: Sie zerkleinerten mit Klopfsteinen die geförderten Brocken trockenmechanisch und trennten in Wassertrögen unter Ausnutzung des spezifischen Gewichtes das Kupfer nassmechanisch aus dem Grus.

Schwefel wurde anschließend in einem – umweltschädigenden – Röstvorgang herausgelöst; Schmelze erforderte Quarz- und Spat-Zuschlag und Blasebälge für die hohen Temperaturen. Männer und Frauen strukturierten Arbeitsprozesse, entwickelten Verhüttungsanlagen und erzeugten über ein Jahrtausend ca. 20.000 Tonnen, in der gesamten alpinen Region ca. 50.000 Tonnen Rohkupfer. Es handelte sich um ein „technologisch und logistisch eng zusammenhängendes Geflecht von Revieren“. 4 Andere förderten Gold besonders im Karpatenraum und Blei besonders in Littaj (bei Laibach/ Ljubljana). Bergwerker-Familien übertrugen ihre chemisch-technischen Erfahrungen von Bronze auf Eisen zuerst bei Tillmitsch (Steiermark). In der Veredelung waren Männer und Frauen tätig; eine mit Steingeräten, Amboss, Hammer- und Schlagsteinen begrabene Frau (Geitzendorf, Niederösterreich) war offenbar als Schmiedin respektiert oder stand dem Beruf nahe. 5 An der Grube bei Schwaz (Tirol) entstand vermutlich durch Zufall als Nebenprodukt beim Schmelzen blau- und rotgefärbtes Glas und die Arbeiter*innen diversifizierten ihre Produktpalette durch Schmuckperlen. 6 Die Versorgung der Erzwerker-Familien erforderte agrarische Überschüsse in benachbarten Talregionen und Handwerker*innen, um ihren Bedarf an Keramikgegenständen und Werkzeugen zu decken. Die Erschöpfung der Vorkommen – im

In einer um 4000 v. u. Z. benutzten Radiolaritgrube bei Wien wurden Kinderskelette in verfüllten Strecken gefunden, in einer schmalen Ader eines antiken südwestafrikanischen Bergwerks das Skelett eines Mädchens. 4 Gerd Weisgerber, „Montanarchäologie. Grundzüge einer systematischen Bergbaukunde für Vor- und Frühgeschichte und Antike“, Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau 41.6 (1989), 190–204, und 42.1 (1990), 2–18; Thomas Stöllner, „Der vor- und frühgeschichtliche Bergbau in Mitteleuropa bis zur Zeit der Merowinger“, in: Christoph Bartels und Rainer Slotta (Hg.), Der alteuropäische Bergbau. Von den Anfängen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Münster 2012, 25–110, hier 54–63, Zitat 58–59. Schmelzöfen (später „Hoch-“ Öfen) waren oft hüfthoch und ergaben je Schmelzvorgang nur geringe Mengen, später, im 9./10. Jahrhundert, 2–3 kg Metall. 5 Niederösterreichisches Urgeschichtemuseum, Asparn/Zaya; archäologischer Teil des Fabricius-Museums, Sopron. 6 Richard Pittioni, Urzeit von etwa 80.000 bis 15 v. Chr. Geb., 2 Bde., Wien 1980, 1:33–41; Otto H. Urban, Wegweiser in die Urgeschichte Österreichs, Wien 1989, 125–132. 3

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

5. Jahrhundert in Mitterberg 7 und im 1. Jahrhundert v. u. Z. in Schwaz – bedeutete sinkenden Arbeitskräftebedarf und, mangels Ein- und folglich Auskommen, Notwendigkeit zur Abwanderung: aus Not Hin-wendung zu Neuem. Rezession und Abwanderungsdruck trafen auch die Zulieferanten-Familien. Die Erforschung lebendiger Alltagskultur schloss die Spiritualitäten der Totenbräuche ein. Vom Peloponnes bis ins nördliche Mitteleuropa veränderten die Menschen ihre anderweltlichen Vorstellungen und gingen von Hocker- oder Flachgräberkulturen (ab 2300/2200 v. u. Z.) über die Hügelgräberkultur 8 (ab 1600/1500) zur feuerbestattenden Urnenfeldkultur (ab 1300/1200) über. Im Vergleich zu den vorangegangenen agri-kulturellen Gesellschaften deuten Grabbeigaben in zentralen Orten und Produktionszentren auf Hierarchisierung. Um 2000 entwickelten Machteliten eine „Streit-“ oder „Prunkaxt“-Kultur oder setzten sie gewaltsam durch. Luxusutensilien und aufwändige Befestigungsanlagen, deren militärischer Sinn nicht deutlich ist, dienten vermutlich der Schaustellung. Die Menschen scheinen in dieser Zeit weder Kriege noch Raubzüge geführt zu haben, doch ermöglichten Handelswege und Erzlagerstätten die Akkumulation von Ressourcen und Reichtümern. Eliten von der oberen Donau bis zum Ostalpenraum ließen sich Luxusgüter unter anderem von GoldwerkerFamilien der Karpaten liefern und manche ihrer Knochen- sowie Bronzewerkstücke zeigten „mykenische Spiralverzierung“. Bestanden Beziehungen zu dieser Kultur im Peloponnes, in Attika und Kreta (1700–1100 v. u. Z.)? Oder handelte es sich um eine eigenständige Entwicklung? Gold aus Zentralasien importierten Händler*innen bis ins nördliche Elbe-Ems-Gebiet. Körperlichkeit reflektierte Arbeit und Reichtum: je mehr Arbeit, desto abgenutzter Gelenke und Knochen; je geringer die Körpergröße, desto geringer auch die Grabbeigaben. Männer der Oberschicht waren im Durchschnitt 170 cm groß, die der ärmeren Schichten nur 166 cm: hierarchisierte Körper. 9 Die Wohlhabenden – in späteren Begriff-

lichkeiten rückprojizierend oft als Adel, Fürsten, Krieger oder Salzherren bezeichnet – stützten sich auf Familienökonomien. Bezeichnungen wie „Herrenschicht“ oder „Salzherren“ und die Einengung auf Herr-schaft blendet die Beteiligung von Frauen aus. Doch gehörten zum Leben der Herren gutes Essen, Sex und der Wunsch Kinder zu haben. Frauen benötigten für die Hauswirtschaft ManagementFähigkeiten. Nach den Bevölkerungsbewegungen am Wechsel zum 2. Jahrtausend (s. Kap. 2.5) veränderten Natur und menschliche Macht vom 15. bis 13. Jahrhundert Netzwerke erneut tiefgreifend. Ein Vulkanausbruch bei der Insel Thera (Santorin) um 1613 v. u. Z. bewirkte regionale Flucht- und Wiederbesiedlungs-Migrationen. Durch Aschenflug verursachte Kälte ließ in den Alpen die Waldgrenze sinken und dort Lebende mussten die Nutzung hochalpiner Viehweiden und Verehrungsstätten ändern. Im Osten kühlte das Klima um 1200 deutlich ab und in Kleinasien bedrückte ein raubgieriger Hethiter-Herrscher Untertanen, Vasallen und Nachbarn. Verbände, die sich vermutlich aus seiner Herrschaft lösten, wanderten aggressiv über-see und -land. Sie zerstörten die Mykenische Kultur (17.–11. Jh. v. u. Z.) und griffen als, laut ägyptischer Bezeichnung, „Seevölker“ im Niltal ein. Menschen dorischer und später äolischer und ionischer Kultur wanderten in die Ägäis-Attika-Peloponnes-Region, italische zur Apennin-Halbinsel, illyrische in den westlichen Balkan. In der Steppenzone bewegten sich „Kimmerer“ (9. Jh.), „Thraker“ und „Makedoner“ bildeten sich im 7. Jahrhundert vermutlich durch Gemeinschaften zugewanderter und einheimischer Familien. So wie Optionen – zum Beispiel Erzvorkommen oder fruchtbare Ebenen – Migration anregten, induzierten oder erzwangen (besser) Bewaffnete und Kriege sie. Bedrängte und vertriebene Verbände, Familien und Einzelne mussten sich neue Sozialräume suchen und in Ankunftsgesellschaften re-agierten Ansässige auf sie. Dies alles lässt sich nicht auf „Athen-Sparta“ und „Rom“ als Ursprung „europäischer Kultur“ reduzieren. 10

Das Vorkommen wurde erst 1827 wiederentdeckt und zum größten Kupferbergbau in Habsburg-Österreich entwickelt. Dieser auf die weit sichtbaren Gräber der Oberschicht fokussierte Begriff grenzt sozial aus, denn für die Unterschichten gab es nur Flachgräber. Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.), Die Welt der Kelten. Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst, Stuttgart 2012, 92–93. 9 Vgl. Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 2001, 23–29. 10 Christel Müller, „Mobility and Belonging in Antiquity: Greeks and Barbarians on the Move in the Northern Black Sea Region“, in: Ulbe Bosma, Gijs Kessler und Leo Lucassen (Hg.), Migration and Membership Regimes in Global and Historical Perspective, Leiden 2013, 23–50. 7

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Transeuropäische Kulturen, vielfältige lokale Eigenarten, veränderte Kontaktzonen

Abb. 3.2 Kulturregionen und mittelmeerische Diasporen vor dem 4. Jh. v. u. Z.

3.2 Transeuropäische Kulturen, vielfältige lokale Eigenarten, veränderte Kontaktzonen An die bronzezeitliche südliche Urnenfelder- und die eng verbundene Lausitz-Kultur im Nordosten schlossen die bronze- und eisenzeitlichen Hallstattund Latène-Kulturen an. Sie umfassten etwa die gleiche Makroregion, jedoch mit veränderten Schwerpunkten materiell-kultureller Produktion und mit neuen Formgebungen. Kunstwerker*innen gestalteten Artefakte mit kultisch-fantasievoller Formensprache in meso- und mikroregionalen Formdialekten: All-gemeines und Eigen-artiges. Eine imaginäre, im alltäglichen Kontakt poröse Süd-Nord-Linie entlang Enns, Moldau, Oberelbe trennte östliche und westliche Ausdrucksformen. Die Eisenbearbeitung bewirkte makroökonomisch wie alltagsweltlich tiefgreifende soziale Veränderungen. Um 1000 v. u. Z. hatten BronzeNutzende ihre frühen dörflich-unbewehrten Wohnstätten zu ausgedehnten Flachlandsiedlungen erweitert. Die Oberschichten, die die Kupfer- und Zinnhandelswege zwischen Mittelmeer, Cornwall

und baltischem Raum kontrollierten, lebten in befestigten Wohnanlagen auf Hügeln. Diese zentralen Orte verloren mit dem Aufstieg und durch die Konkurrenz von Eisen Produzierenden ihre Bedeutung, die Eliten ihre Stellung, die werkenden Familien ihr Einkommen. Hinzu kam eine Klimaverschlechterung. Neue materielle Produkte, neue gesellschaftliche Hierarchien und neue spirituelle Vorstellungen bewirkten um 800 v. u. Z. von der Rheinmündung über das Main-Gebiet bis zur Donau und den Karpaten einen graduellen Übergang zur „Hallstatt“ genannten Kultur. Diese Generationen verringerten ihre traditionellen Kontakte nach Norden und entwickelten neue zum Mittelmeerraum und in die Steppen. Wandel und Neuformierungen in entfernten Gesellschaften beeinflussten die Menschen in der Voralpenregion. Anschließend an phönizische Seefahrer begannen, erstens, im 8. Jahrhundert v. u. Z. unternehmerisch Handelnde aus den vielen unter65

Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.3 Keltische Kulturvarianten in der Latènezeit

Abb. 3.4 a Gussform, Kupfergusskuchen, Rillenschlägel (östliches Waldviertel)

schiedlichen städtisch-ländlichen Gesellschaften des Raumes Ephesus-Attika-Peloponnes Niederlassungen entlang der Mittelmeerküsten zu gründen. Sie bezeichneten sich summarisch als „Griechen“ und waren oft Minderheit unter den Ansässigen. Historiker*innen haben die Pauschalbezeichnung übernommen. Händler*innen in Cumae (ca. 750 v. u. Z.) und Massalia (ca. 600 v. u. Z.) verkauften in Apennin-Gesellschaften und Rhône-aufwärts bis zur Saône und Seine mittelmeerisch-griechische Tonwaren und Weine (Abb. 3.22). Dortige Ober66

Abb. 3.4 b Werkzeugdepot eines Eisenschmiedes, Golling (Salzburg), 4. Jh. v. u. Z.

schichten nahmen das Angebot auf und handelten ihrerseits mit dem Ostalpenraum.

Transeuropäische Kulturen, vielfältige lokale Eigenarten, veränderte Kontaktzonen

Abb. 3.5 Transalpine Routen: Handel mit etruskischem Bronzegeschirr und Fundorte (rot) von Entenkopf-Fibeln – Wasservögel als Sonnensymbol – mit korallenverziertem Bügel

In dem spirituellen Raum der – auf dem Rechnen mit der Basiszahl „12“ beruhenden – „heilige Zwölf“-Spiritualität (Clane, Apostel, Tierkreiszeichen, Monate und vieles andere) bildeten, zweitens, Menschen der zwölf etruskischen Kulturen – vielleicht einheimische Italiker, vielleicht Zuwander*innen aus Kleinasien oder auch beider – im nördlichen Mittelitalien eine urbane, eng mit den Peloponnes-attischen Stadtökonomien verbundene Kultur. Von dort wanderten Kunst- und Handwerker*innen zu, die sich von den übersee-handelnden Seefahrern unabhängig machen wollten. Die etruskisch beeinflusste Golasecca-Kultur (spätere Lombardei) und die eisenverarbeitende Este-Kultur im Veneto (späteres Venedig und Slowenien) wurden Mittler im Austausch mit der Kalenderberg- und Hallstatt-Kultur am nördlichen Alpenrand. 11 In den Steppen als drittem Raum neben dem keltischen und etruskischen hatten Verbände ihre Pferde zu Reittieren gezüchtet und bedrängten, vermutlich angesichts von Trockenheit und Futter11

mangel, westasiatisch- und griechisch-dialektsprachliche Kulturverbände. Ihre Reitutensilien und Bewaffnung adaptierten in der östlichen Hallstatt-Region diejenigen, die es sich leisten konnten. Im westlichen Saône-Oberrhein-DonauquellenRaum erhob sich um 600 v. u. Z. eine machtvolle Oberschicht und ließ ausgedehnte, zum Teil mediterran inspirierte Befestigungen errichten. Sie kontrollierte von Mont Lassois am Oberlauf der Seine und von Heuneburg am Oberlauf der Donau die Umgebung. Während die bronzezeitlichen Eliten Überschüsse offenbar Göttern geopfert und, um soziale Spannungen zu verringern, breiter verteilt hatten, häuften die eisenzeitlichen von der Champagne über Böhmen bis in die Karpaten Luxusgüter an, wie auch in den etruskischen und griechischen, auf der Arbeit von Sklavinnen und Sklaven beruhenden Gesellschaften üblich. Die Sozialverbände der Zentren an der oberen Donau und dem oberen Rhein profitierten als Mittler zwischen Voralpenraum und

Stöllner, „Vor- und frühgeschichtlicher Bergbau“, 68–80.

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.7 Salz und Fleisch: Mögliche Viehzuchtgebiete und Transportwege

Massalia. Erst ab Mitte des 5. Jahrhunderts erhielten ostalpine Pässe und Täler Bedeutung für den Handel nach Süden, doch war die Besiedlung des Salzachtals und anderer Flusstäler südlich des Tennengebirges und Pass Lueg spärlich. Abb. 3.6 Hallstatter Gräberfeld (Ausschnitt)

3.3 Salzbergwerker- und Handwerker-Familien: Lebens-, Arbeits-, Herrschaftsweisen Bronze und Eisen waren den Menschen wichtig, Salze überlebenswichtig: Chloridische Salze dienten der Umwandlung von Nahrung in Energie (Metabolismus), sulfatische therapeutischen Anwendungen. Die Menschen lernten Salzfleisch als Wintervorrat zu konservieren und so die Ernährungslage zu stabilisieren. Trotz dieser lebenssichernden Funktion sind Nahrungs- und Würzmittel, im Gegensatz zu Bronze und Eisen, nie für die Namensgebung von Perioden genutzt worden. 12 Die Menschen, die Salzvorkommen bei Hallstatt, Hall an der Saalach, am Dürrnberg, Hall in Tirol und anderswo lokalisierten, begegneten in diesen Vorkommen dem äquatorialen Tethys-Meer. Tektonische Kräfte hatten dessen Ablagerungen zu einem Salzstock zusammengeschoben, der sich waagerecht gelagert

von Innsbruck bis nach Ostgalizien erstreckt. Ohne Erdgeschichte kein Salinar und kein Salz in der Suppe. Die Hallstatter Lagerstätte bestand aus einem Gemisch von Steinsalz (62 Prozent), Ton und sogenannten Nebensalzen. Dies „Haselgebirge“ nutzten Menschen der Region über 200 Generationen (5000 Jahre) und handelten Salz nach Süden. In der Hauptabbauperiode, 1400 bis 550 v. u. Z., arbeiteten sie tief unter Tage und hatten zwischen ca. 750 und 550 das Exportmonopol in der Großregion. „Gesalzene Preise“ für das „weiße Gold“ ließen die Produzierenden oder ihre Oberschicht wohlhabend werden. In mehr als 2500 Gräbern hinterließen sie Beigaben. Archäolog*innen rekonstruieren ihr Leben durch von Salz konservierten Abfall in den

Ludwig Pauli, Der Dürrnberg bei Hallein III. Auswertung der Grabfunde, München 1978; Heinz Dopsch, Barbara Heuberger und Kurt W. Zeller (Hg.), Salz. Salzburger Landesausstellung 1994, Salzburg 1994; Thomas Stöllner, „Bergbau und Gewerbe am Dürrnberg“, in: Elisabeth Jerem u. a. (Hg.), Die Kelten in den Alpen und an der Donau, Budapest 1996, 225–243; ders., „Der Dürrnberg, sein Salzwesen und das Inn-Salzach-Gebiet als Wirtschaftsraum“, in: Claus Dobiat (Hg.), Dürrnberg und Manching. Wirtschaftsarchäologie im ostkeltischen Raum, Bonn 2002, 77–94; Kurt W. Zeller, Der Dürrnberg bei Hallein. Ein Zentrum keltischer Kultur am Nordrand der Alpen, Hallein 2001; Stefan Moser, Die Kelten am Dürrnberg. Eisenzeit am Nordrand der Alpen, Hallein 2010; Archäologie in Salzburg, Ausstellung im Salzburg Museum und Keltenmuseum, Salzburg 2013.

12

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Salzbergwerker- und Handwerker-Familien: Lebens-, Arbeits-, Herrschaftsweisen

Abb. 3.8 Eisenpickel mit Schaft, Schnüre, Holzschaufel (Bruchstück), Dürrnberg

Abb. 3.9 Förderkorb: Tragen und Entleeren, Hallstatt (Rekonstruktion)

Stollen: Pickel aus Hirschgeweih, Schuhleistenkeil aus Ton, Rucksack, Textilfragmente. 13 Die Bergwerker-Familien lösten in Steinsalzbänken von ein bis zwei Metern Stärke größere Brocken durch geschickte Vorritzung und schafften sie mit Tragsäcken aus Rinderhaut oder einem mit Schulterriemen getragenen Korb an die Oberfläche. Dort konnten sie, wiederum durch geschickte Konstruktion, den Sack kippen und entleeren, ohne ihn von der Schulter zu nehmen. Von BronzewerkerFamilien erhandelten sie Werkzeuge. Da sie weder am engen Seeufer noch in der großen Höhe der Stollen Schweine und Rinder züchten konnten, lieferten ihnen ländliche Familien im Gosau-, Traunund Ennstal nicht nur alltäglichen Nahrungsbedarf, sondern auch große Mengen teil-zerlegten Schweinefleischs und in geringeren Mengen Rinderfleisch: Die Hallstatter diversifizierten in Pökelfleisch. Züchter-Familien verkauften angesichts der hohen Reproduktivität von Schweinen die männlichen Jungtiere; gegen den Verkauf von Rinderfleisch sprach die niedrigere Reproduktivität von Kühen und die zunehmende Milchverwertung. Pferdefleisch, nur in geringen Mengen angeliefert, kam von kleineren Tieren aus westlicher Zucht und von größeren aus pannonischer, mit skytischer Schwarzmeer-Kultur vernetzter Zucht. Lastenträger schleppten vermutlich bis zu fünfzig Kilogramm Rohfleisch aus dem Tal über einen Aufstieg von zehn Kilometern bei 780 Höhenmetern. Dort legten die Hallstatter das Fleisch in überdachten Block-

Abb. 3.10 Schuhe und Textilreste, Dürrnberg, späteisenzeitlich

wand-Pökeltrögen von bis zu fünf Metern Seitenlänge ein und produzierten Sur, Speck und Schinken, die sie in kühlen Stollen aufbewahrten, wo Kupfersulfide sie zusätzlich konservierten. Sie erreichten Qualitäten, die Standards der Gegenwart entsprechen. Fleischsaft, Schlachtreste, Knochen und Lauge verkochten sie offenbar zu „Bouillontafeln“. Auf den Verkaufswegen lernten ihre Händler*innen Konsument*innen in fernen Ansiedlungen kennen und konnten von ihnen berichten. Waren sie es, die auf dem Rückweg aus Wäldern passende Stiele für Pickel und anderes Holzgerät heranschafften? 14 Die industriemäßige Produktion endete im 6./5. Jahrhundert v. u. Z. katastrophal durch, wie es scheint, Murenabgänge und Wassereinbrüche. Menschen mussten abwandern. Angesichts einer Klimaverschlechterung seit etwa 400 v. u. Z. sank die Bevölkerung in der gesamten Alpen- und Voralpenregion. 15 Zur gleichen Zeit wuchs die Konkurrenz durch neue Salzfundstätten von Mitteldeutschland bis Osteuropa und, in der Nahregion, durch die Dürrnberger Salzwerker-Familien. Die Dürrnberg-Lagerstätte in etwa 1000 m Höhe war seit der Jungsteinzeit durch salzhaltigen Wasseraustritt bekannt. Sie erforderte Investitionen und intensive Arbeit. Zuwander*innen aus der Umgebung und, ihre Bergbaukenntnisse herantragend, aus Hallstatt begannen im 5. Jahrhundert, mehrere Gruben gleichzeitig durch Deckschichten von 30–50 m Stärke kooperativ oder unternehmerisch geleitet zu graben.

Die Hallstattkultur: Frühform europäischer Einheit, Ausstellung Steyr 1980 (Linz 1980); Kerstin Kowarik und Hans Reschreiter, „Provisioning a Salt Mine. On the Infrastructure of the Bronze Age Salt Mines of Hallstatt“, in: Archäologie in den Alpen – Alltag und Kult, hg. von Franz Mandl und Harald Stadler (Haus I.E. 2010), 105–116; Ruth Drescher-Schneider u. a., Sölkpass. Ein 6000 Jahre alter Saumpfad über die Alpen, Gröbming 2003. 14 Funde aus Bergwerken lassen sich in Bezug auf Technologie, Arbeitsvorgänge und Berufsgruppenkultur weltweit komparatistisch untersuchen, vgl. zum Beispiel Gabriela Ruß-Popa, „Leather, Fur and Skin Technology in the Iron Age Salt Mines at Dürrnberg and Chehrābād/Iran (a PhD-project)“, in: Archaeological Textiles Review 57 (2015), 114–118. 15 Erich Pucher u. a., Bronzezeitliche Fleischverarbeitung im Salzbergtal bei Hallstatt, Wien 2013. 13

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.11 Männer an Haspelrad, Ritzung auf einer Schwertscheide, Hallstatt (Nachzeichnung)

Abb. 3.13 Frauen beim Spinnen und Weben um 630 v. u. Z. (Nachzeichnung einer Darstellung auf einem bronzenen Klapperblech), Bologna, „Tomba degli Ori“

den Abbaurückgang während der Sie verwendeten Schrägstollen Abb. 3.12 Frauen beim Spinnen und Klimaverschlechterung folgte eine und Baumstämme mit eingekerbIntensivierung im ausgehenden Aufspannen eines Webstuhls ten Trittstufen als Stiegen. Über (Nachzeichnung als Abrollung eines 3. Jahrhundert. 400 Jahre schlugen sie Stollen von Kegelhalsgefäßes), Fabricius-Museum, Für ihre kräftezehrende Arbeit Sopron/ Ödenburg etwa 5500 m Gesamtlänge in bis ernährten sich die Menschen zu 200 m Tiefe. 16 Sie arbeiteten überwiegend von Spelzgerste, Rismit Geräten aus Eisen und bedienpenhirse und Hülsenfrüchten als Eintopf, gewürzt ten als Bergbauprofis auf hohem technischen Nimit einheimischem Leindotter (ähnlich Senf). 18 veau über Salzach sowie Inn und Donau einen Wohlhabende verwendeten Anis und Kümmel: Schmackhafte Mahlzeiten waren ebenso mit dem Wachstumsmarkt vom Oberrhein bis Böhmen. 17 Süden vernetzt wie die Formensprache der MetallIm 1. Jahrhundert v. u. Z. erhielten die Dürrnberger Familien Konkurrenz: Im benachbarten Saaprodukte. Als Beigabe diente gepökeltes Schweinelachtal produzierten Quell-Salzsieder-Familien kosfleisch. Vitamine lieferte Obst – Samen für tengünstiger, obwohl der Prozess technische AnlaApfelbäume hatten einst zentralasiatische Migen und Brennholz in großen Mengen erforderte. grant*innen aus dem Tien Shan-Gebirge herangetragen. Eingespielte Liefersysteme versorgten die Dies bot Holzfäller-Familien und ländlichen FamiSalzwerker-Familien mit Getreide und, zum Beilien Arbeit im Winter. Kurzfristig zeigte sich ihr Erfolg in der neuen, offenbar mächtigen Siedlung spiel, mit Schuhen und Holzgegenständen. 19 Karlstein; langfristig waren abgeholzte Berghänge Die Erinnerung an die Bergwerker-Kulturen ist einseitig. Bronze und Gold wecken Interesse; große, und Umweltschäden die Folge. Konkurrenzen, eine publikumswirksame Ausstellungen zum „Gold der veränderte Nachfrage und neue Handelsrouten Kelten“ werden Sponsoring Event, nicht jedoch zwangen Erz- und Salzwerker zur Anpassung. Sie zum „Spelzgersten-Eintopf der Kelten“. Die Menbedeuteten mehr oder weniger Arbeitsplätze aus Sicht der Arbeitenden, Arbeitskräftebedarf oder schen hätten ohne Gold, aber nicht ohne Salz, Pö-überschuss aus Sicht der Oberen. Wanderungen kelfleisch und Werkzeuge leben können. Sie schufen sich in der mittleren Bronzezeit in Zentraleurozwischen Gebirgsregionen und Vorgebirgszonen, pa, der unteren Donauregion und Norditalien „inner“ und „ausser Gebirg“, waren vielfältig. Auf Mittelalterliche Bergwerker, die diese antiken Stollen wiederfanden, bezeichneten sie nach christlichem Diskurs als „Heidengebirge“ oder, gender-einseitig, als „Grube Alter Mann“. 17 Viele der Gräber am Dürrnberg wurden beschädigt: Im 19. Jahrhundert gruben bemühte Laien wie Vincenz M. Süss und Oliver Klose wenig planmäßig. Vergeblich blieb die Schatzsuche von Gasteiner Bergleuten in den 1890er Jahren, sehr erfolgreich war die eines Tagelöhner-Ehepaares, das in den 1930er Jahren den Münchener Kunsthandel belieferte. Erste wichtige Studien lieferten der Salzburger Landesarchäologe Martin Hell, oft gemeinsam mit Karolina Hell, sowie Fritz Moosleitner und J. W. Neugebauer. Erst 1966 begann mit Kurt Zeller, Keltenmuseum Hallein, wissenschaftlich exakte und international vernetzte Arbeit. Moser, Dürrnberg, 10. 18 2017 bot das Zentrum „Keltenwelt am Glauberg“ in Hessen eine Ausstellung „Mahlzeit. Ernährung bei den Kelten“. 19 Angela Kreuz, „Von Ackerbau und Viehzucht: Landwirtschaft und Ernährung“, in: Welt der Kelten, 78–83; und Manfred Rösch und Elske Fischer, „Mensch und Umwelt: Natur- und Kulturlandschaft“, ebd., 83–87; für das 7.–4. Jahrhundert ebd., 106–110. Siehe auch Helmut Birkhan, Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur, Wien 1997, 1053–1117. 16

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Salzbergwerker- und Handwerker-Familien: Lebens-, Arbeits-, Herrschaftsweisen

Abb. 3.15 Armreifen aus farbigem Glas, um 200 v. u. Z., Region Horn

Abb. 3.14 Schnabelkanne, Dürrnberg, Grab der Oberschicht, 400–380 v. u. Z. (siehe auch Abb. 5.9: Detail Henkel)

„Brot-Idole“ – so die archäologische Interpretation. Erinnerung ist perioden- und kulturspezifisch: Von oberitalischen Kunstwerkern angeregte Friese auf Metallgegenständen und Fresken zeigen Handarbeit, so einen Teig knetenden, von einem Flötisten unterhaltenen Bäcker (Etrurien), Frauen beim Weben (Bologna und Sopron), zwei Männer am Haspelrad einer Winde (Alpenraum). Spätere christliche Kunstschaffende würden Arbeiter*innen nicht mehr zeigen. Handwerkende verbesserten Werkzeuge und Werkstücke ständig, schliffen Metallscheiden mit

Steinen, härteten Bronzepickel durch Kaltschmieden, verwendeten besonders belastbares Knieholz für Pickelschäfte, versahen Hammerköpfe mit vierkantigem Stielloch, versetzten tönerne Gussformen für größere Hitzebeständigkeit mit Quarzsand. Einfache metallene Töpfe und Karaffen für den Alltagsgebrauch importierten sie. Feinschmiede und Gießer brachten eine komplexe Formenvielfalt hervor: „Kunst kommt von Können“, heißt es volkstümlich. Brachten Kund*innen ihre Bedürfnisse in die Gestaltung ein? Wir wüssten gern, warum bestimmte Formen den Nutzer*innen schön erschienen. Fibeln (lat. fibula) als „Sicherheitsnadeln“ zum Schließen von Kleidungsstücken zeugen ebenfalls von den ästhetischen Vorlieben ihrer Träger*innen. Ritzungen, erhabene oder vertiefte Stellen und das Einsetzen von Schmucksteinen erforderten Werkzeuge und vielfältiges Können. Waren die Hersteller, wie oft angenommen, nur Männer? Schmuck war beliebt bei Hochgestellten, die ihn bezahlen konnten, die Ausführungen abhängig von der Verfügbarkeit von Rohmaterial aus der Ferne und hochqualifizierter lokaler Arbeit. Hausgemeinschaften lebten in ebenerdigen oder eingetieften Hütten aus behauenen Stämmen mit Firstdach, wobei die maximal mögliche Länge des Firstbalkens der Hausgröße Grenzen setzte. Sie fügten anfangs Wände aus durchgehenden, behauenen Stämmen zusammen; später setzten sie senkrechte Ständer in kurzen Abständen und konnten so kürzeres Holz nutzen und Tür und Fenster leich71

Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.16 Modell der Interaktionen zwischen Dürrnberg, Umland, Ferne

ter einsetzen. Für die Dächer verwendeten sie Holzschindeln, für die Fußböden Holz oder Lehm. Zimmerleute entwickelten sich passende Werkzeuge und konnten Spezialhölzer wie zum Beispiel genutete Riegelbalken herstellen. Bessergestellte Landbesitzerfamilien im Flachland lebten im 6./5. Jahrhundert mit ihrem Gesinde in Häusern von bis zu 70 m2 Grundfläche und in Hofkomplexen. Für alle stellten holzverarbeitende Handwerker*innen KienLeuchtspäne und Spanschachteln her und Keramiker*innen arbeiteten mit der schnell laufenden, von Migrant*innen aus dem östlichen Mittelmeerraum vermittelten Töpferscheibe. Dies ermöglichte neue Formen, eine leichtere Herstellung von Rundungen und insgesamt feinere, homogenere Produkte. 72

Die Exportwirtschaft bedeutete Reichtum nur für wenige, mächtig gewordene Familien. In ihren Gräbern fanden Archäolog*innen Zaumzeug für Pferde und vereinzelt vierrädrige Wagen: Symbole für Status, denn einen praktischen Nutzen hatten sie in den bergigen und bewaldeten Regionen nicht. Männer ließen die Griffe ihrer Schwerter – die erste explizit als Waffe hergestellte Gerätschaft – von lokalen Schmiede-Kunstwerkenden mit Ornamenten versehen; Frauen besaßen Bernsteinschmuck und Arm- und Fußreifen. Was mögen die arbeitenden Familien gedacht haben, wenn sie ihr alltägliches bescheidenes Leben mit dem Wohlstand oder gar Überfluss der Herrschenden verglichen?

Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen

3.4 Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen 20 Wie der Nahrungs- hat auch der Bekleidungssektor kaum akademisches Interesse gefunden, bis Frauen die schriftliche historische Erinnerung mitgestalten konnten. Alltagspraxen und Mythologien deuten darauf hin, dass Spinnen und Weben überwiegend weibliche Tätigkeiten waren; Schäfer und ältere Männer waren ebenfalls beteiligt. Ihre Produkte aus organischem Material waren nicht verwitterungsbeständig, doch im (Vor-) Alpenraum konservierten Salze und Feuchtböden Textilien. Seit Menschen vor Jahrhundertausenden ihre Behaarung verloren und wärmere Klimazonen verließen, war Kleidung unabdingbar und bereits in Ostafrika stellten sie Nähnadeln her. Die textile Produktion erlangte hohe spirituelle Bedeutung, die sich in sprachlichen Bildern in einem Ausmaß spiegelt, das nur wenige andere Tätigkeiten erreicht haben. Beim Spinnen, dem ersten Schritt, haben Frauen „den Dreh raus“ – diese Sprachfigur wird im Deutschen auch für Tätigkeiten von Männern verwandt. Wenn die Nerven dünner werden, „reißt der Geduldsfaden“. Die Fähigkeit, kurze Fasern in einen kontinuierlichen, endlosen Faden zu verwandeln, ist symbolträchtig für viele Lebensbereiche. „Fäden ziehen“ bedeutet Einfluss nehmen, Männer wirkten als „Drahtzieher“ erst seit dem 14. Jahrhundert. Die drei Schicksalsgöttinnen – griechisch Moiren, römisch Parzen – spannen den Lebensfaden. Sie konnten den Faden abschneiden und Lebenszeit beenden. Ebenso wichtig war das Weben. In griechischen Vorstellungen webte die Göttin Athene besser als die seit Kindheit geübte Schäferstocher Arachne; Penelope webte, um sich vor Männern zu schützen; Ariadne wusste um die lebenssichernde Kraft der Fäden und rettete damit ihren Partner Theseus; Andromache webte, als sie die Nachricht erhielt, ihr Mann Hektor sei im Krieg umgekommen. Gesellschaften beruhten auf produktiver Arbeit: Die Athenerin Lysistrata, genervt und für viele Frauen sprechend, geißelte um 440 v. u. Z. die Dummheit der ewig kriegführenden Männer. Der Komödiendichter Aristophanes ließ die Frauen sich unter dem Motto „ohne Frieden

kein Sex“ verbünden, die Akropolis besetzen und den Magistratsbeamten Wolle geben, damit diese etwas Nützliches täten, während sie selbst die Politik sinnvoll umgestalteten. Webkundige Frauen galten im Mittelmeerraum als wertvolle Kriegsbeute; keltische Handwerker*innen stellten Spinnerinnen und Weberinnen auf Friesen dar; in römischer Zeit erhielten Frauen zur Hochzeit eine Spindel und dieser Brauch hielt sich im Alpenraum bis ins 19. Jahrhundert. Haben die Spinnwirtel, Stangen mit einem radförmigen Schwunggewicht, als Anregung für Fahrzeuge gedient? Ein weiteres Rad am anderen Ende ergibt Achse und Räder. Für den Weg in die Anderwelt erhielten Frauen Spinnwirtel und Nähnadeln ebenso wie Messer und Wetzsteine ins Grab. 21 In einem reich ausgestatteten Grab (Uttendorf, Pinzgau, 8. Jh. v. u. Z.) fand sich neben exquisitem Schmuck ein Handwerksset aus sieben steinernen Webgewichten, einem Spinnwirtel und einem Eisenmesser. Deuten derartige Ausstattungen auf „Könnerinnen“? Das Textilhandwerk und Frauenarbeit besaßen Status in antiken Weltbildern. Der Produktionsprozess begann mit Weideflächen (zum Beispiel für Schafe) oder Anbauflächen (zum Beispiel für Lein), erforderte Werkzeug für Schur (Schere) und Ernte (Sicheln) und bedurfte eines Arbeitsraums für die Aufbereitung wie das Zupfen und Kardieren von Wolle und das Hecheln von Flachs. Pflanzliche Fasern gewannen die Menschen aus Lein (Flachs), Hanf, Brennnessel und Baumbast, tierische, die kürzer sind und anders verarbeitet werden müssen, von Schaf, Ziege, Pferd, Wildtieren. Die Naturform des Leins kam, wie das domestizierte, das heißt hauswirtschaftlich nutzbare Schaf, von Menschen des östlichen Mittelmeergebiets. Sie hatten Lein bereits um 9000 v. u. Z. geschnitten und sich im 7. Jahrtausend Sicheln hergestellt. Weberinnen verwendeten die stabilen Schweifhaare von Pferden für Bänder, Baumbast und lange Gräser für Regenüberhänge. In Mitteleuropa sind Tierfasergewebe aus der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends belegt; Hallstatter und Mitter-

Karina Grömer, Prähistorische Textilkunst in Mitteleuropa. Geschichte des Handwerks und der Kleidung vor den Römern, Wien 2010. Darstellungen von Webarbeit datieren bereits aus dem pharaonischen Ägypten. 21 Webutensilien fanden sich in seltenen Fällen in Männergräbern, Scheren seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. u. Z. Grömer, Textilkunst, 250–251. 20

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.17 Web- und Verzierungstechniken in Mitteleuropa, Bronze- bis Eisenzeit

berger Familien verwendeten Wollgewebe ab Mitte des 2. Jahrtausends v. u. Z. Bei der Flachsverarbeitung rauften Frauen zuerst die Pflanzen samt Wurzel aus dem Boden. Es folgte das Trocknen, damit die Epidermis um die Fasern rissig wurde, und Riffeln mit Kämmen (Brettchen mit Schwarzdornspitzen, später Eisenzinken), um die Samenkapseln für die Ölgewinnung abzustreifen. Biochemisches Aufschließen auf feuchtem Feld oder unter Wasser – Tauröste und Rotte – löste durch Mikroorganismen und Pilze die Fasern. Sensenschnitt statt Raufe und falsch kalkulierte Röstdauer hätten die Fasern geschädigt. Nach einer weiteren Trocknung folgten Flachsbreche und Hecheln als gemeinschaftliche Arbeiten oder, hierarchisch, unter Aufsicht. Weiteres Hecheln ließ die Fasern spinnfähig werden. Bei der Herstellung von Wolle mussten die Frauen Vliese reinigen und die oberen wasserabweisenden Grannenhaare von den unteren feinen und wärmeisolierenden Wollhaaren trennen. 74

Aus den Roh-Stoffen spannen die Frauen seit der Jungsteinzeit Garne mit Spinnrocken (Holz, später Eisen), Spindelstab und Wirtel aus Holz, Stein oder Keramik. In der Bronzezeit stellten sie Fäden nur mit wirren oder flauschigen Fasern versetzt her, um 500 mit parallelen Fasern und um 100 v. u. Z. züchteten sie feinwolligere Schafe. Hallstattzeitliche Fadenstärken waren bereits 0,3–0,5 mm fein und die Frauen erzielten durch Rechts- oder Linksdrehung beim Spinnen unterschiedliche optische Wirkungen. Haltbaren Zwirn stellten sie durch gegenläufige Verdrehung zweier Fäden her. Ihre Tätigkeiten waren eng verbunden mit der Schnurbandkeramik, dem Korbflechten und der Schnürenbindung von Hölzern. Textilwerkende entwickelten wie Töpfer*innen ästhetische Vorstellungen und Ansprüche. In der „Bronzezeit“ genannten Phase ihres textilen Wirkens entwickelten sie Färbetechniken und bauten dafür Färbepflanzen an, stellten pflanzliche und tierische Beiz- und Farbstoffe her oder erwarben spe-

Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen

Abb. 3.18 Textilbindungen, Hallstadt, ältere Eisenzeit 1 und 2: Leinwandbindung 1 : 1; 3 und 4: Abwandlung „Rips“ für Ränder und Bänder; 5 und 6: Panama 2 : 1 und 2 : 2.

zielle Farbstoffe durch den Fernhandel. Die Färber*innen mussten passende Gefäße herstellen und für die Wärmebehandlung Brennholz heranschaffen. Rinden, Kräuter und Gallen 22, wie zum Gerben von Leder verwendet, ergaben in Direktfärberei beständige Brauntöne von rötlich bis gelblich. Farben von Krapp, Birkenblättern und Brennnesseln ließen sich auf Stoffe übertragen, solche von Blüten nicht. Mit Übernahme des Färber-Waids, einer im Industal bereits um 2000 v. u. Z. verwendeten, gelb-blühenden Pflanze, lernten sie blau zu färben: Das in den Blättern enthaltene Waidblau (Indigotin) ließ sich in mit Urin versetztem Wasser lösen (Küpenfärberei). Die Färber*innen lernten die Gelbfärbung durch Wasserlösung von grünen, mit gelben Blüten vermischten Pflanzenteilen, hatten jedoch Mühe mit der Rotfärbung, die nur mit sehr teuren Materialien wie weiblichen Blutschildläusen oder Wurzeln von Rötegewächsen möglich war. Sie lernten

Farbtöne zu variieren; der Zusatz von Heidel- oder Brombeeren ergab zum Beispiel Violett. Um Färbungen zu konservieren, experimentierten sie mit der Wirksamkeit von metall- und gerbstoffhaltigen Beizen. Am Dürrnberg lebende Frauen kannten fünf der zwölf Färbe-Rohstoffe, 23 die Frauen im Mittelmeerraum für blaue, violette und purpurrote Garne, feines Leinen und Materialien aus Ziegenhaar verwendeten. Laut Bibel, die eine Vielzahl handwerksgeschichtlich interessanter Passagen enthält, verzierten sie feine Leder mit Granatapfelmustern, Symbol der Fruchtbarkeit und der syrisch-semitischen Göttin Atargatis (Exodus 35,22–23 und 36,39). Um zu weben, entwickelten jungsteinzeitliche Menschen zuerst im Gebiet zwischen Anatolien und Nordirak den Webkamm, hölzerne Schiffchen und Webstühle handbetriebener Mechanik: Die erste „Maschine“ der Menschheitsgeschichte. 24 Im

Oft gerbstoffreiche, durch tierische oder pflanzliche Parasiten verformte Pflanzenteile. Hinzu kam der von ägyptischen Färber*innen entdeckte, aluminiumhaltige Alaunschiefer und im Voralpenland Bärlappgewächse. Regina Hofmann-de Keijzer, „Färben“, in: Grömer, Textilkunst, 143–162. 24 Band- und Brettchen-Webgerät aus Holzrahmen, Litzenstäben und Halterungen aus Holz mit Webgewichten, geformt aus Stein oder Ton. Obwohl 22 23

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.19 Komplexe Bänder, Brettchen-Gewebe, Hallstatt, ältere Eisenzeit (Rekonstruktionen der Muster)

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Stoffe – Bekleidung – Werkkultur: Funds of knowledge von Frauen

Alpenraum bauten sie seit dem Spätneolithikum Webstühle mit 60–90 cm, selten mit bis zu 370 cm Breite. In der Bronzezeit fertigten sie überwiegend grobe (5 Fäden/cm2) und mittelfeine Gewebe, in der Hallstattzeit feine und sehr feine Gewebe (über 15 Fäden/cm2). 25 Um Stoffe zu säumen und Gürtel, Tragriemen und Wickelbänder herzustellen, schufen sie manchmal gemusterte Bandgewebe. Ab Mitte des 1. Jahrtausends stellten Textilwerker*innen Leinengewebe her sowie Mischgewebe aus Festigkeit gebenden, dünnen Leinenfäden und Querfäden aus wärmender dicker Wolle. Anfangs deckten Familien und Gemeinschaften ihren Eigenbedarf, später produzierten sie für (mikro-) regionale Märkte. In einer dritten Phase begannen sie zu exportieren und standardisieren: in der Dürrnberg-Siedlung einfache Leinwandstoffe, in Nové Zamky (Slowakei) bestickte Leinentuche für ein anderes Marktsegment. In Vollzeitarbeit schufen Spezialist*innen Luxuskleidung für zahlungskräftige Klient*innen. Die Beschickung entfernter Märkte erforderte Wanderung von Händler*innen oder Familienmitgliedern im Herbst, Winter und Frühjahr. Der Vorgang umfasste zunächst die Konzeption des Tuches und die Fähigkeit, Fäden parallel aufzuziehen (Ketten zu schären) und Muster einzurichten. Hinsichtlich der Haltbarkeit und Weiterverarbeitung unterschieden die Produzierenden bei der Fadenführung Leinwand-, Panama- und Köperbindung (heutige Bezeichnungen). Sie erweiterten ihr Know-how, schufen variantenreich gemusterte Stoffe, wirkten Goldfäden ein und verwendeten kunstvoll geflochtene Fransen. Nach dem Weben begannen sie das „Ausrüsten“, zum Beispiel das Walken, um Stoffe zu verfilzen, also dichter, wasserabweisend und strapazierfähig zu machen. Für besondere Effekte rauhten oder glätteten sie Stoffe. Für den Zuschnitt und zum Nähen stellten die Textilwerker*innen Bein- und Eisennadeln mit Öhr, Schneidwerkzeuge aus Stein, Bronze, Eisen und, seit der Latènezeit, Scheren her. Schneiderinnen vernähten die Teile mit Zwirn, nutzen unterschiedliche Zierstiche und brachten Applikationen an. Familien, die es sich leisten konnten, trugen bronze-

Abb. 3.20 Webgerät für Leinwandbindung. Köperbindungen erforderten mehrere Litzenstäbe (Rekonstruktion)

verzierte lederne Gürtelgarnituren und Fibeln und ergänzten ihren Schmuck durch Bronzeringe an Armen und Beinen. Für schwer Arbeitende nähten Lederverarbeiter*innen Tragetaschen, Fellmützen und Kleidung, mit Fruchtkernen oder einfachen Blechen verziert. Zu allem hinzu kam das Flicken, Reparieren und die Wiederaufbereitung alter Kleidung (modern: Recycling). Die Gesellschaften passten ihre Kleidung den Berufen (zum Beispiel Bergmann oder Schmied), dem sozialen Stand, Geschlecht und lebenszyklischen Phasen an: „Berufstracht“ setzt eine spezifische Schnittführung sowie Naht- und Saumformen voraus. Die „unglaubliche Kreativität“ und die in dieser Zeit geschaffene Werkkultur bedurften über die folgenden anderthalb Jahrtausende weniger Neuerungen. 26

nach dem Baukastenprinzip zusammengesetzt und leicht demontier- und transportierbar, waren Webstühle bei sesshafter Lebensweise ökonomisch sinnvoller als bei nomadischer. 25 Moderne Gewebe aus Baumwolle oder Leinen bestehen aus je 30 Quer- und Längsfäden pro cm2. 26 Grömer, Textilkunst, 233; Helga Rösel-Mautendorfer, „Nähen und Schneiderei“, ebd., 201–220; Moser, Dürrnberg, 37–40.

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

3.5 Körperlichkeiten und Spiritualitäten Nahrung, Kleidung und Schmuck formen Körper: Der „kulturell geformte Körper“ bildet das Einleitungskapitel einer modernen Kulturgeschichte 27 und Körpersprache drückt Status und Beruf aus. Manches, wie Fibeln, trugen Männer und Frauen, Grabbeigaben hingegen waren meist geschlechtsspezifisch. Männer erhielten oft Waffen, Frauen Schmuckstücke: starke Männer und sich schmückende Frauen? Muskeluntersuchungen zeigten, dass die Männer im Leben nie gekämpft hatten. Dolche, anfangs steinerne, zweischneidige Stichmesser mit Griff, nutzten Männer als Symbol; Waffen mit verzierten Griffen und, manchmal, verzierten Klingen wurden Schmuck und Signifikant von Macht. Materialwert und Verzierungsaufwand de-

Abb. 3.21 Jungsteinzeitliche Dolche aus Silex (Griff rekonstruiert) und Hammer aus der Region Horn

monstrierten Position. Dies sahen alle am Begräbnis teilnehmenden Lebenden. Beides, Schmuck und Waffen, waren Accessoires. Gelegentlich erhielten Frauen Waffen und Männer Ringe als Beigaben. Über die Zeiten haben sich schwerttragende Männer (und Historiker) schwergetan, Waffen unter Accessoires zu subsumieren.

Männern dienten auch Helme als Schmuck und zur Stilisierung. Schmiede der voralpinen Region fertigten im 13. Jahrhundert v. u. Z. einen Helm nach griechischem Vorbild (Fundort Pass Lueg) mit einem Spalt im Kamm zur Aufnahme weiteren Zierrats wie etwa Federn. Männliche Wehrhaftigkeit oder Aggressivität war vereint mit Zierbedürfnis. Die nach südöstlichen Vorbildern um die Mitte des 5. Jahrhunderts gefertigten Spitz- und Kammhelme ließen Männer größer erscheinen; spätere, einfachere und praktischere Kappenhelme waren in Produktionstechnik wie Verwendung massentauglich. Implizierte die auffällig unterschiedliche Formgebung der Accessoires eine sexuelle Symbolik? Speere und Schwerter der Männer vs. Ringe der Frauen: Phallus und Vagina, Instrument und schützende Umhüllung, Äußerlichkeit und Innenraum? Die Unterschiede sind erklärungsbedürftig und Körpergeschichte fragt, welchen Raum Sexualität oder, umfassender, Körpergefühl in schmückenden Darstellungen einnahm. Ein Perspektivwechsel von Organ zu Funktion ließe die Formgebung als Symbol lebensspendender Körperlichkeiten erscheinen: Generationenfolge und Kontinuität. Jedoch wurde aus der männlichen Fähigkeit, Kinder zeugen zu können, auch die Symbolik der Macht, mit vorgestreckten Lanzen (später: Feuerwaffen) töten zu können. Für Frauen waren „lebens-spendende“ auch „lebens-gefährliche“ Vorgänge, denn jede Schwangerschaft und Geburt bedeutete Lebensgefahr. In keltisch-römischen Zeiten galt die Göttin der Liebe auch als Göttin des Todes. Mit der Geschlechtsreife junger Menschen und damit der Gebärfähigkeit stieg die Sterblichkeit bei Frauen. Im Alter von 20 bis 39 Jahren starben 50 Prozent der Männer, bei Frauen begann die hohe Sterblichkeit im Alter von 15 Jahren und bis zum 39. Lebensjahr starben 76,5 Prozent. Nur wenige Frauen erreichten das 60., manche Männer das 70. Lebensjahr. 28 Für Neugeborene lag die Sterblichkeit in den erst fünf Lebensjahren bei etwa 50 Prozent. Künstler*innen stellten Geschlechterrollen und

Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters, München 2012. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 26; Birkhan, Kelten, 1059–1061; Ernst Lauermann (Hg.), Schatzreich Asparn. Ur- und Frühgeschichte und Mittelalterarchäologie in Niederösterreich, Asparn/Zaya 2014, 196, 232–245.

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Fernhandel und Nahmigration in vernetzten Ökumenen

Sozialverhalten dar, doch sind Dar-Stellungen nur schwer prozesshaft zu interpretieren. Frauen, Männer und Kinder arbeiteten, eine Halbierung des Arbeitskraftpotenzials durch Beschränkung von Frauenarbeit konnten sich die Menschen nicht leisten. Frauen waren Heilkundige oder Handwerkerinnen, konnten einen hohen Rang und sichtbare Rollen in der Religion einnehmen. Überwiegend in Männergräbern gefundene, mittelmeerisch-norditalisch beeinflusste bronzene Situlen ab dem 5. Jahrhundert v. u. Z. zeigten jedoch Frauen kaum und nur in dienender Funktion. Die Darstellungen betonen gemeinschaftliche Aktivitäten wie Festmahle, Jagd, Kampf. Manche sind sehr realistisch, neben nackten zweikämpfenden Männern je ein Stapel gefalteter Kleidung; andere, auch auf Schwert- und Dolchscheiden, zeigten griechisch-ägyptisch-persische Sphinxen, Flügel- und Mischwesen, menschenfres-

sende Löwen, Elefanten. Eine aus Elfenbein geschnitzte Sphinx mit aufgesetztem Gesicht aus Bernstein in einem Grab bei Asperg (nahe Stuttgart) hatten Händler aus der Hafenstadt Tarent in Süditalien importiert. Nordalpine Friese zeigen südalpine Kleidung wie breitkrempige Hüte oder Schnabelschuhe. Bei Darstellungen von Opferprozessen, zum Beispiel eines Rindes mit orakelartiger Leberschau, mag es sich um Kultisches und Kulinarisches gehandelt haben. Aber stellten Trinkszenen rituelle „Libation“ eines speziellen Gebräus zu Ehren einer Gottheit oder eines Verstorbenen dar oder war es Alkoholkonsum ohne weitere Bedeutung? Vereinzelt tauchten in „Situlenfesten“ Sexszenen auf: rituelle Vereinigung oder offenes Vergnügen? Die Kunsthandwerker*innen haben der Nachwelt kein Handbuch der Bedeutungen hinterlassen. 29

3.6 Fernhandel und Nahmigration in vernetzten Ökumenen Weitläufige Austausch- und Migrationsbeziehungen verbanden lokale mit fernen Identifikationsverbänden. Bergwerker nutzten Handelswege zu konkurrierenden oder ergänzenden Re-/Produktionsstätten, um Kupfer aus Mitterberger und Tiroler Verhüttung zu exportieren oder aus dem (slowakischen) Erzgebirge und den Karpaten zu importieren. Kupfer diente als Ware und als Zahlungsmittel oder, gehortet, als Absicherung für schlechte Zeiten. Träger und Lasttiertreiber, Packer und Hilfspersonal begingen Routen in beide Richtungen. Fernhändler waren nur selten Fernreisende; sie bewegten sich über kürzere Strecken zu einem Austauschort und kehrten mit dem Erhandelten zurück. Manche der mobilen Händler*innen ließen sich nieder, andere lebten dauerhaft itinerant. 30 Die Nutzung von Wegen in gebirgigen oder unbesiedelten Regionen erforderte genaue Kenntnisse. Säumer, die auf einer Rückentrage Fibeln von Etrurien zum Dürrnberg brachten, hatten einen langen und mühseligen Weg mit vielen Höhenmetern zu

überwinden. Entlang der Flüsse und überseeisch – über den See von Neuchâtel und entlang der mittelmeerischen Küsten – beschleunigten Fluss- und Segelschiffe, in den Steppen Pferde Reise und Transport. Bewegungsräume und -geschwindigkeiten beruhten auf vielen Faktoren, Landwege waren nur Teil des Ganzen. 31 Über die Jahrhunderte verbanden Händler*innen die Inn-Salzach-Enns-Region über den oberen Donauraum mit Rhône-Häfen; östlicher Lebende erreichten die Lausitzer Kultur und das Baltikum; andere vom Westrand der Pannonische Ebene Steppen und die Krim oder den Balkan und Peloponnes; manche überwanden die Klippen des „Eisernen Tores“, die mittlere von unterer Donau trennten; weitere handelten entlang von Drau und Save oder über Pässe ins Italische. Sie versorgten die Regionen mit Erzen und Salzen und lieferten Güter aus anderen Kulturen: Seekauffamilien der Ägäis und Etruriens unterhielten Beziehungen nach Nordafrika, Arabien und in die Levante; über Mit-

Stilspezifika lassen sich mit Mikroregionen verbinden. Welt der Kelten, 171–182. Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen der frühgeschichtlichen Archäologie, Berlin 2004, 583. 31 ArchAtlas (www.archatlas.com), begründet von Andrew Sherratt, University of Sheffield, UK; dort besonders Sherratt, „East-West Contacts in Eurasia“, 2005; Tony J. Wilkinson, „Ancient Near Eastern Route Systems: From the Ground Up“, November 2007; Toby Wilkinson, „Pathways and Highways: Routes in Bronze Age Eurasia“, Oktober 2009 (Februar 2013). Barry Cunliffe, Europe between the Oceans. Themes and Variations: 9000 BC–AD 1000, New Haven 2011, 38–61. 29

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 3.22 Transeuropäische Bewegungsrichtungen nach Sebastian Brather mit Doubs-Saône-Rhône-Route nach Massalia und vom Oberrhein in die Seine-Loire-Region

telsleute boten Händler der Indus-Region und Seefahrer in Oman Produkte an, andere solche von Handwerker*innen in Persien und Zentralasien. Die nordalpinen Händler*innen nutzten in der Hallstattzeit besonders die Verbindungen von und nach Westen, in der Latènezeit ab Mitte des 5. Jahrhunderts solche von und nach Süden. Auskunft über dies vernetzte Leben bietet als Quelle die reichhaltige Abfallhalde der mehrere hundert Menschen umfassenden Dürrnberger Oberschichtssiedlung. Was interessiert, sind nicht nur einzelne Importgegenstände, sondern auch, durch wie viele Hände sie gegangen sind und auf welchen Wegen und Umwegen sie herangetragen wurden. Entlang der Route nach Massalia verkauften und kauften Händler*innen Waren bereits in den oberen Rhein- und Saône-Tälern. In der hochentwickelten südwestdeutsch-elsässisch-nordschweizer Region erhandelten sie Schmuck: Reiche Dürrnberger besaßen um 300 v. u. Z. einzelne Stücke. Die Händler boten ihrerseits die blauen Glasperlen aus Schwaz und Armreifen aus gelb unterlegtem Glas zum Verkauf. Die Familien, die diese Produkte in Massalia an der Rhône-Mündung kauften, hielten ihrerseits Kontakte zu ihren Herkunftsorten in Kleinasien, Städten des Peloponnes und Attikas und den ligurischen Häfen. Aus dem Baltikum erhandelten Rohbernstein schliffen ostalpine Schmuckschaffende zu feinen

Perlen und fertigten Ketten. Das Austauschvolumen blieb jedoch gering, denn Nordeuropa hatte nur wenig Erhandelnswertes zu bieten. Anders die südostalpinen krainischen Menschen: Sie benötigten Salz und boten Gebrauchs- und Verbrauchsgut, zum Beispiel Glasschalen aus Santa Lucia/Sv. Lucija. Aus dem Isonzo-Gebiet in den Julischen Alpen kamen gerippte, honigfarbene Glasschalen ebenso wie ein gerippter, schwarzglänzend überzogener Pokal. Die Menschen dieser Kontaktzone waren für viele kulturelle Einflüsse offen und schufen einen eigenen Stil. Südrouten führten zu den Eisen verarbeitenden Este- und zu Golasecca-Kulturen (ca. 9.–4. Jh.) und nach Etrurien (seit 9.–8. Jh.). 32 Hallstatter Salzbergwerker waren zu dieser Zeit schon Jahrhunderte aktiv; Rom zu „gründen“ war noch niemand in den Sinn gekommen. In der sogenannten orientalisierenden Zeit des etruskischen Zwölfstädtebundes (720–580) unterhielten (See-) Kauffamilien intensive Kontakte zu hellenistischen Häfen. Besonders schöne Vasen (2. Hälfte 6. Jh.) stammten vermutlich aus der Werkstatt eines Töpfers aus Kleinasien, der sich um 550 allein oder mit Gehilfen in Caere niederließ. Attische, korinthische und ionische Künstler-Handwerker*innen siedelten sich in Vulci an. Sie spezialisierten sich auf Gebrauchskunst in Felsina mit Forcello als Handelsknotenpunkt. Zahlungskräftige Kundschaft der Hallstatt-Region erwarb feine Keramik, besonders schwarzfigurige Amphoren. Der Inhalt, Wein, mag sie mehr interessiert haben als die Kunstfertigkeit. 33 Der zirkumalpine Raum war Arena intensiver Transkulturalität und im Voralpenland nahmen Wohlhabende Neues schnell auf: Kleider- und Schuhmoden, Fibeln, Korallenschmuck, Dolche. Kunst-Handwerker*innen veränderten ihre von Keramiker*innen übernommenen geometrischen Muster zu südlichen, fantastischen. Parallel zum Produktaustausch wanderten mutmaßlich Handwerker*innen. Am Dürrnberg fanden Archäolog*innen ein Bronzegewicht aus der korinthischen Region, eine schwarzgefirnisste attische Trinkschale (1. Hälfte 5. Jh.) und eine norditalische pintadera, ein Stempel zur Verzierung von Kleidung, Keramik

Händler der Melauner Zone (Tirol) nutzten die Brenner-Route. Raymond Bloch, Die Kunst der Etrusker, übers. von Ursula Seyffarth, Zürich 1966, 10 passim; Hermann Ament u. a., Frühe Völker Europas, Darmstadt 2003, 74–95; Etrusques. Un hymne à la vie, Ausstellung, Musée Maillol, Paris, September 2013–Februar 2014.

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Fernhandel und Nahmigration in vernetzten Ökumenen

oder Brot. Dies Utensil hatten einst bronzezeitliche Menschen aus Anatolien und dem unteren Donauraum ins Norditalische transferiert. 34 Wie bezahlten die nord- und voralpinen Oberschichten ihren Luxus? Für die Dürrnberger Herren war Salz die Währung – diese finanzielle Basis für die repräsentative Ausstattung erwirtschafteten Bergleute in Gemeinschaftsarbeit. Die Führungsgruppen der oberen Rheinebene, die keine Bodenschätze kontrollierten, bereicherten sich von ihren Wallburgen aus durch Raubzüge ins umliegende Land und bezahlten Importe mit Sklav*innen. Etwa vierzig Liter Wein kosteten einen Sklaven/eine Sklavin, das heißt eine Lebensperspektive. Situlenfriese deuten auf hohen Weinkonsum. Die Zwangsmigrant*innen beeinflussten in den ihnen gesetzten Grenzen die aufnehmenden Kulturen. Sie kannten Grenzziehungen: Soziale Grenzen bestimmten schon vor Verkauf ihren Lebensalltag. Konnte ein soziales Gefüge, in dem sie Waren wurden, community oder Heimat sein? 35 Ost-West Routen über Land oder über die Donau mögen neu entstanden sein oder frühere Kontakte fortgesetzt haben; Zielorte waren Handelsplätze am Schwarzen Meer und in Anatolien. Die Ladung eines Schiffswracks aus dem 14. Jahrhundert v. u. Z. bei Ulu Burun im südlichen Anatolien 36 und Ausgrabungen in Tell Abu al-Kharaz in Jordanien bezeugen das vielfältige Angebot. Über die Routen wurden Kaurimuscheln (Cypraeidae) aus dem Indischen Ozean gehandelt, eine gelangte als Beigabe in ein Dürrnberger Grab. Beliebt waren neben Spondylus andere Muscheln, rote Korallen und balkanische Knotenbügel-Fibeln. 37 Von Kimmerern und Skythen der thrakischen Kulturregion, der pontischen Steppen und der Krim scheinen Pferdetrensen und Streitwagen sowie Dolche zu stammen und Schmucksteine wie Gagat und Sapropelit aus Dorset, Süddeutschland und Nordböhmen. 38

In der „Zeit der Herrensitze und Hügelgräber“ (750/700–500/400 v. u. Z.) und der ganz Mitteleuropa umfassenden „Zeit der Prunkgräber“ (400–350 v. u. Z.) lebten Mächtige ein nach heutigem Ermessen „überzogenes Renommierbewusstsein“. Riefen sie mobile Architekten aus mediterranen Kulturen, wie die Schutzmauer um Heuneburg, die der Hafenmauer von Gela (Sizilien) ähnelte, suggeriert? War ein lokaler Handwerker gewandert und hatte die erlernte Technik zurückgetragen? Oder war die Verwendung luftgetrockneter Lehmziegel das Werk von Bauleuten aus Massalia? Innerhalb der Wallanlagen lebten Handwerker*innen in gesonderten Vierteln, auf dem unbefestigten Dürrnberg in der Ramsauer Siedlung. Sie und andere einfache Menschen konnten Luxusgüter nicht selbst besitzen, doch sie sahen die Kleidung und den Schmuck der Oberschichten und dienende Frauen und Männer hatten Einblick in den Wohlstand und sprachen, wie vermutet werden kann, mit anderen darüber. Ob Prunk und Macht Respekt weckten, wissen wir nicht. Wir wissen, dass untertänig gemachte Menschen kritisch-widerständig denken konnten. 39 Die Zentren Mächtiger und die Nutzung von Naturressourcen erforderten Arbeitskräfte und boten Optionen: Migrant*innen kamen selbstbestimmt, durch Anwerbung und Abwanderung oder unter Zwang und sie wanderten meist kleinräumlich: Zuwanderung zu Erz- und Salzabbaustätten; Abwanderung bei Erschöpfung der Vorkommen oder Eintreten widriger Umstände. Jeder Abwanderung von einem Ort folgte die Ankunft an einem anderen – es sei denn, Menschen starben unter-wegs. Da Männer und Frauen ihre Ressourcen sinnvoll investieren müssen und wollen, migrierten sie beim Niedergang einer Bergwerksregion in eine andere ohne eine Zeit des Umlernens, die minderes Einkommen oder Einkommenslosigkeit bedeutet hätte. Menschen, die der besseren Nut-

Zeller, Dürrnberg, 25; Pittioni, Urzeit, 1:78; David W. Anthony mit Jennifer Y. Chi, The Lost World of Old Europe. The Danube Valley, 5000–3500 BC, New York 2010, 33. 35 Welt der Kelten, 177. 36 Unter anderem Zinn aus Zentralasien, afrikanische Edelhölzer, Harze aus dem Libanon, Siegel, Nilpferdzähne. Ünsal Yalcin et al., Das Schiff von Uluburun. Welthandel vor 3000 Jahren, Bochum 2005. 37 Cypraeae, Bärenzähne, Hirschhornscheiben und Bergkristalle oder farbige Steine und Bruchstücke keltischer Glasarmringe waren Teil von Amuletten im 8. Jahrhundert v. u. Z. (Funde in Süddeutschland). 38 Peter M. Fischer und Teresa Bürge (Hg.), „Sea Peoples“ Up-to-Date: New Research on Transformations in the Eastern Mediterranean in the 13th–11th Centuries BCE, Wien 2017; Urban, Wegweiser, 146. 39 Zeller, Dürrnberg, 45–48, Zitat 48. 34

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Verbundene Gesellschaften: Wirtschaft und Kultur bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z.

zung ihrer Arbeitskraft halber einzeln oder in Familien wanderten, wollten bekannte, oft im doppelten Sinn naheliegende Optionen wahrnehmen. Sesshafte Menschen veränderten in Zeiten wirtschaftlicher Expansion ihre Alltagspraktiken; Migrant*innen brachten ihre Sozialisation, Alltagskultur und Spiritualität ein. Sie mussten sich vielfach am unteren Rand der aufnehmenden Gemeinschaft ansiedeln, „unter-wanderten“ also das Althergebrachte. Ohne wirtschaftliche Entwicklung und migrantische Neuerung wären traditionell geschätzte und manchmal als altehrwürdig angesehene Lebensweisen von Stagnation oder gar Verfall bedroht gewesen. Migrantisches Handeln bedeutete Veränderung und Neuankommende beschleunigten oder initiierten Entwicklungen. Die Sesshaften mussten sich mit ihnen auseinander- oder zusammen-setzen. Ausgrenzung war eine Möglichkeit, kooperative Intelligenz eine andere. 40 Sesshaftigkeit und Bewegung waren (und sind) untrennbar miteinander verbunden. Sesshafte Menschen in ressourcenreichen Regionen zogen andere – meist aus Regionen mit geringeren (Arbeitsmarkt-) Optionen – an. Steigende Bevölkerungs- und, folglich, Konsument*innenzahlen ermöglichten es Handwerker-Familien, sich zu spezialisieren. Zuwanderung wurde „selbsttragend“ (self-sustaining), wenn Neuankömmlinge durch positive Informationen zu Nachwanderung motivierten. Wachsende Bevölkerung ermöglichte die Differenzierung in agrar-, bergbau- oder handelszentrierte Siedlungen und erweiterte für junge Männer und Frauen Optionen bei der Partnerwahl. Die Dynamik begünstigte auch die Abtrennung von Stallungen oder Werkstätten in Hütten oder Häusern und so die Verbesserung von Hygienebedingungen, individuellen Überlebenschancen und kollektivem Gesundheitszustand. Bewegten sich Arbeitsmigrant*innen nur einmal und ließen sich dann nieder? Bergbau – wie

zum Beispiel am Dürrnberg – war, so scheint es, saisonunabhängig und bedurfte der stabilen Präsenz von Arbeitskräften. Doch war, wie Umweltund Technikwissenschaftler*innen gezeigt haben, die Schachtarbeit Luft-abhängig. Nur der deutliche Unterschied zwischen Stollen- und Außentemperatur im Winter garantierte die richtige Belüftung. Daraus folgten eine intensivere Produktion in den kalten Monaten und zusätzlicher Arbeitskräftebedarf. Lokal unübliche Grabbeigaben lassen vermuten, dass „Fremdarbeiter“ aus süd- und ostalpinen Regionen zuwanderten oder angeworben wurden: Waren die Verstorbenen saisonale Pendelwanderer? Oder zufällig hingeschiedene Händler aus der Ferne? Die Beschränkung auf lokale Grabbeigaben muss, andererseits, nicht als abgeschieden oder randständig gedeutet werden, sondern kann eine geringe Aufnahmebereitschaft für „Fremdes“ signalisieren. 41 „Fernes“, wie Muscheln aus der Ägäis und dem Indischen Ozean, war Teil des Voralpin-Lokalen. Als die Menschen der Hallstatt- und Latènezeit ihre Stollen, Schmelzöfen, Kochstellen und Kunstgegenstände nutzten, begannen andere in Japan eine Zeitrechnung zu entwickeln, wieder andere in Indien die Lehre des Gautama Buddha zu verbreiten, in China Lebende das Gesellschaftsbild des Konfuzius zu akzeptieren. Auf der Apennin-Halbinsel begannen Migrant*innen eine kleine Siedlung namens Rom und in Zentralasien iranische Sogder Afrasiab (Samarkand) zu errichten. War dies weit weg? In einem reichen Hügelgrab bei Heuneburg fand sich chinesische Rohseide – wenn diese Interpretation von Archäologen richtig ist. Dieses Luxusprodukt wurde auf dem Marktplatz (agora) in Athen gehandelt. Seidenweber-Familien in China arbeiteten, so scheint es, für den Export weit nach Westen. Konnten keltische Frauen östliche Luxusstoffe ebenso nähen wie ihre selbstgewebten Tücher?

Zu Migration und demografischen Brüchen zuerst Luigi L. Cavalli-Sforza; als eine rezente Diskussion unter vielen anderen Stephen Shennan, „Demographic Continuities and Discontinuities in Neolithic Europe: Evidence, Methods and Implications“, Journal of Archaeological Method and Theory 20 (2013), 300–311. 41 Ludwig Pauli, „Die ethnische Zusammensetzung der Dürrnberger Bevölkerung“, in: Pauli, Dürrnberg bei Hallein III, 486–505; Zeller, Dürrnberg, 30. 40

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4 Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z. Im gesamten Europa lebten flexible Verbände von Menschen mit zeitweise gemeinschaftlichen Mentalitäten und Alltagsbräuchen in Kontakträumen mit fuzzy borders. 1 Anhänger traditionsschaffender bzw. -verändernder Eliten, die sich waffentragend und -nutzend ausbreiteten, bildeten Identifikationsgenossenschaften. Ethnonyme, selbstgegeben oder von außen zugeschrieben, blieben vielfach erhalten, wenn identifikatorische Inhalte wechselten. Manche Verbände schufen sich eine historische Erzählung mit Gründungsmythos und fixierten so Erinnerung. Ich fasse eingangs die Kritik an Volks- und Nationszentrismus zusammen und wende mich anschließend der Sozialstruktur und politischen Organisation der latènezeitlichen Bevölkerung im

Voralpenraum zu (Kap. 4.2), der Interaktion Ansässiger mit imperialen Zuwander*innen nach der Annexion „Noricums“ und „Pannoniens“ (Kap. 4.3) und norisch-urbanem Alltagsleben (Kap. 4.4). Auf das Leben und Handeln (Kap. 4.5) und die Wirren des 3. Jahrhunderts im Transmittelmeerischen Reich sowie auf migrierende Großverbände blicke ich anschließend (Kap. 4.6). Das Ausfransen der Reichsränder bedeutete für viele der dort Lebenden Desaster. Zur Romanisch sprechenden Bevölkerung der (vor-) alpinen Gebiete kamen im 5. Jahrhundert Zuwander*innen bayerischer und slawischer Dialekte (Kap. 4.7) sowie Bewaffnete fränkischer Dialekte, die die Ansässigen und sich Ansiedelnden unterwarfen (Kap. 4.8).

4.1 „Völker“: Konstrukte ohne empirische Daten Archäolog*innen bezeichnen Kultur schaffende Menschen ohne Schriftlichkeit nach wichtigen Fundorten ihrer Gebrauchsgegenstände. 2 Textquellen-bezogene Historiker übernahmen ihre Diktion von „antiken“ Autoren und dies schuf Probleme, die bis in die Gegenwart Umgangssprache beeinflussen. In der Zeit der Stadtstaaten des Peloponnes und Attikas werteten Autoren benachbarte oder zureisende Menschen, die das dialektreiche Griechisch nicht oder nur schlecht sprachen, als „Barbaren“ – Stammler – ab, es sei denn, sie waren mächtig wie „die Perser“. Allerdings bekriegten und versklavten sich „die Griechen“ gegenseitig und „die Perser“ waren vielkulturelle Untertanen einer Dynastie. Über Keltisch Sprechende berichteten zuerst ihre Gegner. Manche, wie Hekataios in Milet

(~560–~480 v. u. Z.) an der anatolischen Ägäis-Küste, waren sich ihrer Heterogenität bewusst, andere kannten nur Teile ihrer weiträumigen Kulturen, bewerteten sie aber pauschal als gewaltbereit. Dauerhaft einflussreich wurde die Weltgeschichte von Herodot, der – von seinen bikulturellen hellenischkarischen Eltern ebenfalls an der Ägäis-Küste sozialisiert (490/480–424) – zeitweise in Süditalien und Athen lebte. Er bezog sich weitgehend auf Erzählungen und Schriften anderer und seine Ost ←→ West-Perspektive schloss Süden und Norden aus. Obwohl manche seiner Leser ihn als Schreiber „zahlloser Fabeln“ abwerteten, so Cicero im 1. Jahrhundert u. Z., ernannten Antikengläubige im 19. Jahrhundert ihn zum „Vater der Geschichtsschreibung“. Wie Griechisch Sprechende blickten „rö-

Linda Colley, Britons: Forging the Nation, 1707–1837, New Haven 1992; Robin Cohen, „Fuzzy Frontiers of Identity: The British Case“, Social Identities 1 (1995), 35–62. 2 Fundstücke im Keltenmuseum Hallein, Museum Hallstatt und Laténium – parc et museé d’archéologie de Neuchâtel. Ludwig Pauli u. a., Die Kelten in Mitteleuropa: Kultur, Kunst, Wirtschaft, Salzburg 31980, 16–24; Georg Rohrecker, Die Kelten in Österreich. Auf den Spuren unseres versteckten Erbes, Wien 2003; Alexander Demandt, Die Kelten, München 72011, 114–118; Sabine Rieckhoff, „Spurensuche: Kelten oder was man darunter versteht …“, in: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.), Die Welt der Kelten. Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst, Stuttgart 2012, 26–36, vgl. auch 52–53, 424–522. Siehe weiterhin Bernhard Maier, Die Religion der Kelten. Götter – Mythen – Weltbild, München 2004, 11–32. 1

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

mische“ Autoren, oft weder in Rom noch auf der Apennin-Halbinsel geboren und sozialisiert, über die Grenzen des Reiches nach außen und setzten sich und ihren Standort als zivilisiertes Zentrum, alle Nachbarn als Unzivilisierte. Die Autoren der Römischen Kirche würden dieses Muster übernehmen und „den Christen“ „die Heiden“ gegenüberstellen. Im Kontext des 19. Jahrhunderts nahmen Historiker – aus heutiger Sicht Volkstumsverehrer – die Begrifflichkeit auf und konstruierten eine Dichotomie Griechen-und-Römer vs. „Völkerwanderungen“. Erstere nutzten sie als „Formationsplattform der eigenen nationalen, politischen und religiösen Identität“ und schlossen die seinerzeit von Griechen und Römern als Barbaren bezeichneten „Völker“, das heißt keltische und nordeuropäische Menschen, vom Status „antik“ aus. 3 Sozialisiert in den entstehenden „nationalen“ Staaten Europas, die empirisch betrachtet vielkulturelle Imperien waren, konstruierten die Erinnerer ihrem jeweiligen Volk eine Ahnenreihe, genealogia. Sie bezeichneten die Salz- und Kunst-werkenden Menschen in Hallstatt, am Dürrnberg und anderswo als „die Kelten“; der von ihnen behauptete Untergang „der Römer“ bedeutete ihnen Leere im Voralpenraum und Illyrien. Anschließend ließen sie „die Bayern“ und „die Alemannen“ die Region besiedeln, während „die Slawen“ als Fremde eindrangen. Ein Blick auf Alltagsgegenstände hätte Kontinuitäten gezeigt. Österreichische und deutsche Geschichtenschreiber stritten, ob keltische, germanische oder imperial-römische Herkunft den besten Gründungsmythos abgäbe. 4 Die Mehrheit präferierte die Germanen, die gemeinsam ein Segment der indoeuropäischen Sprachfamilie bildeten, sich aber nie als einheitliches Volk verstanden haben. Da „die Germanen“ die imperial-kultivierten „Rö-

mer“ besiegten, kürten diese Ideologen das „freie Germanentum“ zum Ursprung des HohenzollernReiches (1871–1918) und der Habsburger-Monarchie (Ende 13. Jahrhundert bis 1918) und annektierten die indoeuropäischen als indogermanische Sprachen. 5 In mittelalterlicher lateinischer Sprache bezeichnete natio Gruppen, innerhalb derer kulturelle Unterschiede geringer schienen als Trennmerkmale zu anderen. Scholaren und Kleriker gruppierten sich nach Herkunftsregionen: An der Universität in Paris (gegr. ~1200) umfasste eine natio Studierende aus Paris und der Isle de France, eine zweite die des übrigen Frankreichs, eine dritte alle englischen, deutschen, skandinavischen und böhmischen, eine vierte diejenigen aus mediterranen Kulturen. An der für das Reich der Habsburger und die Kirchenprovinz Salzburg wichtigen KarlsUniversität in Prag (gegr. 1348) erfolgte die Einteilung in eine tschechisch-deutsch-sprachige böhmische und je eine bayerische, sächsische und polnische natio. Erst seit dem späten 16. Jahrhundert sahen Merkantilisten alle Menschen eines Herrschaftsund Wirtschaftsbereiches unabhängig von ihrer Alltagskultur als leistungsfähig. Aufklärer als frühe analytische Kulturwissenschaftler kontrastierten seit dem 18. Jahrhundert die Lebensweisen des Adels einerseits mit denen der Untertanen, besonders bäuerlicher Schichten, andererseits. Sie selbst standen zwischen beiden als – hier differenziert die deutsche Sprache – Bildungs- und Wirtschafts-/Besitzbürger. In historischen Atlanten ist „Volk“ bis in die Gegenwart Interpretationsraster: flächendeckende Sesshaftigkeit vs. bedrohlich vorstoßende, durch Pfeile dargestellte Fremde. 6 Das Römische Reich

Roland Steinacher, „Zur Identitätsbildung frühmittelalterlicher Gemeinschaften. Überblick über den historischen Forschungsstand“, in: Hubert Fehr und Irmtraut Heitmeier (Hg.), Die Anfänge Bayerns: Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, St. Ottilien 2014, 73–123, Zitat 77; Erich S. Gruen, Rethinking the Other in Antiquity, Princeton 2011. 4 Historiker in Frankreich propagierten „die Gallier“ als „unsere Vorfahren“ (François Malrain und Matthieu Poux (Hg.), Qui étaient les Gaulois?, Paris 2011). Im englischen Teil der britischen Inseln hatten bereits mittelalterliche Dichter die Artus-Legende, spätere die Verehrung keltischer Druiden erfunden. Sie stilisierten Angeln und Sachsen zu kultivierten Engländern, Iren und Schotten als minderwertig. Im Gegenzug erfanden schottische Kollegen per Ossian-Legende eine eigene Vergangenheit (James McPherson in den 1760er Jahren; Hugh Blair annotierte den Text – in seinen Worten – wissenschaftlich). 5 Seriöse Forschung zu keltischer Kultur begann mit Joseph Déchelette (1862–1914); er kam 1914 im Krieg der konstruierten Völker gegeneinander um. Der deutsche Pionierforscher Paul Jacobsthal (1880–1957) musste wegen jüdischer „Abstammung“ 1935 fliehen und veröffentlichte 1944 Early Celtic Art in England. 6 Geprüft wurden ausgewählte französische, englische und amerikanische Atlanten zur Weltgeschichte sowie deutsche und, für Österreich, C. E. Rhode, Historischer Schulatlas, ca. 1880; Julius Strnadt, Historischer Schulatlas von Oberösterreich und Salzburg, 1907; F. W. Putzger Historischer Weltatlas zur allgemeinen und österreichischen Geschichte, bearb. von Egon Lendl, Wilhelm Wagner und Rudolf Klein, Wien 1965. 3

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„Völker“: Konstrukte ohne empirische Daten

(RR) erscheint in fixistischer Tradition als Muster von Ortsfestigkeit: Keine Pfeile stellen das Vordringen imperialer Heere dar, keine den Abtransport Besiegter in die Sklaverei. In dieser flächig erzählenden Kartografie sind auch „die Christen“ plötzlich da (Abb. 5.23), doch betrug ihr Anteil an der Bevölkerung in den als „christlich“ ausgewiesenen Gebieten nur etwa fünf bis zehn Prozent. Für die Voralpenregion zeigen die Suggestivatlanten von einer Karte zur nächsten Bayern ohne Zuwanderung als über die Fläche anwesend und andere, von Alemannen im Westen bis zu Herulern im Osten, als Eindringende. Der alpenslawische Herrschaftsraum Karantanien existiert erst nach der Annexion als ottonische „karantanische Mark“: Karten als Ikonisierung der Mächtigen dienen Teleologien, sie stellen Verflechtungsprozesse, histoires croisées und Akkulturationen nicht dar. 7 Kritik an den Begriffen „Volk“ und „Völkerwanderungen“, englisch barbarian invasions, haben besonders Wiener Historiker entwickelt. In Stammesbildung und Verfassung: Das Werden der frühmittel-

alterlichen gentes (1961) analysierte Reinhard Wenskus die mit ihnen verbundenen Klischees 8 und Herwig Wolfram die Ideologie des Deutschtums in Das Reich und die Germanen (1990). Wolfram belegte die Entwicklung des Begriffs „deutsch“ – althochdeutsch „diutisc“ – von seiner ursprünglichen Bedeutung als „zum Volk gehörig“ und „volkssprachlich“ (~800 u. Z.) hin zur ethnisierenden „lingua theodisca“ des Fränkischen Reichs und zur Umbenennung von „Franken“ in „teutisci“ (Teutonen) seit Mitte des 9. Jahrhunderts. 9 Für den benachbarten Raum zwischen Alpen und Karpaten haben niederösterreichische und ungarische Archäolog*innen die komplexe Zusammensetzung und Interaktion der vielen Verbände bis zur Ankunft der ebenfalls vielfältigen „Magyaren“ um 900 analysiert. 10 In dieser Studie lassen sich Namen wie „Kelten“ und „Römer“ ebenso wenig vermeiden wie „germanische“ oder „Steppenvölker“ – deshalb diese kritische Erinnerung an die Ideologie der Namensgebungen. 11

Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 2001, behandelt Karantanien seit der „bayrische Landnahme“ genannten Eroberung und benennt differenziert slawische Siedlungsgebiete. Sylvia Schraut, Kartierte Nationalgeschichte. Geschichtsatlanten im internationalen Vergleich 1860–1960, Frankfurt/M. 2011; Tillmann Lohse, „Die Völkerwanderungskarte als europäischer Erinnerungsort. Ein Blick in die Geschichtsatlanten und -schulbücher des 18. bis 21. Jahrhunderts“, in: Lohse und Benjamin Scheller (Hg.), Europa in der Welt des Mittelalters. Ein Colloquium für und mit Michael Borgolte, Berlin 2014, 33–98. 8 Walter Pohl, Die Völkerwanderung: Eroberung und Integration, Stuttgart 22005, als knappe Einführung; Peter Heather, Empires and Barbarians: Migration, Development and the Birth of Europe, London 2009; Klaus Rosen, Die Völkerwanderung, München 22003. Siehe auch Walter Pohl, „Telling the Difference: Signs of Ethnic Identity“, in: ders. und Helmut Reimitz (Hg.), Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300– 800, Leiden 1998, 17–69; Roland Steinacher, „Ethnogenese, Gens, Regnum. Die historische Ethnographie“, Latein Forum 50/51 (o. J.), 78–99, bes. 79–80; und ders., Die Vandalen. Aufstieg und Fall römischer Barbaren, Stuttgart 2014. Zur Entwicklung der Wissenschaft in Österreich Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014. 9 Wolfram bezeichnete „Nationalismus“ als eine „schlimme Häresie der biblisch-antiken Humanität“: „Die undeutsche Herkunft des Wortes ‚Deutsch‘“, in: Rajko Bratož (Hg.), Slowenien und die Nachbarländer zwischen Antike und Karolingischer Epoche. Anfänge der slowenischen Ethnogenese, 2 Bde., Ljubljana 2000, 2002, 1:41–56, Zitat 54; Hermann Jakobs, „Diot und Sprache: Deutsch im Verband der Frankenreiche (8. bis frühes 11. Jahrhundert)“, in: Andreas Gardt (Hg.), Nation und Sprache: Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2000, 7–46. Der Rechtsbegriff „diot“ wurde korporativer – nicht territorialer – Begriff im Kontext der vielsprachigen fränkisch-friesisch-sächsisch-u. a. karolingischen Heere. Walter Pohl, Die Germanen, München 2000. 10 Katalin T. Biró u. a., An der Grenze von Orient und Okzident: Die Geschichte der Völker auf ungarischem Boden, 400.000 v. Chr.–804 n. Chr., Budapest 2003. 11 Zur Forschung seit Wenskus vgl. Walter Pohl, „Tradition, Ethnogenese und literarische Gestaltung: Eine Zwischenbilanz“, in: Karl Brunner und Brigitte Merta (Hg.), Ethnogenese und Überlieferung. Angewandte Methoden der Frühmittelalterforschung, Wien 1994, 9–26; und Steinacher, „Zur Identitätsbildung“, 73–123. Patrick J. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt/M. 2002 (amerikan. 2001); Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen der frühgeschichtlichen Archäologie, Berlin 2004. 7

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

4.2 Keltisch-sprachige Menschen bis zum 1. Jahrhundert v. u. Z. 12 Nördlich der Alpen entwickelten Ansässige und Mobile ihre als Urkeltisch bezeichnete Sprache vermutlich gegen Ende des 2. Jahrtausends v. u. Z. 13 Sie mussten vom 7. bis 4. Jahrhundert auf großräumliche Veränderungen reagieren: Verbindungen zum und vom Mittelmeer verloren ihre Bedeutung; Massalia geriet in eine Rezession; die Verbindungen zum hellenistischen Kulturraum nahmen ebenfalls ab, denn Dürre und Epidemien in Attika, griechisch-persische Kriege und der attische Städtekrieg (432–404) veränderten die Machtverhältnisse. Der etruskische Seehandel sank angesichts der Seemacht griechischer Städte und die expansiven, aber noch nicht imperialistischen Römer bedrängten die – ihrerseits durchaus aggressiven – Etrusker und besiegten sie. Hinzu kam, dass nach Mitte des 5. Jahrhunderts eine kühlere Phase vom Ural bis zum Atlantik die Wachstumsperiode beendete. Mit der Verringerung des Fernhandels endete, zuerst im Scharniergebiet von den Donau-Voralpen zur Rhône-Region, die Herrschaft der schwerttragenden Eliten (s. Karten Abb. 3.2, 3.3, 3.22). Sinkende Ernteerträge bedeuteten Instabilität der Versorgung und damit auch des jeweiligen Wohnortes sowie körperliche Schwächung und Seuchen. Unter den vorangehenden guten Bedingungen mag die Bevölkerung zugenommen haben, sodass Ressourcen knapp wurden und ausreichende Ernährung in leere Schüsseln überging. Der zentrale Ort im oberen Donautal, Heuneburg, fiel einer Feuersbrunst zum Opfer. Begannen in dieser Zeit, wie vermutet wird, Aufstands- oder Befreiungskämpfe unterdrückter Schichten? In vielen Gesellschaften hatten Menschen eine Ökonomie maßvollen Verhaltens entwickelt. Im älteren Englischen gab es für Überschreitungen den Ausdruck to riot, für die Anhäufung übermäßigen Reichtums to riot in luxury. Um Schaden für die übrige Gesellschaft abzuwenden, erschien Widerstand mit übermäßiger Gewalt, to riot in violence, legitim. Traten in Heuneburg handwerkende Familien, die den Prunk für diesseitiges Leben und das Jenseits herstellten, de-

nen entgegen, die ihn ostentativ zur Schau stellten? Chronisten des entstehenden römischen Staatswesens hörten von Streitigkeiten zwischen und innerhalb von keltischen Verbänden, die geregeltes Leben unmöglich machten. Die Menschen im Voralpen- und Donauraum, soweit sie trotz der Widrigkeiten sesshaft blieben oder zuwanderten, lebten in konzentrierten Siedlungen (oppida) oder in kleineren Gemeinschaften. Mesoregional bildeten sie Familiengroßverbände: gentes in römischer Bezeichnung, „Stämme/tribes“ in Sprachen, die genetische Einheit postulieren. Der Singular „keltisch-sprachig“ bedeutete Vielfalt: Allein in Gallien lebten und bewegten sich etwa dreißig Verbände, kooperierten in Handelskontakten oder konkurrierten in Kriegsbündnissen. Aus dem sozialhierarchisch spannungsgeladenen oberen Donau-Gebiet wanderten kleinere Verbände west- und ostwärts, trafen auf sesshafte Bevölkerungen und mischten sich unter sie oder überlagerten sie. Autoren, die östliche Verbände als „Reitervölker“ titulierten, hätten sie als „Fußvölker“ bezeichnen müssen. Nach – vielfach gewaltsamer – Niederlassung lebten Alt- und Neusiedelnde meist zusammen oder nebeneinander. Die Menschen der Kulturphase „keltisch“ intensivierten neben den transalpinen auch die Verbindungen in die Donau-Karpaten-Ebene zu skythisch-kulturellen Gemeinschaften (ab Mitte des 7. Jahrhunderts). In nur zwei Generationen um 450 v. u. Z. mischten, verwoben und verschmolzen sie die Formensprachen „Hallstatt“ und „oberitalisch“: Nördliche geometrische Formen verbanden sie mit südlichen. Sozialhierarchisch setzten sich lanzenbewehrte Einzel- oder Gruppenkämpfer durch; ihre Führer kennzeichneten sich mit dem südöstlichen Statussymbol Dolch. Sie benötigten Arbeitskräfte von Diener*innen bis zu Kunsthandwerker*innen und neue Siedlungen erforderten Erd- und Bauarbeiter*innen. Neue oder alte KaufFamilien bedienten die Nachfrage nach mediterranen Luxusgütern; für Menschen nahe der Alpen-

Dieser Teil stützt sich auf Welt der Kelten; Demandt, Kelten; Bernhard Maier, Geschichte und Kultur der Kelten, München 2012; Hermann Ament et al., Frühe Völker Europas, Darmstadt 2003, 26–43; Ian Barnes, Der große historische Atlas der Kelten, aus dem Engl. von Caroline Klima u. a., Wien 2009, 8–91. 13 Immanuel Ness u. a. (Hg.), Encyclopedia of Global Human Migration, 5 Bde., Oxford 2013, 1:157–167; Welt der Kelten, 37–38. Später sprachen auch Gruppen wie die Britannii und Belgae, die nicht als Kelten gelten, keltische Sprachen. 12

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Keltisch-sprachige Menschen bis zum 1. Jahrhundert v. u. Z.

Pässe bedeutete dies einen Standortvorteil. Die keltischen Männer und Frauen, die Städte bauten, neue Siedlungslandschaften kultivierten, Handel trieben und neue Techniken entwickelten, „standen zweifellos an der Schwelle zur Hochkultur“. 14 Zeitgleich hatten die Eliten des vormals kleinen Roms, die ihre lateinische Sprache um die Mitte des ersten Jahrtausends v. u. Z. entwickelten, eine aggressive Ausbreitung in Gang gesetzt. Bewaffnete nordalpine Verbände trafen auf marschierende römische Heere. 15 Bei Kontakt bezeichneten sich die Nordalpinen gegenüber den Südalpinen als Könnende, „kel“, oder Mächtige, „gal“. 16 Griechische und römische Autoren, gewissermaßen „Barbaren ohne Sprachkenntnisse“, glaubten, dass es sich um Gruppennamen handle und schrieben „Kelten“ und „Gallier“ in die historische Erinnerung ein. Diese Bezeichnungen erscheinen, verschriftlicht, späteren Generationen als historisches Wissen. Ebenfalls zeitgleich verließen im keltischen Großraum, vermutlich angesichts von Ressourcenverknappungen, mehr und mehr Menschen ihre Siedlungen. Sie reflektierten ihre Erinnerungen in Wandererzählungen und Gruppennamen wie Tektosagen („ein Dach Suchende“) und Allobroger („anderswo Geborene“). Ein römischer Chronist glaubte zu wissen, dass Gallien übervölkert gewesen wäre und 300.000 Menschen im 6. Jahrhundert nach Norditalien und Pannonien abgewandert seien. Gruppen bewegten sich „auf eigene Faust“: „Faust-recht“ ist rechtlose – recht lose – kriegerische Gewalt. In manchen Siedlungen blieben die Frauen sesshaft, um den Männern die Rückkehr zu ermöglichen, in anderen zogen alle ab und brannten ihre Häuser nieder, in wieder anderen entschieden sich Männer für Arbeitsmigration. Anfangs betraf all dies den Dürrnberg, die Alpentäler und das Waldviertel nicht. 17 Nicht nur durch Händler, sondern auch als

Söldner im RR erfuhren „Kelten“ von den Annehmlichkeiten des Südens. Von alters her ließen sich Arbeit suchende Männer von Gewaltunternehmern, oft als Heerführer bezeichnet, anwerben. Die Männer verdingten sich, gaben also ihre Selbstbestimmung auf; manche suchten entlang der Wege Beute: Sie beuteten Sesshafte aus. Sie dienten unter anderem in Sizilien und auf dem Peloponnes. Eine der keltischen Wander- und Militär-Genossenschaften besiegte in den 380er bis 340er Jahren den etruskischen Städteverband und besetzte Rom (387 v. u. Z.), verlor es aber wieder und siedelte in der Po-Ebene, Gallia Cisalpina in interpretatio romana. Totenbestattungen nebeneinander deuten auf eher friedliche Koexistenz. In einem der Kriege um Vorherrschaft im Mittelmeerraum unterstützten cisalpine Gallier das in einem milden Winter über die Alpen heranziehende karthagische Heer Hannibals. Die RR-Heere siegten, vertrieben überlebende Gallier oder heuerten sie als Söldner an. Das Bild keltischer Gewaltbereitschaft benötigten römische Autoren als Gegenbild zum angeblich zivilisatorischen Vordringen der eigenen Heere. Manche waren gewaltbereit: Ein etwa 20.000 Menschen umfassender, Galater genannter Verband querte die Meerenge nach Kleinasien. Anatolische Bildhauer stellten ihre Gewalttaten im Fries des Altars in Pergamon nahe Ephesus/Izmir dar (184–160 v. u. Z.). 18 In Pannonien und in den Karpaten vermischten sich seit etwa 400 v. u. Z. Teilverbände der keltischen, südöstlichen dakischen und südwestlichen illyrischen Kulturen. Sie betrieben Landwirtschaft mit Eisengeräten und entwickelten einen eigenen künstlerischen Stil. 19 Um 300 siedelten sich von den Römern Norici und Taurisci genannte Krieger, Frauen, Kinder und Alte im später so genannten Böhmen an; in Noricum sowie entlang der Donau siedelten Boier unter anderem in der befestigten Siedlung oppidum (später Pressburg/Bratislava),

Dirk Krausse, „Auf der Schwelle zur Hochkultur. Die etwas ‚anderen‘ Kelten“, in: Welt der Kelten, 90–93. Die Unterteilung der römischen Herrschaft in Republik und Kaiserzeit ab etwa 40 v. u. Z. hat für die Annexionen wenig Bedeutung. 16 Sprachwissenschaftler*innen debattieren die Wortbedeutungen. 17 Barry Cunliffe, Europe between the Oceans. Themes and Variations: 9000 BC–AD 1000, New Haven 2011, 270–316; Sabine Rieckhoff, „Der Untergang der Städte. Der Zusammenbruch des keltischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems“, in: Claus Dobiat (Hg.), Dürrnberg und Manching. Wirtschaftsarchäologie im ostkeltischen Raum, Bonn 2002, 359–379; Welt der Kelten, 97, 300–303; Kurt W. Zeller, Der Dürrnberg bei Hallein, Hallein 2001, 52–53. 18 Welt der Kelten, 257–268; Barnes, Atlas der Kelten, 40–43, 64–79; Cunliffe, Europe between the Oceans, 25; Katharina Winckler, Die Alpen im Frühmittelalter. Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800, Wien 2012, 101–102: Um 100 u. Z. kolportierte der römische Geschichtsschreiber Florus, Frauen in den Alpen hätten ihre Kinder als Wurfobjekte gegen römische Soldaten verwendet. 19 László Kontler, A History of Hungary. Millennium in Central Europe, New York 2003, 24–27; Biró u. a., An der Grenze, 67–87. Den anfangs kleinen Verbänden scheinen zwischen 400 und 350 v. u. Z. schwer bewaffnete gefolgt zu sein. 14 15

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

wo sich Handelswege kreuzten. Andere zogen um 280 nach Makedonien, wieder andere aus Ostfrankreich in den Donauraum und auf die ApenninHalbinsel. Ein Militärtrupp raubte die Schätze des Tempels von Delphi auf dem südlichen griechischen Festland; etwa 170 Jahre später fanden RR-Truppen die Wertgegenstände in einem Tempel in Südgallien und raubten sie ein zweites Mal. Plinius d. Ä. (~23–79 u. Z.) berichtet in seiner Historia von einem in Rom arbeitenden Kelten, der bei seiner Rückkehr mediterrane Köstlichkeiten zu den Helveter*innen trug. Daraufhin entschlossen sich dessen Freunde, so Plinius, zur Auswanderung oder, genauer, zur Zuwanderung in die angenehmeren Gefilde mit besserem Essen. Erneut sesshaft Gewordene schufen sich Verehrungsstätten an naturheiligen Orten wie Gewässern, Quellen, Höhlen (s. Kap. 5.1). La Tène war ein solcher Ort, Velem und Celldömölk südlich des Neusiedlersees sowie Flüsse in der pannonischen Region weitere. Diese transeuropäische Antike erstreckte sich von der Saône bis Anatolien, von den Karpaten und der Donau bis Oberitalien. 20 In der ostalpinen Region schlossen sich um 200 v. u. Z. vermutlich dreizehn Kleinverbände zu einer Herrschaft, römisch: regnum Noricum, zusammen. Wie benachbarte Regionen war Noricum erzreich und Metallwerker-Familien von den Alpen bis in die Sudeten und von der oberen Tisza/Theiß bis in die transsylvanischen Hügel unterhielten Handelsbeziehungen nach Cornwall (Zinn), Kreta (Kupfer), in die Westalpen und die Karpaten (Gold). Sie adaptierten weiterhin eine südliche Werkästhetik und passten sie nordalpinen praktischen und ästhetischen Bedürfnissen an. Schmiede-Familien stellten Gebrauchs-, Kult- und Militär-Utensilien her und erfanden in Kärnten „norisches Eisen“, Markenname für eine stahlähnliche, geschichtete Eisen-Kohlenstoff-Verbindung. Für die Klingen von Schwertern und Dolchen ermöglichten das Erhitzen, Schmieden und die Kaltabschreckung Härtung. Die dabei veränderten Strukturen des Metalls konnten die Fachleute vielleicht nicht benennen, aber sie wussten, dass Klingenrücken und Griffe flexibler sein mussten, damit sie nicht brachen. Ihr Wissen, funds of knowledge, blieb Betriebsgeheim-

nis und ging später verloren. 21 Keramik-produzierende keltisch-kulturelle Familien gaben ihre Kenntnisse an germanisch-kulturelle Kolleg*innen weiter, andere übernahmen Verfahren der Emailund Glasherstellung aus dem Orient oder entwickelten sie selbst. Wieder andere drechselten und stellten Räder her. Die textile Produktion einschließlich der Lederverarbeitung blieb – wie vermutet wird – Angelegenheit von Frauen. Von der Schönheit ihrer nach Italien exportierten Kleidungsstücke berichten römische Autoren. In die umgekehrte Richtung trugen Händler weiterhin Weine, Öle und Luxusgegenstände. Ferne Produkte kamen auch durch Heiratskontakte und -kontrakte, Einzelwanderung und diplomatische Geschenke. Auf den Export von Walross-Elfenbein würden sich Nordleute in Norwegen und später in Grönland und Island spezialisieren. Einzelne Produkte wiesen komplexe Provenienzen auf: Von vier kultischen Figuren eines Bronze-Trinkkessels in Hochdorf im Rhein-Gebiet war eine aus attischem Material, zwei weitere waren in einer griechischen Werkstatt in Unteritalien gegossen worden. Weihrauch, Elfenbein und griechisch-skythische Kunstgegenstände stammten von Handelstreibenden im östlichen Mittelmeerraum. All dies erreichte die breite Bevölkerung nicht. Nahm sie es wahr? Innerhalb der patriarchalen Identifikationsverbände und in Familienökonomien nahmen Frauen eine wichtige Stellung ein. Einzelne Verbände waren matrilinear organisiert, in anderen hatten Frauen politische Mitspracherechte. Sozialhierarchisch standen Landbesitzende über Hintersassen, Bergund Handwerkende waren offenbar frei, alle standen über unfreien Schuldknechten und Kriegsgefangenen. Versammlungen, concilia, der Ältesten oder der wehrfähigen Männer berieten Herrscher; bei wichtigen Fragen konnten Frauen beteiligt sein. Doch nach einem römischen Bericht aus Gallien (um 50 v. u. Z.) behandelten Höhergestellte einfache Menschen fast wie Sklaven. Nach militärischen Niederlagen eines Verbandes mussten sich die Überlebenden in Nachbarverbände eingliedern oder zu entfernteren fliehen. Hatten Klima, Arbeitsstellen und Esskultur keltisch-kulturelle Menschen südwärts gezogen, zeig-

Cunliffe (Europe between the Oceans, 38) sieht einen „mitteleuropäischen Korridor“ entlang der Donau zur Marne und Loire. Caroline von Nicolai, „Unruhige Zeiten: Alles wird anders“, und Maya Hauschild, „Quer durch Europa. Die keltischen Wanderungen“, in: Welt der Kelten, 254–263. 21 Der Herstellungsprozess musste im industrialisierenden Europa zwei Jahrtausende später neu erprobt bzw. erfunden werden. 20

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Keltisch-sprachige Menschen bis zum 1. Jahrhundert v. u. Z.

Abb. 4.1 Römisches Reich, 2. Jh. v. u. Z.–2. Jh. u. Z. Die flächige Darstellung gibt grob das Verkehrsnetz, jedoch nicht die Kriegszüge der Legionen, Zuwanderung von Administratoren, Vertreibungen und Sklav*innen-Transporte sowie die zahllosen Botenritte und Reisen wieder. Sie würden eine unüberschaubare Zahl von Bewegungspfeilen erfordern.

ten im 2. bis 1. Jahrhundert imperiale Militärs des RR ein intensives Interesse an norischen Waffenschmieden und Söldnern. Um 171 v. u. Z. heuerten sie 3000 Noriker an, um eine „Rebellion“ – Freiheitskampf oder Affirmation lokaler Eliten – der Istrier*innen niederzuschlagen. Sold und Beute galten den norischen Kämpfern anfangs als Schatz; sie verwendeten es aber schnell auch als Zahlgeld im Rahmen der transimperialen Silberwährung. Durch Kriege (3.–2. Jh.) kam makedonisches Gold zusätzlich zu Karpaten- und Alpengold in die Hände keltischer Söldner. Andere brachten von Militärdienst in Ägypten hellenische Drachmen mit. 22 Keltische Herrscher begannen Münzen zu prägen und am Übergang zur Latènezeit entwickelten Gebildete auf der Basis des etruskischen Alphabets Schriftzeichen. Da die orale Überlieferungskultur funktional war, entstand keine Literatur. Ein Han-

dels- und Freundschaftsvertrag zwischen dem RR und Noricum 182/181 erleichterte Waffenexport und Söldnerdienste und erhob die „alpinen Wilden“ zu foederati. Damit fungierten sie als Grenzschutz gegen transdanubische Militär-Verbände mit versklavten Menschen, die cisdanubisch Lebende und römische Autoren später pauschal als „Germanen“ bezeichneten. 23 Die Herrschenden in Rom, die so ihre Kosten senkten, entschieden in einem weiteren Schritt, die Regionen zu inkorporieren: Die Kaiser Gaius Iulius und Augustus überzogen die Menschen mit Annexionsheeren. In dem Krieg in Gallia Transalpina, 58–51/50 v. u. Z., an dem sich cisalpin-gallische Söldner beteiligten, kamen Hunderttausende, vielleicht eine Million Ansässige um oder wurden versklavt. Oberschichten flohen mit Gefolgsleuten nach Noricum. Der durch seine Machtgier hoch

Trugen sie, vielleicht über Aquileia, die Sitzstatue eines ägyptischen Beamten und Priesters, der in der Zeit zwischen ca. 1250 und 1200 v. u. Z. lebte, nach Pannonien? Sie wurde im 19. Jahrhundert südlich von Wien gefunden. 23 Stefan Moser, Die Kelten am Dürrnberg, Hallein 2010, 138. 22

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

verschuldete Heerführer Gaius Iulius mit späterem Beinamen Caesar führte einen privaten Beutezug. Er raubte das Gold der keltischen Heiligtümer und den Schmuck der Wohlhabenden, sanierte so seine Finanzen, legte Reserven für den weiteren Machtausbau an und zahlte seinen offenbar unwilligen Truppen erhöhten Sold. Die Vernichtung der um Siedlungserlaubnis im Flussdelta von Maas und Waal in der Provinz Gelderland ersuchenden Usipeter und Tenkterer – geschätzt auf 200.000 Männer und Frauen, Kinder und Alte – glich Völkermord. Die Menschen in Noricum gerieten in eine Zange: im Norden Konflikte mit Menschen germanischer Sprachen, von Süden heranrückende imperiale Truppen. Letztere annektierten Noricum in den Jahren 15 und 14 v. u. Z., das benachbarte Pannonien zwischen 12 und 9 v. u. Z., später Thrakien (heutiges Bulgarien und Rumänien) sowie, vorher, in den Jahren 31 und 30 v. u. Z., Ägypten. Noricums Annexion ist als unblutiger Anschluss bezeichnet worden, doch wehrten sich die Ambisonten (im heutigen Pinzgau oder am Isonzo). Die Besatzer richteten ein Blutbad an, verschleppten die Mehrzahl der überlebenden Männer. Doch verschonten sie die für den Ackerbau notwendigen, um die Region wirtschaftlich nutzen zu können. Raeter verkauften sie als Sklav*innen und transportierten laut

Chronisten die Salasser ab, um die Kontrolle westalpiner Pässe und des Flussgold-Handels zu übernehmen. Widerstand in Pannonien-Dalmatien-Illyrien in den Jahren 6 bis 9 u. Z. schlugen sie nieder. In Noricum mussten die keltischen Bewohner*innen ihre Höhensiedlungen verlassen und in die (neuen) Städte umsiedeln. Dies mag angesichts des höheren Lebensstandards in den Städten eher Adaption als Unterwerfung bedeutet haben. Der Inn-Fluss bildete die Grenze zwischen Raetia im gallischen und Noricum im illyrischen Herrschaftsbereich. Die Armeen besiegten fast fünfzig Verbände, wie ihre Siegessäule in La Turbie (heute Monaco) dokumentiert. Die norddanubischen Menschen betraf dies nicht. 24 Ethnologisch gesehen ist die Chiffre „Römer“ für die neuen Herrscher unzutreffend, denn das Imperium war „ein historisch gewachsenes Konglomerat unterschiedlicher Rechtsbeziehungen zu einzelnen Fürsten, Städten und Völkern“, eine makroregionale „Konföderation mit einer Zentralregierung in Rom“ oder, als weitere Variante, ein exekutiv aufgebauter Verband weitgehend autonomer zirkum-mediterraner und transalpiner Provinzen mit Aufsichtsrat. Auch der Begriff „Legion“ konnotiert zunächst nur die Soldaten selbst, nicht die gewaltigen Trosse mit Tausenden Eseln und Maultieren, die Zelte und Ausrüstung schleppten. 25

4.3 Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert Noricum mit seinen etwa 50.000 Bewohner*innen war vermutlich nach dem Tod des letzten einheimischen Herrschers Provinz geworden. 26 Das Herrschaftskonzept pax romana verbot Verbänden, Städten und Adligen lokale Kriege zu führen, kontrollierte die entsandten Statthalter und ermöglichte Beschwerden über Korruption in Rom. Land-

besitz verblieb gemäß Gewohnheitsrecht der lokalen Bevölkerung, die Steuerpflicht förderte Geldwirtschaft. Da billiges Meersalz, herangeführt über das altkeltische und das neurömische Straßennetz, den Bedarf deckte, endete die Produktion am Dürrnberg und Salzwerker-Familien mussten abwandern oder umlernen. 27 Die Trennlinie entlang

Clemens M. Hutter, Iuvavum. Alltag im römischen Salzburg, Salzburg 2012, 22–23. Michaela Konrad, „Ungleiche Nachbarn. Die Provinzen Raetien und Noricum in der römischen Kaiserzeit“, in: Fehr und Heitmeier, Anfänge Bayerns, 21–71. Namen der besiegten Verbände in: Norbert Heger, Salzburg in römischer Zeit, Salzburg 1974, 18. 25 Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium Romanum. Geschichte der römischen Provinzen, München 72011, Zitat 57, und, zweites Zitat, Heinz Dopsch und Robert Hoffmann, Salzburg. Die Geschichte einer Stadt, Salzburg 2008, 41. 26 Dieser Teil stützt sich auf Hutter, Iuvavum, und Heger, Römische Zeit. Siehe auch Günther E. Thüry, Das römische Salzburg. Die antike Stadt und ihre Geschichte, Salzburg 2013. Raimund Kastler, Felix Lang und Holger Wendling (Hg.), Faber Salzburgi. Festschrift für Wilfried Kovacsovics, Salzburg 2018, erschien nach Abschluss des Textes. Die Überreste Lauriacums an der Enns werden ergraben, diejenigen Iuvavums liegen unter dem Zentrum von Salzburg-Stadt. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 29–37; Peter Noelke mit Friederike Naumann-Steckner und Beate Schneider (Hg.), Romanisation und Resistenz in Plastik, Architektur und Inschriften der Provinzen des Imperium Romanum, Mainz 2003, bes. Marcus Reuter, „Die ‚keltische Renaissance‘ in den Nordwestprovinzen des Römischen Reiches“, 21–26, und die Sektion „Donauprovinzen“, 327–526. 27 Neuere Forschungen deuten auf einen Rückgang der Salzproduktion bereits in vorrömischer Zeit. 24

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Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert

Abb. 4.2 Römische Soldaten auf einer Schiffsbrücke bei der Überquerung der Donau, vermutlich nahe Carnuntum Szene der Mark-Aurel-Säule, Rom, zw. 176 und 193 u. Z.; 1589 befahl Papst Sixtus V., von der Säule die – nun heidnischen – Siegesgöttinnen zu entfernen und eine christliche Paulus-Figur hinzuzufügen.

der – nach dem keltischen Flussgott Danouios benannten – Donau schnitt Handelsverbindungen nicht ab. Am Nordufer lebten mit Sold und Beute zurückgekehrte germanische Hilfstruppen und römische Kaufleute pflegten transdanubische Beziehungen. Auch Personen von Rang pflegten über die Donau hinweg Kontakt: Im ersten Jahrhundert v. u. Z. ließen sich die herrschenden Familien eines großen oppidum nahe der Mündung der March/ Morava und in Devín eine Art Akropolis auf dem Berg errichten und von Architekten und Mosaikbildnern aus Italia steinerne Häuser nach römischen Mustern bauen. Sie ließen Goldmünzen prägen und importierten Wein. Handel und Zahlungsverkehr müssen intensiv gewesen sein. 28 Römische Legionäre, meist gelernte Kräfte mit einer Dienstzeit von 25 Jahren, kamen aus vielen Kulturräumen. Sie errichteten ihre Lager aus Stein, umgaben sie mit Mauern und verbesserten in ruhigen Zeiten die Infrastruktur. Entlang der Donau von der Hauptstadt Oberpannoniens, Carnuntum (bei Wien), und Vindobona (Wien) über Lauriacum (Lorch/Enns), Batava/Boiodurum (Passau, norisch-raetische Grenze) sowie von Castra Regina (Regensburg) bis Augusta Vindelicorum (Augsburg) siedelten sich in zivilen Städten Händlerund Kauf-Familien, Handwerker-Familien, Alko-

hol- und Sexdienstleistende an. In Carnuntum wurde Bernstein von der Ostsee und Schlachtvieh aus Italien gehandelt, Gold- und Silberschmiede, Gemmenschneider und Steinbildhauer arbeiteten dort. Die Männer sahen sich unter Kaiser Augustus mit einer Neuordnung ihres emotionalen Lebens konfrontiert: Er ersetzte Rekrutierte, die häufig zu Land und Familie zurückkehrten, durch eine „Militärfamilie“ mit Lagerhaltung und Heiratsverbot. Viele der meist etwa 6000 Soldaten hatten jedoch mitziehende de-facto-Familien oder lokale Partnerinnen, die sich in den Zivilstädten ansiedelten. Gelegentlich besaßen sie ein oder zwei Sklav*innen. Für den Tagesverbrauch einer Legion, etwa 7,5 t Lebensmittel, waren gute Straßen und Brücken erforderlich. Einachsige Ochsenkarren mit bis zu 100 kg Last legten pro Tag etwa 12 bis 15 km zurück, zweiachsige Pferdewagen mit bis zu 500 kg bis zu 30 km. Jede Hundertschaft war in Schlafräumen zu je acht untergebracht, der Centurion in eigener Wohnung. Die Legionäre kochten selbst, konnten also die Qualität ihres Essens bestimmen und, wenn Zutaten lokal vorhanden waren, Präferenzen ihrer Sozialisation beibehalten. Die sanitäre und medizinische Versorgung war gut, der tägliche Drill eher gesundheitsfördernd. Ärzte, Sanitätspersonal und Spitäler versorgten die Männer, die jedoch Schikanen durch Offiziere ausgesetzt waren und für kleine Vorteile die Centurionen bestechen mussten. Außerhalb des Lagers und bei Märschen konnten sie ihrerseits Zivilbevölkerungen erpressen. Sie lebten insgesamt besser und gesünder als diese. 29 In der Zeit zunehmender Beutezüge germanisch-sprachiger Identifikationsverbände erbaute die in Oberitalien neu ausgehobene und für Noricum zuständige Legio II Italica 30 zwischen ca. 170 und ca. 195 u. Z. das Kastell Lauriacum (kelt. „bei den Leuten des Laurios“) an der Mündung der Enns in die Donau, gegenüber dem Handelsweg entlang der Aist von und nach Norden. Für den Bau benötigten sie eine Flotte von Lastschiffen für Baumaterial und Getreidezufuhr und von Patrouillenbooten für militärische Zwecke. Sie transportier-

Slovak National Museum, The Celts from Bratislava, Bratislava 2016. Oberösterreichische Direktion Kultur und Stefan Traxler (Hg.), Die Rückkehr der Legion. Römisches Erbe in Oberösterreich, Ausstellungskatalog, Linz 2018; Robert Knapp, Invisible Romans, Cambridge, MA 2011, 196–235; Ernst Lauermann (Hg.), Schatzreich Asparn. Ur- und Frühgeschichte und Mittelalterarchäologie in Niederösterreich, Asparn/Zaya 2014, 228–231; Franz Humer u. a. (Hg.), A.D. 313 – Von Carnuntum zum Christentum, St. Pölten 2014. 30 Im 4. Jahrhundert kam die Legio I Noricorum hinzu. 28

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.3 Donau-Save-Raum und Po-Ebene: Handelswege und Städte

ten mehr als 20.000 m3 Stein zum Bau der etwa 1800 Meter langen, vermutlich zwei Meter dicken und sechs Meter hohen Mauer, das Fundament nicht eingerechnet. Für Villen verwendeten Steinmetze oft griechischen Namens Marmor aus Villach und Melk sowie Granit aus Mauthausen. Sie legten eine Batterie von Kalkbrennöfen an: Ohne Mörtel weder Mauerwerk noch Putz noch Wandmalerei. 31 Ziegelbrenner*innen konnten in serieller Fertigung bis zu 220 Ziegel pro Tag herstellen. Dafür musste der Ton im Herbst gestochen und über den Winter durch Frieren und Auftauen feinkrümelig werden. Sie gaben bei der Formung Sand oder Steinchen bei und trockneten die Rohlinge in dafür gezimmerten, luftigen Holzschuppen. Für Inneneinrichtungen, Lampen zum Beispiel, wanderten Handwerker*innen aus Aquileia zu; norische Fachleute vermittelten nordalpine Kenntnisse. Ein kaiserlicher Legat, der 191 Lauriacum erreichte, war in Numidien (Tunesien) sozialisiert und hatte 31 32

über zwei Jahrzehnte Ämter in Asia, Britannia, Baetica (Iberien), Moesia Superior und natürlich in Rom innegehabt. Heer und Verwaltung kannten die annektierte Welt, je Legion übernahmen 120 Reiter die Kommunikation. Legionäre erhielten 365 Tage im Jahr Lohn und zusätzlich Kleinbeträge für den Besuch der Zivilstädte, viaticum für Reisen und Außendienst, Schuhnagelgeld für lange Märsche, Beutebeteiligung, Zuwendungen der Kaiser und Boni am Ende der Dienstzeit. Da ihr Einkommen der väterlichen Verfügungsgewalt nicht unterlag, konnten sie Ersparnisse ansammeln und (informelle) Familien gründen. Ihre Märsche von Rom bis zum Donauufer 32 oder zu Wegkreuzungen wie Poetovio (Pettau/Ptuj) und Iuvavum (Salzburg) erforderten fünf bis acht Wochen. Viele Legionäre hielten Verbindungen zu ihren Ausgangsgemeinschaften und lebten gemeinsam mit rekrutierten Einheimischen. Ansässige und Legionäre lebten in hierar-

Die deutschen Baubegriffe Kalk, Mörtel, Mauer, Keller, Estrich, Pforte, Kammer, Fenster, Ziegel und andere stammen aus dem Lateinischen. „Limes“, Grenze, ist seit etwa 100 u. Z. verwendeter Name für den Handels- und Flottenweg und die Kontakträume.

