Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas: Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen [1 ed.] 9783428502196, 9783428102198

»Der Begriff Alteuropa muß als ein Instrument verstanden werden, das jene Bau- und Strukturelemente herauszuarbeiten erm

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Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas: Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen [1 ed.]
 9783428502196, 9783428102198

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Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres

Historische Forschungen Band 73

Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen

Herausgegeben von Helmut Neuhaus und Barbara Stollberg-Rilinger

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas : Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen I Hrsg.: Neubaus, Helmut ; Stollberg-Rilinger, Barbara. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Historische Forschungen; Bd. 73) ISBN 3-428-10219-3

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-10219-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Johannes Konisch zum 31. Januar 2002 "Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas" - mit diesem Titel ist grob der Rahmen bezeichnet, in dem sich die wissenschaftliche Arbeit Johannes Kunischs bewegt, und zugleich der Themenkreis der hier versammelten Beiträge abgesteckt. "Der Begriff Alteuropa muß als ein Instrument verstanden werden, das jene Bau- und Strukturelemente herauszuarbeiten ermöglicht, die als konstitutiv für das Europa der vormodernen Zeit zu betrachten sind". Mit diesen Worten hat Johannes Kunisch einmal den Sinn dieses Konzepts umrissen und zugleich sein eigenes Erkenntnisinteresse auf den Punkt gebracht. "Alteuropa" verweist auf die Kontinuität der gemeineuropäischen Kultur vom Mittelalter über den Wandel von Renaissance und Reformation hinweg bis zum Anbruch der Moderne um 1800. Johannes Kunisch war sich dieser Kontinuität stets überaus bewußt. Das ergab sich schon aus seinem akademischen Werdegang, den er als Mediävist in München begann, bevor er sich - angeregt durch Friedrich Hermann Schubert - in Kiel, Frankfurt am Main und schließlich auf dem Lehrstuhl in Köln auf die frühe Neuzeit konzentrierte. Mit großer Sensibilität für den konstruktiven Charakter historischer Periodisierungen hat Johannes Kunisch die epochenübergreifende Erforschung des vormodernen Europas geradezu zum Programm erhoben, als er gemeinsam mit Klaus Luig, Peter Moraw, VolkerPress und Horst Stuke im Jahre 1974 die Zeitschrift für historische Forschung gründete. Die Schriftleitung lag von Anfang an -und inzwischen über mehr als ein Vierteljahrhundert - in seinen Händen, und die Zeitschrift verdankt ihr Profil ganz wesentlich seinem Engagement. Mit der ZHF hat er der deutschsprachigen Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung ein einzigartiges Forum eröffnet und der zunehmenden Verengung der Teildisziplinen nachdrücklich entgegengewirkt. Das geschah schon sehr früh, in einer Zeit, als die "Geschichte der Frühen Neuzeit" sich ihrerseits gerade erst als Disziplin ausdifferenzierte. Johannes Kunisch selbst hat diese Epoche auf dem Kötner Lehrstuhl über 26 Jahre hinweg in Forschung und Lehre vertreten und - immer wieder mit Blick zurück auf das späte Mittelalter, aber auch voraus auf die Epoche der Revolutionen, der Romantik und des Historismus - die zentralen Fragen thematisiert, die den Weg in die Moderne bezeichnen. An erster Stelle waren das Fragen nach der Genese und dem Charakter von Staat und Staatenkonflikten. So beschäftigte und beschäftigt ihn noch immer das Verhältnis von Absolutismus und Ständeturn im Heiligen Römischen Reich und seinen Territorien, aber auch besonders in Böhmen und in Dänemark, die Rolle dynastischer Strukturen sowohl für die Herausbildung moderner Verfassungsstaatlichkeit

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Johannes Kunisch zum 31. Januar 2002

als auch für die "bellizistische Disposition" des frühneuzeitlichen Mächtesystems, die Interdependenz von Staats- und Heeresverfassung, aber auch die zeitgenössische Reflexion über Staat und Krieg, ,,Zähmung" und die "Entfesselung der Bellona". Immer ging es dabei um die Suche nach der "Signatur der Epoche", über die sich Kunisch aus verschiedenen Perspektiven stets aufs neue Rechenschaft abzulegen suchte. Eine wichtige Rolle spielten dabei - meist über persönliche Freundschaften vermittelte - Impulse aus der Literatur- und Kunstgeschichte, die Kunischs Zugang etwa zur brandenburgischen Residenzenlandschaft oder zur fürstlichen Sammeltätigkeit, zur Historiographie der Aufklärung oder zum Bellizismus der Revolutionsepoche wesentlich inspiriert und bereichert haben. Die Strukturen, um deren Rekonstruktion es Johannes Kunisch zu tun war und ist, werden indessen plastisch erst im Handeln einzelner historischer Gestalten, denen er sich biographisch und rezeptionsgeschichtlich genähert hat: Ernst Gideon Freiherr von Laudon, Prinz Eugen von Savoyen, der Große Kurfürst, König Friedeich Wilhelm 1., vor allem Friedeich der Große. Sein historiographisches Bemühen um diese höchst ambivalente Gestalt, mit der er sich seit langem immer wieder auseinandergesetzt hat, erscheint überaus kennzeichnend für Kunischs Verständnis von Geschichtsschreibung: nämlich als stets erneute, von intensiver Selbstreflexion begleitete Suche nach einem Weg zwischen persönlicher Empathie und wissenschaftlicher Sachlichkeit. Mit dem vorliegenden Band, der Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres gewidmet ist, knüpfen Schüler, Kollegen und Freunde an seine Fragestellungen an und verfolgen sie weiter. Thematisiert werden Diskurse über Nation, Widerstand und gutes Regiment, frühmoderne Normsetzung in Herrschaftsverträgen, Gesetzgebung und Kodifikation, die vormodernen Strukturen des Reiches und seiner Glieder, dynastische Spielregeln und ihre Konflikte, die Erfahrung des Krieges als Katastrophe wie als "Handwerk", nicht zuletzt auch die moderne Frühneuzeit-Forschung selbst, die Kunisch wesentliche Anregungen verdankt. Der Berliner Verlag Duncker & Humblot, mit dem Kunisch eine jahrzehntelange, traditionsreiche und fruchtbare Kooperation verbindet, hat die Gestaltung des vorliegenden Bandes übernommen. Herzlicher Dank zu sagen ist vor allem Prof. Dr. jur. h.c. Norbert Simon, der die Publikation der Festschrift bereitwillig in das Verlagsprogramm aufgenommen hat. Heike Frank betreute wie immer mit großer Sorgfalt und Umsicht die Drucklegung. Ursula Daoudi, Anna Klein, Claudia Strieter in Münster sowie Maria Galas, Thomas Joswiak und Bruno Kuntke in Erlangen ist für vielfältige redaktionelle Hilfen zu danken. Zu seinem 65. Geburtstag wünschen Autoren und Herausgeber Johannes Kunisch, daß er seine Neugier, sein Engagement und seine Sensibilität bewahren und die nötige Muße finden möge, um seine wissenschaftlichen Pläne weiterzuverfolgen. Erlangen und Münster im Spätjahr 2001

Helmut Neuhaus Barbara Stollberg-Rilinger

Inhaltsverzeichnis Erich Meuthen

Konsilien Kölner Professoren zum Utrechter Bistumsstreit (1425/1426) .... . .. . .... . Ulrich Muhlack

Kosmopolitismus und Nationalismus im deutschen Humanismus

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Eberhard lsenmann

Widerstandsrecht und Verfassung in Spätmittelalter und früher Neuzeit . . . . . . . . . . . . . .

37

Winfried Schulze

Die Frühe Neuzeit zwischen individueller Erfahrung und strukturgeschichtlichem Zugriff: Erfahrungen, Defizite, Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Heinz Schilling

Föderalismus und Multi-Konfessionalismus als ungewolltes Erbe Kaiser Karls V. in deutscher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Harm Klueting

Grafschaft und Großmacht. Mindermächtige Reichsstände unter dem Schutz des Reiches oder Schachfiguren im Wechselspiel von Großmachtinteressen: Der Weg der Grafschaft Teekienburg vom gräflichen Territorium zur preußischen Provinz . . . . . . . . 103 Lothar Schilling

Gesetzgebung als Kommunikation. Zu symbolischen und expressiven Aspekten französischer "ordonnances de reformation" des 16. und frühen 17. Jahrhunderts . . . . . . . . 133 Luise Scham-Schütte

"Den eygen nutz hindan setzen und der Gemeyn wolfart suchen." Überlegungen zum Wandel politischer Normen im 16./17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

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Inhaltsverzeichnis

Anton Schindling

Die Deutschen und der Dreißigjährige Krieg. Zeiterfahrung des steten Wechsels und Reichspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Michael Kaiser

"Sed vincere sciebat Haniba1". Pappenheim als empirischer Theoretiker des Krieges 201 Konrad Repgen

Wiener Argumente gegen ein Verbot der Römischen Königswahl zu Lebzeiten des Kaisers durch die Westfälischen Friedensverträge (Juli/ August 1645) . . . . . . . . . . . . . . . 229 Heinz Duchhardt

Der Westfälische Friede im "öffentlichen Bewußtsein" der Vormodeme: lateinische metrische Merkverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Klaus Luig

Die "innoxia utilitas" oder das "Recht des unschädlichen Nutzens" als Rechtsprinzip im Zeitalter des Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Hans-Wolfgang Bergerhausen

Nur ein Stück Papier? Die Garantieerklärungen für die österreichisch-preußischen Friedensverträge von 1742 und 1745 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Heinz Mohnhaupt

Zur Kodifikation des Prozeßrechts in Brandenburg-Preußen: Samuel von Coccejiis "Project des Codicis Fridericiani Marchici" von 1748 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Johannes Burkhardt

Vom Debakel zum Mirakel. Zur friedensgeschichtlichen Einordnung des Siebenjährigen Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Michael Sikora

Ein kleiner Erbfolgekrieg. Die sachsen-meiningische Sukzessionskrise 1763 und das Problem der Ebenbürtigkeit ... . .. . . . . . ........ .. ..... . .. .. .. .. ............. .. .. . . .. . 319 Peter Baumgart

Jüdische Minorität und von der Aufklärung erfaßte Reformstaaten im Reich am Vorabend der Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Inhaltsverzeichnis

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Helmut Neuhaus Die Wiedervereinigung Badens im Jahre 1771 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Barbara Stollberg-Rilinger Die Wahlkapitulation als Landesgrundgesetz? Zur Umdeutung altständischer Verfassungsstrukturen in Kurmainz am Vorabend der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Gerd Heinrich Friedrich Wilhelm Graf Bülow von Dennewitz. General der Befreiungskriege und Beschützer Berlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Hans-Peter Ullmann Kar! August Freiherr von Malchus. Ein Finanzreformer zwischen Ancien Regime und moderner Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Wolfgang Schieder Kar! Marx und die deutsche Revolution von 1848/49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

Schriftenverzeichnis Johannes Kunisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451

Konsilien Kölner Professoren zum Utrechter Bistumsstreit (1425/1426) Von Erich Meuthen, Köln Als consilia bezeichnet man Gutachten jedweder Art, im besonderen Rechtsgutachten 1• Für die Tätigkeit von Rechtsgelehrten im späteren Mittelalter waren sie so kennzeichnend, daß man vorgeschlagen hat, die Rechtslehrer dieser Zeit nicht, wie üblich, als "Postglossatoren" oder "Kommentatoren" (nämlich der maßgeblichen Rechtsbücher) zu führen, sondern als "Konsiliatoren"2 • Die Konsilienforschung erfahrt zur Zeit mannigfachen Auftrieb3 . Doch ist dank ihrer umfangreichen Überlieferung gerade die Kölner Rechtsgelehrtheit jener Epoche in der Konsilienforschung schon seit langem wohlbekannt4 • Ihr sei im folgenden ein bislang wenig beachtetes Zeugnis zugewonnen.

I Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte I, München 1973, 336- 340 und 359 f. (Norbert Horn) . - Von allgemeiner Bedeutung waren die consilia vor allem auch in der Medizin; Nancy G. Siraisi, Medieval & Early Renaissance Medicine. An lntroduction to Knowledge and Practice, Chicago 1990, 243 s. v. consilia. 2 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, 81. 3 Vgl. etwa: lngrid Baumgärtner (Hrsg.), Consilia im späten Mittelalter. Zum historischen Aussagewert einer Quellengattung (Studi 13), Sigmaringen 1995. Zur Systematik einer künftigen Erschließung: Mario Ascheri, I consilia dei giuristi medievali. Per un repertorio-incipitario computerizzato, Siena 1982. - Zur Praktiziereng siehe Eberhard lsenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung in Konsilien reichsstädtischer Juristen (15.-17. Jahrhundert), in: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hrsg. v. Roman Schnur, Berlin 1986, 545-628; ders., Recht, Verfassung und Politik in Rechtsgutachten spätmittelalterlicher deutscher und italienischer Juristen, vornehmlich des 15. Jahrhunderts, in: Hartmut Boockmann (t) usw. (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit II (Abband!. der Akademie der Wiss. zu Göttingen, Philol.-Hist. Kl. III, Nr. 229), Göttingen 2001,47-245. 4 Gotthold Bohne, Die juristische Fakultät der alten Universität Köln in den beiden ersten Jahrhunderten ihres Bestehens, in: Festschrift zur Erinnerung an die Griindung der alten Universität Köln im Jahre 1388, Köln 1938, 109-236, hier 155-189. Dazu Hans-Jürgen Becker, Die Entwicklung der juristischen Fakultät in Köln bis zum Jahre 1600, in: Der Humanismus und die oberen Fakultäten (Mitteilung XIV der Kommission für Humanismusforschung), Weinheim 1987,48: "Von keiner deutschen Fakultät sind in der Friihphase so viele Gutachten bekannt geworden wie in Köln." Erich Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte 1: Die alte Universität, Köln/Wien 1988, 138-140 und 590 s. v. ,Consilien'.

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Erich Meuthen

Die consilia verknüpfen aufs engste Rechtsetzung mit Rechtspraxis und wirken zugleich in der umgekehrten Richtung, wenn sie ihrerseits wieder gesammelt werden und so allgemeine Maßgeblichkeil als Handbuch erlangen5 • Wenn dabei die consilia bestimmter Autoren vereinigt werden, zeigt sich darin die Bedeutung, die den Juristen als einzelnen Gelehrtenpersönlichkeiten zukam. Das betraf nicht nur "ältere", schon selber Rechtsgeschichte gewordene "Klassiker", sondern auch und gerade renommierte Zeitgenossen. Man gewinnt den Eindruck, daß Gutachten nicht zuletzt wegen des Ansehens solcher Juristen erbeten wurden, was indessen kaum überraschend ist; doch kann schon die Häufigkeit, mit der jemand als Konsiliarist begegnet, dem Historiker entsprechende Hinweise auf dessen damalige Bedeutung geben. Wenn man sich dabei gerne Gruppenbescheide holte, in denen sich eine mehr oder weniger große Zahl von Juristen einem ausführlicher gehaltenen Erstgutachten durch ein kurzes, allenfalls knapp begriindendes, peripher ergänzendes Plazet anschlossen, läßt auch dies weniger die Gewichtung des rechtlichen Arguments als vielmehr die in die Waagschale gelegte Bedeutung des beitretenden Kollegen erkennen. Einer der meistzitierten biographisch gewichtigen Belege für Rang und Anerkennung schon des jungen, 1401 geborenen, seit 1425 zu Köln als doctor in iure canonico immatrikulierten Nikolaus von Kues6 dürfte in der Tat sein Gutachten für das Kölner Andreasslift über die Zollfreiheit des Bacharaeher Pfarrweins spätestens im Jahre 1426 sein, dastrotzknapper Ergänzungen lediglich aus einem solchen Beitritt besteht7 . Wenn in der heute Münchner Handschrift, die es überliefert, nicht nur die meist kurzen Zustimmungserklärungen von 69 Rechtsgelehrten wiedergegeben werden, sondern deren Autoren durch Miniaturen in der Handschrift zusätzlich auch optisch präsent sind, scheint dieser personale Aspekt für das Be5 Helmut Coing, Römisches Recht in Deutschland (Ius Romanum Medii Aevi V, 6), Mailand 1964, 208-212 ("Consilien-Literatur"); Guido Kisch, Consilia. Eine Bibliographie der juristischen Konsiliensammlungen, Basel/Stuttgart 1970; Coing, Handbuch (Anm. 1), 340; Vincenzo Colli, I ,libri consiliorum'. Note sulla formazione e diffusione delle raccolte di ,Consilia' dei giuristi dei secoli XIV-XV, in: Baumgärtner, Consilia (Anm. 3), 225 - 235. Zur Vorbildlichkeit siehe etwa Helmut G. Walther, Die Rezeption Paduaner Rechtswissenschaft durch die Aufnahme Paduaner Konsilien in die Nürnberger Ratschlagbücher, in: Baumgärtner, Consilia (Anm. 3), 207-224, sowie ders., Italienisches gelehrtes Recht im Nürnberg des 15. Jahrhunderts, in: Boockmann, Recht und Verfassung (Anm. 3), I (Abband!. der Akademie der Wiss. zu Göttingen, Philol.-Hist. Kl. III, Nr. 228), Göttingen 1998,215-229. 6 Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hrsg. v. Erich Meuthenl Hermann Hallauer, II 1, Harnburg 1976, Nr. 25. Vgl. im übrigen: Nikolaus von Kues als Kanonist und Rechtshistoriker, hrsg. v. Klaus Kremer I Klaus Reinhardt (Mitt. u. Forsch.beiträge der Cusanus-Gesellschaft, 24), Trier 1998; Erich Meuthen, Nikolaus von Kues als Jurist, in: Recht und Verfassung (Anm. 3), 247-275. 7 Alois Schmidtl Hermann Heimpel, Winand von Steeg (1371-1453), ein mittelrheinischer Gelehrter und Künstler und die Bilderhandschrift über Zollfreiheit des Bacharaeher Pfarrweins auf dem Rhein aus dem Jahr 1426 (Handschrift 12 des Bayerischen Geheimen Hausarchivs zu München) (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Abhandlungen, NF 81), München 1977; Acta Cusana (Anm. 6) I, 11 f., Nr. 33.