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Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert

Abb. 4.4 Provinz Noricum, 1.–2. Jh. u. Z., mit Donaugrenze und Kontaktzone von Boiotro (Passau) bis Carnuntum

chischer Symbiose, in der Zivilstadt Lauriacum zwischen 170 und 488 u. Z. bis zu 25.000 Frauen, Männer und Kinder. Für lokale Produzent*innen und (zugewanderte) Großhändler bedeutete die Versorgung der Militärs Einnahmequellen. Die steuerpflichtigen Annektierten zahlten. Ende des zweiten Jahrhunderts verdoppelte Kaiser Septimius Severus den Sold und hob das Heiratsverbot auf. Damit wurden Verbindungen zwischen fast-sesshaften Militärarbeitern und Frauen aus dem Nahbereich legal. Die Vorstellung einer „Romanisierung“ der Beherrschten ist der Analyse nicht förderlich, da sich nur eine begrenzte Zahl von Zuwanderern inmitten der strukturierten Mehrheitsbevölkerungen der Alaunen, Ambisonten, Ambidravi, Laianci, Norici und anderen niederließ. Als die Truppen abzogen, lebten die Zurückbleibenden nur noch auf dem vor Hochwassern sicheren Stadtberg. Die südliche Drau-Region war im Vergleich zum nördlichen Alpenhang und Donau-Gebiet weit 33 34

dichter besiedelt. Straßen und (wenige) Brücken verbanden Virunum, vorher keltisch Magdalensberg und anfangs Provinzhauptstadt, 33 mit dem Wegekreuz und Handelsort Immurium (lat. immorari verweilen; Moosham). Die Route über den Katschberg-Pass führte nach Teurnia (St. Peter im Holz) und Aguntum (bei Lienz) oder östlich entlang Mur und Drau nach Flavia Solva (Wagna) 34 und Poetovio/Pettau/Ptuj sowie über Celeia/Celje nach Emona/Ljubljana an der Save und nach Aquileia. Municipium-Status erhielt anfangs nördlich des Tauernhauptkammes nur Iuvavum, später Ovilava (Wels) und Cetium (St. Pölten). Nordwestliche Routen führten über Castra Regina und Augusta Vindelicorum mit 8000 bis 12.000 Einwohner*innen, südwestliche über Veldidena (Innsbruck) am Brennerabzweig nach Brigantium (Bregenz) zum Rhein. Östlich sicherten Kastelle die Route über Noricums und Pannoniens Grenzstädte Comagena (Tulln) und Arrianis (Klosterneuburg) nach Aquin-

Nach 200 residierte der Statthalter auch in Lauriacum und Ovilava. Die dort lebende Familie Cassius hatte Beziehungen bis nach Africa.

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.5 Anthropomorphes Gefäß, 2.–3. Jh. u. Z., Tannham nahe Salzburg-Stadt (Bronze, 16 cm mit Fuß und Henkel)

cum (Buda). Alle Wege führten nicht nur nach Rom, sondern vor allem durch Europa und sie verbanden dynamische ländliche Gebiete mit den Zentren, 35 ein Prozess, der in der neueren Sozialgeschichte connectivity genannt wird. Die aus der Symbiose von römischen und hellenischen Praxen entstandene, mittelmeerisch-imperiale Kultur verschmolz in allen Randgebieten mit den Kulturen der – überlebenden – Annektierten. Ansässige besaßen Umwelterfahrungen und stadtrömisch Gekleidete lernten am Alpenrand oder in Syrien, sich den Temperaturen und dem Klima entsprechend anzuziehen. Annektierte Oberschichten, die dies bleiben und die Verwaltung übernehmen wollten, lernten zügig die lateinische Sprache. Als Handlanger der neuen Machthaber entfremdeten sie sich von den Rangniederen (plebs) der „eigenen“ Gruppe, doch waren sie sozial auch vorher Andere gewesen. Die Eliten unterschiedlicher Kulturen ko-

operierten oft besser miteinander als mit den jeweiligen Unteren: Schichten-, nicht sprachspezifische oder „ethno-kulturelle“ Interessen zählten. Die städtischen Bevölkerungen setzten sich zusammen aus zugewanderten römischen Bürger*innen, lokal Freigeborenen überwiegend keltischer Kultur sowie Sklav*innen und Freigelassenen (liberti). Die selbstüberheblichen Neuen bezeichneten die Einheimischen als „Fremde“, peregrini. Diese wurden schrittweise Reichsbewohner*innen und römische Bürger*innen. 36 Die Gouverneure mit Mitarbeiterstab und Diener*innen waren oft nicht „Römer“ im engeren Sinn; die Verwaltung folgte römischem Recht, ohne traditionelle Rechtspraxen zu verbieten. Latein diente als Herrschafts- und Verwaltungssprache. Die Einbeziehung traditioneller Oberschichten stellte diese ruhig und vermied direkte Fremdherrschaft. Allerdings hatten unmittelbar nach der Annexion nur Zugewanderte römische Verwaltungsund Rechtsexpertise. In Iuvavum, mit vermutlich 7000 Einwohner*innen weit größer als die Provinzhauptstadt, bildeten auf Lebenszeit berufene Decurionen mit erheblichem Mindestvermögen einen Rat mit zwei gewählten Bürgermeistern und einem Stadtrichter. Zwei Ädilen für Markt- und Bauaufsicht sowie städtische Hygiene kontrollierten Preise, Maße und Gewichte, ließen die Straßen sauber halten und Abwässer in den Fluss leiten. Zwei Quästoren trieben Steuern und Pachten ein – Defizite hatten die Bürgermeister und Decurionen aus eigenen Mitteln zu decken. Vermögen hatte auch öffentliche Funktion. Der Bürgermeister Marcus Haterius Summus (2. Jh.) half während einer Hungersnot mit seinem Privatvermögen und die Gemeinde setzte ihm ein Denkmal. Sklaverei hatte, nach dem Abtransport Besiegter, nur sehr geringe Bedeutung. Sklav*innen, denen der alltägliche Sprachgebrauch Willen- und Kulturlosigkeit zuschreibt, kamen als sozialisierte Erwachsene und trugen zur kulturellen Heterogenität bei. Manche, oft durch Halsband mit Namen des Besitzers gekennzeichnet, mussten eintönige und schwere Arbeit leisten; einige verdienten durch Nebentätigkeiten die Mittel, sich freizukaufen. Nur

Barnes, Atlas der Kelten, 50–51; Römisch-Germanisches Zentralmuseum, H. Sedlmayer, „Villenlandschaften in Noricum“, vgl. https://www2.rgzm. de/Transformation/Noricum/Villae_Noricum/Villen_Noricum.html (6. September 2020). 36 Formal verlieh Kaiser Claudius den vier Provinzen der Alpen- und Donauregion 43/44 u. Z. Provinzstatus; das Bürgerrecht erhielten alle freien Einwohner Noricums 212 unter Kaiser Caracalla. 35

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Einheimische und imperiale Migrationen in Noricum, 1. bis 2. Jahrhundert

Abb. 4.6 Dienerin in norischer Tracht, Virunum/Zollfeld Diener*innen wurden durch Haartracht, Kleidung und Gerätschaften gekennzeichnet. Die Frau trägt Spiegel und Kästchen, ihr Gürtel und Gehänge sind mit dekorativen Metallbeschlägen und Schnallen verziert. Der Schreiber hält Schriftrollen und ein Futteral für Federn oder Griffel, in der fehlenden rechten Hand vielleicht eine Schreibtafel.

Abb. 4.7 Diener als Schreiber, Teurnia/St. Peter im Holz (121 cm)

wenige scheinen nordafrikanischer oder subsaharischer Herkunft gewesen zu sein, doch setzte die Nachbildung eines Afrikaners auf einem anthropomorphen Gefäß die Kenntnis von Gesichtszügen voraus. Vielfach durften Versklavte heiraten und ihre Kinder zu Handwerkern ausbilden lassen, einzelne wohlhabend gewordene ließen sich Grabsteine meißeln, so ein gewisser Maurus, der seiner „teuersten“ Ehefrau eine Urnentruhe stiftete. Wohlhabende Kelten-Römer ließen sich auf Grabsteinen mit Diener*innen darstellen und mit Sklav*innen

attischer, dakischer und illyrischer Herkunft, die als Lehrer, Verwalter oder Arzt fungierten. Die Sklavin Attiginta, deren Name wohl romanisiert war, wob als Facharbeiterin in Immurium dichtes wollenes Tuch für Mäntel (saga), die, mit Qualitätsplombe analog zum modernen made in versehen, an Römer*innen verkauft wurden. Das imperiumsweite Preisedikt Kaiser Diokletians im Jahr 301 u. Z. nannte ein spezielles norisches Wolltuch. 37 Noriker*innen übernahmen in selektiver Akkulturation Neues und Sinnvolles, blieben gleich-

Hutter, Iuvavum, 73–77; Heger, Römische Zeit, 118, Abb. 99 und Abb. 41 (Grabstele des Sklaven Peregrinus); Joachim Werner, „Bemerkungen zu norischem Trachtenzubehör und zu Fernhandelsbeziehungen der Spätlatènezeit im Salzburger Land“, MGSL 101 (1961), 143–160.

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.8 Plombe, „hergestellt von Attiginta“ (~21 mm)

gültig gegenüber anderen Aspekten, leisteten Widerstand gegen Unerwünschtes. Zuwandernde, gleich ob aus dem Zentrum oder den Provinzen, übernahmen Lokales. Assimilation wäre bedingungslose Übernahme von Kultur gewesen. Die beidseitige Selbstveränderung war, ohne abwertenden Unterton, Provinzialisierung. 38 Der offene, additive Aspekt war für die Macht-Nehmenden preiswert: Bedrückung, Umerziehung und Gewalt hätten kostenträchtige Konflikte verursacht, Akzeptanz wirkte inkorporierend. Weder Romanisierung noch Keltisierung standen zur Debatte, denn für beide Seiten war wohlüberlegte Aneignung vorteilhafter. Während dieser rand-ständigen und rand-dynamischen Entwicklungen verlagerten die Kaiser

das Machtzentrum des RR nach Osten und mit Beginn der Thronfolgekrisen wanderten im 3. Jahrhundert einzelne Stadt- und Halbinsel-Römer in die ruhigeren Provinzen, suchten wirtschaftliche Optionen oder wurden als demobilisierte Soldaten dort angesiedelt. In norischen Städten kamen die Oberen aus Friaul und Venetien, besonders aus der Adriastadt Aquileia (gegr. 181 v. u. Z.). An diesem Hafen für Produkte aus Ägypten, Afrika, Asien einerseits und für norische und baltische andererseits lebten Menschen griechischer, syrischer, ägyptischer und transsilvanischer Herkunft. 39 Freizügigkeit im RR war umfassender als in der Europäischen Union um 2000, Vielkulturalität selbstverständlicher als im Austria von 2020. Norische Menschen waren weder rand- noch eigenständig, Iuvavum eine „römische Kleinstadt mit unverkennbar keltisch-nordalpinem Charakter“. 40 Die Integration ins Imperium ermöglichte – neben der Pflicht zur Steuerzahlung – die Teilhabe an Handelsnetzwerken und Freiheit der Religionen. Das Bürgerrecht bedeutete nicht Zwang zu römischer Identität, sondern bot eine Möglichkeit der Identifikation: belonging and embeddedness, Zugehörigkeit und strukturelle Einbindung.

4.4 Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum Die Neuen entwickelten Iuvavum (später: Salzburg) am schmalen Durchfluss der Igonta – nach dem Flussgott Ivarus – als zentralen Ort und ab 45 u. Z. zur Munizipal-Stadt. Dort hatten auf zwei Hügeln Kelten gesiedelt, doch ihre Höhensiedlung am (Reichen-) Haller Burgstein, deren Bewohner*innen Gegenstände aus dem Mittelmeerraum importiert hatten, mag wichtiger gewesen sein. Als eine Überschwemmung im Jahr 85 viele Holzbauten zerstörte, ordnete der Rat Neubauten aus Stein an und erzwang damit eine sozialräumliche Trennung. Wer sich Stein nicht leisten konnte, musste an den Stadtrand ziehen. Eine Brücke verband die Ufer. Nahe dem Asklepios-Tempel lebte die Elite.

Als sich die römischen Verwalter einrichteten, fehlten – von Textilproduzent*innen abgesehen – Ansässige mit passenden Tätigkeitsprofilen. Zuwander*innen errichteten mit einheimischen Arbeiter*innen Gebäude in römischem Stil, die andere mit Fußbodenheizung ausstatteten. Für die von syrischen Handwerkern übernommene griechische Mosaikkunst brachten Spezialisten die kleinen farbigen Tesserae aus Stein, Keramik und Glas mit. Ansässige konnten Ornamentik und Farbe aus Musterbüchern lernen und lokalen Marmor verwenden. Einfache Mosaiken erforderten ein händisches Verlegen von etwa 3000, höchstwertige von 9000 oder mehr Tesserae pro Quadratmeter

Stefan Schreiber, „Archäologie der Aneignung. Zum Umgang mit Dingen aus kulturfremden Kontexten“, Forum Kritische Archäologie 2 (2013), 48– 123; Dirk Hoerder, Jan Lucassen und Leo Lucassen, „Terminologien und Konzepte der Migrationsforschung“, in: Klaus J. Bade u. a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 32010, 28–53. 39 Anne Kolb und Michael A. Speidel, „Perceptions from Beyond: Some Observations on Non-Roman Assessments of the Roman Empire from the Great Eastern Trade Routes“, Journal of Ancient Civilizations 30 (2015), 117–149; Qiang Li, „Relations between the Roman Empire and China: On the Images of the Roman Empire in Chinese Sources, 1–7 century“, Poster, World Historians’ Congress, Jinan, August 2015. 40 Dopsch und Hoffmann, Salzburg Stadt, 42. 38

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Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum

Abb. 4.9 Iuvavum vor dem Hintergrund des heutigen Salzburgs

(10.000 cm2). Die Kunsthandwerker (artifex) mussten vorher die Tesserae zugeschnitten, nach Farbe sortiert und den Untergrund so vorbereitet haben, dass er „ewig“ halten würde. Einige können noch heute begangen werden. Reiche Familien ließen sich, wie die Offiziere in Lauriacum, Luxusgegenstände, Delikatessen, Buchrollen und anderes durch Kaufleute sowie Neuigkeiten aus fernen Gebieten durch Kuriere liefern. Sie tafelten exquisit: südliche Weine, Olivenöle, geräucherte oder eingelegte Austern, liquamen als würzige Soße aus Fischinnereien und Meeresfrüchten, Gewürzkräuter. Kenntnis von „Küchenlatein“ darf dabei vorausgesetzt werden – selbst „kochen“ leitet sich vom lateinischen coquere ab. Ob aber Marcus Gavius Apicius’ Rezeptsammlung für sehr reiche mediterrane Haushalte (Wechsel 3./4. Jh.), das älteste erhaltene römische Kochbuch, die Pro-

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vinzstadt erreicht hat, wissen wir nicht. Archäobotanische Forschungen in der südlichen Steiermark und im nördlichen Slowenien ermöglichen Erkenntnisse über Ernährung und Rezepte. 41 Innovative Unternehmer*innen akklimatisierten Gewürzkräuter und begannen den systematischen Obstanbau. Weinbau, in keltischen Zeiten im Burgenland und Südtirol betrieben, weiteten die Neuen aus, doch lieferten nördlichere Anbaugebiete nur ein säuerliches Getränk. Das wertvolle dünnwandige, rot überzogene Sigillata-Geschirr kauften Wohlhabende von weit bekannten Töpfer*innen anfangs aus Italien (1. Jh. v. u. Z.), dann aus Südgallien, später auch von Rhein und Inn. Der Firmenstempel „Sentia Secunda facit Aquileiae“ war Markenzeichen der Unternehmerin Sentia Secunda aus Aquileia für einen makroregionalen Markt. Frauen, in Rechts-Codices schlechter gestellt als Männer,

Interreg Danube Transnational Programme, Eisenzeit bis Mittelalter, 2016–2017, Archäologiemuseum Schloss Eggenberg, Graz.

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.10 Mosaik (Ausschnitt)

führten im Alltagleben mitunter eigene Unternehmen. 42 Transportarbeiter verbanden Noricum mit den etwa 350 km entfernten Adriahäfen. Aus iuvavischer Familie mit griechischem Migrationshintergrund kommend, beteiligte sich vermutlich Quintus Sabinius Asclepiades an dem Handel: Öllampen aus Afrika, Edelsteine aus Indien, mittelmeerische Fischkonserven, Olivenöl aus riesigen Monokulturen in Syrien, den Provinzen Africa und Hispanien, aus spezifischen Regionen Granatäpfel, Feigen, Datteln und Pflaumen sowie Artischocken, Nüsse und Datteln aus Damaskus und Quitten aus Kreta. Amphoren wurden als Einwegverpackungen genutzt, denn Rücktransport als Leergut war teuer.

Analysen des verwendeten Tons zeigen ihre Herkunft aus dem gesamten Mittelmeerraum. Olivenöl lieferten besonders die Siedlungen (villae) der Insel Brijuni nahe Pula (Istrien): In einem einzigen Unternehmen stellten Sklav*innen jährlich bis zu 10.000 Amphoren mit einem Gesamtfassungsvermögen von mehr als 300.000 Litern her. In Aquileia verarbeiteten – vielfach aus dem hellenischen Kulturkreis zugewanderte oder versklavte – Handwerker*innen Gold und Bernstein, stellten Gemmen und Schmuck her, produzierten Bronzen und Glas als Massenware. 43 Auf halbem Weg zwischen Aquileia und Iuvavum unterhielten das Imperium und Großkaufleute Austausch- und Herbergskomplexe. In Virunum am Magdalensberg/Štalenska gora schmolzen Metallwerker Gold aus Schürfungen und Steuerzahlungen zu Barren für den Abtransport. Immurium bot beheizte Unterkunft mit Bädern. Im Gegenzug für das von Bergwerkern und Schmieden produzierte Eisen gingen für den Elitenkonsum produzierte Figuren aus indischem Elfenbein, Glasfläschchen aus Syrien, bronzene Lampenständer aus Pompeji und Bronzegegenstände aus Capua sowie Duftstoffe und Parfüme aus dem Orient nach Norden. Nur wenige Namen von Im- und ExportFamilien sind bekannt. Die Familie Balbi war sowohl in Aquileia wie am Magdalensberg vertreten und die Caesii, Erbonii, Vedii und Barbii handelten im ersten Jahrhundert zwischen Noricum und dem Mittelmeer; letztere besaßen auch Bau- und Ziegeleibetriebe in Iuvavum (s. Kap. 5.1). 44 Öffentliche Schulen gab es nicht. Privatlehrer unterrichteten die Kinder der gehobenen Schichten, Mädchen in Lesen und Schreiben, Jungen auch in Grammatik und Rhetorik. „Bücher“ bestanden aus sehr teuren Papyrusrollen 45 oder gebundenen

Eine Ennia Fortuna in Italien und eine (oder ein) „Neikais“ an der syrisch-palästinensischen Küste führten Töpferbetriebe. Eva M. Stern, Roman Mold-Blown Glass, First through Sixth Century, Toledo, OH 1995, 73. Hutter, Iuvavum, 122; Thüry, Römisches Salzburg, 165–185; Knapp, Invisible Romans, 53–96. 43 Der Import aus nordafrikanischen Gebieten endete mit der Herrschaftsübernahme der ostgermanischen Vandalen (429–6. Jahrhundert). HansJörg Gilomen, Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, München 2014, 19–26. 44 Paola Ventura (Hg.), National Archeological Museum of Aquileia, Aquileia 2013; Cristiano Tiussi, Luca Villa und Marta Novello (Hg.), Costantino e Teodore. Aquileia nel IV secolo, Ausstellungskatalog, Aquileia 2013. Ein Fresko in der Michaeliskirche in Salzburg zeigt Arbeiter bei der Verschnürung eines Stoffballens für den Transport; das Lungauer Heimatmuseum in Tamsweg präsentiert Funde aus Immurium. Franz Glaser (Hg.), Kelten – Römer – Karantanen, Klagenfurt/Celovec 1998, 83–84, 163–164; Walter Vogl, „Das Bundesland Salzburg und die autonome Region Friaul-Julisch Venetien“, Salzburg Archiv 12 (1991), 67–76; Kordula Gostenčnik, „Eisen – Bronze – Gold: Zum Metallhandwerk in der römischen Stadt Alt-Virunum auf dem Magdalensberg“, Carinthia 206.1 (2016), 11–35. 45 Ägyptische Handwerker stellten aus dem Süßgrass cyperus papyrus seit dem 3. Jt. v. u. Z. das gleichnamige Material her. Sie schnitten das Mark der Pflanze in etwa 4 cm breite Streifen, legten sie überlappend aneinander, fügten kreuzlagig eine zweite Schicht hinzu und pressten das Rohmaterial, das durch den austretenden Saft verklebte. 42

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Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum

Abb. 4.11 Feinmechanik: Equinox-Fragment mit Andromeda, Perseus und Auriga und den Sternbildern Fische, Widder, Stier und Zwillinge

Schreibtafeln, Verleger mit Schreibsklaven versorgten den Markt. Auf Grabfriesen ließen Männer sich gern mit (römischer) Buchrolle darstellen, Frauen betonten keltische Elemente durch das Tragen eines gebundenen Tuches, der „norischen Haube“. 46 Gelehrte entwickelten die Messtechnik und andere Bereiche der Wissenschaft weiter; aus Ägypten übernahmen sie das Prinzip der Sonnenuhr. Eine astronomische, wasserbetriebene Uhr in Iuvavum zeigte die Zeit, Monate und Jahre, sowie den Lauf der Sonne, der Gestirne und Tierkreiszeichen an. 47 Wohlhabende in steinernen Häusern lebten zum Innenhof (Atrium) hin und besaßen meist einen Altar für die Hausgottheit. Dem Komfort dienten nur ein Tisch und gepolsterte Liegen im Speiseraum, Truhen und einfache Betten im Schlafraum. Ziergegenstände dekorierten einzelne Wohnbereiche und setzten Zeichen für Gäste. Wichtig war ihnen die Muße, otium, als anregendes und gebildetes Nichtstun, während sie die Berufstätigkeit der weniger Wohlhabenden abwertend als negotium verstanden. Spätere Gesellschaften änderten die Wertung: négociant(e) wurde im Französischen die Bezeichnung für Kaufmann und -frau, to neg-

Abb. 4.12 Grobe Mechanik: Handgetreidemühle Die Schwerarbeit des Mahlens leisteten Frauen und Sklavinnen, wie ihre abgenutzten Gelenke zeigen. Hausmühlen hatten meist einen Mahlraddurchmesser von etwa 40 cm. Bei 6 cm durchschnittlicher Stärke und dem je spezifischen Gewicht von Basalt, Granit oder Sandstein waren etwa 18 kg zu drehen sowie der Reibungswiderstand zu überwinden.

otiate bedeutet im Englischen aushandeln und vermitteln. Da Luxus bezahlt werden musste und Vermögen – Besitz, auf dem man bequem sitzen konnte – für diese Lebensführung Voraussetzung war, bedurfte es arbeitender Menschen, die mit

Kulturelle Identitäten lassen sich aus den Darstellungen in der Regel nicht ableiten. In einem pannonischen Grab (um 200 u. Z.) scheint der Mann suebisch gekleidet zu sein, die Frau erhielt dakische, germanische, sarmatische und römische Schmuckstücke als Beigaben. Biró u. a., An der Grenze, 110–111. 47 Zu Mühlen, Wasserschöpfrädern und Stampfwerken: Gilomen, Wirtschaftsgeschichte, 17–18. 46

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

ihrem Vermögen – im Sinne von Können – Mehrwert produzierten. Deren Leben zu rekonstruieren, ist zwar schwierig, doch nur in Texten hinterlässt Armut wenig Spuren, Wirtschafts- und Materialhistoriker*innen erkennen vieles. Handwerkende Familien lebten und arbeiteten in Iuvavum nahe den noblen Vierteln und am rechten Salzachufer. Arbeiter in Rom verdienten – wenn sie Arbeit hatten – am Tag etwa vier Sesterzen = ein Denar, also etwa 300 Denare im Jahr. Daten für die norischen Städte mit vermutlich niedrigeren Löhnen fehlen. 48 Etwa sechzig Staatsfeiertage dienten als Ruhetage, Sonn-Tage für die Sonnengottheit kamen erst um 200 u. Z. hinzu. Zur Einschätzung des Lebensstandards – oder des Grads von Unterversorgung – sind die Löhne mit den Ausgaben für Nahrung, Kleidung und Unterkunft in Beziehung zu setzen. Einfache Menschen ernährten sich zu 80 Prozent von Mehlprodukten, Hülsenfrüchten und Öl. Sie konnten für eine Sesterze vier Pfund Brot erwerben, ein Huhn hätte drei, ein ganzes Schwein 1600 Sesterzen gekostet. Das monatliche Existenzminimum lag bei circa vierzig Sesterzen für eine Familie und etwa 65 Prozent der Bevölkerung des Imperiums lebte „zwischen Armut und Elend.“ 49 Netzwerke und Kreativität waren gefragt, um die vielen kleinen und manche großen Krisen zu bewältigen. Konkurrenzen oder Streitereien konnten Desaster bedeuten, unter Stress war kooperative Intelligenz nicht einfach zu erhalten. Die Wohn-Werkstätten waren wie zu keltischen Zeiten hölzerne Block- und Rutenwandbauten. Handwerker*innen versorgten die Bewohner*innen mit Nahrung und Kleidung, Bein- und Hornschnitzer*innen mit Messergriffen und Nähnadeln. In einem durch Hochwasser mit Lehm überdeckten und dadurch der Erinnerung erhaltenen iuvavischen Töpferbetrieb stellten die Arbeitenden Massenware her. Sie pressten Ton in Formen, entfernten diese nach der ersten Trocknung und brannten die Rohlinge: im Akkord täglich bis zu sechzig Schalen oder Teller. Sie waren qualifiziert; eine falsche Brenntemperatur hätte ihr Tagwerk in Ausschuss verwandelt. Bronzegießereien und eisenverarbei-

tende Betriebe, die Brenntemperaturen von 800 bis 1300 oC erreichten, lagen am westlichen Stadtrand. Wurden die für die Sauerstoffzufuhr notwendigen Blasebälge durch Familienmitglieder betrieben? Gerber und Färber wurden wegen ihrer geruchsintensiven Chemikalien ebenfalls auf Distanz gehalten. 50 Während ihres otium schufen die Einflussreichen Diskurse: Sie ordneten grobe, körperlich anstrengende Arbeiten, trepitalium (daher frz. travaille, span. trabajo, port. trabalho), als knechtisch und folglich „entehrend“ ein, Aufgabe für plebs, das heißt Sklaven und Unfreie. Diese trügen zur Gesellschaft nichts anderes bei, als Kinder, proles, zu zeugen – daher das spätere Etikett „Proletarier“. Für die Wohnhäuser der Diskurs-Schaffer formten Arbeiter*innen in Holzrahmen Lehm zu Ziegeln, trockneten sie in der Sonne und brannten sie, meißelten Quader in den Steinbrüchen und förderten weißen Marmor am Untersberg, roten in Adnet, transluzent-gelblichen am Schaidberg, kristallinen im Lungau. Wie haben sie selbst über sich gedacht? Ihre Hütten waren kärglich, Lichtöffnungen nur durch Holzläden verschlossen: Eine Kochgelegenheit in der Ecke, daneben ein Eimer als Abort für Küchen- und menschliche Abfälle. Die spärliche Ausstattung bestand aus einem Tisch, Hockern aus Ästen und einer Baumscheibe, Gestellen für Geschirr und Vorräte, einfachen Bettgestellen mit Matte oder Strohsack, Decken, Mänteln, Sandalen, Schuhen. Trinkwasser holten die Frauen aus Zisternen und Schöpfbrunnen und tauschten dabei vermutlich tagesaktuell wichtige Informationen aus. Kosten verursachende Öl- oder Talglampen gaben Dämmerlicht. Die Menschen konnten Sexualität und Zeugung durch Verhütungsmittel wie Schafsdarmkondome und Diaphragmen beeinflussen; Abtreibungen waren oft tödlich. Die Hälfte aller Babys starb im ersten Lebensjahr, die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen lag bei 35 Jahren. Nach der Geburt des dritten Kindes konnten sich freie, nach dem vierten Kind unfreie Frauen durch Petition an die römischen Behörden aus der UnterOrdnung unter einen Mann befreien lassen. Um

Hans Kloft, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, Mainz 2006; Werner Tietz, Hirten, Bauern, Götter. Eine Geschichte der römischen Landwirtschaft, München 2015; Knapp, Invisible Romans, 97–124. 49 Hutter, Iuvavum, 35–53; und Heger, Römische Zeit, 98–147, mit Hinweis auf einen Übungssteinblock eines Bildhauerlehrlings, Abb. 70. Römermuseum Flavia Solva und Wagna, Bridging Time, Wagna, o. J. 50 Von außerhalb des RR importierten Händler meist graue, auf Drehscheiben hergestellte „Föderatenkeramik“. 48

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Alltagsleben im keltisch-römischen Noricum

Abb. 4.13 Römischer Gutshof villa Loig (Rekonstruktion), Walz-Siezenheim In der Mitte das zentrale Wohnhaus, rechts Wirtschafts- und Wohngebäude für Personal, weiter entgegen dem Uhrzeigersinn: Badehaus, zwei Schuppen; linke obere Ecke: Räucherkammer, dann Wirtschaftsgebäude, Stall, Remise, Speicher.

Geburten zu fördern, ordnete Kaiser Claudius (41– 54 u. Z.) an, dass Frauen in Rom ab dem dritten Kind, in den Provinzen ab dem fünften Kind eine Art Kindergeld erhalten sollten. 51 Für die Fernstraßen, die oft entlang keltischer Wege verliefen, mussten auf der Route von Iuvavum nach Süden Legionäre und Sklaven das Terrain nivellieren und Steinblöcke heranschaffen. Sie verlegten 38.000 m2 Steinplatten mit einem Gesamtgewicht von etwa 84.000 t. Passhöhen erforderten eine komplexe Planung und anstrengende Terrassierung. Schnurgerade Straßen, oft als Vermessungsleistung bezeichnet, waren notwendig, denn Drehachsen waren noch nicht erfunden und die Zugtiere hätten Karren mit zusätzlichem Kraftaufwand durch Kurven schleifen müssen. Unternehmer*innen und andere Migrant*innen siedelten sich entlang der Straßen an. Legionen und Verwaltung nutzten Flussläufe für zügigen und kosten-

günstigen Transport, oft auf Flößen und über Donau und Inn mit Schiffsflotten. In gut nutzbaren Ebenen ließen UnternehmerFamilien von Unfreien villae rusticae als marktorientierte Großbetriebe anlegen, nicht weiter als 12– 15 km von der Stadt oder einem Legionslager entfernt, damit die von Ochsen gezogenen Karren mit Frischgemüse die Kund*innen in einem Tag erreichen konnten. Die Besitzer nutzten ihre auf Export und Militärversorgung basierende Finanzkraft für Import-basierten Luxus. Gutshöfe nahe Iuvavum erreichten eine Fläche von 180 x 100 m (Liefering); der Gutshof Loig war Zentrum weiträumiger Agrobusiness-Interessen und Ziel von Künstlern, die ihn reich mit Mosaiken ausstatteten. Mehrere hundert Männer und Frauen arbeiteten in der Landwirtschaft, in Werkstätten für Gebrauchsgegenstände und in der Bildhauerei. Manche Betriebe nutzten lokale Ressourcen wie etwa Lehm und saisonal zu-

Hutter, Iuvavum, 71–75; Thüry, Römisches Salzburg, 83–85, 165–191; Römisch-Germanisches Zentralmuseum: https://www2.rgzm.de/ transformation/home/FramesUK.cfm (8. Februar 2020).

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.14 Villae und Donaugrenzlager: Natürliche und anthropogene Topografie

wandernde Ziegelmacher*innen, um zusätzliche Einnahmen zu generieren. Über das Leben der etwa 37.000 Landbewohner*innen Noricums wissen wir nur wenig. In Jahren schlechter Ernten hatten sie oft nicht genug zu essen. Zusammen mit den ca. 3000 Arbeiter*innen der villae versorgten sie die etwa 7000 Bewohner*innen Iuvavums und eine insgesamt etwa gleich große Anzahl in Bedaium (Seebruck, Chiemsee), Pons Aeni (Westendorf, Inn), bei den Zollstationen am Inn und die Reichenhaller Salzwerkerund Immuriums Händlerfamilien sowie einen Teil der meist etwa 6000 Legionäre an der Donau. Die Region war marginal. Zum Vergleich: In der Hauptstadt von pannonia inferior, Aquincum an der Donau, und in der Handelsstadt Poetovia an der Drau

lebten um 200 u. Z. 30.000 bis 40.000 Einwohner*innen mit Mithras-Kultstätten und Weihestätten für Magna Mater und Nutrices (kaiserliche Ammen). Im Jahr 69 u. Z. riefen Legionäre in Poetovio Vespasian zum Kaiser aus, das Stadtrecht gewährte Kaiser Trajan (98–117). Unter Kaiser Hadrian erbauten die Legionäre eine Brücke über die Drau, die bis 1200 die einzige zwischen Villach und der Mündung in die Donau blieb. Ländliche Familien blieben, so wird vermutet, kulturell eher keltisch. Eine gradierte keltisch-romanische Kultur in ländlicher und urbaner Ausprägung entstand. Einheimische, die in die Zivilstädte nahe den großen Kastellen migrierten, interagierten besonders intensiv mit den vielkulturellen Legionären und, indirekt, dem Imperium. 52

Hutter, Iuvavum, 56–68, 109–124 passim; Felix Lang u. a., „Ein römischer Ziegeleibetrieb […] im Wirtschaftstrakt der villa rustica von NeumarktPfongau“, Salzburg Archiv 34 (2010), 25–40; ders., Stefan Traxler und Raimund Kastler (Hg.), Neue Forschungen zur ländlichen Besiedlung in NordwestNoricum, Salzburg 2017.

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Transmittelmeerisches Reich, 2. bis 5. Jahrhundert: Krisen, Neuerungen, Verschiebungen

4.5 Transmittelmeerisches Reich, 2. bis 5. Jahrhundert: Krisen, Neuerungen, Verschiebungen Die Bewohner Noricums und Pannoniens gehörten zu den fünfzig bis sechzig Millionen Menschen, über die eine imperiale Elite von etwa 100.000 Personen herrschte, darunter etwa 5000 Männer als zentrale Superelite und etwa 35.000 weitere in den 250 bis 300 größeren Provinzstädten. 53 Die Teilung der Armeen in Militärfamilien begünstigte unbeabsichtigt die Bildung von auf Generäle eingeschworenen militärischen Verbänden. Mit dem Ende der großen Eroberungen, das heißt der Plünderung des Mittelmeerraums und von Gallien bis Dacien (Provinz 106–271), begannen Verteilungskämpfe, denn die Mittel für Besoldung wurden knapp. Das Ausmaß der Lockerung zeigte sich, als im Jahr 193 u. Z. Truppen in Rom, Syria, Britannica und Pannonia je einen Kaiser ausriefen und Vielkulturalität die Reichsspitze erreichte. Septimius Severus (h. 193–211), in der Provinz Africa geboren und in Carnuntum zum Kaiser ausgerufen, setzte sich durch. Er sprach Phönizisch, Latein und das koiné-Griechisch, das aus den verschiedenen Dialekten entstanden war. War er „Römer“ oder Außenseiter? Er war verheiratet mit einer Frau aus seiner Heimatprovinz und, in zweiter Ehe, mit Julia Domna aus Emesa (Homs) in Syria, die den Sonnengott verehrte. Sie zog Intellektuelle und Gelehrte, Schriftsteller und Philosophen an den Hof. Die Chronisten dieser Zeit entstammten der imperialen Ökumene: Ägypten, Syrien, Palästina, Thrakien, Ravenna, Gallien, Iberien. 54 Reichsbewohner*innen konnten die Neuorientierungen beobachten, sich beteiligen oder Widerstand leisten. Im bereits nachrangigen, von den Schauplätzen der Expansion weit entfernten Rom setzte Kaiser Septimius ein Zeichen, indem er die in Italien rekrutierte Eliteeinheit der Prätorianer durch eine Legio II Parthica aus vielen, auch keltischen Reichsteilen ersetzte. Bereits G. Iulius Caesar hatte eine Verlegung der Hauptstadt nach Alexandrien angedacht: „Rom“ blickte nach Osten, niemals westwärts in die Richtung des abgelegenen Galliens. Dort würden erst spätere Eliten einen Bezug auf Rom konstruieren. 55

Während Kaiserin Julia Domna die Kultur Syriens – in der viele Religionen entstanden – reichsweit zur Geltung brachte, putschten sich in Italia nach 230 u. Z. in nur fünf Jahrzehnten 26 Männer in die Kaiserposition. Sie verlangsamten so die Wirtschaft, behinderten den Steuereinzug und die Versorgung und beendeten eine solide Geldwirtschaft. Res publica verschwand hinter „Privatem“ – das Verb privare bedeutete „berauben“. Ohnehin

Abb. 4.15 Familie von Septimius Severus und Julia Domna um 200 u. Z. (Ø 30,5 cm, Tempera) Im Vordergrund die Söhne Geta und Caracalla, Getas Gesicht in damnatio memoriae vermutlich nach seiner Ermordung durch Caracalla entfernt. Die drei Männer tragen edelsteingeschmückte Goldkränze und halten jeweils ein Zepter in der Hand.

hatte das „Staats“-Konzept nicht verhindert, dass Senatoren-Familien sich extrem bereicherten: „Die öffentlichen Haushalte verarmten, doch die privilegierte Oberschicht verfügte über ungeheuren Reichtum.“ Der aus Illyrien stammende Kaiser Diokletian 56 suchte das Riesenreich zu stabilisieren: Vier Kaiser mit Residenzen im westlichen Kleinasien (Nicomedia), Unterpannonien (Sirmium),

Knapp, Invisible Romans, 1–6, 217–225, 291. Chronisten des fränkischen Reiches um 800 würden ebenfalls aus dessen gesamtem Raum stammen. 55 Gallien und Iberien waren völlig ausgebeutet, die Gebiete nördlich der Alpen hatten wenig zu bieten, die Apennin-Halbinsel war landwirtschaftlich nicht selbstversorgend. 56 Aus der Donau-Morava-Region (etwa Serbien nach 2006) kamen im 3. und 4. Jahrhundert mehr als ein Dutzend römische Kaiser. 53

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Italien (Mailand 286–402, danach Ravenna) sowie Trier im Westen sollten sowohl eine einheitliche Gesetzgebung als auch schnelle Präsenz in Krisenzonen garantieren. Das Projekt scheiterte. 57 Nach Diokletians Tod setzte sich der ebenfalls in der Provinz geborene Konstantin (h. 306–337) gegen die Mit- und Konkurrenzkaiser durch. Er ließ Tausende Handwerker*innen von weit her kommen und in wenigen Jahren die griechische Kleinstadt Byzantion zur Groß- und Hauptstadt Constantinopolis, Stadt des Konstantin, ausbauen. Aus Italia, jetzt Abwanderungsregion, migrierten Senatorenebenso wie Kauf- und Künstler-Familien in das neue Zentrum. Roms christliche Kleriker verloren ihren Einfluss an den Kollegen in Mailand und, nachfolgend, Ravenna; hingegen residierte der Bischof-Patriarch in Konstantinopel nahe der Macht. Strukturell stand das geschwächte und sich ständig verformende Herrschaftsgebiet im Westen (bis ins 5. Jh.) dem potenten „Reich der Römer“ (griech. rhomaioi) im Osten gegenüber, das ein Jahrtausend länger bestand. An den Rändern des West-RR endete die Friedenszeit, die der Mehrzahl der dort Lebenden ohnehin nur bescheidene oder kärgliche Auskommen ermöglicht hatte. Sie wussten vermutlich nicht, dass bereits 260 Kaiser Valerian vernichtend von dem Perserkönig Shapur I. geschlagen worden war. Bekannt war ihnen, dass kleine bewaffnete Verbände jenseits der ripae (lat. Ufer) von Donau und Rhein vordrangen: linksdanubisch „Markomannen“ (im vormaligen Gebiet der „Boier“), „Rugier“, „Quaden“, „Heruler“, „Jazygen“, rechtsrheinisch „Alemannen“ und „Franken“. Epidemien schwächten das römische Heer und die Bevölkerungen ab 165. Markomannen drangen zwischen 165 und 180 in norische Gebiete vor, zerstörten 171 Iuvavum und verkauften wie zuvor die römischen Legionäre ihre Kriegsgefangenen, jetzt Provinzialrömer, in die Sklaverei. 58

Septimius Severus kannte die Region, denn er war Oberbefehlshaber der Donaulegionen gewesen, als ihn seine Soldaten zum Kaiser ausriefen. Er schickte zusätzliche Truppen und ließ ab 206 Iuvavum wiederaufbauen. Dies schuf Arbeitsplätze und verbesserte die Lage der auf etwa 5000 Menschen gesunkenen Bevölkerung. Er ließ das Straßennetz verbessern und Händler profitierten von der verkürzten Verbindung nach Aquileia. Doch schon wenige Jahrzehnte später mussten die Menschen ihr Alltagsleben und ihre Produktionsformen vereinfachen oder abwandern. Die Klimakrise führte zu Missernten, wirtschaftlicher Stagnation und Bevölkerungsrückgang. 59 Stärker als die Razzien der Beutetrupps aus dem Norden bedrohte die Dauerkrise im Süden die Lebensweisen zwischen Donau und Alpen. Kaiser Diokletian, der die Provinz in Ufernoricum (Noricum ripense) zwischen Donau und Tauern und Binnennoricum (Noricum mediterraneum) zwischen Tauern und Karawanken geteilt hatte, hatte mit seiner „Steuerreform“ die unteren Schichten stark belastet und Provinzgouverneure erhöhten die Steuern weiter. Die Männer und Frauen Noricums wehrten sich 430/31. Ihren Hilfeschrei, „Aufstand“ in Eliten- und Historikersprache, ließen die römischen Noch-Herrscher niederschlagen. Menschen in vielen Randzonen wehrten sich: Im Ebrotal und im mittleren und nördlichen Gallien als bagaudae (von kelt. baga, „Kampf“) bezeichnete Landbewohner*innen (rustici); vorher in Nordafrika die als circumcellions (wohl von circum cellas, „um die Vorratshäuser streunend“) bezeichneten Agonistiker, eine Gruppe, die sozialen mit religiösem Protest verband. Der weit gereiste Salvian (um 400–um 475) sah den Grund der Unruhen in der Ausplünderung der unteren durch die oberen Schichten und, als Christ, in den durch die Zirkusspiele symbolisierten „Sünden“ aller Klassen. 60

Herwig Wolfram, Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung, Wien 1987, 23–25, Zitat 27. Ralph W. Mathisen hebt die Entstehung lokaler Zugehörigkeiten in dieser Periode hervor, „Natio, Gens, Provincialis, and Civis: Geographical Terminology and Personal Identity in Late Antiquity“, in: Geoffrey Greatrex und Hugh Elton (Hg.), Shifting Genres in Late Antiquity, Aldershot 2015, 277–286. 59 Eine Schlechtwetterperiode, 535 bis 560, wird mit dem vermuteten Ausbruch eines Vulkans in Südostasien in Verbindung gebracht. 60 Gebara da Silva, „Back in Black: Property, Power and Rural Rebellions in Late Antiquity“, unveröff. Vortrag, International Late Antiquity Network, 2014. 57

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Reichswirren, Großverbände, Verödungen: Die Krisenzeiten des 3. bis 5. Jahrhunderts

Abb. 4.16 Identifikationsverbände und Wanderungen, 4.–5. Jh.

4.6 Reichswirren, Großverbände, Verödungen: Die Krisenzeiten des 3. bis 5. Jahrhunderts Im 5. Jahrhundert verlor der Donau-limes seine Funktion, die Legionäre erhielten Sold nur noch unregelmäßig. Unter den nördlich des Flusses Lebenden regten die Berichte und die Beute Zurückkehrender Migrationen nach Süden an. Keltische Romanen des Südufers besuchten die Wochenmärkte germanisch-sprachiger Händler*innen am Nordufer und dort adaptierten Rugier römische Wohnformen und lieferten Sklav*innen. Männer beider Seiten verdingten sich als Zeitarbeiter in Heeren. Zwei Entwicklungen, zwischen Nordsee und Weichsel sowie zwischen Zentralasien und dem Chinesischen Reich, veränderten das transkontinentale Machtgefüge und norische Lebenswelten. Dem Klimaoptimum, während dessen das RR seine größte Ausdehnung erreicht hatte, folgte ein Pessimum (regional unterschiedlich bis etwa 750). Vermutlich aus diesem Grund setzten sich südlich der 61

Ostsee Gefolgschaften, farae, unter Militärführern, duces, in Bewegung. Einige schufen sich eigene Traditionserzählungen, anderen gaben die Römer Namen: „Langobarden“ aus der Elbregion, „Sueben“ oder „Quaden“ aus dem Quellgebiet der Elbe, „Vandalen“ von Oder- und Warthe-Gebiet, „Burgunder“ aus der Weichsel- und „Goten“ aus der WeichselNemunas-Region. Die Wanderverbände bewegten sich südwärts, die Goten zunächst ostwärts. Sie rekonstituierten sich über Entfernungen und Generationen in immer neuen Zusammensetzungen, duces-Familien mit bewaffnetem Gefolge formten namensgebende Traditionskerne. Als die RR-Legionen Britannica verließen, drangen von der Nordseeküste später als „Sachsen“, 61 „Angeln“ und „Dänen“ bezeichnete Verbände dorthin vor, in die relativ autonom gewordene Provinz Gallia kleine, als „Franken“ zusammengefasste Kriegerverbände. Diese Bewegungen sind, völlig falsch, als Völker-

Einzelne oder Kleinverbände hatten die Region als römische Söldner kennengelernt.

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.17 Herrschaftsbereiche vom Atlantik bis zum Pazifik Die traditionellen Benennungen, zum Beispiel „Burgunder“, müssten korrekt „variabler burgundischer Identifikationsverband mit flexibler Traditionselite“ lauten und Wanderungsrichtungen müssten die vielen Verästelungen, Umwege, spezifischen Routen mit spezifischen, in Mitleidenschaft gezogenen Ansässigen zeigen. Dies würde die grafische Darstellung unlesbar machen.

wanderungen bezeichnet worden. 62 Die mobilen Tradition-tragenden Eliten glichen den RR-Thronprätendenten: Bewaffnete bildeten immer neue temporäre oder gar ephemere Zusammenschlüsse. Sie verließen klimatisch oder nachbarschaftlich unsicher werdende Regionen und erzwangen sich entlang ihrer Wege Teilhabe an der – oft knappen – Nahrung der Ansässigen. Von diesen, ihres Auskommens beraubt, schlossen viele sich den Wandertrupps an und ebenso „römische Deserteure, entflohene Sklaven, Abenteurer und Menschen, die sich als nun ‚germanische‘ Krieger einfach mehr Chancen erwarteten als in ihrer vorherigen sozialen Umgebung.“ Gruppen kontrahierten und expandierten, lösten sich auf, wurden assimiliert, vermischten sich, nahmen neue Namen an. Wenn ephemere Zusammenschlüsse in langfristige Kon-

glomerate übergingen, ist dies als „Ethnogenese“ bezeichnet worden, doch es handelte sich nicht um eine Genese von „Völkern“, sondern von Bezugsgruppen. 63 In weiter Ferne sahen sich andere Menschen durch das Chinesische Imperium bedroht und beschlossen, zügig westwärts zu ziehen. Aus den Ebenen des Flusses Syrdarja östlich des Aralsees wanderten weitere ab. Ansässige vom Aralsee bis zum Schwarzen Meer sahen sich ihrerseits durch diese als „Awaren“, „Alanen“ und „Hunnen“ etikettierten Menschen sowie durch die am unteren DnjestrFluss ankommenden „Goten“ bedroht. Als Beispiel für Bewegungen, Herrschaft und Askriptionen kann der als „Westhunnen“ 64 benannte, polyethnische Verband dienen, der sich durch hohe Flexibilität und militärisches Können aus-

Der Begriff geht vermutlich auf Wolfgang Laz (1514–1565) zurück, der in De gentium aliquot migrationibus sedibus fixis (1557) antike gotischgermanische Migrationen von Iberien bis zum Schwarzen Meer als Basis der Habsburgischen Herrschaft über die Gesamtregion konstruierte. Der Kaiser adelte Laz zu „von Lazius“. 63 Steinacher, „Ethnogenese“, 88 (Zitat); Peter Heather, Goths and Romans, 332–489, Oxford 1991; Herwig Wolfram, History of the Goths, Berkeley 1988; und ders., „Ethnogenesen im frühmittelalterlichen Donau- und Ostalpenraum (6.–10. Jahrhundert)“, in: ders., Salzburg, Bayern, Österreich: Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit, Wien 1995, 15–67, zu Pannonien 68–71. 62

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Reichswirren, Großverbände, Verödungen: Die Krisenzeiten des 3. bis 5. Jahrhunderts

zeichnete. Die kürzer oder länger Zugehörigen migrierten um 420 in die östliche pannonische Ebene, leisteten den Resten des West-RR Militärhilfe und ließen sich um 430 in der Alföld-Ebene bis zur Theiß/Tisza nieder, denn Kaiser Theodosius II. hatte ihnen die Provinz Pannonia secunda abtreten müssen. Dort Lebende sarmatischer und germanischer Dialekte gliederten sich ein oder mussten dies tun. Den in Noricum Lebenden wurden die fernen Unbekannten unerwartete Nachbarn. Am Hof der „Könige“ lebten Kaufleute, Militärs und Berater aus allen angrenzenden Herrschaften und kommunizierten vermutlich in hunnischen Dialekten sowie auf Griechisch und Latein. Attila (h. 445–453) verbündete sich mit dem im römischen Elitenkonkurrenzkampf aktiven Heerführer Aetius und plante anschließend, diesen niederzuwerfen. Er besetzte im Jahr 452 Aquileia und belagerte oberitalische Städte. 453 zog sein Heer durch Ufernoricum in Richtung Merowingia, wurde jedoch östlich von Paris besiegt. Attila starb plötzlich, der Militärverband gepidischer, thüringischer, rugischer und herulischer, ostrogotischer und alanischer sowie burgundischer Familien zerfiel. Lateineuropäische Propagandisten des 19. Jahrhunderts würden „Hunnen“ – wie „Vandalen“ – zum Inbegriff von Gewalt stilisieren und die „Schlacht auf den Katalaunischen Feldern“ zum Sieg Europas, das heißt Westeuropas, über Ostvölker. Überlebenden in Durchzugsgebieten blieb der Eindruck von Zerstörung und Tod während der nur drei Jahrzehnte kurzen hunnischen Herrschaft. 65 Angesichts der großräumlichen Unsicherheiten entschieden sich die nun in Konstantinopel ansässigen römisch-imperialen Eliten für Lohndumping und banden – wie sie glaubten – einzelne Wanderverbände samt Frauen und Kindern als „Föderaten“ in ihre Strategien ein. Diese lebten nach ihren eigenen Gewohnheiten, ernährten sich durch Berauben der Bevölkerungen am Wegesrand und bewegten sich auf eigene Faust. Sie strebten seit dem 3./4. Jahrhundert die Umwandlung ihres Minderstatus in Teilhabe am Wohlstand an. In Reaktion begann das imperiale Zentrum Planspiele, zum Beispiel die

Ansiedlung der Visigoten in Kärnten. Vandalen und Alanen, denen die Entscheidungen der RRFührung gleichgültig waren, hielten sich bereits in norischen und raetischen Gebieten auf. Anführer ließen sich für Änderungen der Wanderungsrichtung und für Dienstleistungen Getreidelieferungen zusagen, die RR-Anführer den lokal Ansässigen aufbürdeten. Demobilisierte oder sich selbst demobilisierende föderierte Soldaten-Familien ließen sich nieder, ohne Ansässige zu fragen. Bei Bedarf remobilisierte das RR sie und etikettierte sie im Verwaltungsverfahren als ethno-soziale Gruppen. Mobile Verbände hatten eigene, aber nicht lokal angepasste funds of knowledge und Fähigkeiten. Als teilromanisierte Nachfahren der Ostseerand-Bewohner*innen bildeten sie in Aufenthalts- oder Ansiedlungsgebieten für wenige Jahrzehnte oder ein bis zwei Jahrhunderte regnae, die nicht „Germanenreiche“ waren, da Germanisch Sprechende nur etwa zwei bis fünf Prozent der jeweiligen Bevölkerungen ausmachten. Die Dauer ihrer Herrschaften hing von den Beziehungen zu den Ansässigen ab: militärische Repression oder konsensuales connubium. Auf der Apennin-Halbinsel bezogen stadtrömische Thronprätendenten zuwandernde Visigoten 66 in ihre Machtkämpfe und Intrigen ein. Deren Herrscher Alarich suchte Siedlungsland und Macht. Er verhandelte um die beiden Norica und begann, als Faustpfand, Rom zu belagern. Die Stadtelite trickste und er ließ im Jahr 410 seine Truppen einmarschieren, um Machtsymbole zu zerstören und Staatsschätze zu kassieren. Die Soldaten, die statt Sold nur Versprechungen auf Beute erhielten, nahmen sehr viel mehr. Viele Römer*innen kamen um, viele flüchteten und die Zahl der Bewohner*innen sank von 800.000 in imperialen Zeiten auf 50.000, vielleicht sogar auf 20.000 oder weniger. In dem Durcheinander übernahm im Jahr 476 Odoaker, Offizier der Leibwache eines der temporären Kaiser-Usurpatoren in Ravenna, die Herrschaft in Italien. Seine Familie war Teil der Militäraristokratie, die überwiegend aus Männern mit Migrationshintergrund bestand. Vermutlich in Thüringen

Englisch: „Black Huns“; die sogenannten „White Huns“ wandten sich südwärts und zerstörten das Gupta-Reich, eines der drei Großmächte in Indien. 65 Hans-Werner Goetz, Europa im frühen Mittelalter, Stuttgart 2003, 34–48; Walter Pohl, „Rome and the Barbarians in the Fifth Century“, Antiquité Tardive 16 (2008), 93–101; Mischa Meier, Der Völkerwanderung ins Auge blicken. Individuelle Handlungsspielräume im 5. Jahrhundert n. Chr., Heidelberg 2016; Geary, Europäische Völker; Biró u. a., An der Grenze, 115–120. 66 „West-“ und „Ost“- Goten sind irreführende Übersetzungen der schmückenden Beinamen „visi“ und „ostro“ in ihren Selbstbezeichnungen. 64

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geboren, war er am Hof Attilas aufgewachsen und christlicher Überzeugung in arianischer Variante. Er strebte Kontinuität an und bezeichnete sich als Statthalter, patricius, des Kaisers in Konstantinopel. 67 Roms Plünderung und Odoakers Herrschaft stilisierten spätere Ideologen zum „Fall“ Roms, der britisch-imperiale Historiker Edward Gibbon (1737– 1794) gar als „the greatest, and perhaps most awful scene in the history of mankind“. Sie verwechselten die Stadt Rom mit dem Reich. „It is remarkable how little the cataclysm of Rome’s fall in the West affected the millennial association of women and cloth making“, kommentierte David Herlihy. 68 Ein weiterer Machtwechsel folgte im Jahr 493. Der in Pannonien geborene und in Konstantinopel aufgewachsene, als „Ostgote“ etikettierte Kosmopolit Theoderich (493–526) erreichte 490/491 mit etwa 20.000 Bewaffneten und deren Familien die Apennin-Halbinsel. Er ermordete Odoaker, übernahm die Herrschaft und siedelte seine Wandergenoss*innen angeblich ohne Widerstand und Enteignungen an. Vielleicht lagen Teile der Ländereien nach den Thron- und Abwanderungswirren brach. Der Reichsteil, unter verwandtschaftlich gestützter Vorherrschaft des Kaisers in Konstantinopel 69 und später als „Ost(ro)gotenreich“ etikettiert, schloss erneut den Rhône-Raum, Raetia, Noricum, Pannonien und Dalmatien ein. Ob die Menschen in Noricum von Alarichs Plan, ihre Region zu übernehmen, hörten, wissen wir nicht. Sie hörten von Odoaker, denn er ordnete 488 den Abzug der Legionen aus Noricum an. Unter Theoderich erlebten sie Friedensjahrzehnte, aber auch wirtschaftliche Kontraktion. Angesichts der Kosten der reichsweiten Probleme belasteten Präfekten die Menschen so brutal mit Steuern, dass viele flüchteten oder verelendeten. Die Zahl der Bewohner*innen in Noricum und Pannonia superior sank rapide. Die etwa 40.000 zivilen Bewohner*innen und die Legionäre Carnuntums hatte bereits

um 350/360 ein schweres Erdbeben getroffen, um 370 galt es als „trauriger, verwahrloster Ort“. Etwas später hatte Pettau an der Drau seine Rolle verloren (s. Kap. 8.2), Sabaria war in Teilen verfallen. Legionäre zogen zu neuen Standorten, Teile der Bevölkerung wurden umgesiedelt. Aus eigenem Willen Abwandernde gingen oft nur in eine nahe Stadt, denn das italische Reichs-Segment galt als unsicher. Proaktive Migrant*innen transferierten Ressourcen, reaktiv Fliehende wurden verarmte Flüchtlinge. Identifikationsverbände verschoben ihre Aufenthalts-, Herrschafts- und Siedlungsgebiete ohne Unterbrechung. Massenflucht entleerte große Gebiete, Familien aller Schichten wurden ausgeraubt, Städte verwüstet, Felder blieben unbeackert, Eliten verschwanden. Die Spiritualität lokaler Christen litt, wenn fliehende Bischöfe Reliquien mitnahmen. Die Transitwanderungen föderierter Großverbände im 5./6. Jahrhundert bedeuteten steigende Kindersterblichkeit, Hunger und geringeres Sozialkapital, das heißt schrumpfende Netzwerke bei wachsenden Unsicherheiten. Die baltischen Rugier, arianische Christen, die zwischen Enns und Wienerwald mit den dezimierten Legionen Handel getrieben hatten, zogen ab. Theoderich befahl um 507 Noricums Bewohner*innen, „ihre kleineren, aber leistungsstarken Rinder den Alemannen für den Weitermarsch zu überlassen und dafür deren größeres (derzeit erschöpftes) Vieh zum Nutzen des eigenen Ackerbaus zu übernehmen.“ Die Mehrheit der Ansässigen hatte weder Mittel für Abwanderung noch Zielorte. Imperium und Familieneinkommen kontrahierten gemeinsam. 70 Einer der baltisch-vielkulturellen Großverbände siedelte um 520 in Pannonien, zu dem das Wiener und das Horner Becken gehörten. Die später als „langobardisch“ bezeichneten Krieger konkurrierten vermutlich mit aus Schwarzmeer-Regionen heranziehenden germanisch-sprachigen Herulern, alliierten sich 552 mit einem oströmischen Heerfüh-

Sam Moorhead und David Stuttard, AD 410. The Year that Shook Rome, London 2010, 110. Walter Pohl, „Die Anfänge des Mittelalters: Alte Probleme, neue Perspektiven“, in: Hans-Werner Goetz und Jörg Jarnut (Hg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, München 2003, 361–378, Zitat Gibbon 362. David Herlihy, Opera Muliebria. Women and Work in Medieval Europe, Philadelphia 1990, 34. Historiker (er-) fanden 210 Gründe für den Niedergang West-Roms. 69 Martina Hartmann, Die Königin im frühen Mittelalter, Stuttgart 2009, 140, 154–155. 70 Ulrich Bentzien, Bauernarbeit im Feudalismus, Berlin 1980, Zitat 49; Wolfram, Geburt Mitteleuropas, 27–81, beschreibt die vielfältigen Herrschaftswechsel, die Züge von ethnisch benannten föderierten Trupps und die territorialen Aneignungen von Machthabern mit ihren Netzwerken und (innerfamiliären) Konkurrenten. Friedrich Lotter, Rajko Bratož und Helmut Castritius, Völkerverschiebungen im Ostalpen-Mitteldonau-Raum zwischen Antike und Mittelalter (375–600), Berlin 2012, 156–192. 67

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Keltisch-romanische Überlebende und bayerisch- sowie slawisch-sprachige Zuwander*innen

rer gegen weströmisch-ostrogotische Herrscher und lernten dabei die Ressourcen Oberitaliens kennen. Sie beendeten gemeinsam mit den über die Karpaten heranziehenden „Awaren“ die Herrschaft der sowohl föderiert wie eigenständig handelnden ostgermanisch-sprachigen Gepiden (4. Jh.–567). Doch angesichts des abkühlenden Klimas überließen sie 568 ihre temporäre Basis Awaren-Khaganen und wanderten, ohne dies mit Konstantinopel abzusprechen, nach Norditalien. Ihnen schlossen sich unter Bedrohungsszenarien wie unter Zukunftsperspektiven Menschen pannonischer und norischer ebenso wie suebischer, sarmatischer, bulgarischer, herulischer, gepidischer, thüringischer und sächsischer Alltagsbräuche an. Den Weg eines Individuums haben Archäolog*innen nachvollziehen können: Eine Frau, die in Mähren oder Böhmen aufwuchs, schloss sich dem Wanderverband an, gebar in Oberitalien zwei Kinder und zog mit ihnen und einem germanisch-sprachigen, offenbar einflussreichen Mann in eine Siedlung, die ein Jahrtausend später Dortmund genannt werden würde. 71 Wer aus Pannonien abzog, wurde (germanische*r) Langobard*in; wer blieb, wurde Slaw*in oder Awar*in. So einfach und doch komplex kann Ethnogenese sein. In Oberitalien stellten sich ortsfeste Produzent*innen schnell auf die Ankunft der Neuen Menschen ein: Töpferbetriebe nahmen deren einfaches und funktionales Geschirr in ihre technisch weiter entwickelte Produktpalette auf; langobardische Steinmetze und Künstler verbanden Stile

und schufen in Cividale eine „romanische“ Kirche mit beeindruckenden lebensgroßen Statuen. Die Langobarden romanisierten sich schnell und blieben unverändert aggressiv. Im 8. Jahrhundert würde ein stadtrömischer Bischof als „Papst“ um karolingische Hilfe gegen sie ersuchen (s. Kap. 6.2), im 8. und im 12. Jahrhundert Salzburger Bischöfe von dort Steinmetze rufen (s. Kap. 8.6). 72 Die Awaren, vormals polyethnische Alliierte persischer Schahs, bildeten eine migratorische Oberschicht, der sich Gepiden, Bulgaren, Kutriguren (berittene Nomaden) und vor allem Slawen anschlossen. Wie im Westen römisch-gallische Magnaten, erzwangen die Khagane von den Ansässigen Abgaben und beabsichtigten, dies auch gegenüber RR-Konstantinopel und Agilolfing-Bayern durchzusetzen (s. u. Kap. 4.8). Herrscher in Rom-Konstantinopel zahlten zeitweise Tribute, darunter Schmuck, gefertigt von hauptstädtischen Handwerker*innen nach dem Geschmack der Khagane. Diese handelten auch mit Bayern, Alemannen und Gallier-Franziern, verloren aber angesichts von Streitigkeiten zwischen Herrscherfamilien nach nur sechs Jahrzehnten ihre Macht. 73 Die lang andauernde kältere und feuchtere Phase bedeutete sinkende Überlebenschancen. Die Temperaturen fielen im Durchschnitt um 1,5 Grad, Niederschläge stiegen um etwa 20 Prozent. Überlebende Bewohner*innen Iuvavums zogen sich auf die Nonnberg-Hochterrasse zurück, die Noriker*innen insgesamt waren, buchstäblich, ruiniert. 74

4.7 Keltisch-romanische Überlebende und bayerisch- sowie slawisch-sprachige Zuwander*innen Der Fokus auf große Wanderungen und ephemere germanische regnae verdeckt Sesshaftigkeit ebenso wie Prozesse von Siedlungswanderung. Die Fruchtbarkeit der Voralpenregion und mancher Alpentäler war attraktiv. Dort siedelten überlebende keltisch-romanische Menschen – meist nur Romanen genannt – und ab Mitte des 6. Jahrhunderts wan-

derten aus der Donauregion Germanisch und aus Südosten Slawisch sprechende Menschen ein. Sie ahnten nicht, dass awarische ebenso wie merowingische Herrscher Interesse an ihrem Tributpotenzial hatten. Die Herkunft der germanisch-sprachigen Neusiedler*innen wird intensiv debattiert. Vorfahren,

Museum für Kunst- und Kulturgeschichte, Dortmund (Stand Mai 2019). Karin Priester, Geschichte der Langobarden: Gesellschaft, Kultur, Alltagsleben, Darmstadt 2004. 73 Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa, 567–822 n. Chr., München 2002; Peter Štih, The Middle Ages between the Eastern Alps and the Northern Adriatic, aus dem Slowenischen von France Smrke, Leiden 2010, 97–98; Anatoly M. Khazanov, „Pastoral Nomadic Migrations and Conquests“, in: Benjamin Z. Kedar und Merry E. Wiesner-Hanks (Hg.), Expanding Webs of Exchange and Conflict, 500 CE–1500 CE, Cambridge 2015, 359–382. 74 Hutter, Iuvavum, 56–68. 71

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Abb. 4.18 Bayerische, slawische, langobardische Sprachkultur-Regionen 7./8. Jh.

vielleicht von der mittleren Elbe gekommen, hatten als foederati die Grenzverteidigung entlang der Donau von Raetia bis Böhmen übernommen. So besaßen sie – wörtlich – die Kastelle, als das Imperium schrumpfte. In einem der vielen Identifika110

tions-Genesen mit romanischen, alemannischen, langobardischen, ostrogotischen, thüringischen und anderen Familien und Teilgruppen entstanden Baiuwaren/Boier/Baiern. Andere Forscher sehen in der Gruppe einen bereits in keltischer Zeit be-

Keltisch-romanische Überlebende und bayerisch- sowie slawisch-sprachige Zuwander*innen

stehenden Verband. DNA-Analysen zeigen Ähnlichkeiten mit Steppen- und südsibirischen Gruppen einerseits und nordafrikanisch-griechisch-italischen andererseits. 75 Da die Genese in der Zeit ostrogotischer Herrschaft erfolgte, verehrten sie vermutlich den christlichen Gott. Sie siedelten zwischen den Flüssen Lech im Westen und Enns im Osten und zwischen Böhmerwald und Alpen, vermischten sich mit ansässigen Romanisch-Kulturellen und besiedelten die voralpinen Hügel westlich der Salzach und im fruchtbaren Becken der Saalach. Westlich davon bildeten ansässige Alpenromanen und heranziehende Alemannen einen gemeinsamen Herrschaftsraum. 76 Die Slawisch Sprechenden kamen vermutlich aus dem Gebiet zwischen Pripjat und Dnepr. Ihr Name sclavenes mag oströmische Namensgebung gewesen sein; russische Sprachhistoriker diskutieren jedoch seine Ableitung von russisch slowo (Wort), „Sprechende“ im Gegensatz zu nemcy, den Stummen (d. h. Deutschen). 77 Viele wanderten west- und südwestwärts und siedelten von der Ostsee bis zum Peloponnes. Bis zur Trave im Norden und Enns im Süden hatten sie nur etwa zwölfhundert Kilometer zurückgelegt. Zum Vergleich: Die Route zwischen Salzburg und Rom, die Kleriker von Rang oft mehrfach in ihrem Leben zurücklegten, betrug mehr als 850 km, mit Rückreise 1700 km. Im Peloponnes, nach einer Pest nur dünn besiedelt, nutzten die Zuwander*innen kleinere hügelige und gebirgige Regionen, zogen widerstandsfähige Getreidesorten und entwickelten passende Geräte. Nachkommen erreichten das heutige Kärnten, die Steiermark sowie Lungau und Pongau um 600. In den Tälern zwischen Tauern/Karawanken und dem Fluss Mur im Süden lebten neben den

Abb. 4.19 Alpenslawische Ortsnamen im mittleren und östlichen Österreich In den slawisch-kulturellen Ansiedlungsregionen hatten in vorkeltischer Zeit illyrisch-kulturelle Menschen bis zur Salzach und entlang von Drau und Mur gesiedelt, in den westlichen bayerisch-kulturellen raetisch-kulturelle Menschen.

meist christlichen Romanen Kroaten, Duleber 78 und, vermutlich, awarisch-, bulgarisch- und germanisch-sprachige Familien. Sie wuchsen über Generationen zur gens Sclavorum zusammen. Deren westliche Carantani lebten nach Abzug der Langobarden unter einer – vielleicht turksprachigen – awarischen Oberschicht. Vordringende bulgarische Herrscher trennten im 7. Jahrhundert diese südslawische von der nördlich siedelnden westslawischen Sprachgruppe. Als die awarischen Herrscher nach verlustreichen Angriffen auf das RR – Niederlage vor Konstantinopel 626 – ihren Einfluss verloren, bildeten die vermutlich etwa 20.000 „Alpenslawen“ oder Eliten unter ihnen die Herrschaft Karantanien (Steiermark und Slowenien). 79

Bajuwaren sind, da die dritte Silbe auf „vir“ (lat.) und „wer“ (indoeurop.) deutet, „Männer aus Böhmen“. Eine alternative Interpretation deutet „wueren“ als indoeurop. „wohnen“ oder „abwehren“. Die y-Schreibung „Bayern“ ist eine philhellenistische Konstruktion König Ludwigs I. (h. 1825– 1848). Abstammungslegenden des „Stammes“ im 12. Jahrhundert führten ihre Herkunft bis nach Armenien zurück. Zur Kritik Jochen Haberstroh, Ludwig Rübekeil und Alheydis Plassmann in: Fehr und Heitmeier, Anfänge Bayerns; und Hubert Fehr, „Am Anfang war das Volk? Die Entstehung der bajuwarischen Identität“, in: Walter Pohl und Mathias Mehofer (Hg.), Archäologie der Identität, Wien 2010, 211–231; zusammenfassend Roman Deutinger, „Das Zeitalter der Agilolfinger“, in: Alois Schmid (Hg.), Das alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter, München 2017, 124–212, hier 125–144. 76 Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 38–39. Bernd Schneidmüller, „Die mittelalterlichen Destillationen Europas aus der Welt“, in: Lohse und Scheller, Europa in der Welt des Mittelalters, 11–32. 77 Florin Curta, „The Making of the Slavs Revisited“, in: J. Repič, A. Bartulović und K. Sajovec Altshul (Hg.), MESS and RAMSES II, Mediterranean Ethnological Summer School, Ljubljana 2008, 277–307. Den Raum erklärten großdeutsche Volkstumsplaner, unter ihnen der Rektor der Universität Wien Oswald Menghin, zu einem germanisch zu kolonialisierenden Territorium (Geist und Blut: Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum, 1933). Zur Kritik David Blackbourne, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2008, bes. Kapitel 5: „Rasse und Bodengewinnung“, 307–376. 78 Einer der mythischen, ursprünglich zwölf Stämme der Slawen. 79 Peter Štih, „Von der Urgeschichte bis zum Ende des Mittelalters“, in: ders., Vasko Simoniti und Peter Vodopivec, Slowenische Geschichte. Gesell75

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Identifikationsverbände und ihre Migrationen bis zum 7. Jahrhundert u. Z.

Von Pannonien bis Illyrien im Osten und Noricum im Westen entwickelten die zum Teil christlichen keltisch- und illyrisch-romanischen Familien sowie die bayerischen und slawischen ihr Zusammenleben. Familien jüdischen Glaubens waren Teil der geschrumpften Gemeinschaften. In Bezug auf Bodenqualität und Witterung hatten Eingesessene einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung, alle lernten voneinander. Jahrhunderte später, 1637, würde René Descartes in seiner oft als wegweisend zitierten „Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen“ argumentieren, dass durch Beobachtung erworbenes, nützliches Wissen angewendet werden könne, um Prozesse der Natur zu beeinflussen. Dies hatten Menschen ohne Schrift seit Jahrtausenden getan. Im vormals binnennorischen Gebiet siedelten Slawisch Sprechende westlich bis ins Pustertal

(Süd-Tirol) und Bayerisch Sprechende über Pass Lueg bis in die Alpentäler. Aus dieser Kohabitation – erweitert durch Nachkommen der zugewanderten Elbgermanen, Ostrogoten und Langobarden – entstanden eine polyglotte Kultur und pluralistische Gesellschaft. Während das Romanische, von Flur-, Fluss- und Ortsnamen abgesehen (Walachei, Strasswalchen, Wals, Seewalchen u. a. m.), bis zum 16. Jahrhundert aus der Sprache verschwand, 80 entwickelten sich „zunächst das Alpenslawische (Altslowenische) einerseits und andererseits etwas später das (germanische) Bairische als Landessprachen“. Die Kommunikationsgemeinschaft verband bayerisches und slowenisches Vokabular. Slawen und Bayern lebten von der Landwirtschaft, Romanen oft in den geschrumpften vormaligen Städten und im Gebirge. 81

4.8 Macht über Menschen: Zuwandernde Militärführer etablieren „Grundherrschaft“ 82 In Noricum und Pannonien beendete der Abzug der Verwalter und Legionäre des RR – anders als im Konstantinopel-römischen Illyrien und im Rom-römischen Gallien – die organisatorische Kontinuität. Bedeutete diese Phase geringerer Herrschaft größere Autonomie für ländliche Familien? Sie besaßen keine Zugtiere und verwendeten nur hölzerne Geräte, denn eiserne waren durch Abnutzung unbrauchbar oder von durchziehenden Gefolgschaften requiriert worden. Frauen bearbeiteten den Boden mit den Händen, communities verloren ihren Zusammenhalt, Übriggebliebene wanderten zu noch funktionsfähigen Gemeinschaften. 83 Wie hunnische und gotische Gefolgschaften aus dem Osten zogen fränkische aus dem Westen heran und annektierten 536 die romanisch-christlichen

post-Noriker*innen. 84 Ein vor Gefolge oder einem Heer ziehender „Her-zog“ namens Garibald (540– 591) eignete sich die obere Donauregion samt ansässigen Romanen, Bayern und Slawen an. Sie waren Freie und Freigelassene, unterschichtet durch hörige Knechte und Mägde. Garibald, warlord mit Führungsenergie, stammte nach Erzählungen aus einer sich „Agilolfinger“ nennenden Magnaten-Familie, die großen Landbesitz und Einfluss in Francia-Merowingia besaß. Garibald wählte das vormalige castra regina (Regensburg) als Herrschaftszentrum. Der Familienzweig setzte sich fest und blieb doch mobil: Garibald und die langobardische Walderada, Witwe eines Frankenkönigs, heirateten; ihre Tochter Theodelinde (um 570–627) ehelichte in Oberitalien den langobardischen Kö-

schaft – Politik – Kultur, Graz 2008, 14–118; und Štih, Middle Ages, 97, 173–174; Joachim Henning, „Untersuchungen zur Entwicklung der Landwirtschaft in Südosteuropa im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter“, Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 25 (1984), 123–130; Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 35–38. 80 Ausnahmen bilden das Ladinische in Südtirol und das Rätoromanische in Graubünden. 81 H. D. Pohl, „Slawische und slowenische (alpenslawische) Ortsnamen in Österreich“, http://wwwg.uni-klu.ac.at/spw/oenf/name1.htm (Graz 2002) (7. September 2020), Zitat; Ernst Schwarz, „Baiern und Walchen“, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 33 (1970), 857–938; Maria Hornung (Hg.), Aus dem Namengut Mitteleuropas. Kulturberührungen im deutsch-romanisch-slawobaltischen Sprachraum, Klagenfurt/Celovec 1972. 82 Herwig Wolfram, „Die Zeit der Agilolfinger. Rupert und Vergil“, in: Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs: Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.1:121–156; und Deutinger, „Agilolfinger“, 145–162. 83 Erzabbau war seit dem 2. Jahrhundert rückläufig und kam im 5. Jahrhundert im Westen weitgehend zum Erliegen. 84 Kärnten und Osttirol wurden 555 oströmisch beherrscht, dann kurzfristig langobardisch.

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Macht über Menschen: Zuwandernde Militärführer etablieren „Grundherrschaft“

nig; 85 deren Sohn Tassilo (I., um 560–619) wurde Herzog der nun „Bayern“ genannten Region, per Fernernennung stimmte Childebert II. in Merowingia 591 zu. 86 Das zirkumalpine, meist als „fränkisch“ oder „langobardisch“ etikettierte Netzwerk beruhte auf Verwandtschaften unterschiedlicher Bindungsintensitäten. Wie von Osten kommende, anders strukturierte Eliten etablierten sich fränkische mit „gefolgschaftsähnlichen“ Heerhaufen (R. Wenskus). Unter der neuen, aber bedürftigen, das heißt geldbedürftigen, Herrscherfamilie wurden die Menschen, wie ihre Vorfahren bei römischer Inkorporation, Teil der Peripherie eines fernen Zentrums. Doch würden sie nicht Bürger*innen, sondern Unfreie oder Sklaven werden (s. Kap. 7.3). Die machtvollen Zuwanderer-Familien erweiterten sich durch Klienten-abhängige Beherrschte zu Clans oder gentes. 87 Hz Tassilo I. plante eine weitere Expansion: Er „zog alsbald [592] mit Heeresmacht ins Land der Slawen und kehrte siegreich und mit großer Beute“ zurück, so der spätere Chronist Paulus Diaconus. Tassilos Einfälle – ein Begriff, den viele Historiker nur verwenden, wenn Slawen und Ungarn vordrangen – waren nicht immer erfolgreich. 595 siegten verbündete slawische und awarische Herrscher, 2000 von Tassilos Kriegern kamen um. Wie deren Familien dies hinnahmen, erwähnen die Chronisten nicht. Freie Bauern waren zu Heerfolge mit selbstgestellter Ausrüstung verpflichtet worden und konnten in dieser Zeit ihr Land nicht bewirtschaften. Verarmten sie, mussten sie sich unter den Schutz eines Herren begeben und wurden von Freien zu Kolonen. Die Familie Agilolfing (mitsamt ihnen später zugeschriebenen Mitgliedern) benötigte ein dauerhaftes, bewaffnetes Gefolge, da die

Durchsetzung von Frondiensten einen höheren Repressionsaufwand erforderte als der Einzug von Abgaben. Gewalt und Zwangsmobilität lassen sich an einem Dreieckskonflikt darstellen: In Karantanien kämpften 631/32 zwei Herrschaftsaspiranten um die Macht, der eine als awarisch, der andere als bulgarisch bezeichnet. Letzterer verlor und floh mit seiner Gefolgschaft – nach zeitgenössischen Angaben 9000 Männer, Frauen und Kinder – in das Gebiet unter der Oberherrschaft der Merowinger-Familie. König Dagobert gestattete ihnen, aufgeteilt in kleinere Gruppen, zu überwintern. Wenig später entschied er sich, die Flüchtlinge umbringen zu lassen. Nur etwa 700 entkamen und ihre Nachfahren wanderten ins lombardisch-annektierte Benevento in Süditalien. Dorthin waren, etwa 200 Jahre früher, norische Christen gewandert. Wussten sie von ihnen? Die mehrsprachigen Menschen in Bayern planten und führten ihr Leben, wirtschafteten nachbarschaftlich, zeugten und gebaren Kinder und betreuten sie beim Heranwachsen. Die Etablierung einer längerfristigen Herrschaft hätte, analog zur pax romana, Ruhe und wirtschaftliche Entwicklung bedeuten können. Doch wandelten die neuen weltlichen und kirchlichen Herrscher in einem Zeitraum von etwa 150 Jahren oder sechs bis acht Generationen 88 die Unterworfenen zu verschenk- und vertauschbaren Unfreien und Sklaven. Die transfränkisch vernetzten Mächtigen hatten so die lokale Gesellschaft zweigeteilt. Diese würde sich Karl („der Große“), dessen Großeltern sich Merowingias bemächtigt hatten, 788 aneignen (s. Kap. 5.7, 6.1).

Sie gewährten Anfang des 8. Jahrhunderts einem vertriebenen Langobarden-Herrscher Zuflucht und entsandten ein Jahrzehnt später eine Armee, um in Thronstreitigkeiten einzugreifen. 86 Fritz Moosleitner, „Merowingerzeit“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:105–120. Die Herkunft der Herrscherfamilie wird weiterhin debattiert. 87 Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages: Europe and the Mediterranean, 400–800, Oxford 2006, 519–588. 88 Die Lebenserwartung, durchschnittlich etwa 25 Jahre, ist errechnet auf der Basis der Gesamtzahl der geborenen Kinder, von denen ein Drittel oder mehr in den ersten fünf Lebensjahren starb. Diejenigen, die das sechste Lebensjahr erreichten, hatten eine Lebenserwartung von etwa vierzig Jahren. 85

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5 Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft Seit Jahrzehntausenden sahen Menschen die Nahrung gebende Natur als belebt oder „animiert“ (lat. animus = Geist, Seele, Mut und anima = Hauch, Atem, Seele, Leben, Wind). Der deutsche Begriff „beseelt“ nimmt christliche Konnotationen auf, „Ehr-furcht“ im Sinne von Respekt und Furcht vor Widrigkeiten wäre eine – vermutlich – adäquate Beschreibung. Natur, Über-Natürliches und Kosmisches schienen einander innezuwohnen: Hilfreiches wie Fruchtbarkeit und Bedrohliches wie Donner und Blitz. Fruchtbarkeit konnte unerklärbar ausbleiben; die Menschen verehrten sie und suchten sie durch Gaben und Riten freundlich zu stimmen. Wichtig und für sie überlebenswichtig waren die Naturzyklen, darunter die fernen, sich regelhaft bewegenden Lichtphänomene der Gestirne, die den Rhythmus der Zeit bestimmten (s. Kap. 2.2, 2.4). Die wärmende Sonne erschien und verschwand. Vielleicht würde sie, so stellten es sich manche vor, durch ein Boot oder Vögel täglich vom Morgen zum Abend getragen. In vielen der Sinnbilder-Ideogramme sind Hände ein zentraler Aspekt. Durch Statuetten mit erhobenen Armen und flach nach oben geöffneten Händen stellten Künstler*innen eine offene, unbewaffnete, grüßende Haltung dar, zum Beispiel bei Kobarid (Slowenien), Nagyrev (Ungarn), bei Strettweg (Steiermark) und im römischen Judea. Bronzene Männerfiguren am Oberlauf des Roten Flusses in Südost-China zeigen ähnliche Haltungen und

gleiche Handgesten (Dian-Kultur, 3. Jh. v. u. Z.). Eine Hand, aus Wolken kommend, war ein israelitisches Bild, „mögen ihre Hände nicht schmerzen“ eine altpersische Dankesformel. Hände aus Bronzeblech formten keltische Handwerker*innen (1. Drittel 6. Jh., Kröllkogel, südl. Steiermark). Händisch setzten Menschen ihre Vorstellungen um: Sie manipulierten, was sie im Blick hatten. Sie verbanden die eigene Schaffenskraft mit Transzendenz. Ich frage zuerst nach den religiösen Überzeugungen und Praktiken keltischer Männer und Frauen. Sie veränderten ihre anthropomorphe und zoomorphe Formensprache im Zuge der Kontakte nach Oberitalien; spirituelle Einflüsse aus dem Norden waren offenbar gering (Kap. 5.1). Aus der Region von der Levante (ital. aufsteigend, Region des Sonnenaufgangs) bis zum iranischen Hochland, in der Ansässige zoroastrische und manichäische, buddhistische und israelitische Glaubensweisen entwickelt hatten, erreichten Migrant*innen im Zuge von Militär-, Handels- und anderen Reisen die Alpen-Donau-Region mit ihrer jeweiligen Spiritualität. Römische Gottheiten kamen hinzu (Kap. 5.2– 5.3) und gemeinsam fusionierten sie Gottheiten (Kap. 5.4). In einer Phase sozialer, politischer und ökonomischer Spannungen transformierten sich unzufriedene Juden zu „Christen“ und bildeten Gemeinden (ecclesiae). In die post-römisch-norischen Gesellschaften kamen „Männer Gottes“ aus Syrien, Franken, Irland und Italien (Kap. 5.5–5.7).

5.1 Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus Keltisch-kulturelle Menschen schlossen an vorangehende religiöse Vorstellungen an. Schon vor Jahrzehntausenden hatten Menschen von Mähren bis zur Donau und den Karpaten weibliche Fruchtbarkeits-Figurinen geschaffen. 1 In Pannonien gestalte-

ten dort Ansässige zwischen dem 18. und 14. Jahrhundert v. u. Z. Vogeldarstellungen und MenschVogel-Figuren. Trugen sie ihre Vorstellungen westwärts, wenn sie Werkzeugstein verkauften? In die Ebene wanderten Skythen ein und schufen – eben-

Figurinen wurden gefunden in Niederösterreich (Stratzing, 34.000 Jahre alt, sowie Langenzersdorf und Falkenstein, 6000 J.), Mähren (Dolní Věstonice/Wisternitz und Střelice, 30.000 bzw. 10.000 J.), Wachau (Willendorf, 30–25.000 J.), Burgenland (Unterpullendorf, 10.000 J.), ein anthropomorphes Gefäß in Draßburg/Darufalva (vor 7200 J.). Eva Lenneis, „Kult und Religion – Figuralplastik und figural verzierte Gefäße“, in: dies. (Hg.), Erste Bauerndörfer – Älteste Kultbauten. Die frühe und mittlere Jungsteinzeit in Niederösterreich, Wien 2018, 108–121.

1

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Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus

Abb. 5.1 Gefäß mit halbplastischer Menschendarstellung, Draßburg/Darufalva, Burgenland, um 5200 v. u. Z. (Ton)

so wie keltische Menschen am Biberg (Saalfelden) – Hirschskulpturen. 2 In vorkeltischer Zeit symbolisierte die (weibliche oder männliche) Sonne kosmische Kraft. Eine bei Nebra in Sachsen-Anhalt gefundene, aus der Zeit zwischen 2100 und 1700 v. u. Z. stammende, offenbar mehrfach überarbeitete bronzene Himmelsscheibe stellt den Vollmond und den zunehmenden Mond, die Plejaden und weitere Sterne zwischen den Himmelsbögen der auf- und untergehenden Sonne dar sowie eine Sonnenbarke. Die Künstlerin oder der Künstler verwendete dafür Kupfer von Erzleuten aus dem etwa 700 km entfernten Mitterberg. Eine um 1400 v. u. Z. geschaffene „Sonnenwagen“-Skulptur im dänischen Trundholm belegt ebenfalls die Verehrung von Himmelskörpern, umfassende astronomische Kenntnisse und eine hohe Fertigungstechnik. 3 Menschen der Kalenderbergkultur südlich von Wien schufen keramische Mond- oder Schiffsdarstellungen; die Schöpfer des „Strettweger Kultwagens“ in der Steiermark stellten im 7. Jahrhundert v. u. Z. eine Frau ins Zentrum. Sie trägt auf erhobenen Händen eine Schale, umgeben von kleineren Reiterkriegern, einem nackten Menschenpaar und einem geführten Hirsch. Schmale Trensen lassen vermuten, dass Hirsche – gezähmt oder gefügig gemacht – geführt

Abb. 5.2 Figurine in Falkenstein, Lengyel-Kultur, 4800–4300 v. u. Z. (Ton, 13 cm)

wurden. Die Figuren sind in gegenläufiger Prozession angeordnet und der Wagen scheint in beide Richtungen zu fahren. Stellt die zentrale Figur eine Göttin, eine Priesterin oder Heilsfigur dar? Führte die Prozession in eine Anderwelt? 4 Viele weitere Fragen sind nicht beantwortet: Symbolisierten Barken ziehende Wasservögel die Sonne oder die Sichel des aufgehenden Mondes? Wasservögel waren Symbol des Lebens, Schiffe Symbol des Überquerens. Die Mondsichel wurde Jahrhunderte später zentrales Symbol des Islam und seit dem 12. Jahrhundert stellten christliche Religionsbildner Maria als auf einer Mondsichel stehend dar. 5 Bedeutungen lassen sich oft nicht klären: Ein am Dürrnberg gefundenes Schiffchen aus Goldblech mit zwei breiten Rudern könnte, sozialhistorisch interpretiert, Zeichen des Berufsstandes der Salzschiffer sein, kosmisch Sonnenbarke oder, religiös, Symbol des Wechsels über ein mythisches Wasser in eine Anderwelt. Sicher ist nur, dass über große Entfernungen Gold, Formensprachen und

Im iranischen Hochland Lebende stellten Hirsche und Stiere als Gottheiten dar, entenartige Wasservögel als Himmelsreisende, yoginis als weibliche Verkörperung yogischer Kraft. Die zoroastrische Religion zentrierte auf Feuertempel als Symbole der Sonne. In Japan kam ein Gott auf einem weißen Hirsch zu den Tempeln bei Nara; Hirsche galten als Götterboten, die weiße Schlange als Bringerin von Wasser. 3 Harald Meller (Hg.), Der geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen Europas vor 3600 Jahren, Ausstellungskatalog, Stuttgart 2004. Katalin T. Biró u. a., An der Grenze von Orient und Okzident: Die Geschichte der Völker auf ungarischem Boden, 400.000 v. Chr.–804 n. Chr., Budapest 2003, 36–37 passim; László Kontler, A History of Hungary. Millennium in Central Europe, New York 2003, 24–26. 4 Zur regionalen Differenzierung keltischer Religionen Roland Gschlößl, Im Schmelztiegel der Religionen: Göttertausch bei Kelten, Römern und Germanen, Mainz 2006; Bernhard Maier, Die Religion der Kelten. Götter – Mythen – Weltbild, München 2004; Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.), Die Welt der Kelten. Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst, Stuttgart 2012, 68–69; Hirsch-Trense im KrahuletzMuseum, Eggenburg. 5 Griechen und Römer verehrten Selene als Mondgöttin. 2

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.3 Sonnenwagen, Trundholm, um 1400 v. u. Z.

Bedeutungen zusammenkamen und „vor Ort“ materiell in eine der vielen möglichen Aussagen übersetzt wurden. 6 Keltische Religionsgelehrte-Weise-InterpretenWahrsager eigneten sich in langen Lehrjahren Wissen über Gestirne, Erde und Natur an. In Gallien versammelten sich „Druiden“ offenbar jährlich am Zusammenfluss von Saône und Rhône (modern: Lyon). Die Bezeichnung für sie mag von dem griechischen Wort für Eichen, auf denen die kultisch verwendeten Misteln wuchsen, stammen. 7 Menschen assoziierten die unsichtbaren Kräfte, die sie spürten, mit sichtbarem Wasser und Leben spendenden Quellen, beeindruckenden Bäumen oder Felsformationen. Bronzewerkende hatten hochalpine Kultstätten für Brandopfer genutzt. Deuten in den Aschen gefundene Tonscherben und Nähna-

deln darauf, dass sie ihr Alltagsleben mit Himmelskräften verbunden sahen? 8 In Wassern legten keltische Menschen Gaben aus Eisen oder Gold nieder – Schwerter und Lanzenspitzen, Ringe und Fibeln. Sie verbogen oder beschädigten sie. Ihre Gründe kennen wir nicht. Vorstellungen übergänglicher Existenz umfassten Anderwelten wie Orkus, Paradies oder unbestimmten Raum. Die Familien in Hallstatt und am Dürrnberg bestatteten Abgeschiedene mit Blick zum Sonnenaufgang, Beigaben deuten auf den Glauben an ein weiteres Leben oder zyklische Wiedergeburt. Das reich ausgestattete Grab eines jungen Mannes zeigt, dass er „getrost ins Jenseits überwechseln [konnte]. Sein mitgebrachter Besitz würde ihm auch dort den gewohnten Lebensstandard garantieren“. Zusätzlich erhielt er ein Kaurischne-

Kurt W. Zeller, Der Dürrnberg bei Hallein. Ein Zentrum keltischer Kultur am Nordrand der Alpen, Hallein 2001, 26, 51–52; Stefan Moser, Die Kelten am Dürrnberg. Eisenzeit am Nordrand der Alpen, Hallein 2010, 78; Leopold Schmidt, „Der norische Himmelsbootfahrer: Mythologische Beiträge zur Kärntner Urvolkskunde“, Carinthia 1, 141 (1951), 717–767; Welt der Kelten, 67–75, 230–244. 7 Welt der Kelten, 396–397. Hinweise auf Druidinnen entstammen späterer Zeit. 8 Peter Haupt, „Bronze- und eisenzeitliche Brandopferplätze auf dem Schlern [Südtirol]“, in: Franz Mandl und Harald Stadler (Hg.), Archäologie in den Alpen – Alltag und Kult, Haus I.E. 2010, 63–72; und Funde in den Niederen Tauern am Sölkpass. 6

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Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus

Abb. 5.4 Kultwagen, Strettweg, Steiermark, 7. Jh. v. u. Z.

cken-Amulett, durch viele Hände aus dem Raum des Indischen Ozeans herangetragen. 9 Als kosmische Kraft verehrten die Menschen eine Muttergöttin und ihren Sohn Cernunnos, den sie in Menschenform mit Hirschgeweih oder als Hirsch visualisierten. Anders als in Magna Materund späteren Jungfrau-Mutter-Vorstellungen, aber in Einklang mit Topoi transzendenter Vorstellungen – „Gläubigkeiten“ – vieler Kulturverbände holte die Göttin ihren Sohn in jedem Frühjahr in ritueller Wiedergeburt und lebensschaffender MutterSohn-Vereinigung aus der Anderwelt. Die Friese eines vermutlich in Ostgallia gefertigten und in Gundestrup (Jütland) gefundenen Silberkessels (1. Jh. v. u. Z.) zeigen Cernunnos mit europäischen 9

und orientalischen Tieren und einer Schlange sowie eine Göttin mit Speer und Stier. Schlangen mit ihren jährlichen Häutungen und Hirsche mit dem jährlichen Wiedererstehen ihres Geweihs dienten Menschen im gesamten eurasischen Raum als Symbole für sich erneuerndes Leben. Schlangen- und Hirsch-Topos waren auch Teil jüdischer Vorstellungen: Schlangen initiieren Erkenntnis und „so, wie der Hirsch das Quellwasser sucht, sucht meine Seele dich, oh Gott“ (Psalm 42). Ägyptisch-syrische Menschen stellten die Göttin Hathor als Kuh oder Frau mit Hörnern dar und Menschen in Hallstatt schufen ein bronzenes Schöpfgefäß mit Griff in Form einer Kuh, gefolgt von einem Kalb. Ins Gold-reiche Rauristal trugen

Zeller, Dürrnberg, 51–52, Grab 44.

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.5 Schiffförmige Motive mit Sonne und Vögeln auf Gebrauchsgegenständen: Bronzegefäß aus Kleinklein, Steiermark; Fibel aus Hallstatt, Oberösterreich

auf unbekanntem Weg Unbekannte einen Skarabäus aus Ton mit Kopf der Hathor, geschaffen in der Zeit des Pharao Ramses II., 1300–1250 v. u. Z. 10 Im Saalachtal Lebende schufen sich eine Cernunnos-Hirsch-Figurine. Als Römer*innen sich im nahen Bisontio niederließen, stellten sie sich eine Schlangen-Figurine her und ein spätantik-früh-

Abb. 5.6 Goldschiffchen, Dürrnberg, Latènezeit, ca. 400 v. u. Z. (6,6 cm)

christliches Mosaik in der Friedhofskirche in Teurnia würde einen Hirsch zeigen. Die Menschen der Hallstattzeit, die Menschen und Tiere nicht darstellten, nahmen während ihrer Kontakte zu den Golasecca- und Este-Kulturen mediterrane und ebenso skythisch-persische Einflüsse auf: Tiere und Personen, oft in Form von Büsten –

realistisch, stilisiert, fratzenhaft-maskenartig oder dämonisch – sowie ornamental verwobene Ranken, Palmetten, Knospen und Lotusblüten. Viele Darstellungen deuten auf eine hohe Bedeutung des Kopfes; aus der persischen Kultur vom 5. bis 3. Jahrhundert zum Beispiel sind Schnabelkannen mit Vogelköpfen erhalten. Am Griff der berühmten Dürrnberger Kanne gestaltete der oder die Schaffende ein dämonisches Fabelwesen mit einem menschlichen Kopf im Maul. 11 An der Verehrungsstätte im oppidum Roseldorf (Niederösterreich) wurden Schädel gefunden, die Gewalteinwirkung belegen: Gab es Zeremonien mit Opferung von menschlichen Köpfen? Römische Autoren behaupteten, dass ihre keltischen Gegner die Köpfe getöteter Feinde trophäenhaft zur Schau stellten. Dies erschien ihnen als besonders barbarisch. Dass die „Barbaren“ den Anblick von Gladiatorenkämpfen oder Iulius Cäsars „Opferung“ von zwei meuternden Soldaten als zivilisatorische Leistung gesehen hätten, ist nicht belegt. 12 Neben der Muttergöttin und Cernunnos umfasste keltische Religiosität regional unterschiedlich Grannus, Esus, Lenus sowie Rosmerta, Maia, Epo-

Michael Altjohann, „Cernunnos-Darstellungen in den gallischen und germanischen Provinzen“, in: Peter Noelke mit Friederike Naumann-Steckner und Beate Schneider (Hg.), Romanisation und Resistenz in Plastik, Architektur und Inschriften der Provinzen des Imperium Romanum, Mainz 2003, 67– 80; Welt der Kelten, 238–239; Alexander Demandt, Die Kelten, München 72011, 42–43; Wilfried Seipel (Hg.), Land der Bibel, 3 Bde., Wien 1997, Bd. „Schätze aus dem Israel Museum Jerusalem“, 48, 113. Kritisch Heidi Peter-Röcher, „Der Silberkessel von Gundestrup – Ein Zeugnis keltischer Religion?“, in: Festschrift für Helmut Johannes Kroll, Neumünster 2013, 189–199. 11 Interkulturell nahmen christliche Autoren das Bild menschenverschlingender Drachen auf. 12 In wenigen Gräbern gefundene Frauenköpfe zeigten keine Gewalteinwirkung; Menschenknochen an Opferstätten mögen Hinweis sein, dass fremde Kriegsgefangene oder Verbrecher geopfert wurden. Richard Pittioni, Urzeit von etwa 80 000 bis 15 v. Chr. Geb., 2 Bde., Wien 1980, 2:59; Otto H. Urban, Wegweiser in die Urgeschichte Österreichs, Wien 1989, 72, 74; Moser, Dürrnberg, 44 passim; Birkhan, Kelten, 441–442; Gschlössl, Schmelztiegel, 68. 10

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Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus

Abb. 5.7 Cernunnos Darstellung, Ausschnitt aus dem Kessel von Gundestrup

na, Ancamna und eine Trinität von Quellgöttinnen, die Xulsigien. „Teutates“ war Beiname für einen obersten Gott. Die Göttin Reitia – Heilerin, Gütige und wohl Schreibkundige – übernahmen sie aus der Este-Kultur. Archäolog*innen erschließen dies aus materiellen Quellen; Schrift-zentrierte Forscher*innen fokussieren auf die interpretatio romana, doch steht „römisch“ bereits für spirituelle Vorstellungen aus dem gesamten zirkum-mediterranen Raum. Norische Männer und Frauen nahmen syrische, iranische, ägyptische, anatolische und italische Kulte reichsweit rekrutierter Legionäre und zwangsmigrierter Sklav*innen wahr und manchmal auf. Keltische Verbände kämpften in vielkulturellen Legionen, hatten Kriegsgefangene anderer Glaubenswelten eingegliedert oder sich selbst während zeitweiser Kriegsgefangenschaft umkulturiert. Im Jahr 55 v. u. Z. zogen germanische Söldner nach Ägypten, andere nahmen um 150/160 u. Z. an Kriegen gegen die Parther teil; syrische Legionäre kamen nach der Zerstörung des israelitischen Zweiten Tempels im Jahr 71 an die Donau; syrische Bogenschützen waren bei Bingen stationiert, arabische und parthische Reiter sowie semitische Ituräer bei Mainz, Damaszener nördlich des Mains und Bogenschützen aus Canatha (Palästina) am Donaulimes Rätiens. Als einen Aspekt von Herrschaft exportierte „Rom“, Zentrum des Reiches bis 286 u. Z., adap-

Abb. 5.8 Hirsch-Statuette, Biberg bei Saalfelden, 1. Jh. v. u. Z. (Bronze, 10,8 cm)

tionsfähige Gottheiten in die Peripherien. Die Stadt, Ziel von Menschen aus dem gesamten Imperium, war eine multikulturelle Gesellschaft und Bewohner*innen sahen animistische Natur und personifizierte Kräfte: Silvanus als Gott der Wälder, Nymphen in Bäumen und Quellen, Ceres als Göttin des Getreides, der Fruchtbarkeit und der Ehe. 13 Den fle-

Norbert Heger, Salzburg in römischer Zeit, Salzburg 1974, 78–97; Gschlößl, Schmelztiegel, 10. Zur interpretatio germana keltischer Religion Peter Danner, „Weltanschauungsfreie Forschung […] nicht einmal wünschenswert“, in: Sabine Veits-Falk und Ernst Hanisch (Hg.), Herrschaft und Kultur. Instrumentalisierung, Anpassung, Resistenz, Salzburg 2013, 198–267, hier 211–213.

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

xiblen Imperialisten galten Gött*innen der Annektierten nicht als Fremde, sondern Un-Bekannte. Es war sinnvoll, sie kennenzulernen und eigene Götter und Göttinnen in lokaler Kleidung und regionalem Kontext erscheinen zu lassen: effektive und zukunftsorientierte Adaption. Kontaktintensive keltisch-gläubige Menschen an Handelswegen und -orten verschmolzen ihrerseits Gottheiten schnell. In anderen Worten: Sesshafte Städter*innen „gingen mit der Zeit“, wandelten offene Baum- und Quellheiligtümer in umgrenzte Orte und errichteten galloromanische Tempel mit umlaufender, offener Vorhalle. In einem weiteren Akkulturationsschritt ersetzten sie Holz durch Marmor, ergänzten mündliche Tradierung durch gemeißelte Inschriften und Druiden übernahmen römische Buchstaben. Steinerne bilingue-Inschriften sind archäologisch auffindbar, vorangehende hölzerne Gött*innen-Darstellungen nicht. 14 Spirituell-kosmologisch erfuhren keltische Söldner als Fernmigranten ebenso wie ansässig-annektierte Menschen von vielen Ursprungsmythen der Welt und des Lebens. In alt-ägyptischer Vorstellung stieg der Sonnengott Re aus dem Ur-Ozean in die Weltordnung-Gerechtigkeit seiner SchwesterGattin Maat; in einer Variante entstieg er einer Lotusblüte und aus einer Träne seines Auges erhob sich die Göttin Hathor (Mutterschoß, Haus, Heim). Sie nahm Re = Sonne des nachts in sich auf und gebar ihn am Morgen neu. Hathor-Maat-Isis gebar den Sohn Horus. In weiterer Variante waren die Geschwister Isis und Osiris (Sarapis) miteinander verheiratet, aber bedroht durch ihren Bruder Seth, die Kraft des Bösen. Er tötete Osiris, doch ließ Isis ihn mit Hilfe ihrer Schwester Nephthys wieder auferstehen und sie zeugten Horus. Osiris empfanden die Verehrenden als Gott des Nachlebens. Nach griechischen Vorstellungen erschuf Gaia oder gē als „Gebärerin“ die Welt. Römisch adaptiert gebar sie als „Terra magna“ unbefruchtet Himmel, Erde und Meer. Gebärende Kraft erschien Menschen vieler Kulturen als schöpferisches Prinzip;

sie verehrten eine Urahnin oder Muttergottheit. Unter Kaiser Aurelian, der hispanische Vorfahren hatte, wurde der Sonnengott Sol (Sol elagabalus, Sol invictus) synkretischer Teil der Staatsgötter; Kaiserin Julia Domna aus Syrien hatte den Glauben an den Sonnengott gefördert. Diesem würde Kaiser Konstantin I. 321 u. Z. den Sonn-Tag (dies solis) als Feier- und Ruhetag widmen. Die in Anatolien und Zentralasien verehrte Fruchtbarkeitsgöttin Kybele übernahmen Römer*innen als Bona Dea, in Ephesus an der kleinasiatischen Ägäis-Küste ergänzt um die vielbrüstig dargestellte Artemis-Diana. Christliche Religionsschaffende lokalisierten das Grab der Maria dort. Diese Mythen um Schöpfungskraft und Fruchtbarkeit trafen im norischen Raum auf einheimische Vorstellungen. In Prozessen der Translation, Abschriften von Texten einbezogen, werden Geschichten durch Raum und Zeit angepasst und neu geformt. 15 Menschen in Pannoniens und Noricums Hauptstädten Carnuntum und Virunum verehrten Isis-Noreia als keltische Muttergöttin. Ein Bild von ihr verwendeten sie bei Hohenstein (Kärnten) als Stirnziegel und sie stellten eine Bronzestatuette von Isis mit Horus her. Die Verehrung von Apis – oder war es bereits transreligiös Jupiter? – belegen Stierstatuetten in Iuvavum und nahe Regensburg. 16 Ägyptisch-syrische Menschen stellten Sarapis mit einem Getreidemaß dar, gelegentlich mit Stierkopf und Schlange: Er symbolisierte Fruchtbarkeit und war Gott der lebenssichernden Getreideversorgung. Menschen imaginierten, anders als in manchen Fruchtbarkeitsfigurinen, Isis als schlank und hochgewachsen. Ist dies aus dem Gegensatz zwischen agrarisch-erdverbundener und städtischer Lebensweise zu erklären? Norische Statuetten zeigen eine doppelte spirituell-ästhetische Formenwelt: einerseits die Magna Mater-Erdmutter, oft mit Kindern auf dem Schoß oder mit Kindern und Frauen schützend in den Armen, andererseits die anmutige Venus, Schutzgöttin der Liebe, Ehe, Familie, der Geburt und des Kindersegens. Da im Leben der

Fachleute rekonstruierten als „Denkmodell“ das Heiligtum von Roseldorf. Ernst Lauermann (Hg.), Schatzreich Asparn. Ur- und Frühgeschichte und Mittelalterarchäologie in Niederösterreich, Asparn/Zaya 2014, 186–191. 15 Marguerite Rigoglioso, Virgin Mother Goddesses of Antiquity, New York 2010; Jenifer Neils, Women in the Ancient World, London 2011; Joan Connelly, Portrait of a Priestess. Women and Ritual in Ancient Greece, Princeton 2007. Vgl. auch die bereits 1903 publizierte Studie von Jane E. Harrison, Prolegomena to the Study of Greek Religion, Neuausgabe Princeton 1991; Land der Bibel, Bd. „Schätze“, 23–56. Auch in diesem Kulturkreis wurden Männer nur selten dargestellt. 16 Heger, Römische Zeit, Abb. 75, zu einem Fundort in Iuvavum; Garth Fowden, Empire to Commonwealth. Consequences of Monotheism in Late Antiquity, Princeton 1993, 44–46; Gschlößl, Schmelztiegel, 79–110. 14

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Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus

Abb. 5.9 Henkel, Schnabelkanne, Dürrnberg, um 400 v. u. Z., Bronzeblech (vgl. Gesamtansicht Abb. 3.14)

Menschen Geburten schwierig und die Kindersterblichkeit hoch waren, galt Venus auch als Göttin des Todes. 17 Männlicher Gegenpol war Zeus-Jupiter als oberster olympischer Gott. Als Stiergott entführt er die phönizische Königstochter Europa, so die Mythologie. Mosaikbildner stellten dies in Iuvavum dar. Keltische Krieger, die den Kriegsgott Mars adaptierten, wandelten ihn zum Schutzgott gegen feindliche Nachbarn und damit zu einer lebenserhaltenden Heilgottheit. Hermes-Mercurius, der Götter und Menschen verband, war Sohn von Maia, griech. Mutter, oder Bona Dea, römisch Göttin der Fruchtbarkeit und Heilung, der Frauen und der Jungfräulichkeit. Merkur (lat. merx = Ware) beschützte die Kaufleute. In Regensburg widmeten ihm gallische Kaufleute aus Trier eine Weihinschrift. Gläubige wandelten den Götterboten, wie Sarapis, zum Beschützer des lebenswichtigen Getreidehandels. Käufer, die mit den Preisen der Händler nicht immer einverstanden waren, sahen Merkur auch als Beschützer der Diebe. In frühen Darstellungen winden sich, wiederum wie bei Sarapis, um seinen Stab zwei Schlangen. Später erschien er mit geöffnetem Geldbeutel: von Lebenssymbol zu Darstellung von Kaufkraft.