Konsilien Kölner Professoren zum Utrechter Bistumsstreit

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gutachtungsgeschäft insgesamt nicht ohne Belang gewesen zu sein. Der Besteller der Gutachten, Winand von Steeg, Pfarrer in Bacharach8 , war ein passionierter Hobby-Maler und dürfte als ein solcher die Gutachter hier recht gerne nicht nur zitiert, sondern auch gemalt haben. Zudem stellte er sich damit in eine buchmalerische Tradition eigener Art, die mit dem Begriff "Autorenbild" verbunden ist9 und wieder auf den personalen Aspekt hinlenkt Die große Zahl der hier vereinigten Gutachter (41 "Kölner" und 16 "Heidelberger"10) läßt die sich allein schon in der Teilnahme anzeigende Bedeutung jedes einzelnen freilich wieder etwas zuriicktreten; nicht so sehr einzelne Gelehrte, sondern zwei Professorengruppen fallen zunächst in den Blick. Einer unter den "Kölnern" ist unser Doktor im kanonischen Recht von der Mosel. Eine bisher nicht näher beachtete, wieder von sieben "Kölnern" bestrittene Konsiliensammlung aus etwa derselben Zeit zeigt Nikolaus nun ein zweites Mal als Gutachtern. Es handelt sich dabei um zum Teil recht bekannte Juristen, die noch im einzelnen vorzustellen sind. Im Unterschied zum Streit um die Zollfreiheit des Bacharaeher Pfarrweins handelt es sich jetzt um eine politisch hochkarätige Problematik, wie man den hier zur Rede stehenden Machtkampf um Kirche, Stadt und Stift Utrecht denn wohl einzustufen hat. Er verquickte die Interessen ihrer politischen Führungskräfte mit den von außen in den niederländischen Raum hineinzielenden Ambitionen, wie sie im besonderen der burgundischen Expansion eigen waren. Eine Vakanz im Utrechter Bischofsamt führte dann leicht zu einer bedrohlichen Eskalation und Destabilisierung der politischen Verhältnisse 12• So auch 1423 13 . s Enno Bünz, Winand von Steeg, in: Verfasserlexikon X/3-4 (1998), 1181-1189 (hier die weitere umfangreiche Literatur aus jüngster Zeit). 9 Speziell zu Handschrift 12: Marie Grass-Comet, Cusanus und einige seiner Tiroler Zeitgenossen im Bildnis, in: Cusanus-Gedächtnisschrift, hrsg. v. Nikolaus Grass, Innsbruck, München 1970, 535 - 550 (hier 536 f.). Allgemein: J. M. Plotzek, Bildnis II, in: Lexikon des Mittelalters II/ I (1981), 159-167 (hier 164). Vgl. auch Peter Volkelt, Die Philosophenbildnisse in den Commentarii ad opera Aristotelis des Cod. Cus. 187, in: Mitt. u. Forsch.beiträge der Cusanus-Gesellschaft, 3 (1963), 181-213 (hier 187 f.). Zu den Bildnissen in der Münchner Handschrift vgl. im übrigen auch Schmidt I Heimpel, Winand von Steeg (Anm. 7), 57 f. und 64-66. 10 Schmidtl Heimpel, Winand von Steeg (Anm. 7), 63. 11 In den Acta Cusana (Anm. 6) noch nicht erlaßt. Waren die ,Acta' von Anfang an um Vollständigkeit bei der Sammlung einschlägigen Quellenmaterials bemüht, so ließ die geschichtliche Vielfalt, in der sich dieses Leben abspielte, gleichwohl schon bald noch weitere, bis dahin unbekannte Dokumente auftauchen. Ihre Präsentation in einem späteren Nachtragsband wird sich allerdings noch hinzögem, obschon sie biographisch nicht ohne Belang sind, wie das hier vorzustellende consilium des jungen Cusanus zeigen möge. 12 Zum ersten Überblick etwa: D. A. Berents, Het Sticht Utrecht, Gelre en Friesland 1423-1482, in: Algemene Geschiedenis der Nederlanden IV, Haarlern 1980, 292-~03 ; Walter Prevenier I Wim Blockmans, Die burgundischen Niederlande, Weinheim 1986, 242 - 251 ("Kirche und Staat") und 252-280 ("Schlüssel zur Macht").

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Erich Meuthen

Nach dem Tode des Bischofs Friedrich von Blankenheim am 9. Oktober 1423 kristallisierte sich bei den wahlberechtigten fünf Utrechter Stiftskapiteln schon bald die immer stärkere Kandidatur des Rudolf von Diepholz heraus. Domherr in Köln, hatte er ebendort studiert 14. Er wurde im besonderen durch Herzog Adolf von Kleve favorisiert 15 • Das hieß zugleich: Durch Herzog Philipp von Burgund, dessen geflissentlichster Förderer am Niederrhein der Ehemann seiner Schwester Maria, eben Herzog Adolf, war 16• Rudolf erlangte schließlich 59 von 73 Stimmen. Die Bestätigung seiner Wahl durch Papst Martin V. blieb freilich aus. Dieser übertrug das Bistum zunächst dem Speyrer Bischof Raban von Helmstadt 17, sodann am 6. Februar 1425 demUtrechter DompropstSweder von Culemborg 18, der nun von 13 Hierzu ausführlich J. de Hullu, Bijdragen tot de geschiedenis van het Utrechtsche Schisma, 's-Gravenhage 1892; R. R. Post, Geschiedenis der Utrechtsche Bisschopsverkiezingen tot 1535 (Bijdragen van het Instituut voor Middeleeuwsche Geschiedenis der Rijks-Universiteit te Utrecht, XIX), Utrecht 1933, 120-163; R. R. Post, Kerkgeschiedenis van Nederland in de Middeleeuwen II, Utrecht 1957, 1-21; Hugo Stehkämper; Zum Parteiwechsel der fünf Utrechter Stadtstifte im Verlauf des großen Schismas, in: Bijdragen en Mededelingen van het Historisch Genootschap 76 (1962), 75-79. Weiteres bei Heribert Müller; Die Franzosen, Frankreich und das Basler Konzil (1431 - 1449), Paderborn usw. 1990, 112 und !Oll s. v. ,Utrecht'. 14 Paul Berbee, Diepholz, Rudolf Graf von (1400-1455), in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches von 1448 bis 1648, Berlin 1996, 127 f. Zum Kölner Studium (1405 als can. Col. für die artes immatrikuliert) siehe Hermann Keussen, Die Matrikel der Universität Köln I (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, VIII), 2. Aufl. Bonn 1928, 120. Das von BerMe angegebene Geburtsjahr " 1400" dürfte im Hinblick auf das Jahr der Immatrikulation wohl nicht stimmen, bedarf jedenfalls der Nachprüfung. 15 Post, Geschiedenis (Anm. 13), 128. Notierenswert hierzu: Am 2. Juli 1426 erscheint Nikolaus von Kues als Zeuge in einem Schiedsspruch über den Streit Herzog Adolfs von Kleve mit seinem Burder Gerhard von der Mark; Acta Cusana (wie Anm. 6), Nr. 32. Das enge persönliche Verhältnis, das zwischen Adolf und Nikolaus bestand, ergibt sich aus zahlreichen Belegen; siehe etwa Nr. 148, 150-152 und 158 f. 16 Richard Vaughan, Philip the Good. The Apogee of Burgundy, London 1970, 441 s. v. ,Cleves'. Zur Bedeutung dieser Ehe für die Geschichte des Hauses Kleve (1417 Erhebung zu Herzögen) siehe: Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg, Kleve 1984, 360-364. Zu Philipps Politik in Utrecht siehe Vaughan 224 f. Ferner auch A. G. Jongkees, Staat en Kerk in Holland en Zeeland onder de Bourgondische hertogen 14251477,Groningen 1942,133-145. 17 Mit dem Nikolaus von Kues es als Kanzler des Trierer Elekten Ulrich von Manderscheid einige Jahre später im Streit um die Kirche von Trier in überaus problematischer Weise zu tun haben wird; Erich Meuthen, Das Trierer Schisma von 1430 auf dem Basler Konzil (Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, I), Münster 1964; Hermann Heimpel, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162-1447, Göttingen 1982, 381-610 und 1372-1504; des weiteren: Acta Cusana I (wie Anm. 6), 4 (Literatur und Register zu Band 1), Harnburg 2000, 1760 s. v. ,Raban von Helmstadt'. Zur Kandidatur in Utrecht: Acta Cusana I, 159 f., Nr. 230a. Bei Heimpel (wie oben), 459 f., die Utrechter Sache nur knapp. 18 Hierzu die in Anm. 13 angeführten Studien von de Hullu und Post. Ferner auch: Kar/ August Fink, Repertorium Germanicum. Verzeichnis der in den päpstlichen Registern und Kamerah!ften vorkommenden Personen usw. IV. Martin V., 111. Teilband, Berlin 1958, 3431 f. In der Kunstgeschichte spielt Sweder eine wichtige Rolle als Förderer der nordniederländischen Buchmalerei, innerhalb derer sein heute als Hs. C 20 in der Bibliothek des Brixner

Konsilien Kötner Professoren zum Utrechter Bistumsstreit

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Herzog Philipp ins Spiel gebracht worden war. Sweder konnte sich aber nur mühsam in den Besitz größerer Stiftsteile bringen und erst im August 1425 in die Bischofsstadt einziehen. Bereitsam 16. April hatte Martin V. drei Kommissare ernannt, dieSweder zum Besitz verhelfen sollten: den Erzbischof von Köln, den Abt von Marienweerd und den Dekan des Kapitels von Culemborg. Nach vorheriger Androhung, über alle Anhänger Rudolfs bzw. alle Orte, an denen sich solche aufhielten, Exkommunikation und Interdikt zu verhängen, wogegen Rudolf und seine Anhänger an den Apostolischen Stuhl appellierten, verkündete der Abt im September 1425 die in Aussicht gestellten Zensuren. Allerdings hatte der Papst die Appellation zuvor schon in den kurialen Geschäftsgang gegeben und dem Kardinal von Venedig (Francesco Lando, t 1427 XII 26) zur Weiterbearbeitung anvertraut. Im übrigen gewann Rudolf bald die Oberhand. Schon ein Jahr später mußte Sweder die Bischofsstadt wieder aufgeben. Die weltlichen Stände hatten das Heft in die Hand genommen und trugen Rudolf am 8. Oktober 1426 die Regentschaft auch über das Niederstift an. Die Utrechter Stiftskapitel mußten nun sehen, wie sie aus der Sache herauskamen. Auf Veranlassung der Stände begannen die Stiftsherren, die in der Stadt geblieben waren, wieder mit dem Gottesdienst, obwohl noch Anhänger Sweders in der Stadt weilten. Am 3. Januar 1427 erkannten sie insgesamt Rudolf als Administrator an und wiederholten dies am 14. Februar. Andererseits mußten sie aber nun vor allem mit der römischen Kurie zurechtkommen. Exkommunikation und Interdikt hatten nach wie vor allgemein anerkannte Bedeutung. Und so leiteten sie mit einer neuen Appellation am 14. November 1426 zugleich die damit intendierte Aufhebung der Zensuren ein. In der Tat hob der Papst sie am 24. Januar 1427 auf. Freilich nahm er noch nicht von Sweder Abstand. Erst am 10. Dezember 1432 wurde die Kirche von Utrecht durch seinen Nachfolger Eugen IV. mit Rudolf von Diepholz providiert.

Priesterseminars verwahrtes Missale (mit Stifterbild) eine im besonderen herausragende Rolle spielt. Der heutige Verwahrort hat die Forschung, wenngleich nur randhaft, dazu verleitet, den künftigen Brixner Bischof Nikolaus von Kues mit Sweder und dem Missale in engere Verbindung zu bringen, da dieser bis zu seinem Tode im September 1433 wie Nikolaus auf dem Basler Konzil weilte. So z. B. noch Caterina Limentani Virdis, Codici miniati fiamminghi e olandesi nelle Biblioteche dell' Italia nord-orientale, Vicenza 1981, 35 (hier die kunstgeschichtliche Literatur). Kritisch: Hermann Josef Hallauer; Cusana in der Bibliothek des Priesterseminars zu Brixen, in: Mitt. (Anm. 6) 19 (1991), 57. Freilich ist von näheren persönlichen Beziehungen nichts bekannt, und das berühmte Missale ging von Sweder damals auf einen anderen, ebenfalls prominenten Konzilsvater, nämlich den Patriarchen von Aquileja, Ludwig von Teck, über, später sodann auf den Augsburger Domdekan Ulrich von Rechberg (t 1501), der zugleich Dornherr in Brixen war. Alles hierzu Einschlägige jetzt, grundlegend, bei Eduard Scheiber; Niederländische Buchmalerei. Die Miniaturen des Culenborch-Missales in Brixen. Der Kodex C 20 in der Bibliothek des Priesterseminars von Brixen. Das Missale des Utrechter Bischofs Zweder van Culenborch . . . Eine illuminierte Handschrift der holländischen Schule, Bozen 1992. Für freundliche Hinweise seien Hermann Hailauer und Eduard Scheiber bedankt.

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Wenn in diesem notgedrungen knappen Bericht über den Utrechter Bistumsstreit die Ereignisse von 1425 bis in den Jahresanfang 1427 etwas detaillierter vorgestellt wurden, so im Vorblick auf die nun zur Sprache gelangenden "Kölner" Konsilien, die nämlich, selber zwar undatiert, gleichwohl, wie sich zeigen wird, in ebenjene Zeit weisen. Freilich wird es nicht mit der speziell "Utrechter" Perspektive sein Bewenden haben; placieren die Konsilien sich zeitlich doch genau zwischen die Kirchenversammlungen von "Konstanz" und "Basel". Die päpstliche Provision mußte geradezu von selbst in die damalige Diskussion um das rechte Kirchenverständnis geraten, wie es denn auch geschah. Doch zunächst zur Überlieferung der Konsilien. Sie sind zweimal abschriftlich in je einem Pergamentheft zu Zwolle im Rijksarchief der Provinz Overijssel (künftig Z) 19 bzw. im Rijksarchief zu Utrecht (künftig U)20 erhalten. Hier wie dort dürften sie von jeweils ein und derselben Hand in einem Zuge niedergeschrieben sein. Ob die eine Kopie die andere zur Vorlage hatte, läßt sich nicht sagen und ist eher zweifelhaft. Da der Kreis der von der Sache persönlich Betroffenen nicht gerade klein war, ist mit weiteren Kopien zu rechnen. Z, bestehend aus 16 Quartseiten, ragt mit 29,6 x 21,8 cm über die 28,5 x 19,5 cm messende Handschrift U etwas hinaus, die 29 Seiten umfaßt. Beide Kopien sind mit Sorgfalt geschrieben und werden durch Freiräume zwischen den einzelnen Textstücken übersichtlich gegliedert. Allerdings ist Z durch Abrieb auf den Seiten 12 und 13 nahezu unlesbar geworden. Das ist um so ärgerlicher, als ausgerechnet auch das Votum des Cusanus davon betroffen ist. Offenbar zur Erleichterung der Lektüre ist in Zeine 57seitige jüngere Abschrift beigefügt, die aber ihrerseits wieder umfangreiche Lesefehler und vor allem auch Textlücken aufweist, wo der Schreiber mit der unleserlich gewordenen Vorlage nun ganz und gar nicht mehr zurechtkam. Die Abschrift dürfte von einem Amanuensis des Historikers Pieter Bondam (1727 -1800) stammen21 , der Professor der Rechte zu Utrecht war und in dessen Besitz die Handschrift Z sich denn auch wohl befand. 19 S. Muller Fz., Catalogus van het Archief van de Bisschoppen van Utrecht, Utrecht 1906, 4, Nr. 2. Heutige Signatur: Collectie Kleine Aanwinsten, Inv. nr. 1890.1. Freundliche Auskünfte zur Handschrift durch drs. P. W. J. den Otter. 20 Muller; Catalogus (wie Anm. 19) 5, Nr. 29bis (mit Datierung "2de helft der 15de eeuw", die mir aber als zu spät erscheint); Christine van Wijnbergenl Hanmut Zapp, Verzeichnis kanonistischer Handschriften in den Niederlanden (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft, 3), Würzburg 1988, 200; A. J. de Groot/ E. C. C. Coppens, Manuscripta canonistica latina. Elenchus codicum necnon diplomatum iuris canonici ante a. 1600 in bibliothecis ac archivis neerlandicis, Nijmegen 1989, 329. Heutige Signatur: Archief bisschoppen van Utrecht, inv. nr. 29-1. Kurze Erwähnungen auch bei de Hullu, Bijdragen (Anm. 13), 57 Anm. 2, und danach bei Stehkämper; Zum Parteiwechsel (Anm. 13), 78. Wie zu erwarten, keine Berücksichtigung, soweit ich sehe, in der älteren, aber grundlegenden Dokumentensammlung zum Utrechter Schisma von Antonius Matthaeus, Veteris aevi analecta, von mir benutzt in der Editio secunda, Tomus quintus et ultimus, Haag 1738, 403-495 (Prioris editionis ... Tomus Nonus). 21 Laut Mitteilung von den Otter: Van Musschenbroek?

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Den Angaben bei Muller könnte man entnehmen, daß U hinsichtlich der Authentizität hinter der im Jahre 1890 nach Zwolle gelangten Handschrift zurückstehe, also lediglich eine unverbindliche Abschrift darstelle. Das ist unzutreffend, da keines der beiden Stücke authentisierende Kanzleimittel (wie Siegelung, notarielle Instrumentierung) vorzeigt. Bis auf den letzten, nur in Z überlieferten Text bieten Z und U dieselben sich zugunsten der Anhänger Rudolfs von Diepholz äußernden Schriftsätze in übereinstimmender Reihenfolge, nämlich: 1) eine Sammlung von vier "Kölner" Gutachten zur Utrechter Streitsache (p. 18 bzw. f. 1r_7v). 2) ein Gutachten des berühmten, damals in Siena lehrenden Kanonisten NieaIaus de' Tudeschi, des später nach seinem Bischofssitz Palermo üblicherweise so genannten Panormitanus, über den gleich noch einiges zu sagen ist (p. 8- I 0 bzw. f. 8r-9r).

3) eine protestacio in resumpcione divinorum facta der fünf Utrechter Kapitel (p. 10 f. bzw. f. 9rv). 4) eine zweite Sammlung von fünf weiteren Gutachten "Kölner" Gelehrtenprovenienz (p. 11-13 bzw. f. 10r-12v). Zwei der fünf Gutachter, Johannes de Caminata und Wilhelmus de Wege, sind identisch mit solchen der ersten Sammlung. 5) nicht näher namentlich gezeichnete consultaciones doctorum alme universitatis studii Parisiensis prohabiles pro parte postulati domini R. de Diepholt, in U noch ergänzt um die Titelangabe: Scripta sive consultaciones magistrorum Parisiensium(p.13-15bzw. f.12v-14v). 6) die Bulle Mactins V. vom 24. Januar 1427 an den Abt von Marienweerd zugunsten der Diepholzer, mit der er auf ihre Appellation vom 6. Oktober bzw. 14. November 1426 positiv reagiert und alle Pfründenübertragungen und Vorteile kassiert, die bislang Anhängern Sweders zugekommen waren (p. 15 f. bzw. nur: Ex bulla infine, f. 14v).

Der erste "Kölner" Konsilienkomplex beginnt unvermittelt, wie dies bei solchen Gutachten üblich war, mit einer Fallbeschreibung (Casus est iste), an die sich nun juristische Überlegungen anknüpfen. Als Autor wird der Kanonist Iohannes de Vurburch genannt. Wir erfahren hier, daß der Utrechter Bischof Sweder von dem durch den Apostolischen Stuhl als Kommissar eingesetzten Abt von Marienweerd, zugleich namens seiner Mitkommissare (s. o.), ein Monitorium gegen alle erlangt hatte, die Sweder am friedlichen Besitz seiner bischöflichen Einkünfte hinderten, und daß sie den schwersten Kirchenstrafen verfallen würden, wenn sie bis zu einem festgesetzten Termin nicht davon abließen. Sie hätten in der anberaumten Frist aber dagegen an den Apostolischen Stuhl appelliert, da sie den im Monitorium gesetzten Gerichtstermin wegen mangelnder Sicherheit (quod non pateret eis tutus accessus ad locum, ad quem evocati fuerint) nicht hätten wahrnehmen können, weder in der darin genannten Stadt Utrecht noch in Marienweerd. Aus eben-

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diesem Grunde hätten sie dem Kommissar auch nicht ihre Appellation in der vorgeschriebenen Weise vorlegen können. Gleichwohl habe der Abt dann die angedrohten Strafmaßnahmen, nämlich die Verhängung von Exkommunikation und Interdikt, über all jene angeordnet, die sich der päpstlichen Entscheidung widersetzten. Inzwischen sei ihre Sicherheit in der Stadt indes wiederhergestellt, so daß sie dem Domkapitel ihre Appellation an den Apostolischen Stuhl bekanntgeben könnten. So aber auch die aufgrund ihrer Appellation erfolgte Zitation des Abtes und der anderen Exekutoren durch den Kardinal von Venedig, den der Papst mit der Untersuchung im kurialen Verfahren betraut habe22• Nun die Frage: Da es sich mit der Appellation und den Appellanten so wie angegeben verhält, darf man unter diesen Umständen, obwohl sich solche von ihnen noch in der Stadt aufhalten, dennoch den Gottesdienst wiederaufnehmen und folgenlos erneuten Verkehr mit ihnen haben, wenngleich sie selbst mit den Zensuren belastet sind (wobei es peinlich vermieden wird, diese Appellanten als Anhänger Rudolfs von Diepholz zu bezeichnen). Das Gutachten bejaht es, da nämlich vor der Verhängung eingelegte Appellationen die Fortsetzung eines Verfahrens nach kanonischem Recht verhindern23 . Ebendies sei hier der Fall. Die Domherren, die als Auftraggeber der Gutachten immer deutlicher werden, waren durch ihre Frontwechsel in eine nicht ganz einfache Argumentationslage geraten. Der ins Feld geführte Mangel an tutus accessus sollte da heraushelfen: Die Appellanten hätten ihr Vorgehen dem Domkapitel aus Sicherheitsgründen nicht mitteilen können. Erst nachdem diese Sicherheit geleistet sei (cum iam pateat tutus accessus et non prius), sei ihm Kenntnis von der Appellation und von der Unzulässigkeit des weiteren Verfahrens durch den Abt von Marienweerd zugekommen. Die Zensuren seien also unzulässig. Dieser kanonistischen Argumentation schließt sich der Hinweis auf Stiftsstatuten an, die dem Domkapitel zur Rechtfertigung seines Verhaltens dienen konnten. In erster Linie ging es dabei um die Wiederaufnahme des Gottesdienstes, da sich Befürchtungen für das religiöse Leben aufdrängten, deren Bedrohlichkeit auch der Kurie weitervermittelt werden sollte24• Im übrigen bot sich für die Kurie ein poli22 Franciscus Landus, Patriarch von Konstantinopel, t 1427 XII 26; Conradus Eubel, Hierarchia catholica Medii Aevi I, 2. Aufl. Münster 1913, 32. Er wurde bereits oben genannt. 23 Z. B. geradezu maßgeschneidert, aber offensichtlich in Anlehnung an das Gemeinrecht (vgl. c. 20 C. II q. 1 und c. 5 X de app. II 28, samt Glossen): Maxime cum quinque capitu1a ecclesiarum Traiectensium servare consueverunt inter cetera eorum statuta hoc statutum quod sequitur: Si quis a processibus alicuius iudicis vel executoris quacunque auctoritate fungentis appellaverit, capitulum nostrum de hoc per testes vel instrumenta appellacionis certificaverit, quamvis executor appellacioni non detulerit et appellantem excommunicet vel procedat aliter contra eum, communicatur illi de consuetudine in divinis, quamdiu est in prosecucione appellacionis nec nos super iusta vel iniusta appellacione vel super desertione ipsius habemus aliquid diffinire, antequam superior, ad quem appellatum est, de hoc procedens cognoverit et diffinierit. 24 ltem quia magna pars cleri supradicti inherendo appellacioni et statutis supradictis non cessat neque interdieturn observat, oritur scandalum in populo et maximum periculum immi-

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tisch eleganter Ausweg aus der Krise an: Die Personalentscheidung (Sweder oder Rudolf) blieb, wie erwähnt, weiter in der Schwebe. Der sich über mehr als drei Seiten erstreckende Text mündet in das Votum: /ta ut premittitur; videtur michi Johanni de Vurburch decretorum doctori probabiliter posse fieri et in iure defendi salvo semper iudicio meliori. In cuius testimonium me subscripsi et sigillum meum apposui. Es erhebt sich allerdings die Frage, ob Vurburch den ganzen Text in der hier dargebotenen Weise Wort für Wort formuliert hat, ihm also lediglich der Schlußspruch zuzuweisen ist, um den es, im besonderen auch wegen der namentlichen Nennung des Gutachters, ja vor allem ging. Nach einem erneuten kleinen Spatium knüpft der Autor des nächsten Gutachtens sofort auch namentlich an die Beurteilung durch seinen Kollegen an: Item quod supra dicitur; videtur michi Johanni de Caminata decretorum doctori per iura et raciones supra allegatas, et presertim usw., wie nachfolgend dargelegt werde. Es handelt sich um weitere Überlegungen zum gerichtlichen Procedere, zu Zitation, Appellation usw. in notorio im Hinblick auf die entsprechende Argumentation der Gegenseite. Der Absatz endet formelhaft auch hier: In cuius rei testimonium manum propriam apposui et sigillum salvo iudicio melius sencientis. Das nächste consilium übernimmt aus dem Originaltext sogar die Invocatio: In nomine sancte et individue trinitatis usw. mit der dann wieder restringierenden Bemerkung: Casu de resumpcione (nämlich der Wiederaufnahme des Gottesdienstes durch die ungehorsame Geistlichkeit) brevitatis causa omisso unacum recitacione duorum statutorum usw. Jedenfalls wissen wir jetzt ganz sicher, worum es hier ständig geht, nämlich: An clerici possint communicare impune, wie das in fine casus oben schon angemerkt sei. Es folgt ein sich über vier bzw. sechs Seiten erstrekkender Text zu diesem Thema, der mit der Bemerkung abgeschlossen wird: Sicut iu.xta casus posicionem et super dubiis emergentibus et positis venerabiles domini mei primo et ultimo locis scribentes hic senserunt (also Johannes de Vurburch und Johannes de Caminata) et quemadmodum ego hic scripsi unacum eis super eadem materia, ut videri potest in scriptura mea incipiente ,In nomine sancte ' (s.o.), ita apparet michi fore censendum et huiusmodi scripturas dico in iure et contenta in eisdem defendi posse. In cuius rei testimonium ego Wilhelmus de Wege legum doctor, advocatus in curia Coloniensi hic me propria manu subscripsi et sigillo meo signavi. Das consilium wurde also in zweierlei Weise ausgebracht: einmal als Volltext, sodann in Kurzform, wo es sich, wie an dieser Stelle, auf sich selbst bezieht. Gruppengutachten gingen demnach zwar von geschlossenen Einzeltexten aus, bearbeiteten diese dann aber in mannigfacher Weise - durch Kürzungen, Splitterunnet sedicionis etiam contra eierum propter difformitatem observancie huiusmodi. Nunquam ergo clerus cessans poterit se licite conformare clero non cessanti ad vitandum scandalum et periculum predictum cum protestacione, quod non in contemptum clavium hoc faciunt, sed ob causam predictam, et quod parati sunt et erunt obedire mandatis superioris iudicis, ad quem appellatum est.

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gen und Textzusammenfügungen, Erläuterungen und Ergänzungen usw. - zu einem neuen Gesamttext Das schloß die simple Reihung von Einzelstellungnahmen natürlich nicht aus, legitimierte sie vielmehr geradezu. So schließt sich dem Votum des Wilhelmus de Wege ohne sachliche oder auch nur textliche Zuschneidung als nächstes Stück das Gutachten des Wymarus de Wachtendonck an, licentiatus in legibus, ebenfalls advocatus in curia Coloniensi: Confirmo me dictis venerabilium dominorum subscribencium super casu proposito et dubiis ex eo emergentibus, et prout ipsi scribunt, videtur michi de iure posse fieri et defendi. Und etwas später: In cuius testimonio usw. wie die anderen Gutachter. Desgleichen natürlich die Frage, ob beide Advokaten dieses consilium nicht gemeinsam erarbeitet haben oder ob sich der zweite mit seinem Votum lediglich anhängte. Nach einem Spatium in beiden Handschriften folgt eine neue Fallbeschreibung: Casus in effectu talis est. Sie paßt bis ins Detail auf den Fall "Utrecht", wie wir ihn nun schon hinreichend kennengelernt haben; jedoch wird kein Name genannt. Die einschlägigen Bestimmungen des kanonischen Rechts zum Themenkreis: Zensuren, Appellation dagegen, Aufhebung usw. begegnen wie in den vorhergehenden Texten. Kein Zweifel, daß wir es auch hier mit einem consilium in der Utrechter Sache zu tun haben, also nicht mit einem konstruierten Fall. Die Stellungnahme endet mit dem Ergebnis: Et ita ut supra per me conclusum extitit, dico et consulo iuris esse. Nicolaus de Sicilia, abbas Moniacensis, decretorum doctor; Senis actu legens. Et in testimonium me propria manu subscripsi et sigillum meum imprimi feci. Es handelt sich bei dem Autor um einen der angesehensten Kanonisten seiner Zeit, den schon erwähnten Nicolaus de Tudeschis, der Abt des sizilianischen Klosters (daher auch: abbas Siculus) S. Maria di Maniace bei Randazzo und damals Professor in der Universität von Siena war5 . Hier wird deutlich, welche Rolle der Rang der Gutachter bei der Bemühung um erfolgreiche Konsilien spielte. Umsonst hat er's wohl nicht getan. Jedenfalls war er ein sehr gesuchter Konsiliarist, dessen 25 Eine biographische Gesamtdarstellung gibt es bislang nicht. V gl. die bei Knut Wolfgang Nörr; Kirche und Konzil bei Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus) (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, 4), Köln/Graz 1964, 3 f. (vgl auch 8 f.), zusammengestellte Literatur, darunter vor allem: Charles Lefebvre, Panormitain, in: Dictionnaire de Droit Canonique VI, Paris 1957, 1195 - 1215; Paul Ourliac/ Henri Gilles, La periode post-classique (Histoire du Droit et des Institutions de l'Eglise en Occident publie sous Ia direction de Gabriet Le Bras, XIII), Paris 1971, 90. Anführung der zahlreichen Inkunabeln u. a. bei loh. Friedrich von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur des Canonischen Rechts II, Stuttgart 1877, 313; ferner Lefebvre (wie oben). Dazu neuerdings z. B. Mario Tedeschi, Nicolo dei Tedeschi in Spagna, in: Revista Espaiiola de derecho can6nico 52 (1995), 499-518 (Handschriften und Inkunabeln in Spanien), sowie: Nicolo dei Tedeschi al Concilio di Basilea, in: ebd. 53 (1996), 453-463. Weiteres siehe bei Herbert Kalb, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3VII, Freiburg 1998, 869. Dazu u. a. aber auch noch Hans-Jürgen Becker; Die Appellation vom Papst an ein allgemeines Konzil (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgesch. und zum Kirchenrecht, 17), Köln/Wien 1988, 318-326.

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Gutachten sogleich Standardcharakter hatten und zu einer zweihändigen, als Handbuch benutzten Sammlung von 221 Konsilien führten 26. Bislang noch nicht als Konsilium für Utrecht verifiziert, findet sich das hier zur Rede stehende Gutachten als dreiunddreißigstes im ersten Band dieser Sammlung27 • Vergleichen wir es mit den "Kölnem", so fallt auf, daß es sich mit der prozeßrechtlichen Frage (Einsatzmöglichkeit von Appellationen) begnügt, nicht in die Richtung scandalum in populo und periculum sedicionis contra clerum weiterargumentiert. Sicher ist es aber nicht von ungefähr, daß sich in den beiden Handschriften zu Utrecht und Zwolle, wie oben schon notiert, gleich danach eine Protestatio in resumptione divinorum factader Utrechter Kapitel anschließt. Damit wird aber auch über die prozeßrechtlichen Fragen hinaus, die im übrigen als solche weiterhin in der Diskussion bleiben, zu allgemeinen Problemen der kirchlichen Rechtsordnung übergegangen, die epochal aktuell waren und sich unschwer aufdrängten. Wiederum handelt es sich um ein Gruppenkonsilium, an dem sich fünf "Kötner" Rechtsgelehrte beteiligen. Der Gruppencharakter wird durch eine Überschrift eigens betont: Sequuntur consultaciones doctorum Coloniensium super aliquibus dubiis infrascriptis. Zunächst gibt es freilich noch einen Bericht über den Geschehensverlauf seit der Vakanz von 1423 unter betonter Hervorhebung der Illegitimität und der verbrecherischen Handlungen Sweders von Culemborg. Daran anschließend nun die dubia, zu denen die fünf "Kötner" gutachtlich Stellung nehmen, als da behandelt werden: Kann die Kirche von Utrecht noch irgendeinem anderen übertragen werden, nachdem sie sich mehrheitlich für Rudolf von Diepholz entschieden hat? Waren Städte und Ritterschaft wegen der Verbrechen und Mißstände anzuhören, ehe appelliert wurde? War die Appellation gegen das Verfahren des Abtes von Marienweerd gültig? Und dann ganz prinzipiell: Kann gegen die Verweigerung von Gerechtigkeit durch den Papst appelliert werden? Et qualiter et quale remedium in hoc habendum. Solchen Fragen eignet weithin ein unbestreitbar brisanteres Format als jenen, die zunächst zur Rede standen. Die erste übergehend, die nämlich zur Zeit nicht aktuell sei (man nimmt offensichtlich Rücksicht auf den Apostolischen Stuhl), befaßt sich der Gutachtertext sogleich ausführlich mit dem zweiten Dubium. Gestützt auf zahlreiche Aussagen beider Rechte heißt es hierzu: Quod laici possunt se opponere, ne certa persona eligatur, quia forte inimicus regentium . . . Et in hoc casu valet appellatio (so nämlich nach c. 31 X de iureiur. II 24) .. . Et si confirmatio fit absentibus partibus non consentientibus, debent postea audiri (so ebendort c. 13 nach Innocenz IV.). Ob beide Dekretalen hier nicht Iaikai überinterpre26 Siehe oben Anm. 25 (Schulte). Die Zahl nach Nörr, Kirche und Konzil (Anm. 25), 5 f. Zur Überlieferung siehe Colli, I ,libri consiliorum' (Anm. 5), 232, nach Andrea Romano. 27 Ich benutzte die venezianischen Drucke von 1591 und 1617: Abbatis Panormitani Consilia iurisque (iuris) responsa ac (et) quaestiones ornnibus cum iudicantibus turn consulentibus apprime conducentia (quaestiones super diversis causarum articulis disceptatae) f. 17r.

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tiert sind, stehe freilich dahin; die tragende Tendenz ist gleichwohl offenkundig. Nach der Anführung weiterer Einzelprobleme wird das Gutachten schon bald wieder grundsätzlich: Est autem advertendum, quod laici diocesani vel parrochiani audiuntur contra clericum et eorum episcopum sive opponant se per viam exceptionis contra electum sive con.firmatum sive per viam denunciationis vel accusationis ad remotionem a bene.ficio (so unter Berufung auf c. Cum litteris, womit offensichtlich c. 33 X de testibus II 20 gemeint ist, sowie c. 3 und c. 7 samt Glosse). Die Utrechter Gutachten greifen damit über den Einzelfall weit hinaus. Hierzu muß man wissen, daß die dortigen Wahler unter dem starken Druck der weltlichen Stiftsstände handelten. Die Gutachter verteidigen deren Mitsprache bei der Bischofswahl. So stellt das Utrechter Schisma eine entscheidende Etappe ständischer Entfaltung dar28 • Wir fragen natürlich, ob die Gutachter sich ihrerseits auch prinzipiell dahinterstellten, verfassungsrechtlich ebenso orientiert waren. Nun, von einem der fünf wissen wir es genau, nämlich von Nikolaus von Kues, der beim Ausbruch des Trierer Bistumsschismas im Jahre 1430 das Konsensprinzip als genuines Recht der Trierer Stiftsstände stilisierte. Der Trierer Streit bedeutete, wie das Utrechter Schisma für das niederländische Hochstift, eine wichtige Stufe der ständischen Entwicklung auch in Trier29• Das positive Votum des Cusanus in der Utrechter Sache hält sich dabei aber leider nur im ganz Allgemeinen und geht auf den zur Rede stehenden Sachverhalt nicht weiter ein: Assencio et ego Nicolaus Cancer de Coeße decretorum doctor; credens in puncto iuris ita, ut prescribitur; defendi posse meliori iudicio semper salvo. Quare me subscripsi et sigillum meum apposui. Aber ein werbendes Einverständnis bedeutet dieses Votum allemal. Es läßt uns nach den anderen vier Gutachtern weiterfragen, die das hier zur Rede stehende Konsilium einbrachten. Nur einer von ihnen, Wilhelmus de Wege, kam wohl aus dem Moselraum (s. u.). Schwergewichtig vertreten waren hingegen die Niederländer, was natürlich durch den Streitgegenstand nahelag. Es kam aber noch hinzu, daß die Niederlande überhaupt zum Kölner Einzugsraum gehörten, wie ihn eben so denn auch die Kölner Universität von 1388 für sich geltend machen konnte, bis erst 1425 mit der Universität zu Löwen eine Kölner Tochtergründung hinzutrat. Den Kötner Einzugsraum markierten im übrigen instruktiv und einprägsam die Sitze der drei Konservatoren, die Papst Bonifaz IX. 1392 zum Schutz der Kölner Universitätsprivilegien eingesetzt hatte, nämlich neben dem Abt von Groß St. Martin in Köln den Dekan von St. Paul in Lüttich und den 28 So in diesem Zusammenhang Post, Kerkgeschiedenis II (Anm. 13), 4: ,,Mogen de Staten zieh nog niet geheel tot een vaststaand en gesloten college hebben ontwikkeld, de ontwikkeling in die richting was zeer ver gevordert." Hierzu auch P. W. A. lmmink, Oe wording van staat en souvereiniteit in de rniddeleeuwen. Een rechtshistorische studie in het bijzonder met betrekking tot het Nedersticht I, Utrecht 1942. 29 Erich Meuthen, Nikolaus von Kues und der Laie in der Kirche, in: Hist. Jahrb. 81 (1962), 101-122; ders., Das Trierer Schisma von 1430 auf dem Basler Konzil (Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, 1), Münster 1964 (64: Utrecht und Trier im Vergleich).