Abb. 5.10 Magna Mater, Frauen und Kinder schützend, Gräberfeld beim Bürglstein, Ende 1. Jh. (weißer Ton, 24 cm; Auge und Stirnpartie rechts ergänzt; Erzeugnis aus dem Allier-Gebiet, Auvergne)

Den Geldbeutel tragenden, gelegentlich mit Hirschgeweih dargestellten Merkur begleitete in interpretatio celtici Rosmerta. In einem ungewöhnlichen Relief in Reims steht Merkur mit einem Geldbeutel, aus dem Münzen zu Boden fallen, neben Cernunnos im sogenannten Buddhasitz. Die Füllhorn tragende Rosmerta verehrten besonders niederrheinische Menschen und der Topos des Füllhorns war in vielen Kulturen verbreitet. Es symbolisiert im Hindu-Glauben kreativ-lebensbringende Energie (purnakumbha), meist von einer (Fluss-) Göttin präsentiert. Ländlichen Menschen galt Merkur als Beschützer der Hirten und Herden. Sie opferten ihm Widder oder Ziegenböcke. Nach kelti-

Gerhard Bauchhenß und Günter Neumann (Hg.), Matronen und verwandte Gottheiten, Köln 1987; Sophie Lange, Wo Göttinnen das Land beschützten. Matronen und ihre Kultplätze zwischen Eifel und Rhein, Sonsbeck 1994; FrauenMuseum (Hg.), Die Bonnerinnen. Szenarien aus Geschichte und zeitgenössischer Kunst, Bonn 2000. Zahlreiche Venus-Statuen wurden in Salzburg und am Ufer des Attersees bei Unterach ausgegraben. Heger, Römische Zeit, Abb. 43 und 44.

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.12 Jupiter Dolichenus als Stier, Salzburg, 2./3. Jh. (Statuette)

Abb. 5.11 Venus, Gräberfeld beim Bürglstein

schen religiösen Vorstellungen war Epona Schützerin der Pferde; da Fuhrleute und Maultiertreiber sie verehrten, werteten römische Schriftsteller sie ab. 18 Gläubige in Iuvavum widmeten ihren wohl wichtigsten Tempel der Göttin Hygieia (griech. Gesundheit) und ihrem Vater Asklepios. Ärzte legten ihren Eid seit dem 1. Jahrhundert u. Z. auf Asklepios, Hygieia und deren Schwester Panakeia als Göttin des Heilvorganges und der Heilpflanzen ab sowie, gelegentlich, auf Apollo, Gott des Lichts, der Heilung, des Frühlings, der Sittlichkeit, Mäßigung und der Künste. Ihm entsprach der keltische Heilgott Grannus. In Darstellungen des Asklepios speit die sich um seinen Stab windende Schlange eine verjüngende Arznei in eine Schale. Sirona, Begleiterin des Apollo-Grannus, gleicht in Darstellungen vom Westfrankenreich bis an die untere Donau

Abb. 5.13 Metamorphose: Zeus-Stier entführt Europa, Mosaik, Iuvavum, o. D. (Teile ergänzt)

der Hygieia. 19 In Iuvavum befand sich im HygieiaAsklepios-Tempel eine Magna Mater-Darstellung und die Schlange findet sich in dem iuvavischen Mosaik des Acheloos. Nach griechischer Mythologie war er Sohn der Tethys und des Okeanos und vornehmster für Wasserreichtum und Fruchtbarkeit verantwortlicher griechischer Gott. Wie das

Gschlößl, Schmelztiegel, 12–59. Merkur wird gelegentlich auch mit Schriftrolle in der Hand dargestellt. Hildegard Sobel, Hygieia: Die Göttin der Gesundheit, Darmstadt 1990; Clemens M. Hutter, Iuvavum. Alltag im römischen Salzburg, Salzburg 2012, 106. Etrusker kannten Acheloos ebenfalls.

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Fruchtbarkeitsverehrung, keltische Gottheiten, römischer Polytheismus

Abb. 5.15 Epona mit Pferden und Fruchtkorb (Kybele wurde mit zahmen Löwen dargestellt)

Abb. 5.14 Merkur mit – vermutlich – Geldbeutel und Schlangenstab, zwischen 1. und 3. Jh., villa rustica bei Rogging (Landkreis Regensburg); Herstellung vermutlich im mediterranen Raum

Wasser seinen Lauf veränderte er seine Gestalt und verkörpert damit einmal mehr das Kulturen übergreifende Motiv des shape-shifting und der Metamorphosen. Als Symbol viriler Fruchtbarkeit galten Hirsch, Stier und Widder. Der Stier war ein vielschichtiges Symbol: Den aus doppeltem Betrug entstandenen menschenfressenden Minotaurus, ein Mischwesen aus Mensch und Stier, bezwang Theseus mit Hilfe von Ariadne und ihrem Faden. Der Gott Mithras – „felsgeboren“ (petra genetrix) wie Jesus in einer Variante – tötete einen weißen Stier, um die Welt zu erneuern. Die ursprünglich persische Mithras-Verehrung und die des römisch-syrischen Soldatengot-

tes Jupiter Dolichenus 20 waren Kulte von Männern. Sie errichteten sich in Poetovio fünf Mithräen und verehrten Jupiter Dolichenus in Carnuntum als Kosmokrator, der in den Himmel, zur Sonne, aufsteigt und dort Weltgericht hält. 21 Deutungen männlicher Gottheiten entbehrten oft nicht einer gewissen Ironie: Merkur als Gott auch der Betrüger; Priapus, Sohn der Aphrodite, geboren mit großem, dauerhaft erigiertem Penis. Menschen in Iuvavum trugen Figürchen dieses fruchtbaren Organs als Amulett. Priapus galt als Symbol für reichhaltige Obsternten und wurde dafür auch als Vogelscheuche aufgestellt. Stiere waren polyfunktional: Götter verwandelten sich in sie; sie wurden Göttern geopfert oder durch Nasenring gefügig gemacht. Als Zugtiere für Pflüge bereiteten sie die Erde für die Samen vor. Ihre Hörner – und die anderer männlicher Tiere – dienten als Trinkgefäße. 22 Weihesteine zeigten verflochtene Kontinuitäten: Ein norischer Stifter widmete seinen Stein dem Gott der keltischen Alaunen Bedaius, ein anderer umfassend „dem besten und höchsten Jupiter und allen Göttern und Göttinnen.“ 23 Die Anderwelt war transreligiöser Topos und ebenso die Zahlenmystik der Dreiheit und der Zahl Zwölf (drei mal vier). Die Zahlen drei und vier entsprachen den drei Jahres-

Von Offizieren im 1.–3. Jahrhundert bis zu den britischen Inseln verbreitet. Anna Collar, Religious Networks in the Roman Empire. The Spread of New Ideas, Cambridge 2013, 79–145. 21 Ulrike Horak, Europa und der Stier, Wien 1998. 22 Heger, Römische Zeit, Abb. 77. 23 Hutter, Iuvavum, 95, 130. 20

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.17 Männliche Bronzefigurinen, (a) mit erhobenen Armen, (b) mit ausgestreckten Armen und erigiertem Penis, Tirol

Abb. 5.16 Kopf des Acheloos, Iuvavum

zeiten im ägyptischen Einstromland, Überschwemmung – Aussaat/Winter – Ernte/Sommer mit je vier Monaten, zusammen 365 Tage. Dreiheit erschien in der „kapitolinischen Trias“ von Jupiter, Juno und Minerva und in den „drei göttlichen Frauen“: griechisch-römisch negativ konnotiert als die Schreckensgestalten der Gorgonen, positiv als Grazien, Göttinnen der Anmut; als Schicksalsgöttinnen die griechischen Moiren, die römischen Parzen und die germanischen Nornen. Dreiköpfig war die griechische Hekate, dreiäugig Shiva im indischen Glauben, dreifach die „Bethen“ als Erd-, Sonnen- und Mondverkörperungen in alpenslawischen und bayerischen Vorstellungen und, christ-

lich, „Anna selbdritt“. Auf dem Magdalensberg/ Štalenska gora in Kärnten findet sich in der frühslawisch-bayerischen, auf einem keltisch-römischen Heiligtum errichteten Helenenkirche ein dreigesichtiges Taufbecken. In der Gesamtregion verehrten Identifikationsverbände je eigene adaptierbare Götter und Göttinnen. Diese „verbindende Universalität“ war bis in die Gegenwart die kreativste und toleranteste Periode der Glaubensentwicklung in der Region. Zwar lassen sich kultische Praktiken sozialen Schichten nicht zuordnen, doch waren es Handwerker*innen, die Mosaike verlegten, Statuen meißelten, Kultstätten ausstatteten und sich dafür mit den Themen intensiv auseinandersetzten. Ihnen sprechen moderne Kunsthistoriker*innen die Qualität italischer Kolleg*innen ab, aber Noriker*innen konnten keine Vergleiche anstellen. Für sie zählte die spirituelle Bedeutung, nicht imperiumsweites Kunstschaffen. 24

5.2 Gründungsmythen: Mensch (Adam) und Leben (Hawa) im Kontext Als Hallstatter Familien ihr Salz- und PökelfleischMonopol entwickelten, kämpften die Herrscher in der Region vom dichtbesiedelten Nil-Einstrom-

über das Zweistrom-Land bis zum iranischen Hochland um Vorherrschaft. Die Großmächte AltAssyrien, Alt-Babylon und Alt-Ägypten deportier-

Heger, Römische Zeit, 78–97; Gschlößl, Schmelztiegel, 12–16, 92–93. Henri Stierlin, Städte in der Wüste. Petra, Palmyra und Hatra: Handelszentren am Karawanenweg, übers. von Guido Meister, Stuttgart 1987 (frz. 1987), 167–212, zu métissage von der Mittelmeerküste bis Persien.

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Gründungsmythen: Mensch (Adam) und Leben (Hawa) im Kontext

ten oder vernichteten Menschen, die ihnen im Weg waren. Dort suchten auch mobile Verbände von Schaf-, Ziegen- und Rinderzüchtern Weidegebiete in engem Kontakt mit Städter*innen, denen sie ihre schlachtreifen Tiere verkauften und bei denen sie Güter des täglichen Bedarfs erwarben. Die Herrscher sind datierbar, die nomadischen Wanderverbände kaum. Zu ihnen zählten Aramäisch Sprechende aus dem Quellgebiet des Euphrats, die nach Mesopotamien und ins Nildelta zogen, darunter ein lange kinderloses Paar, dem die biblischen Erzähler die bedeutungsvollen Namen Abraham (hebr. volksetymologisch Vater der Vielen) und Sara (hebr. Herrin, Fürstin) gaben. Der Erzählung zufolge zeugte Abraham auf Bitten seiner Frau mit der ägyptischen Sklavin Hagar (hebr. Fremde) den Sohn Ismael (hebr. Gott hört), vertrieb aber beide später, als, nach einer Vision, s/eine Gottheit 25 ihm Vaterschaft mit Sarah gewährte und im Gegenzug ein Menschenopfer forderte. Doch sie verhinderte im letzten Augenblick die Opferung des Sohnes Isaak (hebr. Gott hat gescherzt). Eine andere nicht gehorsame Familie vernichtete die Gottheit. Artefakte eines Verbandes, der aus der pharaonischen Provinz Palästina (röm. Land der Philister) um 1550 bis 1200 v. u. Z. vermutlich des Grünlandes wegen ins Nildelta zog, sind archäologisch nachweisbar. Vielleicht informierten die Anführer sich bei den bereits früher zugewanderten Hyksos (griech./ägypt. Herrscher der Fremdländer). Laut ihrer erzählten Erinnerung mussten ihre Nachfahren den Pharaonen Frondienste leisten und entschieden sich, wieder abzuwandern. Intellektuelle dieses einen Verbandes verschriftlichten eine Erzeltern-Genesis im Kontext palästinensischer Landwirtschaft, syrischer Wüste, hoch entwickelter Städte und patriarchaler Verhältnisse. 26 Möglich war dies dank phönizischer Seehändler, die die regional üblichen Schriften von mehr als 1500 Piktogrammen auf 800 Zeichen und schließlich auf 22 phonetische Konsonantenzeichen verringert hatten. Daraus entstanden das griechische, aramäische und südarabische Alphabet. Die Autoren des Verbandes arbeiteten vermutlich in der Jerusalemer Tempel-

schule, nahmen keine Ortsbesichtigungen historischer Stätten vor, wussten von weiteren Frauen und Söhnen Abrahams und verfassten in hebräischer Sprache seit etwa 900 v. u. Z. Tanach und ein halbes Jahrtausend später die End-Fassung der Tora. Hellenen fügten der phönizischen Schrift Vokale hinzu und Textgelehrte übersetzten um 250 bis 100 v. u. Z. die israelitischen Bücher (Plural, griech. biblia). Die Erzähler-Erzählerinnen verblieben im literarisch-kosmologischen Narrativ der Region. Die ägyptische Göttin Neith sagte, „ich bin von selbst gekommen“, Gott JHWH, „ich werde sein“ (2. Mose 3,14). „JHWH“ hatte im Hebräischen kein Geschlechtsmerkmal, unter Sumerisch Sprechenden war „Iahu“ die Große Göttin und die Taube ihr Symbol. „Iiva“ oder „Jeva“, abgeleitet aus dem Assyrischen „Eva“ als Mutter alles Lebendigen, bedeutete in Indien Mutterschoß, im Babylonischen war „Eva“ die Göttin des Lebensbaumes. Im Hebräischen bedeutet „hawa“ Leben, „Adam“ Mensch. 27 In der verschriftlichten Fassung schuf JHWH/ Jāhve die Welt in sechs Tagen, war mit seinem Handwerk zufrieden und ruhte sich am siebten Tag aus. Er hatte „Mensch“ und „Leben“ sich selbst entsprechend aus Lehm geformt. Erst Über-Setzern erschien die Frau (socia) als abgeleitet aus dem Mann oder, sehr viel später bei Luther, als Gehilfin. Oder war, wie im Handwerk üblich, die erste Person ein Probeexemplar, die zweite das Meisterstück? Die beiden lebten in paradiesischer Umgebung, allerdings mit unklarer Identität, denn sie wussten nicht um ihre lebensgebende Sexualität. Die in den Texten vermännlichte Gottheit hatte dies so belassen wollen. Sie/er hatte neben den Baum des Lebens den Baum der Erkenntnis gepflanzt. Das kosmische Symbol „Baum“ verband die Erde (Wurzeln) über die gelebte Welt (Stamm) mit dem Himmel (Äste, Krone) und ist als „Lebensbaum“ Teil von Spiritualität weltweit. Jāhve verbot seinen Kreaturen die Früchte des Erkenntnisbaums zu essen. 28 Die „Genesis“-Autoren nahmen Schöpfung-Lebensschaffung-Geburt aus dem regionalen Reper-

In vorderasiatischen Mythen gewährte eine Baumgöttin Kindersegen. Zu den Unstimmigkeiten des Narrativs u. a. Stephen Greenblatt, The Rise and Fall of Adam and Eve, New York 2017. 27 Ingrid Straube, Die Quellen der Philosophie sind weiblich: Vom Einfluss weiser Frauen auf die Anfänge der Philosophie, Aachen 2001, 21–22; Christfried Böttrich, Beate Ego und Friedmann Eißler, Adam und Eva in Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2011, 13 passim; Carel J. Du Ry, Völker des Alten Orient, Baden-Baden 1969, 25, 29 passim. 28 Gerard van Bussel und Axel Steinmann (Hg.), Wald – Baum – Mensch, Wien 2012, bes. 107–113. Die Tora gilt als Lebensbaum oder wird mit empor25

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.18 Darstellung der Formung oder Schaffung Evas, wie seit dem 12. Jh. üblich (Buchmalerei, 15. Jh.)

toire von Erzählungen auf. In einer früheren Version aus dem 5./4. Jahrhundert v. u. Z. wandelte eine Königin, schwanger, in einem paradiesischen Garten. Als sie den Zweig eines schönen Baumes berührte, entstieg ihrer Seite ein Sohn, Buddha Śākyamuni. Er erschien in frühem Alter klug. Die Mutter hieß Māyā. Paradies (altiran. pairi-daeza) war ein umgrenzter Garten voller Bäume, Früchte, duftender Blumen, exotischer Tiere: Ort der Erbauung, gezähmte Natur, gut bestücktes Jagdgebiet und Zeichen von Macht, denn nur Reiche konnten sich eine solche Anlage leisten. Durch die Umgrenzung schlossen sie andere aus. 29 Eine weitere, zoroastrische (altiran. zaotar = Priester) Version vom 7. bis 4. Jahrhundert bot ein offenes, nie ummauertes Feuer, umgeben von bewohnten Häusern. In wieder anderer Fassung errichtete erst Adam die Ka’ba in Mekka, dann erneut Ibrahim und Ismail. Als sie fertig waren, umkreisten sie sie sieben Mal. Der handwerkliche Aspekt des Er-Schaffens war ebenfalls Teil des Repertoires. Töpfer*innen formten anthropomorphe Gefäße und Gegenstände aus Tonerden: Vereinigung des Menschlichen und Ma-

Abb. 5.19 Geburt des Buddha Siddhartha Gautama „Śākyamuni“, Gandhara, 2./3. Jh.

teriellen, von Schaffenden und Geschaffenem? In einer südostasiatischen Geschichte schuf eine feminine Kraft, spirit woman, Gefäße mit Gesicht aus Ton, die sich selbst in einem Feuer brennen, gehen und entscheiden konnten, stehenzubleiben oder sich auf dem Markt zu verkaufen. Um das Jahr 0 u. Z. berichtete ein Dichter, Ovid genannt, von einem zyprischen Skulpturen-Schnitzer, der aus importiertem Elfenbein die Statue einer Frau schuf, sich in sie verliebte und ihr dank der lebengebenden Aphrodite mit seinem Atem Leben einhauchte. Laut Genesis (2,7–23) und Sure 55 hat eine Kraft „den Menschen aus Ton erschaffen gleich einer Töpferware“. 30 In zeitloser Dialektik hinterfragten Eva und Adam das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu

wachsenden Ranken verziert. Arabisch tuba für Lebensbaum bedeutet wunschloses Glück – ewige Seligkeit – Paradies; ein Lebensbaum war Teil südostasiatischer Religiosität. 29 Mittelalterliche Parks re-kreierten paradiesische Landschaften: Persische Gartenkunst transferierten arabische Herrscher nach Sizilien, normannische Große von dort nach England. Damwild, in Westeuropa seit der Eiszeit ausgestorben, ließen sie einfangen und per Schiff nach England bringen. John Fletcher, Gardens of Earthly Delight. The History of Deer Parks, Oxford 2011. 30 Griechische Mythologen ließen einen Handwerker (demiourgós) für das Formen und Funktionieren der Welt verantwortlich sein. Die Gnostiker sahen einen allumfassenden Gott und einen geringeren Demiurgen, der eigenmächtig die materielle Welt erstellte. Sie identifizierten JHWH, irrtümlich in die Welt gesetzt von einem Wesen namens Sophia (griech. Weisheit), als den Demiurgen.

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Gründungsmythen: Mensch (Adam) und Leben (Hawa) im Kontext

Abb. 5.20 Dea gravida, Zypern, 8.–5. Jh. v. u. Z. (Terracotta, 18.3 cm)

essen, und, wie in fast allen Religionen, war eine Schlange anwesend. 31 Gewunden um den Baum animierte sie Eva, die Frucht – oft interpretiert als Feige oder Apfel – zu kosten. War dies „Versuchung“, wie autoritätshörige Interpreten behaupten, oder Anregung, Neues zu erkunden? „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,5). Die beiden verspeisten die Frucht und wurden, gender-genau, femina und homo sapiens. 32 Die Frau ergriff die Initiative, der Mann teilte sie. Manche Interpreten setzten mangelnde männliche Erkenntnisbereitschaft und behaupteten, die Frau hätte ihn verführen müssen. Sie wandelten sich zu Kinder Erschaffenden und Formenden. Menschen an der syrisch-palästinischen Mittelmeerküste verehrten 31 32

Abb. 5.21 Adam und Eva im Paradies, Lukas Cranach d. Ä., 1526 Maler stellten Eva mit Schlange und Frucht in Körperhaltung ähnlich der römischen Venus dar; Cranach malte mehr als fünfzig Fassungen dieser Szene, oft mit Hirsch.

eine schwangere Göttin, andere eine gebärende Göttin zwischen zwei Tieren (Çatal-Hüyük, Anatolien, um 5750 v. u. Z.), weitere im iranischen Hochland und am Rand der Wüste Negev Göttinnen (Tepe Sarap, um 6000; Beerseba, um 3000 v. u. Z.). Die Schlange hatte viele Fähigkeiten und Formen: als Wasserschlange klug und kreativ; auf der nährenden Erde, manchmal mit Frauenkopf konzipiert, Symbol von Weiblichkeit. Sie bedeutet in Hindustan Erde und Fruchtbarkeit, in Südostasien ist sie Symbol des kosmischen Ozeans. Als anfangs einziges Lebewesen in den Wassern hob sie die Erde aus der Tiefe und, sich wellenartig bewegend, symbolisiert sie nie endende Lebenszyklen. Gewundene Wurzeln von Pflanzen in mittelalterlich-christ-

In alt- und jüdisch-palästinensischem Aramäisch sind die Lautfolgen von „Schlange“ und „Eva“ ähnlich. In der griechischen Variante schenkte die Erdmutter der Göttermutter Hera einen Baum mit goldenen Äpfeln.

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lichen Herbarien hatten Ähnlichkeit mit Schlangen. Diese Kraft wandelten die biblia-Autoren in Traditionsbruch zu listenreich-negativer Kraft. Die Schlange konnte vorschnellen, war also unberechenbar. Hingegen befand ein früher Gnostiker (gnosis, nach Erkenntnis suchend), sie wäre klüger als alle anderen Lebewesen des Paradieses gewesen. Im hohen Mittelalter stellte ein Maler (eine Malerin?) vermutlich aus dem Umkreis von Salzburg und Frauenchiemsee in einem Fresko eine weibliche Figur mit Schlange als Weisheit dar (Burg Otterstein). 33 Die Häutungen-Wiedergeburten, wie Evas und ihrer Töchter Fähigkeit, Leben zu gebären, symbolisieren die Kontinuität des Lebens, „Ewigkeit“. Frauen galten in vielen Religionen physisch als Lebenstor und ebenso als Betreuerinnen Sterbender. 34 Die von Eva und Adam verspeiste Frucht, als Feige interpretiert, ist voller gut verdaulicher Kerne, Symbol für Vielheit und Fruchtbarkeit, Symbol auch für Hoden. Als Apfel interpretiert – auf einem Grabrelief in Iuvavum hält eine Frau einen Apfel in der Hand 35 – ist sie Symbol für Fruchtbarkeit und Leben, Erkenntnis und Entscheidung sowie Sexualität: Liebesapfel (und erotisiert weibliche Brüste); Lebensapfel in nordischer Mythologie, in griechischer ewiges Leben sichernd; begehrenswert, da reichhaltige Ernte und gesunde, lebenserhaltende und vitaminreiche Nahrung versprechend; der goldene Apfel des Paris–Zankapfel–Reichsapfel … Die Erzähler*innen und ihre Zuhörer*innen erfuhren in ihrem makroregionalen Kontext ungeheure Kreativität. Nur getrennt durch ein Gebirge – aber leicht erreichbar über See – erzählten andere die Vita des kontemplativ-itineranten Buddha und trugen sie zu Menschen in China und Japan. In Südasien entwickelten weitere die vedisch-hinduistische Vita des Nataraja Shiva (2. Jh. v. u. Z.–3. Jh. u. Z.), der die Erde in kosmischem Tanz mit graziöser Energie entstehen ließ und über einen Dämon und den Zwerg der Unwissenheit siegte. Tanz ist dynamischer, Erde sich jährlich erneuernder, Was-

ser sich bewegender Prozess. Tanz als religiöse Expressivität und „Inhalation“, Odem–Atem–anima, waren Teil der Glaubenswelten. 36 Drei weitere Ursprungs- und Gesellschaftsgeschichten sollen Vielfalt und Ähnlichkeiten der Narrative verdeutlichen. Als die israelitischen Kulturverbände angesichts urbaner Intellektueller und hoher Schriftlichkeit im Westen ÜberlieferungsFührerschaft erreichten, entwickelten andere in Mesopotamien die Geschichte von Gilgamesch, zwei Drittel Gott und ein Drittel Mensch. Da er sich tyrannisch verhielt, baten die Frauen im urbanen Uruk die Muttergöttin Aruru um Hilfe. Sie schuf aus Lehm in der Wildnis ein menschenähnliches Wesen, Enkidu, und schickte die schöne Šamḫat zu ihm. Nach längerem Liebesspiel erwarb Enkidu Verstand. Enkidu und Gilgamesch trafen aufeinander, aber Enkidu starb und verzweifelt begann Gilgamesch, Unsterblichkeit zu suchen. Nach vielen Abenteuern und einem Weg durch den Edelsteingarten, über die Wasser des Todes und bis zum Land der Seligen fand er die Pflanze der ewigen Jugend. Doch bevor er sie probieren konnte, entwendete eine Schlange sie ihm. Sind Ähnlichkeiten mit biblia-Figuren zufällig? Schlängelte sich die fragende Kraft, die Eva und Adam zur Erkenntnis ihrer lebensspendenden Kraft verhalf, listig aus dem Gilgamesch-Epos in die Bibel? Jahrhunderte später erzählte Scheherazade (Šahrazād) tausendundeine Nacht lang das urbankulturelle Leben der ihr bekannten Welt: Im kosmopolitischen Damaskus, Bagdad und Kairo folgten Menschen Alltagsroutinen, bis ein unerwartetes Ereignis sie zu einer Veränderung, einem shapeshifting, ihres Lebensweges zwang. Sie beschrieb Welten bis China als fremd, überraschend und unvorstellbar. In ihnen agierten Geister, génies: Feen und Magi, Zauberer und Zauberinnen. Paläste waren wie Paradiese Orte des Wunderbaren – geheimnisvoll, aus Smaragden und Kristallen gefügt, für Sterbliche unerreichbar. 37 Das Wunderbare konnte

Elaine Pagels, Adam, Eve, and the Serpent, New York 1988, xix, xxvii, 69. Gnostiker gingen von einem individuellen Zugang zu einer göttlichen Kraft aus. 34 Die von Georg Raphael Donner (1693–1741) in Wien (Schloss Belvedere) geschaffene, vorausschauende „Providentia“ hält eine Schlange als Symbol der Ewigkeit. 35 Hutter (Iuvavum, 144–145) fügt hinzu, dass dem Apfel auch magische Kraft innewohne: Quer durchschnitten erscheint das Kerngehäuse als fünfzackiges Pentagramm, das Böses abwehrt. 36 Zu christlichen Erzähltraditionen Averil Cameron, Christianity and the Rhetoric of Empire: The Development of Christian Discourse, Berkeley 1991. 37 Claudia Ott, Übers. und Hg., Tausendundeine Nacht. Der Anfang und das glückliche Ende, München 2018; Institut du Monde Arabe, Catalogue de l’exposition Les Mille et Une Nuits, Paris 2012. 33

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das Wirkliche sein, denn Herrscher ließen sich Paradiesgärten schaffen und wie génies verwandelten die Nabatäer durch klug geplante Bewässerungsanlagen die Wüste wie in der Oase Al-Ulâ in Arabien in einen Garten und Felsformationen in Petra in monumentale Gräber. Ihre Tempelanlagen in Palmyra/arab. Tadmur/hebr. Tadmor und anderen Städten schienen bewegt „durch räumliche Verschiebungen, Durchdringungen und Verwandlungen“, wiederum shape-shifting und wirklich Märchenhaftes. Ähnliches imaginierten einfache – christliche – Menschen in den Alpentälern: Höhlen mit Feen, Zwergen und unglaublich reichen Königen. Nur besondere Sterbliche durften sie schauen. 38 Eine dritte Erzählung beschrieb Paläste mit Säulen aus Kristall; mit Gold, Silber, Edelsteinen, Bernstein und wundersamen Dingen; mit goldbestickten Teppichen, Filzen und feinem Seidentuch und mit mondglänzenden Perlen, dem „Juwel, das in der Nacht scheint“. Das Land erstreckte sich im Süden bis zum Korallenmeer, im Norden bis zu den Hügeln aus Edelstein. Es handelte sich um Tach’in (chin. größeres, besseres China), wie Fan Ye es rückblickend in seiner Geschichte der späten Han (bis 220 u. Z.) notierte. Er schrieb im 5. Jahrhundert, als auch Scheherazade erzählte. 39 Erzählen war kreativ und vielfältig. Erst schriftliche Nieder- und damit Fest-Legung entzog das Prozesshafte – allerdings nur zunächst, denn Abschreiber würden es erneut verändern. 40 Die biblia-Autoren und deren spätere Interpreten verein-

fachten: Männer- und Frauenfreundschaften, Liebe und Sexualität, Macht und Widerstand verschwanden. Sie ließen Eva und Adam ihre „Nacktheit“ erkennen und fügten wertend hinzu, dass Nacktheit und Sexualität verwerflich und Erkenntnissuche sündhaft seien. 41 Die laut Autoren von Gott verhängte Strafe, Geburten würden schmerzhaft und nährender Ackerbau beschwerlich sein, war den Menschen der Zeit bereits bekannt. Eva stellte Fragen. Wie Athene und Minerva wollte sie Erkenntnis und Wissen erreichen. War sie Rebellin? Viel später würde der antikoloniale Aktivist dunkler Hautfarbe, Frantz Fanon, schreiben: „Ich kam auf die Welt, darum bemüht, den Sinn der Dinge zu ergründen; und meine Seele war von dem Wunsch erfüllt, am Ursprung der Welt zu sein, und dann entdeckte ich mich als Objekt“ der Weißen. 42 Eva und Adam mussten sich als Objekte Gottes erkennen, so die Schriftgelehrten. Die Genesis-Erzählung wirft viele Fragen auf: Warum ist der Wunsch, Erkenntnis zu gewinnen, ein Vergehen? Wer hat, geleitet durch welche Interessen, diese Interpretation erfunden? Warum beginnt diese Version der Menschheitsgeschichte mit Zwangsmigration, der Vertreibung durch Engel mit Flammenschwertern? Weshalb erkennen Eva und Adam, von Kopf bis Fuß unbekleidet, als „Blöße“ nur ihre Lenden? Die Aufgabe, sich fortzupflanzen war den Lebenden nicht neu; die Erde zu bevölkern mag Aufruf zu Migration und zu Herrschaft gewesen sein. 43

5.3 Die Entwicklung der „Israeliten“ und ihrer Narrative zu Gesellschaft und Geschlecht Die israelitische Ursprungslegende, die Christen nach ihrer Abspaltung als Altes Testament übernehmen würden, beschrieb, wie Abrahams und Sarahs Identifikationsgruppe unter einem Mose genannten Sprecher ihre „Auszug“ genannte, reichsinterne Mi-

gration vom Niltal zur Peripherie Kanaan begann. Die Wanderung ist archäologisch nicht belegt. Dass das Pharaonenpaar Amenhotep IV. (Echnaton) und Nefertiti (Nofretete) einen Sonnengott-Monotheismus einführte, gilt als Indiz. Der pharaonische

Petra, Berg Mose und Al-Ulâ liegen nur wenige hundert Kilometer voneinander entfernt. Stierlin, Städte in der Wüste, 49, 81 passim. Johannes Preiser-Kapeller, Jenseits von Rom und Karl dem Großen. Aspekte der globalen Verflechtung in der langen Spätantike, 300–800 n. Chr., Wien 2018. 40 Kim Haines-Eitzen, Guardians of Letters: Literacy, Power, and the Transmitters of Early Christian Literature, Oxford 2000; und dies., The Gendered Palimpsest: Women, Writing, and Representation in Early Christianity, Oxford 2011. 41 Zum Kontext: Griechen zeigten sich bei männlichem Sport nackt, Juden war dies zuwider und sie historisierten ihre Position. Die Gegenüberstellung von Gut und Böse bringt Dynamik und Dialektik, paradiesische Wunschlosigkeit suggeriert Stillstand oder romantische Gleichförmigkeit. 42 Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt 1980 (frz. Orig. 1952), 71. 43 Ernst A. Knauf, Die Umwelt des Alten Testaments, Stuttgart 32003; Böttrich, Ego und Eißler, Adam und Eva, 81. 38

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Würdenträger Mose (alt-ägypt. der Geborene) war als Neugeborenes einem angedrohten Massaker dank dreier Frauen entkommen: seiner israelitischen Mutter Jochabed (Geschenk Gottes), einer ägyptischen Prinzessin und seiner älteren Schwester Mirjam/Maria. 44 In der biblia-Version schloss die Gottheit Abrahams, die der Pharaonen oder eine Synthese beider am Berg Sinai (2285 m) mit Mose einen Bund – auch die griechischen Götter residierten auf einem Berg. Das Wetter war schlecht, Mose verschwand über Tage in Wolken. Es ging um Herrschaft: „Ich aber bin der HERR, dein Gott, von Ägyptenland her, und du solltest keinen anderen Gott kennen als mich“ (Hos 13,4). Auch der assyrische Gott Nabu ordnete an, dass keinem anderen zu trauen sei. JHWH gab Mose Gesetzestafeln, woraufhin dieser versuchte, sich als alleiniger Prophet zu installieren. 45 Doch verhinderten dies seine Geschwister Mirjam und Aaron. Vierzig Jahre zogen die Viehzüchter-Familien durch die „dürre“ Wüste und die „Fleischtöpfe“ der Pharaonen erschienen retrospektiv nahrhafter. Manche erinnerten sich an Chnoubis, Gottheit ägyptischer Unterschichten, andere wandten sich der Sonnengöttin Shemesh zu. Welche Sprache war die ihre: Ägyptisch? Syro-Chaldäisch? Midianitisches Arabisch, wie es Moses Frau Zippora vermutlich sprach? Hebräisch war weder unter Nomaden noch unter Städtern Alltagssprache. Die Gottheit schickte ihre Anhänger geostrategisch in ein „gutes Land, ein Land, darin Bäche und Brunnen und Seen sind, die an den Bergen und in den Auen fließen; ein Land, darin Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel wachsen; ein Land, darin Ölbäume und Honig wachsen; ein Land, wo du Brot genug zu essen hast, wo dir nichts mangelt; ein Land, in dessen Steinen Eisen ist, wo du Kupfererz aus den Bergen haust“ (5. Mose 8,7–9). Die Gottheit, die Eva und Adam vertrieb, hatte eine karge, schweißtreibende Landschaft im Blick gehabt; die Gottheit der Zeit der Ankunft vertrieb zwischen Jordan und Mittelmeer Siedelnde

(Amos 1–9) und erfreute sich an von Frauen hergestelltem Tempelschmuck aus Luxusstoffen. Die teils urbanen, teils nomadischen Familien sahen sich im folgenden Jahrtausend vielfach bedroht: Herrschaft der drei benachbarten Großmächte; gewaltsame Konflikte der vielen Stadtherrscher und Anführer von Hirtenverbänden; bedrückende Macht der Könige mosaischen Glaubens. Ein Hirte, David, 46 besiegte eine große Macht, Goliath genannt, und vereinte Judäa und Israel. Doch schon Solomons zwei Söhne teilten 930 v. u. Z. Macht und Menschen in ein Israel und in ein Judah mit Jerusalem. Ersteres eroberte 722 ein neo-assyrisches Heer, letzteres 586 ein neo-babylonisches. Die Neu-Herrscher deportierten Eliten- sowie Handwerker-Familien, etwa ein Fünftel der Bevölkerung, und zerstörten Solomons „Ersten Tempel“ – daneben hatte es andere Tempel gegeben, die Zählung bestimmten jedoch die Schriftgelehrten des Jerusalemer Tempels. In Babylon durften die Deportierten eine Gemeinschaft bilden, sie wurde neues Zentrum. Als Rückkehr möglich wurde, blieben viele in der neuen community, die Rückwandernden drängten sich den zur Zeit der Deportation Zurückgebliebenen als Elite auf und ließen den Zweiten Tempel errichten. Es folgten Perioden persischer (538–332) und hellenischer (332–167) Herrschaft. Die jüdisch-gläubigen Migrant*innen blieben innerhalb ihrer religiösen Makroregion, denn die Grenze zwischen Glauben trennte nicht Ägypter, Iraner und Griechen, sondern diese von Indern. Der Verband vermehrte sich auf die üblichen zwölf Teilverbände („Stämme“), die schriftgelehrte oder zumindest -kundige Elite sicherte sich ein Interpretationsmonopol und im Zuge der Sedentarisierung setzte sie sich von allen Nachbarn ab. Sie lehnte in fundamentalem Bruch erstens den üblichen und im Zentrum Ägyptens wieder aufgenommenen Polytheismus rigoros ab. Zweitens vernichtete sie im „Gelobten Land“ die Ansässigen und ihre Kultstätten (5. Mose 7,1) 47 und entschied sich gegen jegliche körperliche Vermischung mit den Anderen.

Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998. Eine alternative Lesart nahm den Abzug der ägyptischen Oberherrscher aus Kanaan und die daraus folgende scharfe Rezession in den Städten als Ausgangspunkt. Menschen hätten sich ins Bergland zurückgezogen und eine separate, israelitische Kultur gebildet. 45 Am Berg Sinai entstand unter Kaiser Justinian zwischen 548 und 565 das Kloster der „Heiligen Jungfrau“, jetzt St. Katharina. Die Verehrung der Sonne war wie die Ost-Westausrichtung vieler Gräber und Kirchenanlagen Teil des Bauprogramms: Sie scheint während des Morgengottesdienstes durch das Apsis-Fenster auf den Altar und während des Abendgottesdienstes durch das Westfenster. 46 Genealogen von Jesus (Baum des Jesse) und des fränkischen Kaisers Karl würden ihn als Vorfahren nutzen. 47 Fowden, Empire to Commonwealth, 37, 66. Der Mittelalterhistoriker Kurt Flasch sprach von einem „Rohheitspotential“ des AT-Gottes. 44

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Traditionelle und hellenisierte Juden, abweichende Christus-Gläubige

Drittens maskulinisierte sie in ihrer Schriftfassung den Glauben: JHWH sprach als „HERR“. Doch viele verehrten weiterhin die Fruchtbarkeits- und Meeresgöttin Aschera. Sie war vielleicht Gattin eines Gottes der Tiere und des Regens – des JHWH? Westsemitische Verbände verehrten die Fruchtbarkeits- und Liebesgöttin Astarte. Als im 4. Jahrhundert v. u. Z. Alexander (später römisch „der Große“) in die Region zog, verehrte er weibliche Statuetten mit göttlichen Schutzfunktionen. Generationen nach der Maskulinisierung wandten sich hellenistische Ärzte dem Thema Fruchtbarkeit und der Unsichtbarkeit des LebenWerdens zu und erfanden den defizitären weiblichen Körper: Der Uterus wandere und verursache

Beschwerden, ungewöhnliche Menstruation könne uterines Ersticken, griech. hysterike pnix, kurz: Hysterie, bewirken. Die Schriften wurden erst im 2. Jahrhundert zu einem Korpus zusammengefasst, aber dem Arzt Hippokrates (4.–3. Jh. v. u. Z.) zugeschrieben. Aristoteles (384–322) verkündete, dass Ziel jedes Zeugungsvorganges ein Mann sei. Hingegen kannten Natur-interessierte Autoren wie Plinius (Naturalis Historia, XVII 47, um 77 u. Z.) und Palladius (De re rustica, I 34.3, 5. Jh.) Fruchtbarkeit und beschrieben den Brauch, menstruierende Frauen über die Felder gehen zu lassen, um diese zu befruchten. Alexandrinische Gelehrte waren seit dem 3. Jahrhundert v. u. Z. anatomisch genau informiert (s. Kap. 9.5).

5.4 Traditionelle und hellenisierte Juden, abweichende Christus-Gläubige 48 Die Festlegung des Glaubens als „die Schrift“ verhinderte Usurpation von Herrschaft nicht. Hohepriester verwendeten Teile des Tempelschatzes ab 167 v. u. Z. für Paläste und führten Kriege mit Nachbarherrschern. Orthodoxe und hellenisierte Fraktionen, die in Jerusalem stritten, riefen 63 v. u. Z. den Feldherrn des heranrückenden Römischen Reiches (RR) zur Hilfe. Dieser ergriff die Chance und richtete, unter anderem mit Hilfe germanischer und keltischer Söldner, ein Klientenkönigtum ein. Machthaber und -aspiranten bekämpften sich. Herodes I. aus der südlich benachbarten idumäischen Region, die ein vorangehender Hohepriester annektiert und dessen Bewohner*innen zwangsbekehrt hatte, ergriff die Herrschaft über Judäa, Galiläa und Samaria (h. 39–4). 49 Er übernahm die RR-Urbanisierungspolitik, seine Söhne intensivierten Romanisierung und Kommerzialisierung und bereicherten sich rücksichtslos. „Es begab sich“ – eine eigenartige Sprachfigur ohne Handelnde – im Gebiet des Judah genannten Teilverbandes, dass für einen Zensus im Jahr 8 oder 7 v. u. Z. alle Menschen in ihren Geburtsort zurückkehren sollten, um registriert zu werden. Unter

ihnen befand sich eine Maria/Mirjam mit ihrem Mann, dem Zimmerer Joseph. Sie war schwanger und gebar nach schwer zu belegendem Narrativ am Wegesrand einen Knaben, den sie Jesus (hebr.griech. Gott hilft) nannten. 50 Bei der Inkorporation ins RR im Jahr 6 u. Z. war er etwa 12 Jahre alt, sprach das afroasiatische Aramäisch und hinterfragte als kritischer Jugendlicher den Reichtum der Hohepriester, Handel im Tempel und die Autorität der Traditionalisten. Er scheint seine Eltern und Geschwister verlassen zu haben. Sein ebenfalls christlich gesinnter Bruder Jakobus vertrat dezidiert jüdische Traditionen. Wie dachte er über die Vertreibung von vermutlich 4000 Juden im Jahr 19 u. Z. durch die RR-Herrscher? Er wirkte mit seinen zwölf (!) engsten Anhängern als Wanderprediger, heilte Kranke und ging über Wasser: Magische – oder psychologische – Fähigkeiten waren Teil der Erwartungen an außerordentliche Menschen. Die Pharisäer-Aristokratie des Hohen Rates (Synhedrion), die von Tempeleinkünften lebte, fühlte sich von Jesus bedroht, denn neben die orthodox-hellenistische Spaltung trat die rabbinischer vs. christlicher Juden. Sie suchte wiederum Hilfe bei dem RR-Statt-

Robert Knapp, Pilger, Priester und Propheten. Alltag und Religionen im Römischen Reich, Stuttgart 2018 (engl. 2017), bietet einen hervorragenden sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Überblick. 49 Fundamentalistische Rabbiner der Gegenwart behaupten in Blutlinienkonstruktion, dass anerkannte Gläubige von einer jüdischen (Ur-) Mutter abstammen müssten. 50 Je nach Überlieferung gebar Maria unter einem Felsüberhang (älteste Version), unter einer Palme (Quran), in einem Stall (christlich-landwirtschaftlich). Registrierung der Steuerpflichtigen (Lukas-Evangelium) und Herodes’ Kindesmord (Matthäus) sind historisch nicht nachzuweisen. Belegt ist Steuereinzug durch Subunternehmer, „Zöllner“, die ihren Schnitt machten. Sie galten als „Sünder“ (Markus 2,15–16). 48

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halter Pontius Pilatus und dieser ließ, trotz Bedenken gegen die Stichhaltigkeit der Vorwürfe, den fast 40-jährigen Jesus, 51 von seinem ebenfalls kritischen Cousin Johannes kurz vorher getauft, als Hochverräter – gemäß der üblichen Form der Todesstrafe – kreuzigen. 52 Der Tod war schmerzhaft für die Mutter – den Vater erwähnte und erwähnt das offizielle Narrativ kaum – und für alle, die ihrem Sohn nahestanden. In Repositionierung von Gender nahmen Frauen sein leeres Grab wahr und Maria Magdalena, die ihm besonders nahestand, sah ihn als Gärtner vor ihrem Gefühls-Auge. Die Erzählung von Tod und Auferstehung nahm Tod-Wiedererweckung-Geburt der Isis-Osiris-Horus-Verehrung und vielleicht die Kybele-Aphrodite-Verehrung auf. Die neue jüdische Sekte sah, wie im Fall Abraham-Isaak, den von „Gottvater“ bestimmten Tod des „Sohnes“ als Opfer für die Erlösung der, laut ihrer Wort-Führer, sündigen Menschheit. Sie nannten den Toten meschiach und Christos, den Gesalbten. Die Praxis, Kräfte durch Opfer geneigt zu stimmen, war nicht neu. Neu war der Zusatz: Geht es uns gut, verdanken wir es Gott; geht es uns schlecht, sind wir sündig. „Wir“ müssen Gott durch besondere Opfer versöhnen: eine win-win-Situation für jede Interpretenkaste. Der kritische Prediger sprach die Sorgen vieler an. Aus Protest gegen die dynastische und pharisäische Machtausübung hatten Samariter und Essener sich bereits abgesetzt. Erdbeben und Dürre (32 und 25 v. u. Z.) machten allen das Leben zusätzlich schwer. Die neuen römischen Herrscher und mit ihnen die aristokratisch-jüdischen privatisierten gemäß RR-, aber entgegen israelitischem GottesRecht Agrarland, um es effizient und marktorientiert, wohl durch Sklaven, bewirtschaften zu lassen. Ländliche Familien sahen sich nicht nur in ihrem Lebensunterhalt bedroht, sondern auch in ihrer religiösen Identität. In ihrem Glauben blieb Land in Gottes Hand und Offenbarungstext ebenso wie Durchführungsbestimmungen sahen gerechte Be-

sitzverteilung und sozial-ökonomisch faires Verhalten vor. Angesichts des Modernisierungsschubs, der sich auch im Wechsel zur griechischen Koine, einer Dialekte zusammenführenden Alltagssprache, manifestierte, fanden viele den Prediger und seine Verteilung von Brot und Fisch an Hungrige überzeugend. Mangel an „Brot“ würde über die Jahrhunderte Handeln initiieren: Amerikanische Widerständler warfen in den 1760er Jahren dem britischen „Mutterland“ vor, „to take the bread out of our mouth“, und verarmte Männer und Frauen aus vielen Teilen Europas wanderten im 19. Jahrhundert nicht „nach Amerika“, sondern, in ihren Worten, „zum Brot“. Sollte es Jesus als Person nicht gegeben haben, wie eine wachsende Zahl von Historiker*innen und Theolog*innen argumentiert, wäre er eine gelungene und Sinn-hafte Personifizierung des Widerstandes gegen die neuen und alten Eliten. 53 In die nachfolgenden Richtungskämpfe zwischen Hellenisiert-Persifizierten und Puristisch-Israelitischen griffen RR-Truppen anlässlich eines Befreiungsversuchs 70 u. Z. zum dritten Mal ein, zerstörten 71 den Zweiten Tempel und vertrieben Teile der Bevölkerung. 54 Während Markus begann, sein Gründungsnarrativ niederzuschreiben, entschieden sich viele – wie bereits seit Erdbeben, Dürre und Fremdherrschaft – für Abwanderung; Männern ermöglichte der Söldnerdienst Abzug auf Staatskosten. Im RR galt jüdischer Glaube als religio licita und Migrant*innen bildeten in Illyricum und Pannonia diasporische Gemeinschaften mit eindrucksvollen Versammlungsräumen (griech. Synagogen). Sie behielten Elemente der Sonnenverehrung bei und waren vom Kaiserkult befreit. Reformrabbis gestalteten die Religion flexibel und die Tora-Rollen wurden gewissermaßen transportable Heimat. In eng verwobener, paralleler christlicher Übertragung erschien Christus als Sonnengott: Da es ohne Sonne Leben nicht gibt, war sie Symbol für Gottheit. 55 Anhänger der Christen-Sekte entschlossen sich ebenfalls abzuwandern. Da sie Gesellschaftskriti-

Lt. Bibel war Jesus 33 Jahre alt. Wurde er im später errechneten Jahr Null geboren, oder gemäß Neuberechnungen einige Jahre früher? Zweifel an dem historischen Gehalt der Bibel werden seit Langem geäußert. Die brutale Negierung christlicher Ethik im Faschismus regte, noch in den Ruinen, den Journalisten Werner Keller an, Und die Bibel hat doch recht (1955) zu verfassen. Er traf auf ein Bedürfnis, seine Interpretation wurde Weltbestseller. 53 John D. Crossan und Jonathan L. Reed, Excavating Jesus: Beneath the Stones, Behind the Texts, London 2001; Stierlin, Städte in der Wüste, 23–37. 54 Emil Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.–A.D. 135), hg. und überarb. von Geza Vermes und Fergus Millar, 3 Bde., Edinburgh 1973–1987, 3.1:1–86; Ilan Ziv, Exil – enquête sur un mythe, Dokumentarfilm, Montreal 2012. 55 Raphael Gross u. a. (Hg.), Im Licht der Menora. Jüdisches Leben in der römischen Provinz, Frankfurt/M. 2014; Raphael Patai, Jews of Hungary: History, 51

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ker*innen waren, verfolgten RR-Administratoren ihre Diaspora. 56 Sie trugen ihre Überzeugungen und funds of knowledge in westmittelmeerische, danubische, ägyptische, ostafrikanische und persische Welten. Beide Glaubensversionen, singularisiert als Judentum und Christentum, portativ und ortsunge-

bunden, sahen in Jerusalem Ursprung und Anker. Die Festlegung dieses einen heiligen Ortes bedeutete auch Reduktion von über die Jahrhunderte immer neuen synkretischen Varianten und dogmatischen Spaltungen. Sie stellte die Stadt über das Leben in Wanderhirten-Verbänden. 57

5.5 Von vielfältig gelebter zu staatlich akzeptierter christlicher Religion „Jüdisch“ und „christlich“ bezeichnete bis ins 4. Jahrhundert Lebens- und Glaubensweisen mehr als Gruppen. Migrant*innen jüdischen Glaubens blieben unter sich, die christlich Neugläubigen suchten mit ihrer Erlösung versprechenden Religion Kontakte und gründeten im Donauraum kleine Gemeinschaften. In Syria-Judea leitete meist ein presbyteros (griech. Ältester, später Amtsinhaber) und ein/e Diakon*in eine Gemeinde sowie, wo sinnvoll, ein gewählter Bischof. Die ecclesia prima, aus Sicht späterer Kirchen-Hierarchen ecclesia primitiva, galt jüdisch und staatsrömisch Gläubigen als pagan. Ihre Sprecher begannen Zugang zu den Mächtigen zu suchen und mussten dafür erstens darlegen, dass sie keine sozialreformerische oder gar revolutionäre Sekte verträten, und zweitens ihren religiösen Diskurs attraktiv machen. Dafür nutzten sie Berichte, die romanisierte Autoren seit Ende des 1. Jahrhunderts über Jesus, Beiname Christus, in hellenischer Koine verfasst hatten und werteten sie zu autoritativen Evangelien auf: das „Neue Testament“ (NT) als Anschlussband zum AT. Die Schriftgelehrten schufen sich eine Welt komplexer theologischer Debatten und werteten die Gemeindemitglieder als „Laien“ (griech. laos = Volk) ab. In der Dualität von Wanderhirten- und urbanen Familien erschien Jesus-Christus als Schäfer, Gärtner oder Fischer, sein Gottvater eher als urban und mit Warenaustausch vertraut: Gläubige mussten ihm Rechenschaft ablegen, er legte menschliches Leben auf eine Waage; Taufe besiegelte Zugehörigkeit wie Schriftsiegel oder prägte wie Münzhämmer; Menschen waren Gott etwas schuldig,

Christus löschte Schuld durch Opfertod. In anderer Perspektive trugen Gläubige das Mal Christi wie Tiere das Brandmal des Besitzers; Vieh, pecus, wurde Währung, pecunia. Viele vertraten eigene Sichtweisen: Unter syrischen Christen war „Heilige

Abb. 5.22 Christus als Sonnengott in der Nekropole unter der Peterskirche, Rom 3./4. Jh., mit den Attributen Wagen, sich bäumenden Pferden, flatterndem Mantel und Strahlenkranz (Goldmosaik)

Culture, Psychology, Detroit 1996; Collar, Religious Networks, 146–223. In Aquincum waren jüdische Legionäre aus Antiochia und Hemesa (Homs) stationiert; Funde in Carnuntum zeigen jüdische Ornamentik; in Noricum fehlen Hinweise auf Migrant*innen jüdischen Glaubens. 56 Reza Aslan interpretiert Jesus als jüdischen Revolutionär, der die Besetzung Palästinas beenden wollte, aber keine millenaristischen Ziele verfolgte. Reza Aslan, Zelot: Jesus von Nazareth und seine Zeit, Reinbeck 2013 (amerikan. Orig. 2013). 57 Fowden, Empire to Commonwealth, 12–38, 82, Karte vor Rückumschlag.

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Geist“ (grammatisch) weiblich, erst im Griechischen wurde es zum Männlichen gewandelt; ägyptische Christen behielten die WeltordnungsGöttin Maat bei. Manche Autoren verschärften die Ablehnung des Weiblichen: „Petrus sprach zu ihnen: ‚Mariham soll von uns fortgehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht würdig.‘ Jesus sprach: ‚Seht, ich werde sie führen, um sie männlich zu machen, dass auch sie ein lebendiger Geist wird, der euch Männern gleicht‘“ (2. Jh.). Dass ein Sohn die Mutter vermännlicht und zum Leben führt, war eine ungewöhnliche Perspektive. Später betonten andere Weibliches – „Eva-hawa Maria–Ave Maria– Leben Maria“ – und Kirchenmaler würden Maria mit Strahlenkranz darstellen wie ägyptische Künstler den Gott Aton mit Sonnenstrahlen, die in seinen Händen zu enden schienen. Aton, Sohn von Echnaton und Nofretete, hatte Mose inspiriert. 58 Hinzu kam die Verehrung der zweiten Maria: „Magdalena“ aus dem urbanen Fischerzentrum Magdala am See Genezareth, Wegstation der Via Maris von Kleinasien nach Mesopotamien (Abb. 6.3). Um staatsrömische Priester-Institutionen zu stärken, verordnete Kaiser Diokletian zwischen 303 und 305 rigorose Christen-Verfolgungen. Manche nutzten dies, um unliebsame Nachbarn oder Konkurrenten als Christen zu denunzieren und beseitigen zu lassen. An der norischen Peripherie wurden in Lauriacum Christen ergriffen und ein ihnen Hilfe bietender römischer Offizier Florian getötet (Bericht 8./9. Jh.). 59 Als eine in Theben unter koptischen Christen rekrutierte Legion sich weigerte, gegen donauländische Christen vorzugehen, wurden die Legionäre getötet (Bericht 5. Jh.). Ihren obersten Offizier Mauritius würden spätere Christen als Heiligen verehren. 60 In Augusta Vindelicorum wurde Afra, Tochter einer aus Zypern zugewanderten Familie, 304 lebendig verbrannt (Bericht 8. Jh.). Sie war, je nach männlichem Autor, Prinzessin oder Prostituierte und wurde später heiliggesprochen. Eine Salzburger Hausbesitzerin, eine Laienschwes-

ter im Stift Göss, eine begüterte Frau in Weißpriach und vermutlich andere trugen ihren Namen. 61 Manche Zuwander*innen kamen aus der Provinz Africa (heutiges Tunesien), in der, wie in Westanatolien und Armenien, ein großer Teil der Bevölkerung die neue Religion angenommen hatte. Viele Migrant*innen sprachen Griechisch, auf der Apennin-Halbinsel sozialisierte Lateinisch, aus Syrien kommende Aramäisch. 62 Im Rahmen der Konkurrenzen um den römischen Kaiserthron entschied sich Aspirant Konstantin, das Kreuz als „Kampfmagie“ (L. F. v. Padberg) zu verwenden. Er siegte und stellte gemeinsam mit Mitkaiser Licinius, 313, den christlichen Glauben dem jüdischen als religio licita gleich. Konstantin war Teil der kosmopolitisch-imperialen Elite: als Sohn eines römischen Offiziers und der Herbergswirtin Helena aus Bithynien (anatolische Schwarzmeerküste) in Naissus (Niš, Serbien) geboren; zum Kaiser ausgerufen in York (Britannia), Hauptstadt in Trier; Aufenthalt in Mailand. Seine Anerkennung der Minderheitenreligion werteten spätere Wort-Führer als „konstantinische Wende“. In der Levante kommunizierten Menschen in Aramäisch und Koine-Griechisch, verwendeten untereinander lokale Sprachen und mit Behörden Lateinisch. Das gemeindlich-partizipatorische Element erschien Bischöfen störend, seit sie „hoffähig“ geworden waren und um Positionen und Bekanntheitsgrad konkurrierten. Unter Aufsicht des Kaisers legten meinungsstarke und spitzfindige Bischöfe, Asketen und Religionsgelehrte in Nicäa (Iznik, Anatolien) 325 eine rigoros eingegrenzte Auswahl von Schriften als Meistererzählung „Neues Testament“ und einzig „heilige“ Sammlung fest: Christentum Version 2.0 oder „Nicäa“. Die anwesende Mehrheit schloss Andersdenkende aus und etikettierte alternative Lesarten als verborgene, griech. apokryphe, Texte, so das „Buch von Adam und Eva“ (1. Jh.), das „Evangelium der Maria [vermutl. Magdala]“ (vor 160) und alle, die andeuteten, dass

Bild des sog. Kairoer Klappaltars, 14.–13. Jahrhundert v. u. Z., Ägyptisches Museum, Kairo. „Ave“ war in Doppelbedeutung auch ein römischer Gruß. 59 Im Folgenden nenne ich die oft späten Entstehungsdaten der jeweiligen Erzählungen. 60 Otto I. gab die Reliquien des Mauritius in ein Kloster in Magdeburg und ihm wurden zahlreiche Kirchen in Norddeutschland, im Baltikum sowie in Augsburg und in Friesach geweiht. 61 Im 8. Jahrhundert trug die Augsburger St. Afra-Kirche ihren Namen; Bischof Ulrich (a. 923–973), der den hl. Mauritius verehrte, ließ sich dort beerdigen. MGSL 86/87 (1946/47), 28. 62 Die südfranzösische Camargue erreichten im 1. Jahrhundert per Schiff (lt. späterer Erzählung) drei Marien und die „schwarze Sara“, interpretiert als Frauen um Jesus mit ihrer Dienerin. Die im 6. Jahrhundert errichtete Kirche Saintes-Maries-de-la-Mer wurde dank der Ägypterin Sara Wallfahrtsort für Egyptians, engl. gypsies. 58

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Von vielfältig gelebter zu staatlich akzeptierter christlicher Religion

Jesus und Maria Magdala verheiratet gewesen waren. Wie Markus erwähnten sie, dass Joseph und Maria nach Jesu Geburt Kinder hatten, Jesus also Geschwister hatte (Matthäus 1,18–25). 63 Die Sprecher differenzierten sich in Bischöfe, Theologen, Prediger, Hagiographen, Enzyklopädisten, Übersetzer, Kommentatoren und Mystiker und entwickelten in Hunderten von Treffen mit lautstarken Debatten, Tätlichkeiten, elaborierten Zeremonien und Inszenierungen eine Hierarchie (griech. hiera archä = heilige Herrschaft). Sie votierten Steuerprivilegien für Bischöfe, wandelten ecclesia in Karriereoptionen für Männer und appropriierten Weiblichkeit: ecclesia als Mutter, Männer-Lehren als Muttermilch. Anders als Baumhaine in keltischer Verehrung galt ihnen das Kreuz aus Holzbalken als Symbol. Damit wurde die Teilung von Institution (s. Kap. 6.2) und alltäglichem Glauben (s. Kap. 9.1, 9.2) offiziell. Die arrivierten Hierarchen gestalteten „Sonn-Tag“ als christlichen Feiertag, denn der Kaiser verehrte weiterhin den Sonnengott. 64 Da die monopersonale Herrschaft einer Kircheninstitution bedurfte, berief Kaiser Theodosios I. 381 alle – im RR vertretenen – Fraktionen zu einem Konzil nach Konstantinopel. Die Kaiser-gestützte Mehrheit erhob Alleinvertretungsanspruch, schloss Vertreter vieler anderer Glaubensweisen aus und, 451 in Chalcedon, die sogenannten altorientalischen Kirchen: Syrier (über Persien ostwärts), Armenier, (ägyptische) Kopten, Äthiopier, Aramäer und Nestorianer. Die Ansichten von Gnostikern, Donatisten und Arianern erklärte sie für irrig. Bischöfe im Herrschaftsbereich der Sāsāniden würden eigene Konzile einberufen. Von den „heiligen“ Textsprachen Aramäisch (syrische Variante), Hebräisch und Griechisch diente letztere der Textverbreitung nach Westen, erstere im Osten. Der Kaiser legte die autorisierte griechisch-sprachige Version fest und erhob damit dieses eine von vielen Christentümern zwar nicht de-iure, aber de-facto zur Staatsreligion. Seither brachte Zugehörigkeit zu anderen Religionen zivilrechtliche Nachteile. Schrittweise konvertierten

Menschen, oft ohne alte Verehrungen abzulegen; vier Jahrhunderte später würden in Palästina unter Kalifen-Herrschaft viele ebenso schrittweise und ohne Christliches abzulegen zum muslimischen Glauben an denselben Gott übergehen. 65 Die Neuaufstellung veränderte Glauben grundlegend. Polytheistisch Gläubige zogen Kraft aus polymorphen Vorstellungen; Gottheiten, die nicht antworteten, konnten sie fallen lassen und andere ihrem Pantheon hinzufügen. Hingegen erforderte der „unerklärliche Ratschluss“ eines Mono-Gottes Interpreten und Apparate für die Bekämpfung von Abweichlertum, deren Unterhalt die Transaktionskosten erhöhte. 66 Die Wort-Führer mussten einerseits auf Orthodoxie achten und andererseits immer neue Erklärungen für Neues finden. Kanonisierung beendete die Dimension eines souvenir approximatif, einer sich dem Vergangenen annähernden Erinnerung. Auch änderte die Neuaufstellung die Motivation für Mitgliedschaft. Vor Nicäa und Konstantinopel hatte Zuwendung zum christlichen Glauben Systemkritik bedeutet und die Überzeugungstäter*innen mussten wirtschaftliche Nachteile und Verhöhnung hinnehmen. Sie verloren ihre Netzwerke, setzten sich Verfolgungen aus, konnten getötet werden. Nach Anerkennung erwarben Pragmatiker*innen Mitgliedschaft und versprachen sich Vorteile auch bei geringer Glaubensintensität: Aus einigen Hunderttausenden am Beginn des 3. wurden mehrere Millionen am Ende des 4. Jahrhunderts. Religionswechsel zahlte sich aus. Die kaiserlich-klerikale, staatstragende Version des Christentums teilte sich allerdings in die spezifischen liturgischen Bräuche der Metropoliten von Antiochia über Alexandria, Caesarea, Ephesus, Konstantinopel, Illyrien, Aquileia, Mailand, Rom bis nach Arles sowie weiterer, weniger bedeutender Bistümer. Die Bischöfe in Mailand und Rom entfernten sich von der griechischen Sprache und verdrängten das Syrische. Die römischen versuchten früh, sich mit Appropriation von Petrus eine Sonderposition zuzusprechen. Sie würden diese jedoch

Reinhard Nordsieck, Maria Magdalena, die Frau an Jesu Seite, Münster 22006; Margaret Starbird, Das Erbe der Maria Magdalena. Das geheime Wirken der Witwe Jesu, Berlin 2006. Zu dem weibliche Perspektiven aufnehmenden Lukas-Evangelium Kate Cooper, Band of Angels: The Forgotten World of Early Christian Women, London 2013, 42–47. Caroline Walker Bynum, Fragmentation and Redemption: Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1992, 79–117. 64 Ramsay MacMullen, Voting about God in Early Church Councils, New Haven 2006; Fowden, Empire to Commonwealth, 106–109; Hartmut Leppin, Die frühen Christen von den Anfängen bis Konstantin, München 2018. 65 Fowden, Empire to Commonwealth, argumentiert, dass zentral geführte Strukturen sich zu pluralistischen auflockern. 66 Leppin, Die frühen Christen, 212–215, über die Debatten um Bezahlung. 63

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.23 Anteil der Menschen christlicher Glaubensvorstellungen, Beginn 4. Jh.

erst um 600 nach Rückverlagerung der Hauptstadt aus Ravenna verwirklichen können und erst um 1000 im Westen Vorrang erreichen. Aus ihrer Macht-vollen Positionierung heraus begannen die „heiligen Männer“ – genauer: Mehrheitsmänner – ein Zerstörungsprojekt. Sie „vandalisierten“ – Vandalen waren Christen – Verehrungsstätten von Menschen anderer Spiritualität und Liturgien: Demolieren von Statuen und Gebäuden und das Verwenden des Schutts als Baumaterial für Kirchen oder, alternativ, ihre Umwidmung – damnatio memoriae aus anderer Sicht – durch Zeremonie und Weihwasser. Statt Wasserheiligtum geweihtes Wasser – portabel und vielfältig einsetzbar und Wertvolles der Anderen konnte als Edelmetall verkauft werden. 67 Hatten frühe Gläubige Jesus als „Gottgesalbten“ gesehen, debattierten neue Theologen eine Christo-

logie: War er Menschensohn, Gottessohn oder beides? Eine Zweinaturen-Lehre, Christus habe „unvermischt und ungetrennt“ eine göttliche und eine menschliche Natur, hatten Cyril (Alexandria) und Vertreter einer muscular christianity in Chalcedon durch Bestechung durchgesetzt; 68 Anhänger des Presbyter Arius (Alexandria) glaubten, „der Sohn ist Gott nicht wesensgleich (homo-usios) sondern wesensähnlich (homoi-usios)“: Streit um ein iota, höhnten Gegner. 69 Vordergründig ging es um Vater und Sohn: War der Vater übergeordnet? Die Arianus-Fraktion wollte das alttestamentarische und alltägliche Patriarchat erhalten. Hintergründig ging es um die Mutter: Die Zwei-Naturen-Fraktion stufte Maria von Gottesmutter, theotokos, zu christotokos ab. Was dachten die Frauen in den Gemeinden? Eine dritte Fraktion war sich bewusst, dass ihre finanzielle Position von der Entscheidung abhing:

Eberhard Sauer, The Archeology of Religious Hatred in the Roman and Early Medieval World, Oxford 2003. Cyril hatte 412 das Amt von seinem ebenfalls aggressiven Onkel Theophilus übernommen, der führend an der Zerstörung des Sarapis-Heiligtums (391) samt eines Teils der berühmten Bibliothek beteiligt war. In den Kämpfen lynchten Christen 415 die pagane Wissenschaftlerin Hypatia. 69 Monophysiten sahen Einheit, „der Sohn ist eines Wesens mit dem Vater“, Nestorius’ assyrische Version sah Christus als Mensch. Ungenaue Übersetzungen vom Syrischen ins Griechische spielten eine Rolle. 67

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Von vielfältig gelebter zu staatlich akzeptierter christlicher Religion

Abb. 5.24 Jüdische Gemeinden als punktuelle Diaspora um 600 Die Bildsprache impliziert Denkvorgaben: Ausbreitung christlich Gläubiger stellen Autoren historischer Atlanten durchgehend flächig dar, Ausbreitung jüdischen Glaubens hingegen punktuell. Hinweise auf andere Religionen und auf ihre Intensität, zum Beispiel durch Säulendiagramme, fehlen.

Nur wenn Christus Gott war, konnten sie als Interpreten-Kaste seinen Tod nutzen. 70 Mit den Streitereien war das Projekt eines einzigen staatschristlichen Imperiums über die bekannte, bewohnte Welt gescheitert. Der entlassene Metropolit von Konstantinopel, Nestorius, wandte sich ins Persische Reich und seine Version fand Anhänger*innen bis ins China der T’ang. Christen im Niltal und bis nach Äthiopien-Aksum entwickelten die koptische Version und Sprache. Goten in der Donauebene, Langobarden in Oberitalien und vielleicht die agilolfingisch-bayerische Herrscherfamilie schlossen sich der arianischen Version an. Andere, zum Beispiel Christen armenischer Kultur, bildeten autokephale Kirchen: „Christen unterschiedlicher Orthodoxien“ oder, als Plural, Christentümer. 71

Hinzu kam Geschlechterhierarchie. Diejenigen, die den Ausschluss von Frauen von allen Ämtern vertraten, bezogen sich auf Paulus, der an die Korinther (1.14,34) und an seinen Mitarbeiter Timotheus in Ephesos (1.2,11–12) geschrieben hatte, dass Frauen sich „in aller Unterordnung belehren lassen“ sollten und zu schweigen hätten. Genau besehen, verehrten zu Paulus’ Zeit Korinther und Epheser viele Gottheiten, darunter Athene, Göttin des Wissens. Paulus selbst kooperierte als Zeltmacher beruflich und spirituell mit Frauen, die in diesem Berufszweig oft selbstständig kleine und große Firmen führten. Fälscher hatten die Textstellen eingefügt, misogyne Kirchenväter sie zum Teil der heiligen Schriften gemacht. 72 Beispielhaft lässt sich das Handeln von Frauen an Berichten über Thekla zeigen, die sich Paulus um

Lutz E. von Padberg, Die Christianisierung Europas im Mittelalter, Stuttgart 1998; Aziz Atiya, A History of Eastern Christianity, London 1968. Fowden, Empire to Commonwealth, 12, 109–110; Robert D. Sack, Human Territoriality: Its Theory and History, Cambridge 1986, 102–110; Philip Wood, „We have no King but Christ“: Christian Political Thought in Greater Syria on the Eve of the Arab Conquest, New York 2010. 72 Cooper, Band of Angels, 1–76; Haines-Eitzen, The Gendered Palimpsest; Crossan und Reed, In Search of Paul. Böttrich, Ego und Eißler, Adam und Eva, 70 71

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

50 in Iconium (Konya) anschloss, fortan asketisch lebte und zum Tode verurteilt wurde, weil sie die Autorität ihrer Familie verlassen hatte und sich gegen die Avancen eines jungen Adligen gewehrt hatte. Auch christliche Dogmatiker forderten ihren Tod: Sie hatte nicht nur ungetauft gepredigt, sondern sich im Angesicht des Todes selbst getauft. Frauen bezogen öffentlich und lautstark für Thekla Stellung, darunter Tryphaina (gest. 111), eine Verwandte des Kaisers. An dem Ort, an dem Thekla nach ihrer Errettung als Eremitin lebte, betete die gallische Pilgerin Egeria. 73 Die Erzählung von einer sich wehrenden Frau stellte einen Gegenpol zu den FrauenraubGeschichten vieler Gründungsmythen dar. 74

In Stadt-Rom gingen die vielfältigen und multilingualen Gemeinden im 3. Jahrhundert zur lateinischen Sprache über. Die später als linear konstruierte Papst-genealogia wäre ihnen unvorstellbar gewesen, denn der Stadtbischof war einer von vielen Sprechern. „Die Kirche“ war immer nur die jeweilige Mehrheit, deren Macht-Haber aus Angst vor Dissidenten coniurationes verboten. Etwa ein Jahrhundert später verboten Konziliare coniurationes clericorum ebenso wie gemeinsame Fürsorge, caritas. Hatten ländliche Kleriker in einer Berufsgilde gemeinsam über geistliche und materielle Probleme nachdenken wollen? 75

5.6 Métissage in transeuropäischen Verflechtungen Christlich Gläubige erreichten um die Mitte des 3. Jahrhunderts Aquincum und über Aquileia Immurium, Cucullis und Iuvavum. Andere trieben Handel Rhône-aufwärts oder segelten bis zu irischen, britischen und friesischen Küsten. Manche der dort Lebenden fügten ihren Überzeugungen die neue Gottheit hinzu. Taufe war für viele ein Initiationsritual unter mehreren, in Noricum schlossen sich vermutlich etwa zehn Prozent den christlichen Praktiken an. Als in dem noch-römischen Lager Ovilava (Wels) Ursa starb, schrieb ihr Mann Flavius Ianuarius: „Geborgen im Grab ruht hier Ursa, eine gläubige Christin mit 38 Jahren. Bei einer Geburt wurde sie unvermutet durch grausame Schicksalsfügung der tiefsten Unterwelt überantwortet und ließ mich plötzlich zurück, den ihr für Lebzeiten verbundenen Gatten. Ich Unglückseliger gehe umher und suche sie, die ich selbst auf ewig in der Erde bestattet habe“ (Hervorhebungen D. H.). Emotionen zeigen auch Grabstelen, auf denen

Mann und Frau offenbar eng verbunden ihre Hände ineinander gelegt haben. 76 Die Legionäre, Händler, Versklavten und Gefangenen, die Glaubensvielfalt Drau- und Mur-aufwärts trugen, sprachen viele Sprachen. In Aquileia hatten Veteranen-Familien bereits im 3. Jahrhundert eine Gemeinde mit Bischof gebildet. Letztere avancierten sich zu Metropoliten und beanspruchten Verwaltungshoheit bis zur Donau. In Pannonia existierten um 300 fünf Bischofssitze, in Dalmatia und in Noricum (Lorch/Enns) je einer. Eine (teil-) christliche „Romania“ lebte von Illyrien und Dalmatien bis Raetien und Augsburg. In Binnen- und Ufernoricum mag die Erlöserreligion vielen attraktiv erschienen sein, denn ihre Gottheiten boten während des Übergangs von Rand- zu Konfliktzone keinen Schutz. „Gott“ half – so spätere Legenden – während der Zerstörungen germanisch-sprachiger Verbände. 77 Métissage ließ eine überzeugte und überzeugende Minderheit zu pragmatischer Mehr-

96–104; Monique Alexandre, „Frauen im frühen Christentum“, in: Pauline Schmitt Pantel (Hg.), Antike, Frankfurt 1993, 451–490 (Bd. 1 der fünfbändigen Geschichte der Frauen, hg. von Georges Duby und Michelle Perrot). 73 Der historische Gehalt der Erzählung ist umstritten, neueste Forschungen sehen Theklas Existenz als gesichert. Renate Eibler, „Die heilige Thekla – eine Schülerin des Apostels Paulus, http://www.piaristen.at/stthekla/pfarre_2008/paulusundthekla.pdf (2. August 2020). Diana Lynn Severance, Feminine Threads: Women in the Tapestry of Christian History, Fearn, UK 2011; Averil Cameron und Amélie Kuhrt (Hg.), Images of Women in Antiquity, London 1983. 74 Patrick J. Geary, Women at the Beginning: Origin Myths from the Amazons to the Virgin Mary, Princeton 2006. 75 Otto G. Oexle, „Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit“, in: Herbert Jankuhn et al. (Hg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, 2 Bde., Göttingen 1983, 1:284–354. 76 Franz Humer et al. (Hg.), A.D. 313. Von Carnuntum zum Christentum, St. Pölten 2014, Zitat 324–326; Universalmuseum Joanneum, Archäologie, Graz. 77 Lt. „Regen-Wunder“-Legende schlossen markomannische Trupps 172 ein durch Hitze und Durst geschwächtes römisches Heer ein. Auf Gebet hin schickte der christliche Gott Regen und, gekühlt, siegten die Legionäre.

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Métissage in transeuropäischen Verflechtungen

heit werden. Gemeinden bildeten Christen in der Brückenstadt Poetovio an der Drau, in Emona/Laibach/Ljubljana (slaw. ljubl = liebliche Gegend), Teurnia, Aguntum, Virunum sowie Celeia an der Save. 78 Zuwander*innen germanischer und slawischer Dialekte mit anderen Glaubenspraktiken kamen hinzu. Der spätere, weit verehrte Bischof Martin (316–397) in Tours wuchs in Sabaria (Stein am Anger/Szombathély) als Sohn eines römischen Tribuns unter Nachbarn auf, die Isis-Sothis verehrten. 79 Quadische und sarmatische Waffengenossenschaften verwüsteten christliche Kultstätten, militante Christen zerstörten Mithräen. Im Voralpenraum fehlen für die post-imperiale Zeit religiöse und materielle Zeugnisse analog der Gräberfelder der Salzwerker oder der Römer, zum Beispiel am iuvavischen Bürglstein. Hinweise bieten zwei religiöse Zentren. Auf einem Berg in Kärnten verehrten keltische Menschen die Gottheit Jovenat, römische Zuwander*innen ihre Gött*innen und das Grab einer Heiligen. Ostrogotische Christen errichteten zwei Doppelkirchen, vielleicht parallel für arianisch-christliche Menschen germanischen Dialektes und mehrheits-christliche, regionales Lateinisch sprechende Romanen. 80 Auf dem Frauenberg bei Flavia Solva/Lipnica/Leibnitz (Steiermark) verehrten die – jeweils zugewanderten – Ansässigen keltische Göttinnen und anschließend die ägyptische Isis als Schutzgöttin stillender Mütter und die nutrices Augustae als römisch-kaiserliche Ammen sowie, später, Isis-Maria lactans. 81 Frauen pilgerten zu den Heiligen und baten um sichere Geburt und gesunde Kinder. In Sichtweite befand sich die Verehrungsstätte auf dem Schöckl (1445 m) im Grazer Bergland, auf dem sich ein keltischer, dann römischer Weiheplatz befand, den besonders Frauen nutzten (620–450 v. u. Z. und 3./4. Jh. u. Z.). Die Ausbreitung der griechischen, wie später der römischen Liturgie erforderte lokale Kommunikationsfähigkeit und „allgemeinsprachenbildende

Abb. 5.25 Hemmaberg: Kirchen mit Nebengebäuden und die gegenwärtig genutzte Kirche St. Hemma

Kultsprachen“ (H. Wolfram). Wulfila (~311–383), Westgote kappadokischer (zentralanatolischer) Herkunft, entwickelte eine Schrift für die gotischgermanische Allgemeinsprache und übersetzte die Bibel. Kyrill und Method (9. Jh.) entwickelten für slawisch-sprachige Gläubige das Altkirchenslawische. Andere schufen frühe germanisch-sprachige Übersetzungen und Mönche im Kloster Mondsee übersetzten fränkische Schriften in altbayerischen Dialekt. Buchblöcke (codices) aus beidseitig beschriebenem Pergament ersetzten seit dem 4. Jahrhundert Buchrollen und vereinfachten und verbilligten die Verbreitung von Texten. Die Annahme des neuen Glaubens geschah besonders in zwei gegensätzlichen Formen: als Selbst-

Atlas of the Early Christian World, Karten 3–4 und 13–14. Die 8 t schweren Säulen des römischen Iseums fertigten Steinhauer in Kleinasien und Transportarbeiter schafften sie heran. Das Brunnenwasser in den Isis-Heiligtümern symbolisierte das heilige Nilwasser und Nilometer die Anzeige der Nilüberflutungen. 80 Jeder Teil der Doppelkirche könnte auch für unterschiedliche Funktionen verwendet worden sein. Michaela Binder und Sabine Ladstätter (Hg.), Die Heilige vom Hemmaberg. Cold Case einer Reliquie, Wien 2018. Die Heilige war vermutlich aus Südosteuropa im Rahmen der römischen Annexion zugewandert. Das Material des Reliquiars stammte aus Steinbrüchen bei Trentino. 81 Archäolog*innen fanden nahe der Wallfahrtskirche für Maria mehr als 60 Votivgaben für „Isis lactans“ (Stand 2017). Gert Christian, Heimo Kaindl und Bernhard Schrettle, Tempel und Kirche. Zur Kult- und Kulturgeschichte des Frauenberges bei Leibnitz, Graz 2011; Göttliche Mütter. Die Ammengöttinnen vom Frauenberg und ihre Schwestern. Ein Blick über Grenzen, Leibnitz 2017. Zusammenstellung überbauter Verehrungsorte in Georg Rohrecker, Die Kelten in Österreich. Auf den Spuren unseres versteckten Erbes, Wien 2003, 141–148. Schöckl: Ausgrabungen seit 2015 durch das Archäologiemuseum Joanneum, Graz. Die römischen Artefakte zeigen Verbindungen zur Rheingegend und in den mediterranen Bereich. 78

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

Abb. 5.26 Mönchsmigrationen von Syrien-Ägypten nach Irland und Britannia, 4. Jh., und von dort nach Gallia und post-Noricum, 7.–8. Jh.

besinnung (oft „Konversion“ genannt) in lokalen gesellschaftlichen Kontexten und als machtpolitische Penetration durch Agenten von Herrschern, die so ihre Position festigten. 82 Als Kaiser Theodosios der Staatsreligion die Subsidien entzog, begann unter Nutzung aufgelassener Tempel und Einzug der Tempelschätze christliche „Verortung“ als Kirchen-Bauboom entlang der Donau bis Carnuntum. 83 In Noricums nur noch wenig besiedelten Städten war Kirchenbau nicht sinnvoll. Zu den Entwicklungen im Voralpenraum kam im 6. Jahrhundert gallischer Einfluss hinzu. Den Militärverbänden (s. Kap. 4.8) folgten Kirchenmänner und organisierten Christentum. Beiden war ein Herunter- und Unter-Drücken der romanisch-christlichen Ansässigen selbstverständlich.

„Hinhaltenden Widerstand“ leistete ein „traditionsbewusstes Heidentum“, das heißt Altgläubige, denn „das Christentum entsprach den Bedürfnissen des Königtums und des Adels besser als denen der bäuerlichen Bevölkerung“. 84 Einen weiteren Einfluss trugen „anglo-irische“ oder „iro-schottische“ Glaubensboten, als „heilige Männer“ bezeichnet, in die Region. Levantinische Mönche hatten auf den irischen Inseln missioniert und überzeugte Männer und Frauen hatten Kloster-Gemeinschaften gebildet. Da es Städte nicht gab, gab es keine Bischöfe. In den Klöstern mussten, erster Sonderweg, individuell Sünden gebeichtet und gemäß neuen, in Bußbüchern festgehaltenen „Tarifen“ kompensiert werden: Frömmigkeit wurde zählbar. 85 In einem zweiten Sonderweg

Nora Berend, „Introduction“, in: dies. (Hg.), Christianization and the Rise of Christian Monarchy, Cambridge 2007, 1–46. Modell einer idealisierten Kirchenanlage, 5.–6. Jahrhundert, im norisch-pannonischen Raum in Humer et al., Carnuntum, 314–315. 84 Rudolf Noll, „Die Anfänge des Christentums“, in: Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs: Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.1:93–103, Zitat 93–94; Cordula Nolte, Conversio und christianitas: Frauen in der Christianisierung vom 5. bis 8. Jahrhundert, Stuttgart 1995, Zitat (geringfügig verändert) 20; Wolfgang Haubrichs, „Christentum der Bekehrungszeit“, Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 4 (1981), 510–557; Arnold Angenendt, Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, Stuttgart 1990. 85 Im 9. Jahrhundert wurde Quantität selbstverständlich. König Ludwig (gest. 840) ließ für den Sieg in einem Kriegszug gegen „Bulgaren“ die Mönche in der Abtei Fulda je 1000 Messen und Psalterien lesen. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 22000, 21. 82 83

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Zuwandernde Kirchenmänner und Religiose im Voralpenraum

wählten viele Mönche Heimatlosigkeit, peregrinatio. Sie richteten in Northumbrien eine Klosterbasierte Organisation mit Abtbischöfen ein. Im Süden, wo romano-britische Organisation erhalten blieb, intensivierte 580 die Heirat von Æthelbert (Kent) und Bertha, (Merowinger), die Anglia ←→ Gallia-Verbindungen, da sie sich durch Kleriker begleiten ließ. Ein „griechischer“ Migrant, Theodor aus Tarsu (südöstliches Anatolien) würde um 670 als Erzbischof in Canterbury die Organisation vereinheitlichen. 86 In den transmaritim eng verbundenen Gesellschaften von Anglia über Jütland bis Südskandinavien suchten Herrscher mit un-, aber übergangschristlichem Begräbnisluxus Beherrschte zu beeindrucken. Hochqualifizierte Handwerker*innen verwoben traditionelle und neue britische, gallo-nor-

mannische, keltische und lokal-christliche Symboliken. 87 In einem Grab fanden Archäolog*innen Überreste eines Pfaus, in Indien und Sri Lanka heimisch und seit Alexander d. G. in Europa bekannt. Der männliche Pfau, in vielen Religionen Symbol und im 3. Jahrhundert in Carnuntums Zivilstadt verehrt, stand in der christlichen Religion für Königlichkeit, Eitelkeit und Unsterblichkeit. Die iro-schottisch-angelsächsischen Migranten mussten sich bei Ankunft auf dem Kontinent am merowingisch-karolingischen Hof vorstellen und um Erlaubnis für ihre Mission 88 ersuchen. Sie unternahmen ihre peregrinatio vorrangig für das eigene Seelenheil und nur sekundär zur Verbreitung des Glaubens. An dem Herrscherhof forderten sie Mittel für den guten Zweck, Askese war ihr Ziel nicht. 89

5.7 Zuwandernde Kirchenmänner und Religiose im Voralpenraum Von post-Raetien über Iuvavum und von Regensburg über das Ennstal wirkten adlig-elitär sozialisierte Kleriker unterschiedlicher Persönlichkeiten und Zielvorstellungen. Sie kannten institutionelle Narrative und theologische Texte. Für post-Noricum sind abgesehen von der Vita Severins „alle anderen Zeugnisse für das frühe Christentum in Iuvavum entweder gefälscht oder zumindest zweifelhaft in ihrem Wert“ (H. Dopsch). 90 Der Mönch Severin (~410–482) erreichte Pannonien und Ufernoricum 455, kurz nach dem Durchzug des hunnischen Heeres und vor Abzug der RR-Verwalter und Legionäre. Er war vermutlich Sohn einer vornehmen italischen Familie und hatte seinen Glauben unter syrisch-ägyptischen Mön-

chen gesucht. Er lebte und handelte gemäß dem dreiheitlichen Ideal selbstbestimmter Askese, spiritueller Ausstrahlung und pragmatisch-gesellschaftlicher Handlungs-Fähigkeit. 91 Die hagiographisch beschönigende, aber sozialgeschichtlich informative Vita sancti Severini (511) seines Schülers Eugippius entstand mit Unterstützung römischer Gönnerinnen, die Severins soziale Hilfe und Friedensbemühungen geschätzt hatten. 92 Die Menschen der Region schrieben ihm Wunder zu. 93 In den gefährlichen Zeiten brauchten sie sie dringend: Das Elend nahm zu, die Evangelien wandten sich an Arme und Verachtete. 94 Severin gründete Gemeinden, erreichte die Freigabe norischer Gefangener von benachbarten

Tillmann Lohse, „Heimat und Heimatlosigkeit bei Columban von Luxeuil“, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), 237–249; T. M. CharlesEdwards, Early Christian Ireland, Cambridge 2000. 87 Schiffsgräber in Sutton Hoo (East Anglia), Välsgarde (nahe Uppsala) und in Oseberg und Gokstad (Südnorwegen). 88 Die Bezeichnung „Missionar“ wurde im Deutschen vereinzelt erst im 16. Jahrhundert und allgemein seit dem 17. Jahrhundert verwendet. 89 Vergleichende Perspektive: Im 8. Jahrhundert intensivierten japanische und chinesische Herrscher, Kulturschaffende und Seefahrende Religionskontakte. Der buddhistische Mönch Jiàn Zhēn (jap. Ganjin) wanderte 754 nach Japan, legte in kaiserlichem Auftrag eine „richtige“ Regel fest, richtete Klöster nahe des Hofes ein und ordinierte nur in seiner „Regelschule“ Ausgebildete. Die Gläubigen hingegen verbanden die weit verbreitete animistisch-shintoistische und neue buddhistische Religion zu einer Symbiose. 90 Heinz Dopsch und Robert Hoffmann, Salzburg. Die Geschichte einer Stadt, Salzburg 2008, Zitat 80. 91 Claudia Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity. The Nature of Leadership in an Age of Transition, Berkeley, CA 2005, 16–22 passim; Jack Tannous, The Making of the Medieval East. Religion, Society and Simple Believers, Princeton 2018. 92 Vermutlich Frauen der aus Pannonien stammenden Orestes-Familie, deren Männer als Gegner Odoakers in das Einflussgebiet Severins geflohen waren. 93 Im neutestamentarischen Griechisch ist „Wunder“ eine Kraft, ein Zeichen, ein erstaunliches Werk. 94 Christoph Markschies, „Die Entstehung des Christentums als historischer Wendeprozess“, in: Klaus E. Müller (Hg.), Historische Wendeprozesse. Ideen, die Geschichte machten, Freiburg 2003, 72–90. 86

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Religionen und Macht: Von Métissage zu Hegemonie zu Grundherrschaft

„Barbaren“, wendete mit kluger Diplomatie Zerstörungen durch Heranziehende ab und siedelte bereits Entwurzelte in Lauriacum/Lorch an. Wohlhabende und die letzten Legionäre zogen ab, die verarmende Bevölkerung lebte vom Recycling alter Materialien. Severin regte einen freiwilligen Zehnt für Hilfsleistungen an und transmigratio in eine weniger bedrohte Region. Nach seinem Tod 482 95 zogen Anhänger*innen unter einem Vorsteher aus Cucullis/Kuchl nach Umbrien und – auch dies mit Hilfe einer Gönnerin – weiter nach Lucullanum bei Neapel. Sie trugen seine Gebeine mit sich, respektvoller Umgang mit Toten war Teil vieler Religionen. „Italia“ mag für die bedrohten Männer und Frauen Hoffnung geboten haben; für andere war es nach sozial internen Wirren, Übersiedlung der Reichen nach Konstantinopel und Ankunft der Ostrogoten nicht mehr attraktiv. Severins Bemühungen erinnerten viele dankbar, er wurde ein von Zeitgenoss*innen verehrter „lebender Heiliger“. 96 Die irisch-schottischen Mönche, die über Gallia-Francia die Gesamtregion erreichten, passten sich zügig Gallisch-Fränkischem an. Im zeitgenössischen Machtgefüge entschied die Konversion Herrschender über die Religions-Zugehörigkeit ihrer Beherrschten. Überzeugungsarbeit unter „einfachen“ Menschen in den Alpentälern oder entlang der Flüsse von der Donau bis zur Save wäre zeitaufwändig gewesen und hätte lokalkulturelles und agrarpraktisches Verständnis erfordert. Die Mönche folgten dem staatstragenden nicäischen Bekenntnis, allerdings mit Bezugspunkt Rom statt Konstantinopel und mit Texten in translatio, ÜberSetzung von griechischer zu lateinischer Kultsprache mit Begriffsänderungen. Auch sozio-ökonomisch waren Über-setzungen notwendig: Aus dem fruchtbaren, hierarchisierten Gallien bewegten sich zum Beispiel Columbans Gemeinschaft und Ruperts Reisegruppe in Herrschaftsregionen, in denen Freien Hörigkeit aufgezwungen wurde und Landwirtschaft neu zu entwickeln war (s. Kap. 4.8). Columban – geboren 540 in Irland, Gründer

des Ausbildungsklosters Luxeuil (Burgund-Ostfrankreich), gestorben 615 in Italien – zog mit Gallus, Entourage und königlich-bewaffneter Protektion in die Bodenseeregion zu Menschen alemannischer Sprache. Die Männer hinterließen eine Spur der Zerstörung. Im Dorf Tuggen am Züricher See verkündeten sie ihren Glauben, fanden aber keine Interessenten. In „frommem Eifer“ – so ihre Biografen – brannten sie eine ihren Gastgeber*innen heilige Stätte nieder, zerstörten Kultobjekte und warfen die Reste in den See. Sie haben, die Vermutung liegt nahe, sehr schnell davongaloppieren müssen und erreichten Bregenz. Dort fanden sie ein verfallenes, einst der heiligen Aurelia (Elsass, 4. Jh.) gewidmetes Bethaus, das die Ansässigen für „heidnische“ Bräuche nutzten. Gallus, der die alemannische Sprache erlernt hatte, predigte öffentlich, ergriff die Bilder der Gottheiten, zerbrach sie und warf sie wiederum ins Wasser – diesmal des Bodensees. Dann besprenkelten sie die Ruine mit Weihwasser und re-konsakrierten sie als christliche Kirche. Respekt vor Anderem und die Fähigkeit, Vielfalt zu leben, war nicht Teil ihrer Sozialisation. 97 Die einflussreichen Schüler Columbans – Eustasius und Agilus mit ihren Begleitern aus Luxeuil, Emmeram aus Poitiers in Regensburg, Korbinian (Sohn einer Irin und eines Franken, nahe Paris) in Freising – verkörperten liturgische Verschiedenheiten ebenso wie unterschiedliche Egos. Noricum erreichte, zwei Jahrhunderte nach dem Asketen Severin, der fränkische Adlige Hrodbert (Rupert, ~650–716/18) mit Gefolge. Er war als Bischof in Worms mit dem Hausmeier Pippin II. in Konflikt geraten, „begab sich außer Landes“ (oder floh) und suchte verwandtschaftliche Hilfe bei der bayerischen Herzogin Folchaid. In der Residenz Ratisbona (Regensburg) erwartete er um 690 ehrerbietigen Empfang und Ausstattung. Er taufte, wie erst um 800 in der Breves Notitiae behauptet, Hz Theodo II., der vielleicht der Rom nicht genehmen arianischen Variante der Christentümer nahestand. Die Herrscher-Familie hatte sich durch trans-

Nach zeitgenössischem Denken fiel Besitz bei Tod an den jeweiligen Herrscher. Entsprechend nahm sich ein benachbarter christlicher Rugier den Besitz des Klosters der Severin-Gemeinschaft. 96 Walter Pohl und Maximilian Diesenberger (Hg.), Eugippius und Severin. Der Autor, der Text und der Heilige, Wien 2001, 23, 37, 43, darin Kate Cooper, „The Widow as Impresario: Gender, Legendary Afterlives, and Documentary Evidence in Eugippius’ Vita Severini“, ebd., 53–63; englische Übersetzung der Vita, https://www.ccel.org/ccel/pearse/morefathers/files/severinus_02_text.htm#C1 (3. September 2020). Peter Brown, „The Rise and Function of Holy Men in Late Antiquity“, Journal of Roman Studies 61 (1971), 80–101. 97 Sauer, Archeology of Religious Hatred, 10–22, Lebensbeschreibungen von Wetti und Walahfridus (9. Jahrhundert). Martin aus Pannonien, später „der Heilige“, hatte laut Biograf bei Ankunft in Gallia in einem ländlichen Tempel Bildnisse und Altar zerschmettert (ebd., 88). 95

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latio römisch-gallischer Finanzierungspraxen nach Bayern Hof-Haltung und Haltung von Bewaffneten ermöglicht. Nachkommen Garibalds hatten, da sie Fiskalbezirke (pagi) gemäß RR-Praxis nicht einführen konnten, die Ansässigen-Unterworfenen als Unterhaltspflichtige an Mitmigranten von Rang und an einheimische Kleriker verteilt. Die Mönche des Klosters St. Peter erhielten die Orte-mit-Menschen Maxglan und Piding, Rupert 697 Menschen samt ihren kultivierten Ländereien am Wallersee (später Seekirchen) und, wenig später, das günstiger gelegene Areal nach-Iuvavums. Herrscher-Sohn Theodbert, der dort im vormaligen castrum superius (Obere Burg) residierte, schenkte ihm weitere Arbeitskräfte. Zusätzlich erhielt er einen Anteil an (Reichen-) Haller Salzpfannen-mit-Arbeiter*innen und an Teilen des Herrenzinses. Der fränkische Rupert machte sich zum Abt der romanischen Mönchsgemeinschaft, sein Bischofstitel bezog sich auf Worms. Durch Dämonenbann als Form christlicher Magie reinigte Rupert Iuvavum. Die Praxis des Bannens war bekannt, die Gorgo Medusa, deren Fresken ein römisches Haus in Lauriacum/Lorch geschmückt hatten, konnte Lebewesen durch Blick bannen. Ruperts expurgatio negierte Vorangehendes. Doch die Ansässigen hatten bereits eine obere Kapelle erbaut und sie mobilitätsbewusst nach dem Migranten Martin aus Sabaria benannt. Ging Rupert auf Romanisch-Christliches ein oder setzte er Fränkisches durch? Oder lebten Abt und Laien in parallelen Welten? 98 Vom Standpunkt Regensburg und der Perspektive Machtausweitung bot sich der Ausbau nach-Iuvavums an: Station auf der Route zu oder gegen die machtvollen langobardischen Herrscher, Aufmarschgebiet gegen romanisch- und slawisch-sprachig besiedelte östliche Gebiete, Vorposten gegen die Metropoliten in Aquileia. Rupert zog ostwärts, um Awaren zu missionieren, kehrte jedoch bereits

an der Enns um. Die seit RR-Zeiten christlichen Bewohner*innen der Grenzstadt Lorch bedurften seiner nicht und eine Tätigkeit jenseits des Grenzflusses wäre lebensgefährlich gewesen. 99 In einem weiteren Versuch entsandte Rupert Mönche in Richtung Karantanien (vormaliges Binnennoricum) entlang einer südlicheren Route. Zwei Gruppen der nicht immer konfliktfrei kooperierenden romanisch-christlichen homines de genealogia de Albina zogen Salzach-aufwärts, um zu jagen und Gold zu suchen. Überlieferer gaben ihnen neben albinus, Fremder, 100 auch individuell bedeutungsvolle Namen, Tonazan-Urso (Walchen-Bär) und Ledi-Urso (Latinus-Bär). Die beiden bärenstarken Männer entdeckten eine laut Überlieferung verlassene Kultstätte und gründeten in Absprache mit Abt und Herzog eine Siedlung. Sie statteten sie wirtschaftlich mit Wald und kultiviertem Land aus: Die verlassene Gegend war also bewohnt. Zu dieser „Maximilianzelle“ ordnete Rupert Mönche ab. 101 Ansässige wussten, dass die „Entdeckung“ einerseits Zugang zum Tauernpass bot und andererseits durch das Fritztal über den Mandling-Pass ins Ennstal und in slawisch besiedelte Gebiete führte. Der Ort lag, drittens, nahe dem Kupferabbau am Götschenberg und Hochkönig. 102 Abt, Herzogsund Albina-Familie kannten das Straßennetz und richteten Zellen oder Meierhöfe als Nachschubbasen ein. Sie zielten auf Annexion bewohnter Landschaften. Die nahebei ansässigen vicini (lat. vicus oder slaw. wes) slawischer Sprache und Glaubens erkannten dies und zerstörten sicherheitshalber – wörtlich: ihrer eigenen Sicherheit halber – den vorgeschobenen Posten. Rupert kehrte um 715 nach Worms zurück. Spätere Erzähler behaupteten in ihrer Gesta Sancti Hruodberti Confessoris (798), er hätte in nach-Iuvavum nur eine „von Bäumen überwucherte Ruinenstätte“ ohne städtisches Leben vorgefunden, und inszenierten ihn mit dieser Ödnislegende zum Grün-

Die Abtei St. Peter stand auf Mauern römischer Wohnhäuser. Ernst Schwarz, „Baiern und Walchen“, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 33 (1970), 857–938, bes. Karten 870 und 886; Karl Forstner, „Studien zur Frühgeschichte Salzburgs“, MGSL 147 (2007), 137–162. 99 Oberösterreichische Direktion Kultur und Stefan Traxler (Hg.), Die Rückkehr der Legion. Römisches Erbe in Oberösterreich, Ausstellungskatalog, Linz 2018, 45–50, 143. 100 Besitz Fremder fiel bei deren Tod gemäß droit d’aubaine dem jeweiligen Herrscher zu und die Neuen legten ihr Todfall-„Recht“ den Ansässigen auf. 101 Auch ein Bischof von Lorch (gest. ~284) hatte sich Maximilian genannt. 102 Karl Forstner, „Maximilianszell: Der Heilige und sein Kloster in der karolingischen Überlieferung“, MGSL 150 (2010), 9–47. Katharina Winckler, Die Alpen im Frühmittelalter. Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800, Wien 2012, 62–171, zu römischer Sicht auf die Alpen und zu Routen in karolingischer Zeit. 98

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Abb. 5.28 Legendenkontinuität „Heiliger Rupert“: Briefmarke, Serie Schutzpatrone, 2007

Abb. 5.27 Die Ankunft Ruperts, 1859 Der Salzburger Porträtist und Historienmaler Sebastian Stief zeigte im Stil der Nazarener Abt Rupert mit Insignien eines Bischofs vor überwucherten Ruinen. Andere Historienmaler stellten Rupert mit Salzfass dar, obwohl der Abbau erst um 1200 wieder aufgenommen wurde.

dungsheiligen. 103 Für die Menschen nach 488 hatte Urbanität keinen Nährwert. Das Herzogspaar Theodbert ○○ Regintrud hatte die Gründung eines Frauenklosters auf der lang besiedelten Nonnberg-Terrasse angeregt und Rupert setzte seine Nichte Erentrudis (~650–718) als Äbtissin ein. Sie, einzige Frau in der Hierarchie, weihte die Klosterkirche Maria. Die Gemeinschaft diente der Erziehung und Bildung sowie als Wirkungsort von Töchtern des regionalen Adels. Damit enden die im Vergleich zu den Kirchenmännern äußerst mageren Daten. Gläubige verehrten Erentrudis wie einst Severin, Geheilte schrieben ihr Wunder zu, Kleriker jedoch keine Vita. 104 Ein Blick in die Herkunftsregion bietet Hinweise auf Erentrudis’ und ihres Gefolges Sozialisation. Wohlhabende nordfränkisch-flandrisch-angelsächsische Familien richteten Stifte für Frauen aus ihrem Kreis ein und diesen sanctimoniales schlossen sich andere an oder wurden zu ihnen geschickt: „gottgeweihte“ Jungfrauen, von Männern bei Über-

nahme eines Kirchenamtes zurückgelassene oder verlassene Ehefrauen, Witwen. Die Frauen wählten relative Selbstständigkeit mit dem Recht, ihren Besitz zu verwalten. Sie wählten ein Leben ohne Partner, Sex, Gefahren des Gebärens sowie, im Fall von Witwen, ohne Zwang zu Wiederheirat und mit dem Recht, Kinder selbst zu erziehen. Sie durften Dienerinnen haben sowie Schmuck und privaten Besitz. Unter Leitung einer Äbtissin lebten sie oft in „Doppelhäusern“, separat für Frauen und Männer. Die Stifterfamilien ermöglichten, erstens, ihren Töchtern eine materiell gesicherte Existenz. Zweitens war die materielle Ausstattung – anfangs Kostenfaktor – aus Erbteilungen dauerhaft herausgenommen und war, drittens, wie alles für religiöse Zwecke gestiftete Land, von Steuern und Heeresdienst befreit. Viertens ersparte der Verzicht auf Heirat den Eltern Ansprüche-stellende Schwiegersöhne und zu versorgende Enkel*innen. Die Religiosen beteten für das Seelenheil und, vielleicht, den weltlichen Erfolg ihrer Familie, hielten Familiengeschichte fest und festigten durch Überlieferungspflege Herrschaft. Erinnerung von Frauen ist meist Netzwerk- und Beziehungs-orientiert, Gedächtnis von Männern eher Ereignis-orientiert. 105 Sanctimoniales hielten Kontakt miteinander, migrierten entlang der Themse-Rhein-Route zwischen Anglia und Francia und bewegten sich innerhalb der karolingisch werdenden Herrschaft. Sie lebten reich ausgestattete christliche Ethik. 106 Erentrudis mag von Gertrude (~621–659) aus der Karo-

Herwig Wolfram, „Die Zeit der Agilolfinger. Rupert und Vergil“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:121–156, bes. 122–124; Dopsch und Hoffmann, Salzburg Stadt, 68, 80. 104 Das Nonnberg-Kloster ist das älteste noch bestehende Frauenkloster nördlich der Alpen. Irmgard Schmidt-Sommer und Theresia Bolschwing, Frauen vor Gott. Geschichte und Wirken der Benediktinerinnenabtei St. Erentrudis, Salzburg 1990; Lieselotte v. Eltz-Hoffmann, Salzburger Frauen. Leben und Wirken aus 13 Jahrhunderten, Salzburg 1997, 9–15; Germania Benedictina, Band III-3: „Österreich und Südtirol“, München 2002, 209–262. Gerold Hayer und Manuel Schwembacher, Bearb., Die mittelalterlichen Handschriften des Stiftes Nonnberg in Salzburg, Katalog, Wien 2018, 7–18. 105 Eine umfassende Darstellung der Rolle von Frauen, einschließlich Ehefrauen von Bischöfen, bietet Gisela Muschiol, „Men, Women and Liturgical Practice in the Early Medieval West“, in: Leslie Brubaker und J. M. H. Smith (Hg.), Gender in the Early Medieval World: East and West, 300–900, Cambridge 2004, 198–216. 106 Belegt, wie vieles, durch The Ecclesiastical History of the English von Bede (731). 103

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linger-Familie gewusst haben: Diese wählte die Position einer Äbtissin in dem von ihrer Mutter gegründeten Frauenkloster Nivelles (Belgien), um sich vor einer ihre Seele bedrohenden Sequenz von Interessenten an ihrem Besitz zu schützen. Hilda (~614–680), Äbtissin des Doppelhauses Whitby, war einflussreich, Gastgeberin der Synode von Whitby (664) und Beraterin von Königen. Später ließ sich Bonifatius von Nonnen des Klosters Thanet (Kent) ein reich ausgestattetes Evangeliar schreiben (735/736) und er ernannte seine Verwandte Lioba (732/735) zur Äbtissin des Klosters Tauberbischofsheim (Main-Gebiet). In der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts gab Ragyndrudis, vielleicht aus St. Omer (Francia), eine Sammlung theologischer Texte in Auftrag, Walburga aus Wessex war Äbtissin des Klosters Heidenheim (Franken, gest. ~780) und Thekla aus Dorsetshire Äbtissin in Kitzingen (bei Würzburg, gest. ~790). 107 Im Zuge der insular-transkontinentalen Wanderungen stellte sich Fergal, lat. Virgilius (~700– 784), am karolingischen Hof vor, fand Vertrauen und der König oder sein Hausmeier entsandte ihn 745 zu den königsfern agierenden agilolfingischen Herzögen in Regensburg. Diese schickten ihn nach Salzburg, wie nach-Iuvavum seit den 730er Jahren genannt wurde. 108 Virgil war hochgebildet und vertrat wie Aristoteles die Ansicht, dass die Erde eine Kugel sei und Menschen auch auf deren anderer Seite lebten. Oder sprach er, wie vermutet wurde, von keltischer Anderwelt? Angesichts seiner mathematischen, astronomischen und geografischen Kenntnisse erschien er manchen als Universalgelehrter, anderen als Dissident. Er gründete die erste Domschule und führte Adelsklöster in kirchlichen Besitz zurück. Seine angelsächsischen Kunsthandwerker schufen Luxusgegenstände oder brachten sie mit. 109 Machtbewusst ließ er ab 767 in nur zwölf Jahren eine überdimensionierte Kathedrale nach langobardischen Vorbildern bauen; die dafür

zugewanderten Kunsthandwerker*innen bildeten lokale romanische aus. Virgil sah sich, so scheint es, in Rangkonkurrenz zu Abt Fulrad in St. Denis, Ort der Grablege der merowingischen Könige. Fulrad weihte seine Kathedrale erst ein Jahr später, allerdings in Anwesenheit des Königs. 110 So wie einst keltische Handwerker*innen nordund südalpine Formensprachen und Glaubensvorstellungen verbunden hatten, verbanden Handwerker*innen in der Großregion skandinavisch-angelsächsische mit karolingisch-flandrischen, mittelmeerisch-italienisch-oströmischen, syrischen und koptischen. Ihre Ornamentik mit Weinranken und orientalischen Tieren erschien späteren Betrachtern als „exotisch“. Handwerker aus Virgils Umfeld stellten das Bischofshofener, manchmal fälschlich nach Rupert benannte Kreuz her. Sie verwendeten keltisch-angelsächsische Glas- und Emaileinlagen und symbolisierten mit fünf größeren Rundeinlagen die Wunden Christi. Das Kreuz wurde bei Prozessionen durch die Gemeinde getragen. Besaßen die Menschen die funds of knowledge, um die Ornamentik zu lesen? Oder war deren Verständnis nur Teil eines migrantisch-klerikalen Insiderdiskurses? Jedem Detail eines Kunstwerkes waren vielfältige Bedeutungen zugeordnet, gleich, ob ein Stück Brot (Abendmahl) oder ein Einhorn. 111 Kunsthandwerker vermutlich in Salzburg stellten nach Mustern aus dem Königreich Mercia einen Kelch aus vergoldetem Kupfer her, dessen Inschrift – TASSILO DUX FORTIS + LUITPIRC VIRGA REGALIS – betonte, dass Luitpirc aus königlichlombardischer, ihr Ehemann Tassilo (III.) „nur“ aus herzoglich-bayerischer Familie stammte. 112 Die Theologie des Bildprogramms entwarf Virgil: Fünf größere niellierte Silbermedaillons an der Kuppa zeigen Christus und die Evangelisten, kleinere am Fuß Maria und Johannes den Täufer sowie nicht zu identifizierende Personen; die Tier- und Pflanzenornamentik ist anglokarolingisch. 113

Jörg Krichbaum und Rein A. Zondergeld, Künstlerinnen von der Antike bis zur Gegenwart, Köln 1979; Haines-Eitzen, Guardians of Letters; Felice Lifshitz, Religious Women in Early Carolingian Francia: A Study of Manuscript Transmission and Monastic Culture, New York 2014; Nolte, Conversio, 304. 108 Äbte und Bischöfe zwischen Rupert und Virgil waren Vitalis, Flobrigis, vermutlich aus dem insularen Bereich, und Johannes. 109 Der norditalisch-keltische Stil hatte die Inseln in der Zeit 50 v. u. Z.–100 u. Z. erreicht. Leslie Webster, Anglo-Saxon Art. A New History, London 2012, 106–107, 113, 163–164. 110 Die Grundfläche, 66 � 33 m, betrug fast 2200 m2. 111 Für moderne Betrachter sind vielbändige Lexika notwendig, die die oft widersprüchlichen oder überlappenden Bedeutungen auflösen. Stefano Zuffi (Hg.), Bildlexikon der Kunst, Bd. 1–9 zu Religion, Berlin 2003 (ital. 2002); Heinrich Schmidt und Margarethe Schmidt, Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst, München 2007. 112 25,5 cm hoch, 1,75 l Fassungsvermögen, Gewicht über 3 kg. 113 Ein ähnlicher (Cunpold-) Kelch, zwischen 780 und 800 hergestellt und gefunden nahe Sopron, mag EB Arn gehört haben. 107

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Abb. 5.29 Bischofshofener Kreuz (Bergahorn ummantelt mit Goldblech, H. 158 cm, B. 94 cm)

Abb. 5.30 Kelch, hergestellt 763, dem Kloster Kremsmünster 777 gestiftet

Salzburgische Handwerker*innen schufen eine lebendige fusion von Northumbrien bis nach Konstantinopel und Alexandria. 114 Besonders auf Seeund Flusswegen verbreiteten Menschen Anderes schnell, küstennahe Routen verbanden den Mittelmeerraum mit Flandern, wo der erste karolingischsalzburgische Erzbischof (EB) Arn als Abt tätig war. Die Kauf-Familien der Handelsemporien im Nordund Ostseeraum pflegten Kontakte auch zu kaspischen Kaufleuten und die Skriptor*innen in Francia und Regensburg verbanden eigene und migrantische Traditionen, Schichtenspezifik und Macht in ihrer Bildhaftigkeit. Sie vermittelten zwischen transeuropäischen Formensprachen und lokalen Fähigkeiten, sie zu dekodieren. Nur weit reisende kirchlich-weltliche Kunstsachverständige kannten mehr als eine Tradition. Weiträumige Kontakte, auch mit hochstehenden Frauen, zur gegenseitigen

Gebetshilfe und Verankerung ihres Klosters in der institutionellen Erinnerung entwickelten die Mönche von St. Peter seit 784 mit ihrem „Verbrüderungsbuch“. Es diente selbstbezogen dem Seelenheil der – laut Namen gotischen und romanischen – Beteiligten und universell-christlicher Verortung durch Nennung von Heiligen aus Gegenden von Antiochia über Sizilien bis Iberia. 115 Den weltlich-kirchlichen Dualismus und die Rang-eleien unter Klerikern in Bayern beendete der aus Wessex stammende und von Glaubensbrüdern, Soldaten, Handwerkern und Hauspersonal begleitete Wynfreth/Bonifatius (672?–754?). Seine Vorfahren waren 200 Jahre früher von der Elbe an die Themse gewandert, seine Eltern hatten ihn als Kind ins Kloster gegeben. Er zog im Alter von etwa vierzig Jahren auf den Kontinent und erhielt während mehrerer Reisen nach Rom – dessen Päpste

Ein goldener Fingerring, in Salzburg gefunden, nannte Ariacna oder Ariadne, verheiratet mit Kaiser Zenon (h. 474–491) und zur Zeit von Odoakers Herrschaft Statthalterin über Noricum. Thüry, Römisches Salzburg, 91. 115 Wolfram, „Rupert und Vergil“, Geschichte Salzburgs, 1.1:139–150; Rosamund McKitterick, „Geschichte und Gedächtnis im frühmittelalterlichen Bayern. Virgil, Arn und der Liber Vitae von St. Peter zu Salzburg“, in: Meta Niederkorn-Bruch und Anton Scharer (Hg.), Erzbischof Arn von Salzburg, Wien 2004, 68–80; Stefan Karwiese, „Salzburgs vergessene Heilige: Eine archäologische Spurenlese“, Mitteilungen zur christlichen Archäologie 11 (2005), 9–23. 114

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aus hellenischen Kulturen und Syrien stammten – Bischofsweihe und Pallium mit dem Recht, Bistümer einzurichten, sowie Legaten-Status für Germanien. Er gründete Klöster in Friesland, Francia, Germanien und anderswo. Eigenständiges Denken und Ritusvariationen verfolgte er. War seine 748 an den Papst gerichtete Anklage, Virgil verfolge sündhafte und verkehrte Lehren, ein ethno-kultureller Konflikt, „Angelsachse“ gegen „Ire“? Er empörte sich über das mangelhafte Latein mancher Priester, von denen einer im Namen der Tochter (filia) statt des Sohnes (filii) taufte. Bonifatius arbeitete eng mit den fränkischen Herrschern zusammen, die ihre straffe Machtdurch straffe Kirchen-Organisation gestärkt sehen wollten. Er lehnte sich ebenso eng an den Papst an, seine Boten ritten oft über Verona nach Rom, von Regensburg mehr als 850 km Luftlinie und zwei Gebirgsketten entfernt. Die Agilolfing-Familie hatte, um sich Loyalitäten und gleichzeitig Distanz zum König in Francia zu schaffen, mit Ausnahme Virgils alle Bistümer „mit Angehörigen führender bayerischer Familien“ besetzt. Bonifatius organisierte den Herrschaftsbereich in den Bistümern Regensburg (~700), Freising (716), Passau und Salzburg (739) sowie Eichstätt (~740). Regensburg war Herrschersitz und wichtigster Markt an der Donau, Passau wurde zur geografisch größten Diözese im östlichen Reich, doch errichteten Salzburgs Kleriker die wirtschaftlich stärkste Grundherrschaft mit besonders zahlreichen arbeitenden Menschen und

798 erhielt Arn als EB die Spitzenposition. Während eines Gründungsbooms nach 750 errichteten wandernde Mönche mit (Fron-) Arbeitskräften in dem gesamten Raum Meierhöfe, Eigenklöster, kleine Filialklöster (cellae) oder Wirtschaftszellen. Erreichten sie Rentabilität nicht, wurden sie zu Gutshöfen ohne monastisches Leben abgestuft. 116 Anders als die römischen Gouverneure im 1. Jahrhundert, die religiös-kulturelle Praktiken respektiert hatten, forderten die neuen weltlich-geistlichen Adelsherrscher bedingungslose Anpassung. Wie dachten christlich-romanische Männer und Frauen über die ihnen christlich-fränkisch zugewiesene, mindere Rolle? Wie reagierten KeltischGläubige auf den Vorwurf, sie beteten mächtig gewachsene alte Bäume als Idole an, wenn sie sahen, wie Christen in Bischofshofen zwei kreuzweise genagelte, mit Gold ummantelte Ahornhölzer verehrten? Die Neuen legten ihren liturgischen und Heiligenfest-Kalender über die natürlichen und häuslichen Kalender und über die spirituellen Welten der – zukünftig christlich – Gläubigen. Wurden die Menschen der Zeit als Individuen betrachtet, wie manche Historiker gefragt haben? Die Bibel verkündete, dass alle Menschen einzeln (und nackt) vor Gott stehen und nach Lebenswandel statt Kleidung beurteilt werden würden. Eltern war individuelles Seelenheil und Liebe für Kleinkinder wichtig. Vor Herrschern auf Erden hingegen waren Menschen nicht gleich. Dies schuf Probleme.