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Dekan von St. Salvator in Utrecht30• Ausgerechnet der zur Zeit des Utrechter Schismas amtierende Dekan der Utrechter Salvatorkirche, Henrik Houberch31 , wurde arn 17. Januar 1423 von den Utrechter Kapitelsherren zum Offizial des Bistums gewählt32. Er hatte in Köln studiert33 und konnte zudem als ehemaliger litterarum apostolicarum abbreviato?4 seine guten Beziehungen zur Kurie auch im Bistumsstreit einsetzen. So denn nun zu den "Kölner" Gutachtern insgesamt. Alle in den Utrechter Konsilien genannten "Kölner" gehören auch zu den Gutachtern in der Bacharaeher Zollsache. So bereits der Erstgenannte, lohannes de Vurburch aus Alkmaar in Holland, der seit 1392 in Köln die Dekretalen las, bis zu seinem Tod 1431 wiederholt akademische Leitungsämter innehatte und in der Konsilienliteratur mit weiteren Gutachten vertreten ist. Er war in den hier zur Rede stehenden Jahren der dienstälteste Professor seiner Fakultäe5 • Wie für andere dieser "Kölner" verdanken wir im besonderen zum Nächstgenannten, Iohannes de Caminata, decretorum doctor aus Kernnade, eine zureichendere Personenkenntnis erst der fleißigen Erschließungsarbeit von Aloys Schmid und Hermann Heimpel. Er las 1417-1445 in Köln. Päpstliche Bestätigungen als Dekan des Stiftes St. Salvator in Utrecht sowie als Pfarrer von Kampen zeigen seine persönlichen Beziehungen nach Utrecht an36• Wymarus de Wachtendonk (bei Geldern), licentiatus in legibus und Anwalt an der Kölner Kurie, ist offensichtlich der hier Rangniedrigste. 1424-1466 nahm er eine Kölner Professur wahr und erwarb 1432 noch den Titel eines doctor legum37• Bei Iohannes de Cervo, legum doctor, aus der Kölner Familie vanme Hircze, seit 1417 Rat der Stadt, seit 1404 Legist an der Universität, haben wir es mit einem der über Köln hinaus anerkanntesten Rechtsprofessoren zu tun38. Daß in der "BacharaMeuthen, Kölner Universitätsgeschichte I (Anm. 4), 67. Fink, Repertorium (Anm. 18), 1156 f. 32 Post, Geschiedenis (Anm. 13), 130. 33 Keussen, Matrikel I (Anm. 14), 113, Nr. 60, 11. 34 Belege bei Keussen (Anm. 33). 35 Keussen, Matrikel I (Anm. 14), 67; Hermann Keussen, Die alte Universität Köln, Köln 1934, 450; Bohne, Juristische Fakultät (Anm. 4), 190 f., sowie: Festschrift (Anm. 4), 653 s. v. Vorborgh; Schmidt-Heimpel, Winand von Steeg (Anm. 7), 118; Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte I (wie Anm. 4) 100 f. und 617 s. v. ,Vorburg'; (Manfred Groten), Älteste Stadtuniversität Nordwesteuropas. Ausstellung des Historischen Archivs der Stadt Köln, 1988, 72, Nr. 82. 36 Karl August Fink, Repertorium Germanicum IV. Martin V. (Anm. 18), II, Berlin 1957, 1701. Im übrigen: Schmidt-Heimpel, Winand von Steeg (Anm. 7), 116. 37 Schmidt/Heimpel, Winand von Steeg (Anm. 7), 124; Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte I (Anm. 4), 138. 38 Bohne, Juristische Fakultät (Anm. 4), 191; Schmidt/Heimpel, Winand von Steeg (Anm. 7), 116. Dazu noch, mit vielerlei neuem Material: Hermann Heimpel, Scheltrede eines Professors des Bürgerlichen Rechts. Der Kölner doctor legum Johannes "vam Hirtze" an 30

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eher" Sammlung das Gutachten des Nikolaus von Kues dem des Iohannes de Cervo unmittelbar folge 9 , dürfte ein nichts besagender Zufall sein. Wilhelmus de Weg(h)e, legum doctor, war 1423-1470 Professor in Köln. Die biographisch einschlägigen Belege lassen Herkunft aus dem Moselraum vermuten. Später wirkte er als Rat des Herzogs von Jülich und als Kölner Offizial40• Als Dekan von St. Kastor in Koblenz stand er seinem Dekankollegen in St. Florin nahe, der seit 1427 Nikolaus von Kues sein wird41 . Schließlich dann noch, als letzter in dieser Reihe, lohannes de Cameraco, licentiatus in utroque iure, aus einem Ort in der Diözese Chälons-sur-Marne, Rechtsprofessor, der 1422-1432 in Köln Bürgerliches Recht las42 . Wie gesagt hatten Rufund Rang des einzelnen Juristen in jener Rechtswelt offenkundige Bedeutung für die Erwartung von Erfolgen, ein Sachverhalt, der ja auch nicht neu ist. Und dennoch fällt auf, daß von nicht geringerer Werbewirksamkeit die Rechtsdeduktion war, die sich mit einer renommierten akademischen Institution verknüpfte, wie die wiederholte Anführung von Gutachten und Gutachtern als "Colonienses" usw. zeigt. Doch mit dieser "Kölner" Werbung wollten die Stiftsherren in Utrecht es nicht bewenden lassen. Zum guten Schluß schieben sie nämlich noch, wie schon angetönt, Scripta sive consultationes magistrorum Parisiensium nach, die im Unterschied zu den "Kölnern" allerdings nicht namentlich angeführt werden. Offensichtlich genügte die Ortsangabe, um das Ansehen der "Colonienses" noch zu übertreffen, wie man über diese "Kölner" hinaus wohl aus demselben Grunde den fernen, aber renommierten Nicolaus de Tudeschis anging und nutzte. Es bedarf noch der Untersuchung, welchen Ruf "Pariser" Rechtsgutachten über die Grenzen Frankreichs hinaus in der damaligen europäischen Rechtswelt (immer noch) hatten, ob die Nutzung durch die Stiftsherren in Utrecht also durchaus üblich war43 . In dem hier eingeholten "Pariser" Konsilium geht es nun nicht mehr um kaPapst Gregor XII. (Brixen, am 11. Nov. 1407), in: Festschrift Franz Wieacker, Göttingen 1979, 245 - 260; Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte I (Anm. 4), 138. 39 Schmidt-Heimpel, Winand von Steeg (Anm. 7), 93. 40 Keussen, Alte Universität (Anm. 35), 451; Schmidt-Heimpel, Winand von Steeg (Anm. 7), 124. 41 Acta Cusana (Anm. 6), Nr. 71, lO 1 und 204c I d. 42 Schmidt-Heimpel, Winand von Steeg (Anm. 7), 116. Die vorgenannte Anführungjuristischer Teilgebiete, denen die Vorlesungstätigkeit dieser Professoren galt, ist lediglich als Hinweis auf entsprechende Schwerpunkte zu verstehen. Man las beide Rechte usw., und so der Doktor der Leges durchaus auch Kirchenrecht; Meuthen, Alte Universität (Anm. 4), 129. Die "Utrechter" Gutachten demonstrieren, daß die Legisten sich im kanonischen Recht gut auskannten. 43 Zurückhaltend über das ausländische Interesse an Pariser Konsilien, zumindest nach dem erst ganz vorläufigen Kenntnisstand: Jacques Verger, Une autorite universelle? L' Universite de Paris et !es princes europeens au Moyen Age, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (Historische Forschungen, 67), Berlin 2000, 516 - 526. Zu den zeitgenössischen Rührnungen der Pariser Universität, dietrotzvor

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nonistische Detailfragen, sondern um jene grundsätzlichen Verfassungsprobleme, die das Konzilszeitalter aufgeworfen hatte. Man würde solcherlei prima vista nicht schon in Zusammenhang mit Appellations- und Zensurfragen bringen. Indem die Kirchenverfassung hier in ihrer allgemeinsten Problematik zur Sprache kommt, zeigt sich indes, wie stark sie den kirchlichen Alltag mitbestimmte. Dazu aber auch noch ein Zweites, nämlich daß man sich eine autoritative Beurteilung der Konzilsfrage erster Klasse denn doch nicht in Deutschland holte, sondern in Paris. Das Pariser Gutachten geht auf den Fall "Utrecht" als solchen nur am Rande ein. Vielmehr bietet es ein kleines Kompendium der Vorrechte und Grenzen päpstlicher Kirchengewalt und versucht, diese so weit wie möglich einzuschränken. Nicht der Papst sei Herr der Kirche, sondern Christus oder ihre Versammlung44. Greift er grundlos in sie ein, versündigt er sich an ihren Rechten und Kanones45 . Er darf nichts tun ohne den Rat der Kardinäle46. Er ist den allgemeinen Konzilien unterstellt, steht nicht über ihnen47 • Kraft göttlichen Rechtes komme den Kapiteln und Dignitären ihre freie Wahl zu48 . Es würde zu weit gehen, in eine Diskussion dieser Sätze und des Kirchenverständnisses im Pariser Gutachten einzutreten, und ebenso auch, ob und wie es unserem derzeitigen Bild der Pariser Universitätstheologie jener Zeit entspricht, die Konfrontation zu vermeiden suchte. Freilich gehörte auch ehendieses Thema zum Streitpotential Rudolfs von Diepholz. Hatte er doch, nachdem der Papst sich für Raban von Speyer entschieden hatte, am 9. August 1424 den Utrechter Ständen die von ihm beabsichtigte Appellation an ein allgemeines Konzil angekündigt49. Die Diskussion um Konzil und Kirchenverständnis allgemein reichte bis in die kleinen "Welten" hinein. Neben "Köln" besitzt "Paris" für die Utrechter offensichtlich die in unserem Zusammenhang stärkste Kompetenz. Dasselbe dürfte generell in den Niederlanden so gegolten haben. So nimmt es nicht wunder, wenn es 1425 und in den folgenden Jahren, also gerade jetzt, bei der Gründung der Universität Löwen zu Anwerbunallem politischer Schwierigkeiten (z. B. Besetzung durch die Engländer gerade jetzt, 14201435) fortdauerten, siehe etwa die entsprechenden zeitgenössischen Belege in: E. Delaruelle/E.-R. Labande, Paul Ourliac, L'Eglise au temps du Grand Schisme et de Ia crise conciliaire (1378 -1449) (Histoire de l'Eglise, XIV), Paris 1964, 468 f. 44 Quod papa non est dominus ecclesie vel rerum ecclesiasticarum, sed Christus seu congregacio. 45 Quod si papa voluntarie agat sine causa racionali contra iura et canones, peccat. 46 Non licet eciarn pape quidquarn facere contra consilium fratrum scilicet cardinalium. 47 Quod papa subest consiliis generalibus nec est supra consilia, ut illa ex toto destruat seu tollere possit. Kurz darauf: Narn et in consilio Constanciensi declaratum fuit, quod papa subicitur consilio generali. 48 Quod electio dignitatum ecclesiasticarum et collacio beneficiorum ad capitula et prelatos competit iure divino et ex institucione consiliarum generalium ecclesie. 49 Post, Kerkgeschiedenis li (Anm. 13), 7.

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gen von Professoren vor allem aus Köln, aber auch aus Paris kam50• In Löwen suchte und verpflichtete man damals Spitzenkräfte, die nicht gerade billig zu erhalten waren51 . So warb im Jahre 1428 Löwen in Köln um den dort lehrenden Nikolaus Cancer52• Das Utrechter Gutachten zeigt, daß er zu diesen Spitzenkräften gehörte, so daß sein Ruf nach Löwen nicht mehr ganz überraschend wirkt. Mit dem Geschehensverlauf und der entsprechenden rechtlichen Entwicklung nunmehr besser vertraut, fragen wir abschließend noch einmal nach der genaueren Datierung der Gutachten. Hierzu liefert die als letztes Stück kopierte Bulle Martins V. vom 24. Januar 1427 einen ersten vorläufigen, aber relativ sicheren Tenninus ante quem für alle Stücke. Handelt es sich bei ihnen doch offensichtlich um Unterlagen, die im Zusammenhang mit einer der angeführten Appellationen an die Kurie gegangen waren und zu der Bulle vom 24. Januar 1427 führten. Da bereits das erste Gutachten des Iohannes de Vurburch eine Appellation der Utrechter Kapitel an die Kurie kennt, die in der schon genannten Appellation vom 6. Oktober 1426 angeführt ist, möglicherweise aber auch die jüngere vom 14. November gemeint sein kann, dürfte sich damit annäherungsweise auch ein Tenninus post ergeben, wobei sich allerdings generell fragt, ob er für alle Stücke gilt. Ist doch der erste Gutachter der zweiten Sammlung, Johannes de Cervo, wie gleich anzumerken ist, einige Zeit vor dem I. Oktober 1426 verstorben. Von den Gutachtern wird der fehlende tutus accessus bemängelt. Das setzt natürlich die Anwesenheit Sweders, seiner Kurie oder doch stärkerer Anhängerschaft in Utrecht voraus. Wenn er Anfang Oktober53 Utrecht verlassen mußte, entfiel die Argumentation der Diephotzer zumindest für den Gerichtsort Utrecht. Und so käme man von hier aus ebenfalls auf Anfang Oktober 1426 als Tennin für den Abschluß der Begutachtung, in die ältere Gutachten eingearbeitet wurden, die noch von Sweders Anwesenheit in Utrecht ausgehen und ihn im Machtbesitz wissen. Sie könnten durchaus einige Monate älter gewesen sein. So böte der Todestag des Johannes de Cervo einen sicheren Tenninus ante quem auch nur für dessen Votum. Den Ennittlungen von Keussen zufolge wird er am 22. Juni letztmals als lebend erwähnt54• Schon am I. Oktober 1426 quittiert Wynmarus de Wachtendonk der Stadt Köln den Empfang von 15 Gulden, weil er seit dem Tode des Johannes de Cervo diesen bis dahin als Stadtsekretär und Ordinarius in der Facultas iuris civilis vertreten habe55•

so "The frrst professors were recruited primarily frorn Cologne, and only to a lesser degree frorn Paris"; Astrik L. Gabriel, Intellectual Relations between the University of Louvain and the University of Paris in the 15th Century, in: The Universities in the Late Middle Ages, ed. Jozef Ijsewijn/Jacques Paquet, Löwen 1978, 84; überarbeiteter Neudruck in: Astrik L Gabriel, The Paris Studium. Robert of Sorbonne and His Legacy (Texts and Studies in the History ofMedieval Education, XIX), Frankfurt 1992,205. 51 Erich Meuthen, Ein "deutscher" Freundeskreis an der römischen Kurie in der Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Annuariurn Historiae Conciliorum 27/28 (1995/1996), 494. s2 Acta Cusana (Anrn. 6), Nr. 64. 53 Post, Geschiedenis (Anm. 13), 156: bis 12. Oktober. 54 Keussen, Matrikel I (Anm. 14), 26, Nr. 226. 55 Keussen, Matrikel I (Anrn. 14), 185, Nr. 17.

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Wie das Beispiel "Bacharach" zeigt, kann sich die Einholung von Konsilien zu ein und derselben Sache über eine längere Zeit- hier zwei Jahre -hinziehen. Vielleicht ist auch im Falle "Utrecht" mit einer längeren Zeitspanne zu rechnen. Die früheste der angeführten Appellationen56 richtete sich der Aktenauskunft zufolge am 7. Juni 1424 gegen die Versetzung Bischof Rabans von Speyer nach Utrecht57 . Sie führte schon zu einer Appellation vom Papst an ein allgemeines Konzil, von der in den weiteren Schriftsätzen dann mehrfach die Rede ist58 . Solange es um den landesfernen Raban ging, war die Sache für die Utrechter noch nicht so brisant, wie sie dann mit der Ernennung Sweders am 6. Februar 1425 wurde, der sich am 20. Juli 1425 von den Utrechter Kapitularen anerkennen ließ. Erst die nunmehr vor Ort verhängten Kirchenstrafen ergaben die Notwendigkeit, sich rechtlich zu wappnen, womit wir auch auf diesem Wege wieder in den Herbst des Jahres 1425 als ersten Termin für das Begutachtungsgeschäft kämen. Generisch bilden beide Textsammlungen, U wie Z, ein buntes Pele-Mete, in dem die Konsilien allerdings die führende Rolle spielen. Man wird das eine wie das andere Stück als Kopien eines Prozeßlibells bezeichnen, den die Utrechter Stiftsherren an der römischen Kurie vorlegen ließen, freilich abzüglich der Bulle Martins V. vom 24. Januar 1427. Schließen wir diese in die Stückbeschreibung mit ein, so handelte es sich um einen Prozeßbericht, der in Utrecht weiterverwandt werden sollte und ja auch weiterverwandt worden ist. Am Valentinstag (14. Februar) 1427 schickten die fünf Utrechter Kapitel eine Gesandtschaft an die Rechtsgelehrten zu Köln, um von ihnen nach der Appellation an den Papst scriften van rechten in der Sache einzuholen59. Die Bulle Martins V. vom 24. Januar 1427 oder doch die Nachricht über bevorstehende Ausfertigung konnten bis zum 14. Februar in Utrecht eingetroffen sein und Anlaß zur Bitte um weitere Rechtsberatung geboten haben. Was sich zunächst etwas spröde zeigt, öffnet sich bei näherer Beschäftigung mit dem Text. Vielleicht hält Konsilienforschung Abwechslungsreicheres bereit, als zunächst vermutet werden könnte. Möglicherweise sind wir hier an ein in dieser Hinsicht besonders lehrreiches Stück geraten, das vor allem auch durch die Spannbreite seiner Quellen und Themen Interesse weckt.

Matthaeus, Analeeta V (Anm. 20), 414-421. Z. B. Matthaeus, Analeeta V (Anm. 20), 434. Gegen Sweder: Matthaeus, Analeeta V, 449-454. ss Matthaeus, Analeeta V (Anm. 20), 437. 59 Muller, Catalogus (Anm. 19), 5. 56

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Kosmopolitismus und Nationalismus im deutschen Humanismus Von Ulrich Muhlack, Frankfurt am Main Seit dem großen Umbruch von 1989/90 ist die Nation ein politisches und ein historisches Thema. Die Wiedererstehung des deutschen Nationalstaats, die Nationalisierung oder Renationalisierung Ost- und Südosteuropas, die Zukunft der europäischen Nationalstaaten überhaupt: das alles hat nicht nur die Parameter deutscher und europäischer Politik verändert, sondern auch ein neues Interesse an den geschichtlichen Grundlagen dieser nationalen Welt hervorgerufen, das weit in die Jahrhunderte zurückreicht Auch das nationale Denken des Humanismus oder Renaissance-Humanismus des 14.-16. Jahrhunderts ist so wiederum in unseren Blick geraten: ein vorlängst, als die Nation gleichfalls hoch im Kurs stand, vielerforschter Gegenstand, der in späteren Zeiten, als die Nation ihren Kredit verlor, in eine gelehrte Randexistenz abgedrängt war und der heute, nach der Rückkehr der Nation, geradezu neuentdeckt wird. Es ist bemerkenswert, daß das jüngste dazu erschienene Buch ausgerechnet von einem Politikwissenschaftler stammt, der die .,Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller" in .,Italien und Deutschland" behandelt, um einen Ausweg aus der .,Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit der gegenwärtigen Entwicklung der Nationalstaaten in Europa" zu weisen 1• Allerdings hat eine solche Aktualisierung oder Teleologisierung bekanntlich ihre Schwierigkeiten. Zwar ist sie an sich völlig legitim; im Grunde gilt, daß keine historische Frage von der Situation, in der sie gestellt wird, ablösbar ist, daß vielmehr jede aus einem gegenwärtigen Problem entsteht und darauf bezogen bleibt, ganz gleich, ob der jeweils Fragende eigens darauf reflektiert oder nicht. Aber um so mehr kommt es darauf an, daß dabei keine Überblendung oder Gleichschaltung der Vergangenheit stattfindet, sondern daß diese ihre besondere Physiognomie, ihr individuelles Aussehen, ihren eigenen Sinn behält; die Lösung des gegenwärtigen Problems selbst hängt daran. Auch der humanistische Nationalgedanke darf nicht einfach mit dem modernen kurzgeschlossen werden; er ist so weit von ihm entfernt, daß sogar die Rede von ,,Nation" und "national" problematisch wird und jedenfalls nur in einem begrenzten oder annähernden Sinn möglich ist. Unser VerI Herfried Münkler/Hans Grünberger/Kathrin Mayer. Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland (Politische Ideen, 8}, Berlin 1998, 13.

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ständnis von Nation, das Emest Renan in seiner berühmten Rede von 1882 auf den Begriff der politischen Willensgemeinschaft gebracht hat2, ist ein Erzeugnis der Französischen Revolution, das, von Rousseau erstmals "vorgedacht"3 , sozusagen mit einem Schlag da war, aus keiner Vorgeschichte abgeleitet werden kann. Was diesem revolutionären Durchbruch vorausliegt, sind gewisse Voraussetzungen oder Bedingungen, ohne die er nicht zu denken ist, die ihn aber nicht vorwegnehmen oder auch nur vorbereiten. Lediglich in dieser relativen Weise kann von einem humanistischen Nationalgedanken gesprochen werden, es sei denn, man ließe sich auf einen völlig unspezifischen Begriffsgebrauch ein, von dem das Münklersche Buch nicht ganz frei ist. Als Ausgangspunkt für alles Weitere mag eine der Hauptthesen dieses Buchs dienen, die besonders kraß gegen das Selbstverständnis der Humanisten verstößt. Gleich einleitend wird der "humanistische Nationendiskurs" gegen die bisher herrschende "Vorstellung" ausgespielt, der Humanismus "sei überwiegend kosmopolitisch gewesen. Das mag für Erasmus von Rotterdam und einige andere zutreffen, gilt aber kaum für den Humanismus in seiner Gesamtheit"4 • Später heißt es über Biondo, er stehe "in der Mitte zwischen einem Nationendiskurs, der noch stark von christlichen Einheitsvorstellungen geprägt war und der in den nationes nur binnendifferenzierende Größen der abendländischen Christenheit sah, und einem Nationendiskurs, für den solche Einheitsvorstellungen nichts mehr bedeuteten und die Nation zum entscheidenden Bezug des Denkens wurde"5 • Von einem humanistischen "Gegendiskurs" ist kurz danach lediglich anmerkungsweise die Rede6 . Ein Zitat aus dem Briefwechsel des Beatus Rhenanus führt zu der Feststellung, dieser sei, "wie auch Erasmus, eher die Ausnahme als die Regel humanistischer Argumentation, die ansonsten weder kosmopolitisch noch ,europäisch', sondern überwiegend polemisch sich den Anderen als Barbaren zuwendet"7 • Zusammengenommen ergibt sich also folgendes Bild: die Humanisten lösen die Nation aus den überkommenen "christlichen Einheitsvorstellungen" heraus und erheben sie zu einer absoluten Größe, die sich auch neuen "Einheitsvorstellungen" nicht fügt; ein "kosmopolitischer Gegendiskurs", vorgetragen von Autoren wie Erasmus von Rotterdam und Beatus Rhenanus, ist nicht repräsentativ, eine bloße Ausnahmeerscheinung, ohne prinzipielle Bedeutung. 2 Ernest Renan, Qu'est-ce qu'une nation? Conference faite en Sorbonne, Je 11 mars 1882, in: Ders., Discourset Conferences, Paris o.J., 277-310, hier bes. 307: "Une nation est donc une grande solidarite, constituee par Je sentimentdes sacrifices qu' on a faits et de ceux qu'on est dispose faire encore. Elle suppose un passe; elle se resume pourtant dans Je present par un fait tangible: Je consentement, Je desire clairement exprime de continuer Ia vie commune. L'existence d'une nation est (pardonnez-moi cette metaphore) un plebiscite de tous lesjours"; dazu Otto Vossler, Der Nationalgedanke von Rousseau bis Ranke, München/Berlin 1937,7 ff. 3 Ebd., 21 ff., und ders., Rousseaus Freiheitslehre, Göttingen 1962, 331 ff. 4 Münkler/Grünberger/Mayer, Nationenbildung (Anm. 1), 17. s Ebd., 155. 6 Ebd., 157, Anm. 263. 7 Ebd., 219.

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Es erstaunt, daß Münkler und seinen Mitarbeitern ungeachtet ihrer großen Quellen- und Literaturkenntnis so völlig entgehen konnte, daß an dieser These so gut wie nichts stimmt. Sehr mißlich ist zunächst, daß der "christliche" und der humanistische "Nationendiskurs" einem Vergleich unterzogen werden, bei dem ein statischer Begriff von Nation das "tertium comparationis" bildet. Tatsächlich hat die "nationale" Binnendifferenzierung mittelalterlicher Handelshöfe, Ritterorden, Konzilien und Universitäten mit dem "nationalen" Denken der Humanisten lediglich das Wort "natio" gemeinsam. Was aber vor allem ins Auge sticht, sind die schlechthin sinnwidrigen Aussagen über Kosmopolitismus und Nationalismus im humanistischen "Diskurs": ihre Entgegensetzung, die Vorstellung einer Dominanz des Nationalen, die Marginalisierung des Kosmopolitismus. Die folgenden Bemerkungen sollen das, unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Humanismus, gewissermaßen wieder zurechtrücken. Dabei handelt es sich wahrlich nicht um grundstürzend neue Erkenntnisse, sondern eigentlich nur darum, nochmals an Selbstverständliches zu erinnern, allenfalls den einen oder anderen Gedanken vielleicht schärfer als bisher zu akzentuieren8 . Beginnen wir mit dem allgemeinsten Faktum, das hier in Betracht kommt: daß nämlich der Humanismus nach seiner ganzen Zielsetzung wie nach seinem sozialen Erscheinungsbild kosmopolitisch geprägt ist, ja, das Urbild des neuzeitlichen Kosmopolitismus überhaupt darstellt. Dieses Weltbürgertum geht allen nationalen Bestrebungen voran; das Kosmopolitische ist das Primäre, das Nationale das Sekundäre. Der Humanismus verkündet ein neues Bildungskonzept, das, über die Reform der Bildungsanstalten hinaus, eine Umgestaltung aller Bereiche oder Daseinsformen individuellen und gesellschaftlichen Lebens beabsichtigt: ein Konzept nicht8 Grundlegend sind die Arbeiten von Paul Joachimsen: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation; Zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken, hrsg. v. Notker Hammerstein, 2 Bde., Aalen 1970/83; Geschiehtsauffassung und Geschiehtschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, 6), Leipzig 1910 (Neudruck Aalen 1968). Allgemeinere Darstellungen zur Geschichte des nationalen Denkens im deutschen Humanismus, die seitdem erschienen sind: Ulrich Paul, Studien zur Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins im Zeitalter des Humanismus und der Reformation (Historische Studien, 298), Berlin 1936 (Neudruck Vaduz 1965); Frank L. Borchardt, German antiquity in renaissance myth, Baltimore/London 1971; Jacques Ride, L'image du Germain dans la pensee et la Iitterature allemandes de la redecouverte de Tacite la fin du 16eme siede (Contribution l'etude de la genese d'un mythe}, 3 Bde., Lilie/Paris 1977; Ludwig Krapf, Germanenmythus und Reichsideologie. Frühhumanistische Rezeptionsweisen der Taciteischen "Germania" (Studien zur deutschen Literatur, 59), Tübingen 1979; Donald R. Kelley, Tacitus Noster. The Germania in the Renaissance and Reformation, in: Ders., The Writing of history and the Study of Law, Brookfield 1997, 152-200. Auf diese Literatur wird in der Folge nicht mehr eigens verwiesen. Literatur zu einzelnen Autoren ist jeweils an der passenden Stelle verzeichnet; ich habe mich dabei aufs äußerste beschränkt, um die Anmerkungen nicht ausufern zu lassen. Ich fUge noch hinzu, daß aus dem gleichen Grund Einzelnachweise zu den Quellen grundsätzlich im Text selbst gegeben werden.

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theologischer, innerweltlicher Bildung, antischolastisch, aber nicht antichristlich und antikirchlich, geschweige denn antireligiös. Sein Leitmotiv ist ästhetisch: ein Bedürfnis nach Reinigung, Erneuerung, Wiederherstellung der lateinischen Sprache als der edelsten von allen, in der zugleich unsere Moral, unser Wissen, unsere gesamte "humanitas" beschlossen liegt; die Kritik an der Scholastik geht dahin, daß sie diese Sprache, den Inbegriff unseres Menschseins, habe entarten und verfallen lassen. Das Feld, auf dem sich die Humanisten bewegen, ist daher die Literatur, und zwar ist es zunächst die klassische lateinische Literatur, an die sie sich halten und von der sie, um sich an ihr zu schulen, kritisch gesichtete Texte und ein historisch zuverlässiges Verständnis zu erlangen trachten. Daraus erwächst ein allgemeiner Drang nach Wiederherstellung oder Wiederbelebung des griechischen und römischen Altertums, von der philologisch-historischen Aufbereitung sämtlicher noch irgend erreichbarer Überreste, seien sie literarisch oder nichtliterarisch, bis zur normativen Anwendung auf die Gegenwart, die durch diese Möglichkeit als gegenüber der mittelalterlichen Finsternis neue Zeit des Lichts erscheint. Es ist deutlich, daß diese Zielsetzung auf das Große und Ganze gerichtet ist, der gebildeten oder zu bildenden Menschheit gilt, jedenfalls den Umkreis der ,,res publica christiana" ausfüllt. Der Humanismus erhebt durch sein Bildungskonzept einen universalen Anspruch; auch dem klassischen Altertum, auf das er sich bezieht, kommt, als einer Epoche der menschheitlichen Kulturgeschichte, universale Geltung zu. Er ist daher von vornherein ein europäisches Ereignis, das sich, beginnend in Italien, von Land zu Land fortpflanzt, und wenn auch die Bedingungen seiner Entstehung oder Aufnahme jeweils verschieden sind und verschiedene Ausprägungen hervorrufen, so bleibt doch der Grundgedanke gleich, der die Einheit des Phänomens, über alle Ländergrenzen hinweg, gewährleistet. Der Universalität der Zielsetzung entspricht das soziale Erscheinungsbild, das der Humanismus darbietet. Die Humanisten sind Literaten, die sich den aus ihrem Bildungsbegriff fließenden Prinzipien verpflichtet fühlen und darin ihre Zusammengehörigkeit erkennen. Wer diesen Bildungsbegriff und damit diese Prinzipien ablehnt, wird zu ihrer Gemeinschaft nicht zugelassen oder aus ihr ausgeschlossen, sozusagen exkommuniziert, wie Konrad Celtis das einmal in überscharfer Wendung gegen seine scholastischen Kritiker fordert9 . Diese "res publica litteraria" steht quer zu der herrschenden Gliederung der Gesellschaft; die Humanisten kommen aus allen Ständen und setzen unter sich die ständische Abstufung außer Kraft. Diese humanistische Literatenrepublik umspannt aber zugleich das ganze okzidentale Europa; ihre Bürger stammen von überall her und kommunizieren in einem Raum, dessen Schranken allein durch die Reichweite des von ihnen verfochtenen Bildungsideals bestimmt sind. Die großen Namen des Humanismus, von Petrarca 9 Ex libro Conradi Celtis Oe situ et moribus Norimbergae, de Hercyniae silvae magnitudine et de eius in Europa definitione et populis incolis, in: Conradus Celtis, Opuscula, hrsg. v. Kurt Adel, Leipzig 1966, 65 - 72, hier 66: "eos igitur congerones et verberones ab honestis litteris et eorum cultoribus - ut eorum verbo utar - excommunicamus et cum sua ignorantia relinquamus."

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bis zu Erasmus, haben einen europäischen Klang; der letztere wird allenthalben als förmliche Personifizierung der über das Abendland verbreiteten Bewegung angesehen: sein Kosmopolitismus ist insoweit keine Ausnahme, die die Regel bestätigt, sondern die Regel selbst. Freilich hat das Erasmianische Weltbürgertum zugleich einen antinationalen oder transnationalen Zug, der bei den meisten Humanisten fehlt. Erasmus läßt keinen Zweifel daran, daß er die Verhältnisse unter den europäischen Völkern am liebsten nach dem Modell der humanistischen "res publica litteraria" geregelt sehen möchte. Er erklärt es zu einer "pravitas", daß der Engländer oder der Deutsche den Franzosen aus keinem anderen Grund bekämpfe, als weil er Franzose sei: man solle vielmehr bedenken, daß die Welt die gemeinsame "patria" aller sei 10. Sofern er Nationen wahrnimmt und, sei es lobend oder tadelnd, charakterisiert, geschieht das gewissermaßen unparteiisch und gleichmäßig, jedenfalls nicht vom Standpunkt einer Nation aus 11 . Von dieser Gesinnung ist die Masse der italienischen, deutschen oder französischen Humanisten auch dann weit entfernt, wenn sie, wie etwa Beatus Rhenanus, der dem irenischen Geist des Erasmus noch am nächsten steht, im nationalen "Diskurs" eine eher gedämpfte Tonlage bevorzugen. Man kann sich sogar des Eindrucks nicht erwehren, als ob Erasmus mit seinen antinationalen Ausfällen gerade auch die nationalen Motive oder Affekte unter den Humanisten selbst treffen will. Mit alledem nimmt er in der Tat eine exzeptionelle Position ein. Gleichwohl gilt, daß der humanistische Nationalismus, wo und wie immer er sich äußert, keineswegs aus dem Kosmopolitismus der "res publica litteraria" herausfällt, wie ihn Erasmus verkörpert. Sie lassen sich nicht nur miteinander vereinbaren, sondern sie stehen schließlich auch in einem eigentümlichen Bedingungsverhältnis, durch das der eine geradezu als höchste Form des anderen erscheint. Zunächst bleibt es dabei, daß der Humanismus sich als eine universale Genossenschaft mit universaler Zielsetzung konstituiert und versteht. Bevor man von einem humanistischen Nationalismus spricht, muß man diesen Universalismus konstatieren, der gleichsam mit dem Dasein des Humanismus gegeben ist. Kein humanistischer Autor, der nationale Aspirationen vertritt, stellt ihn jemals in Frage. Selbst ein notorischer Franzosenhasser wie Jakob Wimpfeling setzt voraus, daß eine ,,res publica litteraria" existiert, die Deutschen wie Franzosen und überhaupt allen humanistischen Literaten aus allen Völkern offensteht Es ist zwar richtig, daß der humanistische Nationalismus aus den bisherigen "christlichen Einheitsvorstellungen" heraustritt; aber er ist in den Rahmen der neuen "EinheitsvorstellunIO Erasmus von Rotterdilm, Querela Pacis, in: Ders., Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Werner Welzig, 5, Darmstadt 1968, 359-451, hier 428 und 430: "Anglus hostis est Gallo, nec ob aliud, nisi quod Gallus est. Scoto Britannus infensus est, nec aliam ob rem, nisi quod Scotus est. Germanus cum Franeo dissidet, Hispanus cum utroque. 0 pravitatem, disjungit inane Joci vocabulum, cur non potius tot res conciliant?": "Quin potius id quod res est cogitant, mundum hunc communem esse patriam omnium, si patriae titulus conciliat." 11 Vgl. dazu Uon E. Halkin, Erasmus von Rotterdam. Eine Biographie, 2. Auf!., Zürich 1992, 314 f.

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gen" eingepaßt, die dem Humanismus von vornherein und durch seine ganze Entwicklung hindurch wesentlich immanent sind. Was bedeutet diese Einfügung? Es handelt sich dabei nicht um eine äußere oder äußerliche Abgrenzung der Nation von der ,,res publica litteraria", des Nationalismus vom Universalismus, also um die Koexistenz zweier an sich unverbundener oder heterogener, wenn nicht überhaupt gegenläufiger und antagonistischer Phänomene. Vielmehr besteht zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang, und er wird gestiftet durch die ,,Einheitsvorstellungen" selbst, die für den Humanismus konstitutiv sind. Es gibt Wege, die vom humanistischen Universalismus zum humanistischen Nationalismus führen. Man kann es auch so sagen: ein humanistischer "Nationendiskurs" ist nur denkmöglich, weil und sofern er vom humanistischen Universalismus herkommt, in dem die Essenz des Humanismus enthalten ist. Zum Verständnis ist eine Besinnung auf die allgemeine historische Situation vonnöten, in der der Humanismus entsteht und sich ausbildet: die Krise der mittelalterlichen ,,res publica christiana", die auf die Ausdifferenzierung "mundaner" oder "säkularer" Verhältnisse hinausläuft. Der Humanismus ist selbst ein Moment dieser Krise, und er tritt mit ihren anderen Erscheinungsformen in Beziehung: in Italien mit der Staatenwelt der Renaissance, in Deutschland mit den Bestrebungen zur Reform des Reiches, in Frankreich mit der Konsolidierung der souveränen Königsmacht, im ganzen Okzident mit dem Verlangen nach einer Reform der Kirche. Er wird von ihnen gefördert, und er unternimmt es zugleich, sie kraft seines Bildungsgedankens und Bildungswissens zu normieren und damit zu legitimieren. Er hat sie nicht "gemacht", sondern findet sie vor und reflektiert auf sie, indem er ihnen aus seinem ästhetisch-historischen Arsenal Kategorien und Argumente für eine geistige Begrundung liefert, an der sie ihrerseits Bedarf haben; diese Homogenität oder Analogie ist die Voraussetzung dafür, daß der Rapport zwischen beiden Seiten überhaupt zustande kommt. Zu der Situation, auf die der Humanismus trifft und reflektiert, gehören auch überall "nationale" Stimmungen oder Ressentiments, die sich aus den verschiedensten Anlässen und Beweggriinden entwickelt haben. Sie verlangen gewissermaßen nach einer intellektuellen Rechtfertigung, und es wird eine der vornehmsten Aufgaben der Humanisten, sie mit ihren Mitteln zu leisten. Anders gewendet: es ist an ihnen, Stimmungen zu Begriffen fortzubilden, "nationale" Gefühle in einen Nationalgedanken zu verwandeln, ein so vorher nicht vorhandenes Nationalbewußtsein zu schaffen. Wie sie dabei verfahren, zeigt exemplarisch gleich der Griindungsheros des Humanismus, Petrarca, mit seinem beriihmten Gedicht "ltalia mia" 12• Die in den Jahren 1344/45 entstandene "canzone" zielt auf den Krieg um die Herrschaft über Parma, den damals Mailand und Mantua gegen Verona und Ferrara, beide 12 Francesco Petrarca, Canzoniere, hrsg. v. Marco Santagata, Mailand 1996, 610-624; vgl. dazu Münkler/Grünberger/Mayer; Nationenbildung (Anm. 1), 94 f .