Stephan Freund, Von den Agilolfingern zu den Karolingern: Bayerns Bischöfe zwischen Kirchenorganisation, Reichsintegration und Karolingischer Reform (700–847), München 2004, 141–407, Zitat 407.

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Die Entwicklung Lateineuropas im Kontext der „Alten Welt“ als Rahmen für Regionales

6 Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts Zur Zeit der Krisen des Römischen Reiches (RR) in Italien und des Aufschwungs des RR-Konstantinopel lebte im früh-dialekt-deutschen Raum weniger als eine Million Menschen. 1 Nur ein bis zwei Prozent von ihnen bewohnten die Herrschaftsarchitekturen der Burgen, Kirchen und Institutionen, weniger als fünf Prozent arbeiteten in den Städten, knapp 95 Prozent auf dem Land. Angesichts ihrer unterschiedlichen Dialekte hätten sie einander oft nicht verstehen können. In Gallien kämpften und kooperierten noch- oder nach-römische Eliten und eindringende Verbände fränkischer Dialekte. Die bescheidene Arbeits- und Wirtschaftskraft der im nach-norischen Raum Lebenden, die randständiger, ärmer und schriftloser wurden, hatte dennoch Begehrlichkeiten ferner fränkischer, awarischer und kirchlich-römischer Macht-Strebender geweckt. Erstere führten das Schwert, die zweiten andere Waffen, letztere die Feder. Für die Ansässigen war dies keine gute Ausgangsposition. Die Schwert- und Federführenden zwangen ihnen ihre Rentenökonomie auf: Akkumulation nicht durch Eigenleistung oder produktiven Faktoreneinsatz, sondern durch strukturelle Stabilisierung der Ausbeutung von Arbeitskraft und Arbeitsleben sowie durch Verknappung der Optionen für Initiative und Innovation. Um die Rahmenbedingungen zusammenzufassen, unter denen zwischen 500 und 1500 dreißig bis vierzig Generationen ihr Leben gestalten mussten, folge ich den Ansätzen der Forscher*innen um die Zeitschriften Annales (seit 1929), Past & Present (seit 1952) und der späteren Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag (seit 1993). 2 Anders als Forscher*innen, die vorangehende Gesellschaften interdisziplinär untersuchen, konzentrierten sich ältere Mediävisten oft auf Schriftkundige

und machten sich so zu Herrschafts-Interpreten. Jüngere blicken auf die Umwelt, die tägliche Sonne oder den Regen und die entsprechende Menge oder den Mangel auf dem Tisch: Nach dem Klimaoptimum bis etwa 400 u. Z. folgte bis ca. 600 eine säkulare Verschlechterung, gefolgt von einer Warmphase und einem neuen Optimum. Der Bevölkerungsrückgang seit Beginn der Klimakrise mit der Hungersnot von 1315 und durch „die Pest“ endete erst ein Jahrhundert später, denn nach 1350 folgten häufige, teils regional begrenzte Kältejahre oder -phasen. Knappe Ressourcen führten zu Konkurrenz zwischen Eliten und zu Ab- und Zuwanderungen. Nach 1560 würde die „Kleine Eiszeit“ beginnen. 3 Herrschaftsstrukturen in Francia-Gallia etablierten eine „Merowinger“ und eine „Karolinger“ genannte Familie als personenzentriertes Regime und von dort drangen Mächtige mit Bewaffneten in den Voralpenraum ein. Kleriker folgten ihnen (s. Kap. 4.8, 5.7). Ich frage nach den Merkmalen von Herrschaft, da „Feudalismus“ und „Personenverband“ (im Singular) kein differenziertes Bild ermöglichen und „Reich“ kein zeitgenössisches Konzept war. Die überwiegende Mehrheit der Menschen wurde unter-worfen, nahm Macht also körperlich wahr. Die Professionalisten der Kirche, die Gläubige zu „Laien“ ohne eigenen Zugang zu Gott abgestuft hatten, konstruierten seit dem 7. Jahrhundert ihren lateineuropäischen Herrschaftsraum mit regionalen Bischofszentren. Die Magnaten der Karolinger-Familie etablierten nach 751 durch fast endlose Kriege einen weitläufigen Herrschaftsraum und zersplitterten ihn ab etwa 820 wieder. Für die temporär verfestigten, sich überlappenden und meist fluiden Strukturen und Territorien verwende ich die neutrale Bezeichnung

Karl Brunner und Gerhard Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht: Der Bauer im Mittelalter. Klischee und Wirklichkeit, Wien 1985, 22–23, nannten für den Raum von BRD/DDR maximal 700.000. Andere Schätzungen für die Zeit um 800 nennen bis zu zwei Millionen. 2 Vorangegangen war im Hohenzollern-deutschen Sprachraum die staatswissenschaftliche Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (seit 1903). Habsburgische und nachfolgend österreichische Entwicklungen verliefen oft getrennt und werden in Deutschland bis in die Gegenwart kaum wahrgenommen. 3 Zu Methodik und Entwicklung vgl. Reinhold Reith, Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit, München 2011; und Bernd Fuhrmann, Deutschland im Mittelalter. Wirtschaft – Gesellschaft – Umwelt, Darmstadt 2017, 12–17. 1

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Zentraleuropäisch-Weltlicher Herrschaftsbereich (ZWH). Generisch verwende ich die Bezeichnung Herrschaftsbereiche (HB) für regna oder regnal entities. Die Mächtigen agierten in Kontakt und Konflikt mit den arabisch-islamischen, normannischgermanischen, slawischen und romanischen Herrschaftswelten sowie, merkantil, über Konstantinopel bis zu zentralasiatischen Handelswegen. Die Kauf-Kräftigen beschränkten Kaufleute im 7. Jahrhundert auf die Rolle von Agenten und erst nach wiedergewonnener Eigenständigkeit strukturierten Seekauf-Familien mit hohem Investitionsbedarf und Rom-Kleriker mit hohem Konsumbedarf Finanz-Transaktionen. Die Menschen, die dies Regime finanzieren mussten, entwickelten eigene Gesellschafts- und Weltverständnisse. Ihr Leben bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts behandle ich in Kapitel 7 und 8. Angesichts des realen oder behaupteten Einflusses „des Christentums“, „der Kirche“ und „Roms“ stelle ich die vielfältigen Laien-Religiositäten, die unterste Ebene der Mönche, Nonnen und Priester sowie der Kircheneliten und der Dissident*innen separat dar (Kap. 9). Die Geschichte des „Mittelalters“ zwischen Ende der römischen Warmzeit und vor der transozeanischen Expansion lateineuropäischer MachtHaber und Kauf-Familien haben Erinnerung-Schaffende über Generationen gemäß den sie umgebenden Machtkonstellationen erzählt, wie Frank Rex-

roth, Walter Pohl, Patrick Geary und Gábor Klaniczay gezeigt haben und ihre „Einheit“ der Erzählung kaschierte Vielfalt, wie Karin Hausen 1996 kritisierte. 4 Richtungsweisend waren Georges Dubys wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchungen seit Beginn der 1960er Jahre in Frankreich und Aaron Gurjewitschs mentalitätsgeschichtliche Studien der 1970er Jahre in der Sowjetunion, letztere in deutscher Übersetzung zuerst in der DDR erschienen. 5 In deutscher Sprache legten Heinrich Fichtenau und Reinhard Wenskus (beide Wien) Pionier-Arbeiten vor, 6 in der BRD Arno Borst und Werner Rösener; 7 Wissenschaftler in der DDR bezogen bäuerliche Kulturen ein. 8 Christiane Klapisch-Zuber veröffentlichte in Geschichte der Frauen, herausgegeben von Georges Duby und Michelle Perrot (5 Bde., ital. 1990), den Band „Mittelalter“ (1993), der im Englischen „Silences of the Middle Ages“ betitelt ist. Den gegenwärtigen Forschungsstand reflektieren die von Hans-Werner Goetz, Michael Borgolte und Michael North verfassten Bände im „Handbuch der Geschichte Europas“, herausgegeben von Peter Blickle. 9 Makroregionale Analysen Europas einschließlich Nordafrikas und Teilen Südwestasiens bieten Michael McCormick und Chris Wickham, letzterer jedoch ohne Blick auf die insgesamt randständigen, für meine Untersuchung jedoch zentralen Gesellschaften östlich des Rheins über den Voralpenraum bis zu den Karpaten. 10 Für weltgeschichtliche Verbin-

Karin Hausen, „Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung“, in: Hans Medick und Anne-Charlotte Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte, Göttingen 1998, 15–55; Frank Rexroth (Hg.), Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen, München 2007, darin Walter Pohl, „Ursprungserzählungen und Gegenbilder. Das archaische Frühmittelalter“ (23–41), und Patrick J. Geary, „‚Multiple Middle Ages‘. Konkurrierende Meistererzählungen und der Wettstreit um die Deutung der Vergangenheit“ (107–120); Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt 2002 (amerikan. 2001); Geary und Gábor Klaniczay (Hg.), Manufacturing Middle Ages. Entangled Histories of Medievalism in Nineteenth-Century Europe, Leiden 2013. Zu historiografischen Debatten Hans-Werner Goetz, Europa im frühen Mittelalter 500–1050, Stuttgart 2003, 276–367; und Michael Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt: 1050–1250, Stuttgart 2002, 337–392. 5 Georges Duby, L’économie rurale et la vie des campagnes dans l’Occident médiéval, 2 Bde., Paris 1962; Aaron J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, übers. von Gabriele Loßack, bearb. von Hubert Mohr, Dresden 1978 und München 1980 (russ. 1972); und Gurjewitsch, Stumme Zeugen des Mittelalters. Weltbild und Kultur der einfachen Menschen, übers. von Ulrike Fromm, Wien 1997 (russ. 1990). 6 Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts: Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde., Stuttgart 1984; Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln 1961, 21977. 7 Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/M. 1973; Werner Rösener, Bauern im Mittelalter, München 1985; und ders., Die Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993, zur Forschung 9–17. 8 Forschungen an der Akademie der Wissenschaften und der Universität Leipzig. Ulrich Bentzien, Bauernarbeit im Feudalismus. Landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und -verfahren in Deutschland, Berlin 1980; Siegfried Epperlein, Bäuerliches Leben im Mittelalter: Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln 2003. 9 Michael North, Europa expandiert, 1250–1500, Stuttgart 2007; Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters, München 2012. Vergleichend Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003 (rev. 2009). Die Begriffe „Sonderweg“ und, im Vergleich zu China, great divergence, sind in der Forschung umstritten. Menschen verfolgten unterschiedliche Ziele auf jeweils eigenen Wegen. 10 Michael McCormick, Origins of the European Economy. Communications and Commerce A.D. 300–900, Cambridge 2001; Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean 400–800, Oxford 2005. 4

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Kriegsherren, Magnaten und Bischöfe: Eliten zwischen Kontinuität und Neuerfindung

Abb. 6.1 Metamorphosen: Wanderterritorium, Expansionen und Frankenstürme, Kontraktion und Teilungen nach blutigem Brüderkrieg 843, ephemere Einigung 885–888

dungen verwende ich besonders die „Cambridge World History“ und die Wiener „Globalgeschichte. Die Welt von 1000–2000“. Beide sehen Mobilität

und Migration als zentralen und dynamischen Bestandteil menschlicher Geschichte. 11

6.1 Kriegsherren, Magnaten und Bischöfe: Eliten zwischen Kontinuität und Neuerfindung Aus Eliten-Familien in Gallia-Francia kommend, eroberte im nach-norischen Raum Garibald die Macht und einige Generationen später Rupert. In ihrer Herkunftsgesellschaft hatten im 5. Jahrhundert die (super-) reichen senatorischen Familien, römische und gallisch-romanisierte Heerführer sowie einheimische „Adlige“ ihre ferne Bezugsgröße „Rom“ verloren. Was tun? Familien mit römischem

Migrationshintergrund konnten Optionen analysieren, Kapital transferieren und abwandern. Gallische Eliten hätten bei Abwanderung ihre Ressource, die Beherrschten, zurücklassen müssen und für ihre Söhne endeten Karriereoptionen in der Militäraristokratie. Die Magnaten-Familien, die bereits post-imperial autonom agierten, mussten den Herrschaftsapparat zügig übernehmen, um ihre

Merry E. Wiesner-Hanks (Hg.), Cambridge World History, 7 Bde., Cambridge 2015, darin: Benjamin Z. Kedar und Wiesner-Hanks (Hg.), Expanding Webs of Exchange and Conflict, 500 CE–1500 CE, und Jerry H. Bentley, Sanjay Subrahmanyam und E. Wiesner-Hanks (Hg.), The Construction of a Global World, 1400–1800 CE; Peter Feldbauer, Bernd Hausberger und Jean-Paul Lehners (Hg.), Globalgeschichte. Die Welt von 1000–2000, 8 Bde., Wien 2008– 2011, darin: Thomas Ertl und Michael Limberger (Hg.), Die Welt 1250–1500, Wien 2009; Dirk Hoerder, Cultures in Contact: World Migrations in the Second Millennium, Durham, NC 2002; Immanuel Ness u. a. (Hg.), Encyclopedia of Global Human Migration, 5 Bde., Oxford 1913. Vgl. auch Peter Frankopan, The Silk Roads. A New History of the World, London 2015.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Macht zu erhalten. Ländliche Familien produzierten weiter, denn wohin hätten sie gehen sollten? Wie Ufernoricums Bewohner*innen durch Markomannen nördlich der Donau sahen sie sich durch „Franken“ (späterer Name 12) von nördlich des Rheindeltas bedroht. Die Mobilität letzterer stellten Autoren historischer Landkarten als Wander-Territorium dar: nördlich des Rheins, hundert Jahre später geschrumpft und als Föderaten südlich, dann in alter Größe in neuer Lage. Herrschaften und Territorien – aber nicht Staaten oder Gesellschaften – entstanden, wenn es einem fähigen Kriegsherrn, warlord, gelang, junge Männer mit dem Versprechen von Beute an sich zu binden, Konkurrenten auszuschalten und zur Finanzierung weniger bewaffnete Menschen zu erbeuten und auszubeuten. Besonders erfolgreich waren die als Merowinger (482–751) und Karolinger (751 bis Ende 9. Jh.) bezeichneten Clans. Die dafür übliche Bezeichnung Frankenherrschaft (Singular) verlagert Familiäres auf Völkisches. 13 In den neun Jahrzehnten vom Tod Pippins des Mittleren, 714, bis zum Ende der Kriege gegen die Sachsen, 803/04, war der fränkische Heerbann nur fünf Jahre nicht „im Feld“, das heißt auf den Feldern ländlicher Menschen. In Gallien, wo alte Macht und Land Besitzende und neue, sie Ergreifende, spannungsgeladen zusammenarbeiteten, schlossen sich der Lokalkönig und hohe römische Offizier Childerich (I., h. 463– 481/482) und seine thüringische Frau Basina mit dem RR-Statthalter Syagrius gegen heranziehende Visigoten zusammen. Nach Childerichs Tod inszenierte Sohn Chlodwig (I., h. 481/482–511) im Interesse seiner Zukunftsplanung (B. Jussen) nahe Tournai eine „erinnerungsprägende“ Totenzeremonie mit Grabbeigaben in einmaliger Menge. Er stand der (formal noch) römischen Provinz Belgica secunda vor, heiratete später die vermutlich burgundische, 14 sicher migrantische Königstochter Chrodechild und erweiterte so seinen Machtbereich nach Süden. Als er die römische Verbindung nicht mehr brauchte, besiegte und tötete er Syagrius (486). Als ihm in einem seiner vielen Kämpfe Niederlage drohte, rief er auf Anregung der Königin den

unvertrauten christlichen Gott an. Als frühestes Beispiel dieses Erzähltopos galt transeuropäisch Kaiser Konstantins angebliches Gebet, 312, und lokal im Donauraum das erst später erzählte Regenwunder des Jahres 172. Der Gott musste, um römischen Mars und germanischen Teiwaz zu ersetzen, seine Überlegenheit beweisen, denn ein Wechsel ergab Sinn nur, wenn der Neue sich für Herrschaftsstrategien als brauchbar erwies. Chlodwig siegte bei Zülpich; den (vermuteten) Beistand schrieben – im wörtlichen Sinn – Kleriker fest: Der Bischof in Reims taufte ihn und sein Gefolge 496/ 498 und nutzte seinerseits die Gelegenheit, um sich über die anderen Bischöfe zu stellen. Das Begräbnis des Vaters und die Taufe des Sohns waren symbolische Akte und politische Kommunikation: Was meinte der taufende Bischof, was hörte der getaufte König? Was legte Chlodwig ab, was nahm er an? Die etwa 200.000 Franken aller Clane waren im Begriff, sich die vermutlich mehr als sechs Millionen getauften und zum Teil urban lebenden GalloRomanen untertan zu machen. Die ferne Elite RRRoms ernannte Chlodwig zum Ehrenkonsul, die des RR-Konstantinopel hatte im Westen keinen Einfluss. Lebensweisen blieben unverändert; Könige lebten in Polygamie und ermordeten männliche Miterben. Dem Chronisten Gregor (538/9–594, Historia Francorum) war dies selbstverständlich. Seine weit vernetzte Mutter Armentaria hatte ihm viel vermittelt, denn nutrire, das Aufziehen der Kinder, bedeutete auch erudire (ausbilden), docere (lehren), instituere (unterrichten). Er war Bischof in Tours, als Roms Bischof Gregor (~540–604) seine Herrschaft ausweitete. Der römischen Kirche und fränkischen Magnaten gleichermaßen verbunden, erfuhr er weder den „Zerfall“ des RR noch die Katastrophe der Antike. Er beschrieb Bistümer, besonders die seiner Familie, und war Stadtherr. Der jeweils überlebende Teil der MerowingerFamilie übernahm politökonomisch geschickt den Großgrundbesitz vertriebener provinzrömischer Familien und beseitigte lokale Granden. Sie vergab das Raubgut-samt-Menschen an genehme Familien und erkämpfte einen Machtbereich vom Rheindelta

Zainab Angelika Müller, „Die Franken sind kein ‚Stamm‘. Neuerlicher Versuch, ihren Namen zu erhellen“, http://www.symbolforschung.de/media/ Volltexte/Die%20Franken%20%20sind%20kein%20Stamm.pdf (8. September 2020). 13 Charles Tilly, „War Making and State Making as Organized Crime“, in: Peter Evans, Dietrich Rueschemeyer und Theda Skocpol (Hg.), Bringing the State Back In, Cambridge 1985, 169–187. 14 Das erste Herrschaftsgebiet dieser ursprünglich baltischen Wandergenossenschaft mit Worms als Zentrum hatte das westhunnische Heer 436 zerstört und in weiterer Umsiedlung besetzte sie das Gebiet um Lyon. 12

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(Francia) bis zum Mittelmeer (Gallia) und von der Atlantikküste bis Noricum. Die warlords beraubten die Ansässigen ihrer Freiheit, zwangen ihnen Unterhaltszahlungen auf und nutzten die Kirche – soziologisch genau: Ravennas und, nachfolgend, Roms Stadt-Bischöfe mit ihren Verwaltungen – als neues Bezugssystem politischer Legitimation, ubi civitas, ibi episcopus. Dies regionalisierte Herrschaft, denn die Bischöfe-Landbesitzer erreichten nur ihr jeweiliges Umland in einem Radius von 200 bis 300 Kilometern, aber sie ergänzten ihre Stadtsitze durch ländliche, Adelskindern vorbehaltene Klöster, etwa 300 an der Zahl. Diese Institutionen schieden mit ihrer, wörtlich, Grund-Ausstattung aus der familiären Erbfolge, aber nicht aus den politischen Netzwerken aus und steigerten Gewinn-orientiert Abgaben der land- und hand-wirtschaftenden Produzent*innen. Ab 511 fasste der amtierende gallische Herrscher die Apparate zu einer familiär kontrollierten lateinsprachigen Kirche zusammen und die (Ober-) Bischöfe in Mittel-Italia mussten dies hinnehmen. 15 Der Personalbedarf ihrer Institution stieg von knapp dreißig Bischöfen um das Jahr 300 auf über hundert im Jahr 400 und bot Söhnen aus Magnaten-Familien neue Karriereoptionen. Dafür wandelten sie das Stellenprofil: Im östlichen Ideal verbanden Bischöfe Askese und Charisma mit pragmatischen Fähigkeiten: Eine passende Persönlichkeit und die Zustimmung der Gläubigen waren gefordert. In neuer westlicher Praxis kamen hohe Kleriker aus reichen Familien und Opulenz war an Bisch-Höfen üblich. Manche zeichneten sich weiterhin durch intellektuelle Fähigkeiten, Spiritualität und Armenhilfe aus. Politökonomisch übernahmen die Neuen, denen eine großflächig funktionierende Verwaltung für Steuereinzug fehlte, das private Finanzierungsregime der Senatoren-Familien: militärisch oktroyierte Kontrolle von „Grund“ und Abschöpfung des

von dort lebenden Familien erwirtschafteten Mehrwerts. Doch verfolgten ihre weltlichen und kirchlichen Zweige entgegengesetzte Akkumulationsstrategien: Besitz arrondierende Heiraten und zersplitternde Erbteilungen vs. Ansammlung und Unveräußerlichkeit. 16 Beide führten die bestehende Sklaverei fort. Im RR hatten freie Ansässige neben ihrer Rechtsstellung meist Land mit Vieh und Geräten besessen. Von ihnen und seinen Dienstleuten ließ der Merowinger Chilperich (I., h. 561–584) Strafgelder eintreiben. Konnten sie, besonders in Hungerzeiten, nicht mehr zahlen, mussten sie für „ein wenig Nahrung“ Unfreiheit hinnehmen. Als er seine Tochter Rigunth an den Kollegen visigotischer Identifikation in Iberien verheiratete, ließ er für ihre Ausstattung „auf den königlichen Gütern viele von den dienstbaren Leuten ausheben und auf Wagen fortschaffen; viele, die sich unter Tränen weigerten fortzuziehen, ließ er in den Kerker stecken […] Viele aber, die vornehmer Abkunft waren, und die man mitzuziehen zwang, machten ihr Testament und hinterließen all ihre Habe den Kirchen“. So notierte es Bischof Gregor. Könige neuen Typs schufen sich Untertanen neuen Typs. 17 Aus Grundrenten und Sklav*innenarbeit bezahlten die Neuen Chronisten und Sänger, die die Machtübernahme als Kontinuität aus biblischen und antiken Zeiten mythologisierten und, da viele der warlords aus der Fremde kamen, Migration in das Narrativ einwoben, biblisch die Ausbreitung der Söhne Noahs, antik den Auszug vornehmer Männer aus dem zerstörten Troja. Der Held Aeneas zog in die Weite – so schon Vergil –, traf schöne Frauen und gründete Rom. Letzteres hatten, laut anderer Erzählung, auch Romulus und Remus getan. Außerdem hatten Menschen dort lange vorher gelebt. Die Hof-Intellektuellen konstruierten legitimierende genealogiae, „Geschlechter“, „Linien“ oder „Dynastien“. Lineare Herkunftserzählung verschweigt Vielfalt von Ort und Stand sowie die Metamorpho-

Patrick J. Geary, Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen, übers. von Ursula Scholz, München 1996 (engl. 1988), betont die Kontinuitäten von römischer und merowingischer Herrschaft, ein Hineinschlüpfen in und Übernahme von Machtstrukturen. Bernhard Jussen, Die Franken. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 2014, 26–27. Martina Hartmann, Aufbruch ins Mittelalter. Die Zeit der Merowinger, Darmstadt 2003, als gender einbeziehende Sozialgeschichte. Paul J. E. Kershaw, Peaceful Kings: Peace, Power, and the Early Medieval Political Imagination, Oxford 2011, sah neben Gewalt auch Friedensstrategien. 16 Michael Mann, The Sources of Social Power, 3 Bde., Cambridge 1986–2012, Bd. 1: „A History of Power from the Beginning to A.D. 1760“, 301–415; Cordula Nolte, Conversio und christianitas: Frauen in der Christianisierung vom 5. bis 8. Jahrhundert, Stuttgart 1995, 72–86, 199–218; Jussen, Franken, 27; Hartmann, Aufbruch, 119; Jo Ann McNamara, „Living Sermons: Consecrated Women and the Conversion of Gaul“, in: Medieval Religious Women, Bd. 2: Lilian Thomas Shank und John A. Nichols (Hg.), „Peaceweavers“, Kalamazoo, MI 1987, 19–37. 17 Gregor von Tours, VI, 45, zitiert in Hartmann, Aufbruch, 117, 162. 15

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se vom Anführer einer herumziehenden Räuberbande zu sesshaftem Grund- und Macht-Besitzer. 18 Kürzel für das schwierige „mit genealogia ausgestattet“ wurde der Begriff „adlig“. Eine der zukunftsorientierten reichen Familien ließ sich früh als „die Agilolfinger“ genealogisieren. Aus ihrer Mitte

stammte Garibald, Rupert vielleicht aus der „Robertiner“-Familie. Genealogien haben wenig Informationswert für Sozialisation oder Emotionen, aber ihre Verinnerlichung durch die Unterhaltspflichtigen sparte Repressionskosten.

6.2 Die Institutionalisierung der Lateinischen Kirche Als in Noricum→ Bayern Menschen romanischer, bayerischer und alpenslawischer Sprachkulturen gemeinsam oder parallel lebten und in Gallien Bischöfe Verwaltung und Abgabeneinzug übernahmen, organisierten im Mittelmeerraum Einflussreiche oder -anstrebende Männer die Religion und die Institution Kirche. Unter den vielsprachigen Patriarchaten galten Antiochien und Alexandrien als intellektuelle Zentren, Caesarea als Ausbildungsstätte, Jerusalem als Ort christlichen wie jüdischen Heilsgeschehens. „Religion“ (irreführender Singular) bedeutete (1) den aus vielen Traditionen verbundenen praktizierten Glauben einfacher Menschen und ihre Spiritualität; (2) die Summe der syrisch-aramäisch-, griechisch- und, später, lateinisch-sprachigen Zentren; (3) die Institution Kirche auf der Makroebene „Konstantinopel“ und, Jahrhunderte später, „Rom“ (Singular) sowie die Institutionen (Plural) Bischofssitz auf den Mesoebenen und Pfarrbezirke auf den Mikroebenen; (4) praktizierte Liturgie und innere Überzeugungen auf Ebenen oberhalb der Laien; (5) die Rechtfertigung von Gott-gegebener Herrschaft im Sinne von Ideologie; und (6) Theologie als philologisch-philosophisches Denkgebäude. Nach dem Wandel von der oft unauffälligen ecclesia prima umfasste sie sichtbare Professionalisten (institutiones) und Gemeinde (communitas). Die „Anderwelt“ nannten die Gläubigen „Himmel“. Ich bezeichne die Weisen, mit denen Menschen sich Natur- und übernatürliche Kräfte vorstellten und ihren Ort darin bestimmten, als „Spiritualitäten“. Als „religiös“ bezeichne ich die Verringerung der Optionen zu einer mit Nachbar*innen prakti-

zierbaren Auswahl von Inhalten und ihre rituelle Formgebung (Liturgisierung). Als „kirchlich“ bezeichne ich die Strukturierung der Themen und Praktiken durch professionelle Spezialisten. Letztere legten „Profess“ ab, sahen sich als höhergestellt und erwarteten Lebensunterhalt, eine sogenannte Bepfründung, von denen, die sie als laienhaft ungebildet abstuften. Sie entwickelten „christliche Religion“ als Diskurs- und Versorgungsrahmen, doch umfasste christliche Praxis viele Vorstellungen und Bräuche. 19 Akteure auf der oberen Ebene umfassten Denker, die sich der Gemeinde der Gläubigen verpflichtet fühlten, Organisatoren, die Institutionen und Positionen konstruierten, und Kirchenmänner, die Institutionsdiskurse entwickelten. Unter ersteren postulierte Origenes (1. H. 3. Jh., Alexandria) ein Konzept von „Allaussöhnung“: Alle Geschöpfe würden zurückkehren zu dem barmherzigen, gütigen Gott. Der asketische Jovinianus (gest. 405, vermutlich in Rom) argumentierte, dass Keuschheit und Ehe, Askese und dankbarer Nahrungsgenuss in Gottes Sicht gleichwertig seien; dass mit Wasser und im Geist Getaufte von Sünde frei seien und sich diesen Stand durch ihre Lebensweise erhalten müssten; dass nur Götzendiener und Aschenanbeter Reliquien bestaunten. Wie dachten die Migrant*innen, die seit dem 3. Jahrhundert den Glauben nach Noricum trugen? 20 Unter den Organisatoren übernahm ein Teil der Geburtskohorte, die beobachtete, wie Kaiser Theodosios in Rom-Konstantinopel das Christentum einstaatlichte und finanziell absicherte, imperiale Strukturen – Abtrennung wäre aus kaiserlicher

Vergil, Aeneis (29–19 v. u. Z.). Constance Brittain Bouchard, „Those of My Blood“: Constructing Noble Families in Medieval Francia, Philadelphia 2001. Diese Synthese beruht auf einer sehr breiten, oft englischsprachigen Literatur zur Religionsgeschichte. Hartmut Leppin, „Christianisierungen im Römischen Reich: Überlegungen zu Begriff und Phasenbildung“, Journal of Ancient Christianity 16.2 (2012), 247–278. 20 David G. Hunter, „Rereading the Jovinianist Controversy: Asceticism and Clerical Authority in Late Ancient Christianity“, Journal of Medieval and Early Modern Studies 33.3 (2003), 453–470. 18

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Die Institutionalisierung der Lateinischen Kirche

Sicht Häresie gewesen. Hieronymus (~347–420), Johannes Chrysostomos (~349–407), Ambrosius (~340–397) und Augustinus (354–430), andere persönlich ehrgeizige Theologen sowie hohe Kleriker mit Standort-Präferenz konkurrierten oder kooperierten und italisch-africanische entfernten sich von den syrisch-griechischen Ursprüngen. Im italischen Noch-Reichsteil residierten die obersten Kleriker in Mailand und ab 402 in Ravenna. Als Teil der Landbesitzer-Elite von Istrien bis Sizilien hatten sie von der kaiserlichen „Reform“ 287 profitiert, die kleine Landbesitzer als servi terrae an Land band. Die stadtrömischen Bischöfe erreichten im 6. Jahrhundert Bedeutung. Im griechischen Segment verstand die Mehrheit der Gläubigen die Sprache der Kleriker, im Latein-kirchlichen nicht und der Sprachabstand in germanisch-sprachigen Gesellschaften war größer als in romanisch-sprachigen. Der Rhetor Johannes Chrysostomos, gefördert von der hochgebildeten Olympia aus wohlhabender Familie in Konstantinopel, zielte auf Grenzziehung zwischen neu-christlichem und jüdischem Glauben. Er genoss angesichts seines bescheidenen Lebens und seiner Vermittlungsfähigkeit breiten Respekt. Hieronymus war Teil der kosmopolitischen Elite: geboren in Dalmatien, Studentenjahre in Rom, 21 Reisen bis nach Aquileia und Trier, Taufe in Rom, Asket nahe Aleppo, dann Philologe und Pamphletist in Rom und Palästina. Dorthin begleiteten ihn die einflussreichen, mehrsprachigen Römerinnen Lea, Marcella und Blaesilla sowie Paula und Julia Eustochium. Sie gründeten Frauenklöster und ermöglichten ihm ein Leben in Wohlstand. Das Team nahm sich vor, die in den wenigen Jahrzehnten seit Nicäa wieder weit divergierenden SchriftVersionen der Bibel (vetus latina) erneut zu vereinheitlichen und sie übersetzten die hebräisch-griechischen Texte in zeitgenössisches Latein (vulgata). Origenes’ Allaussöhnung verurteilte Hieronymus als „versteckte Schlangen“.

Institutionalisierung strebten Ambrosius und Augustinus an. Ersterer, aus senatorischer Familie und Präfekt der Provinz Aemilia-Liguria in Mailand, ließ sich 374 zum Nachfolger des verstorbenen – in Italia führenden – Bischofs ausrufen. Dafür musste er sich, laut Berichten, sowohl taufen lassen wie Glaubwürdigkeit erreichen. Die Erinnerung an die Christenverfolgungen 304/305 war noch präsent, die Gemeinde „a community waiting to happen“ (P. Brown). Er „fand“ im passenden Moment die Gräber der „Märtyrer“ Gervasius und Protasius und deponierte ihre Gebeine als Reliquien in (s)einer Basilika (heute Sant’Ambrogio). Dies Modell, ursprünglich aus dem Osten, ahmten Bischöfe Westkirchen-weit nach. Ambrosius genealogisierte sich als Nachkomme der Märtyrerin Soteris (gest. 305), instrumentalisierte seine Schwester Marcellina mit dem Traktat De Virginibus (377), verfasste, ältere Texte kopierend, theologische Schriften und begann mit De officiis ministrorum die „Monarchisierung des Klerus und die Klerikalisierung des Mönchstums“ (O. G. Oexle). 22 Im Jahr 387 taufte er den in der Provinz Africa geborenen Augustinus. Dafür wechselte dieser von der gnostischen und asketischen Glaubensrichtung des Manichäismus, die der Lehrer Mani in der iranischen Großregion im 3. Jahrhundert mit jüdisch-christlichen, zoroastrischen und buddhistischen Anregungen entwickelt hatte. Augustinus machte nach bewegten Partnerschaften kirchliche Karriere und amtierte ab 395 als Bischof in Hippo Regius (Annaba, Algerien). 23 Ambrosius (35 J.) und Augustinus (32 J.) entschieden sich im sexuell aktiven Alter für Abstinenz und zeigten intensives Interesse an Jungfräulichkeit und Weiblichkeit. 24 Sie bezeichneten Frauen pauschal als Versucherinnen, die, da oft hässlich, durch Kosmetika täuschten und schwach und verletzlich seien. Das männliche Gesicht hingegen sei Ebenbild Gottes. „Kirche“, so Augustinus, sei gleichzeitig

Stefan Rebenich, Jerome, London 2002. Sehr differenziert zur gesamten Entwicklung Peter Brown, Through the Eye of a Needle. Wealth, the Fall of Rome, and the Making of Christianity in the West, 350–550 AD, Princeton 2012, Zitat 124; Otto G. Oexle, „Dauer und Wandel religiöser Denkformen, Praktiken und Sozialformen im mittelalterlichen Europa“, in: Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke und Kocku von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, 2 Bde., Göttingen 2009, 1:155–192, hier 181–185, Zitat 181. 23 Neil B. McLynn, Ambrose of Milan. Church and Court in a Christian Capital, Berkeley, CA 1994; Deborah M. Deliyannis, Ravenna in Late Antiquity, Cambridge 2010, 223–224. 24 Augustinus, mit sexuell breit aktivem, häuslich gewalttätigem Vater und monogamer Mutter, bezeichnete sich in seinen Confessiones als lustvoll und ehrgeizig. Eine Partnerin aus niedriger Schicht und das gemeinsame Kind verließ er, als sich eine vorteilhafte Heirat bot; die Ehefrau verließ er, als die Kirchenkarriere möglich wurde. 21

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Abb. 6.2 a) Ambrosius, Sant’Ambrogio, Mailand (Ausschnitt) und b) Darstellung von Giovanni di Paolo, 1465–1470 Das Mosaik könnte ein zu Lebzeiten hergestelltes Porträt sein. Spätere Interpreten stellten Ambrosius oft mit Peitsche dar, um sein energisch-aggressives Auftreten zu signalisieren.

jungfräulich und Mutter. Sie nähre die Gläubigen mit Milch, traditionell Symbol für das Vermitteln von Spiritualität und Weisheit – diese kam jedoch aus dem Mund der Apostel. 25 Er betonte, vielleicht angesichts der sinkenden west-staatlichen Funktionsfähigkeit, Familie und weibliche Häuslichkeit. Frauen sollten in ihrem Verhalten öffentlicher Überprüfung unterliegen, die Öffentlichkeit war männlich. 26 Er behauptete, Evas Bereitschaft zu fragen sei die – vorangehenden Theologen nicht bekannte – Erbsünde und wandte sich gegen die Suche nach Wissen, curiositas. Die hoffnungsvolle Perspektive der Erlösung mit „erfrischendem“ Aufenthalt (refrigerium interim) zwischen Tod und Jüngstem Gericht wandelte er zum Bedrohungsszenarium mit Pein-lichem Fegefeuer. Ahnte er, dass curiositas seine Thesen hinterfragen könnte? Die Ideologen zogen Außengrenzen, Linien zwischen Weltbildern, und schufen als Feindbilder singularisiert „die Heiden“ und „die Juden“.

„[They] carefully painted [pagans] in the most lurid possible colors, derived from cults selected for barbarity, not typicality“ (G. Fowden). 27 Heiden sollten bekehrt werden, waren aber nicht leicht greifbar. Habhaft werden konnten Kleriker ihrer Nachbarn jüdischen Glaubens samt Besitz und in Callinicum, östlich von Aleppo, brannten Mönche um 388 eine Synagoge sowie die Kirche ihrer gnostisch-christlichen Rivalen nieder. Theodosios, Kaiser aller Reichsbewohner*innen, ordnete Bestrafung und Wiederaufbau an. Ambrosius intervenierte, die Täter blieben unbehelligt. So wie Frauen an der Erbsünde hätten Juden Kollektivschuld am Tod Christi, behauptete Augustinus. Nur wenige Jahrzehnte nach Diokletians staatlichen Christenverfolgungen begannen Rom-kirchliche Judenverfolgungen. Augustinus plante ein Handbuch, Gottesstaat (Civitate Dei). Dies wurde unerwartet dringlich, denn kaum hatten Latein-Kleriker ihre Institution als Gottesherrschaft proklamiert, als föderierte, aber nicht entlohnte Visigoten die Stadt Rom 410 eroberten. Begrifflichkeiten seines Buches entstammten dem urban-handwerklich-merkantilen Umfeld: griechisch charakter war der Bildstempel für Münzprägung, Erziehung sollte Kinder durchdringen wie Farbe die Wolle. Den Bund zwischen Gott und Israeliten wandelte Augustinus zu Herrschaft der Institution über Laien. Angesichts des sichtbaren Gegenübers von Reichen und Armen behauptete er, Gott habe Reichtum zielstrebig geschaffen: Er diene der Verherrlichung des Schöpfers und durch Almosen täten Reiche Gutes für ihre eigene Seele. Er fügte hinzu, dass Armut zu Laster zwinge und Arme nicht tugendhaft sein könnten. So hebelte er die Gleichheit vor Gott aus. Als Machtpolitiker behauptete er, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gäbe (extra ecclesiam nulla salus) und dass Kleriker durch Wirken des Heiligen Geistes untilgbar geweiht seien (charakter indelebilis). Dies könnten Menschen auch in Fällen schwerer Verfehlungen nicht rückgängig machen. 28

Elaine Pagels, Adam, Eve, and the Serpent, New York 1988, 123; Kim Power, Veiled Desire: Augustine’s Writing on Women, New York 1996; Deborah Valenze, Milk: A Local and Global History, New Haven 2011, Kap. 2. 26 Maryanne Cline Horowitz, „The Image of God in Man – Is Woman Included?“, Harvard Theological Review 72 (1979), 175–206, bes. 199–200; David Natal, „Family Heroines and the Rhetoric of Vulnerability: The Case of Ambrose of Milan“, in: Kate Cooper und Jamie Wood (Hg.), The Violence of Small Worlds: Conflict and Social Control in Late Antiquity (in Vorbereitung); und Cooper, „The Voice of the Victim: Gender, Representation, and Early Christian Martyrdom“, Bulletin of the John Rylands University Library 80 (1998), 147–157. 27 Garth Fowden, Empire to Commonwealth. Consequences of Monotheism in Late Antiquity, Princeton 1993, 38. 28 Das komplexe Denken vieler Theologen ist Gegenstand zahlloser Darstellungen, die der Geistesgeschichte zuzuordnen sind und für die Entwicklung von Laienglauben ohne Bedeutung waren. 25

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Die Kleriker-Magnaten benötigten eine sichere Finanzbasis und da Schenkungen von Land-mitMenschen ausbleiben konnten, wandelten sie 585 den freiwilligen Zehnten in einen Pflicht-Zehnt: „Daher haben die göttlichen Gesetze zum Trost den Priestern und Kirchendienern als Erbteil allem Volke vorgeschrieben, die Zehnten ihrer Früchte den heiligen Orten darzubringen, damit sie, durch keine Arbeit gehindert, zu den vorgeschriebenen Stunden für die geistlichen Kulte Muße haben“. 29 Auch erkannten sie das Potenzial der noch aus vorangehenden Religiositäten üblichen Beigaben ins Grab: Sie seien an „die Kirche“ (pro salute ecclesiae) für Seelenmessen zu geben. Soziologisch ließ diese Innovation Gebete sanctimonialer Frauen pro salute animae überflüssig werden und sie ermöglichte Mobilität, denn Nachkommen mussten sich nicht mehr um das elterliche Grab sorgen. 30 In Bezug auf Frauen führten die Kirchenmänner, denen Geburt Mysterium war, die jüdische Tradition fort, dass Gebärfähigkeit kultisch unrein sei. Unkontrollierter Blutfluss, bei Männern durch Gewalttat und bei Frauen durch Menstruation, sei schädlich. Menstruierende Frauen dürften das Lebens-Mittel Brotteig nicht kneten. Sie müssten sich nach Geburten von einem Priester reinigen lassen, woraus „Lichtmess“ als kombiniertes „Fest“ der Reinigung der Mutter vierzig Tage nach Geburt – achtzig bei einem Mädchen – und „Darbringung“ des Kindes entstand. Einige Theologen behaupteten, dass Jesus statt aus dem Uterus durch Marias Seite in die Welt gekommen sei, so wie durch die Wand des Grabes nach seinem Tod in den Himmel. Die jährliche Feier der „Auferstehung“, Ostern, stimmte, wie keltisch die jährliche Rückkehr des Cernunnos aus der Anderwelt, zeitlich mit Feiern des jährlichen Wiedererwachens der Natur überein. Die Autoren von Altem Testament (AT) und Evangelien (NT) hatten Frauen zentrale Rollen zugeschrieben. Mit ihrer Hilfe überlebt Mose als Baby; Mutter Anna lehrt Tochter Maria, diese ihr Kind. Frauen wirkten als Mäzeninnen von Theologen, Paula sei Hieronymus an Klugheit überlegen, befand der bithynische Bischof Palladius. Frauen starben für ihren Glauben, unter vielen Afra aus Zypern in Augsburg. Eine Egeria aus Gallien, wo es

29 30

Abb. 6.3 Egerias Pilgerreise, ca. 381–384, zu den ihr heiligen Stätten

um 300 nur wenige Christ*innen gab, reiste nach Kleinasien, pilgerte zwischen 381 und 384 zum Berg Sinai und schrieb Freundinnen einen ausführlichen Bericht. Die Vielsprachigkeit in Jerusalem erstaunte sie: Der Bischof unterhielt sich auf SyrischAramäisch, predigte Griechisch, ein Übersetzer übertrug ins Lateinische. Ob die Bevölkerung der Levante in den 380er Jahren mehrheitlich christlich war, ist möglich, aber nicht gesichert. Als die Konziliare in Ephesus (431) in Mehrheits-Entscheidung Maria als Gottesmutter anerkannt hatten, ließ der Bischof in Rom Santa Maria Maggiore als erste ihr geweihte Kirche errichten; die Gemeinde in Poreč (Istrien) ließ Fresken verfolgter Frauen in ihrer Kathedrale anbringen (Mitte 6. Jh.); Bibel-Illustrator*innen schufen Meister*innen-Werke. Frauen wirkten als Diakoninnen und als Ehefrauen von Bischöfen. Sie fehlten nur unter den Denkern, die Institutions- und Theologiege-

Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 48 (Zitat). Hartmann, Aufbruch, 41–43; Jussen, Franken, 39–44, 101–107; Andreas Lippert, „Die Bodenfunde Salzburgs im 8. Jahrhundert“, MGSL 115 (1974), 5–18.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

bäude entwickelten. Diese mögen ihnen nicht zielführend erschienen sein. 31 Die Stadt-Rom-Kleriker befanden sich in einer fluiden Welt – für die Organisation und das Personal keine angenehme Lage. Zwar stieg ihre Bedeutung, als Ravenna 536 wieder Teil des RR-Konstantinopel wurde, doch war die Diözese von einer Pestepidemie und Hungersnot, den Kriegen Kaiser Justinians und dem Vordringen langobardischer Trupps bedroht. Östliche Theologen hatten Zugang zum Kaiser und die Bischöfe von Konstantinopel (orthodox) und Alexandria (koptisch) waren „Patriarchen“. Die Rom-Ansässigen wandelten die Fluidität in eine felsenfeste Sonderstellung und fälschten zu diesem Zweck die „Briefe des Petrus“: Jeder Stadtbischof sei mit dem Apostel Petrus (lat. Fels) mystisch vereint und im Be-Sitz des „Stuhles Petri“. Auch sie übernahmen römisch-imperiale Strukturen und Insignien: Diözesen und Provinzen, staatliche Amtskleidung, cathedra als Bischofsstuhl. Die Söhne der verbliebenen senatorischen Familien benötigten nach der Ost-Verlagerung der kaiserlichen Regierung eine Karrierealternative und da es viele Söhne gab, begannen (ehemals) einflussreiche Familien Konkurrenzkämpfe und fragilisierten den Felsenthron. 32 Die nicäisch-konstantinopolitanische Version von Liturgie, Hierarchie und Glaubensätzen ersetzte der römische Bischof/Papst Gregor (griech. „ich wache“, h. 590–604) durch seine Version 3.0. Sie würde für die Kirchenprovinz Salzburg dominant werden (s. Kap. 6.7). Seine Vorgänger hatten Ländereien gewaltigen Ausmaßes in Süditalien und Sizilien, Africa und dem Osten, in Gallien und Sardinien als patrimonium Petri akquiriert und ließen sie durch

Sklav*innen bearbeiteten. Britische und gallische Sklav*innen, die in Rom zu kaufen waren, soll Gregor bemitleidet haben. Die Päpste ließen die Ernten zu Marktpreisen verkaufen. Der Grund- und Sklavenbesitz begründete die finanzielle Macht der Institution Kirche, der Zehnte erweiterte sie. Gleichzeitig sorgte Gregor für die städtischen Armen. 33 Gregors Verfestigung der Institutionskirche war nicht „Reform“, sondern Neuordnung. Er erweiterte Augustinus’ „Erbsünde“ (weiblich) um sieben Todsünden und war der erste, der Maria Magdalena als Sünderin und Prostituierte diffamierte. 34 Seine Familie unterhielt sowohl zu den neuen ostrogotischen wie den fernen oströmischen Herrschern Beziehungen. Außenpolitisch befahl er die Konversion Andersgläubiger, sei es durch Akkommodation, sei es durch Requisition der Verehrungsstätten und Ersetzen von „Götzenbildern“ durch Reliquien. Die Weiternutzung bestehender Anlagen war kostengünstig und symbolträchtig. Ob Altgläubige die Umwidmungen akzeptierten, bleibt offen. Diese Neuerungen historisierte der hispanische Enzyklopädist Isidor (~560–636) durch eine Kirchenvätergenealogia 35 und Legenden-Bildner ordneten, um diesen Ahnenkult Laien einsichtig zu machen, den meist einheitlich-bärtig Dargestellten je ein visuelles Symbol, modern: Logo, zu: Hieronymus einen Löwen, Ambrosius Bienen. 36 Die Griechische, Syrische, Armenische und Koptische Kirche teilte viele der neuen Programmteile nicht. 37 Die Rom-Kleriker, die sich mit dem Logo „Schlüssel“ – für die Macht einzulassen, auszuschließen und zu bannen – versehen hatten, begannen ein Umerziehungsprogramm. Sie verboten heidnische Beschwörungen, incantationes, und för-

Kate Cooper, Band of Angels: The Forgotten World of Early Christian Women, London 2013; Rosamond McKitterick, „Frauen und Schriftlichkeit im Frühmittelalter“, in: Hans-Werner Goetz (Hg.), Weibliche Lebensgestaltung im frühen Mittelalter, Köln 1991, 65–118; Gary Macy, The Hidden History of Women’s Ordination: Female Clergy in the Medieval West, Oxford 2007; Gisela Muschiol, „Men, Women and Liturgical Practice in the Early Medieval West“, in: Leslie Brubaker und J. M. H. Smith (Hg.), Gender in the Early Medieval World: East and West, 300–900, Cambridge 2004, 198–216; Chiara Frugoni, „Frauenbilder“, in: Christiane Klapisch-Zuber (Hg.), Mittelalter, Frankfurt 1993 (ital. 1990), 359–429; Leslie Webster, Anglo-Saxon Art. A New History, London 2012, 161–163. 32 Für Familien-, Diplomatie-, Institutions- und Kriegskontexte Volker Reinhard, Pontifex. Die Geschichte der Päpste von Petrus bis Franziskus, München 2017, 111–154: die „Quellenlage“ ist schlecht, denn „der Liber pontificalis [nahm es] mit der Wahrheit nicht immer genau“, ebd., 178. 33 Wickham, Framing, 166, 271. Werner Tietz, Hirten, Bauern, Götter. Eine Geschichte der römischen Landwirtschaft, München 2015, 334–338. 34 Susan Haskins, Mary Magdalen: Myth and Metaphor, New York 1993. 35 Papst Bonifatius VIII. ernannte Chrysostomos, Ambrosius, Augustinus und Gregor 1295 zu „Großen Kirchenvätern“. 36 In Österreich ist der Gedenktag des später zum Heiligen ernannten Ambrosius auch Tag des Honigs. 37 Reinhard, Pontifex, 13–28. In den 860er Jahren würden beide Kirchen einen Streit um die Kontrolle (und den Zehnteinzug) balkanischer Christen führen, der 867 mit dem Schisma (Nikolaus I. vs. Photios) endete. Andrew J. Ekonomou, Byzantine Rome and the Greek Popes, A.D. 590–752, Plymouth 2007; Anne Doustaly, Le Moyen Age: Dix siècles d’ombres et de lumière, Milan 2004, kommentierte, dass die Eliten des Okzidents den Orient nicht verstanden und ihren Historiografen die Aufgabe zuwiesen, der Orthodoxen Kirche alle Schuld an der Teilung anzukreiden. 31

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derten gleichzeitig incantationes sanctae. Sie wiesen die gewählten Sprechern einer Gemeinde obliegende Seel-Sorge institutionell eingebundenen Mönchen zu, die dafür geschult werden mussten. Sie untermauerten ihre Position durch zielgerichtet erfundene Geschichten (Plural) als intentionale Geschichte (Singular). Ambrosius, der durch leicht zu begreifende Legenden und anfassbare Reliquien Laien einstimmen wollte, erfand die Geschichte, dass die Mutter des religio licita ermöglichenden Kaisers Konstantin, Helena, nach Jerusalem gereist sei und dort das von „Persern“ entführte und von „einem Juden“ versteckte Kreuz gefunden hätte. 38 Papst Gregor wusste, dass Rufinus (Aquileia) und Palladius (Helenopolis) „die wunderreichen Leben der ägyptischen und palästinensischen Mönche“ zusammengestellt hatten und viele Mönche diese Schriften lasen und weitergaben. Für den Westen konstatierte Petrus – nicht mehr der Apostel, sondern Gregors Diakon, Freund und „Sohn“: „Mir ist wenig davon bekannt, dass das Leben einzelner Männer in Italien durch Tugenden geglänzt habe“. Gregor, vertraut mit dem Brauch der Mächtigen, sich Genealogien der wunderreichen Leben ihrer Vorfahren zusammenstellen zu lassen, schrieb daraufhin die „Geschichten großer italienischer Männer und der Wunder, die sie gewirkt haben“. Er berief sich auf Erzählungen weiser, alter Männer und betonte nüchtern, dass auch die Evangelisten nur über Erzählungen von Jesus wussten. In seinen Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum mythisierte er archaische Ereignisse als heilige Ursprünge oder goldene Zeitalter zur SinnGebung für die Gegenwart (M. Eliade). 39 Ihm berichteten Konstantus (der Stetig-Folgerichtige), Valentinian (der Kräftig-Gesunde), Simplicius (der Aufrichtige) und Honoratus (der Ehrenhafte) von dem organisatorisch talentierten Benediktus (der Gesegnete) in Nursia, einer Gemeinde in Umbrien.

Im Osten hatten bereits Pachomios und seine Schwester das persönliche, „orientalisch-asketische“ Eremiten-Mönchstum in eine rigorose koptischsprachige Klosterform (Koinobitentum) gewandelt. Laut Gregor bewirkte Benediktus, real oder fiktiv, in Italien die Metamorphose des Apolloheiligtums Monte Cassino bei Neapel in ein geregeltes, musterhaftes Kloster und auch er hatte – laut späteren Berichten – eine Schwester, Scholastika, die Frauenklöster gründete. 40 Er forderte Bescheidenheit, Gebet, Arbeit und Gehorsamkeit; seine Adepten sollten ein einheitliches Schema des Gottesdienstes verbreiten und die Kloster-Vielfalt in ein einheitliches Klosterwesen überführen: translatio als wichtiges kirchliches Instrument. Mönche fügten lokalspezifische Gewohnheiten, consuetudines, hinzu. In der Diözese Salzburg wurden Benedikts süditalische und Columbans irisch-fränkische Regeln vermutlich gemischt praktiziert. 41 Als Gregor in Rom schrieb, war in Konstantinopel die von mehr als 10.000 Handwerker*innen erbaute Hagia Sophia (griech. heilige Weisheit) als dritte Kirche an diesem Ort seit sechs Jahrzehnten Verehrungsstätte. 42 In Mekka/Makka war ein Kaufmann namens Mohammed/Muḥammad („der Lobenswerte“) bereits geboren (~570). 43 Diese Stadt der Quraisch (Qurayš) war Handelszentrum für Viehzüchter, die Lederwaren an die Armeen der benachbarten sāsānidischen und römischen Imperien verkauften, und für die Gummiharz-Sammler im Hadramaut (Ḥaḍramawt), die Priester vieler Religionen mit Myrrhe und Weihrauch versorgten. 44 Ihre später „Weihrauchstraße“ genannte Route verband die Wirtschaftszentren Äthiopiens (Aksum) und Palästina-Syriens. Die vielen Identifikationsgruppen („Stämme“) verehrten in einem al-Kaʿ ba genannten Gebäude die Göttinnen al-Lāt (weißer Stein), Manāt (schwarzer Stein) und al-ʿ Uzzā (roter Stein) – die Namen bedeuteten Getreide, Frau

Carla Heussler, De Cruce Christi. Kreuzauffindung und Kreuzerhöhung. Funktionswandel und Historisierung in nachtridentinischer Zeit, Paderborn 2006. 39 Sie wurden in viele lateineuropäische Sprachen übersetzt. 40 Dialogi, 2. Buch: „Leben und Wunder des hl. Benedikt“, erster deutscher Druck Augsburg 1472. 41 Pierre Riché, Daily Life in the World of Charlemagne, übers. von Jo Ann McNamara, Philadelphia 1978 (frz. 1973), 40. 42 Cyril Mango und Ahmet Ertuğ, Hagia Sophia. A Vision for Empires, Istanbul 1997. 43 Mohammeds genealogia sieht ihn als Nachkommen von Abrahams und Hagars Sohn Ismael. Marco Schöller, Mohammed, Berlin 2008; Fred Donner, Muhammad and the Believers: At the Origins of Islam, Cambridge, MA 2010; Jonathan A. C. Brown, Muhammad. A Very Short Introduction, Oxford 2011. 44 In Alexandria hatten im 1. Jahrhundert Gelehrte und/oder Seefahrer einen Periplus Maris Erythraei als Anleitung zur Küstenbefahrung des Roten Meeres und der indischen West- und afrikanischen Ostküste verfasst. Im 2. Jahrhundert betrieb das RR von den Farasān-Inseln im südlichen Roten Meer aus Handel mit Ägypten-Äthiopien und, vermutlich, Indien. 38

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Allahs, Morgenstern, Abendstern, Mond und Schicksal. Pilger*innen trugen zum Reichtum der Händler und Gewerbetreibenden bei. Mohammed und die wohlhabende Witwe Khadija (Ḫadīǧa) heirateten. Er hatte Visionen und begann zu predigen, aber angesichts von Desinteresse oder Anfeindungen begab sich die Familie 622 nach Medina (arab. „Stadt“, vorher Yaṯrib). Seine Anhänger zogen militärisch gegen Mekka und widmeten den „schwarzen Stein“ als Zeichen Gottes (arab. allāh) um. 45 Mohammed trugen Engel für einen nächtlichen Besuch nach Jerusalem. Vielleicht schon zu seinen Lebzeiten, spätestens nach seinem Tod 632 begannen Gläubige seine Gedanken zu verschriftlichen und als Quran zusammenzustellen. Wie die Bibel beruht der Quran auf älterem Gedankengut und Vorstellungswelten und richtete sich an mobile Viehbesitzer*innen und sesshafte Städter*innen. Die Autoren lehnten die vorher verehrten Göttinnen als heidnische „Idole“ ab (Sure 53,19– 20). Sie kannten die in mehreren Fassungen überlieferte Septuaginta und muslimische und christlich-mönchische Gebetszeiten ähnelten einander. Wissen um die vielen, vielfach legendären Entwicklungen hatten Rupert und Erentrudis, Virgil und Bonifatius in Kopf und Gepäck, als sie die Herzogs-Residenzen Regensburg und Salzburg erreichten. Gemeindepriester wussten vermutlich um die Eroberung Jerusalems durch ein persisches Heer, um die oströmische Rück- und erneute arabischmuslimische Eroberung sowie um „Sarazenen“ und Quran und um den Kampf gegen die persische Feuerreligion und die Rückgewinnung des Kreuzes oder dessen existenten Teilen. Am ideellen Bezugsort Jerusalem errichteten Muslime zwischen 687 und 691 um den Fels, auf dem nach jüdischer Tradition die Welt errichtet wurde, den Felsendom (qubbat al-ṣaḫra). Nach einem Aufruf des Papstes auf dem Felsenthron würden fünf Jahrhunderte später Ritter aus der Salzburger Kirchenprovinz sich an der Eroberung Jerusalems, des reichen Umlandes und der Schätze „des Orients“ beteiligen. Gläubige, auch in abgelegenen Bergtälern, mussten dafür Sonderzehnte zahlen, muslimische Gläubige für die arabisch-syrischen Heere.

Die mächtigsten Herrscher des entstehenden dualen lateinkirchlich-weltlichen Europas, Päpste und die Merowinger-/Karolinger-Familien, expandierten. Beide wussten, dass innere conversio für Massenkonversionen untauglich war. Sie nutzten Zwangskonversion, zum Beispiel sächsischer und jüdischer Männer und Frauen, oder die diplomatisch ausgehandelte Konversion einer HerrscherFamilie und ihrer traditionstragenden Elite. Für letztere sprachen klerikale Diplomaten zuerst Frauen – im Westen Bertha, Chrodechild und Æthelburgh, im Osten Olga – als Initiatorinnen an, die dann Bräutigam oder Ehemann zur Taufe bewegten. Gespräche von Mann zu Mann scheinen selten eingesetzt worden sein. Die Herrscher-Taufe galt für alle Beherrschten, Lebensweise war nicht Thema. Zwischen den beiden Eliten stand die Frage, wer die „Mitgliedsbeiträge“ erhalten würde. Die Karolinger- und – später – die Árpáden-Familie entschieden sich für Zehnteinzug innerhalb ihrer Herrschaft mit pauschalem Anteil für „Rom“. Latein wurde Verwaltungs- und Religionssprache, der stadtrömische Heiligenkalender verpflichtend für den Großraum. Das theologische Ziel, die Rettung von „Seelen“, und das politisch-familiär-institutionelle, die Expansion von Macht und Finanzbasis, waren untrennbar miteinander verbunden. Analytisch können „Kirche“ und „Adel“ nicht gegenübergestellt werden, denn von Mönchen und Nonnen aufwärts waren sie identisch. Der Adel bestand aus einem weltlichen und einem kirchlichen Zweig und diese Dualität beeinflusste Einheit und Konflikte über Jahrhunderte. Äbte und Bischöfe stellten die Mehrzahl der Krieger und Panzerritter der Könige. Sie waren sich des ideologischen Charakters ihrer Herrschaftslegenden bewusst, denn sie beauftragten Erzähler, sie zu erstellen. Diese transeuropäische Zusammenfassung ist noch eng: Ausgestoßene und selbstbestimmt migrierende Christen hatten andere Christentümer nach Äthiopien, Persien und China getragen. Die kommende Vorherrschaft der Lateinkirche im Westen Europas beruhte nicht auf überlegener Ethik, sondern auf Pfadabhängigkeit von Entscheidungen zu Institutionalisierungs- und Finanzierungsstrategien.

Mohammed galt als Vermittler. Doch ließ er in Medina zwei Gruppen jüdischen Glaubens vertreiben, die Männer einer dritten töten und die Frauen und Kinder als Sklav*innen verkaufen. Lokale Identifikationsverbände waren jüdisch geworden, andere migrierten nach Äthiopien, Christ*innen lebten in der Region. Während dieser Kämpfe um Vorherrschaft entstanden „Schwertsuren“, die – analog zu israelitischen Schriften – zur Ausrottung Andersgläubiger aufriefen.

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Fränkische Herrscher und ihre vielkulturellen Untertanen

6.3 Fränkische Herrscher und ihre vielkulturellen Untertanen Herrschaft war den Menschen nah und fern zugleich. Nah ließen die Familie Agilolfing und die Bischöfe Abgaben einziehen. Fern definierten salischund rheinisch-fränkische Schriftkundige die Stellung der maiores natu und potentes (Lex Salica, um 510, und Lex Ripuaria, Anfang 7. Jh.). Dies waren weder „Volksrechte“ noch, wie im 19. Jahrhundert imaginiert, das Recht einer nationum Germanicarum. Annektierte Gruppen lebten weiter nach eigenem Recht und die Lex Baiuvariorum verschriftlichte ein Abt von Niederaltaich (Mitte 8. Jh.) in lateinischer Elitensprache mit bayerisch-sprachigen Einschüben. 46 Parallel galt die Corpus Iuris CivilisVersion des RR-Konstantinopel. Der Abt begann mit dem Klerus, dem Herzog und adligen Geschlechtern (de genealogiis), ließ Freie, Freigelassene und Unfreie (de servis) folgen und schließlich, nach einem Titel über die Ehe, Frauen als Ehefrauen (de uxoribus). Am untersten Ende der Skala lebten in Merowingia 5 bis 15 Prozent als Sklav*innen. 47 Die Machtpositionen formenden Familien wandelten, wie vorher reiche Senatoren-Familien, römische res publica in res privata familiae und verformten ecclesia prima zu ecclesia clerici. Zwar blieben manche Gewohnheitsrechte, sogenannte Weistümer, erhalten, aber „Recht“ wurde doppelbedeutig. Über recht im Sinne von tradiert und fair – „es geht mit rechten Dingen zu“ – würden Scholaren ein „Dekret-Recht“ über Unterworfene installieren (s. u. Kap. 6.6). Chronisten der Oberen verwendeten den Begriff „Recht“ anstelle von „auferlegte Machtstruktur“, Untere blieben bei rechten Maßen. In der mobilen Leitzentrale von Francia-Gallia oder, familiär, Mero-Karolingia konzentrierten – als geschickte Manager der zunehmend west- und mitteleuropäischen Herrscher-Familie – Pippin (635– 714) und Sohn Karl (Martell, 688–741) die Hof-

und Finanzangelegenheiten in ihren Händen: „Regierende Hausmeier“ kontrollierten „amtierende Könige“. 48 Karl M. und Chrotrud aus der Familie Arnulfing heirateten und nach dem Leitnamen „Karl“ – ahd. „Kerl“ oder „Mann“ – benannte zuerst der Mönch und Historiker Widukind (Corvey, 10. Jh.) die Familie. Die „Karolinger-“ oder KerleDynastie umfasste Königinnen, Partnerinnen und Töchter, doch anders als in Familie Merowing konnten Frauen niederen Standes nicht mehr Königin werden. 49 Konzepte von „Reich“ und „Gesellschaft“ (bonum commune) existierten nicht; Familien mit Bewaffneten herrschten über Menschen auf dem Land. Die oft als modellhaft bezeichnete Karoling-Phase blieb von der Absetzung des letzten Merowing-Königs bis zum Beginn der Kriege der Urenkel Pippins III. um Erbanteile 840 neunzig Jahre kurz. Die Familienstrategie, bis zum Enkel Karl (d. G.) erfolgreich, hatte anschließend männliche Schwachstellen – nicht failed state, sondern failed family. Soziologisch herrschte eine trans-west-europäische Elite über Untertänig-Gemachte vieler Dialekte und der Elitenverbund diente auch als Sicherheitsnetz für innerfamiliäre Verschwörer*innen. Von fränkischen Höfen flohen in Missgunst Geratene oder bei Erbteilung leer Ausgegangene zu slawisch-, mährisch-, bretonisch-, dänisch- oder anderssprachigen Herrscher-Familien. Machtsuchende verbündeten sich mit Wikinger- oder Magyaren-Trupps. Fremd waren den Oberen die Untertanen. Fränkische Stadtbürger, herrschaftsrechtlich „Knechte“, durften sich nicht gegen zerstörende Wikinger bewaffnen, in späterer Zeit Bauern nicht gegen osmanische Trupps. König Karleman in Westfranken, dessen Knechte versagten, verbot 884 die Bildung dörflicher Gilden zur Abwehr skandinavischer Einfälle. 50

Die Mönche kamen auf Ruf Herzog (Hz) Odiolos um 740 aus Reichenau, spätere Mönche gingen in die Ostmark und nach Kärnten. Ernst von Schwind (Hg.), Lex Baiwariorum, Serie der sogenannten Leges nationum Germanicarum, Bd. 5, Teil 2, Hannover 1926, 267–365; erste Fassung um 740, älteste erhaltene Version („Ingolstädter Handschrift“) um 800. 48 Die folgende Darstellung beruht auf Hartmann, Aufbruch, und dies., Königin; Jussen, Franken; Wickham, Framing, 103–105; Goetz, Europa, 49–84; Rosamond McKitterick, The Frankish Kingdoms under the Carolingians, London 1983, 41992, 16–76; Walter Eder, „Merowinger“, in: ders. und Johannes Renger (Hg.), Herrscherchronologien der antiken Welt: Namen, Daten, Dynastien, Stuttgart 2004, 296–299, Zitat 296. 49 Die retrospektiv geschriebenen Familien-Annalen, Annales Regni Francorum, wurden nach 1871 im neuen Deutschen Reich zur Gründungslegende als „Reichsannalen“. „Werkzeugkasten“ der Herrschaftsdiskurse waren religiöse Topoi in fränkischer Variante (Jussen, Franken, 87). 50 Timothy Reuter, „Plunder and Tribute in the Carolingian Empire“, Transactions of the Royal Historical Society, 5.35 (1985), 75–94, hier 91–92; Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts: Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde., Stuttgart 1984, 1:218–219. 46 47

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Gleichzeitig konkurrierten die Magnaten-Familien intensiv. Karl-Familie, Päpste-Rom-Familien und Langobarden-Herrscher-Familie positionierten sich etwa zeitgleich. Ihr System – Kauf von Loyalitäten, Belehnung von Vasallen und deren Kriegsdienst, Heerbann – erforderten ständig wachsende Einnahmen. Im Rahmen dieser Politökonomie unterwarf Pippin II. in den Jahren 690 bis 695 friesische Siedler- und Seekauf-Familien und Karl M. beendete 732 die Beutezüge (arab. ġazwa, Razzia) sarazenischer Trupps bei Tours und Poitiers. Als der herrschafts-christliche langobardische Aistulf den institutions-christlichen Papst bedrohte, mischten Pippin III. (h. 751–768) und Bertrada sich ein: Sie boten Stephan II. Schutz, dieser bestätigte Pippins Königskrönung als Papst auf der Flucht (a. d. F.). In einem anschließenden deal (754/755) tricksten beide: Pippin versprach Hilfe gegen die lombardischen Herrscher, deren Land-mit-Menschen ihn interessierten, der Papst beanspruchte mit Hilfe einer gefälschten Urkunde den gesamten vormals weströmischen Reichsteil. 51 Pippin gewährte dem Papst den Anspruch; das Gebiet gehörte ihm nicht. Als nachfolgende Päpste die „Schenkung“, die den Besitz des Geschenkten voraussetzte, einforderten, nutzte Pippins und Bertradas Sohn Karl dies, um sich als Herrscher über die Territorien zu proklamieren. Karl (geb. 747/748), erst Ende des 10. Jahrhunderts als „der Große“ (d. G.) stilisiert, sprach das altdialektdeutsche Moselfränkische. Er annektierte mit seinen Bewaffneten das oberitalienische Regnum, föderierte das Zentrum „Rom“ der Kircheim-Aufbau und nahm sich in Ravenna transportierbare Prestigeobjekte, die in Aachen seiner Herrschaftssymbolik dienten. Auf der Basis (ost-) römischer und langobardischer Verbindungen ließen Herrscher die strategische Rom-Aachen-Route, Via Francigena, bauen, die später auch in die Champagne führte. Makroregional alliierten sich Päpste und Karl-Familie gegen „Konstantinopel“ mit den älteren Ansprüchen und Karl ließ sich im Jahr 800

vom Papst zum Kaiser krönen. Die Kleriker, die seine Akten verfassten, erwähnen eine Delegation des Oströmischen Kaiserhofes, die ihm die Kaiserwürde übergeben habe. Der Vorgang fehlt in oströmischen Akten. 52 Hofgelehrte formten überlagernde Konnotationen des Topos „Rom“: Römisches Imperium – stadtrömischer Bischof – lateinischer Papst und „Karl, erhabener Augustus, von Gott gekrönt, großer, Frieden bringender Kaiser der Römer, das Imperium lenkend, und durch das Erbarmen Gottes König der Franken und Langobarden“. Auch Herrscher der griechisch-kirchlichen Serben und muslimischer Bulgaren bezeichneten sich als „König der Römer“. Kaiser und Kaiserin der Römer-Rhomäer residierten in Konstantinopel. Westliche Teile des alten RR formte die Karl-Familie in eine mittelmeerisch-transalpin-gallische Einheit um. 53 Historiker des großen Karl haben sich für den kleinen Kerl kaum interessiert. Was dachte seine Mutter Bertrada nach der Geburt? Wie erzogen die Eltern ihn und welche Bildungsmöglichkeiten öffneten sie ihm? Und, aus anderer Perspektive: Was dachten die Familien, die er seinem HB inkorporierte? Widerständig, wie Bachtin und Gramsci vielleicht vermuten würden, oder im Habitus wenig verändert? 54 Wie lebten Familien, in denen am Tag von Karls Geburt ebenfalls ein Kind geboren wurde? Sie würden ihm Abgaben zahlen müssen. Die Lebenschancen vieler Kinder sind Jahrhunderte vor ihrer Geburt vorherbestimmt, nicht durch Gottheiten oder vermeintliches Schicksal, sondern durch Menschen-gemachte Machtverhältnisse. Karl, etwa zwanzig Jahre jung, erbte das Königsamt im nördlichen Franken, sein Bruder Karloman Aquitanien. Letzterer starb und durch diesen Zu-Fall wurde Karl Alleinherrscher. Karlomans Witwe Gerberga flüchtete mit den Kindern, denn ihre Erbansprüche bedrohten Karls Übernahme und dies schien ihr lebensbedrohlich. Sie wird kaum erinnert. Historien im Rahmen linearer „Dynastien“ müssen viele Frauen und Kinder, Poly-

Die Fälschung wurde ab etwa 1000 vermutet, der Priester und Humanist Lorenzo Valladen bewies sie 1439. Für die Krönung gibt es, bei epochalen Ereignissen erstaunlich, aber nicht ungewöhnlich, weder Augenzeugenberichte noch päpstliche Urkunden. Jussen, Franken, 64–70. Der Papst war zu König Karl, den er bereits zum Schutzherrn Roms gemacht hatte, geflüchtet. Reinhardt, Pontifex, 181–183. 53 Diese sehr gedrängte Zusammenfassung beruht auf McKitterick, Frankish Kingdoms; Borgolte, Europa, 24–75; Alessandro Barbero, Karl der Große. Vater Europas, übers. von Anette Kopetzki, Stuttgart 2007 (ital. 2000); Dieter Hägermann, Karl der Große, Herrscher des Abendlandes, München 2000; Siegfried Epperlein, Leben am Hofe Karls des Großen, Regensburg 2000. 54 Michail M. Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur, übers. von Gabriele Leupold, Frankfurt/M. 1995 (russ. als Dissertation 1940, Druck erst 1965, engl. 1968); Perry Anderson, „The Antinomies of Antonio Gramsci“, New Left Review 1100 (November–Dezember 1976), 5–78. 51

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gamie, sequenzielle Monogamie und Liaisons verschweigen. Karl wechselte die Ehefrauen, fünf insgesamt, und hatte mit ihnen und anderen Partnerinnen, soweit bekannt, zwanzig Kinder. 55 Ein Mann, fünf Ehefrauen und zwanzig Kinder lassen sich kaum integriert darstellen. Die Töchter durften aus familienstrategischen Gründen nicht heiraten, aber zum Ärger federführender Kirchenmänner, die Karls Sexualleben nicht kommentierten, Partner haben. Nach des Vaters Tod verbannte der oberste ihrer Brüder, Ludwig, sie vom Hof. Erinnerer im 10. Jahrhundert nannten ihn „den Frommen“ (d. F.). Hätten seine Schwestern ihn „Ludwig, der Moralisierende“ genannt? Herrschaft, nicht Lebensführung, war „moralisierend christlich“ (C. Wickham). 56 Karl selbst konnte nicht schreiben und berief als Berater, modern: brain trust, für Wirtschaft und Verwaltung klug ausgewählte und mit großen Einkommen ausgestattete Kleriker-Intellektuelle: Alkuin aus York, Paulus Diakonus aus Monte Cassino, Paulus aus Aquileia, Theodulf, mit dem Mozarabischen vertraut, aus Orléans, Einhard, Intellektueller von Format aus Ostfranken, und den visigotischen Abt Witiza/Benedikt aus Aniane, Südfrankreich. Alkuin besaß als Bischof von Tours, wie ihm ein Kollege vorhielt, 20.000 Sklav*innen und Leibeigene (servi). Den Abt von St. Armand (Elno, Belgien), Arn, schickte Karl als Bischof nach Salzburg. Arn war an vielen Beratungen beteiligt, löste als Königsbote klug vermittelnd Konflikte und brachte sich intensiv in die Kirchen-Neuordnung ein. Wie üblich ließ sich Karl eine Genealogie erfinden, als Ahnencharisma eine Abstammung der Franken von den Trojanern. Er entschied mit seinen Klerikern, Gott einzubinden, denn Päpste waren zeremoniell wichtig, aber wenig vertrauenswürdig. Von der Taufe Chlodwigs bis zur Annexion der baltischen „Heiden“ im 13. Jahrhundert ermöglichte „Christianisierung“ den Zusammenhalt der Machteliten, Religion war „Kitt archaischer Herrschaft“ (Karl Hauck) und „Gott“ Schlagwort im wörtlichen Sinn. 57 Der brain trust befasste sich intensiv mit Glauben im doppelten Sinn von Lebensweg-Seelen-

Abb. 6.4 Karl der Große: Idealbild, Meister des Aachener Marienlebens, um 1485, im Bilderzyklus des früheren Apsis-Altars Der mit wertvollem Mantel bekleidete, kniende Kaiser ist durch ein Modell des Aachener Doms als Stifterfigur gekennzeichnet. Das Altersweisheit andeutende Gesicht mit wallendem Haar entsprach dem von seinem Biografen Einhard (um 820) und dem Mönch Notker (883) geschaffenen Bild, das Autoren gegenwärtig genutzter Enzyklopädien ohne Quellenangabe abschreiben und das eine Salzburger Brauerei Anfang des 21. Jahrhunderts als Bierdeckel vermarktete. Bereits junge Männer wurden mit Vollbart dargestellt, da „Bart“ Zeichen für den Übergang von Adoleszenz zu Mannestum, das heißt zu Sexualität und Autorität war.

heil und Herrschaftsstrukturierung. Das Konzept eines Sakralkönigs-, dann -kaisertums entwickelte der Domschulleiter Alkuin und verlängerte dafür Karls Genealogie über Aeneas hinaus zum bib-

Hartmann, Königin, 96–104. Im 9. Jahrhundert begannen Autoren die Lebensführung der Könige so zu bereinigen, dass sie im christlichen Sinn „vorzeigbar“ wurde. Zu höfischem Leben Riché, Daily Life, 90–100. 56 Ludwig, der im Alter von drei Jahren in das randständige Aquitanien geschickt oder verbannt worden war, hasste den Vater und entließ später dessen Berater. Wickham, Framing, 290. 57 Die Christianisierung Europas im Mittelalter, Stuttgart 1998 und 2009, 9; Hauck zitiert in Wilhelm Störmer, Adelsgruppen im früh- und hochmittelalterlichen Bayern, München 1972, 164. 55

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Abb. 6.5 Zeitgenössische Kriegsführung: Reiterkrieger mit Steigbügeln, Körperpanzerung, Lanzen, Schwertern, Pfeil und Bogen vor einer befestigten Stadt, Psalterium Aureum, 2. Hälfte 9. Jh. Bis in das 8. Jahrhundert hinein bedeutete „Krieg“ kurze, zerstörerische Beutezüge, Schikanen, Störmanöver, dramatisch-tödliche Schlachten; seit dem 9. Jahrhundert wuchs die Bedeutung von Reitern als Angriffswaffe und Mauern als Defensiveinrichtungen.

lischen König David und, mit Blick auf das real existierende Römer-Reich, zu Kaiser Konstantin. Aus derartigen Legitimationsstrategien entstanden Denkfiguren wie patrimonium petri und „Römisches Reich“. Im Rahmen machtstützender Ikonografie von Patriarchen – Gottvater, Kirchenväter, Kaiser, Könige – erschien Karl oft als vollbärtiger und kraftvoller Mann. 58

Karl, auch brutaler Stratege, führte seine Waffenpflichtigen unter Heerbann fast jährlich in verheerende Kriege. Sie übernahmen das östliche Modell „Reiterkrieger“. Wirtschaftsförderung analog zur Pax romana strebte Karl nicht an, denn Friede war Magnaten weder sozialstrukturell noch ideologisch vorstellbar und politökonomisch nicht möglich. „In the West, military matters have consumed more material resources and lives than any other human endeavor over more than three thousand years“. 59 Bei den Scharmützeln von ġazwaGruppen und Karl M., Großvater, kämpften arabische, berberische, israelitische und kanaanitische Männer gegen fränkische, langobardische, sächsische und friesische. Spätere Erinnerer erfanden die „Rettung des christlichen Abendlandes“ durch den Sieg Karls bei Poitiers. 60 Doch waren Friesen und Sachsen 61 nicht christlich, „Abendland“ kein Konzept und Christen bekriegten Christen. Den Menschen friesischer Kultur, deren Handelsemporium, zentriert auf Dorestad (nahe Utrecht), sie mit englischen und mittelmeerischen Hafenstädten verband, war bewusst gewesen, dass die Übernahme des fränkisch-propagierten Christentums ihre Eigenständigkeit beenden würde. Karolingisch-päpstliche Ideologen kategorisierten mit christlichem Überlegenheitsanspruch Nachbarn als Ungläubige und damit Un-zivilisierte. Dies legitimierte Unterwerfung zum Beispiel der Sachsen mit Terror und Massendeportationen. Da im fränkischen HB unvergebenes Land-mitArbeitskräften zu knapp geworden war, um großund kleinadlige Männer zu versorgen und zu beschäftigen, wurden Beutekriege gegen Nachbarn systemisch. Karl unterwarf neben „den Sachsen“ die ihm verwandten langobardischen (774) und bayerischen Herrscher-Familien (788) und fiel in Karantanien ein (s. u. Kap. 6.5, 6.8). Die Kriege boten, wenn siegreich, Beute und Land, letzteres im

Der Autor der renommierten Encyclopedia of World History (62001, 173–174) beschrieb ihn als großen, athletischen, wachen und gut gelaunten Mann; der Autor der Wikipedia (Fassung 26. März 2013) ließ ihn Ordnung schaffen, da Franken in „barbarische“ Gebräuche zurückfielen, Sachsen auf ihrem Heidentum beharrten und Sarazenen sich ausbreiteten. 59 Differenziert bei Fichtenau, Lebensordnungen, 11–110. Bernard S. Bachrach, Early Carolingian Warfare: Prelude to Empire, Philadelphia 2001, Zitat ix, hob die Organisations- und Strategiefähigkeit hervor. 60 Der bereits zum Untergang Roms zitierte Historiker Edward Gibbon fantasierte 1788, dass ohne Karl die Sarazenen bis zur Grenze Polens vorgedrungen wären und in Oxford Koran statt Bibel gelesen würde. 61 „Sachsen“ (engl. seax = Hiebmesser) war Sammelname aus römischer Zeit und Volkskonstrukt aus dem 19. Jahrhundert Sie siedelten von der Nordsee kommend in kleinen Verbänden von Ems bis Elbe. Dies altsächsische Gebiet wurde bei Herrscherwechsel zu Niedersachsen umbenannt, das neue, westslawisch und mitteldialektdeutsch besiedelte Gebiet durch Namensverschiebung (Ober-) Sachsen. Die von Karl zerstörte Verehrungsstätte Irminsul lag im Sauerland. Babette Ludowici (Hg.), Saxones. Eine neue Geschichte der alten Sachsen, Ausstellungsbegleitband, Darmstadt 2019. 58

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Fall der sächsischen Regionen entvölkert, in Bayern mit unfreien Arbeitspflichtigen. Anführer benötigten kostbare Prestigegüter, mit denen sie ihre soziale Position festigten; je größer der Erfolg, desto größer die Attraktivität des Anführers, wie ehedem bei König Attilas Reiternomaden. Eigene Kriegstote bedeuteten eine geringere Zahl königlich zu Versorgender und, familiär, erbberechtigter Söhne; Überleben ermöglichte Karriereoptionen, lokale Eliten arrangierten sich. Die Kosten zahlten Untertanen-Familien in Vorleistung und Unterworfene in Abzahlung. Ein Blick von anderem Standpunkt – eine „Verfremdung“ der Selbstsicht – ermöglicht einen Vergleich mit anderen Pfadentscheidungen. Vom unteren Don bis zur Wolga errichteten chasarische Verbände ihre Herrschaft ohne eigene Kaufleute. Ihre Pax chazarica bot einen befriedeten Transitraum, in dem die (konvertiert-jüdische) Oberschicht Zölle in Höhe von zehn Prozent ad valorem auf alle Güter erhob. Der Handel florierte. Weiter östlich ernährten sich Nomaden von Oasenbewohner*innen wie gallische Magnaten von Unfreien: „Aside from trade in animal products, the nomads had little to offer the oasis-dwellers besides protection, Mafia-style, from attackers other than themselves. […] The oasis states were, to the nomads, like the geese that laid golden eggs: it was in their interest to profit from them and extract their surplus, but not to destroy them or take control of their complex ecosystems.“ Auch Awaren und Magyaren folgten dem Modell. 62 In Karolingia unterlagen Bischöfe dem Heerbann und hatten für jeden königlichen Beutezug Fußknechte und Berittene zu stellen. Krieger und Anführer hatten gelernt, zu töten – auch das ein Aspekt von Sozialisation. 63 Sie mussten für den Weg zum Treffpunkt ausreichend Getreide mitnehmen; für den weiteren Weg zum Kriegsgebiet war zentrale Logistik notwendig; im potenziellen Annexionsgebiet versorgten sie sich durch Raub. Dies galt als Kriegs-Handwerk, die Schwertleite war ge-

wissermaßen die Gesellenprüfung und erlaubte Innungs-Mitgliedschaft. Bann, von magischem Prozedere zu königlichem „Recht“ gewandelt, war für viele freie Familien verheerend, denn sie konnten die Kosten der Rüstung nicht auf- und Ernten nicht einbringen. Missi dominici sollten ihre Bedrückung verringern (802). Als sie sich dem Banndienst zunehmend entzogen, gaben König-Vater und König-Sohn für den Hoftag 811 eine Befragung in Auftrag: Die LandFamilien klagten, sie würden aus ihrem Eigentum vertrieben und durch Bischöfe, Äbte, Vögte und Grafen belastet. Wolle jemand seinen Besitz nicht geben, suchten diese „Gelegenheiten, diesen Armen zu verurteilen und ihn immer wieder gegen den Feind ziehen zu lassen, bis er, verarmt, sein Eigentum wohl oder übel übergibt oder verkauft“. Manche Heerpflichtige wollten nicht verliehen werden, sondern forderten, nur unter ihrem Lehnsherrn ausrücken zu müssen. In Folgejahrhunderten klagten viele über die Lasten für Romzüge und Kontrolltouren von Äbten und Herren zu Meierhöfen und Grundbesitz. „Lordship was not only predatory … but it also consciously saw itself as such“: Herrschende stellten sich in ihren Wappen als Löwe oder Adler dar, Raubtier und Raubvogel. 64 Karls Berater wussten um alltagspraktische und strukturelle Probleme des Systems. Nirgendwo konnte Landwirtschaft den samt Familien etwa 1000 bis 2000 Menschen zählenden Hof dauerhaft ernähren. Ambulant strukturierte Herrschaft – „Reisekönigtum“, circuit riding, itinerant kingship/ kinship – setzte leistungsfähige Großbetriebe im Abstand von Tagereisen voraus. Auch war im postimperialen Raum großräumliche Projektion von Macht nicht mehr möglich, sondern musste vor Ort von Person-zu-Person, „im Angesicht“, dargestellt und durchgesetzt werden. Der „Hof als soziales Gebilde fluktuierte ständig; dieser oder jener blieb hie und da zurück oder trennte sich, um neue Aufgaben im Königsdienst oder in der Kirche zu übernehmen, andere stießen hinzu, aber keiner

Klaus Düwell u. a. (Hg.), Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa, 4 Bde., Göttingen 1985–1987, Kap. „Der Handel der Karolinger- und Wikingerzeit“; Victor Mair (Hg.), Secrets of the Silk Road. An Exhibition of Discoveries from the Xinjiang Uyghur Autonomous Region, China, Santa Ana, CA 2010, Zitat 59–60; Reuter, „Plunder and Tribute“, 77, 88. 63 John Beeler, Warfare in Feudal Europe 730–1200, Ithaca 1971. 64 Epperlein, Bäuerliches Leben, 165–168, nach Capitularia, Bd. 1, Nr. 73; Timothy Reuter, „Debating the ‚Feudal Revolution‘“, in: Reuter, Medieval Polities and Modern Mentalities, Janet L. Nelson (Hg.), Cambridge 2006, 72–88, Zitat 73; Thomas N. Bisson, „Medieval Lordship“, Speculum 70 (1995), 743–759. 62

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schritt auf Dauer den gleichen Kreis aus wie der Herrscher selbst.“ In dieser Hinsicht glich der Hof den Wander-Identifikations-Verbänden. 65 Karl und Berater verordneten in einem Capitulare de villis vel curtis imperii Richtlinien für Landund Gartenwirtschaft sowie Handwerk und Vorsorge und, in einer Admonitio generalis, Verfahrensregeln für die Herren im Interesse der Produktivität und Abgabefähigkeit der Untertanen: „Dass unsere Leute auf den Hofgütern auskömmlich versorgt bleiben und von Niemand in ein Leben in Armut gedrängt werden.“ Die Königshöfe waren ein „komplexes Konstrukt von Haupt- und Nebenhöfen mit Tausenden abhängigen Bauern unterschiedlichster Dienst- und Abgabenverpflichtungen sowie vielfältigen spezialisierten Pertinenzen [Zugehörigkeiten]“. Das Rechtskonstrukt „Dienst“ ließ Weigerung zu Desertion werden. Die Kapitulare regelten unter anderem den Anbau von Krapp für die Blau- und von Scharlach für die Rotfärbung in Textil-produzierenden Frauenwerkstätten; Karl trug scharlachrote Beinkleidung. Parallel zur Expansion der Außengrenze, external frontier, als Region erwarteter, aber noch ungenutzter Möglichkeiten sollte die Nutzung der Unterschichten, internal frontier, intensiviert werden. 66 Die oft als „Bauernschutz“ interpretierten Bestimmungen engten die Rechte ländlicher Menschen ein. Sie verboten ihnen Waffen zu tragen und verpflichteten sie, an Gerichtstagen den Herren Gebühren zu zahlen: Herren-Recht. 67 Die Autoren richteten Ratschläge für gutes Wirtschaften an Herren, die von Zins und Fron lebten, aber nicht immer Managementfähigkeiten und Agrarkenntnisse besaßen. Unausgeglichen blieb die Distribution von Eisen: massive Waffenproduktion, aber keine karolingische Renaissance eiserner ländlicher Arbeitsgeräte. Die „Salzburger Enzyklopädie“ stellte 818 einen hölzernen Hakenpflug dar (Abb. 7.1), Familien ohne eiserne Pflüge mussten Eisen-gekleidete Panzerreiter versorgen.