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Parteien mit dem Einsatz deutscher Söldner, führen: der Dichter will die Kriegsgegner zum Frieden bewegen, und zwar dadurch, daß er sie und ganz Italien in einen Gegensatz gegen die fremden Söldner bringt, die jetzt auf italienischem Boden stehen. Es ist augenscheinlich, daß er diese Konfrontation nicht einfach erfindet, sondern an eine in Italien herrschende Meinung anknüpfen kann; aber er überführt sie in ein elaboriertes System nationaler Vorstellungen. Grundlegend ist die Kontrastierung Italiens mit den "Barbaren": des schönen, gesitteten, zivilisierten Landes mit dem Volk "senza !egge" (V. 43), das "i nostri dolci campi" überschwemmt (V. 30). Petrarca evoziert mit dieser Kontrastierung den Gegensatz der alten Römer zu den barbarischen Germanen; die Begrifflichkeit selbst, mit der er operiert, ist antiken Ursprungs. Er erreicht damit eine doppelte Identifizierung: des gegenwärtigen Italien mit dem alten Rom und der gegenwärtigen Deutschen mit den Germanen. Die Italiener sollen sich ihrer Abkunft von Rom bewußt werden und in den von Rom ererbten Kampf gegen die Barbaren eintreten. Der Rückblick auf das Alterturn erweist zugleich, daß ihnen in diesem Kampf der Sieg gewiß ist, wenn sie nur einig sind: Marius und Caesar haben die Germanen überwunden; das ist ein Signal für die Zukunft; die Italiener, die Nachfahren der Römer, werden nur kurze Zeit benötigen, um die Fremden aus dem Land zu jagen: "ehe I' antiquo valore ne I' italici cor non e anchor rnorto" (V. 95-96). Die alte Tapferkeit in den italienischen Herzen, der Anschluß der Italiener an die Römer des Altertums, die Herleitung Italiens aus der Antike: das entspricht dem Grundverhältnis, das der Humanismus gegenüber dem klassischen Alterturn einnimmt; das ist die humanistische Klärung einer im Italien des 14. Jahrhunderts herrschenden "nationalen" Meinung, das ist die humanistische Begründung eines italienischen Nationalgedankens. Dieser Begriff von italienischer Nation bleibt in der Folgezeit bestimmend; noch Machiavelli ruft am Ende des "Principe" dazu auf, Italien von den Barbaren zu befreien, und schließt mit dem Wort Petrarcas über die alte Tapferkeit der Italiener. Nicht anders geht der nationale "Diskurs" der deutschen Humanisten vor sich: freilich, entsprechend der verschiedenen Problernlage, mit ganz eigener oder sogar entgegengesetzter Tendenz. Sie haben es mit einer ganzen Reihe von "nationalen" Motiven oder Affekten zu tun, die das eine gerneinsam haben, daß sie die Empfindung einer inferioren Position Deutschlands und der Deutschen zu erkennen geben; auch Petrarca bringt ein Gefühl der Schande, des "strazio" (V. 68), zum Ausdruck, und beide Male handelt es sich also darum, die eigene Nation über diesen Zustand zu erheben, ihr eine glorreiche Zukunft zu verheißen. An vorderster Stelle stehen die "gravamina" der "deutschen Nation" gegenüber der Kurie; der "Nation" ist dabei, nach dem zeitgenössischen Sprachgebrauch, der hohe Reichsadel als der Träger des Reiches gleichzustellen. Der Mainzer Kanzler Mactin Mayer faßt diese Klagen über die fiskalische Ausplünderung der "natio nostra", der "optimates nostri" oder "Germani principes", 1457 in einem Brief an Enea Silvio Piccolomini zusammen und gibt damit den deutschen Humanisten das Stichwort für eine Dauerkampagne13. Man leidet außerdem allenthalben an der zunehmenden Schwäche

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des Reiches nach außen, sieht die osmanische Bedrohung im Südosten, spürt, vor allem im Elsaß, den burgundisch-französischen Druck auf der Westgrenze des Reiches. Von beidem nicht zu trennen sind die anhaltenden Bemühungen um eine Reichsreform, die der feudalen Anarchie im Innern ein Ende bereiten und damit zugleich das Reich gegenüber auswärtigen Widersachern wappnen soll. Es sind das Facetten eines Reichspatriotismus oder Reichsnationalismus, die den deutschen Humanisten vorgegeben sind und die sie zum Gegenstand ihrer Reflexion machen. Das Ergebnis ist, wie bei Petrarca und den ihm folgenden Autoren, ein Nationalgedanke, der auf das Altertum zurückgeführt wird, und zwar auf das deutsche Altertum. Gleich Petrarca setzen die deutschen Humanisten die gegenwärtigen Deutschen mit den Germanen gleich, die dabei freilich in einer völlig veränderten Beleuchtung erscheinen: nicht als ungesittete, verabscheuungswürdige Barbaren, sondern als waffengewaltige Krieger, die im Innern zusammenhalten und damit allen äußeren Gegnern überlegen sind. Als Zeichen dieser Überlegenheit gelten die großen germanischen Siege über die Römer; in ihnen sollen die gegenwärtigen Deutschen ihre Bestimmung erkennen, ihnen neue große Siege hinzufügen. Als entscheidendes Dokument zur Beglaubigung dieses ewigen germanisch-deutschen Nationalcharakters dient ihnen die im 15. Jahrhundert neuentdeckte "Germania" des Tacitus mitsamt allen anderen einschlägigen Taciteischen Schriften. Das bedeutet, daß auch sie in letzter Instanz die Autorität des klassischen Altertums anerkennen. Sie schreiben den Deutschen eine ruhmreiche Frühzeit zu, in der sie sich sogar vor den Römern, dem Inbegriff der antiken Welt, auszeichnen, und doch bedürfen sie eines römischen Schriftstellers, der sie darüber zuverlässig ins Bild setzt. Das ist der Schlußstein ihres Nationalgedankens, das verleiht ihm eine humanistische Signatur. Seit Celtis' Ingotstädter Antrittsrede von 1492 begegnen solche Argumente wieder und wieder. Der erste, der sie systematisch zusammenstellt, ist Heinrich Bebel in seiner Lobrede auf Deutschland, die im Jahre 1504 herauskommt; er soll sie zuerst 1501 in Innsbruck vor Kaiser Maximilian anläßtich seiner Dichterkrönung gehalten haben 14• Er führt die gängigen "nationalen" Motive auf, die Klage über den äußeren Niedergang des Reiches und die Zwietracht im Innern (S. 96) sowie die Kritik am päpstlichen Stuhl (S. 102 f.), und er erhofft sich von Maximilian einen Ausweg aus dieser schmählichen Lage (S. 96). Zur Legitimierung dieser Klagen 13 Aeneas Silvius, Gerrnania und Jakob Wimpfeling: "Responsa et replicae ad Eneam Silvium", hrsg. v. AdolfSchmidt, Köln/Graz 1962,9 f. 14 Oratio Henrici Bebelii Justingensis Suevi, ad Augustissimum atque Sacratissimum Romanorum Regem Maximilianum, Oe ejus atque Gerrnaniae laudibus, in: Schardius redivivus sive Rerum Gerrnanicarum scriptores varii olim a D. Sirnone Schardia in IV. tomos collecti, Bd. 1, hrsg. v. Hieronymus Thoma, Gießen 1673, 95 - 104; vgl. dazu Klaus Graf, Heinrich Bebe! (1472-1518). Wider ein barbarisches Latein, in: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, hrsg. v. Paul Gerhard Schmidt, 2. Aufl., Stuttgart 2000, 179194.

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und Forderungen verkündet er, hauptsächlich nach Tacitus, das Lob der alten Germanen, das die gegenwärtigen und zukünftigen Deutschen verpflichten soll. Er beginnt mit dem Namen der Germanen, den er von "germinare", sprossen, ableitet, aber auch auf "fratres", Brüder, bezieht; der Name steht also für ein immer weiter wachsendes, kraftstrotzendes, von der Natur zum Krieg bestimmtes Volk und zugleich für innere Eintracht, einmütige Verbindung gegen äußere Feinde (S. 97). Dann handelt er von den Kriegen der Germanen: von ihrer Ausdehnung über ihre ursprünglichen Grenzen (S. 98), ihren Siegen, vor allem ihren Triumphen über die Römer (S. 99 f.). Ein weiterer Ruhmestitel sind Ursprung und Alter; hier steht der Satz des Tacitus voran, daß die Germanen sich niemals mit anderen Volkern vermischt, sondern immer ihre eigene Natur bewahrt hätten und damit sich selbst gleich geblieben seien (S. 101). Schließlich "a virtute": die Gerechtigkeitsliebe, Standhaftigkeit, Treue und Glaubensstärke der Germanen (S. 103). Das alles sind Dispositionen und Attribute, die vom Altertum bis in die Gegenwart fortgelten: sie konstituieren eine germanisch-deutsche Nation, die es seit jeher gegeben hat und immer geben wird; darin liegt die Gewähr, daß die Deutschen auch die Gefahren, die sie gegenwärtig bedrängen, bestehen werden. Es ist kennzeichnend, daß Bebel sein Lob auf die alten Germanen übergangslos auf die späteren Deutschen ausdehnt oder vielmehr ohne weiteres von ihnen auf jene zu sprechen kommt. Beide schießen zu einer untrennbaren Einheit zusammen. Diese Rede "de Germaniae laudibus" ist eine Lobrede auf Germanien oder Deutschland schlechthin. Die Worter selbst, "Germania" und "Germani", verschwimmen, wie bei den anderen Autoren, zwischen den Zeiten. Ein Schlußpunkt in der Ausbildung dieses Nationalgedankens ist im "Arminius" des Ulrich von Hutten erreicht 15 . Der um 1519 niedergeschriebene und 1529 veröffentlichte Text bringt alle damals in Deutschland umlaufenden reichspatriotischen Ideen sozusagen auf den schärfsten humanistischen Begriff. Der Autor steht selbst an vorderster Front in den "nationalpolitischen" Kämpfen seiner Zeit: als standesbewußter Vertreter und Protagonist der Reichsritterschaft und als Gegner Roms, der auf die Seite Luthers tritt. Sein ständischer und religiös-kirchlicher Leitbegriff ist der der Freiheit, und auf ihn sucht er im "Arminius" den Charakter der deutschen Nation zu fixieren ; das soll seinen "nationalen" Bestrebungen ein "ideologisches" Fundament verschaffen. Arminius, der "liberator Germaniae" (S. 232-234), personifiziert, daß die Deutschen seit ihren germanischen Anfangen eine Veranlagung zur Freiheit haben: zum Kampf gegen Unterdrückung und Tyrannei. Der Totenrichter Minos nennt ihn "liberrimum, invictissimum et Germanissimum" (S. 234); er ist der Freieste, der Unüberwindlichste und der Deutscheste: alle diese Begriffe bedeuten dasselbe, sind im Grunde austauschbar. Die 15 Ulrich von Hutten, Arminius, Anhang zu: Hans-Gert Roloff, Der Arminius des Ulrich von Hutten, in: Arminius und die Varusschlacht. Geschichte - Mythos - Literatur, hrsg. v. Rainer Wiegels/Winfried Woesler, 2. Aufl., Faderborn 1999, 211-238 (der Anhang 221 238); vgl. dazu Hajo Holbom, Ulrich von Hutten (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 266), Göttingen 1968.

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Germanen oder Deutschen insgesamt erscheinen als das Volk der Freiheit: sie haben die Eigenart, alles frei herauszusagen (S. 222); Leute, die sich knechten Jassen, sind nicht "pro Germanis" zu halten (S. 228); die Freiheit ist ein Naturrecht, das den Deutschen vor allen anderen Völkern zusteht (S. 234). Die Pointe ist auch hier, daß für alle diese Urteile die Autorität des Tacitus den Ausschlag gibt. Arminius, der die römische Knechtschaft abgeschüttelt und damit die Deutschen auf den ihnen vorgezeichneten Weg der Freiheit geflihrt hat, ruft den römischen Geschichtsschreiber zum Zeugen für diese Großtat auf: niemand hat zuverlässiger Geschichte geschrieben, niemand weniger den Leidenschaften Tribut gezollt; auch waren ihm die germanischen Dinge aus eigener Anschauung und sorgfältigem Studium wohlbekannt; ja, die Tatsache, daß er ein ,,hostis" ist, macht sein Zeugnis um so bedeutsamer (S. 224). Die deutsche Freiheit, die Hutten proklamiert, hat in diesem antiken Zeugnis ihre eigentliche Grundlage; das ist ihre humanistische Legitimierung. Die "Nationalismen", denen wir bisher, von Petrarca bis zu Hutten, begegnet sind und die sich durch weitere Beispiele, auch außerhalb Italiens und Deutschlands, vermehren ließen, sind alles andere als friedlich oder selbstgenügsam. Sie sind vielmehr kämpferisch, von Feindschaft gegen andere Nationen erfüllt, auf Entgegensetzung und Abgrenzung bedacht. Petrarca definiert die italienische Nation im erklärten Gegensatz zu den Barbaren, voran zu den Deutschen, aber, wenn erforderlich, auch zu den Franzosen; seine "lnvectiva contra eum qui maledixit Italie", ein 1373 entstandenes Pamphlet, spart nicht mit herabsetzenden Worten über die unausrottbare Knechtsgesinnung der "Galli" seit den Tagen der Druiden 16• Demgegenüber setzen die deutschen Humanisten ihre Nation wiederum von den Italienern, aber gleichfalls von den Franzosen ab; Bebet verwahrt sich etwa dagegen, die "Germani" als "fratres" der "Galli" anzusehen, die sie vielmehr in allen körperlichen und geistigen Tugenden überträfen (S. 97). Der nationale "Diskurs" der Humanisten hat mithin zunächst nichts mit Volkerverständigung zu tun. Und dennoch bewirkt er unter den Humanisten, die sich von Land zu Land daran beteiligen, eine geradezu unverbrüchliche Einheit. Er findet nämlich überall auf die gleiche Weise statt: nicht, was die Inhalte des jeweiligen Nationalgedankens betrifft, aber im Hinblick auf die Methode, die man jeweils zur Ableitung und Begründung einsetzt. Überall geht man auf das Altertum zurück, sucht man in den frühesten Zeiten die dauernde Bestimmung der eigenen Nation, und überall beruft man sich dabei auf die Autorität der klassischen Schriftsteller: in Italien durch unmittelbare Identifizierung mit dem alten Rom, in Deutschland oder Frankreich, indem man für das eigene, von Rom distanzierte Altertum die römische oder überhaupt antike Beglaubigung erstrebt. Dieser Rekurs auf die Antike ist das Entscheidende; durch ihn erweisen sich die Autoren, die uns hier beschäftigen, als Humanisten, als Angehörige der humanistischen "res publica litteraria" und damit einer 16 Francesco Petrarca, lnvectiva contra illum qui maledixit ltalie, in: Ders., Prose, hrsg. v. G. Martellottil P. G. Ricci I E. CarraralE. Bianchi, Mailand I Neapel 1955, 768-807, hier 776 und 802; vgl. dazu Münkler I Grünherger I Mayer, Nationenbildung (Anm. 1), 95 ff.

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universalen Genossenschaft; ihr nationales Denken selbst hat die Existenz und die Anerkennung dieser Genossenschaft zur Voraussetzung. Dazu kommt nun aber vor allem, daß der Humanismus aus sich heraus, aus seinem universalen Programm heraus einen Nationalgedanken erzeugt, der nur ihm gehört und der ganz ihm eigentümlich ist: ein spezifisches nationales Gewächs, auf das alle anderen ,,Nationalismen" aufpfropft sind. Es handelt sich darum, daß unter den Humanisten aus verschiedenen Ländern ein Wettstreit entbrennt um die vollendete Verwirklichung oder die Erfüllung des humanistischen Bildungsgedankens und daß sie ihn von vornherein als nationale Konkurrenz oder Rivalität empfinden. Die Entstehung und Verbreitung des Humanismus ist an diese "Nationalisierung" gebunden; sie ist die Form, in der er von Land zu Land in Erscheinung tritt. Mit ihr geht einher, daß sich die Humanisten der verschiedenen europäischen Länder jeweils als Kulturnation konstituieren, daß die humanistische "res publica litteraria" sich in Kulturnationen differenziert. Es ist diese kulturnationale Position, von der aus die Humanisten jenen nationalen "Diskurs" führen, den wir vorhin kennengelernt haben; sie vermittelt gewissermaßen zwischen der Universalität des humanistischen Bildungsgedankens und dem jeweiligen "nationalen" oder "nationalpolitischen" Anwendungsfall; sie bildet die Basis und den eigentlichen Rechtfertigungsgrund für die Argumente, die den "Diskurs" prägen. Auch dieser kulturnationale Wettstreit steckt voller Spannungen und Animositäten: man stellt Vergleiche an, neigt zur Selbstüberhebung oder zum Neid, setzt andere, soweit immer möglich, herab. Aber das kann die universale Einheit der humanistischen ,,res publica litteraria" nicht aufheben, im Gegenteil: man rivalisiert um die VefV'irklichung gemeinsamer Ziele, auch und gerade darum, wem es zukommen soll, die ,,Humanisierung" Europas voranzutreiben; man will innerhalb der universalen Genossenschaft eine größtmögliche Rolle spielen. Daraus ergibt sich als wichtigste Konsequenz, daß es auf die Reputation ankommt, die man bei anderen genießt; der Streit hat also Koexistenz, Kooperation, Korrespondenz zur Bedingung. Das Nationale wird in allen diesen Hinsichten zum Vehikel des Universalen; Kosmopolitismus und Nationalismus sind zwei Seiten derselben Medaille, werden im Grunde gleichbedeutend. Die erste humanistische Kulturnation sind naturgemäß die Italiener, und sie blikken zunächst einmal mit sprichwörtlicher Arroganz auf die anderen Volker herab. Wenn Petrarca in ,,ltalia mia" Italiener und Römer auf der einen und barbarische Deutsche und Germanen auf der anderen Seite konfrontiert, dann geht er von seinem humanistischen Selbstverständnis aus: die Italiener sind das Volk, dem es gegeben ist, in der unmittelbaren Nachfolge der Römer das klassische Altertum wiederzubeleben und damit Bildung und Kultur zu erneuern, im Kontrast zu den Deutschen, die in der Stumpfheit ihrer germanischen Altvorderen verharren; in der "Invectiva" treten die Franzosen an die Stelle der Deutschen. Allerdings läßt Petrarca keinen Zweifel, daß es die Mission der Italiener sei, auf Dauer alle diese Barbaren zu kultivieren und zu sich emporzuheben. In der "canzone" heißt es ausdriicklich,