Capitularien für die häufigen Notzeiten geboten intensiv zu beten und zu fasten, sie verboten die preistreibende Getreideausfuhr und legten Preise fest. 809 mussten Vasallen angehalten werden, ihre Unfreien nicht Hungers sterben zu lassen oder sie wegzuschicken. Jeder Abt, jede Äbtissin hätte vier Notleidende bis zur nächsten Ernte zu ernähren; umherziehende Hungernde dürften sich an neuem Ort niederlassen. Ein Schlaglicht auf die Praxis des Menschenbesitzes warf das Verbot, Verarmte zu versklaven. Regionale Regelungen erklärten durch Hunger erzwungene Notverkäufe für unrechtmäßig (Italien), befreiten Männer von Kriegsdienst (Gallien), erhoben Fürsorgesteuern von Äbten, Äbtissinnen, Grafen und kleineren Herren (779). 68 Wie nahmen die Untertanen diese Regelungen wahr? Was dachten sie, wenn sie Mächtige oder Heere, die gern unbezahlt auf ihr Getreide und Pferdefutter zugriffen, vorbei- und „ins Feld“ ziehen sahen? Wessen Feld? Saßen sie am Mittag am Feldrand und besprachen alltägliche Fragen und Bedrückungen? An ihnen hätte ein großes Heer mit Tross, z. B. 3000 Berittene und 7000 Fußläufige vorbeiziehen können. An der Spitze der Züge hätten sie die reich geschmückte Führung erkannt, vielleicht den König selbst. Schaustellung erforderte Zuschauende. Chronisten überlieferten die Choreografie, nicht jedoch die Einkommen der Regisseure. Empirisch genau zogen jedoch viele kleine Haufen auf eigenen Wegen, denn „Heer“ war die Summe vasallitischer Kleineinheiten, deren Besitzer im Kampf Kostendeckung erreichen mussten. Pferd, Waffen und Körperpanzerung eines Berittenen kosteten so viel wie 18 bis 20 Kühe. Die Betrachter*innen waren unedel, die Pferde edel. Interessierte die ländlichen Menschen deren Zugkraft mehr als die federgeschmückten Helme? Sehen ist selektiv. 69 Karl und seine Kleriker entschieden, Herrschaft durch eine Reorganisation von Religion und Kirche sowie den Zugriff auf Ressourcen kirchlicher Institutionen abzusichern. Da Gläubige Fränkisch,

Zu Karls Aufenthaltsorten siehe David Rollason, Early Medieval Europe 300–1050, London 2012, 106–107, Karte 7; zu den Reisen von Otto I. Goetz, Europa, 131–135; Zitat: Borgolte, Europa, 55. 66 Mitterauer, Europa, Zitat 51. 67 In biblischen Zeiten hatten die Philister den unterworfenen Israeliten das Schmiedehandwerk verboten, damit sie keine Waffen herstellen konnten (1. Samuel 13,19–22). 68 Siegfried Epperlein, Herrschaft und Volk im karolingischen Imperium, Berlin 1969, 69–104; Fritz Curschmann, Hungersnöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts, Leipzig 1900, 70–74. 69 Till Hein, „Bauern, Mönche und Dämonen“, in: Dietmar Pieper und Johannes Saltzwedel (Hg.), Karl der Große, München 2013, 65–79, hier 70; Mitterauer, Europa, 112–113. 65

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Bayerisch, Sächsisch und viele weitere Varianten sprachen, waren Gebete in vulgus, lingua sua, rustica Romana oder thiotisca lingua zu sprechen. Angesichts ungebildeter Kleriker wiesen sie Klöster und Domherren an, Schulen einzurichten und verpflichteten Geistliche, vorbildhaft zu leben. Die „karolingische Kirchenreform“ war Reparatur, remise en ordre (A. Doustaly) und Neuerung. Die Konziliare in Aachen wandelten zwischen 816 und 819 Papst Gregors institutionskirchliche Version 3.0 in die karolingisch-herrschaftliche Version 4.0. Die Metropolitan-Verfassung stärkte die Erzbischöfe und reduzierte bischöfliche Vielfalt. Abt Witiza (Südfrankreich) nahm mit Bezug auf Benedikt (Monte Cassino) den Namen Benedikt an und beendete die Zersplitterung in weltliche und kirchliche Privat- oder Eigenklöster sowie den Luxus des Mönchsadels. Da kopierend-kreative Kleriker über Generationen die Hieronymus-und-Paula Bibel auf 400 Fassungen diversifiziert hatten, vereinheitlichte Alkuin die heiligen, aber flexiblen Schriften erneut. Doch all dies wirkte nur für wenige Jahrzehnte und seit den 860er Jahren nahmen das Schulwesen ab und der Luxuskonsum zu. Weitere Reformen würden von dem „unermesslich reichen Cluny“ 70 (V. Reinhardt) und den Klöstern Gorze und Hirsau ausgehen und am Beginn des 12. Jahrhunderts den Ostalpenraum erreichen. 71 Von den vier neu normierten Bereichen – Organisation, Kult, Eherecht, Frauen-Diskriminierung – ist letzterer meist übersehen worden. Die angelsächsisch-flandrischen Frauengemeinschaften befanden sich aufgrund von regional-spezifisch sozialen, fiskalischen und militärischen Entwicklungen im Niedergang. Das Totengedenken übernahm der Kirchenapparat; Magnaten schalteten verarmte StifterFamilien aus; sanctimoniales wurden entlassen, wenn Geld fehlte, oder durch Mönche verdrängt. „Wikinger“ und „Dänen“ raubten an Britannias und Francias Küsten Gemeinschaften mit wertvollem liturgischem Gerät aus. Die Zerstörung Lin-

disfarnes 793 erschreckte gebildete Kreise lateineuropaweit. Höhere Besteuerung und HeerbannAusweitung trafen kleine Frauengemeinschaften stärker als sicherheitspolitisch wichtige Männerklöster. Schließlich schienen Hochstehenden Gebete für ihr Seelenheil nicht mehr ausreichend, sie kauften komplette Messen, die nur Priester halten durften. 72 Die Aachener Institutio sanctimonialium unterstellte alle religiösen Frauen Bischöfen und verbot ihnen, nach Rom und zu geheiligten Stätten zu pilgern. Sie verbot Äbtissinnen, Männer zu segnen, Jungfrauen zu weihen, das Kloster zu verlassen. Sie verbot Nonnen, Schulen für Knaben zu unterhalten oder männliche Pilger und Verarmte zu beherbergen. Sie wiederholte das Verbot, den Altar zu berühren und beim Abendmahl Wein und Brot auszuhändigen. Frauen durften weiterhin Altartuch und Priesterkleidung sticken. Ein Quadratmeter Stickerei erforderte, bei 1 mm Fadenstärke und 2 bis 3 mm Stichlänge, mehrere Hunderttausend Stiche. Frauen wehrten sich, wie giftige Männer-Kommentare beispielsweise während einer Synode in Paris 829 belegten. Wie teilte der Salzburger EB die Verbote den Erentrudis-Frauen mit? 73 Historiker*innen, die angesichts der Fülle der überlieferten Texte sehr dankbar sind, haben die Leistungen als „karolingische Renaissance“, Wiedergeburt, bezeichnet. Zeitgenossen sprachen von correctio, Korrektur vorhergehender Fehlentwicklungen. Zum Geistesleben trugen visigotisch-christliche Kleriker und irische Mönche bei. Aus dem muslimisch werdenden Iberien und dem ikonoklastischen Ostrom, wo rigoros-orthodoxe Kleriker das biblische, im Islam geteilte Bilderverbot einführten (Exodus 20,1–5), kamen Intellektuelle mit ihren Manuskripten. „Ohne Byzanz kein Europa“, formulierte Judith Herrin. 74 Von correctiones unberührt blieb das Herrschaftsmodell „Familie“. In der Divisio regnorum 806 teilte Karl-Vater nicht „das Reich“, sondern seinen Herrschaftsbereich unter drei Söhne auf. 75 Die

Mönche aus Cluny kolonisierten in Iberien vorhandene Klöster, merzten visigotisch-christliche Glaubensformen und -praxen aus und setzten römische Liturgie und Kirchenfeste durch. Auch innerkirchlich war „reconquista“ Kolonisierung. 71 Riché, Daily Life, 9–11, 191–202. 72 Jan Gerchow u. a., „Early Monasteries and Foundations (500–1200). An Introduction“, in: Jeffrey F. Hamburger und Susan Marti (Hg.), Crown and Veil. Female Monasticism from the Fifth to the Fifteenth Centuries, übers. von Dietlinde Hamburger, New York 2008 (dt. 2005), 13–40. 73 Karl J. Leyser, Rule and Conflict in an Early Medieval Society: Ottonian Saxony, London 1979 (dt. 1984); Sarah Foot, Veiled Women: The Disappearance of Nuns from Anglo-Saxon England, 2 Bde., Aldershot 2000, 1:66–71. 74 Judith Herrin, Margins and Metropolis. Authority across the Byzantine Empire, Princeton 2013, 232. 75 Goetz, Europa, 118–169, bes. 119–122, 249–266; Riché, Daily Life, 203–205. Die Ordinatio imperii, 817, legte die Nachfolge des ältesten Sohnes fest. 70

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Enkel bekriegten sich um ihren jeweiligen Anteil an den insgesamt etwa acht Millionen wertschaffenden Männern, Frauen und Kindern. In der Drei-Brüder-Schlacht bei Fontenoy kamen 841 Tausende um, ein Chronist nannte diesen Brüderkrieg – vor dem 19. Jahrhundert kein Bürgerkrieg – ein „Verbrechen“. In dem verfallenden Vielvölker-regnum endete die Notstands- ebenso wie die Bildungspolitik. Im Westen starb der letzte Karolinger-König

987 bei einem Reitunfall, sein mächtigster Vasall und Nachfolger, Hugo Capet, strebte einen dynastischen Zentralstaat, später „Frankreich“ genannt, an. Im alemannischen (Allemagne), deutschen (theodisca) oder teutonischen (theutunici) Osten starb Ludwig „das Kind“ 911 im Alter von 18 Jahren und konkurrierende Adlige teilten die Herrschaft in viele kleinere regna. 76

6.4 Weltliche und kirchliche Herrschaft im Ostalpenraum, 7. bis 10. Jahrhundert Die Herrscher-Familien in Thüringen, Bayern, Alemannien, Aquitanien und Provence hatten die Phase des Übergangs von Merowinger- zu KarolingerFamilie genutzt, um selbstständig zu agieren. 77 Die Agilolfing-Familie blickte besorgt von Regens- und Salz-Burg nach Westen und auf Karls Südexpansion, denn sie war mit der langobardischen Herrscher-Familie verschwägert. Im Osten hatten Awaren-Herrscher Slawisch Sprechenden Tribute aufgezwungen und, um kostenträchtige Konflikte zu verringern oder Zeit zu gewinnen, hatten karolingische Gesandte mit ihnen 692 die Enns als Grenze vereinbart. Widerständige Ansässige, vordringende „Onoguren“ (später „Bulgaren“) und, vor Konstantinopel, oströmische Verteidiger übermannten die untereinander zerstrittenen Awaren-Herrscher. Friedliche Teilverbände, geschlagene Krieger und hinzukommende „späte“ Awaren wandten sich Viehzucht und Ackerbau zu; in slawischen HB lebten Menschen germanischer und onogurischer Dialekte, die sich von ihren Wandergenossenschaften getrennt hatten, und aus Konstantinopel zogen Jüdisch-Gläubige in die Region. Herrscher und ihre Berater dachten strategisch über Macht-Absicherung und Einkünfte. Die Familie Agilolfing, argwöhnisch gegenüber dem fränkisch beeinflussten Bistum Salzburg, umgab es mit einem Ring ökonomisch- und grenzräumlich-strategischer Klöster: Mondsee (748), Mattsee (765),

Kremsmünster (777) und, besorgt um die Alpenrouten, Innichen (769). Letzteres weihten sie taktisch klug, aber – wie sich zeigen würde – machtpolitisch vergeblich, dem fränkischen St. Denis. Die Mönche sollten das von slawisch- und bayerischkulturellen Siedler-Familien erschlossene Pustertal kontrollieren: Es war erzreich, Quellgebiet der Drau und Station am Weg zum Bischofssitz Säben – noch Teil des Patriarchats Aquileia – am Alpensüdhang. 78 Als sowohl die Agilolfing- wie die NachbarHerrscher in Karantanien glaubten, erneut von awarischen Trupps bedroht zu werden, ersuchte Boruth I. (h. ~740–~750) Tassilo III. (h. 749/757– 788) um Hilfe. Er war sich nicht bewusst, dass der Christ ihn als Heiden einordnete und dass „Christianisierung“ Annexion erlaubte. Herzog (Hz) Tassilo lud oder entführte Boruths Sohn Cacatius (Gorazd) und Neffen Cheitmar (Hotimir) als Geiseln an seinen Hof. Beide entschieden sich, aus Überzeugung oder aus Nützlichkeitserwägungen, für die Taufe. Nach der Rückkehr machten sie ihre slawischen und christlich-romanischen Untertanen zum Teil der Lateinkirche, Widerstand dagegen schlug Tassilo als „heidnische Aufstände“ nieder (769–772): Mission sollte die politische Machtübernahme vorbereiten. 79 Doch waren nicht Awaren oder Slawen die Bedrohung für Tassilo, sondern der Franken-Herrscher Karl. Er installierte 785 Arn (= Adler), aus

Heinz Thomas, „Sprache und Nation: Zur Geschichte des Wortes deutsch vom Ende des 11. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts“, in: Andreas Gardt (Hg.), Nation und Sprache: Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2000, 47–101. 77 Karl F. Hermann, Heinz Dopsch und Johann Paarhammer, „Die Salzburger Kirche“, in: Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs: Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.2:983–1070; Hägermann, Karl, 55; Störmer, Adelsgruppen, 59, 71, 89. 78 Das agilolfingische Klosterprojekt nördlich der Donau, Eichstätt (740), sicherte verkehrs- und kommunikationsstrategisch den Altmühl-Übergang der Straße zum Sitz Regensburg. 79 Bulgaren zogen bis nach Bayern. Peter Štih, Vasko Simoniti und Peter Vodopivec, Slowenische Geschichte: Gesellschaft, Politik, Kultur, Graz 2008, 27–38; László Kontler, A History of Hungary. Millennium in Central Europe, New York 2003, 37–66. 76

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Weltliche und kirchliche Herrschaft im Ostalpenraum, 7. bis 10. Jahrhundert

adlig-bayerischer Familie, als Bischof und Abt von St. Peter und seine Boten kontaktierten ansässige Magnaten-Familien, homines potestativi und feminae illustres, die nicht „genuin bayerischer Adel“, sondern Teil weitreichender Netzwerke waren. Als er mit seinem Heer 788 den HB Bayern annektierte, blieben sie „in ihrer Position weitgehend unangefochten“. Gegen Hz Tassilo hatten Kanzlisten in die Familien-Annales vorausschauend einen Bruch der Vasallen-Treue eingeflickt. So konnte dieser zum Tode verurteilt und anschließend zu lebenslanger Klosterhaft „begnadigt“ werden. 80 Bayerns formale Inkorporation 794 verlief ohne Gewalt und Zwangstaufen. Die Magnaten und Karls neue Grafen mobilisierten die wirtschaftlichen Ressourcen der Untertanen: Erstere besaßen und letztere akquirierten Land-mit-Menschen. 81 Im Wissen, dass der König gewinnbringende freigewordene Bistümer einzog, ließ Arn zügig ein Besitzverzeichnis, die Notitia Arnonis, anfertigen: Hunderte von Immobilien und 67 „Eigen-“, das heißt abhängige Kirchen. Karl bestätigte die Liste und damit Arns Herrschaft über die dort Lebenden. 82 Der König wies 798 den Papst an, in Bayern die Metropolitan-Verfassung einzuführen und Leo III., dessen Lebenswandel Arn entsetzt hatte, 83 erhob ihn zum Erzbischof (griech. arche, ober). EB Arn ließ sich das Bistum Säben (ab 960 Brixen) übergeben und dehnte seinen Einfluss bis nach Bozen aus. 84 Er verfügte über bedeutenden Besitz-mitMenschen im Salzburg- und Chiemgau, links des

Inn und im Innviertel sowie verstreut bis nach Augsburg (Erzbistum Mainz), Regensburg und Linz sowie im Süden bis zur Maximilianzelle (Bischofshofen), Bisontio (Zell am See) und Saalfelden. Er ließ 798 alles noch einmal umfassender in der Breves Notitiae aufzeichnen. König Karl blieb vorsichtig und übertrug das Männerkloster Chiemsee samt Besitzungen dem weit entfernten, aber Aachen nahen Bistum Metz (Lothringen). Das Frauenkloster Chiemsee, vom Herzogspaar vermutlich 782 gegründet, wurde königliche Abtei. Manche der Mönchsgemeinschaften dachten strategisch-makroregional; die Mattseer zum Beispiel hatten sich als Gründungsgenealogie eine Zuwanderung von Mönchen aus Monte Cassino überlegt. 85 EB Arn war klug und mit griechischen Werken aus Alexandria und Antiochia vertraut. Er war erfahren, selten in seiner Residenz, aber vielfach im Sattel: Königsbote, Awaren-Kriege, Synoden, Diplomatie, St. Armand (wo er bis 808 Abt blieb), oft in Aachen und Rom. Scholaren von weit her besuchten ihn und er lud einen Arzt jüdisch-slawischer Kultur ein. In Lobgesängen (carminae) anlässlich des Salzburg-Besuches des Kaisers Karl samt Entourage und einem Gesandten aus Jerusalem nannte Alkuin 803 nicht weniger als zwölf Kirchen und Kapellen in der Stadt. 86 Was nahmen die Ansässigen wahr? Den Heerzug Karls? Die Abgabenpflicht, eben noch an den Herzog, dann an fremde Grafen? Karl hatte Pläne: Um die Flusssysteme RheinMain und Donau-Inn-Salzach zu verbinden, gab er

Die Spannungen hatten auch familiäre Hintergründe. Hz Odilo (gest. 748), aus Bayern vertrieben, hatte Schutz bei Karls Großvater erhalten. Odilo und Hiltrud (gest. 754), Tochter von Karl M. und Chrotrud, begannen ein intimes Verhältnis. Als Odilo zurückkehren konnte, ermöglichte Karls zweite Frau Swanahild der schwangeren Hiltrud, ihm nachzureisen. Sie heirateten und im gleichen Jahr wurde Tassilo geboren. 81 Herwig Wolfram, Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung 378–907, Wien 1987, 98; Roman Deutinger, „Das Zeitalter der Agilolfinger“, in: Alois Schmid (Hg.), Das alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter, München 2017, 124–212, hier 162–169; Stephan Freund, Von den Agilolfingern zu den Karolingern: Bayerns Bischöfe zwischen Kirchenorganisation, Reichsintegration und Karolingischer Reform (700– 847), München 2004, 141–407, Zitat 407; Maximilian Diesenberger, Predigt und Politik im frühmittelalterlichen Bayern. Karl der Große, Arn von Salzburg und die Salzburger Sermones-Sammlung, Berlin 2016; Ian Forrest, Trustworthy Men: How Inequality and Faith Made the Medieval Church, Princeton 2018. 82 Das Dokument könnte eine Auftragsarbeit als Grundlage für Karls Steuerforderungen gewesen sein. Es diente auch der Klärung von mündlich und manchmal mehrfach vergebenen Benefizien. Wilhelm Störmer, Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert, Stuttgart 1973, 17. 83 Arns Brief über Leos Leben verbrannte Alkuin. 84 Störmer, Adelsgruppen, 162–163; Werner Rösener, „Household and Prayer. Medieval Convents as Economic Entities“, in: Hamburger und Marti, Crown and Veil, 245–258; Christoph P. Sonnlechner, „Die Etablierung Salzburgs als Netzknoten: Karolingische Kirchenstruktur, Raumstrategien und Organisation der Landnutzung um 800“, in: Caspar Ehlers (Hg.), Places of Power – Orte der Herrschaft – Lieux de Pouvoir, Göttingen 2007, 199–226. 85 Da König Karl ein Brevium exampla hatte erstellen lassen, mag er die zweite Fassung angefordert haben. König Arnulf gab das Frauenkloster an das Erzstift zurück und entschädigte den Bischof von Metz mit der einst irischen Gründung Luxeuil (Bourgogne). Mondsee samt Mönchen und Unfreien kaufte erst 1506 ein EB von einem finanzbedürftigen Kaiser. 86 Herwig Wolfram, „Arn von Salzburg“, in: Peter F. Kramml und Alfred S. Weiß (Hg.), Lebensbilder Salzburger Erzbischöfe aus zwölf Jahrhunderten = Salzburg Archiv 24 (1998), 9–22; Alkuin sandte Arn ein homoerotisches Gedicht: Lynda L. Coon, Dark Age Bodies: Gender and Monastic Practice in the Early Medieval West, Philadelphia 2011, 17–18. 80

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.6 Die südöstlichen Herrschaftsbereiche vor und nach 976

einen Kanal in Auftrag, doch fehlten die Fachkenntnisse, der Bau musste abgebrochen werden. Reisen oder Heerzüge über Flüsse erforderten Handwerker, die schnell Schiffe in großer Zahl bauen konnten – allein für den Herrscher eine kleine Flotte: Leibschiff (spätere Bezeichnung), Tafel- und Küchenschiff, Schiffe für die Begleiter von Rang, für Bagage und Pferde sowie für Domestiken. 87 Karl gab in Zu-Fall Sohn Pippin die raetischen, norischen und pannonischen Menschen, doch dessen Plan, sie mit Langobardia zu einer Präfektur Italien zu verbinden, zer-fiel. Innerfamiliäre HerrscherPlanung war nie intelligent design. In Karls östlicher

Enkelgeneration wurde Ludwig Rex Germaniae (im 18. Jh. ethnisiert als „der Deutsche“), dessen Sohn Karlmann Herrscher über Bayern, Italien und Ostfranken (bis 880). Sein Enkel Arnulf aus Kärnten erschien zur Königswahl mit als „Bayern“ und „Slawen“ bezeichneten, bewaffneten Gefolgschaften und wurde gewählt; Kaiser wurde er nach Besetzung Roms 896. Ihm folgte 899 sein und Otas sechsjähriger Sohn Ludwig („das Kind“) bis 911. In den drei Jahrzehnten zwischen 881 und 911 mussten die Untertanen bei jeder Neuzusammensetzung der Konglomerat-Teile Abfindungen für Abgehalfterte und Anlaiten für Neuinstallierte zahlen. 88

Zum Vergleich: In dieser Zeit bauten Fachleute in Konstantinopel mehr als 300 km Aquädukte und Leitungen, andere in Bagdad eine vier Quadratkilometer umfassende Rundstadt, solche in China 150 km Kanal. Johannes Preiser-Kapeller, Jenseits von Rom und Karl dem Großen. Aspekte der globalen Verflechtung in der langen Spätantike, 300–800 n. Chr., Wien 2018, 8–10. 88 Arnulf war vermutlich Sohn von Karlmann und der vielleicht karantanischen Luitswind. Für die zahllosen Wechsel, Sohn-Vater-Konflikte, Erbstreitigkeiten: Deutinger und Dendorfer, „Karolinger“ sowie „Liutpoldinger zu Welfen“, in: Schmid, Das alte Bayern, 213–416, hier 213–217, 261–416. 87

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West-/ Lateineuropa in der tri-kontinentalen Welt

6.5 West-/Lateineuropa in der tri-kontinentalen Welt Traditionelle karolingisch-räumliche Darstellungen sind wenig aussagekräftig, denn die regna waren Teil des human web der trikontinentalen Makroregionen, aus denen nach 1450/1526 eine „dünne“ Globalisierung hervorgehen würde. 89 Muslimische und skandinavische Herrscher-Familien dehnten ihre Machtbereiche aus, arabische Expansion und oströmische Kontraktion veränderten mittelmeerische Austauschprotokolle kaum. 90 Nördlich der Alpen verringerten die Mächtigen den marktwirtschaftlichen Austausch und Kaufleute mussten an den Rändern der Macht kommunizieren; die Kaufkraft für Luxuswaren sank angesichts der Kriegskosten der Kerle-Familie und der jährliche Heerbann verringerte die Kaufkraft Freier. Die Kriege ließen Fernhandelsrouten unsicher werden, steigerten jedoch die Menge des Zahlungsmittels Sklav*innen. Deren südliche Verkaufsroute, oft von der Residenzstadt Regensburg aus, verlief durch die Täler von Enns bis Inn und über die Pässe nach Venedig. Kaufleute dieser soeben gegründeten Stadt profitierten und Karls Annexion des lombardischen regnum ermöglichten Zahlungskräftigen Zugang zu Orientwaren. Nördlich der Alpen zwangen die Polit-Klerikalen selbst disponierende Kauf-Familien in ein Regime administrierten Handels im Rahmen von Erz- und Salz-Regalen sowie als Agenten Plündergut-reicher Krieger. Sie sandten untere Kleriker als Direkteinkäufer zu MittelmeerHäfen, um zum Beispiel granatverzierte (liturgische) Objekte und golddurchwirkte Stoffe zu erwerben. König Ludwig stellte 828 seine Hofkaufleute unter Schutz und der Passauer Bischof erklärte seine Lieferanten zu negotiatores sancti. Grabbeigaben taufchristlicher Oberschichten im Donauraum umfassten ostrogotische, alemannische, thüringische und langobardische Produkte und aus weiterer Ent-

fernung Amethyst- und Millefioriperlen, Elfenbeinringe, Kaurischnecken, Muschelscheibchen. Beigaben waren vorchristlicher Brauch, aber christliche Bräuche waren weder allgemeine noch einzige Praxis, nur die alt-christlichen Romanen beerdigten beigabenlos. 91 Erst als seit dem 9. Jahrhundert Handwerker- und Handels-Familien – zum Teil mit teuer erkauften Herrscher-Privilegien – Städte entwickelten, wuchs der Handel und in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts sah ein Gesandter des Kalifen aus Córdoba in Mainz auf dem Markt Gewürze aus Südostasien, arabische Silber-dirhams und Münzen aus Samarkand. 92 Da das Geldwesen unzulänglich geworden war, die konstantinische Goldwährung nur noch Rechengröße und Münzen uneinheitlich, entschieden sich die Ökonomen Karls d. G. angesichts großer Silbervorkommen im Harz, in Böhmen und in Melle (Poitou) für eine einheitliche Silberwährung. Münzer prägten aus einem Gewichtspfund 240 (sehr dünne) Pfennige oder Denare; ein Pfund Pfennige bestand aus zwanzig Schillingen zu zwölf Pfennigen; vier Pfennige bildeten einen Kreuzer. In den oströmischen und arabischen HB blieb Gold Währung und die Kontaktregion erstreckte sich von Konstantinopel über Anatolien und Palmyra sowie von Alexandria und Shiraz durch das iranische Hochland nach Buchara, Samarkand und Kashgar. Karawanenkaufleute aus Zentralasien und China erreichten die Städte der Levante, See-Kaufleute aus Indien und Südostasien persische und ägyptische Häfen. Etwa zeitgleich zu Mero-Karolingia gründeten die Familie der Umayyaden (41 Anno Hegirae, 661 Anno Domini) 93 und, nachfolgend, die der Abbasiden aus Chorasan (132 AH, 750 AD) ihre Herrschaft. 94 Mohammeds Nachkommen expandierten wie die Karl-Familie und Ge-

William McNeill und John McNeill, The Human Web: A Bird’s Eye View of World History, New York 2003; Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt: Eine Globalgeschichte 1780–1914, übers. von Thomas Bertram und Martin Klaus, Frankfurt/M. 2008 (engl. 2004). 90 Fowden, Empire (1993); Wickham, Framing (2005); Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton, rev. 2007. Vgl. auch Jack Goody, The Theft of History, Cambridge 2006. 91 Zu Verteilungsmustern Jörg Drauschke, Zwischen Handel und Geschenk. Studien zur Distribution von Objekten aus dem Orient, aus Byzanz und aus Mitteleuropa im östlichen Merowingerreich, Rahden/Westfalen 2011, 46–47 passim, 266. 92 Frankopan, Silk Roads, 116–123; Franz Irsigler, „From Captive Manorial Trade to Free Urban Trade. On the Development of the Division of Labour in the Rhineland-Westphalia Region (9th–15th Centuries)“, in: Bruno Blondé, Eric Vanhaute und Michèle Galand (Hg.), Labour and Labour Markets between Town and Countryside (Middle Ages–19th Century), Turnhout 2001, 42–52. 93 Die islamische Mondjahr-Zeitrechnung beginnt mit der Emigration Mohammeds nach Medina. 94 Chorasan war die Ursprungsregion der zoroastrischen Religion; islamische Gelehrte wie Avicenna/Ibn Sina sprachen Persisch; Administratoren und Soldaten entstammten vielen Kulturen. Persianate culture war übergreifend wie die hellenische. 89

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.7 Wer bedroht wen? Pfeilschnell aus Norden, Osten, Süden – oder Ziel-genaue Pfeile für ein Geschichtsbild?

sandte des Kalifen al-Mansur verhandelten 768 mit Pippin. Die vielkulturellen muslimischen Expansionsheere, die weder ländliche Bevölkerungen vernichteten noch deren Alltagsleben veränderten, eroberten das nordafrikanische Küstenland und setzten 711 auf die iberische Halbinsel über. Die syrischen und arabischen Zuwander*innen entwickelten AlAndalus zu einer tri-religiösen und europaweit intellektuell, kunsthandwerklich und landwirtschaftlich führenden Kultur. Razzien – sarazenische nach Gallien und fränkische nach Andalusien – endeten 732 bzw. 778 mit Niederlagen. 95 Arabische Krieger ohne Aufgabe ließen sich in Südfrankreich nieder. Im Rhône-Tal handelten „Juden“ und – je nach christlicher Variante – „Syrer“ und „Griechen“. Im Osten sperrten vordringende bulgarische Herrscher und Heere die via Egnatia zwischen Konstantinopel und Adria (7. Jh.). Awaren-Herrscher ließen laut

Behauptung lateinchristlicher Chronisten den Transithandel nicht zu, doch nutzten viele Transitreisende die Infrastruktur unbehelligt. Aus südmittelmeerischer Sicht schienen Austauschbeziehungen im Raum des nördlichen Mittelmeers, der „Ostsee“ und der offenen, rauhen Nordsee, gering. „Wikinger“ genannte Verbände drangen zerstörerisch über Elbe, Rhein, Loire und Themse ein und unfreie ländliche Menschen flohen in einem Ausmaß, dass den Grundherren Arbeitskräfte fehlten. König Karl d. K. (der Kahle) bot ihnen keinen Schutz, sondern ordnete in den 860er Jahren nur an, dass sie in den arbeitsintensiven Zeiten auf dem Land zu sein hätten. Verbunden mit dem bereits von Karolingia annektierten friesischen Dorestad betrieben Wikinger Handelsemporien mit Haithabu (Jütland) und Birka (Südschweden) als bekannteste Zentralorte, die auch fränkische und arabische Handelspartner ansteuerten. Haithabus

Die fränkische Niederlage bei Roncesvalles verwandelten erst im späten 11. Jahrhundert die Dichter des „Rolandliedes“ in Heldentum und vermarkteten sie literarisch. De facto hatte Karl seine unbezahlten Soldaten die christliche baskische Stadt Pamplona plündern lassen und die erbitterten Städter vernichteten seine Nachhut.

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West-/ Lateineuropa in der tri-kontinentalen Welt

Abb. 6.8 Wer hält Kontakt mit wem? Imperiale Formationen um 800 jenseits von Rom und Aachen

Bewohner*innen importierten Lofoten-Fisch von nordnorwegischen Fischern wie einst iuvavische Römer*innen Mittelmeer-Fisch. „Normannen“ genannte, anders strukturierte Verbände erreichten im 10. Jahrhundert die nach ihnen benannte „Normandie“ und die angelsächsisch besiedelten Inseln. Sie verbanden sich mit einheimischen Frauen, deren Netzwerke und Sprachkenntnisse es ihnen ermöglichten, Herrschaft nicht als Fremdherrschaft zu organisieren. Über die Ostsee handelten „Gotländer“ Richtung Neustadt, russ. Nowgorod, und später unterwarfen „Waräger“ Slawisch Sprechende entlang Dnepr und Wolga. Sie handelten über die Itil (türk. für Wolga) am Kaspischen Meer mit persischen und arabischen Fernkaufleuten. Ihre von Norden via Gibraltar segelnden Vettern eroberten ab 1061 das arabisch-muslimische Sizilien. Salzburgs Kleriker nahmen Normannen aus Konstantinopel in ihre Legenden auf (s. Kap. 9.2). Der griechisch-oströmische Macht- und Wirtschaftsbereich, dessen Getreideversorgung aus Ägypten nach der Machtübernahme durch persische (619) und islamisch-arabische (642) Heere

endete, war dem lateinischen in materieller Kultur und Wissenschaft weit überlegen. Beide Seiten, uneinig über Liturgie und Glaubenssätze, waren sich einig in der Ablehnung muslimischen Glaubens. Sie dachten Heiratsprojekte an und verwarfen sie wieder. Über Palermo und Konstantinopel kauften Lateineuropas Magnaten Seiden, gefertigt von Spezialist*innen in China, 96 zeigten jedoch an den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen unter den T’ang und Song, 618–1279, kein Interesse: Die Kaiser hatten Macht und Landbesitz der großen Familien beendet und stützten sich auf ein qualifiziertes meritokratisches Verwaltungspersonal. Ländliche Familien bearbeiteten und vererbten, kauften und verkauften ihr Land und ermöglichten als dynamische Migrant*innen das schnelle Wachstum urbaner Zentren. Der Kaiser zelebrierte die unlösliche Verbindung von Staat-Dynastie und Agri-Kultur: In jedem Frühling begab er sich zum Altar der Feldarbeit im Tempel des Himmels und zog rituell die erste Furche. Die Hauptstädte Kaifeng und Hangzhou wuchsen auf jeweils knapp eine Million Einwohner*innen, unter ihnen nestorianische Chris-

Die Raupe Bombyx mori in Nordchina produzierte besonders kräftige Fäden und schon vor 2000 v. u. Z. konnten Spinner*innen die Kokons aufdrehen und die Fäden verzwirnen. Elizabeth J. Wayland Barber, „Early Textiles“, in: Mair, Secrets of the Silk Road, 70–78, bes. 77.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.9 Vergleichende Perspektive: Islamische, orthodox- und lateinchristliche Herrschaftsbereiche um 800

ten. 97 Fachleute trugen das Wissen um die Seidenherstellung nach Konstantinopel und Siziliens König Roger II. (1095–1154) siedelte – unter Zwang – Seidenweber*innen nach Palermo um. Christliche und islamische Eliten hielten diplomatischen Kontakt, eine Gesandtschaft des Kalifen Harun-ar-Raschid (Hārūn ar-Rašīd) erreichte im Jahr 802 Aachen, eine des Kaisers Karl 806 Bagdad. 98 Über die ungeheuer reichen Geschenke des Kalifen staunten – wie intendiert – klerikale und weltliche Magnaten. In moderner, ethnisierender Sprachweise übergaben ein „Perser“ aus Bagdad, ein „Afrikaner“ aus Tunis, ein „Jude“ und umfangreiches Begleitpersonal einen Elefanten – angesichts seiner Größe und Sichtbarkeit ein Prestigegewinn

für Karl. Ein Löwe und ein Bär sollten die räumliche Ausdehnung der Macht des Kalifen demonstrieren. Luxuszelt, Seidenstoffe, Kandelaber, wohlriechende Salben und Balsame bezeugten die islamische Handwerkskunst und eine kunstvoll gearbeitete Wasseruhr zeigte die „Himmelmechanik“ umfassender und die Stunden anmutiger als im Westen bekannte Chronometer. Verhandlungsziel der karolingischen Seite war, Christen in Jerusalem Unterstützung zukommen zu lassen. Da es meist zwei Lesarten eines Übereinkommens gibt, mag die andere Seite dies als Tribut interpretiert haben. Karls Propagandisten verkündeten, dass der Kalif Jerusalem dem Kaiser unterstellt hätte. 99

China-Spezialist*innen verweisen seit langem auf die Notwendigkeit, Herrschaftssysteme vergleichend zu erforschen. Morris Rossabi (Hg.), China among Equals: The Middle Kingdom and Its Neighbors, 10th–14th Centuries, Berkeley 1983; Dieter Kuhn, Die Song-Dynastie (960 bis 1279). Eine neue Gesellschaft im Spiegel ihrer Kultur, Weinheim 1987. Um Europa zu verstehen, wären ebenso Vergleiche mit den indischen Welten notwendig. Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Dietmar Rothermund (Hg.), Der Indische Ozean: Das afro-asiatische Mittelmeer als Kultur- und Wirtschaftsraum, Wien 2004; und Sheldon Pollock, Language of Gods in the World of Men: Sanskrit, Culture and Power in Premodern India, Berkeley 2006. 98 Zu ergänzen ist, dass der Kalif durch den Kontakt zum Kaiser im Westen seinen Gegner, den Kaiser im Osten, ärgern konnte. Die Zusammenfassung folgt Hägermann, Karl, 460 passim. 99 David Abulafia (Hg.), The Mediterranean in History, London 2003, bes. Michel Balard, „A Christian Mediterranean: 1000–1500“, 183–217; Michael Cook, „The Centrality of Islamic Civilization“, in: Kedar und Wiesner-Hanks, Expanding Webs, 385–414. Der belgische Historiker Henri Pirenne interpretierte das Vordringen fälschlich als Ende des Mittelmeerhandels (Mahomet et Charlemagne, 1922, erweitert 1937); der algerisch-französische Historiker Maurice Lombard sah eine islamische Blütezeit und Kontakte zu „westlichen Barbaren“, L’Islam dans sa première grandeur, VIIIe–XIe siècle, Paris 1980 (dt. 1992). 97

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Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen?

Abb. 6.10 Vergleichende Perspektive: Islamische Herrscher-Familien, 7. bis 16. Jh.

6.6 Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen? Herrschaft, meist als Besitz von Territorien definiert, zielte auf handelnde Menschen in Wirtschaftsräumen und strategische Routenplaner konzipierten Karls Übergang von fragmentierter zu großflächig-durchdachter Herrschaft. Statt extern

aus kolonialisierten Provinzen wie die RR-Eliten, finanzierten sich die Nachfolgeeliten aus interner Kolonisation. Den Unfrei-Gemachten war, wie Kolonisierten überall, eine eigene Geschichte nicht erlaubt – auch dies Strategie. Die Territorien-Begriff177

Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

lichkeit beseitigt die sozial-hierarchische Dualität aus dem Denken: Konnotativ setzt „Bayern“ Territorium und Menschen als eine Einheit statt als geschichtete Recht-habende Herrscher und Rechtlose Unter-worfene. Sprache kann Herrschaftsinstrument und Denkhindernis sein. Wirtschaftlich beruhte das Kartellregime auf Austauschhierarchien „negativer Reziprozität“: „Feudal“ wie „kolonial“ bedeutete „the extraction of surplus labor through ground rent by a class of landlords from a dependent peasantry“. 100 Abgaben ohne Gegenleistung sind nicht Steuer, sondern Raub. „Machtgefälle ermöglichten es der Zentrale, die Mehrheit der Tauschobjekte für sich zu bewahren“ und als Gunsterweis an ausgewählte Personen weiterzugeben. 101 Da die Zahlungspflichtigen keinen Anreiz zu höherer Leistung hatten, mag diese Renten-Wirtschaft Stagnation bewirkt haben. Die Magnaten und ihre Intellektuellen platzierten die Unter-worfenen außerhalb des Herren-Rechtes. So wurden ihnen Rechte nicht genommen, denn sie hatten keine. Herrschaftsgründung durch Fronzwang, Versklavungen und Plünderungen lässt sich als organisierte Kriminalität fassen (C. Tilly). Politiktheoretisch sollte legitime Gewalt (force), finanziert durch Schutzgeld, illegitime (violence) verhindern und somit das stabile Funktionieren einer Gesellschaft ermöglichen. Für die Unterworfenen stand die Kosten-Nutzen-Relation im Raum: Sind die Schutzleistungen den Preis wert? Die Kosten waren hoch und Leistungen gering, die Kerle-Herrscher boten während ihrer Thronkämpfe kaum Schutz, lokale Magnaten eigneten sich den Einzug des Schutzgeldes an. Die Verfasser des Schwabenspiegels notierten, „Wir sullen den Hern darumb dienen, das sie uns schirmen“, und fügten hinzu: „An als sie die Lant nit schirment, so sint sie nicht Diensts schuldig.“ Widerstand war Recht-mäßig. 102 Das Interpretationsraster „Feudalismus“, dessen vage Begriffe Personenverband, Vassallentreue, Feu-

dalstaat die englische Historikerin Susan Reynolds kritisierte, nimmt dies nicht auf. „Lehen“ (feodum) verdinglichte die Beziehung von Macht-Habern über Lehens-Nehmer zu Mehrwert produzierenden Hörigen. „Verband“ bedeutete Einigung auf Zeit durch Schwur gegenüber einem Anführer; „Staat“ hätte Struktur, Stabilität und Dauer erfordert: Gewaltmonopol, fest umgrenztes Territorium, einheitlich durchgreifende Verwaltung. 103 Das normative Postulat „Treue“ ist, abgesehen von der Zeremonie des „Handgangs“, bei der ein kniender Vasall seine Hand in die des stehenden Herren legte, empirisch schwer zu belegen. Vasallen wurden bezahlt und beide Seiten, in erster Linie dem Wohlergehen (Dynamik) ihrer Familie verpflichtet, verfolgten jeweils eigene Ziele. Herrschaft umfasste Familienbesitz (statisch), war jedoch Familienbetrieb (dynamisch) bei gleichzeitigen intra- oder interfamiliären Konkurrenzen sowie Erbteilungen. Die Bezeichnung prachtvoller Sitze von Herrschern als Hof – nach den karolingischen Domänen – und, im nächsten Schritt, als Hof-Staat zeigte die extreme Verformung des Begriffes „Staat“. Als weiteres Kriterium für „Staatlichkeit“ gilt Innen- und Außenwahrnehmung als politisches, nicht familiäres Gebilde (polity). Doch beruhten die HB mit vielen Identifikationsgruppen (nicht: „Völkern“) und vielfach verschobenen Grenzen auf temporären Loyalitäten und oft unübersichtlichen Aushandlungsprozessen. 104 Die temporären – und oft chaotischen – Regimes stellten Herrschaftsideologen vor Probleme. Sie schrieben besonders im 11./12. Jahrhundert die Macht des Landbesitzerkartells als unabänderliche Ordnung, ordo, fest. Ihr Ideologem postulierte ein gottgewolltes Regime dreier Stände: oratores, bellatores, laboratores. Analytisch passender wäre die Zweiteilung von Macht-Habern mit Bewaffneten und Ideologen vs. Unterworfene. Oder, in anderer Perspektive, eine Schicht mit und eine ohne Geschichte: Ahnenkult, in Europa Genealogie genannt, verankerte Macht. Die Ideologen konnten

Mann, Social Power, Zitat 1:375; Eric R. Wolf, Europe and the People without History, Berkeley 1982. Berta Stjernquist, „Methodische Überlegungen zum Nachweis von Handel aufgrund archäologischer Quellen“, in: Düwell u. a., Handel und Verkehr, 1:56–83, Zitate 61, 64 (abgewandelt D. H.); Hildegard Adam, Das Zollwesen im fränkischen Reich und das spätkarolingische Wirtschaftsleben, Stuttgart 1996. 102 Zitiert in Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 133. 103 Seit „Staat“ nicht mehr automatisch gesetzt wird, hat sich eine weite Debatte von Max Weber über Charles Tilly und Anthony Giddens zu James C. Scott und vielen anderen entwickelt. 104 Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart 2000; Walter Pohl, „Staat und Herrschaft im Frühmittelalter: Überlegungen zum Forschungsstand“, in: Stuart Airlie, Walter Pohl und Helmut Reimitz (Hg.), Staat im frühen Mittelalter, Wien 2006, 9–38. 100 101

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Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen?

die labilen Familien-Verhältnisse nicht fassen: Bellatores, deren Frauen im Konstrukt fehlten, hatten erbberechtigte Kinder, sie selbst individuelle und familiäre Interessen. Dies machte ordo un-ordentlich. Ein Marktmodell, begrenztes Angebot von Territorien-mit-Menschen und große Nachfrage, hätte einen Fragilitätsfaktor berechnen können. 105 Der Slogan „ora et labora“ schuf ebenfalls nicht Zusammenhang, denn den bella/ora-tores galt Arbeit als unwürdig und sie erwarben und verschenkten die Arbeitenden wie Waren. Eine Gesellschaft gab es nicht. 106 Die Widersprüche der Dekrete der maiores natu und potentes gegenüber den Unterschichten – besser: der Untermasse – suchten im 12. Jahrhundert der Mönch Gratian und Co-Schreibkundige in Bologna und Rom in ihrer „Zusammenstellung und Vereinheitlichung widersprüchlicher Regeln“ (Concordia discordantium canonum) zusammenzuzwingen. Sie kompilierten kirchliche Dekrete, Papstbriefe, Protokolle von Konzilen und Synoden, Zölibatfordernde Texte und anderes – manches gefälscht, vieles parteilich ausgewählt, alles ohne Quellenkritik. Gratian leitete mulier (Frau) von mollities mentis (weichem Geist) ab, vir (Mann) von virtus animi (Stärke der Seele). Er stand dem Volk, vulgus, feindlich gegenüber, beklagte „vulgäres“ Feiern bei Heiligenfesten und kannte lokale Weistümer nicht. Den Kodex Kaiser Justinians reduzierte dies „esoterische“ lawyers’ law (S. Reynolds) auf grob vereinfachendes Besitzrecht. Die Recht-Schaffenden schufen sich, wie die Theologie-Professionalisten vor ihnen, ein Einkommens-generierendes Tätigkeitsfeld: Als lizensierte Fachleute für Dekrete, licentiati in decretis, verabsolutierten sie ihre Kompilation zu lateineuropaweit gültigem Corpus Iuris Canonici. 107 Salzburger Mönche kopierten den Text des Decretum Gratiani (~1140) bereits um 1170/80. 108 Die im Salzburger Urkundenbuch verzeichneten Rechtsgeschäfte der EB betrafen Landbesitz; sie erwähnten bewirtschaftende Unfrei-Gemachte nur selten, Religion oder Spiritualität nie. 109 Anders als die fixistischen Dekretisten passten die Magnaten ihre Strategien ständig der Summe

des Handelns aller mitagierender Familien, besonders deren Oberhäuptern, an. Intrafamiliär war mit jeder Geburt eines Sohnes zukünftige Ressourcenteilung neu zu durchdenken, mit Geburt einer Tochter Ressourcenarrondierung oder Heiratsbeihilfe zu planen. Elterliche Strategien zielten auf langfristige Positionierung, Geschwisterkonkurrenzen und Erbrecht bedeuteten Taktieren und Gewalt. Familiäre Erbteilung – nicht Feudalstaats-Teilung – erforderte ausreichende Verteilungsmasse. Wer strategische Kompetenz nicht erreichte, verlor Position und Rang. Kleriker blieben Teil ihrer Geburtsfamilien: Sie tauschten Besitz mit Angehörigen, manche statteten Verwandte mit Kirchengut aus oder liehen sich bewaffnete Gefolgsleute von Brüdern. Dem Salzburger EB Arn folgte 821 seine Neffe Adalram; EB Friedrich installierte 971 seinen Neffen Pilgrim in Passau. Als dieser, kaum geweiht, Besitztitel fälschte, antwortete Friedrich mit Gegenfälschungen, um sein Familienmitglied nicht vor Papst und Kaiser anklagen zu müssen. „Familie“ erforderte Entscheidungen, Revokationen, Neuorientierungen: ungeteilter „Stammsitz“ an einen Sohn, intergenerationell besessene Kirchenämter an andere; zur Erweiterung von Territorien Töchter/Schwestern als Ressourcen und Mitwirkende. Hinter der Schausteller-Fassade von Insignien, Auftritten und Prozessionen bedeutete Maskulinität Waffengeklirr, „Ehre“, konkurrierende Männlichkeiten. Frauen beteiligten sich eher strategisch: Heirateten sie oder wurden transterritorial ge- und verheiratet, brachten sie in das Zweck-Bündnis ihre Netzwerke ein. Diese ließen sich anders als Kettenhemden in Gemälden und historischen Landkarten kaum darstellen. Die Gesamtheit der genealogiae-Familien war „näher oder entfernter miteinander oder gar mit [einem Herrscher oder] dem Kaiser verwandt“, „Königsnähe“ brachte einträgliche Positionen und Verleihungen. Elitenkonkurrenz und -kooperation fragilisierte oder stabilisierte Machtpositionen; vergangenheits-abgeleitete Herkunft festigte Status, aber ihr fehlte der dynamisch-zukunftsträchtige Aspekt. Die Beherrschten in den vielen regionalen

Zum Gesamtansatz vgl. Rachel M. McCleary (Hg.), Oxford Handbook of the Economics of Religion, Oxford 2011. Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 2001, 51–70; Fichtenau, Lebensordnungen, 13. 107 Susan Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford 1994. Macy, Hidden History, 111. 108 Bayerische Staatsbibliothek, Clm 13004, 342 Bl. 109 Die Kirchendikta, die Papst Gregor IX., Neffe von Innozenz III., von einem iberischen Dominikaner als Nova Compilatio Decretalium 1230 zusammenfassen ließ, blieben bis 1917 gültig. 105

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Welten waren der transeuropäischen Oberschicht nur durch Unterhaltspflicht und Mit-Leiden in Fehden und Kriegen verbunden. 110 Intergenerationelle Strategien umfassten ein „Ansippen“ durch Entsendung von Kindern in einen befreundeten Haushalt und „Absippen“ durch Entsendung von Söhnen in Kriege und Töchtern in Klöster. Überstiegen Versorgungsfälle und Anspruch-Stellende die Ressourcen, mussten diese – oft gewaltsam – erweitert werden. Aus Konjunkturen der Oberschichtendemografie im Verhältnis zur Abschöpfungsbasis ergaben sich Phasen intensiven Burgenbaus oder „Rittersterbens“. Suchten Mächtige (potenzielle) Konflikte durch Verhandlungen zu entschärfen oder zu lösen, erforderte dies vielfältige Botengänge, Aushandeln jedes kleinsten Schrittes vor Zusammentreffen der Kontrahenten, Geschenk-, Geisel-, Gefangenenaustausch; alles begleitet durch zahlreiche Zeugen, die ihrerseits die eigene Position durch Gefolge demonstrierten. Diese „Spielregeln der Politik“ analysierte Gerd Althoff, doch ließe sich über den Begriff „Spiel“, besonders „Kriegsspiel“ oder „kostspielig“, reflektieren. 111 Maiores natu suchten kontinuierlich zusätzliches materielles Kapital, denn Zurschaustellung als demonstrativer Konsum erforderte auch Patronage von Kunst, Kirchen und Intellektuellen. Sie verließen sich – anders als Handwerker auf funds of knowledge – nicht auf flexible funds of rituals, sondern sie fixierten soziale Gesten, Gnade und Ungnade, Friedensrituale oder Erniedrigungen. Höfe waren Orte von Unterwerfung oder Erbauung, von Wut und Zorn, von Dankbarkeit und Servilität. Jede Position und jeder Akt waren visuell zu demonstrieren durch Kleidung und Waffenschmuck, geistliche Gewänder oder Rüstungen, die Qualität der Pferde, großes Gefolge. Jedes Durchbrechen der „Ehre“ genannten Hack-ordo erforderte Strafen, Rückzüge, Angriffe. (Ochsen-) Ziemer –

oder Schwert und Strafen an „Haut und Haaren“ (Prügel und Scheren 112) – erzwangen „geziemendes“ Verhalten. Herabsetzungen, das heißt zunehmende Entfernung vom Herrscherpaar in der Tisch-ordo, bewirkten Streit bis zu blutigen Prügeleien und Exkommunikationen. Auf, nach Eigensicht, beschädigte Ehre folgten sogenannte „Fehden“ als Wirtschaftskriege: Zerstörung von Produktionsstätten und Tötung unterhaltspflichtiger laboratores. Fehde zielte auf solche, die keine Waffen besitzen und sich nicht wehren durften, nicht, wie Turnierspiele, auf „ritterlichen“ Zweikampf. 113 Die Fehde eines Grafen in Bogen und eines Pfalzgrafen in Ortenburg (westl. Passaus) ab 1192 und die Folgen für die „Besessenen“ – Individuen mit eigenem Handeln und Emotionen – beschrieb Abt Poppo in Niederaltaich. Die gräflichen Gewalttäter ließen Dörfer und Kirchen verwüsten, Frauen, Kinder und Gesinde abwesender Kreuzritter ausrauben, Frauen vergewaltigen und eine klösterliche Siedlung für Witwen zerstören. Sie stahlen Pferde, zerstörten Werkstätten, verübten Brandstiftungen, klauten liturgische Bücher, zogen Priestern und Scholaren die Kleidung vom Leib. Als einer der Kontrahenten in einem Kreuzkrieg umkam und der Krieg endete, waren die Ackergebiete so wüst und von Dornengestrüpp überwuchert, dass sie neu vermessen werden mussten. 114 Die konkurrierenden Salzburger EB-Aspiranten Thiemo und Berthold ließen in ihrer Fehde von 1090 bis 1098 Ländereien und Städte verwüsten und in einer zweiten Großfehde, 1247 bis 1256, „opferten“ EB Philip und EB Ulrich die Bevölkerung eines Tals, verschleuderten Kirchengut, setzten „Nichtswürdige“ ein (H. Dopsch). 115 In Münster, dem nach Salzburg zweitgrößten Missionsbistum, verwüsteten nach dem Tod eines Amtsinhabers Nachfolgekandidaten „die Güter und Besitztümer unserer Kirche durch Raub und Brandstiftung in tyrannischer Weise“ und vertrieben die Hörigen

Barbero, Karl, 344; McKitterick, Frankish Kingdoms, 41. Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; Richard A. Preston und Sydney F. Wise, Men in Arms: A History of Warfare and Its Interrelationships with Western Society, 11956, New York 41979, 80–97. 112 Abgesetzten Herrschern oder Amtleuten wurden die Haare geschoren; Tonsur bedeutete Unterwerfung unter einen Abt. 113 Jeppe B. Netterstrøm und Bjørn Poulsen, Feud in Medieval and Early Modern Europe, Oxford 2007, darin Netterstrøm, „Introduction: The Study of Feud in Medieval and Early Modern History“, 9–67; Hillay Zmora, „Values and Violence: The Morals of Feuding in Late Medieval Germany“, ebd., 147– 160 (zu Historiografie und „deutschem Sonderweg“ von Otto Brunner); Christine Reinle, „Peasant’s Feuds in Medieval Bavaria“, ebd., 161–174, betont, dass auch ländliche Gemeinschaften sich befehdeten. 114 Benedikt Braunmüller, „Drangsale des Klosters Nieder-Altaich im J. 1226“, Wiss. Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner-Orden 2/1 (1881), 99–108. 115 Heinz Dopsch, „Hochmittelalter“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:229–436, hier 251–254, und 437–443. 110 111

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Zentrale Herrschaft, Familien, Fehden: Prozessuale oder holperige Strukturen?

Abb. 6.11 Heiratsnetzwerke ausgewählter Eliten, 1000–1200

„durch Gefangennahme und vielerlei gewaltsame Leistungsforderungen aus ihren Wohnsitzen“ (1273). Diese „versteckten sich, wo sie nur konnten, wie Flüchtlinge“ und bestellten „die Felder nicht mehr“. Niederösterreichische Zustände beschrieb der Autor von „Seifried Helbling“: Überfall eines Ritters auf eine Bauern-Familie; Raub und Zerstörung der Arbeitsgeräte; gang-rape der Magd; Zerstörung der gesamten Hofstelle durch Feuer. Ohne spezifische Fehde, aber mit System, unterdrückten viele Vögte Bevölkerungen; Burgherren ohne Mittel nahmen Männer ohne Mittel in Dienst und ließen sie sich „Entlohnung“ auf eigene Faust beschaffen. Gewalt hatten bereits die Beschwerdeführer von 811 angeprangert, kooperative Intelligenz und community waren keine Herrscher-Konzepte. 116

Für raumgreifende Gewalttätigkeit gegen Nachbarherrscher und Kaiser forderte der österreichische Hz Friedrich II. (h. 1230–1246) Sondersteuern auch von Familien, deren Hufen bewaffnete Haufen bereits verwüstet hatten. Für alle kam natürliche Unbill hinzu: zwischen 1233 und 1235 extrem strenge Winter, verheerende Überschwemmungen und Wolkenbrüche. Erneute menschengemachte Unbill folgte, als der Kaiser 1236 die Reichsacht gegen den Streiter verhängte, „zu seiner eigenen Besserung und zur Wahrung des Rechtes […, damit er] aus Erfahrung lerne, wie man Gott fürchten [solle] und unsere Person“. Die exekutierenden Söldner, sichtbar fremd als „Deutsche“ und „Böhmen“ bezeichnet, verwüsteten und plünderten. Ruhe brachte erst der Kriegstod des Herzogs 1246. 117

Epperlein, Bäuerliches Leben, 85, Zitate 161–164; Georges Duby, The Early Growth of the European Economy: Warriors and Peasants from the Seventh to the Twelfth Century, übers. von Howard B. Clarke, London 1974 (frz. 1973); Reuter, „Plunder and Tribute“, 83. 117 Die Lieder Neidharts von Reuenthal, hg. von Friedrich Keinz, Leipzig 1889, 21910, 19; Ulrich Seelbach, „Hildemar und Helmbrecht: Intertextuelle und zeitaktuelle Bezüge des ‚Helmbrecht‘ zu den Liedern Neidharts“, in: Theodor Nolte und Tobias Schneider (Hg.), Wernher der Gärtner. „Helmbrecht“, Stuttgart 2001, 45–69, bes. 48–49, Zitat 48. 116

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Zeitgenossen kommentierten die Gewalt. Im Gallien des 5. Jahrhunderts bat in einer Komödie ein „Querolus“ seinen Hausgott, „dass es mir erlaubt sein soll, die zu berauben, die mir nichts schulden; Fremde umzubringen; Nachbarn zu berauben und zu töten.“ Der Gott lacht ihn aus: „das ist Raub“. In De gubernatore Dei – in Kontrast zu Augustinus’ De civitate Dei – bezeichnete der in Köln, Trier und Marseille lebende Salvian um 400 Abgaben erzwingende Stadträte und Grundbesitzer als Tyrannen, Reiche als schlimmste Räuber, sexuell missbrauchte Frauen als Versklavte. Gegen aufgezwungene Unfreiheit sei Widerstand rechtens. Im 10. Jahrhundert suchten Vertreter der Gottesfriedensbewegung das – handwerklich ausgedrückt – aus den Fugen geratene Regime wieder ins Lot zu bringen (s. Kap. 7.10). Unterschichten legten ihr Gesellschafts-Verständnis am Beginn der Befreiungskriege („Bauernkriege“) nieder und in den cahiers de doléances am Beginn der französischen Revolution. Noch Anfang des 16. Jahrhunderts, als ein Bettelmönch am württembergischen Hof Anklage gegen Straßenräuber erhob, konterten die anwesenden „Ritter“ lautstark, dass dies „aim alten, vermainten privilegio inen ahten zugelassensein, uf den straßen unstrefflichen zu rauben.“ Laut Chronist mahnte der Markgraf, „Es geet wohl hin, den kaufleuten die deschen zu schütlen, aber allein am leben solt ir inen nichts thun“. 118 Die Systemanalyse einfacher Menschen verschriftlichte der Autor eines Fastnachtsspiels des 15. Jahrhunderts. Er ließ einen Ritter seinen (Klassen-) Standpunkt zusammenfassen: Sollte immer Frieden bleiben, die Bauern würden den Adel vertreiben. Sie würden am Ende so übermütig und geil, sie machten uns Burgen und Städte feil. Der Bauer möchte als Bürger leben, der Bürger als ein Edelmann.

Darum mag uns der Krieg frommen, dass sie nicht über uns kommen. Sie müssen mit uns teilen fürwahr heuer wie vor hundert Jahr. 119 Eine plausible Erklärung des kriegerischen Komplexes bieten, wie erwähnt, Theorien zu Kolonialismus: Eine politisch-militärisch machtvolle Elite-mit-Bewaffneten gliedert sich unter ihr stehende, unmittelbar benachbarte oder ferne Wirtschaftseinheiten ein und beutet die Mehrheiten anderer Sozio-, nicht Ethno-Kulturen aus. Griechische Stadtherrschaften kolonisierten überseeische „Schatzgebiete“ im Mittelmeerraum, dänische Herrscher im nordatlantischen Raum Island und Grönland, wo es Walross-Elfenbein gab, englische Herrscher später Irland. Die fränkische Elite hatte zuerst gallische, dann Menschen friesischer, sächsischer, slawischer und bayerischer Identifikationen zu kolonisierten Unfreien gewandelt. Die Zerschlagung der Wehrkraft der Unterworfenen, festgelegt in den Kapitularien Karls d. G., war für Herrschaft unabdingbar. Foucault nannte dies biopouvoir, die Körper kolonisierter Männer und Frauen arbeiten für das leibliche Wohl und den Luxus ihrer Unterdrücker. 120 Die dafür notwendige „strukturelle Gewalt“ analysierte der norwegische Soziologe und Theoretiker Johan Galtung. 121 Wiederum zeigt eine vergleichende Perspektive andere Optionen: In der westafrikanischen Zivilisation entlang es Niger-Flusses, dem Herrschaftsbereich Mali, galt im 13. Jahrhundert Gelehrsamkeit als Statussymbol. Gelehrte und Adlige in den Großstädten Timbuktu, Gao und Djenné schrieben und sammelten Bücher als Repositorien von Wissen. Ibn Khaldun (Ibn Ḫaldūn, 1332–1406) analysierte in der Muqaddima – der Einleitung seiner siebenbändigen Universalgeschichte – Gemeinschaft, ʿ aṣabīya, auf der Basis ökonomischer Ansätze, die Wissenschaftler in Lateineuropa erst im 18. und 19. Jahrhundert entwickeln würden.

Wickham, Framing, Zitat „Querolus“, 177 (Übersetzung D. H.), Salvian ebd., 62–63, 568 passim, 573, und weitere Beispiele 63, 573; Werner Rösener, „Zur Problematik des spätmittelalterlichen Raubrittertums“, Festschrift für Berent Schwineköper, hg. von Helmut Maurer und Hans Patze, Sigmaringen 1982, 469–488, Zitat 471. 119 Epperlein, Bäuerliches Leben, Zitat 165 aus einer Sammlung von Fastnachtsspielen. 120 Michel Foucault, Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975, 24–35; Antoinette Burton und Tony Ballantyre (Hg.), Bodies in Contact: Rethinking Colonial Encounters in World History, Durham, NC 2005; Danielle Kinsey, „Assessing Imperialism“, in: Cambridge World History, Cambridge 2015, 7.1: 331–365. 121 Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975; George Rudé, The Crowd in the French Revolution, Oxford 1965; Mann, Social Power, 376; Drauschke, Zwischen Handel und Geschenk, 201. 118

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Herrscher-Familien im ZWH und Kirchenherrscher in Rom bis zum 13. Jahrhundert

6.7 Herrscher-Familien im ZWH und Kirchenherrscher in Rom bis zum 13. Jahrhundert In den dreieinhalb Jahrhunderten vor 1250 führten die sächsisch-ottonischen, fränkisch-salischen und staufischen Herrscher-Familien durch Heiratspolitik, Netzwerke und Magnaten-Entmachtung den östlichen Teil der vormaligen Karl-Herrschaft zu einem lockeren Zentraleuropäisch Weltlichen Herrschaftsbereich (ZWH) zusammen. Als Heinrich (I., h. 919–936), „sächsisch“, die Herrschaft übernahm, bezeichneten er und seine Berater die Königswürde als Rerum publicarum summa. War dies Deklamation, Bezug auf den vergessenen Aspekt römischer

(literacy und numeracy). Erbfolge unter Oberen bedeutete vielfach Kontinuitätsbrüche für Untere. 122 Otto (I.) nahm den in dem Hin und Her nach dem Tod Berengars I. über vier Jahrzehnte verges-

Abb. 6.12 Fremdes: Die Delegation des Kalifen Harun-arRaschid vor Karl d. G., Entwurf für einen Gobelin, imaginiert von Jacob Jordaens (1663)

Staatlichkeit oder neues Denken? Die Elite – unverändert weltlicher und geistlicher „Adel“ – agierte Laufbahn-spezifisch und Akkumulations-strategisch und Territorien blieben entités mouvantes. In der „ottonischen“ Zeit bildeten etwa 200 Männer samt Familien den Herrschaftskern. Männer der Karl-Familie hatten Magnaten-Frauen geringeren Status geheiratet, um Familien an sich zu binden, die der Otto-Familie heirateten Frauen aus benachbarten Königshäusern. Wollten sie Status zeigen oder lebten sie ein consors regni-Konzept von Herrschaft? In der Hierarchie hatten kleinadlige Familien wenig Bedeutung, denn sie waren in der Mehrzahl weder lese-, schreib- noch zahlenkundig

Abb. 6.13 Fremdes Nahes: Christus krönt und segnet Otto II. und Kaiserin Theophanu, beide in gleicher Größe dargestellt; links unten der kniende Auftraggeber EB Johannes (Piazenza) (Buchdeckel aus Elfenbein, ~982)

senen Kaisertitel für seinen polyglotten Herrschaftsbereich wieder auf. Nach Westen verband er

Wolfram, Geburt Mitteleuropas, 27 ff., bietet eine eindrucksvolle Auflistung der Verbindungen und Verfeindungen der Macht Habenden und Anstrebenden. Jussen, Franken, 16; Goetz, Europa, 24–27, 74; Wenskus, Stammesbildung und Verfassung, 485–541, bes. 517, 536; Althoff, Königsherrschaft ohne Staat, 9–28, 239; Marios Costambeys, Matthew Innes und Simon MacLean, The Carolingian World, Cambridge 2011, 271–323; Pauline Stafford, Queens, Concubines and Dowagers: The King’s Wife in the Early Middle Ages, London 1983; Simon MacLean, Ottonian Queenship, Oxford 2017; Phyllis G. Jestice, Imperial Ladies of the Ottonian Dynasty. Women and Rule in Tenth-Century Germany, Basingstoke 2018; Störmer, Adelsgruppen, 53. Vgl. allgemein Sophie Cassagnes-Brouquet, La vie des femmes au Moyen Âge, Rennes 2009; Claudia Opitz, „Frauenalltag im Spätmittelalter“, in: Klapisch-Zuber, Mittelalter, 283–344.

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sich mit Eadgyth, Halbschwester des angelsächsischen Königs; im Osten zeugten er und eine slawische Frau einen Sohn, der Erzbischof in Mainz und Berater des ehelichen Sohnes wurde. Sohn Otto II. (955–983) heiratete Theophanu (960–991) aus dem real existierenden Römischen Reich, dessen Kaiser die Dualität des Titels zu akzeptieren begannen. Sie mag erstaunt gewesen sein, dass Otto umherziehender Kaiser war. Lateinische Chronisten, die abwertend über die Fremde berichteten, wussten nicht, dass im Bereich der Griechischen Kirche Bildung höher war und zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung lesen oder gar schreiben konnten. Nach dem frühen Tod Ottos übernahm Theophanu, beraten durch die Großmutter Adelheid aus Burgund, doppelt verwitwet als Königin in Langobardien und in Frankreich, über sieben Jahre die Regierung für den dreijährigen Otto III. (geb. 980, Kaiser 996–1002). Die Kaiser in Konstantinopel hatten ihre Reichweite bereits auf rus-ländische Fürstentümer ausgedehnt und Otto eine renovatio imperii romanorum mit Süd-Bezug auf den Stuhl Petri und Ost-Intention einer vielkulturellen Ger-

mania-Roma-Gallia-Sklavenia geplant. Doch starb er im Alter von 22 Jahren. Im Spannungsverhältnis realer Vielfalt und kaiserlichen Einheitsstrebens entstand nach Ansicht mancher Historiker eine Zusammengehörigkeit Deutsch-Sprachiger mit noch-lateinischer Verwaltungs-Schriftsprache. Vorsichtiger formuliert wurde Fremdes benennbar durch raffgierige Heere, Sondersteuern wie das Danegeld und fremde Söldner. Das Söldnerwesen war lokal (Überschuss junger Männer), saisonal oder mehrjährig mobil (Anheuern/Umherziehen/Kampf/Marodieren) und entweder erneut lokal durch Ansiedlung oder dauerhaft mobil durch Bettelei. Die Gesamtheit war aus Familien- statt Staats-Räson ein „Bund von Fürstenstaaten und Städten unter kaiserlicher Oberherrschaft und Symbolik“ mit zeitweiligem Schwerpunkt in Italien und Sizilien. Hansegenossen gliederten sich an, Eidgenossen gliederten sich aus. 123 Chaos brachten Ämterkonkurrenzen in der Romkirche seit den 1040er Jahren, Päpste vervielfältigten sich wie Figuren in einem Spiegelkabinett.

Die Familie der Crescenzier*innen (C.) verlor den Zugriff auf die päpstliche Position. 1044 Aufstand gegen Papst Nr. 1, Theophylakt = Benedikt IX. (Familie Tusculum); für sieben Wochen Papst Nr. 2, Sylvester III. (verschwägert mit Familie C.) und angeblicher Parallelpapst (Nr. x – das offizielle Annuario pontifico verzeichnete selektiv); dann erneut Papst Nr. 1, der das Amt für 1000 Silberpfund an Papst Nr. 3, Gregor VI. aus Köln, verkaufte (1046). In Reaktion zog König Heinrich III., begleitet von Salzburgs EB samt Suffraganen, mit Heer heran und die Kleriker der Synoden in Pavia, Sutri und Rom verboten den Verkauf und Kauf klerikaler Ämter, setzten die Päpste Nr. 1 bis 3 ab und Bischof Suitger aus Bamberg als Nr. 4, Clemens II., ein. Dieser krönte im Gegenzug noch am Tag seiner Weihe am 25. Dezember Heinrich zum Kaiser. Nach Clemens’ Tod zehn Monate später folgte kurz Benedikt IX. mit 3. Amtszeit und Nr. 5, Salzburgs Brixener Suffragan Poppo (Damasus II.). Nach dessen Tod nur drei Wochen später folgte 1049 als Nr. 6 der im Elsass geborene Leo IX. (1053 Gefangener normannischer Truppen, gest. 1054). Es folgten weitere sechs (Gegen ) Päpste bis 1073 (Nr. 7 bis 12).

Päpste und Kaiser, sacerdotium und imperium, planten ein imperium christianum, doch endete die Zusammenarbeit schnell. Ebenfalls endete durch zielstrebig missglückte Verhandlungen die distanzierte christliche Ost-West Parallelität: Kardinallegat Humbert exkommunizierte 1054 den Patriarchen, der ihn daraufhin seinerseits verfluchte. 124 123 124 125

Wie dachten Gemeindekleriker, kam doch der Glaube aus dem Osten, wie Illuminator*innen, bezogen sie doch ihre Farben von dort? „Die Kirche durchdrang die Lebensschichten und Lebenserfahrungen aller sozialen Schichten, sie war integraler Bestandteil und zugleich Spiegel der Gesellschaft“. 125

Borgolte, Europa, 16–21; North, Europa, 298, 307–311. Humberts Legatenvollmacht war angesichts des Todes von Leo IX. seit drei Monaten erloschen. Reinhardt, Pontifex, Zitat 269.

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Herrscher-Familien im ZWH und Kirchenherrscher in Rom bis zum 13. Jahrhundert

Chaos brachte der fast zwei Lebensalter ländlicher Menschen andauernde Ehrenhandel honor dei vs. honor imperii, 1076 bis 1122. Die Großfehde des deutsch-sprachigen Papstes Nr. 13 Gregor VII. (h. 1073–1085, zeitweise a. d. F., geb. in Italien, zeitweise in Köln) mit König Heinrich IV. (h. 1056– 1105) war Investitur- und Investitions-Streit. Weltliche Adels-Familien und Kardinäle, die Rechte an Niederkirchen hatten, versahen Söhne oder Klienten mit Pfründen: Eigenkirchen als Eigentum mit

eigenen Leuten. 126 Da Kleriker kirchliche und weltliche Funktionen ausübten, oblag ihre Einsetzung beiden Seiten. Mit ausschließlich päpstlicher Investitur, wie von Gregor gefordert, hätten Päpste gewissermaßen den königlich/kaiserlichen Rat und die Kanzlei besetzt. Jede Amtseinsetzung, da Bepfründung, war auch eine Finanzentscheidung. Da beide, Kaiser und Päpste, ihre Macht von Gott ableiteten, kämpfte jeder für die eigene, alleinige Theokratie.

Vorspiel der Großfehde im Zeitraffer: 1062 entführte der Kölner EB Anno den elfjährigen Heinrich (IV.) aus der Obhut seiner Mutter Agnes. – Auftakt: 1075 Dictatus papae Gregors, 1076 Hoftag in Worms mit Lossagung vieler Kleriker vom absolutistischen Papst; in Gegenattacke exkommunizierte der Papst den Kaiser. – Drama: Heinrich und Ehefrau Bertha (aus Turin) mit Gefolge reisten mit Hilfe lokaler Bergführer im Winter 1076/77 über den 2080 m hohen, vereisten Pass Mont Cenis (Burgund) Richtung Rom. Der Papst, nicht bedroht, zog sich zur Markgräfin Mathilde (Tuszien, 1046–1115) in Canossa zurück. Trat Heinrich als Büßer vor ihn – so kirchliche Erzählungen – oder kam er zu Verhandlungen? Den Rückweg der kaiserlichen Familie suchten Gegner, darunter der Salzburger EB, zu blockieren. Die steinernen Wehrbauten sind noch in der Gegenwart zu besichtigen, memento mori-Denkmäler fehlen. – Intrigen ZWH: Die Abwesenheit des Königspaares nutzten innerfamiliäre Konkurrenten und Magnaten-Clane, um Heinrichs Schwager Rudolf (Hz Schwaben) als Gegenkönig zu wählen. Ehrgeizig und rücksichtslos hatte dieser als etwa 35-Jähriger 1057 die neunjährige Kaisertochter Mathilde entführt und als Elfjährige geheiratet. Sie starb als Zwölfjährige. 1077 vermittelten die Ehefrauen, Adelheid und Bertha. Rudolf starb 1080 an einer Verwundung: Der Verlust seiner Schwurhand in einer Schlacht ließ sich als Gottesurteil interpretieren. – Intrigen „Rom“: Um den Thron Petri kämpften klerikale Fraktionen; auf der Engelsburg verschanzt, rief Gregor VII. den süditalienischen Normannenherrscher zur „Befreiung“. Dessen Truppen plünderten und zerstörten unter anderem römische Aquädukte. Damit wurden Tiber-ferne Stadtteile unbewohnbar. Gregor starb 1087 in Salerno; 1084 war EB Wibert (Ravenna) als Clemens III. Gegen- oder neuer Papst geworden (Nr. 14). Der Hauptteil des Dramas mit weiteren elf päpstlichen Akteuren folgte bis 1126.

Innerkirchlich kämpften bereits Apparat und correctio-Vertreter. Als dritte Ebene fügte Papst Urban II. 1095 Krieg nach außen gegen Sarazenen hinzu (s. u. Kap. 6.11). Vieles fand sichtbar statt, denn Kirchenbühne und Reichsbühne waren auch Volksbühnen. Drei Jahrzehnte später, 1111, handelten Kleriker beider Seiten, darunter der Salzburger EB Konrad I., einen Kompromiss aus: Der Papst verzichtete auf die weltlichen Hoheitsrechte, der Kaiser auf die geistliche Investitur. Dies war zwar zukunftsweisend, doch für die anwesenden Kirchenfürsten Besitz-schädigend. Sie protestierten tu126 127

multuarisch, erklärten die päpstliche Position für „häretisch“ und bedrohten EB Konrads Leben. 127 Im Wormser „Kompromiss“ ein Jahrzehnt später siegte Kanonisches „Recht“ über das Eigenkirchen„Recht“ der Könige. Der Begriff „Papstrevolution“ für den Kampf um Gedankenhegemonie und absolutistische Herrschaft zwischen ca. 1050 und 1215 verstellt die Sicht auf den Machtkampf und die oft verwendete Bezeichnung Reform-Papsttum gibt eine Interpretation vor. Nach außen hatten die Kämpfe um ein Primat Petri – propagandistisch: libertas – gegen-

Reinhardt, Pontifex, 280–282. Reinhardt, Pontifex, 289–292.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

über den Patriarchen in Konstantinopel zum Schisma geführt, im Inneren intensivierten die Päpste den Kampf gegen Priester mit Partnerinnen und Kindern – letztere sollte es eigentlich nicht mehr geben (s. Kap. 9.4). In einer Apparatversion 5.0 des Glaubens expandierte Gregor VII. die absolutistisch-weltliche Hofhaltung, proklamierte jedoch, den Ämterverkauf und -kauf und das üppige Leben des Klerus beenden zu wollen: „Zuchtrute Gottes“ und „heiligen Satan“ nannte sein Mitstreiter Petrus Damianus ihn. Der Kardinal und Polemiker Humbert eskalierte die Propagandaschlacht: Nicht Ämterhandel, sondern Investitur durch Weltliche sei „Simonie“. 128 Akzeptiere die ecclesia als Braut Christi und Mutter der Gläubigen weltliche Investitur, so hure sie mit Machthabern. Papst Gregor klagte, dass weltliche Herrscher die Kirche, ihre „Dame und Mutter, die Braut Christi“ wie eine „gemeine Sklavin“ unterdrückten. Diese Vorstellungen sind denk- und frag-würdig. 129 Unter diesen Bedingungen wurde das Klosterwesen vielstimmig. Neben die Benediktiner*innen traten seit Beginn des 10. Jahrhunderts Cluniazenser, Hirsauer, Reformbenediktiner oder Zisterzienser, Prämonstratenser sowie, später, Bettelorden. Konkurrenzen um Ressourcen folgten. Die Meinungsherrscher bezeichneten unzufriedene Gläubige und Theologen, sie sich wehrten, als Häretiker (s. Kap. 9.10–9.12). Imperiale Rom- und partikular-familiäre regna-Kirchen standen gegeneinander, das deutsch-sprachige Episkopat sah sich durch das römische bedroht. Der Streit würde bis zum 4. Laterankonzil 1215 andauern. 130 An der inter-imperialen Großfehde und den klösterlichen Neuordnungen wurden die Gläubigen der Salzburger Kirchenprovinz beteiligt (Passiv): EB Gebhard hatte die Programmschrift der Papsttreuen verfasst, die Suffragane in Regensburg und Freising sich vom Papst losgesagt. Die nachfolgenden

EB setzten sich mit drei offiziellen und vier nichtoffiziellen Päpsten auseinander. Königstreue, oft räuberische Adlige eigneten sich Kirchengüter an und raubten; kirchliche wüteten ähnlich. Hörige mussten in Fronarbeit EB-Burgen verstärken. Waren sie wütend? Schüttelten sie die Köpfe ob des Hin und Her? 131 Etwa ein Menschenleben nach dem Ende der Wirren wurde Friedrich I., Familie Staufen, 1152 König und 1155 Kaiser (gest. 1190). Er benötigte für die Wiederherstellung der Herrschaft in Italien genealogia und Heiligkeit: Aachener Kleriker sprachen, durchaus eigennützig, zusammen mit einem Gegenpapst den Amtsvorgänger Karl d. G. heilig. Die Kurie widersprach nicht. 132 EB Konrad II., Familie Babenberg (h. 1164–1168), stellte sich gegen den Kaiser und in Folge belegte ein Fürstengericht im benachbarten Laufen 1166 das Erzstift, das heißt die Gläubigen, mit Reichsacht. Lehen und Eigengüter fielen an den Kaiser, er gab sie an Parteigänger weiter; benachbarte Kriegsgewinnler griffen sich, was sie konnten; die Grafen Heinrich und Liupolt in Plain zündeten – wie äußere Feinde ein Jahrtausend früher – 1167 die Residenzstadt an und verwüsteten das Land „mit Feuer und Schwert“. Sie waren Brand-Stifter wie der von ländlichen Familien gefürchtete „Rote“. Auch Stiftungen hatten viele Aspekte. 133 Der Kanzler und Kölner EB Rainald (Familie Dassel), der Karls Heiligsprechung betrieben hatte, „wusste“, dass Kaiser Konstantins Mutter Helena in Jerusalem nicht nur das Kreuz, sondern auch das Grab der drei Sterndeuter gefunden hatte. Deren Gebeine hätte sie mitgenommen, sie seien später dem Bischof in Mailand geschenkt worden und sie „fanden sich“ bei der Besetzung der Stadt durch Kaiser und Kölner EB. Er ließ sie zu seinem Sitz bringen. Einige Jahrzehnte später diktierte Marco Polo seinen Reisebericht durch Asien. Ihn hätte

Laut Apostelgeschichte (8.9–24) wollte sich Simon von den Aposteln die Fähigkeit zur Vermittlung des Hl. Geistes durch Handauflegen kaufen. Macy, Hidden History, 109–115; Megan McLaughlin, Sex, Gender, and Episcopal Authority in an Age of Reform, 1000–1122, New York 2010; Zitat aus einem Brief Gregors, 1074: Ken A. Grant, „On Leeks and Onions: Pope Gregory VII and the Rejection of Pleasure“, in: Naama Cohen-Hanegbi und Piroska Nagy (Hg.), Pleasure in the Middle Ages, Turnhout 2018, 309–327, 320. 130 Gregor wollte die erfundene „Pippinische Schenkung“ zum Bestandteil der Kirchendekrete machen, führte Auseinandersetzungen in Süditalien und Frankreich und plante Krieg gegen muslimische Herrscher. 131 Goetz, Europa, 170; Dopsch, „Hochmittelalter“, 1.1:243–249. 132 Kaiser Friedrich ließ ein goldenes Reliquiar für die Armknochen Karls fertigen. Es zeigte im Zentrum der vorderen Front Maria mit Kind, rechts und links je einen Erzengel und weiter außen Friedrich und Kaiserin Beatrix. Damit waren der amtierende und der heiliggesprochene Herrscher mit Maria und Jesus vereint. 133 „Barbarossa“ als Heldengestalt schufen Historiker im Zuge ihrer Genealogie für das 2. Deutsche Reich. Dessen Italienexpansion sah eine Fraktion als Teil des „deutschen“ Kaiserstaates, eine andere als Hindernis für die Bildung der „deutschen Nation“. 128

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Herrschaft im Ostalpenraum, Ost- und Südostexpansion

Rainalds Zu-Fall nicht beeindruckt, denn er hatte die Gräber der drei Weisen in der nordwestpersischen Stadt Saveh/Saba besucht. Erreichten diese Geschichten Laien? In Rom flüchtete Papst Alexander III. – Viktor IV. war ebenfalls Papst –, als kaiserliche Truppen die Stadt eroberten. Gott schien auf Seiten des Kaisers zu stehen. Doch wenige Tage später raffte eine Malariaepidemie etwa 2000 Ritter dahin, unter ihnen Rainald. 134 Im Gegensatz zur vorangehenden

Niederlage sah der Papst dies als Gottesurteil. Als wenig später die Brandstifter Salzburgs schwer erkrankten, sahen beide Seiten ein Gottesurteil: Die Grafen gelobten Wiedergutmachung, der EB löste sie vom Bann, die Bürger*innen waren mit dem Abriss der Brandruinen beschäftigt. Im ebenfalls zerstörten Mailand entschied ein Teil der Bürger*innen, eigene Wege zu Gott zu gehen. Als „Humiliaten“ vermieden sie den Prunk der Kleriker, diese grenzten sie als Häretiker aus (s. Kap. 9.10).

6.8 Herrschaft im Ostalpenraum, Ost- und Südostexpansion 135 273 Ernten brachten die Menschen von 907 bis 1180 ein, durchlebten ebenso viele Winter und zogen über Generationen Kinder und Kindeskinder groß. Das Mehrebenen-Bayern – Landbewohner*innen, Städter*innen, Herrscher-Familien – expandierte und kontrahierte und wurde im Rahmen der Machthändel um die Kaiserposition 1156 zweigeteilt: Heinrich II. Jasomirgott (1107–1177, fränkisch, Babenberg), verheiratet mit Theodora aus Konstantinopel (1134–1184), 136 verlor 1180 „Bayern“ an die mitteldialektdeutsche Familie Wittelsbach und erhielt das – zu diesem Zweck abgetrennte und zum Herzogtum erhobene – Ost-regnum, lat. „Austria“. Die Salzburger Erzbischöfe saßen mit ihren Besitzungen teils mitten in den Territorien, 137 teils zwischen den Mächtigeren. Wirtschaftswege veränderten sich nicht, Mautorte selten. 138 Die Passauer Suffragan- – und doch fast selbstständigen – Bischöfe besaßen in Wien die kirchliche Herrschaft, symbolisiert durch die Stephanskirche. Als Gegengewicht rief Heinrich II. ne-

ben vielen anderen Orden irische, „Schotten“ genannte Mönche aus Regensburg (1155) und ließ das Schottenmünster als babenbergische Grabeskirche errichten (geweiht 1200). 139 Spätere nationalistische Erinnerer Österreichs wollten – nach der großdeutschen Selbstzerstörung 1933/34/38 bis 1945 – eine Identität (Singular) feiern: 1946 das Jubiläum einer Schenkungs-Urkunde von 996 über dreißig Hufen an der Ybbs, bezeichnet als ostarrîchi, sei es germanisch im ostan (Osten) oder slawisch am ostrik (Hügel). Ebenso begingen sie 1976 Luitpolds Ernennung (Tausend Jahre Österreich) und 2006 den Beginn der Herrschaft Babenberg (850 Jahre Geburt Österreichs). 140 Für ihre Staatsfahne unbekannten, sicher migratorischen Hintergrunds erfanden sie Ursprungslegenden: Lehensfahne einer Magnaten-Familie, weißer, im Kreuzkrieg mit Blut rot gefärbter Umhang und vieles andere. „National“ war schon ihre Sprache nicht, sie nahm west- und südslawische, keltische und andere Worte auf. 141

Der demografische Kahlschlag unter den anwesenden Magnaten ließ dem Kaiser per Todfall ausgedehnte Ländereien und Menschen zukommen. Für die gesamte Periode: Hermann u. a., „Salzburger Kirche“, 1.2:983–1070; Hägermann, Karl, 55; Störmer, Adelsgruppen, 59, 71, 89. 136 Johannes Preiser-Kapeller, „Von Ostarrichi an den Bosporus: Ein Überblick zu den Beziehungen im Mittelalter“, Pro Oriente Jahrbuch 2010, Wien 2011, 66–77; Andreas Rhoby, „Byzanz und Österreich im 12./13. Jahrhundert: Mythos und Realität“, in: Andreas Speer und Philipp Steinkrüger (Hg.), Knotenpunkt Byzanz. Wissensformen und kulturelle Wechselbeziehungen, Berlin 2012, 580–610. 137 Ein Jahrhundert später, 1392, teilten drei Wittelsbach-Brüder die Herrschaft in Bayern-Ingolstadt, -München und -Landshut; den vierten Teil, Straubing-Holland, regierte ein Familienzweig von Den Haag aus. 138 Dopsch, „Karolinger“, 1.1:157–228, hier 205–207; Štih u. a., Slowenische Geschichte, 57–58; Deutinger und Dendorfer, „Karolinger“ sowie „Liutpoldinger zu Welfen“, in: Schmid, Das alte Bayern, 213–416. 139 In der Konkurrenz mussten die Mönche an den Papst appellieren, um Pfarrrechte zu erhalten (1265). 140 Walter Pohl, „Ostarrichi Revisited: The 1946 Anniversary, the Millennium, and the Medieval Roots of Austrian Identity“, Austrian History Yearbook 27 (1996), 21–39. 141 Österreichs Staatsvertrag von 1955 legt die Rechte slowenisch-sprachiger Bürger*innen fest. Die Salzburg-Wiki beklagte noch 2017 deren „Einfälle“, vgl. http://www.salzburg.com/wiki/index.php/Geschichte*des*Lungaus (1. März 2017) und die Marktgemeinde Kalwang (Steiermark) schrieb 2012 auf ihrer Webseite (http://www.kalwang.at/Slawen-und-Baiern-besiedeln-unsere-Heimat.65.0.html): „Nach 582 strömten von Osten kommend das mongolische Steppenvolk der Awaren und in ihrem Gefolge die Slawen in unser Gebiet ein. Die Slawen besetzten mit großer Schnelligkeit 134 135

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Einheimische und Zuwander*innen romanischer, slawischer und deutscher Dialekte lebten in den Regionen von der Adria bis zum Baltikum. Menschen aus dem gebirgigen Nordfriaul kultivierten Carniola (südlich der Karawanken), Karantaniens Südslawisch Sprechende waren nach Siedlung auf dem Peloponnes durch den Balkan zugewandert, Westslawisch Sprechende kamen auf anderen Routen nach Böhmen und ins Waldviertel. Archäolog*innen zeigen, dass die Menschen vom Dnepr bis zur Loire Geräte von ähnlicher Qualität zeitlich parallel entwickelten. Fischer-Familien an der Ostsee, die Salz aus dem ihnen nahen Lüneburg bezogen, versorgten bis zur Kirchenprovinz Märkte mit Salzfisch. ZWH-weit institutionalisierten die Herrscher-Kleriker vier Expansionsbistümer gegen Menschen, die auf ihrem eigenen Glauben bestanden: Münster gegen Friesen, Bremen-Hamburg gegen Skandinavier, Magdeburg gegen Sachsen und Westslawen, Salzburg gegen Pannonier und Südslawen. Herrscher in böhmisch- und polnisch-litauisch-sprachig besiedelten Gebieten riefen mitteldialektdeutsche Siedler-Familien für Städtegründungen nach Magdeburger Stadtrecht. 142 Im Norden nannten Germanisch-Sprachige ihre Nachbarn „Wenden“, daher das „wendische Quartier“ der späteren Hansekaufleute; im Süden etikettierten fränkische Neuankömmlinge die Ansässigen, deren Sprache ihnen fremd war, als „walhisc“, „Fremde“, und Italienisch-Sprachige als „welsch“. Wussten die EB und Suffragane um die Geschichte der Menschen romanischer, dalmatinischer und illyrischer Kulturen, die vor ihnen urban-christliche Lebensweisen entwickelt hatten? In Lauriacum hatte im 5. Jahrhundert ein Bischof residiert. Doch fand der Wandermönch Columban angeblich nur Heiden, Rupert nur Ruinen vor. Erinne-

rungsproduzenten begannen ihr neues Narrativ punktgenau mit dem Vordringen „heidnischer“ Awaren über die Karpaten in ost-pannonische gepidische und west-pannonische langobardische HB im Jahr 567. Für ihren eigenen Sitz in SalzburgStadt erfanden sie ortsspezifisch eine „spätantike Basilika“ als frühchristliche Kirche, Höhlen im Mönchsberg als „Katakomben“ und Zufluchtsstätte verfolgter Christen sowie einen von blutrünstigen Heiden von der Mönchsbergwand gestürzten Maxim(ian)us als „Märtyrer“. Die christlichen Romanen erwähnten sie nicht. 143 In den Kriegszügen gegen die Awaren war der Vorstoß des Hz in Friaul, geleitet von dem slawischsprachigen Vojnomir, 795, mit Plünderung des awarischen Schatzes der erfolgreichste. Bei der Aufteilung der besetzten Region erhielt der EB Salzburg ein großes Gebiet um den Plattensee (Westpannonien) für die Missionierung und den Einzug der anschließend fälligen Abgaben, sein Suffragan in Passau die nördlich angrenzenden und der EB von Aquileia die südlich angrenzenden Gebiete. Alle Diözesen waren mehrsprachig; in Freising würden um 1000 die ältesten Schriftstücke in altslowenischer Sprache entstehen. 144 EB Arn, dem der größte Teil der potenziellen Gläubigen unterstand, entsandte gemeinsam mit Karls Präfekt für Bayern einen Chorbischof 145 nach Sclavinia (Kärntner Zentralraum), Sabaria (östl. Burgenland bis zum Rába Fluss) und ins Mur- und Drau-Tal (Steiermark). Dieser ließ Kirchen an und über Orten keltisch/römisch/vorangehend-christlicher Traditionen errichten, unter anderem Maria Saal (Virunum) und St. Peter (Teurnia). Für alle Menschen dieser polykulturellen Welt – Dalmatier und Illyrer, Slawen, Karniolenser, Guduskaner, Timokianer und andere – war die Taufe zwingend und durch Zehnt kosten-

muraufwärts bald das ganze Land. […] Die Ansiedlung der Baiern bedeutete den Anfang der Eindeutschung und der weiteren Christianisierung unserer Gebiete“ (7. Juni 2012). 142 Ein einheitliches deutsches Recht, das in dieser Zeit nicht existieren konnte, erfanden Nations-Erzähler. Eine Karte mit Orten nach Magdeburger Recht findet sich in Faszination Stadt. Die Urbanisierung Europas im Mittelalter und das Magdeburger Recht, Broschüre zur Ausstellung, Magdeburg 2019, 9. 143 Habsburg-Getreue aktualisierten die Legende während der Osmanen-Habsburg-Kriege: „Türken“ stürzten Maximianus zu Tode. Josef Brettenthaler, Salzburgs SynChronik, Salzburg 1987, 30. 144 Štih u. a., Slowenische Geschichte, 14–118; ders., Middle Ages, 9–122; und ders., „Alpine Kolonisation und Migrationen im Mittelalter am Beispiel Sloweniens“, in: Mobilité spatiale et frontières – Räumliche Mobilität und Grenzen, hg. von Thomas Busset und Jon Mathieu, Zürich 1998, 133–144, bes. 133–135; Hans-Dietrich Kahl, Der Staat der Karantanen. Fakten, Thesen und Fragen zu einer frühen slawischen Machtbildung im Ostalpenraum (7.–9. Jahrhundert), Ljubljana 2002 = Supplement zu Rajko Bratož (Hg.), Slowenien und die Nachbarländer zwischen Antike und Karolingischer Epoche, 2 Bde., Ljubljana 2000; France M. Dolinar et al., Slovenski zgodovinski atlas [Slowenischer historischer Atlas], Ljubljana 2011, Karten 50–53. Ich danke Miha Kosi für Übersetzungen aus dem Slowenischen. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 44–63. 145 Das Instrument „Chorbischof“ ohne eigenes Territorium diente Sonderaufgaben.

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Herrschaft im Ostalpenraum, Ost- und Südostexpansion

Abb. 6.14 Missionsbistümer in deutsch-slawisch-romanisch-sprachigen Regionen

pflichtig. Arn setzte jedoch in Absprache mit Aachen den Slawenzehnt niedriger an als in Bayern, um nicht Kämpfe wie bei der Unterwerfung der Sachsen zu provozieren. In späterer inventio memoriae empfingen die Slawen „von Salzburg aus das Christentum“. Dankbarkeitsadressen der Betroffenen sind nicht überliefert. 146 Den Macht-Übernehmenden galten die Ansässigen als Recht-los und Land, das nicht im Besitz kooperationsbereiter lokal Mächtiger war, als Herren-los. Aquileier, Bamberger, Salzburger und Freisinger Klerikale hatten nach dem Anschluss Karantaniens bereits ausgedehnten Land- und Men-

schenbesitz „ergattert“, ein Gatter um sie gezogen. Der Begriff „Landnahme“ bezog Menschen nicht einmal konnotativ ein. Die gewaltsam-faustrechtliche Aneignung verfestigten Herren- und Kleriker-Juristen: Verfügungsgewalt als Nutzungsrecht, statt Gewohnheits-Weistümern Grundbesitz-recht. Menschen mussten im Rahmen magisch-herrschaftlicher Banne über Wild und Fische, Wasser und Wind deren Nutzung als Privi-legien – Sonderstatus vor dem Recht – zurückkaufen. Die Kleriker, Vögte und Regionaladligen positionierten ihre Reviermarkierungen, Kirchen oder Burgen, auf Anhöhen. Sie sind bis in die Gegenwart sichtbar. 147

In dem Gebiet zwischen Enns und Wienerwald dauerte die östliche Vorherrschaft bis 829. Ab Ende des 15. Jahrhunderts dienten auch Gipfelkreuze als Grenzmarkierung, Passhöhen-Kreuze als Dankeszeichen für erfolgreichen Aufstieg und als religiöse Markierung.

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Abb. 6.15 Die Freisinger Denkmäler mit slowenischen Gebeten und Beichtformeln in karolingischer Minuskel, pastorales Handbuch Bischof Abrahams, Freising (?), 2. H. 10. Jh.

Auch die annektierten Menschen der Großregion Pannonien-Savetal-Friaul wurden mehrfach reappropriiert: Teil der Präfektur Bayern, dann oströmisches Istrien zu fränkischem Friaul; Ersatz lokal-kultureller Fürsten (duces) durch fränkische Grafen (comes); Ostpräfektur mit Zentren in Sabaria, Tulln und Mosapurg; Annexion des böhmisch-mährischen Beckens. In der Erinnerung der böhmischen Annektierten war es jedoch die Weise und Wahrsagerin Libuše, die einen Pflüger namens Přemysl als ersten Herrscher designierte. Ihr erschienen im Traum, so eine Gründungslegende, Vertriebene, die um Aufnahme baten. Aus dem HB Litauen fliehende Juden fanden Schutz. Nachgewiesen ist eine jüdische Siedlung in Prag ab 965. Das waldige Hügelgebiet zwischen Böhmen und Donau – geologisch die Böhmische Masse – würde Grenzraum werden, Burgen und Städte in dem begehrenswert mineralhaltigen Gebiet entstehen (s. Kap. 8.2). 190

Viele der Annektierten versuchten sich zu wehren. Friauler beschwerten sich beim König über den Grafen, der Weide-, Holz- und Fischnutzung verbot und unbezahlte Arbeit, darunter weiträumige Fuhrdienste, einforderte, Teile ihrer Herden requirierte und die Fütterung seiner Jagdhunde anordnete. Graf Johannes musste 804 zwar seine Forderungen zurücknehmen, behielt aber die Macht, Slawisch Sprechende in Ländereien Istrisch Sprechender umzusiedeln. Die Familien, die vor Karl ihr Auskommen gehabt hatten, empfanden – so das nüchterne Urteil eines Historikers – die Belastungen nur deshalb als ärgerlich, weil sie sich, anders als die untertänigen Franken, noch nicht an sie gewöhnt hatten. Der Herrscher zwischen Drau und Save, Liudewit, führte Beschwerde über das „grausame“ und „übermütige“ Verhalten des Präfekten Cadolah und begann, als Kaiser Ludwig d. F. nicht reagierte, unterstützt von dem Metropoliten in Grado Ab-

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wehr. 148 Den „Aufstand“ zwischen 819 und 823 schlugen „die Franken“, das heißt Bewaffnete aus Italien, Sachsen, Franken und anderswo, nieder und zerstörten „ganze Landstriche“ und damit Lebensgrundlagen und Leben. 149 In vorausschauender Abwehr zerstörten slawische Bewaffnete den wiedererrichteten Salzburger Vorposten „Maximilianzelle“ 820 erneut. In einer Geschichte aus anderer Zeit und anderer Region kamen Kirchenmänner zu Menschen, First Peoples, die bereits gewaltsam vertrieben worden waren. Sie schlugen den Missionaren vor, über den Mississippi zurückzukehren und die dort Lebenden „Weißen“ zu christlichem Verhalten zu bekehren. Sie würden dies beobachten und sie, nach Erfolg, gern unter sich wirken lassen. Die Menschen in Kärnten und Pannonien konnten die Kirchenmänner nicht zurückschicken. Die Regierungsmaschinerie zeigte an der Peripherie ihr „hässlichstes Gesicht“. Karl und Söhne verhielten sich wie der gottlose biblische König (1. Samuel 8,11–18): „Das wird des Königs Recht sein, der über euch herrschen wird: Eure Söhne wird er nehmen, […] dass sie vor seinem Wagen herlaufen; […] dass sie ihm seinen Acker bearbeiten und seine Ernte einsammeln und dass sie seine Kriegswaffen machen und was zu seinen Wagen gehört. Eure Töchter aber wird er nehmen, dass sie Salben bereiten, kochen und backen. Eure besten Äcker und Weinberge und Ölgärten wird er nehmen und seinen Großen geben. Dazu von euren Kornfeldern und Weinbergen wird er den Zehnten nehmen und seinen Kämmerern und Großen geben. Und eure Knechte und Mägde und eure besten Rinder und eure Esel wird er nehmen und in seinen Dienst stellen. Von euren Herden wird er den Zehnten nehmen, und ihr müsst seine Knechte sein.“ 150

Arns Neffe und Nachfolger Adalram (h. 821–836) wählte gegenüber Pannonier*innen ein diplomatisches Vorgehen. Er erlernte, so Berichte, die slawische Sprache; allerdings hatten die Annektierten die

Kosten seiner Besuchsreisen zu zahlen. Gegen Juden hingegen verkündete er Gewalt: Er ließ Mönche eine Abschrift des Augustinus zugeschriebenen Traktates gegen Juden, Heiden und Arianer herstellen und im Kloster Mattsee übersetzten Mönche das iberische Isidortraktat De fide catholica contra Judaeos ins Bayerische. 151 Mit Adalram arbeitete in Elitenkooperation der Herrscher in Westpannonien, Priwina, zusammen. Als er von seinem Sitz Nitra (heutige Slowakei) mit Sohn Chezil/Kozel vor einem bedrohlichen mährischen Nachbarn 833 zum karolingischen Präfekten floh, ließ dieser ihn auf Befehl des Königs in der Martinskirche in Traismauer taufen. 152 Priwina unterhielt Kontakte zu bulgarischen Herrschern, dem kroatischen Ratimir und dem Grafen von Carniola. König Ludwig, der ihm die Menschen westslawischer Dialekte an der Zala nahe dem Plattensee überließ, plante Priwinas HB als Pufferzone gegen östlich benachbarte Familien. Doch waren, wie oft, innerfamiliäre Bedrohungen größer. Als „fränkisch“ bezeichnete Familienmitglieder und genealogiae-Adlige, die ethnisches Etikettieren nicht kannten, befehdeten „eigene“ Könige und paktierten Grenz-überschreitend mit Nachbarfamilien, die attraktivere Konditionen boten. 153 Salzburgs EB Liupram (h. 836–859) entsandte Mönche und Bauhandwerker, um Blatnohrad/Mosapurc/Zalavár als Priwinas Hauptstadt auszustatten; die Kirche wurde Adrian (Nikomedia/İzmit, Anatolien) 154 geweiht, biblisches Vorbild war Hiram, König in Tyrus. Er „sandte Boten zu [König] David und Zedernbäume und Zimmerleute und Steinmetzen, dass sie David ein Haus bauten“ (2. Samuel 5,11) und ebenso für Solomon (2. Chroniken 2.1–16). Die Bauleute in Blatnohrad besaßen Kenntnisse konstantinopolitanischer Prozesse, verwendeten rheinländisches Glas-Rohmaterial und Farben aus fernen Kulturen. 155 In den folgenden

Der Metropolit hatte Liudewits Christianisierungsstrategie unterstützt; bei den Auseinandersetzungen mögen Konkurrenzen mit benachbarten Mächtigen eine Rolle gespielt haben. 149 Der ungarische Herrscher Coloman, der 1105 Dalmatien annektierte, respektierte lokale Verwaltung und Bräuche. 150 Barbero, Karl, 209–217, Zitat 216; Epperlein, Leben am Hofe, 28–56; Florin Curta, Southeastern Europe in the Middle Ages, 500–1250, Cambridge 2006, 135–137. In der „Geschichte der späten Han“ (Fan Ye, 5. Jahrhundert) wurden schlechte Kaiser mit Selbstverständlichkeit durch bessere ersetzt. 151 Adolf Altmann, Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg. Von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart, hg. und ergänzt von Günter Fellner und Helga Embacher, Salzburg 1990 (1. Aufl. 2 Bde., 1913, 1930). 152 833 entstand ein oft als Großmährisches Reich bezeichneter HB, der um 900 endete. Arnulf führte Verwüstungsfeldzüge von Bayern aus, Magyaren-Trupps drangen von Osten ein. 153 Štih u. a., Slowenische Geschichte, 51–53. 154 Römischer Offizier, lt. Überlieferung Christ, 306 qualvoll hingerichtet, später als Märtyrer verehrt. 155 Solomon benötigte 70.000 Lastträger, 80.000 Steinhauer, 3600 Aufseher und „einen tüchtigen Mann, der mit Gold, Silber, Kupfer, Eisen, rotem 148

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Jahren entstanden zahlreiche weitere Gotteshäuser, die dem Erwerb umliegender Güter und Weingärten dienten. Über diese „Eigenkirchen“ und Priester konnte der jeweilige Herr verfügen wie über Meierhöfe und Vögte. Ob Handwerker*innen freiwillig oder als Unfreie kamen, ob mit oder ohne Familie, ist nicht bekannt; Frondienste waren Aufgabe lokal Getaufter. Sprachen die entsandten Mönche die lokale Variante des Westslawischen? Gab es, wo nötig, Übersetzer und Vermittler? 156 Für die EB zahlte sich das Unternehmen aus, denn Kaiser Ludwig II. honorierte es durch „reiche Schenkungen“. Einem Teil der Annektierten bot sich unerwartet eine anderschristliche Alternative. Kaiser Michael in Konstantinopel (h. 842–867) entsandte die Brüder Kyrill und Method, Philosoph und Abt, in rus-ländische und balkanische Gebiete. Wie Wulfila im 4. Jahrhundert für das Gotische, mussten sie die Liturgie von der Bindung an das Griechische bzw. Lateinische lösen. Sie schufen, vom Südslawischen ausgehend, ein „glagolitisches“, später zum Kyrillischen entwickeltes Alphabet. Auf die intendierte Volksnähe reagierten Rom-Kleriker wütend: Nur Hebräisch, Griechisch und Lateinisch seien „heilige Sprachen“. Doch stimmte der Papst der volkssprachlichen Bekehrung zu. 157 Als Method sich nach Pannonien und Mähren wandte, begrüßte Kozel (h. 860–~875) seine Ankunft. Ein Wechsel zur Griechischen Kirche würde ihn von der Salzburg-bayerischen Hegemonie befreien. Deren Kirchen-Hierarchen setzten jedoch, ohne sich um Papst oder Patriarch zu kümmern, Method 871 gefangen. Bei dem Verhör schlug ihn der Bischof in Passau mit der Peitsche und EB Adalwin (h. 859–873), der in der Region die Menschen der Stadt Steinamanger (Sabaria) und mehrerer Güter besaß, schrieb für den König die verfälschende Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Er listete die Kosten für die vorangegangene Bekehrung ohne Erwähnung von Zehnteinnahmen,

Pfründen für entsandte Priester, Besitz an Kirchen auf. Der König ließ Method verurteilen und erst nach dreijähriger Haft ordnete der Papst seine Freisetzung an. Er wurde Erzbischof in Sirmium an der Save, aber nach seinem Tod ließ der lateinkirchliche Bischof in Neutra, Wiching, seine Schüler gefangen setzen oder vertreiben und, laut Berichten, einige über Venedig in die Sklaverei verkaufen. 158 Weit folgenreicher wurde für Salzburger und fränkische Herrscher das Vordringen einer weiteren Identifikationsgruppe. In deren romantischer Ursprungslegende verfolgten Zwillingsbrüder eine wunderbare Hirschkuh, fanden statt ihrer zwei schöne Frauen und heirateten sie. Ihre Kinder wurden die Hunnen und die Magyaren. Historisch genauer lässt sich die Ausgangsregion der Magyaren als Gebiet östlich des Urals, die Wanderungsursache als Klimaveränderung fassen. 159 Nach Sprachvermischung mit iranisch- und turk-sprachigen Kulturgruppen entstand ein onogurisch-bulgarischer Herrschaftsbereich aus – so Zählung und Er-zählung – zwölf Gruppen. Einige von ihnen sowie vermutlich konvertierte Chasaren und städtisch-jüdische Menschen zogen, als die Gruppe der Petchenegen sie bedrohten, westwärts an den Karpatenbogen (Abb. 6.7). 160 Die magyarischen Bewaffneten, die mit Ostrom Handel trieben und deren Herrscher sich in oströmische Seidengewänder kleideten, drangen nicht aggressiv ein, sondern König Arnulf (~850–899) rief sie, denn er benötigte Hilfe gegen die Herrscher von Mähren, mit denen er über Zehntzahlungen stritt, sowie gegen König Berengar I. in Langobardia (ab 915 Kaiser), mit dem er um die Herrschaft stritt. Der Herrscher in Mähren Svatopluk suchte, militärisch gesprochen, den Spieß umzudrehen und hoffte mit den Heranziehenden gemeinsame Sache gegen Arnulf machen zu können. Doch die herrschende Árpáden-Familie verfolgte eigene Interessen und unternahm Beutezüge, „Ungarnstürme“,

Purpur, Scharlach und blauem Purpur arbeiten kann und der Bildwerk zu schnitzen versteht zusammen mit den Meistern, die bei mir in Juda und Jerusalem sind“. 156 Dopsch, „Karolinger“, 1.1:175–187, vermutete fehlende Sprachkenntnisse. 157 Zur Schaffung von Schriftsprachen Ian Wood, The Missionary Life: Saints and the Evangelisation of Europe, 400–1050, New York 2001, 174, 257–258. 158 Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich: Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit, Wien 1995; Francis Dvornik, Byzantine Missions among the Slavs. SS. Constantine-Cyril and Methodius, New Brunswick 1970, 73–193; Wood, Missionary Life, 169–175. Zu machtpolitischen Fragen C. Hannick, „Die Byzantinischen Missionen“, in: H. Frohnes et al. (Hg.), Kirchengeschichte als Missionsgeschichte, Bd. 2.1, München 1978, 279–359. 159 Anatoly M. Khazanov, „Pastoral Nomadic Migrations and Conquests“, in: Kedar und Wiesner-Hanks, Expanding Webs, 359–382. 160 Die bulgarisch-sprachige Gruppe siedelte seit dem 8. Jahrhundert von der oberen Wolga bis zur unteren Donau als Wolga-, Onogur- und DonauBulgaren.

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bis an den Wien-Fluss und ins Bayerische. Die etwa hundert Jahre früher in „Frankenstürmen“ beutesuchend von Westen Gekommenen wehrten sich, doch endete ihr Kriegszug 907 vermutlich bei Pressburg/Bratislava in vernichtender Niederlage. Unter den toten Würden- und Schwertträgern befanden sich die streitbaren Bischöfe von Salzburg Theotmar (Dietmar), Freising und Säben. Die soeben vom König als Alliierte hofierten Magyaren waren seither für lateineuropäische Narratoren Urheber von Gräueltaten. 161 Der kostenträchtige, verlorene Krieg entzweite kirchliche und weltliche Magnaten. Die Kleriker weigerten sich, finanziell beizutragen, und als Hz Arnulf (Bayern, h. 907–927) im Gegenzug Kirchenbesitz besteuerte, benannten sie, Herrscher über Erinnerungsdiskurse, ihn als „den Bösen“. Der Herzog bekriegte 911 den gewählten ZWHKönig (Konrad I.), verlor und floh zu den Árpáden. Ein ZWH-königlicher Sohn und Schwiegersohn riefen magyarische Heerführer, um (Schwieger-) Vater Otto I. zu bekriegen. Doch Otto besiegte das magyarische Heer 955 in einer Schlacht bei Augsburg oder „auf dem Lechfeld“ vernichtend. 162 Die Verlierer ließen sich, ähnlich den Annales Regni Francorum, eine verherrlichende Gesta Hungarorum schreiben: Im waldigen Hügelland westlich des Karpatenbogens (Transsylvanien) errichteten sieben Anführer sieben irdene Burgen (dt. Siebenbürgen).

Realiter siedelten dort Ackerbau-treibende Teile des Verbandes und, später, muslimische Baschkiren (Baschqort) aus dem unteren Wolgagebiet. 163 Die überlebenden Militärs gesellten sich ihnen zu. In der „ungarischen“ Ebene sprach etwa die Hälfte der Bevölkerung von 600.000 Magyarisch. 164 Wenig später legten Géza und Otto I. die Grenze zwischen ihren Herrschaften dauerhaft fest (973). 165 In Salzburg plante Friedrich I., EB aus bayerischer Magnaten-Familie, „Mission“, doch misstraute der Kaiser den Salzburger und Passauer Klerikern und ordnete das neue Bistum Prag dem Mainzer EB zu (bis 1341, ab 1344 Erzbistum). Die árpádische Elite konsolidierte die Landwirtschaft und das Finanz- und Glaubenssystem und István I. (Stephan, 997–1038), 166 seinerseits misstrauisch gegenüber salzburgischen und ottonischen Begehrlichkeiten, wandte sich an den Papst. Er ließ sich seine Position als König bestätigen – aus päpstlicher Sicht: verleihen – und errichtete seine eigene Kirche-mit-Grundherrschaft. Ökonomisch weitsichtig verheiratete er seine Schwester mit dem Dogen von Venedig. Die so generierte Route Ungarn-Pettau-Adria wurde durch regen Schlachtviehhandel für die dort ansässigen Salzburger Untertanen einkommensgenerierend. Diese eigene Institution Kirche beendete das Vordringen Passauer Kleriker nach Ungarn und bis nach Bulgarien.

6.9 Besitzverhältnisse und Konsolidierung in der Kirchenprovinz Salzburg Alle Erzbischöfe, bellator und orator in einer Person, wanderten bis zum Ende des 14. Jahrhunderts aus dem Westen zu. Ihnen unterstanden neben der Erzdiözese die Diözesen Passau (bis Wien), Regensburg, Freising und Brixen. Sie „lukrierten“, wie man Österreichisch sagt, das entfernte Zillertal (Tirol), südliche Gebiete bis zur Drau/Drava und östliche

bis an den Plattensee (Balaton). Nach Süden zum EB Aquileia legte der Kaiser 811 die Drau als Grenze fest. 167 Angesichts der bedrohlichen Herrscher-Familienstreite und des Finanzbedarfs der Könige und Thronaspiranten hatte bereits EB Theotmar ein Königs-Privileg, das Besitz- samt Bergbaurechten um-

Der oströmische Kaiser Leo VI. (h. 886–912) rief Magyaren zur Hilfe gegen Bulgaren. Kontler, History of Hungary, 37–66. Auf dem Feld am Lech-Fluss hatten magyarische leichtbewaffnete und bewegliche („hinterhältige“) Reiter 910 die schwerbewaffneten und wenig beweglichen („gradlinigen“) Truppen Ludwigs II. vernichtend besiegt und Teile Augsburgs verwüstet. 163 Brian A. Catlos, Muslims of Medieval Latin Christendom, c. 1050–1614, Cambridge 2014, 229–243. 164 Simon de Kéza [1272–1290], Gesta Hungarorum – The Deeds of the Hungarians, hg. und übers. von László Veszprémy und Frank Schaer, Budapest 1999; Kontler, History of Hungary, 3–50. 165 Ein „Verwüstungskrieg“ Kaiser Konrads II. 1030 gegen die ungarische Herrschaft endete mit der Vernichtung seines Heeres. 166 Als „der Große“ bezeichnet und im Rahmen des weltlich-kirchlichen Machtkombinats 1083 heiliggesprochen. 167 Freund, Agilolfinger, 195–120; Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich, 193–212, vergleichend zu den Schenkungslisten. Siehe auch Dopsch, „Karolinger“, 1.1:157–228. 161

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fasste, fälschen und EB Friedrich I. 977 eine gefälschte Bestätigung hinzufügen lassen. Ein weiterer EB fälschte als Ost-Grenz-wertigen Einschub den Mandling-Pass. 168 Für ihre „Treue“ zu Gewinnern im Streit um die Königsposition erhielten die EB Besitz-mit-Menschen in Straßgang bei Gradec/Graz (slaw. kleine Stadt) und bei Eisengrätzheim sowie „Güter“ – also Menschen – an der Lassnitz. Vermutlich unwissend um die Fälschungen bestätigte Kaiser Heinrich III. 1051 den Besitz in einer ersten echten Urkunde. Sie enthielt eine Abtei in Mosapurc-Zalavár und eine Kirche in Durnawa. Dass diese der Árpáden-Familie gehörten, störte weder Kaiser noch EB. 169 EB Friedrich hatte 987 weltliche Verwaltung und Domkapitel von dem monastischen Zweig St. Peter getrennt und behielt dabei die Mehrzahl der Unterhaltspflichtigen. Er verringerte die außerklösterlichen Pfarraufgaben der Mönche, doch übernahmen sie und die Erentrudis-Nonnen Aufgaben in einer Fläche, die sich je etwa 300 km ost- und westwärts und je etwa 150 km nord- und südwärts erstreckte. Entsandte Nonnen richteten die Frauenklöster Göß (Leoben im Murtal) 1004, Suanapurc (nahe Brixen) nach 1022, Gurk (Kärnten) 1043 und andere ein. Die Migration mögen manche als peregrinatio erlebt haben. Erreichten neue Zellen und Klöster die Selbstversorgung nicht, wurden sie zu Meierhöfen abgestuft, erreichten sie wirtschaftliche Festigung, suchten manche Filialleiter Unabhängigkeit von der Zentrale. Wie alle Kleriker besaßen die EB Immunität gegenüber Eingriffen königlicher Amtsträger und mussten deshalb als Mittlerebene Vögte (von lat. ad-vocatus) für die Steuereinziehung, militärische Aufgebote und Vertretung vor weltlicher Gerichtsbarkeit einsetzen. Diese und ihre Untervögte sowie Grafen und Richter verfolgten eigene Familien-getriebene Bereicherungsstrategien. Auf den Schultern der Lebenseigenen lasteten viele Mächtige. Die Herzöge im östlichen Teil der Kirchenprovinz verlagerten im Zuge weiterer Annexionen ihre Residenzen von Melk über Gars und Kamp donauabwärts nach Klosterneuburg (gegr. 1114) am Rande Pannoniens und schließlich 1145 in den kleinen

Grenzort am Wien-(wenia)-Fluss – Überrest des einst großen Vindobonum. Für Ansässige bedeuteten neue Residenzen steigenden Bedarf an land- und handwerklichen Produkten, mehr Fronarbeit, verbesserte Verkehrsanbindungen. Im Westen gliederte König Otto II. die „Bayerische Kirche“, mit Ausnahme des Bistums Augsburg Teil der Kirchenprovinz, in seine Kirche ein und der Königsnähe halber ließen die EB sich in der Residenzstadt Regensburg, einer der reichsten Städte des Herrschaftsraums mit steinerner Donaubrücke, einen Hof, später erweitert zu Palast, errichten. Die Immobilie, zu der auch Weingärten gehörten, verpachteten sie zeitweise gegen drei Pfund Pfeffer jährlich. 170 Für Aspiranten auf die EB-Position war strategische Vernetzung wichtig und sie blieben Teil ihrer Genealogie-Familien. Nur adelige Geburt garantierte Mitspracherecht in Politik und berechtigte zu Besitz von und Versorgung durch Unfreie. Verheiratete Männer, die das Amt übernahmen, mussten ihre Verbindung ruhen lassen. Fragten sie ihre Frau? Sie versorgte die Kinder, verwaltete den Besitz oder entschied sich für ein Leben in einem Damenstift. EB Odalbert II. (gest. 935) hatte seiner Frau Rihini aus familiären oder politischen Gründen die Wirtschaftszelle Gars samt achtzehn Kirchen und Höfen mit menschlichem Zubehör sowie den Drittelzehnt der Hörigen von neun weiteren Kirchen zu überlassen. Mit über hundert Tauschgeschäften betrieb er eine für das Erzbistum erfolgreiche, für umgetauschte Menschen vielleicht fragwürdige Wirtschaftspolitik. Andere Kleriker entfremdeten Diözesanbesitz, um Söhne oder Vasallen und Kriegsgenossen auszustatten. Hohe Kleriker waren Würdenträger und sahen sich so, Laien war dies vermutlich nicht immer ersichtlich. Als EB Friedrich I. König Otto I. 969/70 nach Rom begleitete, demonstrierte er seine Position mit siebzig Panzerreitern sowie Knechten und Bediensteten. Die Ausrüstung eines Reiters kostete schon um 800 den Gegenwert von zwei bis drei Sklav*innen oder 18 bis 20 Kühen. Erzbischöfe waren hochmobil: Thietmar II. (h. 1025/26–1041) reiste nach Rom zur Kaiserkrönung, nach Regensburg, zu Hoftagen und Pfalzen, nach Augsburg und

Heinrich Koller, „König Arnolfs großes Privileg für Salzburg“, MGSL 109 (1969), 65–75. Dopsch, „Hochmittelalter“, 1.1:230–232; und ders., „900 Jahre Hohensalzburg“, in: Salzburg in der europäischen Geschichte, Salzburg 1977, 63–88, hier 66. 170 Friederike Zaisberger, „Der Salzburger Hof in Regensburg“, MGSL 122 (1982), 125–240. 168

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zum Krieg in Böhmen. 171 An Festtagen trugen kirchenrömische EB über dem – reichsrömischer Oberschichtenkleidung nachempfundenen – Messgewand das Pallium, das stadtrömische Bischöfe von reichsrömischen Beamten übernommen hatten. Dies franchise-Markenzeichen mussten sie seit dem 11. Jahrhundert gegen „Ehrungen“ genannte Gebühren und unter hohen Reisekosten persönlich vom Papst abholen. Vor der Übergabe wurde die Wollstola auf das Grab Petri gelegt und galt danach als – magisch? – wirkkräftig. Thietmar erhandelte sich Privilegien: Bei öffentlichen Auftritten durfte er sich auf rotgeziertem Pferd und mit vorangetragenem Kreuz in Szene setzen. Er erhielt das Recht, in Eilfällen ohne Konsultation des Papstes oder Anwesenheit eines Legaten zu entscheiden und wurde damit de-facto Legat. Seine Nachfolger suchten das Recht erblich zu machen (legatus natus) und handelten um die Anzahl der Tage, an denen sie sich mit Pallium zeigen durften. EB Gebhard (h. 1060–1088) begann eine Dienstmannenschaft aus waffentragenden Weltlichen aufzubauen und erhöhte für deren Finanzierung den Slawenzehnt. Er war vermutlich stolz auf ein Geschenk des östlichen Kaiserhauses, einen langen, goldbestickten und edelsteinbesetzten Schal, loros, für Zeremonien. Sein Amt verdankte er der Kaiserin-West, Agnes, wechselte aber zu deren gewalttätigem Kontrahenten EB Anno (Köln) und dieser übergab ihm zum Dank das Frauenkloster Chiemsee samt Nonnen und Kunsthandwerkerinnen. Er machte sich in einem Ausmaß verhasst, dass er neun Jahre lang auf der Flucht amtieren musste. Für die Menschen bedeutete Gebhards sture propäpstlichantikaiserliche Positionierung „Heimsuchungen“ – eine eigenartige Sprachlichkeit für Verwüstung und Tod sowie hohe Lasten für die Überlebenden, die kein Heim mehr hatten. All dies mussten Priester so aufbereiten, dass sie es ihren Gemeinden mitteilten konnten. Oder verschwiegen sie es? 172 Anstelle des EBa. d. F. setzte der König-Kaiser 1085 seinerseits einen EB – in anderer Perspektive einen Gegen-EB – ein. Gebhards Vogt (Familie Spanheim) ließ den Neuen, Berthold (Familie

Moosburg), nicht in die Stadt. Dieser kaufte Dienstmannen durch Versprechen von Kirchengütern und Bewaffnete beider Seiten verwüsteten ländliche und städtische Behausungen. Nach Gebhards Tod verschlimmerte sich die Lage der Menschen weiter. Zeitweise abgewanderte oder geflohene Domherren wählten erst zwei Jahre später Thiemo (h. 1090– 1098) aus bayerisch-gräflicher Familie. Er war gelernter und begabter Kunsthandwerker in Holzschnitzerei, Metallarbeit, Bildhauerei und Malerei. Verehrer schrieben ihm die Erfindung des für „Schöne Madonnen“ verwendeten „Steingusses“ aus Kalk und Stein- oder Marmormehl zu. 173 Vor EBkaiserlich floh EBpäpstlich und damit begann Thiemos Lebensdrama: Er traf mit seinen Bewaffneten in Friesach auf die des Gegners, verlor und wurde gefangen genommen. Chronisten schilderten die Brutalität der Adelskleriker: Man führte ihn vor die von seinem Vorgänger Gebhard erbaute Burg zu Friesach, band ihn, um die Uebergabe derselben zu erzwingen, an eine Wurfmaschine und stellte ihn den Geschossen der Belagerten bloß. Aber diese erkannten ihren Herrn und wußten ihn zu schonen. Nun führte man zwei seiner gefangenen Verwandten vor und drohte sie zu tödten, wenn er nicht die Festung übergebe. Er bestand auch diese Prüfung und die Gefangenen wurden geköpft. In strengen Gewahrsam gebracht, wurde er durch einen Laienbruder, der für ihn Geld sammelte und damit den Wächter bestach, gerettet und floh zu seinem Freunde, dem Bischof von Constanz.

Er schloss sich der Nachhut des ersten Kreuzkrieges an und kam 1101 um. Erst anderthalb Jahrhunderte später würde EB Eberhard II. die Verwicklung der Kirchenprovinz in die Kriege beenden. 174 Um Positionen als Vögte oder Dienstmannen zu erhalten, wanderten adlige Familien aus Bayern, Schwaben und Franken in betterment migration zu. Die einträgliche Hauptvogtei eignete sich die Siegharding-Familie aus dem Rhein-Neckar-Gebiet an und die Ottonen-Kaiser belehnten sie aus verkehrsund besiedlungspolitischen Gründen mit Landmit-Menschen in der Grenz-Region. Die Familien Spanheim aus Rheinfranken und Andechs-Meran aus Bayern brachten bis zum späten 12. Jahrhun-

Dopsch, „Hochmittelalter“, 1.1:201, 229–230. Dopsch, „Hochmittelalter“, 1.1:231–243, mit zahlreichen zusätzlichen Details; und ders., „Gebhard (1060–1088): Weder Gregorianer noch Reformer“, Salzburg Archiv 24 (1998), 41–62. 173 Viele der ihm zugeschriebenen Arbeiten datieren aus späterer Zeit. 174 Allgemeine Deutsche Biographie 37 (1894), 760–761, https://de.wikisource.org/wiki/ADB:Thiemo (27. Juli 2020), Zitat ebd. Eine Passio sancti Thiemonis Iuvavensis archiepiscopi (Mitte 12. Jahrhundert) schilderte dramatische, aber nicht belegte Leiden. 171

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dert den größten Land-Menschen-Besitz zusammen. 175 Zu den Adligen – Versorgungsfälle aus Sicht der Hörigen – zählten zu unterschiedlichen Zeiten und neben vielen anderen die Grafen in Lechsgemünd und in Lebenau, die Hochfreien am Haunsberg, die Familien Goldegg und Frundsberg. Fehden, fehlende männliche Erben und Kriegstod ließen viele ihrer „Güter“ Zu-Fall für die EB werden. Den Tod des letzten männlichen Sprosses der Familie Siegharding, Seitenlinie Peilstein, 1218/ 1219 und das Aussterben der Grafen-Familie in Lebenau, Seitenzweig der Spanheimer, 1229 nutzte EB Eberhard II., um durch Entvogtung die Rechte an sich zu ziehen. Die adligen Machthändel waren für ländliche und städtische Menschen oft tödlich, der Ritter-Dichter Oswald (Wolkenstein) schrieb zu späterer Zeit, dass er und die Seinen „handwerch und hütten und ander ir gezelt“ zu „ainer aschen“ machten. 176 Mit fähigen ansässigen, unfreien und zugewanderten, freien Ministerialen systematisierten die EB im 11. Jahrhundert ihre Finanz- und TerritorienVerwaltung: Hof-Staat mit Kämmerer, MarstallerMarschall (ahd. für „Pferd“ und „Diener“), Truchsessen (ahd. Vorgesetzter des Trosses, der fürstlichen Tafel), Mundschenken und anderen. Deren „Tafeldienste“ waren gegenüber Pflugdiensten der Hörigen wirtschaftlich nebensächlich, doch stellten höfische Literaten sie in Erzählungen und Liedern an erste Stelle. Der Apparat richtete eine umfassende Pfarrorganisation ein sowie Vizedomämter in

Friesach für die Kärntner und in Leibnitz für die steirischen Besitzungen. 177 Die Ansässigen, innerhalb der Kirche doppelt abhängig, zahlten neben EB-Abgaben auch an die Vizedome für Mautner und Kastner, Amtmann und Schreiber, Keller- und Küchenmeister, Knechte und andere. Im 13. Jahrhundert fasste der Apparat die ländlichen Siedlungen zu Land- oder Pfleg-Gemeinden zusammen und stellten Pfleger oder Burgpfleger, oft aus lokalem Landadel, über sie. Sie sollten „Schutz und Schirm“ bieten, entschieden über todeswürdige Verbrechen (Mord, Diebstahl, Notzucht) und beriefen das jährliche Landtaiding (Thing), die Ständeversammlung, ein. Die untere Rechtsprechung durch Urbarrichter regelte Besitzverhältnisse und -beziehungen. Die Verwaltungs- und MenschenEinheit, „Gericht“ genannt, hatte für Kriege Bewaffnete aufzubieten. 178 EB Eberhard II. (h. 1200–1246) konsolidierte den seit Virgil in fünf Jahrhunderten durch Schenkungen, Kauf und Verkauf, Verpfändungen und Austausch akkumulierten Streubesitz: Er wandelte das kleinteilige und unvollständige Mosaik zu „Territorium“, das weiterhin aus kleinräumlich differenzierten ländlichen und wenigen städtischen Landschaften bestand. Der nachfolgende Philipp (Spanheim) als „Erwählter“ und Administrator (h. 1247– 1256) führte die Expansion militärisch fort, gewann Land und verlor alle Gewinne wieder (s. Kap. 8.2, 9.7).

6.10 Herrscher und Territorien bis zum 14. Jahrhundert: Staufer, Přemysl, Habsburg Die polyglotte Kirchenprovinz war Teil des HB Jütland-bis-Sizilien. Auf dessen oberster Ebene lassen sich Adelsmobilität und Territorien-Formbarkeit – abgetrennt von Leben und Interessen der Unteren – am Beispiel des Kaiserpaars Heinrich VI. (1165– 1197) und Konstanze (1154–1198) und ihres Sohnes Friedrich (II., 1194–1250) illustrieren: Konstan-

ze, Tochter von Roger II., hatte ihre Position gegen den besitzsüchtigen Papst (Familie Conti) erkämpfen müssen. Eine arrangierte Heirat verband 1186 die normannische Sizilianerin und den in Nijmegen am Niederrhein geborenen Schwaben (Burg Hohenstaufen) Heinrich. Nach beider Tod eignete sich der Papst als Vormund des dreijährigen Sohns

Im Rahmen eines Kriegszuges kam 1035 ein Ritter aus Sponheim, Rheinfranken, in den Südosten. Er und die Erbtochter Lavants, Richgard Siegharding, heirateten und Mitte des 12. Jahrhunderts hatte die Familie Besitz von Istrien bis Venedig und Verona, von Tirol über Ostbayern bis Kärnten. 176 Franz Esterl, Chronik des adligen Benediktiner-Frauen-Stiftes Nonnberg in Salzburg […] bis 1840, Salzburg 1841, 25–26; Dopsch, „Hochmittelalter“, 1.1: 284–296; Hans Moser, Wie eine Feder leicht. Oswald von Wolkenstein: Lieder und Nachdichtungen, Innsbruck 2012, 160–161. 177 Erich Marx, „Das Salzburger Vizedomamt Leibnitz“, MGSL 119 (1979), 1–142. 178 Ernst Bruckmüller, „Täler und Gerichte“, in: Peter Feldbauer u. a., Herrschaftsstruktur und Ständebildung, 3 Bde., Wien 1973, 3:11–51. 175

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Friedrich Teile des Reichsgutes an und nannte den Raub „Rekuperation“. 179 Adels-Familien suchten sich den Kaiserthron anzueignen. Als Friedrich die Position als Achtzehnjähriger 1212 antrat, lag seine arabisch-, lateinisch- und griechisch-sprachige Kanzlei, deren Effizienz aus der Zeit oströmischer und muslimischer Herrschaft (bis zum 9./10. Jh. und 1061) stammte, in dem vielkulturellen und trireligiösen Palermo. Er gründete in Neapel eine Universität und förderte in Salerno die europaweit führende Schola Medica, an der Männer und Frauen jüdischen und muslimischen Glaubens lehrten. Seine Gattin Konstanze (Aragon, ~1184–1222) fügte dem Hof iberische Impulse und Netzwerke hinzu. 180 Nach Friedrichs Tod 1250 konkurrierten Großmagnaten-Familien – darunter regierende aus Holland, Kastilien und Cornwall – um den Thron mit Heeren, in denen muslimisch-arabische Bogenschützen neben christlich-deutschen Rittern und stadt-italienischen Söldnern kämpften. Aus dem Überangebot von Bewerbern designierten die Kurfürsten in, wie sie glaubten, strategischer FamilienPositionierung Könige aus Kastilien und Cornwall auf Zeit. Für Herrschaftseinheit (polity) hätten sie sich einigen müssen. In dem Prozess erhielt das Regnum Francorum Orientalium Heiligsprechung, Sacrum Imperium, und Rom-Genealogie, Sacrum Romanum Imperium, Heiliges Römisches Reich (HRR). Papst Hadrian IV. (geb. in England) wollte es als sein Benefizium an den Kaiser sehen, dieser seine Herrschaft als analog zum Heiligen Stuhl. Hohe Adlige, die den amtierenden Kaiser, seine Kanzlei oder Hofleute kontaktieren wollten, mussten über deren Routen und kurzfristige Aufenthaltsorte gut informiert sein. Boten erreichten nicht immer ihr Ziel, Ackerbauende mit wenigen Zugtieren sahen deren viele Pferde. 181 EB Eberhard II., auf der Seite Friedrichs als Kaiser in spe, hatte den machtstrebigen Papst Gregor IX. (h. 1227–1241) als „Antichrist“ bezeichnet. Dieser verhinderte durch Exkommunikation ein Begräbnis des EB in geweihter Erde. Auch dies mag unter Gläubigen Fragen aufgeworfen haben, für die es ein Diskussionsforum nicht gab. Nachfolgende EB suchten Distanz zur west-

lichen Herrscher-Familie Wittelsbach und zielten auf Selbstständigkeit. Allerdings zielte die östlich benachbarte Herrscher-Familie Habsburg auf Machtausweitung. EB Friedrich II. (h. 1270–1284) agierte vorsichtig und wirkte an dem Friedensschluss zwischen den Familien Přemysl und Árpád mit. Um seine Konfirmation zu betreiben, musste er nach Rom reisen, wo das Papst-Amt nach fast dreijähriger Sedisvakanz mit Gregor X. wiederbesetzt war. Friedrich samt Entourage blieb zwei Jahre in Rom und reiste von dort nach Lyon, wo Gregor zur Vorbereitung eines weiteren Orientkreuzzuges Konzil halten wollte. In Lyon waren „Ketzer“ aktiv, der dortige EB-Kollege vertrieb sie. Einige der Flüchtlinge erreichten die Kirchenprovinz Salzburg und trafen Gleichgesinnte. EB Friedrich mag nie eine*n „Waldenser*in“ getroffen haben; er hatte Kontakt mit ihren Verfolgern (s. Kap. 9.10). Als der EB seinen Rückweg antrat, herrschte reichsweite Aufregung, denn die Kurfürsten hatten 1273 nicht den einflussreichen König von Böhmen und (seit 1251) Herzog von Österreich, Ottokar II. Přemysl (1232–1278) gewählt, sondern den – wie sie glaubten – wenig bedeutungsvollen und bereits 55 Jahre alten Rudolf Habsburg (1218–1291). Beide Familien hatten eine lange Geschichte. Die Familie Habsburg stammte – so eine mehr als zwei Jahrhunderte später entwickelte Erzählung – von römischen Adligen, dem trojanischen Priamus und dem englischen König Artus ab. Historiker lokalisierten einen „Stammvater“ Lanzelin (gest. 991), der in seiner sehr kleinen Herrschaft im Aargau Freibauern, die sich unter seinen Schutz gestellt hatten, vertreiben ließ. Sie flüchteten in Wälder, fremde Gegenden oder starben Hungers; er setzte Unfreie auf das Land. Sein Sohn Radbot (~985–~1045) führte die Bedrückung fort und ließ eine Burg – in der Erzählung „Habichtsburg“ genannt – bauen. Als die Kinder der Enteigneten versuchten, ihr Erbland wieder in Besitz zu nehmen, ließ er sie niederschlagen und in einem Brüderkrieg zerstörten seine und seines Bruders Bewaffnete den Ort Muri samt Bewohner*innen. Kurz darauf residierte der amtierende König kurz auf der nahen Burg Solothurn und die Bauern zogen dorthin, um „wegen ihrer ungerechten

Durch die sizilianisch-transalpine Eheverbindung lag das Papst-regnum zwischen den Territorien einer Familie. Aziz Ahmad, A History of Islamic Sicily, Edinburgh 1975, 37–96; David Abulafia, Frederick II: A Medieval Emperor, London 1988, 25–53, 144–171; Norman Daniel, The Arabs and Mediaeval Europe, London 21979, 142–168. 181 Riché, Daily Life, 15–23. 179

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.16 Mitteleuropäischer Besitz der Großmagnaten-Familien Habsburg (österreichische, spanische, tirolische Linien), Luxemburg und Wittelsbach im 14. Jh., unterlegt mit dem Einfluss- und Herrschaftsbereich Ottokars II., 1253–1271 Während die Geschichte des mitteleuropäischen Reiches von deutsch-sprachigen Historikern oft als Erfolgsgeschichte beschrieben wurde, sehen Historiker*innen in slawisch-sprachigen Teilen dies anders und in niederländischer Erinnerung begann das „Goldene Zeitalter“ mit der Befreiung von der Familie Habsburg.

Bedrückung Klage zu erheben“, wurden aber „der unbeholfenen Rede“ wegen nicht vor den König gelassen. Radbot heiratete Ita (Idda) aus Lothringen (~955–~1035). Sie erfuhr von seien Untaten und rief zur Sühne Mönche, die in Muri ein Kloster errichteten und 1050 den Bericht über die Brüder und den Stammvater verfassten. 182 Die Familie erwarb Kleinbesitz im nahen Schwaben und diese „Vorlande“ würden im Zuge wandernder Territorien-Namen als „Vorderösterreich“ bezeichnet werden. Sie waren die schmale Basis für großen Ehrgeiz. Die Familie Přemysl, die in Böhmen herrschte und großräumlich agierte, zeigte nach dem Tod des Streiters Friedrich Babenberg 1246 großes Interesse an Österreich, Teil der Kirchenprovinz, und der am-

tierende Ottokar II. heiratete 1251 die weit ältere Margarete Babenberg. 183 Für dünn besiedelte böhmische Regionen warb er Bauern und Handwerker aus dem dicht besiedelten Schwaben an und gewährte Juden Schutz. Aus Schwaben waren überschüssige oder dynamische Kirchen- und Weltadlige in die Kirchenprovinz gewandert. Ottokar suchte Besitzerweiterung gemeinsam mit Abenteurern und Gewinnsüchtigen, die sich einst in Palästina zu einem anfangs vielkulturellen, dann „Deutschen“ Orden zusammengeschlossen hatten. Nach ihrer Vertreibung ließen sich einige der Glaubenskrieger an der Grenze zu Ungarn nieder (s. Kap. 8.2). 184 An den von ihnen und den Fratres miliciae Christi de Livonia (Schwertbrüder) geführten Eroberungszügen

Franz Regis Crauer, Hauptepochen der schweizerischen Geschichte, Luzern 1805, 3–7. Einen fantasievollen Stammbaum erfand der Autor der Chronik von den 95 Herrschaften Ende des 13. Jahrhunderts (Hg. Joseph Seemüller, Hannover 1906). 183 Der ungarische König Béla erhielt Teile der Steiermark, darunter Graz, und musste diese 1260 an Ottokar II. abtreten. 184 Dies führte die durch Errichtung des Erzbistums Magdeburg begonnene Ostchristianisierung fort. 182

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gegen Balten und Pruzzen beteiligte Ottokar sich. Die Fratres hatte im Zuge der Vielstimmigkeit der Lateinkirche 1202 der Zisterzienser-Krieger Theoderich (Treyden, umgekommen 1219 in einer Schlacht) gegründet. Die Soldaten Christi unterwarfen baltische Menschen und errichteten einen Ordens-„Staat“ als militärreligiösen Einnahmebereich. Ottokar erweiterte seine Herrschaft nach Süden bis an die Adria, er förderte Kunst und Wissenschaft. Eine Bitte oder Anordnung des Papstes, während eines Salzburger EB-Schismas zu helfen, interpretierte er als Erteilung der Obervogtei. Den Menschen Kärntens und der Steiermark brachten die darauf folgenden Kämpfe schwere Schäden. „Die Kirche“, das heißt der EB, verhängte über Ottokar Acht und Aberacht und, wie intendiert, brach seine Herrschaft in dieser Region zusammen. Die Thronaspiranten Rudolf und Ottokar begannen unmittelbar nach der Wahl Krieg und ihre Heere trafen am 26. August 1278 in der intensiv feldwirtschaftlich genutzten Ebene der March zwischen Wien und Pressburg/Bratislava aufeinander. Ottokar kam um. 300 Salzburger Reiter – das heißt angesichts der Kosten für die Ausrüstung mehr als 3000 Hufen-Familien – trugen zu Rudolfs Sieg bei. Dies hatte vom EB nicht beabsichtigte Folgen: Rudolf und seine Frau Gertrud (aus Hohenberg, Südwestdeutschland) versorgten ihre Söhne mit Österreich und der Steiermark, später würden Krain und Kärnten an sie kommen. Ihre Familiengeschichte wurde salzburgische: von „Salzburg im Kampf gegen Österreich“ über „mit Österreich gegen Bayern“ zum „Ende selbständiger Salzburger Politik“, so Landeshistoriker H. Dopsch. 185 Für Rudolf erfand ein Franziskaner in Winterthur schnell eine Legende: Rudolf sei einem Priester mit dem „Allerheiligsten“, geweihtem Brot und Wein, begegnet und – in Zisterzienser-Fassung von 1370 – habe diesem ehrfürchtig zur Überquerung eines ungestüm fließenden Flusses sein Pferd überlassen. Anschließend habe ein Einsiedler Rudolf seine Zukunft als Herrscher vorausgesagt. Nach Vater Rudolfs Tod bekriegte Sohn

Albrecht I. den gewählten König, siegte und die Kurfürsten wählten ihn. Er verweigerte seinem Neffen Johann dessen Erbteil, dieser ermordete ihn. Erinnerer nannten den einen „Johann Parricida“ (lat. Vateroder Verwandtenmörder), den anderen jedoch nicht „Albrecht Erbschleicher“. Die Vergabe von Beinamen und Bewertungen ist politisch. Laut einigen Erinnerern standen „die Salzburger“, um 1300 in der östlichen Voralpen- und Alpenregion 700.000 bis 900.000 oder mehr Menschen, treu zu den Habsburgern. Unter ihnen lebten, nach kirchlichen Maßstäben, „Häretiker“. Treue, wenn der Begriff denn überhaupt zu verwenden ist, bedarf der Analyse. 186 In den wiederum folgenden Thronstreitigkeiten wollten sowohl Ludwig Wittelsbach („der Bayer“) als auch Friedrich Habsburg („der Schöne“), Cousins und Freunde, König werden. Wieder stand „Salzburg“ mittendrin oder dazwischen. Der EB stellte sich ebenso kosten- wie, langfristig, gewinnträchtig auf die Seite der Familie Habsburg. Eine Schlacht in Wohngebieten Salzburger Untertanen wurde „feierlich angesagt“ und abgesagt, „die Schwaben“ (EB Friedrichs Bruder Leopold herrschte dort) und „die Österreicher“ verwüsteten Burgen und Dörfer. Eine erneut angesagte Schlacht bei Mühldorf am Inn im September 1322 gewann die Seite Wittelsbach. Etwa 1100 Männer kamen um, darunter zahlreiche „zu Rittern geweihte“ EB-Gefolgsleute, viele aus den slawischen Drau-Save-Gebieten, sowie Passauer, ungarische und kumanische. Bei einer angenommenen Familiengröße von fünf Personen bedeutete dies etwa 4400 Hinterbliebene. 187 Sehr viel später lebende Chronisten konstruierten nostalgisch eine „letzten Ritterschlacht“: edle Männer als Schwert- und Lanzenkämpfer zu Pferd. 188 Die Realität war brutal: Mit langen Stangen und Haken rissen Knechte Ritter vom Reittier und zerschnitten mit sichelartigem Aufsatz Pferden die Knie- oder Hufgelenk-Sehnen. Nach jeder Schlacht sammelten Ansässige in der Nacht und Knechte der Sieger in den folgenden Tagen „Altmaterial“: Kriegshandbücher erläuterten Recycling und lokale Schmiede werden ihre Vorräte ergänzt,

Hans Wagner, Heinz Dopsch und Fritz Koller, „Salzburg im Spätmittelalter“, in: Geschichte Salzburgs, 1.1:437–661, hier 444–486. Die älteren Berechnungen von Colin McEvedy und Richard Jones, Atlas of World Population History, Harmondsworth 1978, 86–91, ergaben höhere Zahlen. 187 Judas T. Zauner, Chronik von Salzburg, 2. Teil, Salzburg 1796, 447–457, sprach von „landesverderblichem“ Thronfolgekrieg und nannte die Entscheidungsschlacht „Kriegstheater“. 188 Ähnlich denkende Erinnerer würden Maximilian I. Habsburg (1459–1519) zum „letzten Ritter“ stilisieren, französische Kollegen François I. (1494– 1547) zum Roi-Chevalier. 185

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manche Hufenbauern auf ihrem kleinen Amboss neue Geräte hergestellt haben. In der Kirchenprovinz folgte eine Finanzkrise, denn der EB musste Kriegskredite tilgen, Gefangene auslösen, Soldauslagen für slawische Ritter erstatten und den Schaden, den die Truppen des Königsin spe beim Durchmarsch verursacht hatten, ersetzen. Aus verpfändeten Burgen mussten alte Besatzungen abziehen, neue einziehen und den Beherrschten bekannt geben, dass nun sie die Abgaben einzögen. Rittertrupps wurden neuen Lokalherrschern vermacht, denen sie „treu dienten“. Wie so oft mischte sich das Sacerdotium, derzeitiger Sitz in Avignon, ein. Der Papst bannte den König, der EB ließ dies verkünden, der gebannte, aber durchaus aktive König schickte Truppen. Sie nahmen auf dem Weg zur Residenzstadt durch Konspiration des Burggrafen die Stadt Tittmoning ein und, um den Salztransport auf der Salzach wieder möglich zu machen, musste der EB sie zurückkaufen. Dies kostete die Untertanen-Familien im Jahr 1327 weitere 5500 Pfund Pfennige. In der Familie Habsburg fehlte eine Familienordnung; die Männer stritten um das Erbe und der König in Ungarn zeigte Interesse an ihrem österreichischen Besitz. Der neue ZWH-König Ludwig IV., Familie Wittelsbach, zog nach Rom-Stadt und ließ sich „vom römischen Volk“, das heißt der Stadtelite, papstfrei zum Kaiser krönen, denn der amtierende Johannes XXII. vertrat im Armutsstreit rigoros die Interessen der reichen Kirche. Nach Ludwigs Tod bei einer Bärenjagd 1346 wählten die Kurfürsten auf Anregung des Papstes Wenceslaus/ Václav, König von Böhmen, aus der dritten der drei großen Herrscher-Familien, Luxemburg, als Karl/ Karel IV. 189 Damit lag der „eingekreiste Kirchenstaat“ Salzburg (H. Dopsch) zwischen den drei Magnaten-Familien. Die Herrschaft der Familie Luxemburg senkte die Bedrohung durch Familie Wittelsbach; die Familie Habsburg war nach der Ermordung Albrechts I. aus der Konkurrenz, aber nicht aus der Nachbarschaft. Als der EB unter der Schuldenlast eine durch die

Stände zustimmungspflichtige Sondersteuer forderte, erklärten die Suffragane ihre Zahlungsunfähigkeit und weltliche wie kirchliche Adlige verweigerten sich. In dieser Zwangslage musste der EB 1328 für die Diözese eine „Landesordnung“ erlassen. Sie fixierte im Wesentlichen gewohntes Recht. Domkapitel/Prälaten und Edelleute sowie Ritter als Individuen und Stadtkorporationen bildeten die drei Stände. 190 Kollektiv galten erstere als „die Landschaft“ (Singular), mit den Städten – Hallein, Laufen, Tittmoning, Radstadt sowie Mühldorf und Gmünd – als „Landstände“. Unfreie waren kein Stand, sie gehörten dem „Gotteshaus“ und hatten für Kriege das subsidium caritativum aufzubringen. Mit Ernennung zum Principatus pontificalis, dem „geistlichen Landesfürsten“, wurde Salzburg-Diözese als Erzbistum bzw. „Land Salzburg“ de iure unabhängig von den Familien Wittelsbach und Habsburg, de facto umfasste die Kirchenprovinz weiterhin Teile von deren Herrschaftsbereichen. 191 Ungerührt von Klimaverschlechterung (seit 1313) und Pest (1348–1350) konzentrierten sich die EB auf den Titel, Archiepiscopus et princeps, „Fürsterzbischof“ (FEB). Der Familie Habsburg half Göttin Fortuna: Die Görzer Grafen-Familie endete in männlicher Linie, Familie Habsburg erbte Kärnten-mit-Kärntner*innen; die letzte Gräfin in Tirol, Margarete, vermachte ihre durch den Brenner wichtigste Pass-Herrschaft Rudolf IV. (h. 1358–1365) Habsburg. 192 Da dieser, Urenkel von Rudolf I., gern Erzherzog werden wollte, ließ er ein Privilegium maius fälschen. Dies bereits von Zeitgenossen als eselhaft bezeichnete „Freiheitsprivileg“ sollte Wander-Familie und Wander-Territorien als „Erblande“ unauflösbar verbinden. Ein späterer Enkel eines Onkels, Friedrich III. Habsburg, würde das Papier 1453 offiziell anerkennen. 193 Erinnerer übernahmen den Begriff. Rudolf IV., verheiratet mit Katharina, Familie Luxemburg, sah sich in ständiger Konkurrenz zu seinem Schwiegervater Kaiser Karl/Karel IV. Dieser schrieb auf Reichsebene das Prozedere der Königswahl 1356 in der „Goldenen Bulle“ (späterer Name) fest, betraute aber Rudolfs Familie nicht mit einer

Georg Modestin, „The Making of a Heretic: Pope John XXII’s Campaign against Louis of Bavaria“, in: Michael D. Bailey und Sean L. Field (Hg.), Late Medieval Heresy: New Perspectives, Woodbridge, Suffolk 2018, 76–95; Dopsch u. a., „Spätmittelalter“, 1.1:472. 190 Zum Stand der Ritter, das heißt der ritterlichen Mannschaft eines Herren: Peter Feldbauer, Herrschaftsstruktur und Ständebildung, 1:168–196; zu Prälaten Helmuth Stradal, „Die Prälaten“, ebd., 3:53–114, bes. 82–85; und Michael Mitterauer, „Ständegliederung und Ländertypen“, ebd., 3:171–179. 191 Landeshistoriker benennen den Erlass der Ordnung als „Geburtsstunde des Landes Salzburg“. 192 Brixen sowie Ziller- und Pustertal blieben Teil des Fürsterzbistums Salzburg. 193 Štih u. a., Slowenische Geschichte, 80–84; Kontler, History of Hungary, 81–82. 189

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Herrscher und Territorien bis zum 14. Jahrhundert: Staufer, Přemysl, Habsburg

Abb. 6.17 Metamorphosen: Varianten Habsburgischen Besitzes, österreichische Linie, 1291, Besitzungen in der Schweiz in ihrer größten Ausdehnung, 1564, 1795, 1815 Der Verfasser, der diese Schullandkarten um 1880 für die Bildung künftiger Generationen erstellte, ahnte nicht, dass es wenige Jahrzehnte später kein Habsburger-Reich mehr geben würde.

Kurfürstenrolle. So suchte Rudolf Wien zur Konkurrenz des geistig-kulturellen Zentrums Prag auszubauen. Dies verursachte Kosten (s. Kap. 8.2). Familie Habsburg hatte zwar 1355 beschlossen, Besitz ohne Teilung „zur gesamten Hand“ zu vererben, doch nach Rudolfs Tod 1365 teilten seine Brüder Albrecht III. und Leopold III. die Herrschaft und damit die Familie in einen albertinischen und einen leopoldinischen Zweig. In nachfolgenden Tei-

lungen entstanden mit den Hauptstädten Wien, Graz und Innsbruck Donauösterreich (Niederösterreich mit Wien und Teilen Oberösterreichs), Innerösterreich (Steiermark, Kärnten und Krain) sowie Tirol. Hinzu kam Vorderösterreich in Schwaben und Elsass. Erst Maximilian I. Habsburg würde die Teile 1493 wieder zusammensetzen und die Familien-, Territorien- und Vielvölker-Geschichte zur Geschichte Mitteleuropas machen. 194

Wolfram, Geburt Mitteleuropas; Karl-Heinz-Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters, 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 22015.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

6.11 Kreuzkriege und Mongolenhorror: Attraktive Levante und Pax mongolica Nachdem sich bulgarische, serbische und kroatische, skandinavische sowie russische und magyarische Herrscher der „Christianisierung“ angeschlossen hatten und nicht mehr Ziel gegen „Heiden“ gerichteter Raubstrategien sein konnten, boten nur Randzonen Optionen: die muslimisch-iberische, keltische und slawische aus jeweiliger HerrscherSicht in Frankreich, England und ZWH. 195 „Randzonen“ waren für Ansässige Mittelpunkt ihres Lebens. Unterbeschäftigten Militärs und machtstrebigen Päpsten galten als reichstes Ziel die seit dem 8. Jahrhundert unter Herrschaft islamischer Sultane stehenden Städte der Levante. Dort war religiöser Übergang graduell und, soweit Gläubige weiterhin christlich glaubten, folgten sie anderen Liturgien als die heranziehenden Lateinkirchler. 196 Papst Urban (geb. in Frankreich, h. 1088–1099) rief 1095 zu „bewaffneter Pilgerfahrt“ (peregrinatio) und seine Glocken läuteten das „Zeitalter Lateinischer Aggression gegen den dār al-Islām“ mit „Grausamkeit und Fanatismus“ ein. 197 „Kreuzzug“ hebt den migratorischen, „Kreuzkrieg“ den aggressiven Aspekt hervor. In selbstgefälliger Wertung „konnte Europa über sich hinausgreifen“, doch wörtlich forderte Urban, die „dreckige Rasse“ im Osten auszurotten. Zudem mag er ein persönliches Ziel gehabt haben: Er war gewählt und hielt Konzil in Clermont, doch amtierte in Rom Clemens III. als kaiserlicher Papst (geb. in Italien, h. 1084–1100). Grund für den Kriegsruf war, so eine Überlieferung, die Verringerung der Übervölkerung Frankreichs; Anlass bot ein Ansuchen des oströmischen Kaisers Alexios I. Komnenos um Hilfe gegen schritt- oder truppweise vordringende Seldschuken. Zentral war, dass dem Papst als einzigem Herrscher ohne Heer die Bewaffneten kostenfrei unterstehen würden und dass ein Außenkrieg von den inneren Problemen ablenken würde. Ziel war weiterhin, das Gewalt-

potenzial unterbeschäftigter und absteigender Ritter, die nach Kirchenbesitz griffen – herrschaftssprachlich: sich ver-griffen – zu exportieren. Urbans private Rechnung ging auf: Trupps aus Frankreich zogen über Rom und setzten Clemens ab. Dem ersten und zweiten Kreuzkrieg gingen regionale Hungersnöte voraus und in den Notstandsgebieten versammelten sich 1096 besonders viele der anfangs etwa 10.000 Männer und Frauen. Der Papst versprach Sündenablass, Prediger fanatisierten, ein Graf führte sie gegen jüdische Gemeinden im Nahbereich: zwölf Ermordete in Speyer, 500 in der Kathedrale in Worms, 700 im Bischofssitz Mainz, Blutbäder an zahlreichen anderen Orten. An der Grenze zu Ungarn ließ König Koloman die Trupps aufreiben, südlich ziehende ermordeten Juden in balkanischen Gesellschaften und raubten Nahrung von ansässigen Christen, denn Logistik hatte der Papst nicht geplant. Kaiser Alexios verweigerte ein Zusammengehen, da Juden Teil der Gesellschaft waren und raubende christliche „Franken“ – so die pauschale Bezeichnung – unter orthodoxen Christen Wut ausgelöst hätten. Die Hauptgruppen, vielleicht mehr als 30.000 ohne Tross, darunter Ritter aus der Salzburger Kirchenprovinz, eroberten Jerusalem 1099 und brachten, laut Papst in göttlichem Auftrag, etwa 3000 Menschen, Christ*innen eingeschlossen, um. 198 Spiritueller Gewinn aus dem Wüten kam in päpstlichem Denken nur Männern zugute. Deren Reisen finanzierte Besitz, den nicht mitziehende Frauen verwalteten. Selbstbewusst zog Eleanore, Herzogin in Aquitanien, mit ihrem königlichen Mann, Ludwig VII. aus Frankreich; Margaret (~1150–1215), Waise vermutlich wohlhabender Eltern, arbeitete als Wäscherin, kämpfte und reiste viel; Königin Marguerite (Frankreich) kaufte ihren Mann Ludwig IX. nach dessen unklugem Angriff

Nora Berend (Hg.), Christianization and the Rise of Christian Monarchy. Scandinavia, Central Europe and Rus’ c. 900–1200, Cambridge 2007. Das Konzept resource-based development hat Jason W. Moore für die Zeit des Kolonialismus-Imperialismus, 1870 bis 1914, entwickelt: Capitalism in the Web of Life. Ecology and the Accumulation of Capital, London 2015, 13–38. 196 Robert Bartlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt, übers. von Henning Thies, Reinbek 1996 (engl. 1993); Jack Tannous, The Making of the Medieval East. Religion, Society, and Simple Believers, Princeton 2018, 225–490. 197 Catlos, Muslims, 262–280; Reinhardt, Pontifex, 286–287; Mitterauer, Europa, 199–234. 198 Andreas Rüther, „Die mittelalterlichen Kreuzzüge in der Geschichtsschreibung seit Runciman“, in: Felix Hinz (Hg.), Kreuzzüge des Mittelalters und der Neuzeit. Realhistorie – Geschichtskultur – Didaktik, Hildesheim 2015, 21–36; und Jürgen Sarnowsky, „Die moderne Wahrnehmung der geistlichen Ritterorden des Mittelalters“, ebd., 177–202; Barbara Drake Boehm und Melanie Holcomb (Hg.), Jerusalem 1000–1400. Every People under Heaven, Ausstellungskatalog, New York 2016. 195

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Kreuzkriege und Mongolenhorror: Attraktive Levante und Pax mongolica

Abb. 6.18 Routen der bewaffneten Pilger*innen und betroffene Bevölkerungen, 1096; größte Ausdehnung der Kreuzfahrer-HB um 1144; christliche und muslimische Nachbarherrschaften

auf Damietta aus ägyptischer Gefangenschaft frei. 199 Wenige Frauen kämpften, viele trugen während der Schlachten Wasser und Nahrung zu den Kämpfenden, angesichts der Temperaturen war dies überlebenswichtig. Erinnerer haben mitziehende und sich hinzugesellende Frauen, unternehmungsbereit und mit offenen Augen für die ferne Welt, pauschal als Prostituierte bezeichnet. Diejenigen, die Sex verkauften, reagierten auf Nachfrage und verdienten ihren Lebensunterhalt. 200 Die Kriegszüge blieben im Wesentlichen erfolglos, Muslime bewerteten Erfolg ohnehin anders. Fränkische Ritter und palästinensische Frauen hei-

rateten und ihre Söhne kämpften ebenfalls unter dem Kreuz. 201 Während die Krieger auf schnellen Reichtum zielten, suchten Stadt-italienische KaufFamilien langfristige Handelsstützpunkte. Sie lebten in kleinen Kolonien neben syrischen Christen und Juden, sie versklavten und verkauften Muslim*innen und führten Kriege gegeneinander. Die lateinischen Könige in Jerusalem herrschten 88 Jahre, 1099 bis 1187 (islam. 492–583), die übrigen Kleinkönigtümer zerfielen bis 1300. Nachschub fehlte und die Kriege brachten Verluste statt der avisierten Gewinne. 202 Ṣalāḥ al-Dīn (Saladin), Heerführer der benachbarten seldschukischen Zengiden-Herrscher

An dem Zug nach Damietta beteiligten sich aus Salzburg der Domprobst, der Burggraf und andere Herren. Bereits im Rahmen der frühen U.S.-Frauenbewegung hatte Celestina A. Bloss Heroines of the Crusades, Auburn, NY 1853, verfasst. Constance M. Rousseau, „Home Front and Battlefield: The Gendering of Papal Crusading Policy (1095–1221)“, in: Susan B. Edgington und Sarah Lambert (Hg.), Gendering the Crusades, Cardiff 2001, 31–44, hier 32–33; Christoph T. Maier, „The Roles of Women in the Crusade Movement: A Survey“, Journal of Medieval History 30.1 (2004), 61–82; Natasha R. Hodgson, Women, Crusading and the Holy Land in Historical Narrative, Woodbridge, Suffolk 2007. 201 Zu arabischen Perspektiven Francesco Gabrieli, Arab Historians of the Crusades, übers. von E. J. Costello, London 1969 (ital. 1957); Amin Maalouf, The Crusades through Arab Eyes, New York 1984; Tamin Ansary, Destiny Disrupted. A History of the World through Islamic Eyes, New York 2009, 133–158. Eine oströmische Perspektive bot bereits Anna Komnena (1083–1153), älteste Tochter des Kaisers Alexios I., in ihrer 15-bändigen Alexiad. Zu lokal geborenen Kämpfern in Sidon vgl. https://www.sanger.ac.uk/news/view/crusaders-made-love-and-war-genetic-study-finds (9. September 2020). 202 Preston und Wise, Men in Arms, 75–79. Zu westlichen Berichten Marcus Bull, Eyewitness and Crusade Narrative, Woodbridge, Suffolk 2018. 199

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

über das von Nūr ad-Dīn (Nureddin Zengi) vereinte Syrien, eroberte Jerusalem 1187. „Die Sarazenen“ richteten kein Blutbad an und ließen nach Konsolidierung Pilger*innen zu den ihnen heiligen Stätten einreisen und ihren Riten folgen. Alle drei monotheistischen Religionen-des-Buches, denen Jerusalem zentral war, waren multi-liturgisch und pluridoktrinär. In Relation zur Gesamtbevölkerung, sechs bis acht Generationen in den zwei Jahrhunderten zwischen 1090 und 1290, waren die Hunderttausende, die sich an den Fernmigrationen beteiligten, wenige: Arme, die ohne Unterstützung nicht nach Jerusalem hätten pilgern können; Ritter, die dringend Sündenablass und Beute brauchten; Herrscher mit und ohne Land. Der erste Zug ist als „Volkskreuzzug“ bezeichnet worden; in einen „Kinderkreuzzug“ zogen 1212 besonders nachgeborene Söhne ländlicher Familien; zu einem „Hirtenkreuzzug“ rief 1251 in Frankreich ein aus Ungarn stammender Mönch auf. Doch die jungen Männer und Frauen griffen Burgen, königliche Beamte und Kleriker sowie Leprakranke und Juden an und die Mächtigen ließen sie vernichten. Die Mehrzahl der Kreuzzügler kam um und dies veränderte in ritterlich-adligen Kreisen die Demografie und, durch Erbfall, Besitzkonzentration. Migranten, denen das fruchtbare Palästina gefiel, ließen sich nieder und wurden Emigranten. Sie erstaunte die Vielfalt der gelebten Christentümer, aber sie akkulturierten sich. Rückkehrer trugen neue Erfahrungen mit sich: Einzelne ließen sich von versklavten Muslim*innen begleiten; viele vermittelten Wissen über die Leistungen und Ästhetik muslimisch-arabisch-persischer und christlich-palästinensischer Kultur; manche gestalteten Burgen mit östlichen architektonischen Elementen. Aus Kriegsaufrufen entstanden Verflechtungspraxen der Überlebenden. Erzählungen über die (geraubten) Schätze, die Rückkehrende in die Kirchenprovinz trugen, blieben über Jahrhunderte lebendig und eine tiefe Höhle bei Lofer im Saalachtal barg angeblich die Schätze eines Ritters namens Lamprecht. Lebendig schrieb der aus Bayern stammende Johannes Schiltberger über seine Teilnahme an dem späteren Kreuzzug von Nikopolis, 1396: osma-

nische Gefangenschaft, Dienst unter dem Mongolenkhan Timur, Flucht. Dies druckte 1460 ein Augsburger Buchhändler und Nachdrucke zeigten, dass viele kauften. Schiltberger berichtete über die vielen Versionen christlichen Glaubens und differenziert über muslimische Gläubige. 203 Für Ansässige entlang der Routen waren bewaffnete Pilger bedrohlich oder lebensgefährlich; für venezianische und genuesische Schiffsunternehmer waren sie zahlende Kunden – die Mittel stammten aus Kreuzzugs-Sonderzehnten auch von Familien im Mur-, Metnitz- und anderen Tälern. Erzählten Priester von Erfolgen oder Niederlagen? Dort, wo sich Ritter – über Fußläufer berichteten Chronisten kaum – auf Kreuzfahrt begeben hatten, beobachteten Untertanen, wie zu Hause gebliebene ritterliche Nachbarn allein gelassene Frauen und Kinder belästigten und unbewachte Ländereien raubten. Sie sahen so viel, dass sie das Thema sexueller Belästigung in ihre Erzählungen aufnahmen. Sie bezogen einhellig Position auf Seiten der Frauen und wussten von helfenden Engeln. So berichtete es Johannes, Zisterzienser in Viktring. Rückkehrer, die im Orient viel gehört hatten, trugen besonders die Geschichte der hochgelehrten Gouverneurstochter Katharina im einst römischen Alexandria zurück. Sie hatte sich im 3. Jahrhundert für den christlichen Glauben entschieden und Selbstbewusstsein gezeigt. Als Kaiser Maximian (h. 286–305) seine Ordnungskräfte gegen Christ*innen vorgehen ließ, stellte sie sich ihm entgegen; eine Disputation mit (oder gegen) fünfzig pagane Philosophen gewann sie. Im nächsten Schritt bot der Kaiser die Attraktion seines Körpers und Reichtums, sie lehnte ab. Er griff zu Gewalt, sie widerstand, er ließ ihr den Kopf abschlagen (vereinfachte Zusammenfassung). Katherina verehrten Christen als Beschützerin der Frauen, Helferin bei Sprachschwierigkeiten und Patronin von Gelehrten und Handwerkern. In der Wallfahrtskirche St. Leonhard in Tamsweg (Lungau), an deren Weihe Chorbischof und EB beteiligt waren, stellten der Salzburger Baumeister Peter Harperger und österreichische Glasmaler sie mehrfach dar. Welche Erzählung über die gelehrte Christin hörten umwohnende und wallfahrende Laien, welche erzählten sie weiter? 204

Landeshistoriker erklärten Schiltberger zum „Marco Polo Bayerns“. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass Hagiographen Katharina als Person unter Bezug auf die alexandrinische Gelehrte Hypatia (geb. ~355), von Christen 415/16 umgebracht, entwickelten und Engel ihre Gebeine ins Kloster am Dornbusch (südl. Sinai) tragen ließen. Als diese im 8. oder 10. Jahrhundert gefunden wurden, erhielt das von Justinian gegründete Wehrkloster den Namen „Katharinen-Kloster“.

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Kreuzkriege und Mongolenhorror: Attraktive Levante und Pax mongolica

Auch zuhause erlebten Menschen während der Kriegsjahrzehnte vieles. Pettauer*innen sahen einen Grafen mit Gefolge abreisen, Friesacher*innen und Salzburger*innen zum Pfingstfest 1149 Kaiser Konrad III. mit Granden und Knechten auf seiner Rückreise von der Niederlage des Zweiten Kreuzzuges. Aufmerksamkeit erregte 1192 eine mit arabischem Geld ausgestattete Reisegruppe eines geheimnisvollen Ritters. Sie wurde nahe Wien gefangen gesetzt. Der Verkleidete hieß Richard, war König in England und wollte nach Hause. Arrogant hatte er bei der Belagerung von Akkon Standesgenossen, darunter den österreichischen Herzog – in Fehde-angemessener Sprache – „tödlich beleidigt“. Leopold forderte immenses Lösegeld und eine ungeheure Finanztransaktion aus den Taschen englischer Untertanen in „Babenberger“ und kaiserliche Kassen folgte: 6000 Eimer (zeitgen. Volumenmaß) oder etwa 23 Tonnen Silber. 205 Der Herzog investierte in Infrastruktur, gründete die Münze in Wien, ließ die Stadtmauern erweitern, verfügte den Bau von Neustadt im Steinfeld (später Wiener Neustadt) und Friedberg. Richard, genannt „Löwenherz“, aus der (südfranzösischen) Familie Plantagenêt konnte abziehen. 206 Die Zehntverpflichteten erlebten viel Frag-würdiges. Einige EB hatten angesichts der hohen Zahlungen an Rom Ornate und liturgische Geräte verpfänden müssen, denn bei Nichtzahlung drohte Exkommunikation. Nach 1274 zeichnete für einzusammelnde Gelder ein Kanoniker aus Verdun als Einheber verantwortlich, der Salzburger Dompropst und der Bischof von Chiemsee waren Kollektoren. Der Benefizient, Papst Nikolaus III., Familie Orsini, verwendete die Gelder zur Umgestaltung des Vatikans und für Machtkämpfe. Für den Kreuzzugszehnten 1285 setzte der Papst einen Domherrn in Venedig als Sammler für die Region von Salzburg bis in die Bistümer Prag und Olmütz

ein. Der Teilsammler für Salzburg, Abt Friedrich (Kloster Mosach, Steiermark) unterschlug Geld und ließ einen Kontrolleur, ebenfalls Abt und seinerseits in Kreuzzugsfinanzgeschäfte verwickelt, überfallen und ausplündern. 207 Weit einflussreicher als die ostwärts vordringenden Kreuzkrieger wurden in Ägypten „Mamluken“ und von Zentralasien bis Europa vordringende „Mongolen“. Erstere waren slawisch- und turk-sprachige Europäer aus der Don-Region und von der Krim oder stammten aus Zentralasien und dem Kaukasus. Sie wurden als weiße Sklav*innen für Heerdienst und Hausarbeit gekauft, ihre Kinder wurden Freie, ihre Kindeskinder übernahmen 1250 die Herrschaft. Die Mongolen genannten, vielkulturellen Verbände zogen westwärts durch die Gesellschaften Zentralasiens. Chasarische und rus-ländische Kiewer sowie oströmische Herrscher hatten den Handel in der Region gefördert und dies beeinflusste Preise in Lateineuropa. 208 Die Khane der logistisch fähigen Reiter-Familien finanzierten sich wie ihre lateineuropäischen Standesgenossen durch Beutezüge und erkauften Loyalitäten mit Plündergut. Sie errichteten in einer gewalttätigen und zerstörerischen Eroberungsphase, in der sie Bevölkerungen ganzer Städte – in Isfahan laut Berichten 70.000 – umbringen ließen, eine Großherrschaft, die sich um 1190 von China bis nach Indien und Moskau erstreckte. Kreuzherrschaften in der Levante umfassten etwa zwei Jahrhunderte bis 1300, Mongolenherrschaften etwa drei Jahrhunderte bis 1500. Anders als die Herren im Westen, die von Grund-Renten – und kirchlicherseits Finanzgeschäften – lebten, nutzten die Khane Handel als Einnahmequelle. Ihre Pax mongolica sicherte den Austausch und sie etablierten von ihrer Hauptstadt Karakorum aus mittels eines Netzes von Poststationen einen verdichteten Kommunikationsraum. 209

Andere Berechnungen sprechen von 35.000 kg Silber oder 150.000 Mark. Zeitgenossen nannten Richard Ferocissimus (unbändig, zügellos, wild). Er hatte in Aquitanien gekämpft und auf dem Weg Richtung Levante Lissabon, Messina und Limassol, die Hauptstadt Zyperns, erobert. Ein englischer und ein französischer Chronist beschrieben seine Brutalität: Er entführte Töchter und Mägde seiner Untertanen und unterworfener Städte, vergewaltigte sie, gab sie an seine Soldaten weiter. Zypern verkaufte er samt Bevölkerung an die vom Papst akkreditierten Tempel-Ritter. Als diese nicht zahlten, plünderte er die Menschen aus und verkaufte den Rest an Guido (Lusignan), der sich das Königreich Jerusalem erheiratet hatte. 207 Conrad Wuttke und L. Schmued (Hg.), „Päpstliche Urkunden zur Geschichte des Erzbistumes Salzburg aus dem 13. und 14. Jahrhundert“, MGSL 33 (1893), 117–144; Samuel Steinherz, „Die Einhebung des Lyoner Zehnten im Erzbisthum Salzburg (1282–1285)“, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 14 (1893), 1–86; Peter Danner, „Kreuzritter und Abenteurer, Seelsorger und Pilger aus Salzburg im Heiligen Land“, MGSL 141 (2001), 183–195. 208 Virgil Ciocîltan, The Mongols and the Black Sea Trade in the Thirteenth and Fourteenth Century, Leiden 2012. 209 L. Carrington Goodrich, „Trade Routes to China from Ancient Times to the Age of European Expansion“, in: Jean Labatut und Wheaton Lane (Hg.), 205

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Das Volumen und die Angebotspalette der OstWest-Wüsten- und Bergpfade, erzählerisch im 19. Jahrhundert zur „Seidenstraße“ verbreitert, speisten zahllose Nord-Süd-Verbindungen. Entlang der Seerouten handelten arabisch-gujaratische Kaufleute und muslimische Sultanate blieben Mittler zwischen den Handelsstädten „Vorderindiens“ (Südasien) sowie „Hinterindiens“ (Indochina) und dem mamlukischen Alexandria. Dort endeten auch die Oasenrouten von und zu Gesellschaften des subsaharischen Afrikas, deren Karawanen das lateinkirchliche wie vorher das römische Europa mit Lederwaren und Gold versorgten. Über Kaufleute erfuhren lateinische Eliten von Technologien wie Sternhöhenmessern (Astrolabien) und Himmelszeituhren arabischer Gelehrter sowie von der Papierherstellung und Seidenproduktion in China. Diese Welten weckten im 13. Jahrhundert die Neugier von Emissären wie Johannes de Plano Carpini aus Oberitalien und Wilhelm Rubruk aus Flandern, von Handelsreisenden wie den Polos aus Venedig sowie von Diplomaten wie Ruy Gonzáles de Clavijo aus Cádiz. Die Khane übernahmen den Islam und förderten Wissenschaft und Kunst. Der Timuriden-Herrscher in Samarkand, Ulugh Beg, ließ zwischen 1424 und 1428 ein Himmelsobservatorium erbauen, zu dem Gelehrte aus dem Westen und Osten (bis Korea) reisten. Transeuropäisch denkend, hatte 1402 Timur Lenk aus Samarkand an Charles IV. in Paris geschrieben, dass Kaufleute die Basis allen Wohlstands seien und es sinnvoll wäre, ihnen gemeinsam Schutz zu gewähren. Charles antwortete nicht. 210 In politisch stabilen, oft machtvollen Städten lebende Kaufleute und Händler hatten Wirtschaftsräume, oft Handelsemporien genannt, von der Nordsee und dem Atlantik bis zum Ural sowie in den Welten des Indischen Ozeans etabliert und im

Mittelmeerraum entstanden Großreiche von bemerkenswerter Kontinuität von Anatolien (Osmanen) über Ägypten (Mamluken) und Ifriquia-Tunesien (Hafsiden) bis Marokko (Meriniden). Regionale Austauschprotokolle brachten Sicherheit im Ferghana-Tal, von der Straße von Hormus bis Malakka, in Alexandria und den oberitalienischen Städten, im Wirtschaftsraum der Hanse an Nordund Ostsee, für Kauffahrer von Nowgorod bis Kiew. Aus Mali pilgerte 1324/25 König (mansa) Musa Keita I. mit Gelehrten, Architekten und Künstlern sowie Tausenden von Sklav*innen und mit Gold beladenen Kamelen nach Mekka. Sein Reichtum – nicht die funds of knowledge – gingen in Legenden ein. In Arabien, mit Folgen für Lateineuropa, brach der Goldpreis ein und dies betraf Goldwäscher in den Nebentälern der Salzach. 211 Viele Entwicklungen waren vom Ostalpenraum, der Residenz am Wien-Fluss und den Routen nach Venedig oder Prag nicht so weit entfernt, wie es scheinen mag. Kaufleute aus Ostzentraleuropa und Russland handelten durch die Kirchenprovinz, zogen entlang der Donau und durch den Balkan, betrieben Saumverkehr über Alpenpässe und böhmische Hügel. Im 12. Jahrhundert gewannen KaufFamilien im Rahmen herrschaftlicher Freiheiten im flandrischen Wirtschaftsraum von Rhein- und Schelde-Mündung bis zur Île-de-France und im süddeutschen Raum von Nürnberg bis Basel-Konstanz-Ravensburg-Augsburg Bedeutung. Als kapitalkräftige Städter „annektierten“ sie ländliche Produktions-Familien für die Tuchherstellung. 212 Kaiser verloren gegenüber urbanen Großmagnaten Macht, aber ließen sich für ihre familiären Herrschaftsbetriebe christliche genealogiae entwickeln: Wie Karl d. G. wurden Stephan/István in Ungarn, Wenzel/Václav in Böhmen, Ludwig/Louis in Frankreich und Leopold in Österreich zu Heiligen. 213

Highways in Our National Life, Princeton 1950, 16–32; Stephan Conermann und Jan Kushber (Hg.), Die Mongolen in Asien und Europa, Frankfurt/M. 1997; Ralph Kauz, „Die Gründung des mongolischen Weltreichs. Zentralasien“, in: Angela Schottenhammer und Peter Feldbauer (Hg.), Die Welt 1000– 1250, Wien 2011, 112–136. 210 Ciocîltan, Mongols, 11; Janet L. Abu-Lughod, Before European Hegemony. The World System A.D. 1250–1350, Oxford 1989. Dies sogenannte erste Weltsystem entstand vom 8. bis 11. Jahrhundert und erreichte ~1300 seinen Höhepunkt, bevor die weltklimatischen Veränderungen einen Abschwung bewirkten. 211 Peter Feldbauer und Jean-Paul Lehners, „Globalgeschichte: Die Welt im 16. Jahrhundert“, in: dies. (Hg.), Die Welt im 16. Jahrhundert, Wien 2008, 13– 30. Rivalitäten islamischer Herrscher-Familien, die Erreichtes fragilisierten, analysierte zeitgenössisch Ibn Khaldun. 212 Limberger und Ertl, „Vormoderne Verflechtungen von Dschingis Khan bis Christoph Columbus“, in: Die Welt 1250–1500, bes. 11–28. 213 Hz Leopold III. (1073–1136) heiratete 1106 Agnes (1074–1143), Tochter Kaiser Heinrichs IV., Familie Salier, und Witwe Kaiser Friedrichs I., Familie Staufer. Laut Erzählung riss ein Windstoß ihren Brautschleier mit sich; Leopold fand ihn neun Jahre später bei einer Jagd. Er gründete am Fundort ein Kloster als Neuburg, Klosterneuburg.

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Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug

Abb. 6.19 Mongolische Herrschaftsbereiche Die Einheit des Großkhanats endete mit dem Tod von Möngke Khan 1259; die Kommunikationsstruktur hielten im rus-ländischen Raum die „Goldene Horde“, im zentralasiatisch-persischen die Ilkhane, in Indien die Mughal-Herrscher aufrecht.

6.12 Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug 214 Die Schiffer des mittelmeerischen Handelsraums hatten sich neben den Winden die Strömungen sowie Tiefen und Untiefen des Meers erschlossen. Da Wasser aus dem Atlantik resp. dem Schwarzen Meer einströmten, erforderte das Durchsegeln von Gibraltar und Bosporus Gegenstromfahrt. 215 Die Seeleute hatten über Jahrhunderte Kontinente verbunden, Kontakte geschaffen, ihnen Unbekanntes erforscht. Sie ermöglichten Reichtum ebenso wie tägliche Nahrung – so hatte es einst ein Bischof in Caesarea beschrieben. Im 8. Jahrhundert änderten

arabische Seefahrer die Bedeutung von Häfen, aber nicht die Handelsprotokolle. Von Fustat (Alt-Kairo) aus unterhielten sie und jüdische Kollegen Verbindungen zu gujaratischen Kauf-Familien und deren Handelsnetzwerken im Indischen Ozean. 216 Im östlichen Teil des Mittelmeers hatten Menschen der vielen Inseln Kulturen und Wirtschaften entwickelt, bauten Rohstoffe ab und waren attraktive Handelspartner. Die Buchten und Berge boten allerdings auch Piraten Schutz. Der westliche Teil war, so die auf Adria-Griechenland-Levante zentrierte Sicht-

Dieser Teil beruht besonders auf Ertl und Limberger, Die Welt 1250–1500. Im Bosporus erschwerte eine Süd-Nord-Strömung unter der Oberfläche die Durchfahrt zusätzlich. 216 Peregrine Horden und Nicolas Purcell, The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History, New York 2000; David Abulafia (Hg.), The Mediterranean in History, London 2003; und Abulafia, The Great Sea. A Human History of the Mediterranean, Oxford 2011; Christophe Picard, La Mer des califes. Une histoire de la Méditerannée musulmane, VIIe–XIIe siècle, Paris 2005. Bischof Basilius, „Homilies on the Hexameron“, 4,7, zitiert in: Ashmolean, Oxford, Dauerausstellung (Anf. 2015). 214 215

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weise, für Händler leer. Fischer sahen dies anders und Seefahrer und Werftarbeiter in Barcelona und Valencia ebenfalls. Kauf-Familien der süditalienischen Hafenstädte Amalfi, Gaeta und Salerno – oströmisch, arabisch und im 11. Jahrhundert normannisch – unterhielten gute Beziehungen zu solchen in Konstantinopel und kommunizierten im neuen Italienischen, alten Hebräischen und benachbarten Arabischen. Amalfitaner handelten für die Mönche in Monte Cassino, für Päpste und süditalienische Herrscher. Das Angebot des neuen Venedigs nutzten Konsumenten an transalpinen Höfen. Die Elite der Inselkleinstadt, landseitig geschützt und seeseitig günstig, versprach dem Kaiser Hilfe „gegen die feindlichen slawischen Stämme“, an deren istrischen und dalmatinischen versklavbaren Menschen sie großes Interesse hatte, und erhielt im Gegenzug Zugang zum Handelspotenzial fränkisch eroberter italienischer Städte. Um sich gegenüber „Rom“ mit Petrus-Sitz darzustellen, benötigte sie eine legitimierende Geschichte und ein religiöses Symbol. So erinnerte sie, dass zwölf „apostolische Familien“, das heißt sie selbst als Patriziat, den ersten Dogen gewählt hatten und dass der Evangelist Markus in der Lagune gepredigt hatte (s. Kap. 8.10). Ob dies city-branding auch den Hafenarbeitern und Wäscherinnen der Stadt geholfen hat, ist nicht erforscht. Die Kauf-und-Militärelite, RR-Konstantinopel untertan, nutzte die Rom ←→ Aachen-Achse, um sich politisch zu lösen, ohne Handel zu verlieren. Geschäfte ins fränkische Gebiet, zum Teil über das Kloster Innichen und Salzburg-Stadt, blieben angesichts der vielen Kriege und Machtwechsel mit Risiken belastet. Dies spürten auch die Kaufleute in Pisa, Genua und Lucca, die ihre militärisch gestützte Handelsmacht ausweiteten. Kollegen in Aquileia und Ravenna, deren Häfen verlandeten, verloren Marktanteile. Venedigs Mächtige appropriierten Rechte des Metropoliten in Aquileia und siedelten 1105 dessen abgespaltenen Konkurrenten aus Grado an ihren Stadtrand um. Sie gestalteten zwischen 1080 und 1120 die Stadtkorporation zu einer Rats-

herrschaft aus und bezeichneten sich als „Republik“. In Genua schlossen sich nützliche und geeignete Bürger (utilis et idoneus) nach wechselnden Machtkonstellationen zu einer Schwurgemeinschaft, compagna communis, zusammen und legten dies schriftlich in Consuetudines fest. Da die nobiles die populares ausschlossen, wäre „Oligarchie“ oder „korporative Kommune“ eine passendere Bezeichnung. 217 Die oft von Familien-Fraktionen umkämpften Stadträte verfolgten unterschiedliche Strategien: Seeimperium in Genua und Pisa, See- und territoriales in Venedig, Seidenproduktion in Lucca. 218 Unter Mitwirkung eines Papstes verbündeten sich die Eliten Genuas (Ligurien) und Pisas (Toskana) gegen muslimische Konkurrenten und eroberten 1016 das formal oströmische, de facto selbstständige Sardinien. Dessen Bewohner*innen hatte einst Papst Gregor I. zwangschristianisieren lassen, der amtierende gab sie den Pisanern als Lehen. Die Institution Kirche beteiligte sich an den Kolonisationen praktisch durch Anregungen, machtpolitisch durch Zuteilung als Lehen, ideologisch durch Segen. Kaufleute eroberten kreuzzugartig Korsika (1077) und die arabisch besiedelten Balearen (1113), wo die Pisaner – nach zeitgenössischen Zahlen – 20.000 christliche Sklav*innen befreiten und die gesamte muslimische Bevölkerung versklavten und verkauften. Neusiedler*innen aus Flandern, Iberien und Italien migrierten in die entleerten Gebiete. Genuesen errichteten 1162 an der Atlantikküste Afrikas einen ersten Stützpunkt und richteten in iberisch-muslimischen, später christlichen Hafenstädten alberghi ligures als Haus- und Gastwirtschaften mit Kaufhof ein. Sie etablierten Verbindungen zum prosperierenden Flandern und nach London und drangen zu atlantischen Inseln vor. 219 Katalanische Familien folgten ihrem Vorbild und nahmen am Mittelmeer- und SchwarzmeerHandel teil. 220 Angesichts ihrer Finanzkraft und Organisation vergrößerten die norditalienischen Stadteliten ihre Distanz zu dem durch den Investiturstreit ge-

In vergleichender Betrachtung waren auch die Hansestädte des Nordens, in denen reiche Kaufleute als Senatoren regierten, Korporationen. Die Republik Nowgorod im 12. Jahrhundert und die „Adelsrepublik“ Polen-Litauen (seit 1569) waren Adelskorporationen. 218 Einer der ersten Bischöfe der Stadt war, so Berichte, ein irischer Mönch. 219 Madeira und die Azoren-Gruppe erreichten zuerst Seefahrer im Dienst der portugiesischen Königs-Familie. 220 Die Städte bekriegten sich in erbitterter Konkurrenz um christlichen Speditionsverkehr und Kreuzkriegsgewinne. Ein Papst vermittelte im Sinne der genuesischen Elite. Im sog. Hundertjährigen Krieg (vier Phasen zwischen 1298 und 1381) kämpften Venedig und Genua; Genua schaltete Pisa aus dem östlichen Mittelmeer aus (1284–1324). Während der Schlachten ertranken vermutlich viele Seeleute. Michael Mitterauer und John Morrissey, 217

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Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug

Abb. 6.20 Handelswege, 13.–15. Jh., mit urbanen Regionen, Kolonien und Stützpunkten Genuas und Landimperium Venedigs – Routen und Territorialbesitz haben sich im Laufe der drei Jahrhunderte nach 1204 geändert

schwächten, fernen westlichen Kaiserhof und zahlten „Regalien“ nicht mehr. Als jedoch Friedrich I. und Beatrix (~1140–1184) heirateten, brachte sie Burgund und damit Zugang zu Italien in das Ehebündnis ein und 1154/55 zog Friedrich mit 1800 Rittern, Knechten und Tross nach Norditalien. Er forderte die fodrum-Abgabe zur Versorgung von Heer und Hof sowie Regalien-Einnahmen wie Maute, Fischerei-Privilegien und andere. Bewohner*innen Mailands bewarfen seine Gesandten mit Steinen, er ließ „das Umland“, das heißt die ländlichen Familien, verwüsten. Unter Demütigungsritualen musste die Elite „usurpierte“ Einkünfte zurückgeben. Auf Intervention von durch Mailand geknechteten Nachbarstädten ließ er die Stadt 1162 zerstören und die Statue des Stadtheiligen Ambrosius vom Sockel reißen. Überlebende mussten in Dörfer umsiedeln. Gegen den Kaiser verbanden

sich die Städte zur Lombardischen Liga, der Patrimonium Petri-Herrscher kooperierte. 221 Während seines nächsten Kriegszuges, 1158 bis 1162, berief Friedrich zu einem Hoftag in Roncaglia (Piazenca) vier Interpretatoren der neuen BolognaDekret-Schule. Sie verneinten kommunale Rechte, bezeichneten ihn als Inhaber Römischen Rechts, legten eine neue Kopf- und Grundsteuer, Lex tributum, fest sowie sein Recht, ohne Konsultation in den Städten Pfalzen zu errichten, Lex palatia. Im Gegenzug erhielten sie ein Scholaren-Privileg und standen damit vor dem Recht. Der Salzburger EB Eberhard I. nahm an dem Hoftag teil, doch entband ihn der Kaiser angesichts seines Alters von der Heerfolge. Der Papst verbot ihm 1161, die Salzburger Teilstreitmacht zum kaiserlichen Heer zu führen. Da ritterseits das Interesse an den Kriegszügen gering war, heuerte Friedrich Söldner aus Brabant

Pisa. Seemacht und Kulturmetropole, Wien 2007; Peter Feldbauer, Gottfried Liedl und John Morrissey, Venedig 800–1600. Die Serenissima als Weltmacht, Wien 2010; Manfred Pittioni, Genua. Die versteckte Weltmacht 1000–1700, Wien 2011. 221 Da Friedrich sich im Norden nicht durchsetzen konnte, verheiratete er, wie oben dargestellt, Sohn Heinrich mit Königin Konstanze, Sizilien, und erwarb so Ansprüche im Süden.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.21 Schiffszimmerer, 13. Jh., mit zeitgenössischem Werkzeug, allerdings beim Bau der Arche Noah (Mosaik), Markus-Dom, Venedig

an, die wegen ihrer Brutalität berüchtigt wurden. Er erlaubte den Wiederaufbau Mailands, freundlich gesinnte Nachbarkommunen halfen mit Geld und Handwerker*innen. Es war das Jahr 1167, in dem seine Parteigänger Salzburg anzündeten. Kaiser Friedrichs Onkel Otto, EB-Suffragan in Freising (1112/14–1158), beschrieb erstaunt die soziale Struktur der oberitalienischen Städte: Um ihre Nachbarn zu unterdrücken, „halten sie es nicht für unter ihrer Würde, junge Leute der unteren Stände und auch Handwerker, die irgendein verachtetes mechanisches Gewerbe betreiben, zum Rittergürtel und zu höheren Würden zuzulassen, während die übrigen Völker solche wie eine Seuche von den ehrenvolleren und freieren Beschäftigungen ausschließen. So kommt es, dass sie an Reichtum und Macht die übrigen Städte der Welt übertreffen.“ Ließe sich in moderner Konzeptualisierung von „Klassengrenzen“ sprechen? Galten, zeitgenössisch, die Unteren den Herren als „Seuche“? Die Situation war kompliziert, denn die Stadtkorporationen kontrollierten oder besaßen ihrerseits die ländlichen Familien des Umlandes. 222 Gemäß einer vor Generationen initiierten Dynamik produzierten in Lucca Handwerker*innen Seiden und Eliten-Familien versorgten kirchliche und weltliche Höfe lateineuropaweit. Die Qualifikationen der Weber*innen waren hoch, ihre Lebensbedingungen schlecht, die Erfindung einer Wasserkraft-getriebenen Seidenzwirnmühle machte Hunderte arbeits-, das heißt brotlos. Wie hörige Menschen überall wurden sie mit „der Stadt“ ins-

gesamt von Herrschern gekauft, verkauft und verpfändet. Der Stadtrat, der seinerseits benachbarte Menschen ankaufte, verbot den Seidenwerker*innen, das heißt dem Produktivkapital, abzuwandern. Diese verließen die Stadt heimlich und Venedigs Elite bot durchaus eigennützig Asyl. Da Verkauf und Ausbeutung von Menschen nicht Teil der Evangelien waren und die Institutionskirche Schutz nicht bot, entwickelten sich Gläubige eigene Zugänge zum Glauben und eigene Theologien. Institutionskleriker, darunter die Salzburger Erzbischöfe, reisten durch die Region und kauften ein. Sie sahen dort auch Sklav*innen, in Genua gegen Ende des 14. Jahrhunderts noch etwa 3000 Frauen in Hausarbeit. Für die EB gab es vieles wahrzunehmen. Salzburgs Kaufleute interessierte Venedigs Seehandel, Venedigs Seekaufleute Holz für den Schiffbau sowie Routen über den Brenner und durch das Puster- ins Drautal. Letztere erwarben am Alpensüdhang umfangreiche Waldgebiete – die die Mönche aus Innichen kontrollieren wollten. In ihrer „Arsenal“ genannten Werft (arab. dār al-ṣināʿ a, Fabrik) zimmerten ab ca. 1100 Tausende HandwerkerFamilien Galeeren in Massenproduktion und rüsteten sie aus. Die Vermietung von Transportkapazitäten an Kreuzzügler verbesserte die Kapitalisierung. Eine Standard-Galeere bewegten 140 Ruderer. Bei einem Verband von nur zehn Schiffen – belegt sind Verbände mit bis zu fünfzig – bedeutete dies 1400 Männer, die auch während langer Aufenthalte in fernen Häfen ernährt werden mussten. Die Schiffskarawanen steuerten Konstantinopel oder Kreta, Rhodos, Zypern und Akkon an. Diese Unternehmungen „schufen“ Arbeitsplätze, die geringen Löhne beschleunigten die Kapitalakkumulation einiger. Seefahrer verbesserten Schiffbau- und Segeltechnik: Kompass, Portolankarten von Küsten und Anlegeplätzen, Steuerruder am Hintersteven statt seitlich am „Steuerbord“, veränderte Takelage für das Segeln dicht am Wind, Eisenanker, Lademarken zur Verhinderung von Überlast. Die funds of knowledge dieser „nautischen Revolution“ stammten vielfach von arabischen Seefahrern, die ihrerseits über Technik und Praxis im Indischen Ozean und in den chinesischen Meeren informiert waren. Das indisch-arabische Dreieck-Segel vom Vorder-

„Gesta Frederici“, zitiert in Bernd Fuhrmann, Hinter festen Mauern. Europas Städte im Mittelalter, Stuttgart 2014, 49. Roman Deutinger, „Der Geschichtsdeuter“ [Otto von Freising], Damals 51.3 (2019), 72–76.

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steven zum Mast wurde im Westen als Lateinersegel bekannt. Kontakt wirkte sprachbildend: amīr albaḥr – Admiral; ʿ awār und ʿ awārīya – Schaden, beschädigte Güter, Havarie; mausim (Jahreszeit) als wiederkehrende Monsun-Wetterlage sowie viele praktische Begriffe. 223 Die Erfindung der Galeeren ermöglichte vom Wind unabhängige, schnell dirigierbare Kriegsflotten und seit etwa 1300 fast fahrplanmäßigen Handelsverkehr. Menschen an Meeren – wie entlang von Flüssen – strukturierten ihre Wahrnehmung von Entfernungen, den Austausch mit Fremden und ihre Erinnerung anders als solche, die Landwege nutzten; sie lebten berufs-naturräumlich spezifische Kulturen. Kauf-Familien in Venedig, die spätestens seit den karolingischen Sachsen-(fang)-kriegen mit Sklav*innen handelten, 224 verschifften zwischen 1204 und 1509 nach Schätzungen drei Millionen, durchschnittlich also 200 Personen pro Woche. Sklav*innen aus Russland kamen über Regensburg und die Enns- und Salzachtäler (s. Kap. 7.3, 8.10); in dalmatinische Küstenregionen entsandten die Händler Fangexpeditionen. Transitmärkte in Genua, Pisa, Florenz und Rom belieferten Absatzmärkte in Sizilien, Konstantinopel und Trapezunt. Genuesische und katalanische Menschenhändler lieferten auch aus Schwarzmeerhäfen; die balkanische und griechische „Ware“ mag zum Teil christlich gewesen sein. Der Massentransport von Sklav*innen förderte, wie der Bedarf der Pilger*innen, die Entwicklung von Transportkapazitäten. 225 Die Kaufleute und ihre Konkurrenten aus Amalfi, Pisa und Genua siedelten sich in Konstantinopel in eigenen Quartieren an, wurden aber in einem Maß aufdringlich, dass die Bevölkerung sie 1182 aus der Stadt vertrieb. Zwei Jahrzehnte später buchten Venedigs Akquisitoren einen Großauftrag. Für die Kreuzzüge Nr. 1–3 hatten sie und genuesische sowie pisanische Schiffseigner Ladekapazität gepoolt, den Transport von Nr. 4 im Jahr 1204 wi-

ckelte Venedig allein ab: Geplant waren 33.500 Mann mit 4500 Pferden und Lebensmitteln für 85.000 Silbermark (20 t Barrensilber). Die ArsenalBeschäftigten hatten lange Stunden zu arbeiten. Als die Ritter bei Einschiffung nur eine Teilsumme zahlen konnten, forderten die Spediteure Arbeitsleistungen im Gegenwert des Fehlbetrages: Sie mussten zuerst den Adria-Konkurrenzhafen Zara/Zadar, christlich, ausschalten. Anschließend landeten die Venezianer die latein-christlichen „Franken“ vor dem griechisch-christlichen Konstantinopel an. Das Heer zerstörte und plünderte die Stadt. Venedigs Elite nahm sich drei Achtel der Beute, darunter Kreta; Zypern kam später hinzu. Kleriker klauten in pia fraus, frommem Raub, Reliquien – von goldenen und silbernen liturgischen Geräten ganz abgesehen – in einem Ausmaß, dass das translateinchristliche Marktgefüge zusammenbrach. Drei Jahrzehnte später ordnete die Kurie in Rom, vielleicht angesichts überfüllter Lagerhäuser, an, dass Reliquien auch in Altären von Dorfkirchen vorhanden sein müssten. Auch dadurch wurden dörfliche Gläubige, deren Zehnte in die Kassen der Speditions-Kaufleute geflossen waren, Teil der fernen Entwicklungen. 226 In Konstantinopel zerstörten die Kirchenkrieger orthodoxe Manuskripte in großem Ausmaß: Krieg um Diskursherrschaft. Venedigs Elite nannte ihr Imperium Stato da Mar und Serenissima (Durchlauchtigste) Repubblica di San Marco, Genuas Elite verwandte als city branding die Termini superba und dominante, Rom-Stadt war Bürokratenzentrum und Pilgerziel, Rom-Kirche durch Thronprätendenten geschwächt. In Palästina wandelten sich die Ritterorden nach den Niederlagen zu gegenüber Kirche und Krone selbstständigen Kolonisationskorporationen. Die Templer, die den Geldtransfer von Pilgern und kreuzziehenden Herrschern abwickelten, wurden reich; die Johanniter eroberten 1306 Rhodos als Seekriegs- und Seeraub-Basis; die Deutschritter zo-

Nabil Osman, Kleines Lexikon deutscher Wörter arabischer Herkunft, München 82010; Andreas Unger mit Andreas C. Islebe, Von Algebra bis Zucker. Arabische Wörter im Deutschen, Stuttgart 2007. 224 ZWH-Könige suchten im 9. Jahrhundert Transithandel mit christlichen Versklavten zu verhindern. 225 Reuven Amitai und Christoph Cluse (Hg.), Slavery and the Slave Trade in the Eastern Mediterranean, c. 1000–1500 CE, Turnhout 2017, 14–15, bes. Michel Balard, „Le transport des esclaves dans le monde méditerranéen médiéval“, 353–374, und Annika Stello, „Caffa and the Slave Trade during the First Half of the Fifteenth Century“, 375–398, vgl. auch Kurt Franz, „Slavery in Islam: Legal Norms and Social Practice“, ebd., 51–141, und Johannes Pahlitzsch, „Slavery and the Slave Trade in Byzantium in the Palaeologan Period“, ebd., 163–184. 226 Bestrebungen, alle Altäre mit Reliquien zu versehen, datieren aus dem 8. Jahrhundert. Hansgerd Hellenkemper, „Fremde Nachbarn. Polyethnizität und Migration in Städten des Byzantinischen Reiches“, in: Kurt-Ulrich Jäschke und Christhard Schrenk (Hg.), Vieler Völker Städte. Polyethnizität und Migration in Städten des Mittelalters, Heilbronn 2012, 117–136. 223

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

Abb. 6.22 Die Segler und Ruderer der „La Contarina“ transportierten von 1479 bis 1494 Pilger*innen aus Venedig in das ihnen heilige Land

gen, wie dargestellt, in baltische Regionen. Nach Riga (Livonia, Lettland) hatten Hanse-Kaufleute und die Missionserzbischöfe in Bremen-Hamburg einen Bischof samt Christen entsandt, um KreuzfahrerHerrschaften zu errichten. 227 Der Seehandel erforderte hohe Finanzmittel: Investitionen in Schiffe, Bezahlung von Mannschaften über Monate, Wareneinkauf lange vor Verkauf. Ebenfalls sehr viel Geld benötigten Päpste-Kardinäle-Kurie und kirchliche Finanzwirtschaft hatte Geschichte. Seit dem 6. Jahrhundert hatten Bischofsmagnaten, kleinere Bischöfe und Klöster Anleihen vergeben. Da sie Geldzins nicht nehmen durften, sicherten sie ihre Anlage durch Pfänder, zum Beispiel ein Dorf-mit-Menschen. Grundpfand-gesicherte Kredite, christlich zulässig, bedeuteten die Erträge der Arbeitskraft der Verpfändeten, bis der jeweilige Schuldner das Dar-Lehen zurückzahlte. Die Ökonomie – so viel herauszupressen wie möglich – war allen bekannt, eine Theologie des Seelenheils der Verpfändeten fehlte. Die klerikalen Finanztransaktionen hatten einen unvergleichlich größeren Umfang als solche von Familien jüdischen Glaubens, doch per Diskursherrschaft stigmatisierten die Kleriker Juden als „Wucherer“. Die Zinsen waren hoch und besonders kleine Schuldner, zum

Beispiel ländliche Menschen, die während langer Winter, bei Missernten oder erhöhten Abgaben Kleinkredite benötigten, werden sie als über-mäßig empfunden haben. Die Rom-Kirche finanzierte sich aus dem Patrimonium, überwiegend Plantagen mit Versklavten, und dem Peterspfennig, Denarius Sancti Petri, eine anfangs freiwillige Unterstützung durch lokale Kirchen. Für die Bearbeitung von Anliegen gaben Bittsteller „Geschenke“, deren Höhe den Kurialen – laut Duden nicht Handelnde, sondern nur frühmittelalterliche Schrift der Kurie – angemessen erscheinen musste. Gegen Geschenke-Gebühren verfügte zum Beispiel Gregor IX., dass der Domprobst und der Abt von St. Peter bei bestimmten Anlässen eine Mitra tragen dürften – vanitas, die sie dem Teufel in die Arme trieb, wie dieser erfreut in Des Teufels Netz konstatierte. Im 13. Jahrhundert verfestigten die Kurialen die Finanzeinhebung kirchenweit. Sie legten eine Servitia communia pro Bistum nach dessen jeweiligem Ertrag fest, fügten eine Servitia minuta als Kardinalsanteile hinzu und forderten zusätzlich Annaten, Subsidien und Spolien (lat. spoliare, rauben). Die Summen je Diözese beruhten auf Hochrechnung der Fron-, Großzehnt- und Kleinzehnt-Dienste aller Abgabepflichtigen, für das Erzbistum Salzburg – wie für Aquileia, Köln, Canterbury und York – 10.000 Goldgulden jährlich. Nur Rouen, Toulouse und Winchester hatten mehr zu zahlen. Suffraganbistümer veranlagten sie separat, Passau zum Beispiel mit 5000 Goldgulden. Kannten Kurialadministratoren die Finanzkraft von Pfarren? Sie waren angesichts der zahllosen Petitionen pfründensuchender Kleriker und deren sehr spezifischen Angaben gut informiert und die Transaktionen auf dem Pfründenmarkt brachten hohe Einnahmen. Darüber hinaus suchten Päpste die Vergabe lokaler Pfründen an sich zu ziehen, aber in der Diözese Salzburg verhinderten die Domherren päpstliche Ein- und Übergriffe. Von den Zehnten jeder Hufen-Hausgemeinschaft „wanderte“ also durch Geldboten ein Teil nach Rom oder Avignon. 228

Alain Demurger, Die Templer. Aufstieg und Untergang 1120–1314, übers. von Wolfgang Kaiser, München 1991; Helen J. Nicholson, Templars, Hospitallers, and Teutonic Knights. Images of the Military Orders, 1128–1291, Leicester 1995. 228 Werner Maleczek (Hg.), Die Römische Kurie und das Geld. Von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum frühen 14. Jahrhundert, Ostfildern 2018, darin bes. Maleczek, „Einführung“, 11–26, Markus A. Denzel, „Von der Kreuzzugssteuer zur allgemeinen päpstlichen Steuer“, 131–166, Thomas Wetzstein, „Die Gier der Päpste und der Groll der Christenheit“, 337–372, Hans-Jörg Gilomen, „Das kanonische Zinsverbot und seine theoretische und praktische Überwindung?“, 405–449, Marco Vendittelli, „‚Geldhandel‘ und Kreditwesen in Rom im 12./13. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang der römischen mercatores“, 495–558. 227

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Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug

Finanzmittel benötigten auch Gläubige, die Sozialhilfeeinrichtungen stiften wollten. Vielzitiertes Beispiel ist ein Heim und Schule, das ein „Sachsen“-König aus Wessex für Pilger in Rom gestiftet hatte. Lautverwandt hieß der Stadtteil bald „Sassia“. Das Hospiz verfiel, als die Zahl angelsächsischer Pilger*innen angesichts normannischer Expansion sank und Papst Gregors VII. normannische Hilfstruppen 1084 die Stadt plünderten. Der machtstrebige Innozenz III. ließ es renovieren und übergab den Komplex einem Guido aus Montpellier, dem Zentrum religiöser Debatten, weltlich-nordfranzösischer Begehrlichkeiten und kommender Glaubenskriege (s. Kap. 9.10). Die Betreuung von Armen und Findelkindern blieb Aufgabe des zu Santo Spirito in Sassia umbenannten Hospizes unter Papst Sinibaldo (Innozenz IV.) aus Genueser Kaufmanns- und Bankiers-Familie. Doch die Päpste Sixtus IV. und Paul V. wandelten es zur Banco di Santo Spirito. Diese begann, steuerbefreit Bankobligationen auszugeben. All dies betraf nicht nur Gläubige im Alpen-, Voralpen- und Donauraum, sondern Menschen in Gesamtlateineuropa bis zum Ende der Steuerbefreiung der Bank 1968 und der Fusion mit anderen Banken 1992. Die Spannung zwischen kanonisierten Texten und alltäglichem Unterhalt von Küchen, Kleidungskammern, Pferdeställen und Sommerresidenzen hätte Päpste und Kurialen zum Nachdenken anregen können. Gedanken machten sich verärgerte Pilger*innen, die in Rom Geldwechsler und Tische voller Geld sahen und davon berichteten. Kirchliche Wirtschaftsfachleute entwickelten Theorien zu Risikoprämien, innerkirchliche Kritiker verfassten um 1240 im salzburgischen Seckau „Das Geldevangelium“ (Evangelium secundum marcas argenti) und nach 1418 im Bodenseegebiet „Des Teufels Netz“. In Seckau – oder in Bayern – waren vermutlich auch die kritischen Carmina burana entstanden. 229 Es gab in der Kirchenprovinz offenbar eine lebendig denkende Geistlichkeit. Laien machten sich ohnehin eigene Gedanken (s. Kap. 9.1, 9.9). Das Eintreiben der servitia überließen die Kirchenmanager privatwirtschaftlichen Finanziers und die eng verwobenen Geschichten der oberitalienischen Kauf-Familien und der mittelitalienischen

Kleriker betrafen Menschen in Friesach und Aquitanien, Wien und Paris. Die anfangs genuesischen und später auch oberdeutschen Kauf-Bankiers begannen ihre Karriere oft als Gläubiger der Päpste. Sie entwickelten die großen Finanzinstitute: Gläubige „zinsten“ an die Lokalkirche, Geldfachleute sammelten die Mitgliedsbeiträge und transferierten einen Teil nach Rom und akkumulierten den Rest als Courtage. Weltliche Herrscher, territorial beschränkt und daher einerseits mit Zahlungspflichtigen schlechter ausgestattet und andererseits zum Kauf von Vasallentreue verpflichtet, bedurften ebenfalls großer Summen. Sie versuchten Steuern zu erheben, doch konnte der erste König der Familie Habsburg eine Vermögensabgabe von zehn Prozent 1274 und 1284/85 gegen „die Städte“, das heißt die Stadtbewohner*innen, nicht durchsetzen. Die Beteiligten änderten Grund- zu Finanz-Akkumulation. Für ihr Rechnungswesen hatten sie das indische Zahlensystem mit dem Konzept Null sowie muslimisch-arabische Buchführung und Finanzinstrumente übernommen: Wechselbrief und doppelte Buchführung, Kontrakte zwischen zwei oder mehr Partnern, Vereinbarungen, in denen ein Investor sein Geld einem Agenten überließ. Das arabische Wort dīwān, Rat, wurde europäisiert zu duana, Rechnungsamt. Familien und Personen schlossen sich zu stillen Partnerschaften, commende, zusammen: Alle brachten Kapital ein, manche als aktiv Beteiligte, andere als stille, nur am Erlös interessierte. Teil-Habe war Ver-Sicherung, denn bei Havarie verloren Kapitalgeber*innen nur den Teil ihres Vermögens, den sie eingebracht hatten. Einheimische und Zugewanderte (advene homines) in Genua entwickelten Versicherung als eigene Sparte und, da Kaufleute ihre Waren nicht mehr selbst begleiteten, den Frachtbrief als Vertrag zwischen Frachtgeber und Transporteur. Geld-Spezialisten aus Städten der Toskana und Lombardei, bald pauschal „Lombarden“ genannt, professionalisierten die Transaktionen. Wie im Warenhandel führten sie Geldgeschäfte sichtbar auf der Bank (oder dem Tisch), daher bancherii, Bankiers, und, wenn der Tisch zerbrach, banca rotta, bankrott. Sie begannen im 12. Jahrhundert Geldverschreibungen auszustellen statt Münzgeld vor-

Zahlreiche längere und kürzere Versionen; Carmina burana Nr. 44, http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost13/CarminaBurana/ bur_cmo4.html#044 (9. September 2020). Des Teufels Netz. Satirisch-didaktisches Gedicht (hg. von K. A. Barack, Stuttgart 1863), 1. Hälfte 15. Jahrhundert; Paul Lehmann, Die Parodie im Mittelalter, München 1922.

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Transeuropäische und regionale Übergänglichkeiten: Von der Krise des 3. bis zur Krise des 14. Jahrhunderts

rätig zu halten. Mögliche Verluste rechtfertigten Risikoprämien; Indossament, das heißt die Unterschrift, dass eine Summe beglichen sei, machte Wechsel handelsfähig und Geldwechsler wandelten sich zu Geldhändlern. Ein- und Auszahlungen führten sie mit Übertragungen (giri) zwischen Kontobüchern (Girokonten) aus. In Cahors, Kreuzung der Geldverkehrs-Routen von Marseille nach Bordeaux und von den nordfranzösischen Messen zum Mittelmeer, etablierten sich lokale Bankiers, sogenannte Kawertschen. 230 Sie machten sich in einem Ausmaß unbeliebt, dass Dante ihnen im „Inferno“ (~1300) ein Denk-Mal setzte. Zisterzienser beteiligten sich aktiv am Finanzwesen (s. Kap. 8.3), das Niveau „christlichen“ Zinses lag um 1200 in italienischen Städten bei zwanzig Prozent oder mehr, im 13. Jahrhundert bei ca. zehn Prozent. Als Päpste das kuriale Finanzwesen nach Avignon verlagerten, richteten die Bankiers dort Filialen ein. 231 Im Rahmen mittelmeerischer Konkurrenzen unterstützte die finanziell europaweit vernetzte Korporation Genua das von Venedigs KreuzkriegsMaschinerie vertriebene oströmische Kaisertum in Nikaia (Iznik), als es 1261 Konstantinopel zurückeroberte. Genua erhielt 1273 im Gegenzug den Stadtteil Pera als feste Niederlassung und dort lebten einige Jahrzehnte später bereits etwa 7000 ligurische Migrant*innen. Sie expandierten in Schwarzmeerhäfen seldschukischer Herrscher, gründeten auf der Krim die Kolonie Kaffa (Feodosija, bis zu 20.000 Einwohner*innen) sowie das kleinere Tana (Asow) am Don-Fluss und handelten im Rahmen der Pax mongolica. Der Codex Cuman[ic]us mit Kumanisch, Persisch und Niederlatein als linguae francae half. Einige Händler scheinen über Landwege Nordindien erreicht zu haben, belegt ist Handel Dnepr-aufwärts bis Kiew und Donau-aufwärts durch das Eiserne Tor bis Temesvár (Timișoara). Auf der von ihnen besetzten Insel Chios etablierten Menschenhändler den größten Sklav*innenmarkt des Mittelmeerraums. 232 Im Westen erschlossen sich die norditalienischen Fern- und Finanzkaufleute Häfen Rhôneaufwärts zur Loire und Landrouten über Alpenpässe

und durch die Ebenen Francias nach Flandern und London. In der Champagne trafen sie auf Märkte der Familien- und Kloster-Grundherrschaften an Seine und Marne, die dort Überschüsse aus den Werkstätten ihrer Hofsklav*innen verkauften. Sie und die wirtschaftsfördernde Politik der Grafen-Familie in Blois und der Champagne, über Herzogin Mathilde aus der Familie Spanheim (Kärnten, gest. 1160/61) mit der Salzburger Kirchenprovinz verbunden, entwickelten die Märkte zu transeuropäischen Messen für italienische Orientwarenhändler und flandrische Tuchhändler. Die Grafen boten Kaufleuten gleich welcher Herkunft oder Religion Geleitschutz für die An- und Rückreise, verschriftlichten Handelsprotokolle, richteten eine solide Währung ein und ernannten Marktrichter für Konfliktfälle. Diese Pax campania ermöglichte um 1200 jährlich sechs Messen über mehrere Wochen, während derer die Kaufleute sich nach Regionen und, zeitweise, als Gesamtheit (universitas) organisierten. Andere genuesische commende zielten auf Iberien, auf halbem Seeweg zwischen Adria und Flandern. Dort hatten Heere der kastilisch-lateinchristlichen Könige 1248 und 1262 die muslimischen Häfen Sevilla und Cádiz erobert und mit Zwischenstopp erreichten Galeeren Rhein-, Schelde- und Themsehäfen, in denen Hansekaufleute bereits Niederlassungen besaßen. Die iberischen Könige und Königinnen beteiligten sich nicht, denn die Wirtschaft lag darnieder: Allein aus Sevilla waren etwa 300.000 Menschen muslimischen Glaubens geflohen und die Herrscher mussten nordspanische Christen und „maurische“ Handwerker aus Granada für den Wiederaufbau rekrutieren lassen. Die inzwischen auf Bankgeschäfte spezialisierten Messen in der Champagne verloren ihre Bedeutung, als um 1260 der König in Frankreich das Gebiet durch Heirat mit der letzten Erbin der GrafenFamilie akquirierte und das System ruinierte, um Handel und Bankwesen in Paris (ca. 200.000 Einw.) zu zentralisieren. Neues regionales Zentrum wurde die Hafenstadt Brügge (ca. 60.000 Einw.). 233 Drei Jahrzehnte nach Beginn der klimatisch bedingten Ressourcenverknappung zwischen 1313 und 1315

Als der Bischof in Cahors sich zwischen 1209 und 1229 mit kreditfinanzierten Truppen an den Plünder- und Mordzügen Simons IV., Montfort, gegen Albigenser beteiligte (s. Kap. 9.10), hatten sich seine lombardischen Gläubiger bei seiner Residenz angesiedelt. 231 Eine Anleitung für doppelte Buchführung schrieb der Franziskaner Luca Pacioli, Summa de Arithmetica, Geometria, Proportioni et Proportionalita, gedr. Venedig 1494. 232 Thomas Ertl, Alle Wege führten nach Rom. Italien als Zentrum der mittelalterlichen Welt, Ostfildern 2010, 67–85; http://www.iranicaonline.org/ articles/codex-cumanicus (28. Juli 2020), 1. Drittel 14. Jahrhundert. 230

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Urbane Kauf-Familien, neue Finanzeliten und -instrumente, Zehnteinzug

verwickelten sich die französische Königs-Familie Valois und die englisch-aquitanisch-angevinische Plantagenêt-Familie in eine mehr als hundertjährige Fehde um den Besitz von Aquitanien. Sie heuerten militärische Subunternehmer an, darunter genuesische Bogenschützen, die Bankiers in Cahors verloren ihre Rolle. Der Nord ←→ Süd-Handel sank, da die italienische Tuchfabrikation wuchs; der West ←→ Ost-Handel über Leipzig, Prag und Krakau bzw. von Oberitalien über Pettau (oder Friesach) von und nach Ungarn nahm zu. Das Kreditwesen expandierte, denn weder Genuas Stadtpatriziat noch die Kurie noch weltliche Herrscher entwickelten ein an Einnahmen orientiertes Ausgabenregime. Statt – wie ortsfeste Klöster – dingliche immobile Pfänder zu nehmen, forderten die städtisch-mobilen Bankiers als Sicherheit Zugriff auf Zehnt- und Steuerabgaben, Zolleinnahmen, Bergwerkserlöse, Mautgebühren: Monetarisierung des Pfandwesens. Genuas bankrotte Elite übergab 1407 der Banco (Casa) di San Giorgio, das

heißt deren vier anteilseignenden Familien mit eigenen Truppen und Gerichtswesen, sogar die Leitung und Ausbeutung von Kolonien. Tief verschuldeten sich ein Jahrhundert später die Familie Habsburg und die sogenannten Katholischen Könige Isabella ○○ Ferdinand, die Atlantikexpeditionen, darunter die des Genuesen Christoph Kolumbus, finanzierten (s. Kap. 12). Die Entwicklung des kapitalintensiven→ kapitalistischen Wirtschaftens, hier nur knapp erläutert, hatte mehr Einfluss auf das Leben nachfolgender Generationen als alle politischen Macht- und höfischen Konsum-Entwicklungen zusammen. Finanzinstrumente wurden nie in Prozessionen öffentlich zur Schau gestellt, denn sie waren nicht anschaulich. Andererseits stellten Maler punktuelle Zeichen sichtbaren Konsums – Wohnpaläste, Burgen und Pfalzen, Schlösser – in vielen Wiederholungen dar. Die von ländlichen Menschen geschaffenen Kulturlandschaften, in denen sie standen, bildeten den Hintergrund.

Der Anteil der Stadtbevölkerung lag im lateineuropäischen Durchschnitt bei fünf Prozent, in Nordfrankreich und den Niederlanden bei etwa dreißig Prozent.

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Lebens- und Bewegungsweisen vom 8. bis zum 15. Jahrhundert

7 Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Während der Verlagerung des Zentrums des RR nach Konstantinopel und Anatolien und der Expansion von Mero-Karolingia schufen ländliche Menschen unverändert Kulturlandschaften unter den jeweiligen klimatischen Bedingungen und gemäß „demografischen Wachstums“ – Kürzel für Aufziehen und Aufwachsen, Lernen, Kinderliebe im doppelten Sinn und Erarbeitung eigener wirtschaftlicher Grundlagen durch junge Erwachsene. Die Pflanzen und Tiere, das heißt die Optionen, die Migrant*innen aus den Gesellschaften im Zweiund Einstrom-Land – Euphrat, Tigris, Nil – über Jahrtausende westwärts getragen hatten, hatten ihre Vorfahren nördlich der Alpen und westlich des Rheins ihren Böden, Klimazonen und Bedürfnissen angepasst. 1 Als fränkische Trupps die Hausgemeinschaften nach-Noricums unterwarfen und awarische sie bedrohten (s. Kap. 4.8, 5.7), war das Wetter kühl und feucht, wärmere Temperaturen und ausgeglichene Regenfälle ermöglichten erst Generationen später bessere Ernten und Lebensverhältnisse. Für Familien und die kleinen Siedler*innen-Verbände war Erarbeiten der Lebens-Mittel weit wichtiger als Regimewechsel. Ihre Initiativen, ständig verbesserten funds of knowledge – die weder nur Repertoire noch fester Fundus waren – und emotionalen Gemeinschaften ermöglichten Schwertund Diskursbewaffneten das Überleben. 2 Die Gebiete westlich des Rheins waren im 9. Jahrhundert noch zu etwa vierzig Prozent bewaldet, östliche zu achtzig Prozent. Die Landwirtschaftenden rodeten Wälder, legten Moose/Moore trocken und nutzten hochgelegene Weiden. In „Mittenwald“ oder „Waldbach“ Lebende hatten lange Wege. Manche Tätigkeiten, wie das Fällen von Bäu-

men, waren gefährlich. Da das Fällen, Entästen und Zuhauen von Bauholz unterschiedliche Klingen und Stiele erforderten, differenzierten sie ihre Werkzeuge. Als in karolingischer Metallbewirtschaftung Eisen überwiegend für Rüstungen verwendet wurde, fehlte ihnen eisenbeschlagenes Werkzeug. In anderer Region und Zeit erinnerten Neusiedler eine düstere Generationenfolge: „Der ersten Tod, der zweiten Not, der dritten Brot“ (Elbe-Weser-Raum, 18. Jh.). Die Feldwirtschaftenden schufen dauerhafte Kulturlandschaften, während auf Schlachtfeldern Fehdende oder Schlachtende um ephemere TeilTerritorien und Rang-Ordnungen oder -Unordnungen stritten. Ich zeige zuerst, wie kirchliche Chronisten Erinnerung an diese Lebenswelten auslöschten: Herrschergeschichten statt Humangeschichte (Kap. 7.1, 7.2). Sozialhistoriker*innen, vereinzelt schon um 1900, haben versucht, das Leben der Mehrheit zu rekonstruieren. Die „Franken“, die in post-Noricum eindrangen, ernannten sich zu „Edlen“ (Diskursebene) und machten ansässige Landarbeitende (Realwirtschaft) mit dem lībe, „Leben“, und nicht nur mit dem „Leib“ eigen: „Herrschaft über Menschen“ (H. Fichtenau) oder „umfassende Sklavengesellschaft“ (C. I. Hammer). Die Menschenbesitzer banden sich selbst, denn ohne Lebenseigene waren sie nicht edel, sondern hungrig. Für die Analyse der Freiheitsberaubung verwende ich komparatistisch die Konzepte Hörigkeit und Sklaverei gemäß Forschungsergebnissen seit den 1950er Jahren (Kap. 7.3). Wirtschaftlich beruhte das extraktive Regime, wie in Kapitel 6 dargestellt, auf Umverteilung von Gütern und Dienstleistungen von den Unter-worfe-

Zu „Europa“ als geografischem Begriff Jörg Rüpke, „Europa und die Europäische Religionsgeschichte“, in: Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke und Kocku von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, 2 Bde., Göttingen 2009, 3–14. Lat. occidens („wo die Sonne untergeht“) ersetzten Intellektuelle erst am Beginn des 16. Jahrhunderts durch „Abendland“ und Luthers Deutsch führte den Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. 2 Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, rev. 2009, stellt Lebens-Mittel, Roggen und Hafer, an den Anfang und Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters, München 2012, Körper, Gefühle und Arbeit: nachahmenswerte Ansätze. 1

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

nen an die Oben-stehenden. Dezentrale und wechselnde Herrschaften bedeuteten hohen Transportbedarf und erklärten die Bedeutung von Spannund Saumdiensten. Herrschaftlichen Grundbesitz, geteilt in spannfähige Hufen mit einem Paar Ochsen, hielten schriftkundige Verwalter in Urbaren fest, die scheinbar Sachbesitz auflisteten, real aber die Beziehungen zwischen Herrschenden und Menschenbesitz – Menschen, auf denen sie saßen – verzeichneten. Die Besessenen – religiös und umgangssprachlich ein Zustand psychischer Belastung durch Dämonen – hatten Zwangsdienste (servitiae) zu leisten und Abgaben für ihre Lebensphasen zu zahlen: für Ehe oder Partnerschaft, für Tauf- oder Sterbesakrament, für intergenerationelle Wirtschaftsübergabe. Die Macht- und Alles-Haber belegten die gesamte Um- und Sozialwelt mit magischen Bannen: Regal-Gebühren für Wald, Weide, Wasser, Fisch. Kleriker bannten solche, die Gebühren und Zehnte nicht zahlten, und solche, die eigene Gedanken hatten. Sie nannten dies „Exkommunikation“. Die Produzent*innen konnten meist eine schlechte Ernte, ein Jahr überhöhter Abgaben und Kriegsdienste, wenn auch geschwächt, überstehen, aber nicht mehrere. Wo sie Überschüsse erwirtschafteten, bildeten sie Siedlungskonzentrationen und manche spezialisierten ihre Tätigkeiten. Migrant*innen erweiterten Siedlungen, die günstig lagen, zu Städten. Dies ist oft beschrieben worden. „Konzentration“, umfassender analysiert, betraf jedoch viele Einheiten: Trupp oder Heer, MagnatenHof oder Handelszentrum. Sie alle lebten von der Abschöpfung des Mehrwerts der landbauenden Familien. Freiwillig belieferten letztere kleine Märkte und erweiterten durch Tausch und, später, Geld ihre Auswahlmöglichkeiten. Marktwirtschaft war ihnen nicht neu, denn Salz und Eisen hatten sie immer durch Handel erwerben müssen. Sie durften nicht lesen und schreiben (literacy), aber sie konnten rechnen (numeracy). Unter den Bedingungen des erneut milden Klimas erschlossen Männer und Frauen mit ihren Kindern in zwei Rodungsphasen zwischen dem 7. und 9. und dem 11. und 12. Jahrhundert nutzbare Böden, in der Alpenregion bis in etwa 1400 m Höhe, 3 4 5

und legten Neubrüche noch im 13. Jahrhundert an. Dafür migrierten eigeninitiative Unfreie und, mehrheitlich, mit gewissen Rechten entsandte Kolonisten in die Wälder, die Herren als die ihrigen bezeichneten. Rodungsböden, wurzeldurchzogen und oft steinig, mussten über Jahre und Generationen zu Ackerböden verbessert werden. Wo möglich führten die Menschen seit dem 9. Jahrhundert eine intensivere Bewirtschaftung ein und etwa zeitgleich entwickelten andere die „arabische landwirtschaftliche Revolution“ (8.–11. Jh.), wieder andere die „grüne Revolution“ in Song-China (10.–13. Jh.). 3 Auf halbem Weg zwischen beiden lagen in Zentralasien die Vorkommen von Lapislazuli, das Skriptor*innen in Klöstern verwandten, und das Ferganatal, dessen Pferdezüchter die chinesischen Eliten versorgten. Trotz der Lasten auf ihren Schultern verbesserten Landwirtschaftende über Generationen Anbauweisen und Geräte. Der Übergang von Emmer, Einkorn, Gerste und Nacktweizen 4 zu im Norden bereits bekanntem Dinkel, Roggen und Hafer ermöglichte ihnen die Nutzung von Böden geringerer Qualität. Sie wandelten Brei- zu Brotnahrung und bedurften dafür gemeinschaftlich genutzter Wassermühlen und Backöfen. Sie übernahmen diese von fernen Nachbar*innen oder entwickelten sie selbst. „Brot“ würde in Sprachbilder eingehen wie Spinnen und Weben. Menschen wurden „brotlos“, wenn sie keine Arbeit hatten. In den folgenden Schritten verringerten sie extensive Viehhaltung und erweiterten lokale Märkte zu Marktorten. Burg-, Kloster- und Kirchenherren zogen Menschen gemäß ihrem Bedarf zusammen. Ländliches Handwerk und lokaler Handel bedeuteten plurales Wirtschaften mit vorausschauender, gender- und altersspezifischer Planung des Zeitbudgets für Teiltätigkeiten. Die Beteiligten beschleunigten die Entwicklung von Städten im 11. Jahrhundert, ihre Kinder und Kindeskinder verbesserten Produktionsprozesse im 12. und 13. Jahrhundert. Mit schrittweiser Monetarisierung der persönlichen Zwangsdienste wuchsen individuelle und kollektive Dispositionsmöglichkeiten und städtisches Leben bot zusätzliche Optionen. 5 Jede Familie ernährte und sozialisierte ihre Kin-

Mitterauer, Europa, 29–35. Anders als Nacktgetreide erfordert Spelzgetreide das Schälen der Spelzen von den Körnern. Colin Morris, The Discovery of the Individual, London 1972, löste eine lange Debatte über die Frage von Individualität im Mittelalter aus.

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

der und kannte ihre Möglichkeiten und Grenzen. Überlebten mehr Kinder, als auf ihrer Hufe ernährt werden konnten, mussten sie das Land teilen und den Lebensstandard senken oder die „Überzähligen“ wegschicken. Und sie mussten sich emotional auf die Konsequenzen einlassen. Wenn Land in den Ebenen und Flusstälern knapp wurde, rodeten Nahwandernde Hügel und Berghänge, entwässerten Feuchtgebiete oder besiedelten abgelegene Täler wie in Kärnten, Steiermark und Tirol. Familiendemografie zwang Landsässige zu Mobilität. Der Scholle verhaftete bäuerliche Haushalte 6 oder Markgenossenschaften „freier Germanen“ als Ursprung freier Deutscher erfanden Ideologen und Romantiker Jahrhunderte später. 7 Nach Darstellung der Praxis der Herrschaft über Menschen (Kap. 7.4) analysiere ich die Strukturen der Lebensumstände (Kap. 7.5) und, soweit möglich, das Handeln dörflicher und in Waldwirtschaft und Bergbau arbeitender Menschen (Kap. 7.6, 7.7) sowie die Veränderungen durch die Entwicklung von Knotenpunkten, Monetarisierung und Marktorientierungen (Kap. 7.8). Dann versuche ich, Widerständigkeiten, Denken und Weltbild zu fassen (Kap. 7.9). Wandersänger und -prediger sowie Rechtskundige verkündeten ihre Bilder von ländlichen Menschen in Diskursen und Rechtskodizes (Kap. 7.10). All dies endete mit dem tiefen menschlichen und wirtschaftlichen Einschnitt der Kälteperiode ab Beginn des 14. Jahrhunderts und der Pest (Kap. 7.11). Höfische Chronisten berichteten über vieles nicht, aber höfische Steuer- und Zehnteinzieher wussten genau, was und wieviel jede Hauswirtschaft abzuliefern hatte. Angesichts des zielstrebigen Schweigens der Wort-Führer scheinen Quellen für das Leben ländlicher Menschen zu fehlen. Für die Kirchenprovinz Salzburg ist die Geschichtsschreibung dünn, die Region war im Vergleich zu Rhein-Loire- und Po-Ebene marginal und Territorialhistoriker behandelten sie marginal. Einen sozialhistorische Aspekte einbeziehenden Gelehrten

Abb. 7.1 Monatsbilder der „Salzburger Enzyklopädie“ (kolorierte Federzeichnung)

wie den fränkischen Gregor (538/9–594), den englischen Bede (672/3–735) oder den langobardischen Paulus Diaconus (725/730–797/799) gab es im Voralpenraum nicht. Die Eliten Galliens und der britischen Inseln schätzten Schriftlichkeit mehr als die ostrheinisch-danubischen. Bildliche Darstellungen ländlicher Menschen fehlten im Ostalpenraum fast völlig. Nur die als Parallelhandschrift zur „Aachener Enzyklopädie“ entstandene „Salzburger Enzyklopädie“ von 818 enthielt Monatsbilder, die arbeitende Menschen statt Personifizierungen („der Mai mäht“) zeigten. Die klerikalen Autoren interessierte Zeitrechnung, nicht Leben. Sie debattierten, besonders in Aachen 809, eine Zählung „seit Christi Geburt“ zur Abgrenzung von jüdischer Zeitrechnung. Aber ihre Komputistik war nicht immer exakte Wissenschaft.

Volkskundler wie W. H. Riehl (1823–1897) in München idealisierten germanisches Bauerntum als beharrenden Kern der Nation; Hörigkeit sei „eine wahre Wohltat“ und „Zuchtschule des Lebens“ gewesen, die Grundherren hätten Vagabundieren verhindert. „Erforschung des deutschen Volkskörpers“ betrieb Günther Franz in den 1930er Jahren. Der Direktor des Österreichischen Museums für Volkskunde Leopold Schmidt (a. 1960–1977) schrieb in den 1950er Jahren über die „Gestaltheiligkeit“ bäuerlichen Lebens auf Basis der Form der Bogensichel. Wolfgang Jacobeit u. a. (Hg.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1994. 7 Im Rahmen bürgerlicher Emanzipation war es nicht opportun einzuräumen, dass Deutsche und Österreicher von Hörigen abstammten (Georg Ludwig von Maurer, Geschichte der Markenverfassung in Deutschland, 1856). A. Cordes, „Mark, -genossenschaft“, Lexikon des Mittelalters, 9 Bde., Stuttgart 1999, 6:298–300. 6

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.2 Pflügender Bauer, „Stuttgarter Psalter“, St.-Germain-des-Prés, 1. Hälfte 9. Jh. In der Salzburger Darstellung pflügt ein Mann mit hölzernem Hakenpflug, im Westen arbeiteten Menschen bereits mit Scherbrett.