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daß Verachtung und Haß nicht seine Sache sei (V. 63- 64); das ist ein altruistisches Wort, das die Polemik lindern soll. Noch deutlicher äußert er sich in der "lnvectiva". Nachdem er sich über die "Gallorum ignorantia" hergemacht hat (S. 798), gibt er die Veränderungen zu bedenken, die ein Volk durchlaufen könne: die Römer, die in früheren Zeiten nach Gallien oder Germanien verpflanzt worden seien, hätten schließlich die barbarischen Sitten ihrer neuen Umgebung angenommen; umgekehrt seien die Gallier, die im Altertum nach Norditalien gekommen seien, längst kultivierte Leute geworden, bei denen nichts mehr an ihre barbarische Herkunft erinnere (S. 806): eine Anweisung für die Zukunft. Sehr bemerkenswert ist der Satz, mit dem Petrarca die "lnvectiva" beschließt. Er sagt da von Livius, dem "pater historiae", daß Besucher aus den entlegensten Orten Spaniens und Galliens nach Rom gekommen seien, um ihn zu sehen und seiner vollendeten Rede zu lauschen (S. 806): ein solcher Lehrmeister Europas will auch Petrarca sein; das ist seine weltbürgerliche Sendung. Die Formierung einer humanistischen Kulturnation in Deutschland geht unter sehr viel schwierigeren Umständen vonstatten, und es versteht sich, daß dabei das Verhältnis zu den Italienern bestimmend wird: ein kompliziertes Verhältnis, das gleichermaßen von Anziehung und Abstoßung oder vielmehr von einem beständigen Wechsel beider bestimmt ist. Die deutschen Humanisten sehen den Rückstand zu den Italienern und wollen ihn aufholen, und sie halten sich dabei strikt an das italienische Vorbild. Aber sie leiden auch unter ihrem Rückstand, und sie leiden zugleich unter der hochfahrenden Art, mit der die Italiener ihnen diese Inferiorität immer wieder vor Augen führen. Sie fühlen sich minderwertig, auch ungerecht behandelt; dieses Ressentiment schlägt um in Trotz, in Vergeltungsbedürfnisse, in maßlose Geltungsanspriiche, in das Verlangen, es den Italienern zu zeigen. Freilich am Ende ist ihnen wiederum nichts erwünschter, als von den Italienern beachtet zu werden. Hier bildet sich ein ebenso empfindliches wie aggressives Nationalbewußtsein heraus, das sich gleichwohl im Rahmen der humanistischen "res publica litteraria" hält, ja, von ihr seine entscheidenden Anstöße empfängt. Besonders schwer haben es die deutschen Humanisten bei ihrem Versuch, über die historischen Grundlagen ihres kulturnationalen Anspruchs ins reine zu kommen. Für die italienischen Autoren gibt es da keine Probleme; sie sehen ihre Kulturnation einfach in der Nachfolge der Römer, der Italiener der Antike. Wenn die deutschen Autoren in das ihnen von Tacitus bekanntgemachte germanische Altertum blicken, treffen sie zwar auf ein freiheitsliebendes Kriegervolk, das sie in den politischen Nöten der Zeit zum Vorkämpfer für künftige deutsche Siege aufrufen können, aber kaum auf Spuren jener Kultur, der sie selbst in der Gegenwart nachstreben. Jedenfalls leugnet keiner ernsthaft, daß die alten Germanen durch einen Abgrund von der humanistischen deutschen Gegenwartskultur entfernt sind. Es hat also eine Entwicklung vom alten zum neuen Deutschland gegeben: den Prozeß der Kultivierung eines ursprunglieh kulturlosen Volkes. Die entscheidende Frage lautet, wie die deutschen Humanisten mit dieser Erkenntnis umgehen. Eine ihrer Argumentationsstrategien besteht darin, sie faktisch zu ignorieren und demgegenüber

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jene anderen Tugenden der Germanen herauszustreichen, durch die sie sogar den Römern überlegen seien, insoweit also der germanischen Barbarei eine positive Seite abzugewinnen; dieses kompensatorische Bedürfnis ist überhaupt das ursprüngliche Motiv, aus dem heraus die deutschen Humanisten ein glorreiches deutsches Altertum benötigen: die ,,reichspatriotische" Nutzanwendung, von Celtis über Bebel bis zu Hutten, ist erst der nächste Schritt. Freilich kann sich das kulturelle Selbstgefühl der deutschen Humanisten damit nicht zufrieden geben; es verlangt mehr, nämlich den Nachweis, daß die Kultivierung der Germanen und Deutschen seit dem Altertum wesentlich einer eigentümlichen Begabung oder Leistung der germanisch-deutschen Nation selbst zu verdanken sei. Es zeigt sich, daß die Deutschen über eine angeborene Schöpferkraft verfugen, in der auch die Fähigkeit zur Bildung enthalten ist; ihre militärischen Tugenden sind nur die erste Betätigung dieses Vermögens, die alles andere nach sich zieht: sozusagen die sinnliche Erscheinung einer geistigen Bestimmung. Die humanistische deutsche Kulturnation erhält also eine doppelte Vorgeschichte: sie geht zurück auf einen seit Anbeginn feststehenden germanisch-deutschen Nationalcharakter, der aber die Fähigkeit einschließt, sich im Laufe der Zeiten zu verändern, von der Barbarei zur Kultur aufzusteigen. Diese Vorgeschichte soll die deutschen Humanisten allerdings keineswegs aus den römisch-italienischen Zusammenhängen herauslösen; der deutsche Humanismus bleibt auf die antike Kultur und auf die italienische Wiederbelebung des klassischen Altertums hingeordnet. Es handelt sich für ihn vielmehr allein darum, den Anteil zu präzisieren, der ihm bei der Erneuerung der antiken Kultur zukommt: den Anteil an einem Unternehmen, das flir die europäische Menschheit insgesamt wichtig ist. Der humanistische deutsche Kulturnationalismus hat eine Programmschrift, die alle diese Gedanken exemplarisch entwickelt: Celtis' Ingolstädter Antrittsrede von 1492 17• Der Autor stellt darin vor dem Publikum einer deutschen Universität sein Unterrichtskonzept vor, das die wesentlichen Postulate des humanistischen Bildungsgedankens versammelt: die überragende Bedeutung der "eloquentia", ohne die es kein Wissen und keine Gelehrsamkeit gäbe (S. 228); die Verwerfung der Scholastik, die die Reinheit der lateinischen Sprache verdunkelt hat (S. 235 f.); die Nachahmung der "priscorum philosophorum, poetarum et oratorum" (S. 228). Er ruft die deutschen Professoren und Studenten auf, diese Forderungen anzunehmen und zu verwirklichen, erklärt das zu einer nationalen Aufgabe; die Verkündung des humanistischen Bildungsgedankens und jener nationale Appell sind ihm ein und dasselbe. Celtis begründet diese Position, indem er sie in einen allgemeinen Zusammenhang stellt. Durch die Ungunst der Zeiten sei allenthalben, selbst "apud ge17 Konrad Celtis, Oratio in gyrnnasio in Ingolstadio publice recitata, in: Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten, hrsg. v. Hans Rupprich (Deutsche Literatur. Reihe 8, 2), Leipzig 1935, 226 - 238; vgl. dazu Lewis W Spitz, Conrad Celtis the German Arch-Humanist, Cambridge (Mass.) 1957, und Michael Seidlmayer, Konrad Celtis, in: Ders., Wege und Wandlungen des Humanismus. Studien zu seinen politischen, ethischen, religiösen Problemen, hrsg. v. Hans Barion, Göttingen 1965, 174 - 196.

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nitricem et antiquam litteramm parentern ltaliam", der "splendor litterarum" ausgelöscht worden (S. 226); daraus erwächst allen Völkern die Aufgabe, um die Wiederherstellung dieses "splendor" zu konkurrieren; der Humanismus erscheint also als ein universaler Auftrag, den jede Nation an ihrer Stelle zu erfüllen hat: zu ihrem Heil und damit zugleich zum Heil des Ganzen. Celtis spricht unmißverständlich aus, daß die Italiener dabei einstweilen an der Spitze stünden. Italien ist ihm das Land, aus dem überhaupt die "litterae" stammen; er erkennt also die Identifizierung Italiens mit Rom an, die schon Petrarca behauptet. Zwar seien seit der Antike die "litterae" auch in Italien verfallen; aber sie seien dort zuerst wieder emporgekommen: "litterarum amore et earum studio"; er gebraucht sogar den Begriff der "semper florentis Italiae" (S. 233 f.). Jedenfalls scheinen ihm die Deutschen weit hinter den Italienern zuriickzustehen. Er sieht sie großenteils noch der ursprungliehen Barbarei verhaftet, von der die klassischen Schriftsteller berichten; sie seien so ungeschlacht, grausam, ja, tierisch wie ihre germanischen Vorfahren (S. 229), bar jeder literarischen Bildung (S. 235). Um so entschiedener mahnt er sie zur Umkehr: sie sollen die "foeda barbaries" abstreifen und ,,Romanorum artium affectatores" werden (S. 229), den "splendor litterarum" anziehen, in literarischen Wettstreit mit den Italienern treten: "in hoc pulcherrumo scribendi genere cum illis, quos tarnen miramur, certemus" (S. 235). Andererseits ist er auch bestrebt, die Deutschen gegenüber den Italienern bis zu einem gewissen Grade aufzuwerten: er kritisiert das luxuriöse Leben der Italiener, hebt davon die kernige Schlichtheit der deutschen Verhältnisse ab (S. 233), riihmt die altväterliche Tugend und die unbesiegliche Kraft, mit der die Germanen oder Deutschen einst das römische Reich an sich gebracht hätten (S. 229), bemerkt auch die Verbesserung des Klimas, die Trockenlegung der Sümpfe, die Rodung der Wälder, die Entstehung einer deutschen Städtekultur (S. 230). Er spricht den Deutschen mit alledem ein genuines Potential zu, das ihnen auch einen eigenen Zugang zu den "litterae" eröffnet. Sie sollen daraus die Hoffnung schöpfen, daß sie durchaus die Möglichkeit haben, zu den Römern und zu den Italienern aufzuschließen. Das ist und bleibt das Ziel, um das es Celtis geht: eine deutsche Kulturnation im Rahmen einer auf römisch-italienischen Fundamenten errichteten Weltkultur. Celtis konzentriert den von ihm proklamierten kulturnationalen Wettstreit auf ein Erfordernis: die Inaugurierung einer nationalen Geschichtsschreibung. An ihr ist auch dem italienischen Humanismus gelegen. Er legitimiert sein kulturnationales Bewußtsein im unmittelbaren Rückgang auf die altrömische Kultur und hält daher diese historische Dimension ständig präsent. Schon Petrarca beschreibt die humanistische Kultur in Italien, gerade auch im Vergleich mit den "Barbaren", nicht anders als mit ständigem Bezug auf Rom, und es ist nur folgerichtig, wenn daraus ein umfassendes Projekt nationaler Geschichtsschreibung entspringt, das sich zum Ziel setzt, die Herkunft des gegenwärtigen Italien aus dem ,,imperium Romanum" nachzuzeichnen. Der Autor, der es als erster in großem Maße zu realisieren sucht, ist Flavio Biondo mit seiner ,,Italia illustrata", die 1474, ungefähr zwanzig Jahre

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nach ihrer Niederschrift, im Druck erscheint 18• Er führt das von Petrarca angeschlagene Thema durch und baut das Geschichtsbild des Dichters zu einer historisch-kritisch fundierten Geschichtsdarstellung aus; er legt dabei besonders auf die Veränderungen Wert, die sich zwischen Altertum und Gegenwart vollzogen haben, ohne allerdings die grundsätzliche Identität des gegenwärtigen Italien mit dem alten Rom in Frage zu stellen. Dem deutschen Humanismus muß sich das Problem einer nationalen Geschichtsschreibung mit noch größerer Dringlichkeit stellen. Denn er bezieht sein kulturnationales Verständnis ebenfalls auf die Vergangenheit; aber dieses Verhältnis ist sehr viel komplizierter und bedarf daher in besonderem Maße der historiographischen Klärung. So verwundert es nicht, daß Celtis sein Iogoistädter Publikum vorab auf die Notwendigkeit verpflichtet, deutsche Geschichte zu treiben. Was hier interessiert, ist, daß Celtis an diesem Fall geradezu paradigmatisch jenes Verhältnis von Anziehung und Abstoßung demonstriert, das seine Einstellung und die Einstellung der deutschen Autoren überhaupt gegenüber dem italienischen Humanismus kennzeichnet. Er beklagt einerseits die Unkenntnis der Deutschen: sie hätten keine Ahnung von der Geographie und Geschichte ihres Landes, und sie wüßten auch nicht, was die klassischen griechischen und römischen Schriftsteller über Germanien oder Deutschland geschrieben hätten (S. 229). Ihnen sollen sie also nacheifern, und sie sollen damit zugleich auch das historiographische Niveau der italienischen Humanisten erreichen; beide gehören für ihn zusammen. Aber sozusagen im Gegenzug äußert Celtis ein Ressentiment, das seitdem die einschlägigen Schriften deutscher Humanisten topisch durchzieht: die auswärtigen Geschichtsschreiber verbreiteten über die deutschen Kriegstaten planmäßig die Unwahrheit, während sie die Geschichte ihrer eigenen Völker völlig kritiklos in den Himmel höben (S. 230); dieser schlimme Argwohn richtet sich auch und zunächst gegen die römischen und die italienischen Autoren, die dadurch in ein merkwürdiges Zwielicht geraten. Celtis fühlt sich dadurch erst recht veranlaßt, die Ignoranz der Deutschen gegenüber ihrer Geschichte anzuprangern und einen Geschichtsschreiber herbeizuwünschen, "qui res Germanica virtute gestas aeternitati commendet" (S. 230). Die Forderung nach einer deutschen Geschichte wird damit zum Inbegriff dessen, was der deutsche Humanismus in Konkurrenz mit dem Ausland, zumal mit Italien, leisten soll; sie manifestiert damit zugleich das Koordinatensystem, auf das er sich festgelegt sieht: die Dialektik von Eigensinn und Nachahmung, von Nationalität und Universalität. Celtis selbst macht sich alsbald in diesem Sinn an die Abfassung eines großen Werkes zur deutschen Geschichte: einer "Germania illustrata", die die "Italia illustrata" Biondos gleichermaßen imitieren wie übertreffen soll. Er will mit ihr dem Interesse an der nationalen Geschichte in Deutschland Bahn brechen, und er sehnt sich vielleicht noch mehr nach dem Bei18 Blondi Flavii Forliviensis ltalia illustrata, in: Ders., Opera, Basel 1531; vgl. dazu Ottavio Clavuot, Biondos ,,Italia illustrata" - Summa oder Neuschöpfung? (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 69), Tübingen 1990.

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fall der Italiener. Als er 1495 die "Norimberga", ein Präludium zur "Germania illustrata", schreibt, da verzweifelt er fast über die "imperitorum illorum et barbarorum hominum iudicia", mit denen er es in Deutschland zu tun hat, und wendet sich statt dessen den "externis tarnen et doctis hominibus" zu, die sich vor allem in Italien finden 19; er will also deutsche Geschichte für ein italienisches Publikum schreiben. Es ist nicht nötig, umständlich zu belegen, wie sehr Celtis mit der lngolstädter Antrittsrede und seinem Projekt einer "Germania illustrata" die Absichten und den Ton der meisten deutschen Humanisten trifft. Genug, daß Bebeis "Oratio" und Huttens "Arminius" zuletzt gleichfalls auf den von Celtis exponierten kulturnationalen Kategorien beruhen, daß sie vor allem, aus denselben Motiven wie Celtis, nach einer nationalen Geschichtsschreibung verlangen, daß sie selbst schon im Grunde als Umriß oder Teilstück einer solchen zu verstehen sind. Die nationale Historiographie wird überhaupt im deutschen Humanismus zum zentralen literarischen Thema: nach dem Vorbild der Italiener, aber auch als Akt der Selbstbehauptung und Selbstbestimmung, immer mit dem Ziel, vor italienischen Lesern bestehen zu können. Jakob Wimpfelings ,,Epithoma Germanorum" von 1505, in gewisser Weise ein Gemeinschaftswerk des südwestdeutschen Humanismus, ist genau nach diesem Muster aufgezogen: der Autor will den ausländischen, voran den italienischen Volks- und Landesgeschichten eine deutsche zur Seite stellen, die im Ausland vergessenen oder unterdriickten deutschen Ruhmestaten wiederum ans Licht heben und den italienischen Kapazitäten gefallen20. Es soll, um diese Gemengelage zu verdeutlichen, nur noch auf einen signifikanten Tatbestand hingewiesen werden: daß nämlich die deutschen Humanisten sich bei allem, was sie über ihre Nation schreiben, nicht nur in einem allgemeinen Sinne auf die Italiener beziehen, sondern auch bis in die Einzelheiten ihrer Argumentation hinein. Sie treffen fast keine Aussage, die nicht schon zuvor, aus mannigfaltigen Anlässen, von einem italienischen Autor geäußert worden wäre. Schon Petrarca urteilt über die germanisch-deutschen Barbaren in einer Weise, die in Deutschland zur Auseinandersetzung zwingt. Später sind es insbesondere drei Autoren, die mit ihren Feststellungen über Deutschland und deutsche Geschichte auf den deutschen Humanismus geradezu schulbildenden Einfluß ausgeübt haben, sei es dadurch, daß sie unter ihnen Empörung hervorgerufen oder ihnen Anregungen gegeben haben; beides fließt fast ununterscheidbar zusammen. Enea Silvio Piccolomini malt in seiner "Germania" (1457/58) die barbarischen Zustände der alten Ex libro Conradi Celtis (Anm. 9), 65. Epithoma Germanorum lacobi wympfelingii et suorum opera contextum, in: Hic subnotata continentur etc., Straßburg 1505, Widmungsepistel und Kap. 54; die Widmungsepistel auch in: Jalrob Wimpfeling, Briefwechsel, hrsg. v. Otto Herding I Dieter Menens, Bd. 1 (Jacobi Wimpfelingii Opera selecta lß /1 ), München 1990, 464- 468. Vgl. dazu Charles Schmidt, Histoire litteraire de 1' Alsace. A la fin du XV' et au commencement du XVI" siecle, Bd. 1, Paris 1879, und Dieter Menens, Jakob Wimpfeling (1450-1528). Pädagogischer Humanismus, in: Humanismus im deutschen Südwesten (Anm. 14), 35-57. 19