Internationale mehr als deutsch-sprachige Forschung zeigt, dass das Leben der nach unten Geschichteten rekonstruiert werden kann. Bereits um 1900 untersuchten der Geograf und Historiker Fritz Curschmann (Greifswald) Hungersnöte und Armut und die norwegisch-amerikanische Wissenschaftlerin Agnes Wergeland (Chicago) Sklaverei. 8 Philippe Dollinger aus der wirtschaftshistorischen Schule der französischen Annales analysierte 1949

die bayerischen classes rurales, 9.–13. Jahrhundert; „fehlende Quellen“ seien eine Mär desinteressierter Historiker, kommentierte er – diese blieben über drei Jahrzehnte an seiner Studie desinteressiert. 9 Ausnahmen bildeten für die Salzburg-Region Herbert Klein und Fritz Koller sowie, breiter, Michael Mitterauer, Karl Brunner und Gerhard Jaritz. 10 Carl I. Hammer (USA) untersuchte seit den 1970er Jahren Bayerns large-scale slave society 11 und Wissenschaftler in der DDR bäuerliche Kultur insgesamt. 12 BRD-Forscher begrenzten sich auf vereinfachte „Grundherrschaft“ und reduzierten adlige Familienstrukturen auf Geschlechterkunde. Nur Wilhelm Störmer (München) bezog wirtschaftshistorisch-funktional die Rolle von Klöstern und, später, Martina Hartmann von Alltagsleben ein. 13 Die provinziell karolingisch-politische Sichtweise wird seit etwa 2000 abgelöst durch Studien zu Europa einschließlich mittelmeerischer Handels- und Kulturkontakte. 14 Sie schließen an und revidieren die klassischen Studien von Wilhelm Abel (Göttingen) und Alfons Dopsch (Wien). 15 Deutlich besser ist die handwerksgeschichtliche Forschungslage in der DDR, 16 Österreich 17 und der BRD. 18 Das Spezifische der Voralpen- und Alpen-

Fritz Curschmann, Hungersnöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts, Leipzig 1900; Agnes M. Wergeland, Slavery in Germanic Society during the Middle Ages, Chicago 1916. 9 Philippe Dollinger, Der bayerische Bauernstand [frz. classes rurales] vom 9. bis zum 13. Jahrhundert, hg. von Franz Irsigler, übers. von Ursula Irsigler, München 1982 (frz. 1949), zur Quellenlage 20–38. Aleksandr I. Neusychin, Die Entstehung der abhängigen Bauernschaft als Klasse der frühfeudalen Gesellschaft in Westeuropa vom 6. bis 8. Jahrhundert, Berlin 1961 (russ. 1956), 471–551. Thomas Kohl, Lokale Gesellschaften: Formen der Gemeinschaft in Bayern vom 8. bis zum 10. Jahrhundert, Ostfildern 2010. 10 Herbert Klein, „Die bäuerlichen Eigenleute des Erzstiftes Salzburg im späteren Mittelalter“ (1933/34), in: ders., Beiträge zur Siedlungs-, Verfassungsund Wirtschaftsgeschichte von Salzburg. Gesammelte Aufsätze. Festschrift, Salzburg 1965; Karl Brunner und Gerhard Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht: Der Bauer im Mittelalter: Klischee und Wirklichkeit, Wien 1985; Peter Feldbauer, Michael Mitterauer u. a., Herrschaftsstruktur und Ständebildung, 3 Bde., München 1973. 11 Carl I. Hammer, „Family and familia in Early Medieval Bavaria“, in: Richard Wall, Jean Robin und Peter Laslett (Hg.), Family Forms in Historic Europe, Cambridge 1983, 217–248; und ders., A Large-Scale Slave Society in the Early Middle Ages: Slaves and Their Families in Early Medieval Bavaria, Aldershot 2002. 12 Ulrich Bentzien, Bauernarbeit im Feudalismus. Landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und -verfahren in Deutschland von der Mitte des ersten Jahrtausends unserer Zeit bis um 1800, Berlin 1980, zur Forschung 9–21; Siegfried Epperlein, Bäuerliches Leben im Mittelalter: Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln 2003; und zahlreiche weitere Studien. 13 Wilhelm Störmer, Mittelalterliche Klöster und Stifte in Bayern und Franken, hg. von Elisabeth Lukas-Götz, Ferdinand Kramer und Andreas O. Weber, St. Ottilien 2008; Martina Hartmann, Aufbruch ins Mittelalter. Die Zeit der Merowinger, Darmstadt 2003. 14 Michael McCormick (USA), Origins of the European Economy. Communications and Commerce A.D. 300–900, Cambridge 2001; Adriaan Verhulst (Belgien), The Carolingian Economy, Cambridge 2003; Jörg Drauschke (Deutschland), Zwischen Handel und Geschenk. Studien zur Distribution von Objekten aus dem Orient, aus Byzanz und aus Mitteleuropa im östlichen Merowingerreich, Rahden/Westf. 2011. 15 Alfons Dopsch, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit vornehmlich in Deutschland, 1. Bd., Weimar 21921; und ders., Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung, 2 Bde., Wien 21923/24; Wilhelm Abel, Forschungen seit den 1930er Jahren, bes. Deutsche Agrargeschichte, Bd. 2: „Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert“, Stuttgart 1967. 16 Sigrid Jacobeit und Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes 1550–1945, 3 Bde., Berlin 1985–1995. Vgl. auch W. Jacobeit, Von West nach Ost und zurück. Autobiographische Notizen eines Grenzgängers zwischen Tradition und Novation, Münster 2000. 17 Harry Kühnel u. a. (Hg.), Alltag im Spätmittelalter, Graz 1984; und andere Arbeiten des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (IMAREAL) in Krems. 18 Herbert Jankuhn u. a. (Hg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, 2 Bde., Göttingen 1983; und andere Publikationen dieser Autor*innen. Zum Bauhandwerk die Arbeiten von Günther Binding, Köln. 8

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Chroniken ohne Menschen …

region sowie des Pannonischen Beckens muss vielfach aus Europaweitem abgeleitet und aus Österreichweitem erschlossen werden. 19 Die Nahrung-schaffenden laboratores waren nicht „die Bauern“ (männlich), sondern Familien mit Emotionalität. Seit dem 9. Jahrhundert gab es kaum noch Freie, die Bezeichnung „bur“ erschien im 11. Jahrhundert. Sie lebten in Hausgemeinschaften als Arbeits- und Tischeinheiten mit, soweit vorhanden, Knechten und Mägden und in FranciaGallia bis ins 9. Jahrhundert mit Sklav*innen. „Gemeinschaft“ schloss Geschlechter-, Gesinde- und intergenerationelle Hierarchien sowie Gewalt ein. In dieser Welt galt, wer Dach und Herd, und nicht, wer nur Strohsack und Truhe in einer gemein-

schaftlichen Kammer hatte. „Familie“ war vielfach Partnerschaft, denn Unfreie durften oft eine formalisierte Ehe nicht eingehen. Sie lebten aus freiem Willen oder vom Grundherrn zusammengelegt in stabiler, manchmal sequenzieller Beziehung. Gelegentlich lebten Geschwister zusammen, meist Bruder und Schwester. Auf Herrenhöfen stellten Sklav*innen Güter für Konsum oder Vermarktung her. Alle stellten die für ihre Haus-, Garten- und Feldarbeit notwendigen Gerätschaften her; Männer- und Frauenarbeit, opera virile und muliebra, überlappten. Die merowingischen Leges Salica und Ripuaria kannten einen „Bauernstand“ nicht; Verfügungen Karls d. G. nannten Macht-reiche (potens) und Macht-arme ohne politische Rechte (pauper). 20

7.1 Chroniken ohne Menschen … Kirchliche Chronisten erwähnten weder Arbeit noch Seelenheil der Unfreien 21 und die Sprachstruktur ihrer Lebensbeschreibungen einflussreicher Männer exkludierte laboratores: Rupert gründete Salzburg, Tassilo zog gegen die Karantanen, Karl d. G. besiegte die Sachsen. Städte erbauten Handwerker*innen, auf Töten sozialisierte Bewaffnete machten Männer, Frauen und Kinder karantanischer und sächsischer Kulturen nieder. Rupert und Tassilo III. verpflichteten Fron-arbeitende Familien, um aus Iuvavums Überresten Steine zu hauen und Fundamente zu graben. Die monastischen Autoren verschwiegen auch die Frauen der Eliten: „deliberate obfuscation“ (Sarah Foot) und „androcentrism“ (Roberta Gilchrist). 22 Für gatekeeper – Männer mit Schlüsselgewalt zur Erinnerung – war Verschweigen praktisch, denn so brauchten sie Erinnerung nicht nachträglich zu löschen. Die „Stimme der Elite“ (Rosamond McKitterick) ignorierte die „eigene

Mehrheit ideologisch“ (A. J. Gurjewitsch). So gesehen waren die Schriftkundigen Ignoranten. 23 Rationalisten im 17. Jahrhundert bezeichneten die Kleriker als „Dunkelmänner“, doch waren sie aktiv verdunkelnde Männer. Ihre Texte ohne Menschen waren un-menschlich. 24 Nur einzelne schrieben als mitleidende Beobachter über Armut und Hunger. Wandelbert (813–870) im Kloster Prüm (Eifel) behandelte ländliche Arbeiten im Detail. Der englische Ælfric Grammaticus lehrte Unfreie – Pflüger, Ochsenhirten, Schäfer, Fischer – Latein (10./11. Jh.). Vergil (70–19 v. u. Z.), in der fruchtbaren Po-Ebene mit Exportwirtschaft sozialisiert, hatte landwirtschaftliche Arbeiten beschrieben und 1502 publizierte ein Straßburger Drucker seine Aeneis erneut. Religiöse Frauen nahmen Armut wahr und widmeten sich der Armenhilfe, aber sie schrieben nicht darüber. 25 Kleriker verfassten in den 850er Jahren die Carmina Salisburgensis als dem Erzbischof lobhudeln-

Dollinger, Bauernstand, 20–38; Kohl, Lokale Gesellschaften, 13–29. Willibald Hauthaler und Franz Martin (Hg.), Salzburger Urkundenbuch, 4 Bde., Salzburg 1910–1933. 20 Ruth Schmidt-Wiegand, „Der ‚Bauer‘ in der Lex Salica“, in: Reinhard Wenskus, Herbert Jankuhn und Klaus Grinda (Hg.), Wort und Begriff „Bauer“, Göttingen 1975, 128–152, und Karl Stackmann, „Bezeichnungen für ‚Bauer‘ in frühmittelhochdeutschen Quellen“, ebd., 153–179. 21 Aus diesem Grund stammen manche der Illustrationen in diesem Kapitel aus späterer Zeit. 22 Foot, Veiled Women: The Disappearance of Nuns from Anglo-Saxon England, 2 Bde., Aldershot 2000, 1:ix, 32. 23 Rosamond McKitterick, The Frankish Kingdoms under the Carolingians, London 1983, 1–15; Aaron J. Gurjewitsch, Stumme Zeugen des Mittelalters. Weltbild und Kultur der einfachen Menschen, übers. von Ulrike Fromm, Wien 1997 (russ. 1990), Zitat 19, 29–33; Ian Wood, The Missionary Life: Saints and the Evangelisation of Europe, 400–1050, New York 2001, 169. 24 In römischer Zeit waren bildliche Darstellungen einfacher Menschen üblich. Hans Kloft, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, Mainz 2006; und Robert Knapp, Invisible Romans, Cambridge, MA 2011. 25 Ælfric’s Colloquy, aus dem Lateinischen von Anne Watkins, http://www.kentarchaeology.ac/authors/016.pdf (8. September 2020). 19

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

den Insiderdiskurs und, nach dem Stadtbrand 1167, eine Historia calamitatum ecclesiae Salisburgensis als Trostadresse an den geflüchteten EB. Die Erinnerer, die später diese Jahrhunderte als dark ages verdunkelten, erfanden sich in Selbstbezug als Lichtquelle die griechisch-römische Antike plus Christianisierung als Abendland. Kontinuierliche Entwicklungen entgingen ihrem Stand- und Blickpunkt „von oben“ durch Beschränkung auf Schenkungsurkunden und Besitzverzeichnisse als einzige Quellen. Die Notitia Arnonis hielt Zu-Stand, nicht Prozess, fest. Privaturkunden, die Traditions- und Urkundenbücher der Klöster, Kapitularien von Synoden und Formel-Sammlungen bieten ein komplexeres Bild. Lynn White kommentierte bereits 1964, dass Historiker nur an Besitz von Land, nicht an dessen Kultivierung Interesse gehabt hätten. 26 Auch als Laien und literarische Autoren im 11. Jahrhundert zum vielfältigen Mitteldialektdeutschen übergingen, verharrten die kirchlichen Schreiber im Latein. 27 Urkunden, vielfach abgeschrieben und dabei verändert wie mündliche Tradierungen, entstanden

gemäß Interessen und Diskursen der Auftraggeber*innen. Abschriften dienten meist nicht wortgetreuer Wiedergabe, sondern Ziel war die Aktualisierung zu einem zeitangepassten und autoritativen Text: ein kontextabhängiges Verständnis von „Wahrheit“. 28 Dies konnte Verteidigung sein, wie bei der Abwehr neuer herrschaftlicher Forderungen; es konnte Betrug sein, um Besitz zu mehren und Zwangsleistungen der untertänig Gemachten zu erhöhen. „Rege Aktivität […] bei der Fabrizierung von Falsifikaten“ zeigten Passauer Bischöfe. 29 Wie konnte es sein, fragte Gurjewitsch, „dass in einer Gesellschaft, in der die Lüge als große Sünde beurteilt wurde, die Herstellung eines falschen Dokumentes zur Begründung von Besitz- und anderen Rechten für eine gottgefällige Sache gehalten“ wurde? 30 Pointiert ließe sich formulieren, die bellatores hatten das Schwert, die oratores die Schrift – die wertschaffenden laboratores durften das Schwert nicht tragen und die Schrift nicht lernen. Ein Schwertstreich löschte ein Leben aus, ein Federkiel-Handstreich Erinnerung. 31

7.2 … und Schenkungen-Handel mit Menschen Viele Rechtsgeschäfte betrafen Besitzwechsel von Menschen-auf-Land, gefasst als Land-mit-Menschen, darunter besonders „Schenkungen“ Wohlhabender an die jeweilige lokale Kirche. Schenkung war ein komplexer Vorgang. Erstens war sie nicht uneigennützig. Der/die Tradierende erwartete als Gegenleistung Gebete für sich oder nahe Verwandte zum „ewigen Heil der Seele“. Gott würde am Tag des Jüngsten Gerichtes die Gabe an die Kirche in

die Waagschale legen und einen Gegenwert geben. Materielle Gabe für spirituellen Vorteil. 32 Zweitens machten Schenkungen in weltlicher Funktion Reichtum sichtbar und festigten Positionierungen, im Englischen deutlich als „gifts broadcast wealth“. Schenkung war ein mehrseitiger Prozess: Gebende, Annehmende und Zuschauer*innen. Auch „Seelgerät“ wurde gegeben, Altargerät aus Gold und Silber und menschliches „Gerät“, das heißt Unfreie und

Historiker, die den Begriff „pre-history“ erfanden, hätten das Handeln der Unteren als „sub-history“ bezeichnet. Sie verehrten „the segments of our race which have had the habit of scribbling“: Lynn White, Medieval Technology and Social Change, Oxford 1964, vii, 39. Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts: Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde., Stuttgart 1984, 1:2. 27 Die Dialekte umfassten von Norden nach Süden das Nieder-, Mittel- und Oberdeutsche mit jeweils mehreren Varianten, im Fall des Oberdeutschen: Alemannisch, Ostfränkisch, Südrheinfränkisch und Bayerisch, letzteres geteilt in nördliches (Nürnberg), mittleres (Salzburger Kirchenprovinz) und südliches Bayerisch (Tirol, Kärnten, Steiermark). 28 Michael Brauer, Die Quellen des Mittelalters, Paderborn 2013, 21–131, bes. 45–62. Gurjewitch, Stumme Zeugen, 137–151, zeigt, wie kirchliche Akteure religiöse Visionen ländlicher Menschen bei Niederschrift ihren eigenen Bedürfnissen anpassten. 29 Heinrich Fichtenau, „Zu den Urkundenfälschungen Pilgrims von Passau“, in: Beiträge zur Rechts-, Landes- und Wirtschaftsgeschichte: Festgabe für Alfred Hoffmann, Graz 1964, 81–100. 30 Aaron J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, übers. von Gabriele Loßack, bearb. von Hubert Mohr, Dresden 1978 und München 1980 (russ. 1972), 11. 31 Mathieu Arnoux, Le Temps des laboureurs. Travail, ordre social et croissance en Europe (XIe–XIVe siècle), Paris 2012, 63–65. 32 Schenkungen an Gott (AT), „Opfer“, waren doppelt eigennützig: Die ferne Gottheit erhielt die ungenießbaren Teile des Opfertiers, die Gebenden verzehrten beim Opfermahl das Genießbare. 26

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… und Schenkungen-Handel mit Menschen

ihre Kinder, die Priester durch Abgaben für Gebete zum Seelenheil der Schenkenden bezahlten. Hätte Gott diese Unfreien in die Waagschale legen müssen? Die Zentrale der Lateinkirche monetarisierte den Vorgang später als Ablasszahlung. Drittens ist die Unterscheidung, Schenkung schaffe Beziehungen, Handel tausche Ware gegen Ware oder Geld, also persönlich vs. unpersönlich, nicht tragfähig. 33 Handel beruhte auf gemeinsamen Regeln und erforderte Beziehungs-volles Vertrauen; Schenkungen konnten von Klerikern getauscht oder, wenn dies nützlich oder angesichts eines Liquiditätsengpasses nötig war, verkauft werden. 34 Das Beurkunden der Schenkung einer Immobilie dokumentierte Sachstand, doch für die beschenkte Person oder Institution musste die Sache prozessual Gebrauchswert haben, „Erträge abwerfen“: Die sprachliche Floskel setzt, wie „er ist zu Reichtum gekommen“, Wertschöpfung als Selbstläufer. In verschenkten Wäldern, Feldern, Gewässern und Weingärten erwirtschafteten die Arbeitenden Er-trag, den sie dem Besitzer zu-trugen und so die Schenkung ein-träglich machten. Die Unterhaltszahlungen wurden als „Pfründe“, von lat. praebenda, Unterhalt, bezeichnet. Alle Amtsinhaber und Würdenträger lebten vom Mehrwert, doch kein Theoretiker in der Latinitas verfasste eine Arbeitswerttheorie. 35 Schenkende vergaben Menschen als Wirtschaftseinheiten: Dörfer, Siedlungen, eine Burg, eine Kirche. Die Übergabepapiere erwähnten die Verschenkten selten und nur funktional: „vier Abgabepflichtige mit ebensovielen ihrer Hufen“, Leute „mit all ihrem Besitz und ihrem Zubehör“ oder Kirchen „zusammen mit Unfreien und ihrem Landbesitz“, Dörfer mit dem Heerbann unterliegenden „Wehrmännern“. Gelegentlich wurde Land als Arbeitsleistung benannt, „70 Tagewerk [Acker] und Wiesen zu 30 Fuhren“. Vereinzelt wurden Verschenkte bayerischer Kultur mit Namen genannt:

Regnbertus, der „Unfreie Waldmannus mit Frau und ihren Kindern“, „Bondana, eine Frau mit sechs Kindern“. Romanen wurden als Pakete zu fünf, zwanzig oder gar achtzig weitergegeben. Slawen, noch nicht annektiert, wurden als besitzschädigend dargestellt, wenn „wegen der drohenden Slawen, der grausamen Heiden“ wüste Ortschaften verschenkt wurden. In Bezug auf Erträge waren Gebende und Nehmende meist genau: Hufen „teils bewirtschaftet, teils unbewirtschaftet“, abgabenpflichtig, „mit allem Zubehör“ einschließlich Lebenseigenen, Kolonen und behausten Unfreien. Bei der Schenkung von Mühlen oder Fischereirechten wurden die dort Tätigen nicht genannt, nur bei der Salzherstellung in Hall: „zwanzig Ofenplätze mit den Pfannen und den Leuten, die dort arbeiten, und den dritten Teil von jenem Brunnen, mit dem Salz gewonnen wird, und den zehnten Teil von der Steuer, die dort als Herrenzins eingehoben wird, und den gebührenden Zehnten an Salz“. Für verschenkte Gotteshäuser wurde gelegentlich die Absicherung des Klerikers genannt: „Kirche mit Landbesitz“, „mit drei Hufen“. Dass Mönche selbst arbeiteten, war erwähnenswert: „Zu Kufstein die Kirche mit Landbesitz und der Zelle, wo unsere Brüder mit ihren Händen arbeiten“. Oder waren es Laienbrüder? 36 Ob ländliche Familien oder Dorfkirchen, Knechte oder Mägde, Diener oder Priester – die Schicht der Herren (-Familien) verdinglichte (commodified) und vertauschte, verpfändete oder verkaufte alles. Die Gesellschaft war zweigeteilt in solche, die Menschen verschenken, verpfänden und verkaufen konnten, und solche, denen dies geschah. Zwischen beiden bestand eine connubium-Grenze. Freie Frauen, die einen servus heirateten, verloren ihren Stand; freie Kinder mussten von Eltern „gleichen Fleisches“ sein. Diejenigen, die sich zu Mächtigen erhoben hatten, machten sich so zu Geburtsadel, nobilitas carnis. 37

Wendy Davies und Paul Fouracre (Hg.), The Languages of Gift in the Early Middle Ages, Cambridge 2010; in der Einleitung, 1–17, fasste Janet L. Nelson den Forschungsstand seit dem wegweisenden Essai sur le don des französischen Soziologen und Anthropologen Marcel Mauss (1923/24, dt. 1968) zusammen. Timothy Reuter, „Plunder and Tribute in the Carolingian Empire“, Transactions of the Royal Historical Society 5.35 (1985), 75–94, bes. 77–85. 34 Fritz Lošek, Übers., „Notitia Arnonis und Breves Notitiae“, in: Herwig Wolfram (Hg.), Quellen zur Salzburger Frühgeschichte, Wien 2006, 9–178, zu Tausch z. B. Breves Notitiae, 15, 20, 23, 24. 35 Ausstattung mit Menschen erhielten auch Oberschichten anderer Gesellschaften. 36 Notitia Arnonis, 1 passim; Breves Notitiae, 1 passim, bes. 3, 8, 9. Dazu Klaus Schreiner „‚Brot der Mühsal‘ : Körperliche Arbeit im Mönchtum des hohen und späten Mittelalters. Theologisch motivierte Einstellungen, regelgebundene Normen, geschichtliche Praxis“, in: Verena Postel (Hg.), Arbeit im Mittelalter, Berlin 2006, 133–170. 37 Detailliert in Störmer, Mittelalterliche Klöster; und Störmer, Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im Fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert, Stuttgart 1973, 15–18. EB Odalbert (h. 923–935) vollzog etwa hundert Tauschgeschäfte mit Hörigen und Zehnten als „Zubehör“. 33

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Schenkende in Bayern waren, neben Herzog (Hz) oder Herzogspaar, überwiegend freie, meist als „edel“ bezeichnete Männer und Frauen („Tisa, die edle Frau“) oder Ehepaare. 38 Damit der Adelskleriker Rupert sich am Wallersee niederließ, war eine reiche Schenkung des weltadligen Hz geboten: „Daraufhin übergab der Herzog Theodo seligen Angedenkens an ebendiese Kirche denselben Ort mit dem umliegenden Gebiet mit Wassern, Wasserläufen, Wäldern, Wiesen, Weiden und Mühlen und auch Fischereien, den Hof und das Haus mit den übrigen Gebäuden, unfreie Leiheninhaber auf vier Hofstellen und andere Abgabepflichtige auf zehn Hofstellen“. 39 Seelenheil war nicht Teil des Rechtsgeschäftes. „Für sich und seine Nachfolger“ erhielt EB Liupramm, wie andere Bischöfe und Äbte, vom

König das Recht „selbst oder durch seine Vögte mit dem Adel Besitz und Hörige zu tauschen“ und machte davon „lebhaft Gebrauch“. In römischer Zeit konnten nur Sklaven und Kriegsgefangene verschenkt werden. Wir würden gern in die Köpfe der Kirchen- und Weltadligen blicken, aber diese Mentalitätsgeschichte fehlt. Die Unfrei-Gemachten waren nicht Teil der Gesellschaft, sie wurden symbolisch – und bei „Aufständen“ physisch – von denen vernichtet, die sich durch Genealogien und Legenden Kirchen- oder Abstammungsgeschichte(n) erfanden. „The most effective way to destroy people is to deny and obliterate their own understanding of history“ (G. Orwell, 1984). Dies praktizierten Kolonialherren über die Jahrtausende. 40

7.3 Konzepte: Eigenleute und Sklaven in komparativer Perspektive Das Besitzregime über Menschen haben Historiker ausdrücklich gegen „antike Sklaverei“ 41 und chattel slavery im atlantischen Plantagenregime durch Benennungen wie „Unfreie, Eigenleute, Leibeigene, Hörige“ abgegrenzt. Apologeten sahen das Unterwerfungsregime als „organische“ Verbindung, „Rechtsstatus“ oder „Minderfreiheit“. Der zeitgenössische Begriff familia für Hofgesinde (ancillae, mancipia) und Hufenfamilien (servi und rustici) bedeutete Herrschaft sowie Muntgewalt und war doppelzüngig: Die Familie der Menschenbesitzer stand über der Gesinde-familia. Diese wissenschaftlichbegriffliche Provinzialisierung Europas verschleiert Ähnlichkeiten mit anderen Gesellschaften. 42 Komparativ untersuchten bereits Charles Ver-

linden (1955) und Jacques Heers (1965) mediterrane und transalpine Sklaverei. 43 Die U.S.-amerikanischen Historiker Carl Hammer und Orlando Patterson ebenso wie der Anthropologe Claude Meillassoux in Frankreich haben die Ansätze global erweitert und die Emotionen von Sklav*innen einbezogen. 44 Regimes reichten von personenrechtlicher Abhängigkeit (zum Beispiel rights in persons in Afrika) bis zu verdingtem, transportablem Besitz (chattel, amerikanische Plantagen). Sie waren gekennzeichnet durch physische Gewalt, psychologische Kontrolle und ein Normensystem, das die Unterwerfung eines Teils der Bevölkerung als Recht und, im europäischen Raum, als Teil gottgewollter Ordnung erscheinen ließ. Produkte versklavter Ar-

Heinz Dopsch, „Die Zeit der Karolinger und Ottonen“, und ders. mit Michael Mitterauer, „Salzburg im Hochmittelalter“, in: Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs, Stadt und Land, 8 Bde., Salzburg 1981–1991, 1.1:157–418, hier 201–202. 38 Geneviève Bührer-Thierry, „Les femmes et la terre. Transmission des patrimoines et stratégies sociales des familles dans l’aristocratie du monde carolingien (VIIe–Xe siècles)“, Bulletin du centre d’études médiévales d’Auxerre 8 (2004), 2–8, https://doi.org/10.4000/cem.858 (9. September 2020); dies., „Femmes et patrimoines dans le Haut Moyen Âge occidental: Nouvelles approches“, Hypothèses 2004, Paris 2005, 323–332. Eine kritische Zusammenstellung und Bewertung der Forschung bietet Doris Hellmuth, Frau und Besitz. Zum Handlungsspielraum von Frauen in Alamannien (700– 940), Sigmaringen 1998. 39 Breves Notitiae, 1. 40 Dopsch, „Karolinger“, Zitat 1.1:178. 41 Hans-Jörg Gilomen, Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, München 2014, 13–16. 42 Dollinger, Bauernstand, 112, 226–227; Hammer, „Family and familia“, 217–248. 43 Skandinavisch-isländische, zentraleuropäische, mittelmeerische und islamische Varianten: Charles Verlinden, L’esclavage dans l’Europe médiévale, 2 Bde., Bruges 1955–1977; Jacques Heers, Le Travail au Moyen Âge, Paris 1965; und ders., Esclaves et domestiques au moyen-âge dans le monde méditerranéen, Paris 1981. 44 Orlando Patterson, Slavery and Social Death: A Comparative Study, Cambridge, MA 1982, bietet den umfassendsten Ansatz, vernachlässigt jedoch Geschlecht als Kategorie. Der Begriff „sozialer Tod“ wird angesichts der agency der Versklavten nicht mehr verwendet. Claude Meillassoux, Anthropologie de l’esclavage. Le ventre de fer et d’argent, Paris 1986, behandelt alle Aspekte der Depersonalisierung.

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Konzepte: Eigenleute und Sklaven in komparativer Perspektive

beit wurden in römischer und fränkischer Zeit vermarktet, Grund-mit-Menschen-Herrschaft war auch oligopole Marktwirtschaft. In einer break-in period brachen Menschenbesitzer in den Amerikas die Persönlichkeit neu Versklavter; die merowingischen Magnaten taten dies in der Phase des Unfreimachens. Chronisten berichteten von Sklavenmärkten; König Chilperich verfrachtete Menschen nach Spanien; karolingische Heerführer versklavten Gefangene; Reiche nutzten Notsituationen, um Arme zu versklaven; Räuber fingen Menschen und verkauften sie. Die zeitgenössischen ordo-Konstrukteure schufen sich zielstrebig passende Begrifflichkeiten für Entpersönlichung: „Eigenleute“ (proprii) – statt Sklav*innen – ist ein eigenartiger Begriff, denn die so Bezeichneten wurden sich selbst un-eigen, ihrer Eigen-initiative beraubt und Eigen-tum Anderer. Hatten sie geringe Rechte, wurden sie „Freileute“ (liberi) genannt, korrekt waren sie Minderfreie oder besser gestellte Unfreie. Wer sich mit einem Sklaven/einer Sklavin verband, wurde selbst Sklave/Sklavin und „stumm“. Sahen Besitzer in ihren Eigenleuten Unter-menschen? Sahen, umgekehrt, Versklavte die Herren als „Ich-Menschen“ oder „mir-steht-alles-zu-Bullys“? Sklav*innen und andere Unfrei-Gemachte sowie ihre Kinder hatten in den Gesellschaften keinen Platz Kraft ihrer Person. Besitzer*innen verkauften (Ehe-) Partner einzeln oder bestellten sich versklavte Kinder, die viel arbeiten und geformt werden konnten. Auseinandergerissenen verboten Kleriker die Wiederheirat, lange bevor unter Eliten Monogamie üblich wurde. Als städtische Wirtschaft den Ertrag von Arbeit der ancillae- und mancipiaSklav*innen auf Salland – dem vom Grundherrn in Eigenwirtschaft bearbeiteten Teil des Fronhof-Verbandes – und in Werkstätten verringerte, nahmen getrennte Verkäufe von Partner*innen zu. 45 All dies betraf lokale Getaufte, hinzu kam Fernhandel. Unter Christ Karl d. G. stieg das Angebot für die islamische Nachfrage durch den Verkauf kriegsgefangener Sachsen, Slawen und anderer dramatisch.

Die Ausprägungen von Menschenbesitz müssen je nach Zeit und Ort auf einem Kontinuum von Sklaverei als Verdinglichung über Lebenszyklusspezifische Unfreiheit bis zu – zeitweise – relativer Autonomie bestimmt werden. Mächtige, die sich gewaltsam Großgrundbesitz (villae) in bewohnten Regionen angeeignet hatten, organisierten ihre als „Rechte“ bezeichneten Ressourcen (opus servile) im sogenannten bipartiten Villikationssystem, das heißt zweigeteilter Menschennutzung: servi cottidiani ohne Rechte in der Hofwirtschaft und servi casati oder mansuarii mit begrenzten Handlungsmöglichkeiten auf Hufen oder Mansen (lat. casa, Hütte, mansio, Haus). 46 Dass Sklav*innen Sachen waren, war noch für die Kompilatoren germanischer Rechte im 19. Jahrhundert eindeutig: „die knechte sind sachen dem Herren eigenthümlich […] er darf sie wie thiere behandeln; […] den knecht kann der herr gleich anderer waare verkaufen“ (Jacob Grimm). Die Verdinglichung analysierte Agnes Wergeland: Die Existenz von Sklav*innen lag in der Person der Herr*innen, wer langsam arbeitete, „stahl [deren] Zeit“. Zur Ansiedlung auf Hufen, oft als Zeichen teilfreien Handelns interpretiert, hielt Wergeland nüchtern fest: „To settle slaves on land was the easiest way of maintaining a large stock of them, or rather making them maintain themselves.“ Die Begrenzung der Zwangsarbeit auf eine bestimmte Anzahl von Tagen pro Woche war notwendig, damit die Versklavten ihre Lebens-Mittel erarbeiten und Kinder großziehen konnten. Wergeland betonte agency und Gefühle der Versklavten. 47 Salzburger Erz- und Suffraganbischöfe besaßen „Eigenleute“ und Handelswege für Versklavte liefen von Regensburg durch die Kirchenprovinz zu mittelmeerischen Märkten. Das Gewaltregime war offenkundig. Den Weinhändler Christopherus erschlugen seine zwei sächsischen Sklaven, „weil er sie oft hart züchtigte“. Ein dux behandelte Sklaven sadistisch und ließ ein junges Liebespaar, das ohne seine Einwilligung zusammenlebte, lebendig begraben. Zu einem Prozess gegen ihn kam es nicht, weil er sich durch ihren Tod

Hartmann, Aufbruch ins Mittelalter, 184; Christiane Walter, Ehe – Familie – Arbeit: Zum Alltagsleben unfreier Frauen und Männer im Frühmittelalter, Korb 2012, 53 passim. 46 Zur Agrarentwicklung in anderen west- und südeuropäischen Räumen Mitterauer, Europa, 55–64. 47 Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, 2 Bde., 1854, 4. Ausgabe Leipzig 1899, Zitat 342–343; Karl von Amira, Nordgermanisches Obligationenrecht, 2 Bde., Leipzig 1892–1895; Wergeland, Slavery, 30, 34, Zitat 45, passim. Neuere Forschungen: Hermann Nehlsen, Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter, Göttingen 1972; Gerhard Dilcher, „Arbeit zwischen Status und Kontrakt. Zur Wahrnehmung der Arbeit in Rechtsordnungen des Mittelalters“, in: Postel, Arbeit im Mittelalter, 107–131. 45

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

an seinem Eigentum selbst geschädigt hatte. In der Nähe von Verdun (Mitte 11. Jh.) bedrängte ein Untervogt „die Klosterleute“ so hart, „dass beim Pflügen die Kuh eines Bauern zu früh kalbte und an ihrer Stelle dann der Bauer den ganzen Tag das Zugjoch auf der Schulter tragen musste.“ „Unmenschlich“ urteilte der Chronist. Das Thema von Arbeit und Unterdrückung nahmen Erzähler*innen von „Märchen“ und „Sagen“ auf, im Sprachgebrauch wurden Menschen „unterjocht“ wie Ochsen. 48 Ancillae und mancipia (= Handsachen, jmd. an/ bei der Hand haben) leisteten auf Herrenhof und Salland ungemessene Arbeit unter ständiger Aufsicht. Dies reflektiert die Sprachfigur „unangemessener“ Forderungen. Getrennt nach Geschlechtern kollektiv untergebracht, konnten sie kaum je eine Partnerschaft eingehen. Arbeitskraft durch Kinder zu reproduzieren, oblag den auf Hufen angesetzten Geschlechtsgemeinschaften. Ancillae produzierten für die Besitzer*innen in gynaeceae (griech. Frauengemächer), das heißt Manufakturen in separatem Gruben- oder Holzbau, den Lebensunterhalt aller Versklavten und die Vermarktung. Eine Herrin oder, in Klöstern, eine als Aufseherin oder Schließerin bezeichnete ältere Frau teilte die Arbeit zu: Küche, Wohnräume, Viehversorgung, Buttern und Mahlen, Austragen von Mahlzeiten zu Feld- und Erntearbeitern. Im Winter mussten gynaeceae-Sklavinnen und fronende Hufen-Frauen spinnen, nähen, flicken; für komplexere Kleidungsstücke wurden Näherinnen beschäftigt oder ancillae angelernt. Den männlichen servi cottidiani teilte ein Aufseher, vilicus, Arbeit zu. Pflüger mit einem Jungen zum Antreiben der Ochsen mussten mit erstem Tageslicht aufs Feld und den Tag lang, auch bei Regen oder Kälte, Furchen ziehen und abends die Zugtiere füttern. Sie wurden als junge Erwachsene gemäß herrschaftlichem Gutdünken oder Willkür auf eine Hufe gesetzt, hin und her versetzt oder blieben lebenslang Hofarbeiter. 49 Das Management von Lebenseigenen mit „intelligence and delicacy“ hat Carl Hammer rekon-

struiert: Der Abt eines kleinen Klosters an der Ilm tradierte 820/21 seinen Grundbesitz einer Dorfhälfte samt allen dort Lebenden an das mächtige Regensburger Kloster St. Emmeram. Mit dieser precaria 50 remuneratoria – sich auszahlenden Gabe – vergrößerte und konsolidierte er seinen Besitz: Er erhielt nicht nur Land und Menschen als beneficium auf Lebenszeit zurück, sondern auch St. Emmerams Besitz der anderen Hälfte des Dorfes. Der Abt besaß 57 manentes und mancipia auf elf Hufen, weitere 14 Männer, die sein Salland bewirtschafteten, und 23 Frauen, die handwerklich produzierten. Die Mönche besaßen 93 Menschen auf 23 Hufen und 15 mancipia, darunter ein Töpferehepaar, das für den Vertrieb produzierte. Ihre Namen deuten auf bayerische Kultur. In der Umgebung des EBSitzes hatten Leibeigene vielfach romanische und gelegentlich slawische Namen. 51 Der Abt strebte optimale Allokation der Ressourcen Arbeitskraft, Land und Gebärfähigkeit an und setzte dafür seine servi im Lebenszyklus um: als arbeitsfähige Kinder von der Hufe zum Herrenhof, als junge Erwachsene auf eine Hufe, im Alter zurück zum Hof; wenn sinnvoll, zwischen Einheiten seines Gesamtbesitzes; er tauschte bei Auswärtsehen. Zusammenleben scheint teils partnerschaftlich gewählt, teils grundherrschaftlich arrangiert gewesen zu sein. Ein Paar lebte in Auswärtsehe: Die Frau „gehört mir nicht“, schrieb der Abt; die Familie seines freien Schmiedes gehörte ihm. Jeweils drei bis fünf Personen bewirtschafteten eine Hufe, drei Generationen lebten nie zusammen; das Geschlechterverhältnis auf den Hufen war ausgeglichen, unter den Hofhandwerkenden bildeten Frauen die Mehrzahl. „Administrative Manipulation“ des Abtes bedeutete, dass bei Entsendung kräftiger junger mancipia auf Hufen alternde zum Hof relokalisiert wurden; dass servi cottidiani auf Hufen entsandt wurden, wenn dort Kinder den Arbeitskraftbedarf nicht deckten; dass Pflegekinder und Waisen untergebracht, Jugendliche und Alte am Herrenhof als Produzenten und/oder Essensempfänger angesiedelt wurden. Die servi scheinen

Hartmann, Aufbruch, 109–122, Zitat Gregor von Tours VII, 46; Epperlein, Bäuerliches Leben, 44–45, Zitat aus der Chronique de Saint Hubert von 1081. Ländliche Familien wanderten aus dem Salzburgischen heimlich nach Tirol, wo Bauern bessere Rechte hatten. 49 Dollinger, Bauernstand, 425. Gynaeceae verschwanden seit dem 12. Jahrhundert durch Loskauf der Dienste und Übergang zu Lohnarbeit. Deutinger, „Agilolfinger“, 210, nennt eine Urkunde von 754, die als Zubehör eines Großbetriebes Sklaven, Knechte, Zinspflichtige und Freie nannte. 50 Lat. precarius, Erbetenes oder Gnade, abhängig vom Willen anderer, also prekär-unsicher. 51 Eine familiensoziologische Untersuchung zum Tausch eines EB von Besitzungen nahe Salzburg, 930, ist nicht möglich. Gelegentlich wurden Männer jeweils mit Namen und Ehefrau, uxor, sowie Kindern genannt. Salzburger Urkundenbuch, 1, Nr. 85, 147–150. 48

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Konsolidierung von Grundherrschaft in der vielsprachigen Kirchenprovinz

kooperiert zu haben. Nach Hammer entstand das westeuropäische Familienmodell – relativ späte Heirat und geringer Altersunterschied – aus diesem Partnerschaftsmanagement: „slavery as origin of the western family“. Mitterauer sprach von „gattenzentrierter“ statt intergenerationell patrilinearer Familie, in der Arbeitsorganisation über emotionaler Gemeinschaft rangierte. Herren konnten Gatten oder Gattin austauschen, wenn sie die Hufenaufgaben nicht mehr erfüllen konnten. Söhne waren nicht immer fähig, eine Hufe vom Vater (oder den Eltern) zu übernehmen. Vielleicht waren auch Herrensöhne, in denen Abstammungs- statt Leistungsprinzip galt, nicht immer fähig. 52 Brutale Behandlung der servi cottidiani beklagte der bedeutendste Theologe der späten Karolingerzeit, der Mainzer EB Hrabanus Maurus (~780–856): Es gibt viele [Herren], die bei der Rückkehr von der Jagd mehr für ihre Hunde als ihre Knechte sorgen. Sie lassen die Hunde neben sich auf den Bänken liegen oder schlafen und veranlassen, dass sie in ihrer Gegenwart von ihren eigenen Speisen zu fressen bekommen. Dabei ist es ihnen gleichgültig, ob ihr Knecht vor Hunger verschmachtet; und was noch schlimmer ist: wenn den Hunden das Futter nicht sorgfältig genug zubereitet worden ist, so wird um eines Hundes willen der Knecht bestraft, womöglich sogar totgeschlagen. Man kann nämlich in vielen Häusern gepflegte und wohlgenährte Hunde herumlaufen sehen und gleichzeitig Menschen, die bleich und wankend einhergehen. 53

Die Vielen, die ohne Möglichkeit, das Schreiben zu erlernen, lebten, gaben Erinnerungen an die vielfältigen kriegerischen Bedrohungen oder Jahre reichhaltiger Ernten mündlich weiter. Erinnerten sie den Bürgerstatus, den ihre norisch-römischen Vorfahren hatten? Boten des Kaisers in Aachen fanden 811 bei einer Meinungsumfrage „eine Unzahl von Menschen […], die durch den Entzug des Erbes oder der Freiheit ihrer Väter zutiefst betrübt waren.“ Im „Schwabenspiegel“ (~1280) hieß es: „Do man erste Recht saczte, do warn die Leut all frei. Do unser Vodern her zu Land chomen, do warn die Leut all frei“. Dass Menschen unfrei, anderen „aigen“ sein sollten, stand nicht in der „heiligen Geschrift“, aber die „herrn habent das nu fur recht“ befunden. 54 Erst neun Jahrhunderte später würde der englische Gesellschaftstheoretiker John Locke postulieren: „Every man has a property in his own person. This nobody has any right to but himself. The labour of his body, and the work of his hands, we may say, are properly his“. 55 Ein weiteres Jahrhundert würde vergehen, bis Menschen 1789 versuchten, sich dieses Recht in einem revolutionären Schritt zu erkämpfen, und noch einmal hundert Jahre, bis Frauen begannen explizit daran zu erinnern, dass es heißen müsste, „every man and woman has a property in his or her own person“.

7.4 Konsolidierung von Grundherrschaft in der vielsprachigen Kirchenprovinz Die Kompilatoren des „Sachsenspiegels“ (Anf. 13. Jh.) sahen Menschen als Natur „urbar“, das heißt nutzungsfähig, machend und als verhandlungsfähige Partei. Ihre in Eigeninitiative gegründeten Dörfer – „von wilder Wurzel“ laut Diskursherrschern – sollten Herren ihnen durch Verleihung des Erbrechtes zugestehen. 56 Spätere Interpretatoren

sahen die Erschließung von Wildnis als „geleitet von geistlichen und weltlichen Fürsten und Herren“. 57 Dass manches scheinbar durchgeplante Dorf aus Umstrukturierung älterer Besiedlung entstand, erwähnten die Schreiber nicht. Die „nicht zum Gute“ Geborenen konnten ihre funds of knowledge selbstbestimmt anwenden, durften es aber nicht.

Hammer, „Family and familia“, 217–248, Zitate 246, 248. Eine klassische Interpretation des „europäischen Heiratsmusters“ (westlich einer Linie von St. Petersburg nach Triest) sieht Hoferbe, Meisterbetrieb oder Dienstposition im Spätmittelalter als ausschlaggebend. Mitterauer, Europa, 70– 108. Wall u. a., Family Forms. 53 Epperlein, Bäuerliches Leben, Zitat 126–127. 54 Heinrich Fichtenau, Das karolingische Imperium. Soziale und geistige Problematik eines Großreiches, Zürich 1949, Zitat 157; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 133; Epperlein, Bäuerliches Leben, 195. Alice Rio, Slavery after Rome 500–1100, Oxford 2017, untersucht sehr detailliert das Spektrum zwischen slavery und serfdom. Sie sieht hohe Möglichkeiten des Aushandelns von Status im ländlichen Bereich, aber eine Entwicklung zu chattel slavery in den hochmittelalterlichen Städten Südeuropas. 55 The Second Treatise on Civil Government (1689), in: David Wootton (Hg.), Locke’s Political Writings, London 1993, 274. 56 Sachsenspiegel, 3. Buch, Art. 79, § 1, zitiert in Epperlein, Bäuerliches Leben, 36–37. 57 Dopsch, „Karolinger“, 1.1:224–225, Zitat 348. US-amerikanische Forscher behaupteten bis in die 1960er Jahre, dass Sklav*innen mangels Eigeninitiative und Denkfähigkeit nur von Besitzern geleitet arbeiten würden. 52

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.3 Dorfgründung, „Sachsenspiegel“, ~1330 (lavierte Federzeichnung, Detail)

Die Menschen erschlossen sich die Naturräume zwischen Donau und Tauernkamm nicht flächendeckend. Wie an jeder frontier siedelten sie punktuell auf Hügeln und Inselbergen in den Tälern und an sonnseitigen Hängen. Im Becken von Saalfelden an der Saalach und entlang der Mur errichteten sie Einzelhöfe oder verbanden ihre Wirtschaftsstellen zu kleinen Siedlungen. Andere „Weiler“ entstanden um oder aus herrschaftlichen Meier- und, später, Vogthöfen. In den noch endlosen Wäldern des Donautals wandelten sie Dickicht (silva) in Nutzwald (forestum), Urwald zu Kulturwald, so zum Beispiel den Komplex Elixhausen im Auftrag der Erentrudis-Nonnen oder um Stift Melk (urk. 1089) und, im Wienerwald, um die Zisterzienser-Klöster Heiligenkreuz (urk. 1133) und Lilienfeld (urk. 1202). Als mehr Kinder überlebten, mussten seit dem 11./12. und besonders im 13. Jahrhundert „überzählige“ junge Menschen aussiedeln. Im Nahbereich der Altsiedlungen kultivierten sie schwieriger zu beackernde Hanglagen, in mittlerer Entfernung rodeten sie Neubrüche an Hängen und Talschlüssen und siedelten in abgelegenen Tälern. Freie Familien waren an der Besiedlung kaum beteiligt, denn es gab sie nicht mehr. Ein Beispiel für Besiedlung im „inner Gebirg“ bietet das bis zu 1050 m hohe Fritztal mit Mandling-Pass. Ein agilolfingischer Hz schenkte im 8. Jahrhundert Tal-samt-Menschen dem EB und dessen Zwangsentsandte hatten einen ebenso mühseligen Anfang vor sich wie ihre vielen Vor-gänger oder Vor-fahren in dem Tal: keltische Taurisker, heranziehende Römer, Slawisch-Sprachige durch das 58 59

Ennstal (6. Jh.) und Bayerisch-Sprachige durch das schmale Lammertal (8. Jh.). Hirten fanden ihr Auskommen entlang des Fritz-Baches und auf Almen. Im 11. Jahrhundert gab ein EB Tal-und-Menschen an die Mönche des Klosters Admont, ihnen zinsten die Siedler Getreide und Geld. 58 Auf dem Oberhof (urk. 1285) saß 1333 die Hausgemeinschaft eines Alblinno. Als Eigenmann des EB und „Freisasse“ der Vasallen-Familien Goldegger und Frundsberger war er doppelt unfrei. 59 Die Höfe dienten der Randzonenarrondierung, denn die Mandling-Pass-Route führte nach Karantanien, die Route durch das Ennstal zur Donau und nach Pannonien. Das täglich Brot romanischsprachiger Alt- und slawisch-sprachiger Neusiedler in Karantanien, Land-Besitz und Bergbau-„Recht“, eigneten sich im 9. und besonders im 10. Jahrhundert Kleriker in Salzburg, Aquileia/Grado, Freising, Bamberg und Brixen an. In Kärnten und anderen slawisch besiedelten Gebieten führten EB-Salzburg, Domherren und St. Peter-Mönche „gründliche“, also grundbesitzende Herrschaft ein. Im Rahmen ihres „Siedlungswerkes“ – kirchliche Perspektive – ent-eigneten sie die ansässigen freien Gemeinschaften (župa). Später, im 11. Jahrhundert, erhielten die EB einen Besitzkomplex an der Save mit Reichenburg, Rann (Brežice), Liechtenwald (Sevnica) und Pischätz (Pišece). Die geschenkten praktizierenden Christ*innen mussten gemeinsam mit aus Bayern zuwandernden Kolonist*innen den migrantischen Adligen Burgen bauen und bezahlen. Abgaben und Dienste variierten nach Herrschaft und natürlichen Ressourcen. Im waldreichen Pongau südlich von Salzburg-Stadt hatten die Unfreien Holz zu schlagen, zu sägen und zu Betten zu verarbeiten oder Fassreifen aus Weidenruten herzustellen. Im entfernten slawisch und bayerisch besiedelten Großarltal konnte Zwangsarbeit nicht gefordert werden und daher wurden Abgaben, meist Hunderte Stück Käse von je 0,5 bis 1 Kilo Gewicht, höher angesetzt. Die Bewohner*innen des wegen seiner Mündungsschlucht nur schwer erreichbaren Tals unterstanden der Kirche St. Veit an der Salzach. Um – auch das Zwang – an der Messe teilzunehmen, mussten sie sich um Mitternacht auf den Weg machen und knapp 25 km und 500 Höhenmeter überwinden. Gottesdienst erforderte für

Dopsch mit Mitterauer, „Hochmittelalter“, 1.1:350. 700 Jahre später notierte dies ein Oberhofbauer: Christian Salchegger, Filzmoos: Überliefertes und Erlebtes [1333–1993], Filzmoos [1996].

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Konsolidierung von Grundherrschaft in der vielsprachigen Kirchenprovinz

Abb. 7.4 Salzburger Diözese: Größte Ausdehnung der Herrschaft über Menschen („Territorien“), 1365–1396

sie Wegzehrung und Schuhwerk für insgesamt fünfzig Kilometer. Sie wünschten sich einen eigenen Vikar für ihre Siedlung. Land-mit-Menschen vergaben die EB als Lehen (beneficium) an zuwandernde laienadlige „Geschlechter“ südwestdeutscher Mundarten, aber nicht an Hochadlige, die die Macht gehabt hätten, Lehen zu entfremden. Doch strebten die Geschlechter und Vögte eben dies an, je weiter entfernt vom EB-Sitz, desto erfolgreicher: Dar-lehen zu ErbLehen. Ab Mitte des 10. Jahrhunderts erhielten auch unfreie Dienstmannen in gehobenem Dienst Lehen. Sie eigneten sich die niedere Gerichtsbarkeit, das „Recht“ fällige Gebühren und Strafen einzuziehen, an. In der Steiermark machten sich Magnaten-Migranten aus Rheinfranken und Bayern sowie an dritter Stelle die EB zu den größten Landmit-Menschen-Besitzern. Überlegten sie, neben Tirol (Brenner) und Salzburg (Tauern-Pass) eine weitere Passherrschaft zu errichten? Weder für Magnaten, deren Schreiber Latein verwendeten, noch für Landwirtschaftende hatte ein ethnisches Etikett oder gar „Stammeszugehörigkeit“ Bedeutung. Entscheidend war Status in den

vielen Abstufungen zwischen frei (liber) oder unfrei (proprius). Doch prägte Kultur: Wachsende städtische Optionen nahmen Slawisch- und RomanischSprachige unterschiedlich auf: Erstere blieben eher ländlich, letztere lebten eher städtisch. Kolonisten mitteldeutscher Dialekte kamen hinzu. Wie dachten die Menschen im Mur-, Sann-, Arl- und den vielen anderen Tälern über lokale, regionale oder ferne Mächtige? Sozial helfende wie die Gräfin Hemma in Kärnten behielten sie in guter, mündlich tradierter Erinnerung (s. Kap. 9.5). Aber hatten sie und ihre Kinder je von einem Karl oder, einige Generationen später, einem Otto gehört, die ihnen jeweils neue Regionalgranden vorsetzten? Wieder hilft der Blick auf Ökonomisches samt Essen. Die enteigneten Eigenleute mussten neben vielem anderen „Hengstfutter“ für Kriegspferde abliefern. Und als sich Karl in seiner Allgemeinen Ermahnung (789) heilsgeschichtliche Verantwortung zuschrieb, ließ er seinen „Knechten“ mit Lehen (honor, ministeria) und anderen einen Treueeid abnehmen. Auch ordnete er vor Kriegszügen Fastentage für alle Untertanen an. Fasten waren die Menschen angesichts knapper Wintervorräte ge231

Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

wohnt, aber wie dachten sie über die zusätzlichen Tage? Als er gegen die „heidnischen“ und durchaus aggressiven Awaren mit seinem Heer von angeblich 30.000 durch Bayern zog, mussten Anführer, Mannschaften und Tross versorgt werden. Die Anwohnenden mag dies an einen biblischen Heuschreckenschwarm erinnert haben. Nach Vernichtung der „heidnischen“ Sachsen ordnete der ferne Papst dreitägige Dankesmessen in der gesamten Christenheit an. Als 866 Karl (der Kahle) Tribut in Höhe von 4000 Pfund Silber an im fernen Norden einfallende Normannen zahlen musste, ließ er von jeder Bauernstelle eine Extrasteuer von sieben Denaren einziehen. Durch Sonderabgaben und Zwangsrequisitionen, Eide und Messen waren Menschen bis in abgelegene Talschlüsse über die ferne Herrschaft „informiert“ und dachten vermutlich über sie nach. 60 Sie waren vielfältig gebunden und eingebunden. Reisende Könige, Welt- und Kirchenadlige zogen mit reichem Gefolge und schwerem Tross entlang der Wege. Bei dem für Pferde und Ochsen kraftzehrenden Alpentransit mussten sie den Herrscherkarawanen laut Dekret-Recht Reit- und Zugtiere

geben. Auf Altären dörflicher Kirchen prangten liturgische Gerätschaften aus Gold, Silber und Edelsteinen aus sagenhaft reicher Ferne. Abt Ælfric in Angelsachsen ließ nicht nur Unfreie ihre harten Arbeitstage beschreiben, sondern, im gleichen Kreis, Kaufleute ihre Reisen: Waren-beladene Schiffe aus fernen Meeren, Erwerb fremder Wert-voller purpurner und seidener Kleidung, Edelsteine und Gold, Ebenholz (griech. ebenos, arab. abanūs) und Glas, Farbstoffe und Öle. Die Produkte „ferner Kontinente“, das heißt der dort lebenden Menschen, waren zugänglich. Jerusalem und, später erfunden, das Morgenland der drei Magi wurden Teil der Vorstellungswelten. Steinmetze und Maler zogen durch Dorfstraßen, wenn Machthabende eine Baustelle für eine Wehranlage oder eine große Kirche einrichteten. Die Menschen konnten rechnen: Ein Erzbischof mit vielleicht zwanzig berittenen Begleitern auf dem Weg nach Rom würde sie sehr viel Heu und erhebliche Mengen ausgesuchter und reichhaltiger Delikatessen für die Tafel kosten. Nach den Worten ihres Priesters hatten Maria und Joseph einfacher essen müssen. 61

7.5 Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben Die Möglichkeiten der Hufen-Hausgemeinschaften waren eng begrenzt: Amtleute kontrollierten die Aussaat, schätzten die Ernte und berechneten ihre Abgaben. Neben der Fronarbeit, Robot, hatten sie – trotz biblischen Verbots der Zinsnahme – Naturalabgaben zu zinsen sowie den Machtbefugten in den Zwischenräumen von oben und unten, wie Meiern und Vögten, Leistungen zu erbringen. Servi casati waren nicht dinglich an Land gebunden, sondern waren Besitz der Grundherren, die sie direkt mit jährlicher Leibsteuer und Sonderzahlungen belegten. Neben Grundherren waren Unfreie an Kirchenherren gebunden – im Fall der EB ein- und dieselbe Person. Über die Körper der Eigenleute hatten die Herren bio-pouvoir (Foucault), ihren Glauben und ihr Seelenheil erwähnte kein Urbar. Die Durchsetzung dieses Systems erforderte physi-

sche Zwangsmittel und psycho-religiöse Konditionierung über viele Generationen. Das quantitative Verhältnis der wenigen Freien zu Unfreien variierte regional und von einer (klösterlichen) Grundherrschaft zur nächsten. Unfreie ohne Rechte bildeten die bei weitem größte Gruppe, wie Urbare und Steuerlisten zeigen. 62 Leihedauer und Abgaben verzeichneten Schreiber als Urbargerechtigkeit und bestimmten damit nicht nur die Beziehung, sondern auch den Blickwinkel auf „Gerechtigkeit“. Menschen wurden nach Baumannsrecht auf Land gesetzt: auf ein Jahr mit möglicher jährlicher Verlängerung oder Abstiftung (sog. Freistift), auf Lebenszeit (Leibgeding, ius personatus) oder mit Recht der Weitergabe an Erben (Erbgeding, ius hereditarium). Angesichts der Umsetzbarkeit der Unfreien und deren selbst gesuchter Mobi-

Dopsch, „Karolinger“, 1.1:222. Die Zusammenstellung beruht auf Jussen (Franken), Ubl (Karolinger), Hartmann (Aufbruch) und Dietmar Pieper und Johannes Saltzwedel (Hg.), Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters, München 2013. 61 Ælfric’s Colloquy, 8; Epperlein, Bäuerliches Leben, 167–168; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 49–50. 62 Klein, „Eigenleute“, 137–251. 60

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Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/ Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben

lität radizierten Besitzer vielfach Hand- und andere Dienste auf das bewirtschaftete Land. Da jede Vergabe von Land – anders als die Aufgabenzuteilung an Hofsklav*innen – individuell erfolgte, bedurfte es genauer Erinnerungsfähigkeit der beteiligen Parteien mit jeweils eigenen Interessen. Daher die langen Zeugenreihen und die regelmäßigen Wiederholungen der „Tatbestände“ an Gerichtstagen. Die Erinnerungsproblematik betraf auch die höchste Ebene: Der alternde Karl d. G. wies seine Königsboten an, bei ihren Umritten alle Lehen und Verpflichtungen aufzuschreiben. 63 Die Begriffe „Freistift“ und „Freisassen“ waren sprachliches shape-shifting der Feder-führenden: Frei waren die Grundbesitzer, die für sie wirtschaftenden Unfreien am Ende des Jahres „abzustiften“, das heißt, sie umzusetzen oder zu vertreiben. Bis ins 13. und 14. Jahrhundert blieb diese Herrschaftsbeziehung die am weitesten verbreitete. In Unfreiheit gezwungene Romanisch Sprechende, sogenannte Barschalken, die es nur in Bayern gab, hatten Fuhr- und Kurierdienste zu leisten. Frauen und Kinder mussten während der Abwesenheiten der Männer deren Anteil an Hof- und Landarbeit übernehmen. 64 War das Verhältnis von Land zu Arbeitskraft nicht ausgeglichen, stellten Besitzer vieler Arbeitskräfte diese als Leiharbeiter*innen anderen Herren zur Verfügung. Die EB als größte Menschenbesitzer schickten Lebenseigene an (neue) Grundherren. Diese Zwangsmigrationen, gegebenenfalls mit Zwangspartnerschaften oder Zwangstrennungen, blieben bis ins 12. Jahrhundert üblich. Die Zeitarbeiter*innen konnten jederzeit zurückbeordert werden. Bessere herrschaftliche Rahmenbedingungen für Rodungen – Leib- oder gar Erbgeding – wirkten auf die Rechtsverhältnisse in Altsiedelgebieten: Unfreie bemühten sich um längere Leihfristen, Eltern hofften, Land an ihre Kinder übergeben zu können. Höfe mit dauerhafter Besiedlung für intensive Viehwirtschaft (Schwaigen) ließen Herren-Familien anfangs auf ebenen Böden, später bis in große Höhen errichten. Wie einst Menschen keltischer Kultur nutzten sie saisonal die Matten oberhalb der

Waldgrenze für die Rinder- und Schafzucht. Herden und Hirten bewegten sich in jahreszeitlicher Transhumanz zwischen Höhen und Tälern. Eine halb-freie = halb-unfreie Gruppe bildeten Zins- oder Muntleute (censuales). Freie, die sich bedroht sahen, begaben sich in den Schutz „der Kirche“ – das heißt der lokalen Institution mit spezifischen Kleriker-Individuen – und zahlten Schutzgeld. Wurden sie von Besitzern übergeben, „tradiert“, diente dies diskursiv dem „Seelenheil“ des/der Tradierenden, praktisch handfesten Interessen und eine Handfeste dokumentierte den Vorgang. Bei Selbst-Tradierung „suchten vor allem Schwache, besonders Frauen und Witwen“, Schutz, „die ihren freien Status und ihren Besitz gegen die Begehrlichkeit benachbarter Grundherren verteidigen mussten“, andere aus Angst vor Versklavung, vor destruktiven Privatfehden oder thronkämpfenden Königssöhnen. Manche strebten Alterssicherung an, so „arme“ Grund-mit-Menschen-Besitzer, deren Erträge zum Unterhalt nicht mehr ausreichten. Für die Übergabe eines/r freigelassenen Unfreien erhielten die Tradenten eine Geldsumme – auch hier Menschenhandel. Die Zensualen hatten als oberste Schicht der Teilfreien-bis-Versklavten freien Rechtsstatus bei unfreiem Abgabenstatus. Sie waren von unehrenhaften Diensten befreit und zahlten Zins oft in Wachs, um den Massenbedarf der Kirchenbetriebe zu decken. Üblich war ein Kopfzins in Geld, je nach Region und Herrschaft ein bis sechzig Pfennige pro Jahr, in Oberbayern selten mehr als zwölf Pfennige, in der Diözese Salzburg und an der Donau mehr. Die Zinsbezieher konnten den Betrag nach Missernten oder wegen prekärer Lage ermäßigen und Kinder und Alte ganz befreien. Der Betrag war für beide Geschlechter gleich, doch da Frauen zahlende Kinder gebären konnten, zahlten sie selbst manchmal weniger. Um die Mitte des 11. Jahrhunderts sank das Schutzgeld in der Regel auf fünf Pfennige, den Wert eines Ferkels. Arme konnten auch dies nicht aufbringen und bereits bei ihrer Tradierung verhandelten die Parteien über daraus potenziell resultierende Fehlbeträge in Kirchen- und Kloster-Bilanzen. In den Zensualen-Status neu Eintretende

Lehen waren gewissermaßen „Freistifte“ auf Lebenszeit, sie verfielen mit dem Tod des Herrschers; das Bestreben des Adels auf Allodisierung der Lehen, das heißt Übergang in Eigenbesitz, zielte neben Machtzuwachs auf Kontinuität. 64 Pierre Riché, Daily Life in the World of Charlemagne, Philadelphia 1978, 101–112, zu Sklavenhandel und Preisen 117–121. 63

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

zahlten oft einen geringeren Betrag. War dies ein Lockangebot? Ihre Nachkommen hatten die volle Summe zu zahlen. 65 Wohlhabenden, die Unfreie tradierten, galten „ehrwürdiges Alter“ und „hochverehrte Reliquien“ der Empfänger-Institution als besonders attraktiv: Reiche Institutionen wie Passau und Freising, St. Peter und St. Emmeram wurden noch reicher. Domherren und St. Peter-Mönche führten Buch über geschenkte Menschen und verzeichneten in den zwei Jahrhunderten von 987 bis 1199 54 geschenkte und 142 tradierte Freie, 227 geschenkte und 635 tradierte Unfreie, insgesamt 1058. 66 Zensuale arbeiteten als Amtsträger wie Meier, Zolleinnehmer, Schergen; in der Wirtschaft als Winzer, Fischer, Schiffer, Handwerker*innen oder Goldwäscher. Bei Einführung des Systems wohnten viele außerhalb der Grundherrschaft, konnten Auswärtsehen eingehen und Frauen durften gemäß ihrer Wahl heiraten. Selbst-Tradierende konnten nicht vorhersehen, dass ihren Kindeskindern Unfreiheit bevorstehen würde: Mit zunehmender Geldwirtschaft erhöhten Herren die Abgaben und schränkten Auswärtsehen ein; im 12. Jahrhundert erwähnten Urkunden Freiheit kaum noch und Mitte des 13. Jahrhunderts waren Zensuale von Unfreien, die ihrerseits von Hofsklav*innen zu servi casati aufgestiegen waren, nicht mehr zu unterschieden. Vereinzelt wehrten sie sich. In Herrschaft und Bistum Augsburg, zum Beispiel, wandelten sie ihre Position von Kirchen-Eigenen zu Eigenen des Kirchenheiligen und gewannen das Verfügungsrecht über ihre Arbeitskraft zurück. 67 Unfreiheit war erblich, Kinder wurden als Hofsklav*innen, Hufen-Unfreie oder Zensuale geboren. Gemäß fränkisch-römischem Herrschaftsrecht folgte die Leibesfrucht dem Status des Bauches, nicht etwa der Person der Mutter, partus sequitur ventrum. 68 Dies wirft Fragen nach Wert-Schätzung

von „Frauen als Ressource“ und nach Kosten-Nutzen-Rechnungen zu heranwachsenden Kindern auf. Die Lex Salica legte 600 Schillinge „Wehrgeld“ als Strafe für Totschlag von königlichen Gefolgsmännern, Priestern und Gebärfähigen fest, 300 Schillinge für Tötung eines Diakons, 200 für einen nach salfränkischem Recht lebenden germanischen Mann und für Frauen, die zu jung oder zu alt waren, um Kinder zu gebären, für einen romanischen Mann mit Grundbesitz 100 und für einen romanischen Zinshörigen 45 Schillinge. 69 „Geschlechtsgemeinschaften“ Versklavter und Unfreier arrangierten Herren oder Eltern. Doch entwickelten junge Menschen Zuneigungen über Status- und Besitzgrenzen hinaus. Kirchenmänner und ihre Rechtsdenker mussten re-agieren: Wie sollten sie Verbindungen zwischen Menschen, denen sie unterschiedlichen Status zugeteilt hatten, behandeln? Wie Besitz an Kindern, wenn die Eltern unterschiedlichen Besitzern gehörten? Ehen über Statusgrenzen hinweg galten als „unrechtmäßig“, Sanktionen waren geschlechtsspezifisch: Heiratete eine freie Frau einen Unfreien, wurde sie unfrei; heiratete ein freier Mann eine Unfreie, behielten offenbar beide ihren Status. Der Stand der Kinder folgte, in Verschlechterung des Mutterrechts, der „ärgeren Hand“, das heißt dem Elternteil mit dem geringeren Status. Das war für die Betroffenen ärgerlich. Nach römischem Recht gingen der Kirche jedoch die Kinder verloren, wenn ein unfreier Kleriker mit einer freien Frau zusammenlebte. Dies war hohen Klerikern ärgerlich und sie klagten noch im 13. Jahrhundert darüber. 70 „Auswärtsehen“ waren angesichts ineinander übergreifender und weit verstreuter Grundbesitze und angesichts der Initiativen und Emotionen der Unfreien so häufig, dass die Macht-Haber Verfahrensregeln aushandelten: alle Söhne für einen, alle Töchter für den anderen oder für jeden eine be-

Für rückschauende Historiker*innen sind die Urkunden begrifflich nicht eindeutig. Vereinzelt begaben sich Wohlhabende vermutlich aus primär religiösen Motiven in Zensualen-Status. Dollinger, Bauernstand, 137–191, 195–303, Zitat 315. Manche Urkunden deuten darauf hin, dass Zensuale veräußert werden konnten. 66 Dollinger, Bauernstand, 313. 67 Dollinger, Bauernstand, 215–219, 304–346; Bernhard Roeck, Geschichte Augsburgs, München 2005, 58. 68 „Körperteil“-Sprachlichkeit nennt keine Menschen, sondern „Bauch“ für Geburt, „Arm“ (braceros, braccianti) oder „Hand“ (hands) für Arbeitskraft, „brain drain“ in der Gegenwart. 69 Käthe Sonnleitner, „Die Stellung der Kinder von Unfreien im Mittelalter in Salzburg, Steiermark und Kärnten“, MGSL 123 (1983), 149–166; Hartmann, Aufbruch, 113–114. 70 Kosten-Nutzen-Analysen von Gebär- und Arbeitsfähigkeit war in Sklavenhalterregimes üblich. Bei der Sklavenbefreiung in Brasilien 1888 mussten Freigelassene ihre Besitzer durch mehrere Jahre Arbeit entschädigen. Ungeborene Kinder (Lei do Ventre Libre) und über Sechzigjährige (Lei dos Sexagenários) wurden sofort frei, damit die Plantagenbesitzer nicht die Kosten für Aufwachsen oder Altern tragen mussten. 65

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Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/ Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben

stimmte Anzahl; sie tauschten Eltern, meist Frauen, um Auswärtigkeit zu beenden: „Der Grundherr, dem durch eine Auswärtsehe Untertanen verloren gingen, erhielt dafür Untertanen des gleichen Geschlechtes und von vergleichbarem Status, vor allem aber mit vergleichbarem Besitz.“ So handelte es Anfang des 13. Jahrhunderts der Salzburger EB mit dem Abt von Admont aus. „Die Kirche“ schätzte längerfristige Rentabilität: Wollten weltliche Besitzer alleinstehende Frauen und solche mit kleinen Kindern, die ihnen als Belastung erschienen, abgeben, nahmen Kleriker sie gern, denn die „Kinder dieser Frauen erbrachten nach einigen Jahren einen wertvollen Zuwachs an Arbeitskraft.“ 71 Hufen-Arbeits- und Tischgemeinschaften bewirtschafteten volle oder geteilte Hufen gegen (mhd.) vrōn, dem Herrn gehörende Dienste und Abgaben. Männer mussten – regional variierend –

an drei Tagen pro Woche auf Herrenland arbeiten (Lex Bai. C. 14, 6), Frauen Dienste erbringen. Da der Grundherr Erntebeginn und Tage der Erntearbeit bestimmte, konnten die Fronenden günstiges Wetter nicht für ihre Hufe nutzen. Das Regime veroder behinderte agency; war allerdings der Herrenhof technisch besser ausgerüstet, sahen die Fronenden Gerät- und Arbeitsalternativen. Zinse – Grundrente, Zehnt, Vogtabgaben, Sondersteuern – waren in Naturalien zu zahlen. Während des Übergangs zu Markt- und Geldwirtschaft im 11./12. Jahrhundert verringerten die Parteien Zwangsarbeit auf Aussaat und Ernte sowie Handwerks- und Transportarbeit im Winter. Zum „Ausgleich“ stiegen die Geldabgaben. Sie erforderten Erwirtschaften eines marktfähigen Überschusses und für den Markthandel wurden Transportmittel und Wege verbessert.

Das früheste überlieferte Urbar (1177–1216, urk. Abschrift 1250) für das Vizedomamt Salzburg und solche für andere Ämter belegten die Vielfalt der Abgaben: – Hufen lieferten überwiegend Getreide unterschiedlicher Sorten, Schwaigen Käse, Besitzungen im Süden Wein (herbeigesäumt von Bauern im Etschtal, Friaul und Kärnten), Flachs, Heu, Häute; – Viehdienste waren in Rindvieh, Ziegenböcken, Schafen und Lämmern sowie Schweinen – unterschieden in Eber, Fettschweine, Mastschweine, mittelgroße Tiere, Ferkel – zu leisten; – Kleindienste umfassten Geflügel, Legehennen und Eier, Käse, Legumen; – Zinse waren – ortsradiziert und wie immer unsystematisch – auf Hofstätten, Gebäude, Äcker, Gärten, Weingärten, Neubrüche, Mühlen und Schifferlehen zu entrichten; – Dienstgüter von Amtleuten und Zuchthufen hatten unter anderem Reitpferde für Botenzwecke bereitzuhalten; anderen waren Transport-, Vorspann- und Handdienste auferlegt; – Gewerbetreibende zinsten Bier, Bretter, Schindeln, Textilien wie Wolltuch (Zillertaler Schwaigen) und Leinen (Ennstal); – in manchen Orten waren Bäcker-, Köhler-, Hafer-, Hufeisen- und Forstgeräte-Dienste gefordert; – Fell- oder Balgdienste waren aufgeschlüsselt nach Tierart; – das Recht, Holz zu schlagen, war verbunden mit Bretter- und Schindeldiensten; Leben nahe Erz-Fundstätten mit Eisen- oder Waschgold-Diensten; – in der Umgebung von Schloss und Burg Werfen, genutzt überwiegend für Jagdaufenthalte, dienten die Unfreien für die herrschaftliche Küche und stellten Töpfe und Schüsseln, Getreidesiebe (?) und Mühle, Fleisch und Gemüse sowie Fisch bereit; weiterhin Stühle, Bettgestelle und -säcke sowie Kleidung für Schlossbedienstete; – hinzu kamen Brücken- und Marktzölle, gerichtliche Abgaben und separate Vogteidienste.

71

Dollinger, Bauernstand, 235–242, Zitate 31, 238; Walter, Ehe – Familie – Arbeit, 86–102.

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.6 Abgaben leistende Hörige, Holzschnitt, Rodericus Zamorensis, Speculum vitae humanae, Augsburg 1479

Abb. 7.5 Hörige leisten ihren Grundherren Abgaben, „Sachsenspiegel“ (lavierte Federzeichnung): Lämmerzehnt, Pflege von Obst- und Weingärten, Fleisch-, Korn-, Gänsezehnt, Zinsen an St. Bartholomäus (Attribut: abgezogene Haut)

Im Folgejahrhundert veränderten die Betroffenen das Regime kontinuierlich durch Affirmation oder Widerstand, durch verfahrens- und gerätetechnische Neuerungen, durch die Zahl ihrer Kinder und durch Umsetzen ihrer Erwartungen und Wünsche. Herren-Familien sakralisierten Abgaben: Sie waren an kirchlichen Feiertagen „fällig“. Wie dachten die Abgabepflichtigen über die Verbindung von Heiligem und Zinsen, wie über den Herrschaftsterminus consuetudines, gemeinsame Absprachen? Frauen lieferten Textilien aus Hanf und Wolle oder Hanfstricke, Milch, Eier, Kleinvieh; Männer Holzund andere Produkte. Kleindienste wie Eier und Geflügel wurden bei Bedarf abgerufen. Für die Liefernden, soweit sie nicht nur Brei aßen, konnte dies den Küchenplan durcheinanderbringen. Hinzu kamen Kriegssteuern, Sonderdienste zu besonderen Anlässen, Zwangsarbeit beim Bau von Pfalzen, Burgen und Kirchen. Zu Erdarbeiten und Materialtransport wurden auch Frauen gezwungen, 72

Walter, Ehe – Familie – Arbeit, 246.

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Abb. 7.7 Zum Vergleich: Kleidung der Herren-Familien, Graf Siboto IV. und Gattin Hildegard mit Söhnen Kuno und Siboto V., Falkensteiner Codex, zw. 1166 und 1196

die ihre Kinder hätten betreuen müssen. 72 Allein Karl d. G. ließ etwa 100 Pfalzen errichten und die Ausstattungen heranschaffen. In der Kirchenpro-

Prozessuale Strukturen: Lebenseigene/ Sklaven, Zwangsarbeit und -abgaben

vinz Salzburg stieg die Belastung, als GrundherrenFamilien, die in festen Häusern oder Türmen lebten, Wehr- und Burganlagen bauen ließen: Allein in der Diözese im 11. Jahrhundert sechs, im 12. Jh. 24, im 13. und 14. Jh. je 43. 73 Manche dienten der äußeren Verteidigung oder als Basen für militärische Expansion, die Mehrzahl der Machtausübung im Inneren. Die Unfreien mussten die Zentralen ihrer Unterdrückung bauen. Dies war ihnen bewusst, wenn sie Baumaterialien schleppten. Die herausragende Hohensalzburg zeigte allen Anwohner*innen und Reisenden, wer die Macht hatte. Belagert wurde der mächtige Komplex nur einmal – 1525 von den Nachkommen der Zwangsarbeiter*innen (s. Kap. 11.7). Die Zwingburg ist bis in die Gegenwart von weither sichtbar, nicht zu besichtigen sind die Kammern, in denen Knechte und Mägde schliefen. 74 Die Anlagen beherbergten auch die Pferde, die bis ins 10. Jahrhundert überwiegend für Kriege, Reisen und als Statussymbole gezüchtet wurden, aber erhebliche Weideflächen in Anspruch nahmen. Menschen, die für sie Heu oder Hafer lieferten, mögen eigene Kosten-Nutzen-Rechnungen angestellt haben. Kirchenzehnte hatten biblisches Alter, denn bereits die Kompilatoren des Alten Testamentes notierten, dass den Herrschern und Hohepriestern von Kriegsbeute der zehnte Teil (oder mehr) zustand. Laut 5. Mose 12–14 war der Zehnt Religionsund Sozialabgabe, „Hebopfer“ für Tempelunterhalt und -dienst sowie für Hilfe an „Fremde, Waisen und Witwen“. Diese anfangs freiwillige Abgabe wandelten hohe Kleriker zur Pflichtzahlung und in der Zeit, als Bonifatius in Bayern wirkte, legte der Papst die Aufteilung fest: ein Viertel für die Armen, drei Viertel für „die Kirche“. Die karolingischen Herrscher ließen 779 die Abgabe für „ihre“ Kirche festlegen. Auch diese Macht wurde visualisiert: Neben Burg und Kirche mit Turm war in vielen Gemeinden der Wirtschaftshof einer Pfarre oder das „Stadel“ (Speicher bzw. Scheune) eines Zehntpächters das größte Gebäude. Im Zuge der wirtschaftlichen Veränderungen wandelten die Kleriker im 11. Jahrhundert den

Abb. 7.8 Textilarbeiten der ancillae in einem gesonderten Gebäude, Utrecht-Psalter, 9. Jh. (Ausschnitt), rechts am Rand ein Hirte mit Flöte

Zehnt in Geldzahlung 75 und Weistümer und Rechtsspiegel, die kollektive Erinnerung und Interessen widerspiegelten, in Herrscher-zentriertes Dekret-Recht um (s. Kap. 6.6). Die Recht-Haber lösten die Abgaben vom realen Ertrag einer Hufe oder Teilhufe und bürdeten alle – oft wetterbedingten – Schwankungen und Risiken den Unfreien auf. Alle dehnten ihre Ansprüche kontinuierlich aus, einzelne erhöhten den „Zehnt“ bis zum Dreifachzehnt, dreißig Prozent – so im Waldviertel zwischen Donau und Böhmen. Zusätzlich zum (biblischen) Großzehnt auf Getreide und Großvieh forderten sie einen Kleinzehnt auf die Produkte von Frauen sowie je nach Wirtschaftsregion einen Wein-, Heu- oder Holzzehnt, Schlacht- und Rodungszehnt. Sie verpachteten den Einzug an versierte Wechsler und Kaufleute. Diese setzten Zehntner ein und diese wiederum Zehntholde – ein Apparat, der bezahlt werden musste. Sie trieben Abgaben ohne Rücksicht auf individuelle Verhältnisse ein und die Rücksichts-losigkeit ging als zeitübergreifend-zentraler Topos in den „Volksmund“ ein: Nahm der Zehnteinzieher die „letzte Kuh“, stieg die Sterblichkeit von Neugeborenen und Kleinkindern, für die es keine Milch gab. Trauer zog in den Haushalt ein. Auch Wut? 76 Sprachgewalt trug zur Unterdrückung bei. Abgaben, anfangs „Geschenke“ oder „Ehrungen“ an Äbte und andere Grundherren, wurden „Hilfe“, ahd. stiura, Steuer. Dienste, servitiae, forderten Herren willkürlich auch von weit entfernt und ver-

Rico Grimm, „Pfalzen“, in: Pieper und Saltzwedel, Karl, 172–175; Josef Brettenthaler, Salzburgs SynChronik, Salzburg 1987, 65–73. In Schloss Tirol (bei Meran) werden in beispielhafter Form alle Burgbewohner*innen mit ihren Tätigkeiten und ihrer Unterbringung dargestellt (Stand 2016). 75 Auch Grundbesitzer jüdischen Glaubens mussten die christliche Kirchensteuer zahlen. 76 R. Puza, „Zehnt“, Lexikon des Mittelalters, 9:499–502; Epperlein, Bäuerliches Leben, 68–89. 73

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.9 Käsedienst, Falkensteiner Codex, zw. 1166 und 1196

streut lebenden Grundholden-Familien. Zu besonderen Anlässen forderten sie zusätzliche „Ehrung“. Die Durchführung von Herrschaft erforderte Delegation von Macht. Herren stellten neben Villicus und Schließerin weitere Aufseher und Verwalter ein und belehnten Meier und Vögte mit Höfen. Diese unfreien Beauftragten konnten zu autonomeren Dienstmannen aufsteigen. Grafen und Bischöfe und, mehrere Ebenen niedriger, Vögte trugen zu Ordnung ebenso wie Um- und Unordnung bei. Viele beuteten die unfreien Menschen rücksichtslos aus: frontier, „wilder Westen“ im Inneren. Sie wandelten sich von Amtsträgern auf Lebenszeit zu erblichen Amtsinhabern (Anfang 10. Jh.). Diese Privatisierung und Zersplitterung von herrscherfamiliären Territorien ging Hand in Hand mit den Fehden der Ego-zentrierten Kinder und Enkel Karls d. G. Die Zwischenherrscher stellten sich als Schutzgebende dar und forderten standesgemäßen Unterhalt, exactiones. Noch König Heinrich III. musste,

77 78

um nur ein Beispiel zu nennen, im 11. Jahrhundert den Vögten des Klosters des Maximin, genannt „der Heilige“, in Trier untersagen, die Rechte der Bauern zu beschweren, ihnen Pferde und Vieh wegzunehmen und Abgaben zu erpressen. Vögte forderten Zwangsdienste nicht nur zur Ausbesserung von Straßen und Brücken, sondern auch zum Erhalt ihrer Zwingburgen. 77 Die Zahl der servi eines Besitzers wuchs mit der Zahl der überlebenden unfreien Kinder und machtvollen Besitzern „wuchsen“ durch Schenkung von Land-mit-Freisassen zusätzliche Unfreie zu. Erzbischöfe tätigten Neuerwerbungen von größeren Gruppen durch Umschreibungen Unfreier von Vorbesitzern. Den hohen Anteil erzbischöflicher Lebenseigener am Gesamtbestand hat Herbert Klein errechnet. Ging, wie er argumentierte, diese privatrechtliche Leibeigenschaft mit dem Wandel zur Landesherrschaft in öffentlichkeitsrechtliche Landesuntertanenschaft über? Im Rauristal, um 1350 überwiegend von EB-Freisassen bewirtschaftet, kam nach dem Großen Sterben die Zahlung der Leibsteuer zum Erliegen. Drei bis vier Generationen später hielten die Nachkommen, sei es aus Überzeugung, sei es interessenbedingt, fest, dass es in dem Gericht nie Leibeigene gegeben habe, dass sie alle dem Landesfürsten unterständen und kein lokaler Herr sie zu Leibeigenen machen dürfe. 78 Eine Definition der Sklaverei und Leib-/Lebenseigenschaft sieht erstere als Verweigerung jeglicher Rechte, letztere als Zugang zu Rechten nur gegen Bezahlung. Damit lassen sich Abgaben und Banne fassen, schwieriger Robot. Kern beider Regimes war Gewalt und Definitions-Macht: Allgemeine Ressourcen mussten zuerst als „Rechte“ der Machthabenden dekretiert und verankert werden. In der Zeit abnehmender Zahlungsverpflichtungen nach der Pest zogen Erzbischöfe von ihren Menschen eine Gebühr nur ein, um ihre Ansprüche aufrechtzuerhalten.

Dollinger, Bauernstand, 70–81, 180–182, 208–215; Dopsch, „Karolinger“, 1.1:157–228, bes. 220. Klein, „Eigenleute“, 195–198, 210–213; Brunner, Kulturgeschichte, 13–55.

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Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

7.6 Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen 79 Ackerbau galt Gelehrten in Ostrom als ursprünglichste Kunst der Menschen, naissance du village nannte Jacques Le Goff den Übergang zu gemeinsamen Siedlungen, Gmain nannten süd-dialektdeutsche Sprecher ihr Zusammenleben. „Dorf“, dessen naturräumlich-topografisches Layout soziale Prozesse beeinflusste, war Rechtsbezirk. Es bot Schutz, ermöglichte bessere Kontakte auch bei der Partner*inwahl und leichteren Zugang zu Deckvieh und Mühle, zu Handwerker*innen, Kirche und Krug. Unregelmäßige, umzäunte Haufendörfer entstanden verstärkt im 11. Jahrhundert, gruppiert oft

um einen zentralen Anger, für den Markt oder eine zukünftige Kirche vorgesehen. Andere siedelten in Reihendörfern beidseitig einer Straße. Alle lebten in „natürlicher“ und in „sozialer“ Zeit, in „Herrscherzeit“ gemäß Abgaben und in „Kirchenzeit“ durch Siebentagewoche, Heiligenfeste und Glockenruf. 80 Regel-mäßiges Zusammenleben begann mit der Pflicht, den eigenen Hof zu umzäunen und Zaunflechten will gelernt sein. Nach bayerischem Recht mussten Zäune die Höhe der Brust eines erwachsenen Mannes haben, damit Vieh sie weder überspringen noch durchbrechen konnte. Das „Einfrie-

Abb. 7.10 Arbeit in Monatsbildern, Manuskript von Petrus de Crescentiis, Oberitalien, um 1470 Dieser Teil beruht auf den Studien von Dollinger, Epperlein, Fichtenau, Hartmann, Kohl, Rösener, Walter und Jerome Blum (Hg.), Die bäuerliche Welt. Geschichte und Kultur in sieben Jahrhunderten, München 1982 (engl. 1982). 80 Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 10, 45; White, Medieval Technology, 67; Johannes Koder, Die Byzantiner. Kultur und Alltag im Mittelalter, Wien 2016, 109. 79

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

den“ von Hof und Gärten verhinderte „vom Zaun gebrochenen“ Streit und regelte „Überlappungen“, zum Beispiel von Obst, das jenseits des Zaunes fiel. Vorräte waren mit „Schloss und Riegel“ zu sichern. Gemeinschaftlich errichteten die Bewohner*innen Häuser und Stallungen, Brunnen, Öfen zum Backen und Dörren, Räucherkamine und Fleischbänke sowie oft Badstube und in Weinbaugebieten Kelter. Deckvieh kontrollierten meist Pfarrer, damit sie wussten, wann sie für Jungvieh Zehnt einfordern konnten. Frauen schroteten in kräftezehrender Arbeit Getreide auf Stein, feines Mehl für HerrschaftsFamilien deren Gesinde. Mühlen lagen im Bann der Herren. Manche verboten häusliches Mahlen, um Banneinnahmen zu erhöhen. Hufe und Lebensunterhalt: Schreibkundige stellten die Verbindung von Land und Arbeit bis ins 9. Jahrhundert nicht dar. Ein Salzburger Mönch schrieb: „Der Juni bricht mit der gekrümmten Pflugschar die Erde auf […]. Da der Quintil die scharfe Sense auf der Schulter trägt, will er das grasreiche Wiesenland mähen. Der Sextil mäht mit gekrümmtem Stahl das Getreide, um mit ihm die Speicher zu füllen, und schneidet das Stroh.“ 81 Diese Vorstellung ähnelte dem märchenhaften „Schlaraffenland“, in dem Menschen, ohne zu arbeiten, satt werden: Diese herrschaftlichen Schreiber würden „abgefallene“ Mönche, Goliarden genannt, verhöhnen (s. Kap. 9.9). Die – an römischen Vorbildern orientierten – Monatspersonifikationen ersetzten Skriptor*innen seit den 830er Jahren durch Arbeitsvorgänge wie im Capitulare de villis aufgelistet: pflügen, ernten, holzhacken, schlachten als Nutzung oder Beherrschun1g der Natur. 82 Gemessen in Arbeitsleistung umfassten größere und kleinere Hufen Handarbeit von 16 bis 56 „Tagwerken“ oder „Jochen“, wobei ein Joch die Fläche bezeichnete, die ein Mann mit einem Joch Ochsen an einem Tag pflügen konnte. 83 Herren sollten die unfreien Bauleute mit Nebengebäuden, Zugtieren und Geräten, Garten und Nutzungsrechten an Wiesen, Wasserläufen und Wald ausstatten, so dass die Erträge für Hausgemeinschaft und Zwangsabgaben ausreichten. Doch reichten in Neubrüchen und

Randlagen die Erträge oft kaum zur Selbstversorgung. Arbeitsaufwand und Flächengröße variierten je nach ebenen oder unebenen Feldern, Tal- oder Hanglage, sandiger oder lehmiger Erde. Lagen Äcker zusammen oder verstreut? Musste Wasser herbeigetragen werden? War der Zugang zu Bauund Brennholz einfach? In Familienökonomien zählten nicht nur Pflüger-, sondern die gesamten Tagwerke, die Frau-Mann-Kinder und, wenn vorhanden, Knechte und Mägde leisteten. Haus-halt war Haus-tätigkeit, Beweglichkeit. Menschen produzierten pflanzliche und tierische Nahrungsmittel und in manchen Regionen Rohstoffe. Im Zweifelder-System verbanden sie Acker- und Viehwirtschaft. Da das jeweils brachliegende Feld als Weide diente, musste es sicher eingezäunt sein. 84 Die Dreifachbürde von Unfreiheit, Zwangsarbeit und -abgaben ließ manche laboratores am Sinn ihrer Arbeit zweifeln. Familien und Gesinde sowie junge Menschen bei Verlassen der elterlichen Haus- oder Hüttengemeinschaft mussten ihr tägliches Leben ohne Anreiz arrangieren und Zukunft planen. Wirtschaften entfernt von der unmittelbaren Kontrolle des Herren-Hofes ermöglichte Antworten auf eigene Interessenlagen, Verantwortung. Die Menschen erweiterten Überlebensstrategien zu bescheidenen Perspektiven. Sie verbesserten ihre Arbeitsgeräte, spezialisierten sich auf (Teilzeit-) Handwerke, verkauften Überschüsse auf lokalen Märkten. Sie waren initiativ. Ihre Strategien erschienen den Rentenbeziehern oft als subversiv, ihre Analyse, „als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann“, stellte das gesamte Denkgebäude der Eliten in Frage. Am Anfang des 13. Jahrhunderts schrieb der Vagant Freidank in Bescheidenheit „Swie die liute geschaffen sint/wir sind doch alle Adames Kint“. Auch die Logik des Rechtssystems durchschauten sie: „The law locks up the man or woman / Who steals the goose from off the common. / But leaves the greater villain loose / Who steals the common from the goose.“ 85 Kostenpflichtige und gebrochene Lebenszyklen: In weiten Teilen karolingischer Herrschaft, aber offenbar nicht in Süddeutschland, forderten Grund-

Jahreszeitengedicht, Carmina Salisburgensia. Carmen 5, ediert von Lukas Wolfinger, in: Wolfram, Quellen, 195–201. White, Medieval Technology, 56. 83 In der Regel eine Fläche von dreißig Joch, etwa 3400 m2. 84 Reinhard Wenskus, „‚Bauer‘ – Begriff und historische Wirklichkeit“, in: ders. u. a., Wort und Begriff „Bauer“, 11–28. 85 Sylvia Resnikow, „The Cultural History of a Democratic Proverb“, Journal of English and Germanic Philology 36.3 (1937), 391–405. Dollinger, Bauernstand, 206–208; Fichtenau, Lebensordnungen, 1:6; englischer Unrechtsreim, aufgezeichnet im 17. Jahrhundert. 81

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Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

Beherrschende eine Geldabgabe bei lebenszyklischen Ereignissen wie dem Beginn einer Partnerschaft, Geburten und Tod. Besonders Frauen hatten bei Eingehen einer Partnerschaft ein „Geschenk“ zu entrichten. Waren Kinder bis zur Arbeitsfähigkeit großgezogen, verfügten die Besitzer über sie. Aus Zuneigung entstandene „Auswärtsehen“ waren in Bayern noch im 13. Jahrhundert verboten. Junge Menschen, die sich dieser biopouvoir entzogen und heimlich eine Partnerschaft eingingen, mussten Bußgeld zahlen oder nachträglich Zustimmung erkaufen. Äbte, die Ehen hätten schützen müssen, trennten Auswärtsehen, wenn diese ihren Interessen nicht entsprachen. Dies Primat des Besitzes über Emotionalität und Seele hatten Anwesende der Synode in Châlon-sur-Saône bereits 813 kritisiert und die Annullierung von Partnerschaft/Ehe verboten. Doch konsultierte ein Salzburger EB noch drei Jahrhunderte später den Papst in dieser Frage und Kirchenmänner begannen erst im 12. Jahrhundert das Verbot zu respektieren. Theologische Abhandlungen über die Seelen der Unfreien und ihre Gleichheit vor Gott fehlen. 86 Beim Tod Unfreier hatten Grundherren sich das „Recht“ dekretiert, einen Teil von deren Erarbeitetem einzuziehen, regional unterschiedlich die Hälfte (zum Beispiel in St. Emmeram) oder von beweglichem Besitz die gesamte Kleidung und vom Vieh die Hälfte (Westfalen) sowie, beim Tod Unverheirateter oder Verheirateter ohne Erben, den gesamten Besitz. Die Mönche des Klosters Weingarten (bei Ravensburg) nahmen sich beim Tod eines unmündigen Kindes alle Geschenke der Paten und Verwandten (urk. 1094). Die Betroffenen wehrten sich und erreichten in Teilen des mitteldialektdeutschen Raumes eine Verringerung auf das „Besthaupt“ vom Vieh und das beste Kleidungsstück des/der Verstorbenen. Da diese Regelung Herren etwas „zufallen“ ließ, entstand der bis in die Gegenwart übliche Begriff „Todesfall“. Die Abschöpfung sank im 12./13. Jahrhundert auf das zweitbeste Stück Vieh und ein Arbeitsgewand; von verarmten Familien mit nur einem einzigen Rind oder Schwein wurde die Abgabe nicht mehr erhoben.

Starb hingegen ein Mächtiger, mussten die Untertanen dem Nachfolger eine Huldigungs-ab-gabe entrichten oder einen Huldigungsdienst erweisen. 87 Geschlechter- und Generationenverhältnisse, Kindheit und Körperlichkeit: Die Hausgemeinschaften, die gemeinsam Abgaben und Frone nach außen leisteten, waren innen nicht gmain, sondern hierarchisch. Frauen unter-standen der „Munt“ von Vater oder Brüdern und wurden von der Gewalt des Vaters in die des Ehemannes übergeben. Munt wird oft als „Schutzverhältnis“ bezeichnet – vor wem hätten Frauen geschützt werden müssen? Doch in dem arbeitsteiligen Leben der Hufen wie in den Familienstrategien Mächtiger hatten Frauen Positionen oder Rollen inne, die sich nicht mit „Unterordnung“ fassen lassen und die vielleicht nicht alle Frauen als Unter-ordnung sahen. Partnerschaften über Besitzer-Grenzen und die Verweigerung elterlich arrangierter Heiraten belegen Handlungsmöglichkeiten und Emotionen. Literarische Autoren nahmen das Thema auf: Einige forderten die Kontrolle von Frauen und Gesinde durch den Hausherrn, andere hoben die Bedeutung von Frauenarbeit hervor. 88 Sexuelle Partnerschaft, die viele Menschen, anders als Kirchenväter, wohl nicht als Erbsünde sahen, bedeutete oft Kinder. Arbeitskraft-orientierte Autoren machten sich Gedanken, ob Frauen und auch Männer funds of knowledge zur Geburtenverhütung nutzten. Manche Kleriker verurteilten Verhütung und Abtreibung als Mord oder jedenfalls als strafbar, andere waren sich der Sinnhaftigkeit sozialer Indikation bewusst: Wenn weitere Kinder nicht ernährt werden könnten, seien Verhütungspraktiken oder Abtreibung verständlich. Studien zeigen, dass wohlhabende Familien, in denen Mütter ihre Säuglinge an Ammen abgaben, angesichts kürzerer Geburtsintervalle im Vergleich zu ärmeren die doppelte bis dreifache Zahl von Kindern großzogen oder großziehen ließen. Nur wenige kirchliche Autoren, die ohnehin auf männliche Kinder fokussierten, nahmen die Zeit der Schwangerschaft wahr. Immerhin notierte Konrad von Megenberg in seinem Hausbuch Yconomica, 1352, dass er „mit Be-

Schon 334 u. Z. hatte Kaiser Konstantin in einem Sardinien betreffenden Dekret das Auseinanderreißen von Sklavenfamilien verboten: „Wer würde tolerieren, dass Kinder von den Eltern, Brüder von Schwestern, Ehegatten voneinander getrennt würden“ (Codex Theodosianus, 2.25.1, übers. aus dem Engl. D. H.), zitiert in: Knapp, Invisible Romans, 163. 87 Hans-Werner Goetz, Europa im frühen Mittelalter 500–1050, Stuttgart 2003, 176–183; Epperlein, Bäuerliches Leben, 77; Dollinger, Bauernstand, 229– 235. 88 Walter, Ehe – Familie – Arbeit, setzt sich intensiv mit diesen Fragen auseinander; Epperlein, Bäuerliches Leben, 223–225. 86

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

wunderung festgestellt [habe], dass viele arme Frauen in schwangerem Zustand schwerste Arbeit verrichten“ und es doch nicht zu Fehlgeburten käme. 89 Kinder waren Teil von Emotionen, Subjekte elterlicher Liebe und Vorsorge. Philippe Ariès’ zeitweise einflussreiche These, dass Kindheit erst im 17./18. Jahrhundert „entdeckt“ worden sei, war falsch. Eltern suchten für-sorglich mit kranken Säuglingen oder Kindern Kapellen, Marienbilder und Reliquien auf und flehten um Heilung. Um ein gestorbenes Kind trauerten Väter wie Mütter. Fürsorge war meist Aufgabe der Mütter und bei frühem Tod einer Mutter war für den Vater schnelle Wiederheirat geboten, denn in der Restfamilie stieg die Kindersterblichkeit rapide. Sie stieg, wie es scheint, nicht bei Ableben eines Vaters. 90 Kinder spielten, wie erhaltene Spielzeuge, bildliche Darstellungen und Texte zeigen. Ein Dorfplatz wäre also nicht nur mit Kirche zu imaginieren, sondern auch mit Kindergeschrei und herumliegenden Spielsachen. Mit Vollendung des siebten Lebensjahres galten Kinder als arbeitsfähig und bei Waisen endete die Unterhaltspflicht. Ihre Arbeit in gynaeceae und Hof oder als (Klein-) Mägde in Haushalten wirft die Frage nach Emotionen bei dem unfreiwilligen Übergang von Eltern- zu Arbeitshaus auf. Alle übernahmen Aufgaben und lernten dabei. Jede zusätzliche Leistung war ein Schritt in die Wirtschaftsgemeinschaft, konnte aber sehr harte, in Bergwerken auch körperlich verformende Tätigkeit bedeuten. „Hütejunge“ und „Gänseliesel“, in bürgerlich-romantisierender Literatur des 19. Jahrhunderts verklärt, mussten auf ihre Tiere genau aufpassen, bei Fehlverhalten folgte Strafe. 91 Kinder lernten körperbezogen mit Augen, Ohren, Nase, Mund und Händen: sehen, hören, riechen, schmecken, tasten. Ging es den Eltern schlecht, wurden sie „in Mitleidenschaft“ gezogen. Der Rahmen, in dem Eltern ihren Kindern Fähigkeiten – jedoch kaum Besitz – tradieren konnten, stieg erst unter neuen Optionen für Eigeninitiative im 11. Jahrhundert. Heranwachsende, die nicht als Arbeitskraft be-

Abb. 7.11 Ein Bauer betrauert sein totes Kind, ~1140, Kapitell, Abtei Vezelay (Burgund)

nötigt wurden, konnten auf (Teil-) Hufen oft nicht ernährt und Verwandte – Tanten, eine Großmutter, durch Arbeitsunfall oder Krankheit Invalide – nicht „durchgefüttert“ werden. Manche Grundherren erzwangen Geschlechtsgemeinschaft: Der Propst des Klosters Weitenau (Oberrhein) sollte nach einer Regelung von 1344 die Ehe für jeden „Gotteshausmann“ im Alter von 18 bis 20 Jahren und für jedes „Gotteshausweib“ ab 14 Jahren anordnen. Der Propst konnten Frauen verbieten, Nonne oder Begine zu werden; er sollte bei Witwen oder Witwern Wiederheirat anordnen, „außer wenn sie sich mit dem Propst nach seinem Willen einigen.“ 92 Zu der systemischen Gewalt kam Strafgewalt hinzu. Wer Anweisungen nicht Genüge tat, wurde an „Haut und Haaren“ bestraft. Das galt auch für Vögte, die geforderte Nahrungsmittel nicht lieferten. Schmerz prägt sich dem Gedächtnis ein – in Bayern wurden deshalb Zeugen bei Rechtsgeschäf-

Klaus Arnold, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance, Paderborn 1980, 54–58, beruhend auf den Forschungen von Christiane Klapisch und David Herlihy u. a., Zitat 135–136; Matthias Winter, Kindheit und Jugend im Mittelalter, Freiburg 1984. 90 Philippe Ariès, L’Enfant et la vie familiale sous l’Ancien Régime, Paris 1960, 21973. Die Titel der englischen (1962) und späten deutschen (1975) Übersetzung generalisierten zur „Geschichte der Kindheit“ und Pädagogen und Sozialhistoriker übernahmen die These. Schwedische Forschungen zum 18. und 19. Jahrhundert weisen auf die unterschiedlichen Raten von Kindersterblichkeit hin. 91 In dem Märchen „Tischlein deck dich“ verstößt der Vater die Söhne, weil diese die Ziege angeblich falsch behandelt hätten. 92 Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/M. 1973, 352; Epperlein, Bäuerliches Leben, 208. 89

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ten heftig am Ohr gezogen. Autoren, die über das Hauswesen Gehobener schrieben, debattierten, in welchem Ausmaß Kinder mit der Rute gestraft werden sollten. In land- und hand-werkenden Familien waren Körperstrafen ohne Debatte üblich. 93 Wegen kleiner Vergehen verurteilte Frauen mussten einen schweren „Schandstein“ durch den Ort tragen. Vergewaltigung wurde geahndet, doch war sexuelle Gewalt gegen Frauen Teil des „Fehdewesens“ der Oberschichten. Wieder stellt sich die Frage, ob Lebenshörige als Unter-Menschen galten? In früheren Rechtszusammenhängen war Vergewaltigung mit Tod bestraft worden. Entfernen aus dem alltäglichen Normenrahmen galt als gefährlicher Schritt in einen Sozialraum mit (vermuteten) anderen Normen. Nahe Wirtshäuser erschienen vielen Autoren als Orte sexueller Freizügigkeit; in der Ferne notierte ein kirchlicher Beobachter verärgert, dass kreuzziehende christliche Männer sich nicht nur an Frauen, sondern auch an junge Männer heranmachten. Körperverletzung im Rahmen täglicher Arbeit hingegen wurde nicht als Gewalt gefasst. Doch verformte das tägliche Drehen schwerer steinerner Handmühlen Frauenkörper und schwere Transporte von Mist oder Steinquadern Männerkörper. Bei Erdarbeiten für Großbauten wie Burgen und Kathedralen mussten beide Geschlechter Schwerstarbeit leisten, für Historiker*innen messbar durch Berechnung der Kubikmeter Schüttmaterial für den Unterbau einer Burg. Im frühen Mittelalter waren Frauen durchschnittlich 160 cm groß, Männer 168 cm; die Lebenserwartung lag zwischen 25 und 32 Jahren bzw. für diejenigen, die die Kindheit überlebten, bei 44 bis 47 Jahren. 94 Körper erforderten Hygiene und waren anfällig für Krankheiten. Behandlung von Zahnschmerzen war Thema vieler bildlicher Darstellungen. Alle zeigten männliche Patienten. Pflegten Frauen ihr Zähne besser? Reinlichkeitspraktiken waren bekannt, zum Beispiel das Ausspülen des Mundes mit Essig oder Kauen weichen Holzes. Bader nahmen ärztliche Aufgaben wahr, erfahrene Frauen halfen als Heb-Ammen und Kräuterspezialistinnen bei Geburten und Krankheiten. Körper-

Abb. 7.12 Kinderpflege und Spiel, 1429, Miniaturen aus Heinrich Louffenberg, Regimina sanitatis (Gesundheitsregime)

liche Schwächung beruhte vielfach auf Nahrungsdefiziten oder Mangelernährung, Krankheiten auf arbeitsbedingten Verletzungen, Gelenkabnutzung auf tätigkeitsbedingten degenerativen Prozessen. Ärzte konnten sich nur Reiche leisten, Ärmere hofften auf Heilungswunder durch Anrufen der magischen Kräfte christlicher Heiliger. 95 Nahrung: Die Menschen ernährten sich neben Feldfrüchten und Sammelpflanzen wie Beeren und Nüssen durch Gartenbau und (Klein-) Tierzucht. Beides und die Besorgung aufgestallten Viehs oblag überwiegend Frauen. Zeitaufwändige Jagd und Fischfang vermieden sie, Kleinwild fingen sie ohne

Arnold, Kind und Gesellschaft, 98–186. Goetz, Europa, 162–163. 95 Ein Arzneibuch, Defensio artis medicinae, verfasste ein Mönch im Kloster Lorsch (Anf. 9. Jahrhundert); die Synodalen in Clermont verboten 1095 Klerikern das Studium der Medizin; 1215 beendete das 4. Laterankonzil jegliche Klostermedizin. Kay P. Jankrift, „Arbeit zwischen Handwerk und Kunst: Selbst- und Fremdwahrnehmung ärztlicher Tätigkeit“, in: Postel, Arbeit im Mittelalter, 203–209. 93

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.13 Bettler*innen vor einer Kirche, Petrarca-Meister (Holzschnitt, 1532)

Zeitaufwand in Schlingen und Netzen. Obstbau, Mobilen nicht möglich, war sesshaften ländlichen Menschen bekannt, doch Topos von offiziellen Erzählungen wurde nur die winzige Zahl der Klostergärtner und -gärtnerinnen. Fleisch – und zum Teil Zugkraft – sowie Eier, Honig und Wolle lieferten Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen, Hunde, Geflügel, Bienen. Den Landbauleuten blieb nach den Abgaben nur das „Notwendige“. Dessen Menge war höchst empfindlich gegen Naturereignisse, sie alle mussten aus Not wendig sein. 96 Langfristige Vorratshaltung konnten Hausgemeinschaften nicht betreiben und Mönchs- und Nonnengemeinschaften sorgten oft nur für den eigenen Bedarf vor. Auf klimatisch und kriegerisch bedingte Missernten folgten Teuerungs- (caristia) und Hungerkrisen (fames, mortalitas). Fast Jede*r erlebte – überlebte – einmal im Leben eine Hungersnot: In Bayern gab es derer vier im 9., keine im 10., vier im 11., sieben im 12. und fünfzehn im 13. Jahrhundert sowie fünf weitere in den wenigen Jahren von 1310 bis 1317. Viele trafen nur die Menschen einer Region. Großräumlich war das Desaster 820/21, ein kaltes und nasses Jahr, Flüsse und Ströme traten über die Ufer, Wintergetreide konnte nicht gesät werden, die Donau fror zu; 1082 ein weiträumiger Krieg zwischen einem Markgrafen

und einem Herzog, der eine als österreichisch, der andere als böhmisch etikettiert; kalte Jahre vor 1145; Überschwemmungen im Frühjahr 1234. In den Bergen konnte ein Starkregen Bäche so anschwellen lassen, dass sie Felder mit Schwemmschutt überlagerten und Siedlungen zerstörten. Zehrten Hungernde Saatgetreide auf, konnten die Überlebenden Äcker nicht bebauen. Die Menschen aßen Kräuter, Pflanzenwurzeln, Baumrinde und, in Verzweiflung, durch „Mutterkorn“ verdorbenes Getreide, das „Antoniusfeuer“ hervorrief, schwere Durchblutungsstörungen und das Absterben ganzer Gliedmaßen. Zeitgenössische Bildlichkeit zeigte selten Verarmte, aber häufig Krüppel ohne Arme und Beine in Lumpen. Auf Mangelernährung folgte Schwächung und in den Folgejahren hohe Sterblichkeit, besonders von schwangeren Frauen und Kindern. 97 Wohlhabende reisten in Mangelzeiten vielfach zu Besitzungen in besser versorgten Regionen; einfache Menschen flohen zu Klöstern oder in Städte, in denen sie Vorräte vermuteten. Manche Äbte und Äbtissinnen zeigten keinerlei Barmherzigkeit, andere wucherten mit ihren Vorräten, wieder andere verteilten Vorräte, bis die Gemeinschaft selbst nichts mehr zu essen hatte, oder versuchten, Getreide heranschaffen zu lassen. Tod und Flucht vor

Herbert Jankuhn, „Archäologische Beobachtungen zur bäuerlichen Lebens- und Wirtschaftsweise im 1. nachchristlichen Jahrtausend“, in: Wenskus u. a., Wort und Begriff „Bauer“, 29–45. 97 Curschmann, Hungersnöte, 3, 18–24; Epperlein, Bäuerliches Leben, 20–30. 96

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Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

Hungertod ließen communities schmelzen. Manche Zurückbleibende wanderten ebenfalls ab, andere eigneten sich verlassenes Land an. Salzburg-Stadt traf unter anderen die Hungersnot von 1259; 1281 mussten Bessergestellte sich mit Hafer- oder Schwarzbrot begnügen, Arme sich von Wurzeln und Kräutern ernähren. Als während der Bayernweiten Not 1235 der österreichische Hz auf Anraten seiner Wirtschaftsfachleute Getreideexporte verbot, ließ der amtierende EB Getreide aus Schwaben und Wein aus Italien und Frankreich heranführen. Handelsnetzwerke und kaufmännischer Informationsfluss funktionierten. Auch Zuschreibungen funktionierten: Einige der herzoglichen Berater waren „Juden“. 98 Selbst in normalen Jahren waren die Erträge aus Getreideanbau und Viehwirtschaft gering. Bei Dinkel als Brotgetreide, Gerste, Hafer, Weizen und – seltener angebaut – Roggen und Hirse betrug das Verhältnis von Saat- zu geernteten Körnern meist 1:3, maximal 1:6; Rinder waren klein, Schweine schmal, Ziegen und Schafe lieferten Milch und Käse. „Bauernspeise“ bestand aus grobem Brot und Käse; aus Brei von Hülsenfrüchten (Feldbohnen, Erbsen, Linsen) oder Gerste, Hafer, Hirse und Kleie; aus Rüben, Kraut, Zwiebeln, Knoblauch sowie gelegentlich aus fettliefernden Pflanzen (Lein, Leindotter). Fronende Hufenleute eines Herrenhofes in Bruck an der Mur erhielten am Morgen und Abend Brot und einen Viertelkäse, mittags Hirsebrei und Kraut mit einem Stück Fleisch. Ländliche Menschen aßen Fleisch, meist vom Schwein aus Eigenversorgung, nur an Feiertagen, die zahlreichen Fastentage verringerten den Verbrauch. 99 Im Winter war Speck überlebenswichtig, entsprechend hoch war die Wertschätzung von Schweinehirten. Zu Getränken – Filteranlagen für Trinkwasser gab es nicht – zählte gelegentlich billiger Wein aus Regensburger Anbau und, seit dem 12. Jahrhundert, Bier. Frauen brauten es aus minderwertigem, zum Backen nicht geeignetem Getreide und angesichts niedrigen Alkoholgehalts und Keimfreiheit galt es als flüssige Nahrung. Ständedi-

daktische Autoren, die um „Herrenspeise“ aus Wild und Fasan, Rinderbraten, Weißbrot und teuren Delikatessen wussten, gönnten ländlichen Menschen nichts: Reichhaltiges Essen auf Bauerntischen sei „dem Lande ein Hagelschlag“ befand der Autor von „Seifried Helbling“ (zwischen 1290 und 1300), unstandesgemäßes Essen mache sie krank. 100 Die Reichen wussten um die Unterschiede: „Ein Bauer zehrt mit einem Kreuzer soweit wie ein Herr mit einem Dukaten“, hieß es sprichwörtlich und durchaus analytisch. 101 Menschen, die mehrere zu nasse oder zu trockene Jahre über sich ergehen lassen mussten, wurden mutlos. Mangelernährung schwächte nicht nur physiologisch, sondern Proteinmangel machte auch antriebslos. Die Arbeitsleistung sank und, in Folge, die Nahrungsmenge. Die von Oberschichten ihren Untertanen oft vorgeworfene „Faulheit“ konnte Folge der miserablen Ernährung sein, die sie ihnen zugestanden. Die Menschen, die sich ihre Löffel selbst schnitzten, sahen die Verbindung von Nahrung und Leben, ihre Umschreibung für „Tod“ war, „den Löffel abgeben“. Kleidung stellten Frauen aus groben, ungefärbten Wollstoffen und Loden her: Umhang mit Kapuze, Hemd, heller Rock, Hose, Beinkleidung mit Bändern geschnürt, einfache Schuhe, Unterkleidung aus Leinen, Hanf oder Nessel. Obrigkeitliche Kleiderordnungen, die Grau- und Naturtöne vorgaben, entstanden aus überzogenem Regelungsbedürfnis, denn die Farben entsprachen ohnehin der Funktionalität. Blau war die billigste Stofffarbe und blauer Loden galt denen, die es sich leisten konnten, als Besonderes für Feiertage. Verglichen ländliche Männer und Frauen ihre Kleidung mit der von Klerikern? Mönchskleidung, auch Reithosen, nähten Frauen in Kloster-gynaeceae und später in Handwerkssiedlungen; Hufenfrauen hatten an manche Klosterkämmerer Kleiderzinse abzuliefern. Mit der Marktorientierung stiegt die Bedeutung von Weben und Nähen: Stoffe und Kleidung verdarben nicht, konnten auf Vorrat produziert und zu passender Zeit verkauft werden. Heimhandwerk

Karl d. G. erließ mehrfach „außerordentlichen“ Rechtsschutz für Notleidende und versuchte Preise festzulegen. Curschmann, Hungersnöte, 44 passim. 99 Manche Städte beschafften sich Freibriefe, die Bewohner*innen von Teilen des Fastengebotes befreiten. 100 Der Autor war vermutlich ein Landadliger aus der Gegend um Zwettl, geb. vor 1240. Eva Rummer, „Helbling, Seifried“, in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), 460 f., Online https://www.deutsche-biographie.de/pnd101240805.html#ndbcontent (Jan. 2020). 101 Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 115–118; Epperlein, Bäuerliches Leben, 205–207; Karl-Heinz Spieß, Food and Drink at German Courts in the Late Middle Ages, unveröff. Vortrag, Juni 2012. 98

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war ein zentrales Element der Haus-, Kloster- und Herrenwirtschaften. Als Behausungen errichteten ländliche Menschen sich oft eingetiefte Grubenhütten, denn Erde kühlte im Sommer und verringerte Kälte im Winter. Die Konstruktion bestand aus vier Eck- und zwei Firstpfosten, darauf ein Firstbaum, schräg nach unten überkragende Balken für das Dach aus Stroh, Wände aus Reisig und Lehm. Dies Basismodell verbesserten sie zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert zu Ständerhäusern mit Steinfundament zum Schutz vor Feuchtigkeit. Die Fähigkeit, Stroh regendicht zu verlegen, entwickelten sie früh, eine Abzugstechnik für Rauch erst spät. Notwendig waren jedem speziellen Winkel angepasste Verzapfungen der Balken, Holznägel in großer Zahl und die Bohrung passender Löcher. Die Konstruktion durfte bei Wind nicht ächzen und knarren, musste Stürmen widerstehen und doch leicht zerlegbar sein, denn noch im 13. Jahrhundert galt die Behausung als Fahrhabe. Hufen-Zinsleute mussten bei freiwilligem oder erzwungenem Abzug dem Herrn Haus, Zaun und Mist zum Kauf anbieten. Löste dieser sie nicht, konnten sie alles mitnehmen. Hütten und Häuser bestanden oft nur aus einem Hausarbeits-Wohn-Raum mit Feuerstelle sowie Schlafkammer. In die Dachsparren hängten die Bewohner*innen Räuchergut zur Konservierung und Geschmacksverbesserung und trockneten auf Zwischendecken Erntegut nach. Über dem Feuer hing auf einer verstellbaren, „Feuersäge“ genannten Zahnstange der metallene Kessel. Wollten sie Essen schneller erhitzen, mussten sie „einen Zahn zulegen“. Ihr einziger Kessel war wertvoller Besitz und wurde, wenn nötig, repariert. Eine scheinbar kleine Veränderung, die Ummauerung des Feuerraums zu einem Ofen, veränderte Lebenspraktiken geschlechtsspezifisch, denn der Ofen wurde Raumteiler: Wärme zum Wohnraum, Herd im nun abgetrennten Koch- und Arbeitsraum. Der Wohnraum war rauchfrei und wurde nach oben mit einer Decke abgeschlossen. Über Generationen entstanden regional spezifische Haustypen, naturräumlich sinnvoll, alltagspraktisch funktional, der Wirtschaftsweise und Betriebsgröße angemessen. Einhöfe vereinten alle Funktionen unter einem Dach, im Paarhof waren Wohnhof mit Herdfeuer und Futterhof als Stallung und Stadel getrennt. An Hügeln und Berghängen errichteten Familien zweigeschossige, kombinierte 246

Abb. 7.14 Holz- und Hausbau-Techniken ländlicher Menschen (schematische Darstellung)

Wohn- und Speicherhäuser mit, vorn, ebenerdigem Stall und darüberliegender, nach hinten ebenerdiger Scheune mit Zufahrt. Im Innviertel erbauten sie größere Vierseithöfe, in deren Dachgeschoss sich die nicht beheizten Vorratsräume und Schlafkammern befanden. Die Toilette, an einer Seitenwand, kragte hinaus – Fallhöhe statt Wasserspülung. Truhen der Hausbesitzer enthielten die Wäsche, die der Knechte und Mägde den gesamten Besitz. Dielen wurden mit Reibsand aus Bächen und Flüssen gescheuert oder mit Quarzsand aus Gruben. Alte, sogenannte Austragleute, die Jungen den Hof überlassen hatten, erhielten eine eigene Stube oder, in manchen Gegenden, ein separates Häuschen. Ein Balkon an der Stirnseite bot Raum zum Arbeiten und Trocknen, eine Machlkammer Raum für die Reparatur von Geräten. Getrennt standen vielfach Getreidespeicher oder Stadel, Backöfen und Brunnen. Diese gut durchdachten

Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

Anlagen wurden bis ins 20. Jahrhundert verwendet. 102 Arbeitsabläufe und Geräte: Differenziertes Wirtschaften erforderte umfassende Kenntnisse und eingeübte Zusammenarbeit. Männer-Tagwerk wurde oft nur mit einer einzigen Tätigkeit, der des Pflügens, dargestellt. Frauen bereiteten in der gleichen Zeit Essen zu, molken Ziegen oder Kühe, fütterten Hühner, machten Butter und Käse, buken Brot und brauten vielleicht Bier. Über das Jahr gesehen waren die Arbeiten beider Geschlechter ähnlich vielseitig. War Gesinde vorhanden, erforderte die Arbeitsteilung Kenntnisse nur für den jeweils eigenen Bereich. Qualifizierte Dienste von Hirten, Milchmägden, Handwerker*innen, Winzer*innen hatten ein je eigenes Berufsprofil und -stolz. Milchmägde (mit Untermägden) waren für Milch, Sahne, Butter und Käse verantwortlich, Bottichmacher stellten ihnen passgenaue Gefäße her. Den Milchfrauen oblag die Mengenabrechnung. Städter würden diese Leistung später als „Milchmädchen-Rechnung“ abtun. 103 Gute, das heißt ergonomisch durchdachte Geräte verhinderten Knochenverformung und Gelenkabnutzung. Gemäß Krafteinsatz und Bewegungsablauf musste der Stiel einer Heugabel anders geformt sein als der einer Mistgabel. „Natürliche“ Heugabeln bestanden aus einem Ast von Stielstärke, der sich naturwüchsig in drei Äste-Zinken aufteilte; für „kunstfertige“ wurde eine Stange am Ende dreifach oder gar fünffach gespalten, durch einen Metallring an weiterer Spaltung gehindert und mit Keilen gespreizt. Die Keile durften sich bei der Arbeit nicht lockern, sonst verlor das Gerät seine Funktionsfähigkeit. Geräte stellten Hausgemeinschaften selbst her, nur für komplexere verließen sie sich auf dörfliche Werkzeugmacher. Hätten diese schlechte Arbeit geliefert, wäre ihr Ansehen gesunken; Hof- oder Klosterhandwerker wären bestraft worden. Die Landwirtschaftenden benötigten Spaten, Grasharke, Heurechen, Laubrechen, Sicheln, Scheren, Schnitz-

Abb. 7.15 Mann mit Sense und Wetzstein im Wasserbehälter, 10. Jh., und Sensentechnik: aufgekanteter Klinkenrücken, Befestigung des Blattes am Stiel (Nachzeichnung)

und Baummesser, Beile und Sägen, Hobel und Bohrer und, zur Lagerung des Erntegutes, Holzschwingen, Körbe, Bottiche und Fässer. Schaufeln mussten den Bodenverhältnissen angepasst sein: Flusssand und steindurchsetzte Hänge erforderten unterschiedliche Blattformen. Eisen-randbeschlagene Holzspaten fehlten bis ins 13. Jahrhundert, da die Monopolisierung von Eisen für Schwerter und Rüstungen die Herstellung angemessener Arbeitsgeräte verhinderte. Ebenso wichtig war das Verständnis natürlicher Vorgänge. Feucht eingelagertes Heu würde nicht nur faulen, sondern durch Fäulnishitze Brände auslösen. Gemüse oder Obst mussten luftig und winterfest gelagert werden. Bei allem behielten die Menschen den Himmel im Blick – Regen konnte Ernten verzögern, Hagelschlag Hungern im Winter bedeuten. Die Himmelsbeobachtung ländlicher Menschen konnte unverzüglichen Erntebeginn nahelegen, das Himmelsgebot der Kirchenmänner am Sonntag Gottes-dienst Vorrang gebieten.

Regelungen zum Hausbau enthielt schon die Lex Baiuvariorum Tit. X–XII (6.–8. Jahrhundert). In „ideologisch bedingter Germanophilie“ (Friedrich Prinz, MSGL 115 (1974), 20) schrieben Volkskundler im 19. Jahrhundert ländlichen Wohnbauten „stammestypische“ oder „völkische“ Formen zu. Einen fundierten Einblick bieten Veröffentlichungen des Salzburger Freilichtmuseums; Franz V. Zillner, „Der Hausbau im Salzburgischen. Ein geschichtlicher Umriß“, MGSL 33 (1893), 145–163; Viktor H. Pöttler, Bäuerliche Fahrzeuge und Arbeitsgeräte, Stübing 1997; ders., Österreichisches Freilichtmuseum – Kurzführer, Stübing 1998; Dopsch mit Mitterauer, „Hochmittelalter“, 1.1:351–352. 103 Dieser Teil beruht weitgehend auf Bentzien, Bauernarbeit; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 62–88; Epperlein, Bäuerliches Leben, 38–143; Werner Rösener, Bauern im Mittelalter, München 1985, 54–95. 102

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Abb. 7.16 Heu- und Kornernte, Juli und August: Detail aus einem von Berufswirkerinnen hergestellten Wirkteppich „Arbeiten im Monatslauf“, Elsass, 1440–1460 (wollene Schussfäden auf leinenen Kettfäden)

Dass Jahreszeiten früh oder spät begannen, zu nass oder zu trocken waren, konnten die Menschen nicht beeinflussen, aber sie mussten re-agieren. Sie bereiteten den Boden durch Pflügen und Eggen vor. Hakenpflüge, wie in der „Salzburger Enzyklopädie“ dargestellt, erforderten eine zweifache, kreuzweise Lockerung des Bodens; Scharpflüge nur einen Arbeitsgang. Auf Ebnung und Lockerung der Bodenkrume mit einer Egge aus Ästen oder Metall folgte gleichmäßige händische Aussaat. Das Reifen von Körner- und Fruchtpflanzen erforderte deren Schutz vor Vögeln, denn die Nahrungskonkurrenz war groß. Die Ernte begann mit der Grasmahd im Mai. Sensen mit Schneide, Baum und Griffen ermöglichten ein „Mähen mit dem Körper“ in aufrechter Haltung. Allein die Befestigung des Sensenblattes an dem langen Stil war Kunst-Werk. Das Blatt musste beim Schnitt regelmäßig mit dem nass gehaltenen Wetzstein nachgeschliffen werden. 104 Diese im 12./13. Jahrhundert entwickelte Form ist bis in die Gegenwart gebräuchlich. Vor dem ersten Schnitt mussten erwünschte Blütenpflanzen sich aussamen können; beim Schnitt unerwünschte Disteln so knapp über dem Boden gekappt werden, dass ihr Nachwachsen behindert wurde. Frauen

breiteten das geschnittene Gras zur Trocknung aus und wendeten es. Vor feuchter Abendluft musste es eingefahren oder, an steilen Berghängen, getragen werden. Getreide schnitten Frauen mit Sicheln, bei Sensenschnitt wäre der Verlust an Körnern zu hoch gewesen. Es musste leicht zu Garben zu binden sein und die geplante Weiterverwendung der Halme bestimmte die Schnitthöhe: hoch am Halm, wenn der untere Teil dem anschließend aufgetriebenen Vieh als Futter dienen sollte, lange Halme für Bedachungen oder Streu im Stall, kürzere zum Flechten von Strohhüten, Körben und Matten. Jede dieser Tätigkeiten erforderte passende Geräte und eine Bedarfsanalyse. Kleriker hingegen ideologisierten: Jungfrauen ernteten hundertfach, Witwen sechzigfach, Ehefrauen dreißigfach. Auch Fruchtbarkeit will gelernt sein. Zum Transport der Ernte entwickelten die Acker-Handwerker zwischen dem 9. und 14. Jahrhundert ein Allround-Gefährt nach – modern anmutendem – Baukastenprinzip: Vorderachse mit Drehschemel und separate Hinterachse, jeweils mit Speichenrädern. Beide Teile verbanden sie mit einem genormten Langbaum, so dass die hintere

Im römischen Gallien hatten Landwirtschaftende bereits eine Mähmaschine entwickelt. Brent D. Shaw, Bringing in the Sheaves. Economy and Metaphor in the Roman World, Toronto 2013, 107–120.

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Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

Achse gemäß dem jeweiligen Ladegut leicht zu verschieben war. Zwei waagerechte Kanthölzer parallel zur Achse dienten der Auflage des Lastteils: Kästen für Getreidetransport und andere für Mist, Leitern zwischen Rungen für Heu und Stroh – daher der Name Leiterwagen. Dafür arbeiteten Radmacher, Stellmacher, Seiler und Sattler Hand in Hand. Die Entwicklung von ergonomisch sinnvollen Anspannvorrichtungen und Geschirren für Zugtiere erforderte von der Spätantike bis zum 14. Jahrhundert langes Ausprobieren. Im Winter arbeiteten die Menschen unter Dach und, da sie sich des Essens nie sicher waren, diversifizierten sie ihre Einkommensquellen: Sie schnitzten Löffel, Küchengeräte und anderes, stellten hölzerne Reifen für Bottiche her, hauten Schindeln und schnitten Kienspäne – Rohmaterial hatten sie im Gemeinwald gesucht. Sie fütterten Vieh mit gesammelten Eicheln, Bucheckern, Körnern und mit Heu und Kleie, reinigten Ställe und trugen Spreu heran, schafften Mist auf die Felder. Sie schliffen Pflugschare und brandmarkten Vieh, schlugen Tröge aus Baumstämmen und schnitten Pfähle, stellten Schaufeln und Hocker her. Sie filzten Ziegenhaare und flochten Körbe aus Ruten, bauten Vogel- und Mäusefallen, dörrten und belüfteten Früchte. Außer Haus besserten sie Zäune aus und hackten Holz. Zur leichteren Trocknung, besseren Verarbeitung und wegen der geringeren Gefahr von Verformungen schlugen sie Holz im Herbst, da in den Bäumen kein Saft war. Eine romantisierende, männliche Interpretation dieser Einheit von Arbeit und Wohnen sah darin das „ganze Haus“ unter der Autorität eines „Hausvaters“. 105 Erinnerung an die Vielfalt von Haus- und Hofarbeit verdrängten zwei visuell gut darzustellende und in Volkstumsideologie leicht zu überhöhende gemeinschaftliche Tätigkeiten, Dreschen und Flachsbrechen. Für ersteres diente der zweiteilige Dreschflegel, Stiel und Schlegel, durch einen Eisenring verbunden. Dies galt als Männerarbeit, das Trennen der Körner von Spreu als Frauenarbeit. Da der Schlag grob niedersauste, gilt alltagssprachlich noch heute ein Grobian als Flegel; auch „jemanden verdreschen“ und „die Spreu vom Weizen trennen“ sind Sprachbilder geworden. Korn musste trocken und für Mäuse und andere Interessenten

Abb. 7.17 Langwagen mit längenverstellbarem Unterund austauschbarem Oberwagen: Aufbauschema, Vorderachse mit Drehschemel, Radtypen mit und ohne Sturz

unzugänglich gelagert werden. Auch hier war die Nahrungskonkurrenz groß. Zur Abwehr dieser Art von Raub-tieren erfanden sich die Menschen Fallen. Da schlecht ernährtes Gesinde oder hungrige Nachbarn ebenfalls Interesse zeigten, waren Getreidekisten mit Schloss versehen und die Schlüsselgewalt – wie bei Petrus fürs Paradies – war wichtiger Teil hausfraulichen Wirtschaftens. Verluste wurden akribisch vermieden: Wenn ein Saatkorn sechs Körner in der Ähre erbrachte und eins durch unvorsichtiges Sicheln, eins durch Krähen oder Mäuse verloren ging und eins für die nächste Aussaat zurückgelegt werden musste, war die Nahrung auf die Hälfte gesunken. Flachsbrechen, seit Jahrhunderten praktiziert (s. Kap. 3.4), idealisierten Historiker und Maler als „bodenständig“; die Pflanze hatten einst Migrant*innen aus dem östlichen Mittelmeerraum bis ins Alpenvorland und nach Nordeuropa gebracht. Bei diesen Arbeiten, besonders dem Hecheln, konnte man gut reden und so wird noch heute ein Thema

Institut für österreichische Geschichtsforschung, Wien, bes. Otto Brunner (1898–1982), in den dreißiger Jahren nationalsozialistisch argumentierend, später Professor an der Universität Hamburg. Land und Herrschaft, Wien 1939 (Neuaufl. 1942, 1943).

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.18 „Feiertagschristus“ als Schmerzensmann, Fresko, 1465, an der Kirche von Saak in Kärnten, geweiht den Geschwistern Cantius, Cantianus und Cantianilla, gest. zw. 290 und 304 in Aquileia (285 � 165 cm, das linke Drittel bei einem Umbau 1740 zerstört)

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Lebenswelten der Fron- und Zinspflichtigen

Abb. 7.19 Dörfliche Handwerker um 1500: Bootsbau, Mühle, Backofen, Zaunflechten, Schmiede u. a., Straßburger Vergil, mit 136 Holzschnitten, 1502

„durchgehechelt“. Erst im 19. Jahrhundert wurde Flachs in erneutem großräumlichen Austausch durch Baumwolle aus Südasien weitgehend abgelöst. Erinnerungsbildner betonten den Jahresrhythmus mit Aussaat und Ernte als Arbeitsspitzen. Doch machten die Vielfalt und Substituierbarkeit der Tätigkeiten Arbeit zum kontinuierlichen Pro← Arbeiten am unteren Bildrand (von links): Mann mit Geldbörse und Saumpferd mit Weinlagel beim Aufstieg, darunter Reste von Rinder- oder Ochsenköpfen; naturfarben gekleideter Mann mit Sähschürze; eine Egge ziehender barfüßiger Mann. Geräte (von links oben): Schere für Schafschur, Fischkescher, unbestimmt, silberne Kanne, unbestimmt, Mistgabel, Schaufel, Trinkfass, Rasierpinsel mit Spiegel und Seifenschale, Wagen, Krauthobel, Glocke, Fiedelbogen; (von rechts oben) Schabklinge zur Holz- oder Fellbearbeitung, Ahle, Schere, Stech-/Schneidwerkzeug, Schaufel oder Maurerkelle?, Zange, Weberschiffchen, Schabeisen, unbestimmt, unbestimmt, Hobel, Hellebarde?, Hackeisen zum Rollen von Baumstämmen oder Lockern von Wurzeln, Harke oder Rechen, Fass, Schwert, Beil, Armbrust, Kessel mit Henkel, Kessel mit Dreibein, Heugabel, Beil – vermutlich Binderhacke für Fassdauben, unbestimmt, Sense, Hobel, Kerzenleuchter, Flachsbreche; dazwischen ein Reiter.

zess. Einer gelegentlich postulierten „Umschulung“ ländlicher Zuwander*innen in die Regelhaftigkeit früher urbaner Manufakturen bedurfte es nicht. Eher haben sie sich an die Eintönigkeit manufak-

Abb. 7.20 Getreidemühle mit unterschlächtigem Wasserrad, Hortus deliciarum (Nachzeichnung); Mühlentechnik im Schnitt, der waagerechte Mühlstein in Frontalansicht

tureller Produktion gewöhnen müssen. Doch war auch in dörflichen Handwerken eine Spezialisierung auf begrenzte Tätigkeiten, die nur weniger Werkzeuge bedurften, weit fortgeschritten. Boten christliche Sonn- und Festtage willkommene Unterbrechung, wie behauptet? Das Vieh musste versorgt und gemolken und Essen gekocht werden. Die kirchliche Verbotskultur hat Historiker*innen seit dem Spätmittelalter „Feiertagschristus“Bildnisse als Quelle hinterlassen. An Kirchenwänden zeigten sie in verständlicher Bildsprache Arbeitsgeräte, die, an Sonn- oder Feiertag verwendet, den als Schmerzensmann dargestellten Christus so treffen würden wie einst Geißel, Dornenkrone und Nägel. Da die Menschen sich durch ihrer Hände Arbeit das tägliche Brot schaffen mussten, hat die Kirche lange um Kontrolle kämpfen müssen. Erlaubt war Feiertagserntearbeit nur bei drohendem Regen oder Unwetter. Kleine Dörfer umfassten dreißig bis vierzig Personen und mit zunehmender Größe arbeiteten dort, meist in Teilzeit und durch Krautgärten selbstversorgend, Schmiede und Wagner, bei nahen Tonvorkommen Töpfer*innen und, mit Mechanisierung der Mehlherstellung, Müller. Große Wirtschaftseinheiten wie Klöster und Herrenhöfe besaßen Handwerker*innen.

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Kellerer, Brauer, Küfer, Fassbinder; Metzger, Kornmeister und Köche; Walker, Weber und Kürschner; Maurer und Steinmetze, Schmiede, Pecher, Stellmacher, Zimmerleute und Reparaturschreiner; Pförtner und Heizer; Gerber, Sattler, Schneider*innen und Wäscherinnen; Messerer, Schleifer, Dreher; Goldschmiede und Seidensticker – und viele andere. Hinzu kamen bei Herren Schergen und Badstuber, Wirte für den Beherbergungsbetrieb, Maler für Kirchenausstattung sowie angesichts von Vernetzung und Fernbesitz, Boten.

Hersteller*innen von Holzgeräten schnitzten, fügten und drechselten, Hobel oder Pflug mussten über Generationen halten. Das Weben von Wollund Leinentuchen zur Vermarktung oblag überwiegend Frauen, sie hatten in manchen Herrschaften jährlich pro Person etwa 925 Ellen Wolltuch oder 1200 Ellen Leinentuch, jeweils vier Ellen breit, abzuliefern. Flächige Produkte wie Lein-Wand, LehmWand, Stein-Wand stellten Frauen und Männer her. Ländliche Gesellschaft war differenziert. Alle beteiligten sich an der Verbesserung von Arbeitsgeräten und recycling war selbstverständlich: „Altes Eisen“ wurde Schmieden zurückgegeben und umgangssprachlich würde Verbrauchtes so bezeichnet werden. Die Mehrzahl der Schmiede-Familien war unfrei, manche produzierten als Zinsabgabe Hufeisen in Menge. Als Geräte Eisenbeschläge erhielten und die Produktpalette wuchs, spezialisierten sie sich in Grob-, Schar-, Sensen-, Nagel- und Schlossschmiede. Ihre Pflichten und Preise, Zugang zu Holz und Holzkohle regelten Weistümer und Rechtsspiegel. Als Investoren naher oberösterreichischer und steirischer Eisenerzvorkommen wasserradbetriebene Hammerschmieden, „Radwerke“, einrichteten, produzierten ihre unfreien Facharbeiter Halbfabrikate in Serie, Dorfschmiede stellten Pflugschare, Sensen, Sicheln, Strohschneidemesser gemäß Kundenbedürfnissen fertig. Für sie stieg die Konkurrenz dramatisch, als Hammerwerke so verbessert wurden, dass sie Sensenblätter ausschmieden konnten. 106 Mühlen waren oft topografisch, Müller sozial außerdörflich angesiedelt. Die Technik der vertikalen Rotationsachse hatten römische Legionäre bei der Besetzung Palästinas kennengelernt und sie ver-

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mittelten das Wissen an gallische, aber nicht an norische Mechaniker. Die Nutzung natürlicher Wasserläufe erweiterten Erdarbeiter durch Mühlenkanäle und gestalteten so Landschaft; Mechaniker konstruierten Mühlen mit unterschlächtiger und seit dem 12. Jahrhundert mit oberschlächtiger Zuleitung. Mühlsteinqualität betraf alle Menschen: je mehr Steinabrieb im Mehl, desto größer die Zahnschäden. Ideal waren Basaltsteine aus der vulkanischen Eifel, sie erreichten die Voralpenregion vermutlich nicht. Von Perg im Weinsbergerland bis zum Strudengau an der Donau und im Waldviertel wurden Mühlsteine aus Granit gebrochen und vermarktet. Müller unterstanden dem Bann oder Regal der Herren; sie durften in Wäldern Bauholz schlagen, hatten den Mühlgraben sauber zu halten und mit Bauern den Wasserbedarf auszuhandeln. Landwirts-Familien durften nach manchen Regelungen Wasser nur an Sonntagen ableiten. Dies deutet auf Vorrang der verarbeitenden Technik gegenüber dem Rohstoffanbau. Gab es Müllerinnen mit eigenen Mühlen? In seiner oft weibliche Perspektiven reflektierenden Version der Lebensgeschichte Jesu schrieb Lukas (17,35) von zwei Frauen, die gingen, um Korn zu malen. Dies nahm um 1170 die Äbtissin des Klosters Hohenburg im Elsass, Herrad aus Landsberg in ihre Enzyklopädie Hortus deliciarum auf. Dorf und Handwerk, Gartenwirtschaft und Stadt, Arbeit von Männern und Frauen bildeten eine differenzierte Einheit. Als Zwangsarbeit im 12./13. Jahrhundert schrittweise in Lohnarbeit überging, bedeutete Geldwirtschaft erweiterte Optionen. So wie Ackerbauende die Saat und anderes absprachen, begannen städtische Handwerker ihre Interessen zu koordinieren.

Bentzien, Bauernarbeit, 118–119; Epperlein, Bäuerliches Leben, 47–49; White, Medieval Technology, 59.

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Waldwirtschaft und Bergbau

7.7 Waldwirtschaft und Bergbau 107 Schriftkundige beschrieben Wälder als gefährlichen Urwald voller wilder Tiere und Reisende von Stand ließen sich von Knechten mit Spießen gegen Raubtiere und mit Hirsch- und Saufängern für die Fleischbeschaffung begleiten. In klerikaler „Waldschelte“ galten sie als Aufenthaltsort ausgestoßener „Friedloser“ und Ort des Unglaubens. Doch ist das Bild von undurchdringlichem Dickicht ungenau. Rotwild und Rehwild zum Beispiel benötigten lichten Wald mit Bodenbewuchs und Grasflächen zum Äsen. Volkserzählende stellten Wald komplexer dar: mit Hexenhaus und Kindern, mit einem von sieben als Bergleute tätigen Zwergen bewohnten Häuschen, das einer verfolgten Frau namens Schneewittchen Schutz bot, und als Unterkunft für soziale Gerechtigkeit Einfordernde wie Robin Hood. Empirisch war Wald integraler Teil dörflichen, grundherrschaftlichen und seit dem 11. Jahrhundert auch städtischen Wirtschaftens. Trotz Raubtieren verwendeten dörfliche Menschen als Maß für Waldgröße die Zahl der Schweine, die mit Eicheln und Bucheckern gemästet werden konnten: Lebens-Mittel. Der Wald war unabdingbare Ressource für Bau-, Knüppel- und Brennholz, Blattfutter und Einstreu, für das Sammeln von Pilzen und Beeren, für Harz- und Lohgewinnung. Da Stroh als Futter wertvoll war, sammelten sie trockenes Laub und die weiche Schicht herabgefallener Tannennadeln als Spreu; beim Holzfällen sammelten Frauen und Kinder oft Rindenstreifen für Lohgerber und Äste, die sie zu Reisigbündeln zum Anheizen schnitten. Dorfbewohner*innen einigten sich über den Schutz fruchtbarer Bäume, die zur Mast dienten, und die Verwendung unfruchtbarer als Brennholz. Hirten durften Eicheln nicht mit langen Stangen herunterreißen, Holzsucher Äste nur bis zu einer bestimmten Höhe abschlagen. In Wäldern arbeiteten Köhler, Harzsieder, Grasrupfer, Laubrecher, Pottaschbrenner, Schindelmacher. Für große Bauten mussten Baumeister und Auftraggeber Bäume für Hallendecken, Firste, Türme finden. Die funds of knowledge der im Wald Arbeitenden und Lebenden

halfen Äbten bei der Suche nach besonderem Bauholz für Kathedralen; manche Äbte sahen darin einen Fingerzeig Gottes. Diese translatio des Wissens „einfacher“ Menschen in Fingerzeig Gottes eröffnet nachdenkenswerte Perspektiven. Hirten waren im Wald für jedes einzelne der Wert-vollen Tiere verantwortlich. Sie schützten ihre Herde vor wilden Tieren, kannten Tierkrankheiten, wussten wo und wann abgeerntete Felder Futter boten. Sie waren geachtet und ihr Berufsbild war Teil aller Kulturen. Der biblische David vertrieb mit seiner Steinschleuder wilde Tiere und den Riesen Goliath; Christus wurde oft als Hirte mit Lamm dargestellt; die Tochter eines angelsächsischen Königs verkleidete sich als Schweinehirt, als ein Prinz sie sexuell und damit ihre Lebensplanung als sanctimoniale bedrohte. 108 Da das Weiden von Tieren Mobilität erforderte, waren Hirten Landlose und mit zunehmender Besitzkonzentration drängten die Wohlhabenden sie ans untere Ende der sozialen Skala. Holz war von vielfältigem Wuchs und unterschiedlicher Qualität und mit den spezifischen Sorten kannten Brettschneider und Schindelmacher, Büttner und Schachtelmacher sich aus. Sie suchten Knieholz für manche Gerätschaften, Y-förmiges für andere, spezifische Astfolgen für Hocker, Bänke, Tische, Truhen und Küchengeräte oder für Arbeitsgeräte wie den Rahmen eines Pfluges; Hartholz für die Mechanik von Weinpressen und Mühlen; biegsames für Transport-, Butter- und Weinfässer. Rinde und Harze sammelten Gerber und Pechscharrer. Die Wälder speicherten Wasser und aus ihnen fließende Bäche tränkten Vieh, trieben Mühlräder an, lieferten Fisch. Holz diente dem Brückenbau, Stadtbewohner*innen benötigten es für Wohn-, Werkund Rathäuser. Herrschaftlicher Massenbedarf für den Pfalzen-, Burgen-, Kirchen- und Klosterbau sowie für Beleuchtung und Beheizung und, ebenso, den industriellen Bedarf für Salzsieden, Bergbau oder Köhlerei konnte zu Entwaldung führen: Unregelmäßiger Wasserlauf und unkalkulierbare Wasserversorgung folgten. Dass Entwaldung Kon-

Dieses Teilkapitel beruht weitgehend auf Siegfried Epperlein, Waldnutzung, Waldstreitigkeiten und Waldschutz in Deutschland im hohen Mittelalter, Stuttgart 1993, bes. 80–86; Dollinger, Bauernstand, 382–411; Wenskus, „Bauer“, 24. Vgl. Alexander Demandt, Der Baum. Eine Kulturgeschichte, Wien 22014. 108 Frideswide (um 650–727) wurde Schutzheilige der Stadt Oxford. 107

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Abb. 7.21 Holzfäller in einem Eichenwald, Tournai, ~1460 (Wirkteppich für den höfischen Bereich in Burgund) Die spätere und beschönigende Darstellung zeigt Fällen, Entästen, Sägen, Stapeln; im Hintergrund eine besser gekleidete Person.

sequenzen für das Makroklima haben würde, wusste niemand; ob schnell spürbare Folgen im Mikroklima erkannt wurden, wissen Historiker*innen nicht. Menschen der Zeit, die sich darüber Gedanken machten, mögen Gottes Willen vermutet haben. Das Lebens-Mittel Wald galt Zeidlern oder Imkern, analog zur Viehweide, als Bienenweide. 109 Honig war der einzige Süßstoff und Wachs war für Kerzen unabdingbar. Angesichts der hohen Nachfrage importierten Kaufleute Honig und Wachs slawisch-sprachiger Imker in großen Mengen. In der Heilkunde diente „Jungfernwachs“ (von unbebrüteten, unberührten Waben) der Zubereitung von Arzneimitteln. Als Dorfgemeinschaften wilden Wald zu Nutzwald, Handwerker*innen ihn zu Rohstoffgebiet verändert hatten, sahen die Menschen-auf-Land-Besitzer eine weitere Einnahmequelle durch Bannforste und „Waldregale“. Sie vergaben Zeidelei als Leihe gegen Gebühr, belegten Brennholzverkauf mit Stra109 110

fen, erlaubten Dörflern nur geringe Mengen für den Eigenbedarf. Für ihr privates Jagdvergnügen wandelten sie potenziellen Nutzwald in Verbotsgebiete und zwangen Knechte und Eigenleute Wild heranzutreiben. 110 Sie beschäftigten Förster und Forstknechte, die sich aus dem Wald ernähren mussten. Traditionell gewohnheitsrechtliche Nutzung ließen sie dekretrechtlich als „Waldfrevel“ bestrafen und Rudolf IV. Habsburg ließ in das Privilegium maius auch Forst- und Wildbann fälschen. Forstleute der Herren-Familien betrieben ertragsorientierte Waldwirtschaft mit Nutzungskontrollen und Klostergemeinschaften erweiterten sich zu Holzhandelsbetrieben. In Mooren bauten Menschen verstärkt Brenntorf ab. Der städtische Bedarf stieg in einem Ausmaß, dass Wald knappe Ressource wurde und seit dem 13. Jahrhundert verordneten Stadträte Waldschutz und Wiederaufforstung sowie nachhaltige Bewirtschaftung. Salzburgs EB Eberhard II., der 1237 entsprechende Regelungen erließ, zielte dabei auch auf

Peter Putzer, „Das Bienenrecht in den älteren Salzburger Rechtsquellen“, Salzburg Archiv 14 (1992), 93–103. Bereits die Lex Baiuvariorum legte detailliert den Schutz von Jagdhunden und Beizvögeln fest.

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die Versorgung und Gewinnsteigerung seiner Halleiner Saline. Forstmeister sammelten Samen, um fast zerstörte Wälder wie bei Nürnberg wieder nutzbar zu machen und manche gingen als „Tannensäher“ in die Ferne. Machtvolle Interessengruppen suchten schwächere von der Waldnutzung auszuschließen und Stadtherren mussten mit genealogiae-Besitzern Holzrechte aushandeln. Ohne Holz hätten Handwerker*innen nicht produzieren, Bürgerhäuser und Ratsstuben nicht beheizt, Schänken nicht beleuchtet werden können. Wie die Lebenszyklen wurde das Lebens-Mittel Wald mit Abgaben belegt. Auf Grund gelegte Abgaben waren grundlegend für Herrschaft. Inmitten der Gebirgswälder hatten Zuwandernde seit Mitterberg- und Dürrnberg-Zeiten Bodenschätze erschlossen. Flussgold aus dem Gasteiner-, Rauriser- und Salzachtal hatten um 400 v. u. Z. tauriskische Händler an etruskische und römische Abnehmer*innen geliefert; Münzfunde belegen Kontakte zum Balkan; Polybius berichtete von einem „Goldrausch“ um 150 v. u. Z. und römische Legionäre vertrieben Ansässige, um die Goldgewinnung zu rationalisieren und Kosten zu verringern. Mit der Umgestaltung makroregionaler Machtverhältnisse endete die Nutzung von „Tauerngold“ für Jahrhunderte, mit Ende der Herstellung „norischen Eisens“ der Holzbedarf. 111 Die Mönche des Klosters Admont zogen im ausgehenden 11. Jahrhundert Abgaben von Schürfer*innen am Fritz-Bach (Pongau) ein; arbeitende

Menschen, diskursiv-dinglich „Güter“, bei Radstadt und bei St. Johann im Dientener Tal lieferten im 11. und 12. Jahrhundert massae ferri. Doch waren Eisenabgaben selten. (Potenzieller) Mineralienbesitz und Macht waren eng verbunden. König Heinrich II. hatte 1002 den Erzbischöfen das gebirgige, slawisch besiedelte Lungau geschenkt und Bauern-, Knappen-, Köhler-, Holz- und TransportarbeiterFamilien siedelten sich an oder wurden angesiedelt. Die Domherren erhielten den Profit aus ihrer Arbeit und die St. Peter-Mönche Zinse aus der Edelmetallgewinnung. Schrittweise entstand eine Montanwirtschaft und im 12. Jahrhundert entwickelten Bergleute die Fähigkeit, Untertagebaue bis in große Tiefen zu schlagen. Berg-Materialien und -Mentalitäten waren verwoben. „Venediger“ kamen als Prospektoren und suchten systematisch und sachkundig nach sichtund sammelbaren Bodenschätzen, darunter Bergkristall. Ansässige aller Gesellschaftsschichten entwickelten Wunder-volle Vorstellungen: ungehobene Schätze in Höhlen; unermessliche Reichtümer im Freimannsloch (Lungau), bewacht von einem Henker mit blutigem Schwert; eine mit Gold und Edelsteinen gefüllte Kiste im Georgenberg bei Kuchl, bewacht von einem grässlichen Hund; Reichtümer des schlafenden „Herrn Kaiser Karl“ im Untersberg bei Salzburg. War die Unterschichten-Bildlichkeit wachender Henker und Hunde Folge der Bannmächtigkeit der Herren? 112

7.8 Bevölkerung, Geldwirtschaft und Sozialstruktur: Entwicklungen bis ins 13. Jahrhundert Infolge der vielen Aktivitäten im Land-, Wald- und Bergbau sowie in den Städten stieg das lokale und europaweite Gesamtprodukt. Die Stadtentwicklung und der Ausbau von Fußwegen zu Fahrstraßen sind als „Landesausbau“ bezeichnet worden. Dies ist in mehrfacher Hinsicht irreführend, denn die „Länder“ waren Familienbesitz und das Ziel war Einkommenszuwachs durch Verbesserung der Infra-

struktur. Die Wirtschaftssubjekte erschlossen nicht Länder, sondern gemäß ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten weit verstreute Ländereien, junge Menschen suchten Lebensperspektiven. Manche Herrscher-Familien erweiterten die Optionen ihrer Unfreien. Darin den Ursprung moderner „Länder“ zu sehen, wäre teleologisch-lineare Konstruktion. 113 Der eigentliche Prozess, das Bevölkerungs-

Christoph Bartels und Lothar Klappauf, „Das Mittelalter. Der Aufschwung des Bergbaus unter den karolingischen und ottonischen Herrschern, die mittelalterliche Blüte und der Abschwung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts“, in: Bartels und Rainer Slotta (Hg.), Der alteuropäische Bergbau. Von den Anfängen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Münster 2012, 111–248, hier 166–172. 112 Josef Stöger und Arbeitsgruppe, Unser Salzburg, Salzburg 1985, 57–64. 113 Rainer Schreg, „Bauern als Akteure. Beobachtungen aus Süddeutschland“, in: Jörg Drauschke, Ewald Kislinger u. a. (Hg.), Lebenswelten zwischen Archäologie und Geschichte. Festschrift für Falko Daim zu seinem 65. Geburtstag, 2 Bde., Mainz 2018, 553–563; Rösener, Bauern im Mittelalter, 40–73, 111

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wachstum, beruhte auf individuell-gesellschaftlichem Handeln: Frauen und Männer entschieden sich für Partnerschaften oder Sex und suchten, soweit möglich, sich für oder gegen Geburten zu entscheiden. Nahmen sie die hohe Kindersterblichkeit hin? Sie wussten, dass sie mit der Abgabe von Milchprodukten oder der milchgebenden Kuh auch Lebenschancen ihrer Kleinkinder abgaben. Überlebende Kinder zogen sie groß und beeinflussten ihre Entwicklung. Über die Generationen von 1000 bis 1300 verdoppelten sie ihre Zahl in Europa von 38,5 auf 73,5 Millionen. Reproduktive Entscheidungen variierten regional: Von England bis in die deutsch-sprachigen Gebiete verdreifachten sie ihre Anzahl auf 35,5 Millionen: Agrarland oder Handwerk musste drei statt einer Person ernähren. Die „oberen Zehntausend“, genau: 1–2 Prozent, also 35.000 bis 70.000, betraf dies wenig, sie konnten höhere Abgaben erheben und stellten vorausschauend Rechnungsführer ein. 114 In der Ostalpen- und Donau-Region zogen Familien im Innergebirg mehr Kinder groß als im Flachland lebende. Ihre vielen kleinen Alltagsveränderungen und Strategien addierten sich über die Generationen. Diejenigen, die nicht strategisch handelten, mussten ihre Lebens-Grund-Lage in Bruchteilhufen dividieren. Urbare verzeichneten gegen Ende des 13. Jahrhunderts statt Vollhufen zunehmend Viertelacker oder gar Achtelhufen. Mit jeder Teilung wurde Diversifizierung wichtiger – Handwerk, Tagwerk auf dem Land Besser-Gestellter/sich besser Stellender oder Pfadwechsel: Abwanderung in Marktorte und Städte. Angesichts der enger werdenden Lebens-Grundlagen veränderten junge Menschen ihr lebenszyklisches Verhalten. Sie heirateten später, Frauen seit dem 13./14. Jahrhundert im Durchschnitt statt mit 12 mit 15 Jahren, Männer statt mit 15 mit 18 Jahren. 115 Dreifache Bevölkerung konnte dreifache Leistung bedeuten und dreifaches Potenzial, Produk-

tionsweisen zu verbessern. Besonders erfolgreich war (1), wie bereits erwähnt, der Wechsel vom Haken- zum Scharpflug, (2) der Übergang von Zweizu Drei-Felderwirtschaft und, erst spät, (3) die Verwendung von Pferden. Dabei veränderten die Landwirtschaftenden die Kulturlandschaften erneut, denn im Gegensatz zu den quadratischen Äckern für Hakenpflüge erforderten Scharpflüge langgestreckte, meist schmalere. Lange Furchen verringerten den Zeitverlust beim Wenden des Pfluggespannes und erforderten weniger Zäune und Hecken. Schar- oder Beetpflüge mit Radvorgestell, Schneidmesser, asymmetrischer eiserner Schar und Wendebrett wendeten Schollen, lockerten also Böden besser und unterstützten den Stoffwechsel der Krume. Schar und Streichbrett mussten passgenau gefügt sein, um Reibungswiderstand zu vermeiden. Sie erforderten Kraft, um die Pflugschar in den Boden zu drücken. Hatten Männer die Kraft nicht mehr, ersetzten Herren sie durch jüngere. 116 Zugtiere waren kleinwüchsig, die Widerristhöhe hatte sich seit römischer Zeit bei Rindern auf 110 bis 115 cm, bei Pferden auf 140 cm verringert. Ochsen – kastrierte Stiere – waren als Grasfresser kostengünstig, aber langsam; Pferde bewegten sich schneller und konnten pro Tag länger genutzt werden, verbrauchten aber Hafer. Erst die Einspannung mit Siele (Brustzug) oder Kummet (Schulterzug) statt Joch ließ ihre Verwendung zweckmäßig werden. Als infolge der Pest menschliche Arbeitskraft knappes Gut wurde, boten Pferde höhere Rentabilität. 117 Den individuell bestimmten Zwei-FelderRhythmus änderten Dorfgemeinschaften, Hofherren und königliche Domänen seit etwa 900 und besonders nach 1050. Sie legten ihre Felder zu „Zelgen“ zusammen, sprachen deren Einteilung in Gewanne ab und verbanden im neuen DreijahresRhythmus mediterrane Wintersaat, nördliche Frühjahrssaat und Brache. Damit verbesserten sie die Erträge um ein Drittel und halbierten durch Som-

155–176; Erhard Schlesier, „Ethnologische Aspekte zum Begriff ‚Bauer‘“, in: Wenskus u. a., Wort und Begriff „Bauer“, 46–57, und Schmidt-Wiegand, „Lex Salica“, ebd., 128–152, sowie Kurt Ranke, „Agrarische und bäuerliche Denk- und Verhaltensweisen im Mittelalter“, ebd., 207–221. 114 J. C. Russel, „Population in Europe 500–1500“, in: Carlo M. Cipolla (Hg.), The Fontana Economic History of Europe, 6 Bde., Glasgow 1972, 1:25–70, Tabelle 36. 115 Dopsch mit Mitterauer, „Hochmittelalter“, 1.1:359–360. 116 Da die Schar nur zu einer Seite wendete, wurden Äcker über die Jahre an den Rändern niedriger und in der Mitte höher. Dies war nützlich, denn in trockenen Jahren blieben die niedrigen Seitenstreifen feucht, in feuchten Jahren der höhere Teil trocken. 117 Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 37–40; White, Medieval Technology, 52–50, 57–69. Lynn White, Jr., „The Expansion of Technology“, in: Cipolla, Economic History, 1:143–174, und Georges Duby, „Medieval Agriculture 900–1500“, ebd., 175–220; Rösener, Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993, 74–81.

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mer- und Wintersaat das Risiko. Familien verbanden individuelle Garten- und Viehwirtschaft mit kollektivem Ackerbau. Sie nährten sich überwiegend durch Leguminosen – Knollengewächse, Kraut und Salat, Kräuter – sowie haltbares Roggenbrot und Getreidebrei. Nur Felderbsen und -bohnen bauten sie auf Äckern an. Für Domanialgüter hatte bereits das Capitulare de villis 73 Sorten von Gemüse- und Kräuterpflanzen aufgelistet und der idealisierte Klosterplan von St. Gallen (Anf. 9. Jh.) wies Flächen für Gemüse-, Kräuter- und Obstgarten aus. Im Zuge der Expansion nach Italien transferierten die Beteiligten Samen und Wissen um südliche Kulturpflanzen nach Norden. Weinbau und das Backen von Brot dienten auch liturgischen Erfordernissen. 118 Da die Viehhaltung abnahm und Zwangsabgaben zunehmend in Getreide zu leisten waren, ist der Übergang als „Vergetreidung“ bezeichnet worden. Er war einerseits Diversifizierung: Roggen und Weizen im Spätherbst gesät, Hafer für Pferde und Gerste für die menschliche Ernährung im Frühjahr. Andererseits veränderte er Lebensrhythmen durch den stoßweisen Arbeitsbedarf bei der Getreideernte – für diese Arbeitsspitzen waren auf dem Herrenhof nicht ausreichend servi vorhanden. Herren förderten oder forderten den Übergang zu Getreide, denn dank des zeitlich konzentrierten Schnitts konnten sie Abgaben besser kalkulieren und für Kriegszüge ließ Getreide sich leicht transportieren. Kollektives Wirtschaften in den Dorfgemeinschaften erforderte eine „moralische Ökonomie“ (E. P. Thompson) mit konfliktsenkenden Vorstellungen von rechtem Verhalten, modern: Fairness. 119 In Haufendörfern, in denen traditionell jede Familie ein Recht auf „Weg und Steg“ zu den eigenen Feldern hatte, mussten Saat- und Erntezeiten abgesprochen werden. Denn nach der Saat konnten große Zelgen nicht mehr überfahren werden und nach der Ernte wurde Vieh auf die nicht mehr umzäunten Felder getrieben. In Reihendörfern mit jeweils direktem Zugang zum bewirtschafteten Land blieben Gemeinschaftsaspekte geringer.

Angesichts der veränderten Arbeitsprozesse zerfiel das auf Sklav*innenarbeit beruhende bipartite Regime zuerst zwischen Loire und Rhein, im 11. und 12. Jahrhundert auch in Mitteleuropa, und Herren-Familien vergaben Land in freieren Formen gegen Geld- statt Naturalabgaben. Was wurde aus den Knechten, Mägden und Textilwerkerinnen der Villikationshöfe? „Frei“ gesetzt? An neue Großhöfe weitergegeben? Rand-ständige oder rand-bewegliche Existenz? Parallel nahm Spezialisierung zu: Schwaig- oder Weidehöfe mit Käseherstellung und Hühnerhaltung bis etwa 1100 m Höhe; Weinberge; Transportrechte, zum Beispiel für Salz, auf Flüssen; steigende Bedeutung von Funktionsgruppen wie Förstern, Müllern, Imkern und Winzern. Die Haus- und Dorfgemeinschaften mussten die zahlreichen ökonomisch-ökologischen Aspekte ihres Wirtschaftens ausbalancieren: Bevölkerungszahl und Bodenqualität, Bedarf an Acker- und Weideland und real vorhandene Fläche, Vieh- und Kleintierbestand, Mist aus Stalltierhaltung und Düngerbedarf der Äcker. Die Anzahl der Zug-, Milch- und Schlachttiere musste den Weidemöglichkeiten einschließlich abgeernteter Felder, Heuund Futtergetreideland sowie Wald entsprechen. Die Zahl aller Arbeitskräfte musste den Spitzenbedarf an Erntetagen decken, die Wiesen- und Waldnutzung sowie Weiterverarbeitung kontinuierliche Beschäftigung ermöglichen. In diesen „ineinander geschachtelten Gleichgewichten“ (F. Daim) mussten Anzahl und Bedürfnisse aller Hofbewohner*innen den Erträgen aller Tätigkeiten entsprechen, abzüglich der Zwangsabgaben und zuzüglich eines (notwendigen) Überschusses zum Erwerb von Handelswaren. Je nach Erntemenge waren bei der Ernährung Abstriche nötig oder Zugaben möglich, wurden mehr oder weniger Produkte zugekauft. Jede einzelne Landwirtschaft erforderte unternehmerische Fähigkeiten und war kulturgebundenes Mensch-Natur-System. 120 Die neuen Marktmöglichkeiten änderten Bezugspunkte und Sozialstruktur: Der Einfluss der Fronhofbesitzer nahm ab, Zinse blieben erhalten,

Mitterauer, Europa, 22–27. Das Konzept, von E. P. Thompson für die englische Arbeiterklasse des 18./19. Jahrhunderts entwickelt, wird seither umfassender verwendet: The Making of the English Working Class, New York 1963, und „The Moral Economy of the English Crowd“, Past and Present 50 (Februar 1971), 76–135. 120 Falko Daim, „Wirtschaftsmodelle aufgrund archäologischer Funde. Kritische und programmatische Anmerkungen“, in: Karl Brunner und Verena Winiwarter (Hg.), Bauern: Aufbruch in die Zukunft der Landwirtschaft, Wien 1992, 143–156. 118

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Abb. 7.22 Hof „nach Vorschrift“ und Monetarisierung, um 1330, „Sachsenspiegel“ (lavierte Federzeichnung) Die Zinszahlung steht am Anfang, je Gans drei Heller. Erst an zweiter Stelle folgt die Produktionseinheit: Das Regenwasser läuft korrekt in den Hof, ein Mann zäunt das Anwesen mit Flechtzaun ein, der zum Nachbargrund keine herausstehenden Astansätze zeigt; Schweinekoben, Abort, Backofen. Was vom Nachbarn über den Zaun wächst, kann die Hausgemeinschaft abschlagen. Der Dorfhirte erhält als Wegzehrung Brot oder Käse vom Bauernjungen, der seinerseits die im Koben Ferkel säugende Sau bewacht.

die Kirche blieb im Dorf – wie es sprichwörtlich hieß. In den Dorfgemeinschaften koordinierte oder entschied ein Bauermeister, burmester. Wichtig waren die Dorfwache, zu Erntezeiten Feldwache und durchgängig die Hebamme. Messner und Küster unterstützten den Priester oder, wenn dieser in der Stadt lebte, dessen Vikar. Festzulegen waren Wegerechte zu Mühle, Herrschaft und Markt; Unterhaltspflicht für Wege und Brücken; Wasserrechte für Fischfang und Schiffsverkehr. Mühlen waren, wie Kirchen, sozialer Kontaktort und Topos dörflicher und priesterlicher Weltbilder. Nach Ansicht mancher hauste in Mühlen oft der Teufel, in Kirchen nicht immer ein Heiliger. 121

Auch die Arbeitsteilung zwischen Produzierenden und Verarbeitenden bedurfte der Regelung. Wer transportierte Getreide zur Mühle, wer Mehl zurück? Immer wieder wurde angemahnt, dass den Armen beim Mahlen nichts verloren gehen dürfe. Da zwischen Einschütten der Körner und Mehlausgang kleinere Verluste entstanden – die Müller zu größeren machen konnten – wurden betrügerische Müller gängiges Motiv in Erzählungen. Warteten Bauern, bis ihr Getreide gemahlen war, sahen Obere darin Müßiggang, den es zu geißeln galt. Die Wartezeit scheint nicht gebildetem otium oder Gebet, sondern Absprachen über Kooperation und Handel und, seit dem 13. Jahrhundert, dem Kartenspiel gedient zu haben. 121 Kooperation und Nähe boten Anlass zu Streitigkeiten. „Einfriedende“ Zäune waren auch Ausgrenzungen; Rechtsspiegel regelten durch Vieh angerichteten Schaden. Die Fluraufteilung musste „streitfest“ sein – Auseinandersetzungen hätten Zeit gekostet und Zeit war knapp. Lebenszyklische Interessen widersprachen sich: Junge Familien benötigten Bauholz, alteingesessene intakten Wald zur Schweinemast. Unterschiedliches Wirtschaften, Arbeitsintensität und Familiengröße sowie mehr oder weniger geschickte Betriebsführung bewirkten Interessengegensätze und Zunahme sozialer Schichtung. Glück oder Pech kamen hinzu. War dies alles das Wirken eines allmächtigen Gottes oder einer wankelmütigen, gewissermaßen wetterwendischen Fortuna? Die Erfolg-Reicheren begannen sich ab- und Ärmere auszuschließen: Zugang zu Wald und Allmende nur für ursprüngliche Landbesitzer. Großgewanne und reglementierte Feldbestellung machte Kleinbetriebe un-möglich, Kätner und Häusler dienten als Reservoir für Zeit- und Wanderarbeit. Die verschachtelten Gleichgewichte gerieten außer Balance: zu viele Menschen für Nahrungserträge, zu wenige in Erntezeiten. Einzelne Arbeitssegmente übernahmen Lohnarbeiter*innen auf Zeit oder Spezialist*innen in Vollzeit. Kämmerer klösterlicher Großbetriebe verglichen seit dem 10. Jahrhundert die Kosten von Unfreien bei kontinuierlicher Beschäftigung und Unterhalt mit bedarfsspezifischem Kauf von Arbeitszeit. Viele der „Besessenen“ und Häuslerinnen gewannen Initiative und Optionen zurück, wenn sie – mit Zustimmung oder ohne Pa-

Epperlein, Bäuerliches Leben, 97–104; Rösener, Bauern in der europäischen Geschichte, 70; White, Medieval Technology, 80–89.

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piere und Zustelladresse – abwanderten und zur Entstehung der Städte beitrugen. Besitzer, die Geldabgaben bevorzugten, förderten die kontrollierte Abwanderung ihrer Unfreien. Migration schuf einen Ausgleich zwischen Orten mit geringeren Chancen und solchen mit Arbeitskräftebedarf, also größeren Optionen. Sie stellte Balance wieder her. Grundherren-Familien sahen sich angesichts dieser Initiativen und Veränderungen zum Nachdenken gezwungen: traditionelle Rentenwirtschaft oder Unternehmerinitiative? Ihr Bologneser Kollege Petrus de Crescentiis (1230/35–~1320) legte seine Gedanken als Ruralia commoda (~1304/1309) nieder; die Schrift würde ab 1471 in gedruckter deutscher Übersetzung erhältlich sein. Den genealogiae-Familien wurde Land, ihr nicht zu vermarktender Signifikant von Status, im Rahmen von commodification und Geldwirtschaft zur Last. Sie rearrangierten ihre Werte und überführten Grund aus dem sozialhierarchischen in das geldwirtschaftliche Gefüge, machten den system-innerlichen Wert veräußerbar. Diese Entkopplung von Grundbesitz und Adelsposition ärgerte manche Standesgenossen und traditionsgebundene Intellektuelle. Für alle Schichten erforderten Monetarisierung und Geldmarkt Neukalkulationen. Bei Geldentwertung war fixer Geldzins günstig für Unfreie, Naturalzinse für Grundherrn. Die zunehmenden Chancen Unfreier, eigene familienökonomische Ziele zu verfolgen, interpretieren einige Historiker*innen bereits als peasant society oder economy, P. Dollinger sah sie als „Revolution“ im wirtschaftlich-sozialen Gefüge. 122 Die Rolle unterschiedlicher Schichten und beider Geschlechter für die Neuerungen ist schwer zu analysieren. Lag Planung und Leitung bei Grundherren-Familien oder fehlten ihnen Kenntnisse, da sie ländliche Arbeit als „knechtisch“ ansahen? Da Herren-Familien oft weder Bodenverhältnisse noch Bearbeitungspraktiken kannten, hatte der Beraterstab Karls d. G. sie und die Domänenverwalter in sinnvollem Management instruieren wollen. Allerdings konnten nur unfähige Verwalter, nicht lernunwillige Herren bestraft werden. Grund-

frauen hatten andere Rollen und wirtschaftliche Positionen: Teil ihrer Ausbildung und des Bildes von Weiblichkeit war das Management des Haushaltes samt Personenführung und Fähigkeiten in Textilarbeit. Königinnen verschenkten an besonders zu Ehrende selbstgestickte Gürtel. Herren wie Frauen benötigten Expert*innen: Meier und Dienstmannen, Schließerin oder Milchwesen-Leiterin. Geschlechtsdifferenz bei Gerät-Innovationen wirft Fragen auf: Fast alle Arbeitsmittel wurden optimiert, nur Stoßbutterfass und Spinnrad erst spät. Rad und Riemenantrieb waren schon lange bekannt. Zeitökonomie und Technik mögen beharrend gewirkt haben, denn Spindeln konnten stehend und gehend verwendet werden, das ortsfeste Spinnrad erforderte Sitzen und anfangs waren mit Rad hergestellte Fäden nicht reißfest. Erzähltopoi reflektierten die Wertschätzung von textiler Frauenarbeit und männlichem Mühlenbetrieb. Ein Müller brüstete sich, dass seine Tochter Stroh zu Gold spinnen könne und brachte sie mit dieser Angeberei in eine schwierige Lage. Ein Nothelfer namens Rumpelstilzchen löste sie: Müllertochter und Königsohn konnten heiraten. Dem Helfer hatte sie allerdings das erste Kind versprechen müssen. Als dies geboren war, kam Kinderliebe dazwischen: Sie war bereit, all ihre Reichtümer zu geben, nur das Baby nicht. Vielen akademischen Historikern gelten solche Märchen, im Gegensatz zur Ur-Kunde, nicht als zünftige Quelle. Doch verstaubten die vielfach legendären Urkunden in Archiven, die lebendige Geschichte von der Müllertochter und ihrer Kindesliebe erzählten sich, in Varianten, Menschen von Schottland und England über westslawische Kulturen bis nach Russland, in Island und in semitischen und arabischen Kulturen. Der Topos war transeuropäisch und transmediterran, vielleicht global. Gleichermaßen weit verbreitet war die Hoffnung, dass Leistung zu einem besseren Leben führe: Die junge Müllerin beeindruckte einen Königssohn und lebte fortan besser. Dies ist das utopische Element, denn der Königssöhne gab es nicht viele. 123 Anders als das Motiv „Spinnen“ bildete der To-

Neben vielen anderen Studien besonders Eric R. Wolf, Peasants, Englewood Cliffs, NJ 1966. Wolf, Österreicher jüdischen Glaubens (geb. 1923 in Wien) musste mit seinen Eltern 1938 vor dem Faschismus fliehen und lehrte an der Columbia University, New York; Karl Leyser (Rule and Conflict in an Early Medieval Society: Ottonian Saxony, London 1979) hatte aus Düsseldorf fliehen müssen und studierte und arbeitete in Oxford. Faschismus war auch intellektuelle Selbstenthauptung. 123 In Grimms Märchen ist auch die Geschichte „Die drei Spinnerinnen“ dem Topos gewidmet. 122

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pos „Bauer“ einen Mann ab, der lokal verankert Boden bearbeitet und nur auf die Furche schaut. Letzteres war wichtig, denn Furchen sollten gerade sein und dies erforderte Übung und Konzentration. Für seine Arbeitsgeräte haben Humanwissenschaftler*innen Gerätegenealogien erstellt. Deren Linien sind, anders als Furchen, nicht gerade, sondern verwobene histoire croisée. Altslawisch-sprachige Menschen verwendeten Pflüge früh, ländliche Geräte und geeignetes Saatgut entstanden in gallischer, slawischer und germanischer Synthese. Das Stirnjoch anstelle des Nackenjoches für Ochsen stammte aus östlichen Kulturen; das Kummet für Pferde kam aus China über Anatolien; das Hufeisen war, so legen etymologische Untersuchungen nahe, sibirischer Herkunft und erreichte Zentraleuropa über Ostrom. Nahrung-schaffende Arbeit war in großräumlichere Zusammenhänge eingebettet als Herrscherterritorien. Auch ist die Genealogie des Pfluges weit wichtiger als die aller Herrscher zusammen. Das im Vergleich zu einer Krone bescheidene Hufeisen war so wichtig, dass es doppelt in die Sprache einging: Ein mit Hufeisen beschlagenes Pferd war leistungsfähig, ein kluger, leistungsfähiger Mensch ist „beschlagen“; ein gefundenes Hufeisen „bringt Glück“ – für Finder in einer eisenknappen Zeit war dies sehr real. Nur Leute, die zu viel tranken und großsprecherisch agierten, hatten „einen in der Krone“. Die Doppelherrscher – über Diskurse im Diesseits und über Zugang zum Jenseits – profitierten von den Innovationen, aber schienen Initiativlosigkeit zu fordern: Menschen sollten sich „ihrem Schicksal ergeben“ – wer schickte es? Mönchen und Nonnen genügte Gott-Geschicktes nicht und deshalb verbesserten sie Frucht- und Getreideerträge systematisch. Manche nicht beschlagene „Einfache“ mögen zeitweise den Mut verloren, andere auf Grund mangelhafter kindlicher Sozialisation sich nicht an Entwicklungen beteiligt haben. Jedoch kamen auch die, die über-mütig glaubten, alles mit nur einem einzigen Werkzeug, dem Schwert, erledigen zu können, nicht weit. Viele Burgen wurden Ruinen, stand hielt nur die Architektur ihrer Erzähler. Die Stabilität der Grundherrschaft untergruben Hufenfamilien, wie Mächtige seit dem 9. Jahrhun-

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dert klagten. Sie handelten nicht frei, aber gemäß eigenen Interessen. Mit Einsetzen der Erblichkeit der Hufen wurde der Verkauf oder, bei schlechten Bedingungen, Abzug häufiger. Die Menschen Besitzenden ihrerseits beendeten bis zum 12. Jahrhundert die Abstufungen unter Unfreien. Dies wirkte sozial asymmetrisch: Für die Mehrheit verbesserte sich die Lage, für die Kirchen-Zensualen verschlechterte sie sich. In der Region Salzburg wurden bäuerliche Leihen praktisch, wenn auch nicht de iure, unter Söhnen, jedoch nicht Töchtern, erblich. Seit eigenverantwortliches Wirtschaften Möglichkeiten für Akkumulation bot, gewann eine neue Schicht mittlerer Bauernfamilien Bedeutung. Doch konnten Marktlage und Machtverhältnisse, individuelle (Un-) Fähigkeiten, „Schicksalsschläge“ wie Krankheit, Arbeitsunfall oder Tod sowie witterungsbedingt schlechte Ernten und Viehkrankheiten auch sie schnell an den Rand des Existenzminimums bringen. Musste eine Familie ihr Land verlassen, konnten Zahlungsfähige es günstig erwerben. Die größte, aber ökonomisch schwächste Schicht bildeten Hufen- und Hofgesinde, das in Tagelöhner- oder Magd-Status sank oder in eine Stadt floh. Im 13. Jahrhundert standen sich eine kleine wohlhabende Schicht von Hofbauern-Familien und eine schnell wachsende unterbäuerliche Schicht gegenüber. Letztere mussten besonders Not-wendig sein, doch Stabilitäts-Verehrer störte Not-wendiges Leben und sie nannten es „unstet“. 124 Zwei Gruppen, Unfreie mit Inkasso- bzw. Überwachungsfunktionen, profitierten. Der Einzug von Geldzins erforderte Rechnungsführung und dazu fähige Dienstleute sahen Aufstiegschancen. Sie nutzten die Tätigkeitsprofile, um ihre Position in einer de-facto „Ämterverfassung“ festzulegen: Sie wandelten sich zu Ministerialen mit Selbstbewusstsein und Sozialprestige, noch hörig, aber bereits mindere Unfreie besitzend. Zweitens erhielten im Zuge der Auflösung des Sallandes Meier-Familien mit Managementerfahrung besonders viel Land. Sie erweiterten verkehrsgünstig gelegene Höfe zu Herbergskomplexen: Risikodiversifizierung und Akkumulationschancen. Sie beköstigten und beherbergten Fuhrleute in einem Gast-Hof und erhoben sich über ihre Nachbarn. Sie konnten Gäste und

Dollinger, Bauernstand, 217–219, 382–405; Klein, „Eigenleute“, 137–251, 174.

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Bevölkerung, Geldwirtschaft und Sozialstruktur: Entwicklungen bis ins 13. Jahrhundert

Nachbarn in Familienarbeit im „Dorfkrug“ bewirten. Der Name suggeriert, dass Krüge wichtiger waren als Teller. Stadtnahe Produzentenfamilien reagierten auf neue Nachfrage mit dem Anbau „technischer“ Produkte wie Färberpflanzen (Krapp für Rot- und Waid für Blaufärbung) und Gespinstpflanzen (Flachs und Hanf). Für die Vermarktung waren Fronbauern, die Transportleistungen hatten erbringen müssen, gut positioniert. Sie erweiterten ihre Kapazität von zweirädrigen Ochsen-Karren zu vierrädrigen Pferde-Wagen. Dies verbilligte den Massengütertransport, zum Beispiel von Getreide. Hinzu kam ländlich-städtischer Viehhandel, „auf den Hufen“ auch über größere Entfernungen. Mit Wagen ausgerüstete Bauernsöhne vermittelten zu Marktorten und verbanden Lebenswelten. Sie transportierten auch Informationen und konnten, wörtlich, Wegbereiter für Migrant*innen werden. Bauersfrauen, die täglich pendelnd städtische Märkte beschickten, erzählten nach ihrer abendlichen Rückkehr vom Leben dort. Familien in abgelegenen Regionen oder gar Alpentälern konnten sich nicht beteiligen: Hof-Ort bedeutete „Pfadabhängigkeit“ – manche Pfade waren leicht zu entwickeln, andere blieben schmal. 125 Macht-Habende fühlten sich von den innovativen Familien bedroht. Da sie das wirtschaftliche Fundament – einen Prozess – nicht ändern konnten, werkelten sie an der Fassade. Sie erließen Kleiderordnungen und schrieben deren Prototyp, ebenso genealogisch wie fälschlich, Karl d. G. zu. Dies Papier im sozialen Kampf – verankert unter anderem im Bayerischen Landfrieden von 1244 – sollte aufsteigenden ländlichen Familien verbieten, mit absteigenden, nun „unter-edlen“ Rittern gleichzuziehen und sich gleich anzuziehen. Sie sahen Schlimmes kommen: Bauersfrauen trügen „grün, braun, rot von Jent“ [Gent?] und verschwendeten damit „des Landes Gut“ (nach 1290). Der kleinritterliche Verseschreiber Reuenthal grummelte: „Üppig ist ihr Gewand, enge Röcke tragen sie und enge Mäntel, rote Hüte, schnallenverzierte Schuhe, schwarze Hosen“, „seidene Taschen“. Hans Rosenplüt, ein Büchsenmacher und Dichter, würde im

Abb. 7.23 Vergnügt tanzendes Paar, 1514, Albrecht Dürer Dürer zeigt, wie andere seit dem späten 14. Jahrhundert, Respekt vor bäuerlichem Leben; die Frau trägt die Schlüssel.

15. Jahrhundert klagen, dass sie dicke Joppen aus Baumwolle und Barchent trügen und, schlimmer noch, dass herausgeputzte Bauerstöchter nicht mehr spinnen wollten und deshalb Leinwand so teuer sei. 126 Für die weiterhin naturfarben gekleideten klein- und unterbäuerlichen Hausgemeinschaften blieb die Abgabenlast hoch und der Lebensstandard niedrig. Zwar beendete die Überschussproduktion großflächige Hungersnöte, doch bedeutete Verarmung zunehmende Mangelernährung. Wohlhabende Bauern verpflichteten Arbeitskräfte zu geringen Löhnen; städtische „Verleger“ verlagerten die Produktion in dörfliche Niedriglohngebiete.

Wenskus u. a., Wort und Begriff „Bauer“, Zitat 8. Harry Kühnel, „Kleidung und Gesellschaft im Mittelalter“, in: ders. u. a. (Hg.), Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung. Vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter, Stuttgart 1992, xxvi–lxix, hier xxviii–xxix. Epperlein, Bäuerliches Leben, 199–204; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 1–7, 111.

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Dies betraf besonders die Textilherstellung und damit Frauen. Zusätzlich ließ die Erfindung des horizontalen Webstuhls in Flandern (um 1100) Webarbeit von familiär-dörflicher zu städtisch-betrieblich-männlicher Arbeit werden. Süddeutsche Unternehmer führten die Neuerung in die Voralpenregion ein. Hätten Frauen frei gewordene Zeit für die Vermarktung ihrer „höfischen“ Produkte verwenden können? Sie hatten keine Höfe, sondern lebten in Hütten an Ortsrändern. Die Zahl der Verarmenden war so groß, dass die Bezeichnungen für ihre Behausungen, Keuschen oder Sölden, Ortsund Ortsteilnamen wurden. Neue Großgeräte wie wassergetriebene Getreideverarbeitung erforderten neben Investitionen Experten wie mobile Mühlenbauer und Steinmetze für Mühlsteine. Die Berufsgruppe der Mechaniker (engl. mechanics) entstand zwischen Handwerkern und Technikern. Glockengießer und, später, Uhrmacher kamen hinzu. Mit der veränderten Funktionsteilung zwischen Dörfern, Marktflecken und Städten stieg der Anteil (klein-) städtisch Lebender um 1300 auf etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Zur Versorgung der Städte spezialisierten sich – wie villae-Betriebe in römischer Zeit – Fami-

lien im Umland auf Gemüse und Milchprodukte. Da deren Verkauf Frauen oblag, standen sich Bäuerinnen und Städterinnen tagein-tagaus auf dem Markt gegenüber. Soweit wohlhabende Stadtbürgerinnen Köchinnen oder Mägde beschäftigten, waren diese oft aus dem ländlichen Bereich zugewandert. Die Märkte für Feldprodukte wie Heu und Vieh wurden Männerraum (s. Kap. 8.3). Landwirtschaftende Familien blieben unverändert das am höchsten belastete Glied der gesellschaftlichen Hierarchie. 127 Einige Historiker haben das grundherrschaftliche Produktionsregime als „modernisierend“ bewertet, da im Vergleich zu kleinen Höfen über Subsistenz hinaus ein Mehrprodukt erzielt wurde. Massenarbeit versklavter Frauen und Männer mag Produktion verbilligt haben, doch „verschwand“ das Mehrprodukt in Konsum und Hierarchiefestigung. Hätten bäuerliche Familien die Möglichkeit gehabt, durch Mehrproduktion und Vermarktung Geld anzusammeln, hätten sie vielleicht die Chance genutzt, eine neue Pflugschar zu erwerben. Oder sie hätten sich, den Oberen folgend, ebenfalls für Konsum entscheiden können. Großbäuerliche Familien zeigten Kleidung.

7.9 Widerständigkeiten selbstständig denkender Männer und Frauen Die Beherrschten dachten selbst-ständig und -dynamisch. Ihnen war wichtig, dass die gemeinsam erinnerte genealogia iuris der Weistümer und Gewohnheitsrechte, Gegenteil der Fehde-Kämpfereien der Herrschenden, an Gerichtstagen verlesen wurde. Leben gemäß den Regeln, so das Denken, würde allen ein Auskommen ermöglichen und innerdörfliche Streiterei vermeiden. Die überlagernde Hierarchie des Dekret-Rechtes war weder selbstläufig noch einleuchtend und die Oberen waren sich des Denkens und Widerstandspotenzials der Unteren bewusst. Widerstehen erforderte, dass Niedergeworfene, Unterworfene sich erhoben: Diskursherrscher nennen es „Aufstand“. Der langobardische König Rothari hatte Widerstand von servi (seditio rusticanorum) generell unter Strafe gestellt: Anführer büßten mit dem Leben, Mitläufer durch

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Geldstrafe. Etwa ein Jahrhundert später dehnte König Liutprand die Strafen auf Frauen aus. Offenbar waren sie nicht passiv. 128 Als Salzburger und Passauer Kleriker sich im 9. Jahrhundert die Menschen jenseits der Enns und in Pannonien aneigneten, handelten sie vor-sichtig und bemaßen, um Widerstand der Annektierten – klerikal-sprachlich: Christianisierten – zu vermeiden, den Zehnt vorerst niedriger. Slawischen Gläubigen waren Opfer an ihre Götter freiwillig, pay as you go; im Kirchenchristentum war zu zahlen, gleich, ob Leistungen in Anspruch genommen wurden oder nicht (s. Kap. 6.8). Abgabe-pflichtig gemachte Menschen stellten das Regime – aus Weistums-rechtlicher Sicht UnRecht – durch alltäglichen Widerstand individuell und kollektiv zäh und erfindungsreich in Frage.

Rösener, Bauern im Mittelalter, 163–164. Gerhard Köbler, „‚Bauer‘ (agricola, colonus, rusticus) im Frühmittelalter“, in: Wenskus u. a., Wort und Begriff „Bauer“, 230–245, hier 233.

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Widerständigkeiten selbstständig denkender Männer und Frauen

Frauen, die Kleinzinse ablieferten und Mengenlehre kannten, rechneten widerständig; Hirten trieben Mastschweine in Herrenwälder; Männer verringerten Getreidezins durch beigemengte Steine oder lieferten Getreide minderer Qualität und verkauften gutes. Bringzinse mussten zum Herrn getragen, Holzinse von seinen Beauftragten entgegengenommen werden. Diese durften bei „Gatterzins“ das einfriedende Zaungatter nicht durchschreiten; kamen sie nicht zu rechter Zeit, konnte die Abgabe übers Gatter auf die Erde geschüttet werden. Bei Bringzins war den Zinsenden Essen und Trinken zu bieten – taten die Herren dies nicht, durften die Zinsenden den Gegenwert von ihren Abgaben abziehen. Kannten die Herren die Evangelien? Dort saßen laut Markus (2.15) Steuer- und Zinseintreiber und Sünder an einen Tisch. Regionale Weistümer legten selbst die Qualität der Mahlzeit fest, zum Beispiel Erbsen mit Speck und Rindfleisch und die Größe des zu reichenden Brotes. Unfreie Menschen wussten um Rechte und Ansprüche. Besitzende ärgerte dies. Ihnen hörige Autoren erfanden den schlitzohrigen, pfiffigen, betrügerischen „Bauern“ (männlich). Die listige Klugheit der Bauersfrauen schien nicht der Erwähnung wert. 129 Widerstände kennzeichneten auch den Frondienst: Schickte eine Hausgemeinschaft den kräftigsten oder den am ehesten entbehrlichen zur Fron? Wurde Fronarbeit mit – angeblich gottgefälligem – Fleiß oder widerwillig geleistet? Die Zwangsarbeitenden hatten Anspruch auf ein Mahl und auf Futter für ihr Zugvieh. Bekamen sie dies nicht, konnten sie, in einer Art Streikrecht, am Mittag ihre Arbeit beenden. Die Grundbesitz-Institution Kirche suchte im 10. und 11. Jahrhundert durch strafferes Klosterwesen, Investitur ihres Personals ohne weltliche Mitsprache und neue Organisationen wie die der Zisterzienser ihre materielle Basis und die sie schaffenden Menschen stärker in den Griff zu bekommen. Zisterzienser trugen weiße, für Landarbeit unpraktische Kutten. Was hatten ländliche Männer und Frauen über wohlgenährte Kleriker zu sagen? Einige Theologen und viele Laiengläubige reagierten kirchen-, aber nicht glau-

benskritisch: Humiliaten in norditalienischen Städten, „Waldenser“ zwischen Passau und Salzburg, später Hussiten in Böhmen (s. Kap. 9.10). Der wortgewaltige Franziskaner Berthold (Regensburg) legte Mitte des 13. Jahrhunderts den Herren nahe, Bauern nichts Böses zu tun, da sie aus ihnen dauerhaft „Nutzen“ ziehen wollten. Bauern mahnte er, nichts vom Zehnt abzuzwacken, denn sonst würden sie „hier wie dort nimmer selig werden“. „Hier“ konnten die Menschen von dem Abgezwackten satt werden und zehrten es „mit Weib und Kind“ auf, wie Klosterkämmerer verärgert anmerkten. Zehnteinzieher, auch „Dezimatoren“ genannt, „dezimierten“ Lebensnotwendiges. Kloster-Unfreie mussten Getreidegarben auf dem Feld bewachen, damit Diebe – hungrige Bauernfamilien oder raubritterliche Nachbarn? – sie nicht stehlen oder, widerständig, durch Brandstiftung vernichten würden. Widerstand und Absprache belegen auch die gegen den Willen der Menschenbesitzer vereinbarten Partnerschaften. Nüchtern hieß es, „ist das Bett beschritten, ist die Eh erstritten“ und einzelne sympathisierende Priester segneten diese Eheschließung auch ohne grundherrliche Zustimmung. Ein Bischof in Freising, 821, sah nur seine Rechte-anMenschen, rights-in-persons: Tenil, frei, und Meripurg, unfrei, wollten heiraten. Sie lebten schon lange gemeinsam und hatten zwei Söhne, doch der Bischof weigerte sich, Frau und Kinder aus dem Besitz der Kirche St. Maria zu lösen, es sei denn, Tenil würde ihn mit Land entschädigen. Tenil hielt Familienrat und trat in dem sich über drei Jahre hinziehenden Verfahren Land ab. Wichtig war dem Paar, dass auch nach ihrem Tod die Söhne Freie bleiben würden. 130 Menschen wehrten sich, wenn ihre Herrschaften Lasten steigern oder alltägliches Verhalten reglementieren wollten. Sie schlossen sich, vielleicht angesichts der neuen Unterdrückungen, schon in karolingischer Zeit zu Gilden zusammen. 131 Kämpfe gegen Belastungen oder gar für Selbstbefreiung, „Aufstände“ gegen Be-sitzende, waren Widerstand gegen Neuerungen, denn letztere saßen nicht still,

Siegfried Epperlein, Herrschaft und Volk im karolingischen Imperium: Studien über soziale Konflikte und dogmatisch-politische Kontroversen im fränkischen Reich, Berlin 1969; Ranke, „Agrarische Denkweisen“, 218–221; Köbler, „Bauer“, 238–240. 130 Epperlein, Bäuerliches Leben, 59, 62 (Prüm, Eifel, 1222), 85–88, 105; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, 48–50, 60; Neusychin, Abhängige Bauernschaft, 569–571. 131 Otto G. Oexle, „Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit“, in: Jankuhn u. a., Handwerk, 284–354. 129

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

sondern bauten ihre Position aktiv aus. Ein Abt von St. Emmeram wollte 1030 den Lebenseigenen in Vogtareut den Zins erhöhen. Sie handelten sich als Gegenleistung aus, dass sie und ihre Nachkommen nicht mehr an andere Orte versetzt werden dürften. Servi in Berndorf, die der Regensburger Bischof 829 an einen Abt vertauschte, verfassten eine Appellation, als der neue Besitzer widerrechtlich zusätzliche Leistungen verlangte. Da er sich auch nach Rechtsverlesung am Gerichtstag weigerte, das iniurium abzustellen, war der Bischof gezwungen, das Geschäft rückgängig zu machen. Wie hatten die servi sich organisiert? Sie kamen regelmäßig an Gerichtstagen zusammen, alle waren mit Augen und Ohren Zeugen der Verhandlung, alle hatten Teil am symbolischen Akt der Erinnerung. 132 Viele ähnliche Auseinandersetzungen sind belegt. 133 Als ein neuer Bischof in Münster „seinen“ Bauern die gewohnte Schweinemast im Wald verbot, vertrieben sie seinen Abgesandten (2. Hälfte 11. Jh.). Als eine neue Äbtissin des Klosters Sonnenburg in Südtirol begann, lebenseigenen Familien als Todfall die Hälfte ihres Besitzes abzunehmen, klagten diese am Gerichtstag und die Äbtissin musste sich, wie vorher üblich, mit Einzug des Besthauptes begnügen (Anf. 13. Jh.). In Flinsburg, Besitz des Klosters Niederaltaich, baten durch langanhaltende Gewalttätigkeit weltlicher Granden erschöpfte unfreie Familien, „die königliche Kopfsteuer, die Abgaben in Bier und Lämmern, die Bearbeitung der Fronfelder, das Mähen und Eggen, die Erntearbeiten, die winterliche Fron in den grundherrschaftlichen Handwerksbetrieben“ u. a. m. abzuschaffen. Der Abt nutzte die Beschwerde, um von Naturalauf Geldabgaben umzustellen und stimmte zu – gegen eine jährliche Abgabe von 50 Pfennigen je Viertelhufe, etwa der Wert eines halben Schweins (1257). In Hungerzeiten brachen Menschen in Vorratslager ein, rächten sich an Besitzenden durch Brandstiftung und nahmen, in einem Fall, ihrem mit großem

Gefolge zur Kirche reitenden Bischof das Pferd und verspeisten es. In Städten waren Bäcker, die durchaus nicht immer Mehl horteten oder Brot überteuert verkauften, Angriffsziel Hungriger. 134 Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen schien frag-würdig: Bedeutete sie einen weiteren Dienst, Gottesdienst, oder galt sie Erholung und Vergnügen? Nach einer weit verbreiteten Geschichte aus dem östlichen Harzvorland wollten Gemeindemitglieder – das Jahr war 1201 – vor der Kirche tanzen. Der Priester verbot dies, die „Tänzer von Kölbigh“ wehrten sich: „Du bist drinnen fröhlich, so lass uns außen fröhlich sein.“ Der Priester fluchte daraufhin nicht nur unchristlich, sondern verfluchte alle im Namen Gottes. Er hatte Erfolg, die Widerspenstigen waren „angebannt“ – eine klassische Kunst der Magie – und konnten sich nicht mehr bewegen. Als die Verwandten und Nachbarn beharrlich murrten, hielt der zuständige Bischof in Mainz es für sinnvoll, den Fluch zu lösen. War auch er Magier? Im Großarltal, einem Seitental der Salzach, lebte – wie erzählt wird – einst „der Rester“, der anbannen konnte. 135 Die Menschen kalkulierten Chancen, mit Selbsttradierung an einen kirchlichen Schutzherrn, Abzug in Rodungsgebiete und Abwanderung in Städte als wichtigste Strategien. Dabei wägten sie Optionen ab: Im Kloster St. Emmeram sanken Selbsttradierungen in Zensualen-Status, als die benachbarte, aufsteigende Stadt Regensburg attraktiv wurde. „Zahlreiche Unfreie, die sich von ihrem Herren loskaufen konnten, wurden wohl lieber Bürger der Stadt als Muntleute des Klosters.“ Stadtwanderung wurde im späten 11. Jahrhundert Menschen-rechtliche, wenn auch nicht Kirchen-rechtliche Option. Kircheninstitutionen konkurrierten um Arbeitskraft. Als die Salzburger EB→FEB nach dem Großen Sterben von den Überlebenden zusätzliche Abgaben forderten, wehrten diese sich gegen die unerträglichen – ihren Erträgen nicht ent-

Wilhelm Störmer, „Frühmittelalterliche Grundherrschaft bayerischer Kirchen (8.–10. Jahrhundert)“, in: Störmer, Mittelalterliche Klöster, 431–468, bes. 459–460. Für den karolingischen Herrschaftsbereich insgesamt: Marios Costambeys, Matthew Innes und Simon MacLean, The Carolingian World, Cambridge 2011, 263–270. 133 Kartografische Darstellungen der Widerstands- und Befreiungsbewegungen der Unterschichten, Mitte 9. bis 2. Hälfte 15. Jahrhundert, bot im deutsch-sprachigen Raum lange nur der Atlas zur Geschichte, hg. vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, 2 Bde., Gotha 1976, 1:46. 134 Epperlein, Waldnutzung, 23–24; Dollinger, Bauernstand, Zitat 144, 160–161, 232; Curschmann, Hungersnöte, 52–53. Umrechnungen von Geld in Ware sind schwierig. Sie hängen von Zeitraum und Region ab. 135 Ranke, „Agrarische Denkweisen“, 215–216. 132

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Widerständigkeiten selbstständig denkender Männer und Frauen

sprechenden – Summen und drohten (1391 im Pongau) lieber ihr Land zu verlassen als die UnSummen zu zahlen. 136 Weitere Optionen bot Weg-zug entweder in den von Heerführern europaweit angebotenen SöldnerArbeitsmarkt oder in kirchlich angeregte, aber auch klimatisch bedingte Kreuzzüge. Für letztere meldeten sich in Hungerjahren besonders viele. Andere nutzten die Wege in die entstehenden Polnisch-Litauischen und Moskauer Herrschaftsräume. Dort hatten (Klein-) Adelsfamilien ihren Unfreien Abwanderung in Städte verboten und Herrscher luden Anderssprachige als Städter*innen ein und boten ihnen Status nach Magdeburger Recht, damit sie Steuern zahlen würden. Abnehmende Optionen „zuhause“ förderten oder erzwangen Aus-Wege oder „Heim“-Suchen. Als im 13. Jahrhundert Ackerland knapp und die Herrscher-Expansion nach Böhmen, Polen und Ungarn gescheitert war, suchten landbesitzende Adlige, reiche Bauern und alteingesessene dörfliche Familien die gmain-Rechte an Allmende und Waldnutzung zurückzudrängen. Sie behinderten den Armen dadurch Kuhhaltung und Schweinemast, also die Versorgung mit Milch und Speck. Im „Sachsenspiegel“ hieß es, dass Bauermeister denjenigen anklagen könnten, der „vom Gemeindeland seiner Bauern etwas abpflügt, abgräbt oder einzäunt“. 137 Eigenleute zogen in Fällen hochgeschraubter Belastungen ab, Bischöfe verboten ihren Städten, das heißt ihren aktiven Städter*innen, fliehende Lebenseigene aufzunehmen. König Heinrich VII., der die Bedeutung städtischer Wirtschaft erkannte, legte jedoch „Edlen und Ministerialen“, die Eigenleute zurückforderten, die Beweislast auf (1224). Um ihre Forderungen durchzusetzen, mussten sie in die Stadt gehen. Dort wurden sie so ungern gesehen, dass Stadträte sie vor „Bedrückung und Beleidigung“ schützen mussten. Im Rahmen verknappter Ressourcen verwickelten sich mehr und mehr „Edle“ oder Streithähne in Fehden. Ihre Zerstörungen zwangen weitere ländliche Menschen, Schutz und Lebenschancen hinter Stadtmauern zu suchen. 138

Unter den Unfreien fanden manche sich mit ihrer Untertänigkeit ab und hatten ein Auskommen unter Grundherren, die, wie der Abt an der Ilm, ihr Wohlergehen als christlich und dem eigenen Wohl zuträglich ansahen. Einige setzten sich aktiv zur Wehr, so 1279 die Bauernfamilien in Wieting gegen die Mönche von St. Peter. Andere wehrten sich mündlich und sangen bei convivia und in Dorfkrügen „Trutzstrophen“, die ihnen gelegentlich bezahlte „Schelter“ entwarfen. Sie reflektierten ihre oft düsteren Lebensumstände kontextkonform, aber personenunabhängig in Erzählungen. In der Salzburger Region geschah dies „aus grauen Zeiten her“ in der Legende über die Entstehung des WatzmannMassivs in den Berchtesgadener Alpen mit Doppelund kleineren Gipfeln. Einst, in undenklicher Frühzeit, lebte und herrschte in diesen Landen ein rauher und wilder König, welcher Watzmann hieß. Er war ein grausamer Wüterich, der schon Blut getrunken hatte aus den Brüsten seiner Mutter. Liebe und menschliches Erbarmen waren ihm fremd, nur die Jagd war seine Lust, und da sah zitternd sein Volk ihn durch die Wälder toben, […] gefolgt von seinem ebenso rauhen Weibe und seinen Kindern, die zu böser Lust auferzogen wurden. [… Er] vernichtete die Saat und mit ihr die Hoffnung des Landmanns. Gottes Langmut ließ des Königs schlimmes Tun noch gewähren. Eines Tages [… traf die wilde Jagd auf die Hütte einer Hirtin mit ihrem Kind und der Herde. Die Hundemeute biss mit scharfen Zähnen in den Leib des Kindleins und riss] die schreckensstarre Mutter zu Boden […]. Der König kam indes nahe heran, sah das Unheil und stand und lachte. [… Er] hetzte mit teuflischem Hussa Knechte und Hunde auf den Hirten, der sein ohnmächtiges Weib erhoben und an seine Brust gezogen hatte und verzweiflungsvoll erst auf sein zerfleischtes Kind am Boden und dann gen Himmel blickte. […] Aber alles hat ein Ende und endlich auch die Langmut Gottes. Es erhob sich ein dumpfes Brausen, ein Donnern in Höhen und Tiefen, in den Bergesklüften ein wildes Heulen, und […] jener Leiber erwuchsen zu riesigen Bergen, und so steht er noch, der König Watzmann, eisumstarrt, ein marmorkalter Bergriese, und neben ihm, eine starre Zacke, sein Weib, und um beide die sieben Zinken, ihre Kinder [… So] hatte sein Reich ein Ende. 139

Dollinger, Bauernstand, Zitat 313; Herbert Klein, „Das große Sterben von 1348/49 und seine Auswirkungen auf die Besiedlung der Ostalpenländer“, MGSL 100 (1960), 91–170, hier 100–103. 137 Epperlein, Bäuerliches Leben, 137–140, zitiert Kap. „Landrecht“, 3. Buch, Artikel 86, §§ 1–2. 138 Epperlein, Bäuerliches Leben, 152–158. 139 Die Erzählung, in einer Reihe von Varianten überliefert, wurde im 19. Jahrhundert aufgezeichnet. Volksbüchlein, Ludwig Aurbacher (Hg.), 11827; Deutsches Sagenbuch, Ludwig Bechstein (Hg.), 11853; u. a. Jutta Assel, Georg Jäger, „Sagen-Motive auf Postkarten“, erläutern im Goethezeitportal die 136

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

Abb. 7.24 König Watzmann von Gott zum Berg versteinert (Postkarte) Die Zahl der Kinder variiert in den Versionen der Erzählung, topologisch gibt es fünf kleinere Gipfel.

In dieser erzählerischen Verarbeitung von Erfahrungen, wie sie Abt Poppo über Fehden und andere Chronisten über den streitenden Hz Friedrich II. Babenberg berichteten, ist Christentum Erlöserreligion. Gottes Eingreifen ließ aus gewalttätigen Machthabern steinerne Mahnzeichen für die Lebenden werden. Die aus der offiziellen Erinnerung Ausgegliederten schufen sich ihre eigene. Sie thematisierten Probleme wie Hunger und die Trauer von Eltern, die ihre Kinder nicht ernähren konnten. Gatekeeper bezeichneten diese Autoreflexionen abwertend als „Märchen“, denn sie verstanden deren Rolle als zentrales Kulturgut nicht. Die Sequenz von Wehrhaftigkeit war dicht:

1291 (vermutlich) Schwur der Menschen in Uri, Schwyz und Nidwalden gegen die tyrannischen Vögte der Familie Habsburg; 1299 Widerstand der Bauern-Familien gegen den Zisterzienser-Bischof von Münster – dieser befahl seinen Pfarrern, die Bauern wegen Verweigerung des Zehnt und Widersetzlichkeit zu exkommunizieren; seit dem späten 13. Jahrhundert Widerstand in der Umgebung von Augsburg und in Tirol; 1323 Kämpfe der Bauern in Flandern und 1336 bis 1338 in Franken und im Elsass gegen alle, die müßig Brot äßen und (unter einem kleinritterlichen Anführer) gegen dörfliche Judengemeinden; 1338 und 1358 in Frankreich; 1381 in England; 1395 in Katalonien; 1404 in Dithmarschen. Hinzu kamen Aktionen städtischer Handwerker. Angreifer einer Burg sangen, „was Hände gebaut haben, das können wohl Hände brechen“. Schwyz und Basel waren kirchlich durch Konzile und herrschaftlich durch die Familie Habsburg der Kirchenprovinz Salzburg nahe. Die Eidgenossen siegten 1315 über das habsburgische Heer bei Morgarten, 1386 kam Hz Leopold in der Schlacht bei Sempach um. Ihre Selbstständigkeit würde 1499 Kaiser Maximilian I. im Frieden von Basel anerkennen müssen. Zwei Jahre später schlossen die Baseler Stadtbürger*innen sich der Eidgenossenschaft an. 140 Die Autoren des Sachsen- und des Schwabenspiegels verstanden Widerstand als Re-Aktion auf das Fehlverhalten Mächtiger und als rechtens. 141

7.10 Neue Diskurse über ländliches Leben: Städter, Sänger, Wandermönche In der Zeit, als verdunkelnde Männer ihre ordoIdeologie formulierten und un-ordent-lich Fehdeführende sie untergruben, entwickelten einzelne Beobachter gesellschaftliche Perspektiven. Geistliche und Rechtspraktiker, Künstler und Literaten, Wandersänger und Wandermönche begannen,

ländliche Menschen als Wirtschaftssubjekte wahrzunehmen; Land- und Gottesfriedensbewegungen forderten Schutz für Bauern; Buch- und Glasmaler sowie Grafiker stellten, anfangs vereinzelt, bäuerlich und handwerklich Tätige dar. Fahrende – Sänger seit Ende des 12. und Mönche seit Beginn des

Entwicklung der unterschiedlichen Fassungen, http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/legenden-maerchen-und-sagenmotive/ koenig-watzmann-eine-sage-ueber-die-entstehung-der-berggesichter.html (10. September 2020). 140 Die Entwicklungen in der Westschweiz sind als nationale Heroenerzählung oder Ursprungslegende dramatisiert worden. Den Schwur 1291 leisteten aufsteigende, Führung anstrebende Schichten. De iure endete die Zugehörigkeit zum ZWR/HRR erst 1648. 141 Forschungen zu Widerstand datieren erst aus den 1960er Jahren, bes. Barrington Moore Jr., Eric Hobsbawm, George Rudé, E. P. Thompson und, in den 1970er Jahren, Michel Mollat und Philippe Wolff, Rodney Hilton, Dirk Hoerder, Guy Fourquin. Sprachlich gibt das Englische crowd action den Charakter der Bewegungen besser wieder als „Massenbewegung“ im Deutschen. James C. Scott, Weapons of the Weak: Everyday Forms of Peasant Resistance, New Haven 1985.

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Neue Diskurse über ländliches Leben: Städter, Sänger, Wandermönche

13. Jahrhunderts – setzten sich mit dem Spannungsverhältnis von ritterlichem und ländlichem Leben auseinander, städtisch sozialisierte Autoren mit ländlichen und urban-kaufmännischen Lebensund Wirtschaftsformen. Land- und Gottesfriede, Pax Dei, oder zumindest Waffenruhe, Treuga Dei, hatten die Geistlichen der Synode in Charroux (Auvergne, 989) gefordert und, ein Jahrhundert später, die Autoren der Pax dioecesis in Bamberg (1085). Die Forderung hatte auch elitensoziologische Aspekte: Der hohe weltliche und geistliche Adel, bedroht durch kostenträchtige Privatkriege und (Kirchen-) Raub der raub-ritterlich-adligen Zwischenschichten, wollte seine Position absichern. Benediktiner*innen werteten ländliche Arbeit nicht mehr als Folge des Sündenfalls, sondern als gutes Werk. Doch durften ländliche Familien sich seit dem karolingischen Waffenverbot, vereinheitlicht im Landfrieden von 1152, gegen die zahllosen Übergriffe nicht wehren. Da diese auch gesamtwirtschaftlich schädlich waren, dehnte König Heinrich VII. 1224 seinen Schutz auf alle agricolae und umzäunte Dörfer aus sowie auf die niedere Geistlichkeit, Reisende und Kaufleute. Der Strafkatalog beleuchtete das gesellschaftliche Desaster: Brandlegende Burgknechte Adliger waren zu bestrafen: „Der Rote“, der Feuerleger mit seinen Kumpanen, war in Volkserzählungen der Böse schlechthin, selbst der Teufel wurde weit komplexer dargestellt. Angesichts der neuen Fehdepraxis hätten Wehrgelder analog zu alten Rechtssetzungen entwickelte Zahlungssysteme erfordert. Die ritterlichen Gewalttäter nahmen, was immer sie wollten, auch Sex: „Frauen sollen von niemandem Vergewaltigung erleiden“ hieß es 1104 im Schwäbischen Landfrieden. Die adligen Männer und ihre Knechte taten „das einzige, was sie wirklich gelernt hatten: ein Schwert zu führen“. 142 Vormals hatten an Gerichtstagen die Versammelten Gewalttäter bestraft. Angesichts des neuen und umfassenden Kirchen-Dekret-Rechts BolognaRoms und der neuen Gerichts-Herren, die oft eigene Interessen vertraten, wurden letzteren gebildete Erinnerungsträger, Schöffen, zugeordnet. Im sächsischen Rechtsbereich schrieb Eike von Repgow

Rechtstraditionen und -praktiken in niederdeutscher Sprache als „Sachsenspiegel“ auf (zw. 1220 und 1235). Er stammte aus einer Schöffenfamilie, war als Begleitung reisender Herrschaft regional bewandert und mit allen Ständen vertraut. Menschen der Salzburger Kirchenprovinz betraf der Bayerische Landfriede (1244), der neben dem Friedensgebot das Tragen von Waffen und die Kleidung von Bauern regelte. Ein Augsburger Minorit stellte lokale Gewohnheitsrechte, römisch-historisch staatsbürgerliche und institutionell-kirchliche Rechte um 1275/80 als „Schwabenspiegel“ zusammen. 143 Hingegen ging das Österreichische Landrecht (1278), revidiert nach einem „Adelsaufstand“ (1295/96), aus Adelskonkurrenzen hervor und war gegen den Einfluss der „schwäbischen“, das heißt habsburg-vorderösterreichischen, zugewanderten Vasallen des Hz gerichtet. Es sollte die faktische, wenn auch nicht juristische Reichsunmittelbarkeit der grundbesitzenden Magnaten wiederherstellen. Die Friedens- und Rechtsspiegelbewegungen waren komplexe Versuche kirchlicher und städtischer Intellektueller, in „volkstümlicher“ Sprache Rechtssicherheit für die breite Mehrheit in einem verbindlichen politisch-gesellschaftlichen Rahmen zu erreichen. Sie sahen die Wirtschaftsleistung der Untertanen als zentral für die Finanzierung von Herrschaft und zielten darauf, private Fehden (violence) durch ein einheitliches, dynastisch-staatliches Gewaltmonopol (force, enforcement) zu ersetzen. Das Einheben von Abgaben setzte den Schutz der Produzierenden voraus, Kommunikation und Fernhandel den Schutz von Reisenden, Händlern und Kaufleuten. Dies „neue“ Denken entsprach dem zielstrebig vergessenen Interesse der Gesamtheit, Res publica, und der Pax romana, die private Kriege verhindert hatte. Ritterlich-volkstümliche Sänger begannen ebenfalls über das Verhältnis der sozialen Schichten zueinander nachzudenken. Ein Tegernseer Mönch verfasste in hoffnungsvollem Wunschdenken ein Ritterspiel: Die Hauptfigur Ruodlieb handelte weise, ausgleichend und vorbildhaft; einen üblen „Rotschopf“ verprügelten die Bauern; ein eifriger und

Wenskus, „Bauer“, 20–21; Reinhold Kaiser, „Gottesfrieden“, Lexikon des Mittelalters, 4:1587–1592; Epperlein, Bäuerliches Leben, 160–173, (sinngemäßes) Zitat aus „Seifried Helbling“; Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, Zitat 131. 143 Die Namen der Sammlungen stammen meist aus späterer Zeit. 142

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Un-menschliche Erinnerung: Die Lebenswelten ländlicher Fron-, Zins- und Zehntpflichtiger

aufrichtiger Knecht gewann die Liebe der verwitweten Bäuerin und wurde, zum Mann genommen, Hofbesitzer. Ablehnend gegen ländliche Menschen schrieben die Wanderdichter Neidhart aus Reuenthal (~1180–1247), Wernher der Gartenaere (~1250), „der Stricker“ (~1220–~1250) – Künstlername für einen „Geschichtenknüpfer“? – und ein anonymer Autor im „Kleinen Lucidarius“ 144 (1282– 1299). Aus urbanem Wiener Kontext stammten der Völker- und Sprachenspiegel des Patriziers Jans („Weltchronik“, 1270er Jahre) und die Reime Heinrich Teichners (Mitte 14. Jh.). Hingegen verfasste Ottokar aus der Gaal seine „Österreichische Reimchronik“ (~1300–1310), die Informationen über untere Schichten enthielt, im Interesse des Landesherrn. Prediger der neuen Minoritenorden behandelten, ausgehend vom urbanen südwestdeutschen Raum mit Augsburg als Zentrum, soziale Themen. Sänger und Prediger konkurrierten um Zuhörer*innen und suchten wirtschaftlich-soziale Entwicklungen in neuen gesellschaftlichen Diskursen zu fassen. Manche Autoren bezogen bäuerliches Leben deskriptiv und ohne Herablassung ein, zeigten sich jedoch von den Veränderungen der Hierarchien irritiert. Hartmann aus Aue (Schwaben, gest. zw. 1210 und 1220) und Neidhart beschrieben Ritter, die unstandesgemäß barfuß gehen und Korn kaufen mussten; sie kritisierten die Einbeziehung inferiorer Personen in Kriegsdienst und Verwaltung. Der städtische Teichner bezeichnete verarmte Ritter verächtlich als vom Marktpreis des Getreides abhängige bäuerische „Herren“; statt ehrenhaften Schwertdienstes leisteten abgesunkene Ritter und aufgestiegene Bürger nur noch Beuteldienst aus dem Geldsäckel. Manche Autoren sahen die neue Schicht wohlhabender, jedoch nicht immer freier Bauernfamilien in Kärnten und Tirol, die durch das Tragen von langem Haar, teurer Kleidung und Trinken von Wein übermäßig Besitz und Selbstgefühl zur Schau stellten, als zu „trutzig“ gegen die Oberen. Der einzige Weg, Standesgrenzen zu überschreiten, war für eine freie bäuerliche Familie Heirat „nach oben“ in eine

kleinadlige Familie, die materielle Vorteile suchte. Die öffentliche Performanz der wohlhabenden Bauern, literarisch meist übertrieben dargestellt, erweckte Angst; die von den Oberen schnell erlassenen Kleiderordnungen bezogen sich gender-spezifisch oft nur auf Bauersfrauen. 145 Des landes sit [Sitte] in Ôstarîch und deren Veränderungen besprachen im „Kleinen Lucidarius“ Herr und Knecht, analog zum gelehrten Dialog zwischen Meister und Schüler. Ritter erschienen, wie bei Wernher, als geckenhaft, verroht, ungebildet; Kleinadlige, die „in unrechter Fehde die Bauern anderer einheimischer Adliger brutal ausplündern“, als „gewöhnliche“ Brecher des Landfriedens. Als Ver-brecher? Nur charakterlose Lehnsherren nähmen dies hin. Statt traditioneller Sitte und persönlicher Integrität sei Unteren wie Oberen nur Hab und Gut wichtig. Gemäß Tradition sollten die Niederen den Höheren folgen, der Dienstmann dem Fürsten treu sein, aber, als Neuerung, nicht das Wohl seiner Familie, sondern das des Herrschaftsbereichs im Blick haben. In Gesellschaftskritik beurteilten Herr und Knecht bäuerliches Fehlverhalten als ärgerlich, das der höheren Stände als gesellschaftsschädigend. 146 In urbanem Kontext sozialisierte Autoren artikulierten das Spannungsfeld, das sich aus dem Wandel von Wirtschaft und Hierarchien ergab, intensiv. Heinrich Teichner sah alle Gewalt von Gott ausgehen; wer sich ihr widersetze, untergrabe die gute Ordnung. Die Menschen aller Stände seien nach integrem Handeln statt nach Geburt zu bewerten. Heerfahrt nur der Beute willen und kleinritterliches Berauben von Witwen und Waisen sei standeswidrig. Alle Stände sollten Mäßigung zeigen, Frauen bescheidene Kleidung tragen. Während der Stricker reiche höfische Repräsentation akzeptierte, plädierte Teichner für Freigiebigkeit gegenüber Armen als einzig akzeptabler Repräsentation von Stand. Zwar möge niemand neuen Sitten folgen, doch sei Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen sinnvoll: Adlige in finanzieller Bedräng-

Die etwa 8400 Verse umfassende Schrift nahm Bezug auf die älteste deutsch-sprachige theologische Enzyklopädie, den großen „Lucidarius“ des späten 12. Jahrhunderts. 145 Ranke, „Agrarische Denkweisen“, 207–221, Zitat 208; Ulrich Seelbach, „Hildemar und Helmbrecht: Intertextuelle und zeitaktuelle Bezüge des ‚Helmbrecht‘ zu den Liedern Neidharts“, in: Theodor Nolte und Tobias Schneider (Hg.), Wernher der Gärtner. „Helmbrecht“, Stuttgart 2001, 45–69, hier 55. Vgl. auch Gurjewitsch, Stumme Zeugen, 17–33. 146 Fritz P. Knapp, „Standesverräter und Heimatverächter in der bayerisch-österreichischen Literatur des Spätmittelalters“, in: Nolte und Schneider, Wernher, 9–24. 144

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nis sollten, statt eines shape-shifting zum Raubritter, einen – wenn nötig unstandesgemäßen – Beruf ergreifen. Fast wie Hrabanus Maurus um 800 kritisierten um 1300 die Wiener Patrizier Jans und Teichner die Behandlung Abhängiger wie Sklaven: Schildknechte, die hungrig durch Nässe und Kälte reiten müssten, um in Herbergen für ihre Herren Quartier zu richten, würden weder Essen erhalten noch wissen, wo sie ihr Haupt hinlegen könnten. Teichner lobte die bäuerliche Produktion von Nahrung, Jans ging auf die Tuchindustrie und das Bauhandwerk ein, auf Erzverarbeitung ebenso wie auf Schriftlichkeit und Musik. Wie standen Salzburger Erzbischöfe zu diesen Schriften – ließen sie sie abschreiben oder Abschriften kaufen? In ihrer Stadt publizierte niemand. Fremde erschienen Autoren als eigen-artig und bedrohlich. Die übergreifend-ortlose ständische landes sit (diskursiver Singular) war bedroht von Umherziehenden anderer Sitte (askriptiver Singular), besonders von Söldnerhaufen. Fremde waren visuell auffällig: „unrechte“ Österreicher mit ungarischer Haartracht und ausländischer Kleidung; Sesshafte äfften „die“ Thüringer, Meißner oder Sachsen nach, verwendeten flämische und andere Sprachen, fraßen und soffen wie die Bayern, verheirateten ihre Töchter mit Schwaben. Letztere, Gefolge des zugewanderten fremden Landesherrn, waren ab-stoß-ende, ab-scheu-liche Andere. Fliehende Hörige von nah und fern suchten städtische Jobs und andere Fremde ließen sich nieder: „ein Pole aus Bruck, ein Meißner aus Hainburg, ein Brabanter aus Marchegg, ein Böhme aus St. Pölten“. In diesen Bewertungen trafen drei Wahrnehmungsund Handlungsstränge zusammen. Kleinräumliche Denkweise ließ Anderes als bedrohlich erscheinen, im Fall der Soldateska war es bedrohlich. Großräumliche Sicht, wie in der „Weltchronik“, ließ Heiden sichtbar werden. Drittens waren Fern-Kaufleute jüdischen Glaubens mit Sonderrechten sichtbar. Hingegen galten die sich selbst ausgrenzenden und privilegierenden, meist zugewanderten Kleriker als zugehörig – jedenfalls in verschriftlichter Sichtweise. 147 Im Vergleich zu diesen, gesamtgesellschaftliche Topoi behandelnden Autoren bezogen sich die

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vielfach erforschten Minnelieder nur auf die Eliten. Die Kunstform „wanderte“ aus dem islamischen Iberien nach Südfrankreich, wo auch Sängerinnen aktiv waren, und verbreitete sich, als „höfische“ Kultur die Konkurrenz „städtischer“ erfuhr. Sie verschwand nach nur einem Jahrhundert. Gesponserte Sänger auf Burgen und an Höfen erfanden für ihre Mäzene und Mäzeninnen die ritterliche „Minne“. Im Zuge der Konzentration zu höfischen Großbetrieben mit blühendem und kostenträchtigem Turnierwesen idealisierten sie Ritterlichkeit, Dienst an lieblichen Damen, gelegentlich heroisch sterbende Ritter wie im strahlenden Roland- oder schicksalsverstrickte wie im düsteren Nibelungenlied (Anf. 13. Jh.): „Ein seltsamer Begriff von Geschichte, dem sterbende ‚Helden‘ wichtiger sind als Menschen, die leben wollen.“ 148 Writing places vieler Autoren waren Städte und, sozial, Verortung im Bürgertum. Wie Grundherren auf „knechtische“ Arbeit herabgeschaut hatten, blickten Städter*innen auf bäuerliches Leben. Im Rahmen geläufiger Bauernschelte erfanden sie den dörper, den männlichen Bauerntölpel, ergänzt durch sich herausputzende Mägde und sich im Übermaß kleidende, reich gewordene Bauernfamilien – dies stand ihnen nicht zu. Auch die Alltagskleidung ländlicher Männer und Frauen ergab in der visuell orientierten Gesellschaft eine Gleichung: einfache Kleidung = einfache Gemüter. Im Französischen wurde aus village lautähnlich vilain = hässlich, aus village im Englischen villain = Übeltäter. Arbeitskleidung galt und gilt in vielen Kulturen als Zeichen von Minderwertigkeit. Handwerker, die oft Lederschürzen trugen, wurden im Englischen abwertend als leather aprons bezeichnet, Dienstleute nur als hands. Die wasserabweisende Kleidung von Seeleuten machte sie generisch-abwertend zu „Jack Tar“ ohne Eigennamen. Klischees über Kleidung sagen viel über die Klischee-Bildner aus, deren literarische Diskurse unüberbrückbare soziale Gegensätze postulierten. Dörfler, rustici, lebten „unrecht“, grob, läppisch, in geistlicher Erbauungsliteratur auch „heidnisch, hinterhältig, dumm und faul“. Keiner der urbanen, klerikalen und ständedidaktischen Autoren teilte nahrungsschaffende funds of knowledge, wusste um flexible Reaktionen auf Ver-

Eng angelehnt an Knapp, „Standesverräter“, Zitate 13–14, 15. Brunner und Jaritz, Landherr – Bauer – Ackerknecht, Zitat 11; Brunner, Kulturgeschichte, 43–55.

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änderungen im Biotop, kannte agrarische Betriebstechnik. Ihre Abwertung war ihnen nutzbringend, denn sie rechtfertigte die schlechte Entlohnung bäuerlicher Tätigkeit. 149 Ein oft wiederholter Aspekt von Bauernschelte waren „Bauernhochzeiten“: Die Gäste trugen grobe Kleidung und löcherige Schuhe, fraßen, soffen, kotzten und tanzten ungeschickt. Ein bischöflicher Advokat in Konstanz erfand „die ungeheuerliche Schlacht des Hochzeitsmahls“. Wie Lebenseigene, die sich für ihre Hochzeit die Zustimmung ihres Besitzers hatten erkaufen müssen, zu über-mäßigem Essen kommen sollten, erläuterten die Autoren nicht. Auch ihre Messlatte war falsch, „Adelshochzeiten“ waren nicht Minnesang-höfisch: Streitereien um Rang und Hierarchie der Sitzordnung, übermäßiges Weintrinken und die Folgen. Seit Ende des 13. Jahrhunderts verfassten Autoren Ratgeber für die Gäste der Maß-Gebenden: Die Hochgestellten sollten ihr Essen nicht herunterschlingen, sich nicht betrinken, sich weder in den Zähnen noch in der Nase puhlen, nicht zappeln oder im Stuhl hängen, nicht fluchen, rülpsen und Frauen anstarren. Zu den angesprochenen Gästen gehörten auch Kleriker. 150 Der vita apostolica verpflichtete Kleriker in klösterlichen writing places wollten mit ihrer Gesellschaftskritik nach außen wirken. Sie erreichten einen Durchbruch, als die in Armut lebende Gemeinschaft um Franz von Assisi 1210 vom Papst zugelassen wurde (s. Kap. 9.6). Dass diese Wanderprediger ihr Denken in nur einem Jahrzehnt im gesamten lateinkirchlichen Europa artikulieren konnten, belegt, wie verbreitet Unzufriedenheit und kritisches Denken bereits waren. Texter agierten in Wien, der Steiermark, Tirol und Augsburg, nur im Salzburger Erzbistum war von diesen Entwicklungen wenig zu spüren. Der wohl aktivste „Volksprediger“ des 13. Jahrhunderts, der in Regensburg tätige franziskanische Denker Berthold, vermittelte gleiches wie Meier Helmbrecht seinem nach (raub-) ritterlichem Stand trachtenden Sohn: „tue das gute und lass das üble“. Feldarbeit sei die Basis der Gesellschaft: „nun bestell

das Feld./Du kannst mir glauben: Alle Edelfrauen/ verdanken der Bauernarbeit ihre Schönheit,/und alle Könige verdanken allein/der Bauernarbeit ihre Krone./Denn wie vornehm einer auch ist –/sein Stolz wäre nichtig,/wenn es die Bauernarbeit nicht gäbe.“ Die gelehrten Bettelmönche redigierten in ihren Konventen in Augsburg und Regensburg Rechtsund religiöse Texte. Friede sei Gottes Gebot und damit weltliches Recht. Sie stellten den Reichtum der kirchlichen und weltlichen Herrscher bloß, ihre eigene vita minorum sollte beispielhaft sein. Um 1500 würde aus Augsburg der Reformprediger Staupitz nach Salzburg kommen (s. Kap. 11.3). Berthold hielt, wie die Mehrzahl der Prediger und Sänger, an Hierarchie fest. Er drohte bäuerlichen Zuhörer*innen mit Höllenpein, sollten sie Zehnte nicht abliefern. Der umfassend gebildete Hugo (Trimberg) hingegen drohte demjenigen mit höllischem Feuer, der „arme Leute über bestehendes Recht hinaus zwingt und sie in großen Schaden bringt mit Abgaben, Ungeld und mit Steuern“ („Der Renner“, zw. 1296 und 1313). Die Mächtigen ließen sich nicht beirren und die inflationären Androhungen von Höllenpein mögen auch einfache Menschen wenig beeindruckt haben. In einer weit verbreiteten Erzählung folgte der Teufel einem Vogt, der besonders unbarmherzig Abgaben von Armen eintrieb. Erst als die Dorfbewohner*innen von „tiefstem Herzensgrund“ um Hilfe riefen, konnte er sie befreien und den Vogt in die Hölle mitnehmen. Auch in anderen Erzählungen erschien der Teufel als barmherzige Kraft. 151 Gesamtgesellschaftliche und staatstheoretische Konzepte entwarfen Denker wie der in England und Frankreich tätige Theologe Johannes (Salisbury, 12. Jh.) und der in Schwaben oder Tirol geborene Freidank (Vridanc, 12./13. Jh.). Gesellschaft sei wie der menschliche Körper: Fürsten als Haupt; Bauern als am Boden haftende Füße, ohne die weder Kopf noch Körper sich bewegen könnten. Zwischen beiden, benannt als Arme, Magen und Gedärme, gab es Steuereinnehmer und Amtsschreiber: „Wenn dieselben mit maßloser Gier alles in sich hi-

Ranke, „Agrarische Denkweisen“, 208–213; Köbler, „Bauer“, 238–240, Zitat 240. Heinrich Wittweiler, 1395, zitiert in Epperlein, Bäuerliches Leben, 211; Paul B. Newman, Daily Life in the Middle Ages, London 2001. 151 Hannes Kästner, „‚Fride und Reht‘ im ‚Helmbrecht‘ : Wer