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Germanen aus, um davon das blühende und gebildete Deutschland der Gegenwart abzuheben; er liefert den deutschen Humanisten damit einen ersten Abriß deutscher Nationalgeschichte, den sie in vielem kritisieren, von dem sie aber nicht absehen können; er macht sie auch zum erstenmal mit der "Germania" des Tacitus bekannt21 • Giovanni Antonio Campano bereitet für den Regensburger Reichstag von 1471 eine Rede vor, in der er es für geboten hält, die Deutschen an ihre angeborene kriegerische Tüchtigkeit zu erinnern und das durch Beispiele vom Altertum bis zur Gegenwart zu erläutern; das ist eine Schatzkammer, aus der sich die deutschen Humanisten bedienen, auch und gerade weil sie dem Autor im allgemeinen ziemlich mißtrauen22• Annius von Viterbo will einen bis dahin verschollenen Schriftsteller aus dem voralexandrinischen Babyion entdeckt haben, der Erstaunliches über die kulturelle Blüte bei den ältesten Germanen zu berichten weiß; der 1498 mit weitläufigem Kommentar erschienene Text macht in Deutschland großes Aufsehen, weil er die herrschenden Vorstellungen von der Barbarei der germanisch-deutschen Friihzeit zu korrigieren oder doch zu relativieren scheint23 • Nationalismus und Kosmopolitismus im deutschen Humanismus und im Humanismus überhaupt: es gibt keinen schlagenderen Beweis als diese konkrete italienischdeutsche Beziehungsgeschichte, daß es sich dabei nicht um einen Gegensatz, sondern um ein komplementäres Verhältnis handelt. Heute bewegt uns die Frage, was aus den europäischen Nationen werden soll, wenn die Einigung Europas so wie bisher weitergeht; auch das Münklersche Buch setzt an diesem Problem an. Die humanistische Konfiguration von Kosmopolitismus und Nationalismus kann dazu gewiß keine Handlungsanweisung bieten. Es ist aber doch bedeutsam, daß wir hier auf einen Nationalgedanken treffen, der nicht auf sich selbst beschränkt ist, sondern über sich hinausweist, der in seinem ionersten Kern mit einem universalen Anspruch zusammenfällt, sich als Ausprägung oder Verwirklichung eines Allgemeinen versteht, eine menschheitliche Genossenschaft herbeiführen will. Auch in der weiteren Geschichte des Nationalgedankens hat diese Einheit oder Zusammenschau des Nationalen und des Universalen niemals gefehlt. Rousseau, der Nationalstaat der Französischen Revolution, die natioAeneas Silvius, Germania (Anm. 13). loannis Antonii Campani Episcopi Interamniensis a Prutini in conventu Ratisponensi ad exhortandos principes Gennanorum contra Thrcos et de 1audibus eorum oratio, in: Ders., Opera ornnia, 2. Aufl., Venedig 1502, Fo. XC'-XCV; vgl. dazu Frank-Rutger Hausmann, Giovanni Antonio Campano (1429-1477). Ein Beitrag zur Geschichte des italienischen Humanismus im Quattrocento, in: Römische Historische Mitteilungen, Bd. 12, 1970, 125- 178. 23 Berosi de Antiquitatibus 1ibri V, in: Antiquitatum variarum vo1umina. XVII. A venerando et sacrae theo1ogiae: et praedicatorii ordinis professore Io. Annio hac serie dec1arata etc., Fo. Cllllr-CXLVv, Paris 1512; vgl. dazu Wemer Goez, Die Anfänge der historischen Methoden-Reflexion im italienischen Humanismus, in: Geschichte in der Gegenwart. Festschrift für Kurt Kluxen, hrsg. v. Ernst Heinen/Hans-Julius Schoeps, Paderborn 1972, 3-21, und Marianne Wifstrand Schiebe, Annius von Viterbo und die schwedische Historiographie des 16. und 17. Jahrhunderts (Acta Societatis Litterarum Humaniorum Regiae Upsalieensis, 48), Uppsala 1992. 21

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nalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, selbst die nationalistischen Exzesse des 20. Jahrhunderts lehren, daß "Weltbürgertum und Nationalstaat" sich zuletzt nicht trennen lassen: "Als ob Weltbürgertum und Nationalstaat Gegensätze wären, gar einander ausschlössen, statt einander vorauszusetzen und zu durchdringen, und zwar so, daß ihre Trennung das Ende beider bedeutet"24• Was wir gegenwärtig erleben, ist nur eine neue Variation dieses alten Motivs, die vorläufig letzte Etappe einer langen Entwicklungsreihe, die die Humanisten eröffnet haben. Wer wollte bestreiten, daß wir diese Form historischer Selbstbesinnung brauchen, um die Aufgaben der Gegenwart zu lösen!

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Vossler, Rousseaus Freiheitslehre (Anm. 3), 334.

Widerstandsrecht und Verfassung in Spätmittelalter und früher Neuzeit Von Eberhard Isenrnann, Köln In seiner 1793, also wenige Jahre nach Ausbruch der Französischen Revolution, erschienenen "Allgemeinen Staatsrechts- und Staatsverfassungslehre" vertrat der Göttinger Naturrechtslehrer August Ludwig Schlözer die prägnante Auffassung, daß aus der Frage von demjure resistendi in der Folge das Staatsrecht erwachsen mußte 1, das Staatsrecht als die rechtliche Regelung der Beziehungen des einzelnen und seiner Freiheitssphäre zur Staatsgewalt, zunächst in der wissenschaftlichen Lehre, dann realisiert durch die Gesetzgebung2 • Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich in Deutschland, vertreten von Samuel Pufendorf, Christian Thomasius und anderen, zunächst eine Doktrin zur herrschenden Lehre erhoben, die sich trotz energischer Betonung der materiellen Rechtsschranken der Staatsgewalt und der unzerstörbaren Grundrechte des Individuums an die absolutistische Auffassung von der über dem positiven Recht stehenden souveränen Herrschergewalt anschloß und ein Widerstandsrecht, eine ,vis coactiva' der Untertanen gegen den Fürsten ablehnte. Erst im 18. Jahrhundert gewann, verbreitet etwa von Ulrich Huber, Christian Wolff, Gottfried Achenwall und August Ludwig Schlözer, eine Naturrechtslehre Boden, die auf der Grundlage der Theorie vom resolutiv bedingten Herrschaftsvertrag im Anschluß an die sogenannten Monarchomaehen und das System des Althusius ein Widerstandsrecht proklarnierte3 . Das Volk darf widerstehen, zwingen, absetzen, strafen: Alles nach I August Ludwig Schlözer; Allgemeine StatsRecht- und StatsVerfassungsLehre, Göttingen 1773, 83. - Im folgenden handelt es sich um einen etwas erweiterten und mit den nötigsten Anmerkungen versehenen Vortrag. - Zum Problem des Widerstandsrechts siehe insbesondere Arthur Kaufmann (Hrsg.), Widerstandsrecht (Wege der Forschung, 173), Darmstadt 1972 (mit umfassender Bibliographie); Gerhard Dilcher; Art. ,Widerstandsrecht', in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5, Berlin 1998, Sp. 1351-1364. Zum politischen Widerstand von unten und zu Widerstandshandlungen siehe Peter Blickle (Hrsg.), Resistance, Representation, and Comrnunity (The Origins of the Modem State in Europe 13th to 18th Centuries), Oxford 1997. 2 Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt. Zugleich ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des modernen Staatsgedankens, Breslau 1916, 3 f. 3 Ebd., 95-350. Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtliehen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik (1880), 5. Auf!., ND Aalen 1958, 279-320. Christoph Link, Jus resistendi. Zum Widerstandsrecht im

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dem Begriff eines Vertrages überhaupt, so faßte Schlözer diese Lehnneinung vereinfachend und übersteigernd zusammen4 • Später sah Robert von Mohl, der den Begriff des Reichspublizisten Johann Ludwig Klüber vom nur "verfassungsmäßigen Gehorsam" der Untertanen aufnahm, in der Widerstandslehre die schärfste Ausprägung der konstitutionellen Theorie, des Gedankens der rechtlichen Gebundenheit der Herrschergewalt5 .

Die Frage des Widerstandsrechts wurde indessen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der positivistischen Staatslehre, zumal seit der Reichsgründung, weitgehend als Rechtsproblem aus dem Staatsrecht eliminiert. Einen Anstoß dazu hatte bereits Kant gegeben, der die Vorstellung zurückwies, es könne im Rechtsstaat ein verfassungsmäßiges Recht der Revolution, wie er sich ausdrückte, in irgendeinem Falle geben. Es gebe kein angebliches Notrecht, "das als ein vermeintes Recht, in der Not Unrecht zu tun, ein Unding ist". Es gebe freilich "unverlierbare Rechte des Volkes gegen das Staatsoberhaupt", eine äußerliche Garantie dieser Rechte aber sei undenkbar; "die Freiheit der Feder ist das einzige Palladium der Volksrechte"6 . Für Otto von Gierke, der in seinem großen Werk über Althusius die Auffassung Kants teilte, daß ein Widerstandsrecht die Negation der Rechtsstaatsidee bedeutete, lag die eigentliche Leistung der konstitutionellen Doktrin auf naturrechtlicher Basis gerade nicht in Versuchen, einen Rechtsschutz, wie etwa im noch wenig verfaßten Ständestaat durch ein Rechtsinstitut der Selbsthilfe, "gegen den Staat und außerhalb des Staates zu konstruiren", sondern vielmehr in der mit der Lehre von der Gewaltenteilung erhobenen Forderung nach einer "Organisation des Rechtsschutzes innerhalb des Staates und durch den Staat"7 . Von diesen Gedankengängen Gierkes angeregt, gelangte Kurt Wolzendorff in seiner 1916 erschienenen historischen Untersuchung über "Staatsrecht und Naturrecht deutschen Staatsdenken, in: Festschrift für A. Dordett, Wien 1976, 55 ff.; ders., Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre (Wiener rechtsgeschichtliche Arbeiten, 12), Wien I Köln I Graz 1979, bes. 193 - 20 I. 4 Schlözer. Allgemeine StatsRecht- und StatsVerfassungsLehre (Anm. 1), 105 f. 5 Robert von Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, I. Bd., Erlangen 1855, ND Graz 1960, 321. Miclulel Köhler; Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der I. Hälfte des 19. Jahrhunderts (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 18), Berlin 1972 (zu Klüber, 60- 66; zu Mohl, 82- 86). Hella Mandt, Tyrannislehre und Widerstandsrecht Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jahrhunderts (Politica, 36), DarmstadtiNeuwied 1974. 6 Die Zusammenstellung der Zitate bei Gierke, Johannes Althusius (Anm. 3), 315 f., Anm. 129. 7 Gierke, Johannes Althusius (Anm. 3), 316. ,,Nur Kant brach rückhaltlos mit der Idee, dass es ein verfassungsmässiges Recht der Revolution in irgend einem Falle geben könne, und suchte vielmehr den Gedanken der formellen Allmacht der Staatsgewalt zu kombiniren. In der That ist ja schliesslich jede Verweisung auf Widerstand und Empörung nicht Ausfluss, sondern Negation der Rechtsstaatsidee, und die formelle Allmacht irgend einer höchsten staatlichen Instanz wird gerade vom Rechtsstaat gebieterisch gefordert". Ebd., 315 f.

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in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt" für den damaligen entwicklungsgeschichtlichen Endpunkt, die konstitutionelle Monarchie, zu der kategorischen Feststellung: "Für das positive Recht ist ein Widerstandsrecht zweifellos zu verneinen und wird von unserer Rechtslehre unbedingt verneint. Ein ,Naturrecht', das mit Wirkung gegenüber dem positiven Recht ein Widerstandsrecht begrunden könnte, erkennen wir nicht mehr an"8 . Wolzendorff deutet das Widerstandsrecht als ein freilich rudimentäres Mittel des subjektiven Rechtsschutzes: "den Rechtsschutz hat jedoch der moderne Staat monopolisiert: wo er ihn nicht selbst ausübt, ist er von ihm autorisiert"9 . Im ständischen Staat hingegen war die Freiheit der Untertanen vor Übergriffen der Herrschermacht nur geschützt "durch die, jener bis zum äußersten gleichberechtigte Rechtsmacht der Stände" 10. Das Widerstandsrecht wurde durch den von Wolzendorff absolut gesetzten konstitutionellen Rechtsstaat mit seinem in organisatorischer Vollständigkeit gebotenen Rechtsschutzsystem überflüssig und verlor dadurch seine rechtsgedankliche Berechtigung. Ein umfassender Rechtsschutz war nunmehr gewährleistet durch das Prinzip der konstitutionellen Gesetzgebung unter parlamentarischer Mitwirkung, durch das Prinzip des Gesetzesvorrangs fur die Verwaltung und durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie schließlich durch die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, die beiden Prinzipien ihre letzte Sicherheit gebe u. "Der Tod des Rechtsgedankens des Widerstandsrechts" 12, so lautet die definitive Formulierung Wolzendorffs, beruhe auf der inneren Überwindung des staatlichen Dualismus im konstitutionellen Rechtsstaat, nicht nur des Dualismus im ständischen Staat zwischen Fürsten und Ständen, sondern auch im absoluten Staat zwischen Herrscher-Staat und Volk. Das Problem eines fundamentalen Konfliktes, an dem die Rechtsordnung zerbrechen könnte, wird von Wolzendorff nicht mehr als ein Rechtsproblem diskutiert, sondern nur noch als fatales, naturhaftes Restrisiko angedeutet und mit einer Äußerung Caspar Bluntschlis abgetan, über die die Staatsrechtslehre nicht hinauskommen könne: "Das Staatsrecht kann diese äußersten Fälle nicht wegleugnen, aber ebensowenig näher norrnieren" 13 • Für die liberale positivistische Staatsrechtslehre des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, wie etwa in der Person Georg Jellineks, war auf Grund ihrer wissenschaftstheoretischen und geschichtsphilosophischen Voraussetzungen mit dem freiheitlichen Rechtsstaat die Problematik des Widerstandsrechts obsolet geworden 14• s Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht (Anm. 2), 463. 9 Ebd., 462. Mit Hinweis auf Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. unter Verwertung des handschr. Nachlasses durchgesehen u. ergänzt von Dr. Walter Jellinek, 1914, 366f. JO Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht (Anm. 2), 485. 11 Ebd., 458-493, bes. 486-493. 12 Ebd., 492 f. 13 Caspar Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, Bd. II, 5. Aufl., Stuttgart 1876, 574. Zit. bei Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht (Anm. 2), 458, 492. 14 Köhler, Die Lehre vom Widerstandsrecht (Anm. 5), 11 - 17.

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Wenn man davon ausging, daß der Begriff des Rechts allgemein und verbindlich nur durch seine formale Bestimmung festgelegt werden könne und dabei zu der Gleichsetzung von Recht und staatlicher Setzung gelangte, so war es demzufolge nicht möglich, zugleich ein Recht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt zu postulieren, ohne mit dem formalontologischen ,Satz vom Widerspruch' in Konflikt zu geraten 15 • Die erforderliche Selbstgewißheit, daß der "potentiell schrankenlose Staat der juristischen Theorie", wie ihn Jellinek nennt16, der lediglich "in der religiösen Innerlichkeit des Individuums und deren Betätigung" hinsichtlich staatlicher Gebotsgewalt und Kompetenzerweiterung seine Grenzen findet, nicht selbst zur Quelle und zum verheerenden Zentrum von Unrecht werden kann, resultiert nicht zuletzt aus dem optimistischen geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben, daß die erreichte Höhe der gesamten Kulturentwicklung, die der Einzelpersönlichkeit die Anerkennung gebracht und den freiheitlichen Rechtsstaat geschaffen habe, staatlich gesetztes Unrecht letzthin als undenkbar erscheinen läßt 17• Der Verfassungsstaat in Amerika und in Frankreich im späten 18. Jahrhundert, entstanden aus der Revolution und nicht durch einen Kompromiß zwischen Monarchie und Demokratie, war andere Wege gegangen und hatte ein Recht auf Widerstand mit verschiedenen Begründungen als ein Menschen- und Bürgerrecht verfassungsmäßig positiviert. Der Aufruf des Provinzialkongresses von Massachusetts von 1775 erklärte den Widerstand gegen tyrannische Bedrückung zur christlichen und sozialen Pflicht einesjeden Individuums. In der Virginian Bill ofRights vom 12. Juni 1776 heißt es, die Lehre John Lockes von der bloß fiduziarischen, auf trust beruhenden Herrschaftsgewalt reflektierend, die Mehrheit einer Gemeinschaft habe das unbezweifelbare und unveräußerliche Recht, eine Regierung, wenn sie die ihr vorgeschriebenen Aufgaben nicht erfülle oder ihnen zuwiderhandle, zu reformieren, zu ändern oder abzuschaffen, wie es dem Gemeinwohl am zuträglichsten ist. Die Erklärung von Maryland vom 11. November 1776 lehnt die Nonresistance-Doktrin der englischen Tories ab und stellt fest: Die Lehre, daß gegen willkürliche Gewalt und Bedrückung kein Widerstand geübt werden dürfe, ist absurd, sklavisch und zerstört das Wohl und Glück der Menschheit 18 . In Frankreich wurde als Bruch mit dem für despotisch erachteten absolutistischen Regime ein Widerstandsrecht - vermutlich mit angeregt durch die amerika15 Peter Schneider, Widerstandsrecht und Rechtsstaat, in: Kaufmann (Hrsg.), Widerstandsrecht (Anm. 1), 371 f. 16 Jellinek, Allgemeine Staatslehre (Anm. 9), 3. A. 1914, 328. 17 Ebd., 408, 483. Siehe dazu Schneider, Widerstandsrecht und Rechtsstaat (Anm. 15), 371 f. 18 Henry Steele Commager (Hrsg.), Documents of American History, vol. 1, 9. Aufl. New Jersey 1973, Nr. 67, 103. Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. durch Walter Jellinek, München/ Leipzig 1919, 21. Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß (Historische Forschungen, 1), 2. Aufl. Berlin 1978, 57-63.

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nischen Erklärungen- in der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 in Artikel 2 verankert, der den Widerstand gegen Bedrückung zu den natürlichen und unverjährbaren Rechten des Menschen zählt 19• In dem von Condorcet verfaßten girondistischen Verfassungsentwurf, der Mitte Februar 1793 dem Nationalkonvent vorgelegt wurde, erfolgte nun zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Verfassungsstaates der Versuch, den Gedanken des Widerstandsrechts im Rahmen der Verfassung staatsrechtlich auszubauen, indem der Bürger ein gesetzliches Mittel (moyen legal) zum Widerstand erhielt, die Widerstandsfälle eine Systematisierung erfuhren und der Weg normiert wurde, auf dem das Widerstandsrecht ausgeübt werden mußte20• Die umfassende, an den verschiedenen Staatstätigkeiten ausgerichtete widerstandsrechtliche Rechtsschutzorganisation Condorcets wurde von den Gesetzgebern der Revolution nicht übernommen, wohl aber wurden die Bestimmungen über das Widerstandsrecht und die Pflicht zum Widerstand des einzelnen, einer Gruppe und des ganzen Volkes gegen ungesetzliche und die Rechte des Volkes verletzende Regierungsakte in mehreren Artikeln (Art. 11, 33, 34, 35) der 1793 erweiterten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte präzisiert21 • Artikel 27 schließlich bestimmt nach Art einer modernisierten, konstitutionellen Tyrannenmordlehre, daß jedes Individuum, das die Souveränität usurpiert, sofort durch die freien Menschen getötet werden soll22. Der widerstandsrechtliche Rechtsschutz der Einzelpersönlichkeit und der Schutz der Verfassungsordnung sind hier vereinigt. In England lagen die Verhältnisse erwartungsgemäß anders. Der militärische Widerstand während des Bürgerkrieges wurde seit 1642 von den unmittelbaren Gegnern des Königs ohne Berufung auf ausgesprochene widerstandsrechtliche Theorien 23 geführt, zu sehr waren die Non-resistance-Doktrin und die Gefahr, die von der königlichen Waffe einer Anklage des high treason24 ausging, im engli19 Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l'homme. Ces droits sont la liberte, la propriete, la sCtrete, et Ia resistance l'oppression. J. M. Roberts (Hrsg.), French Revolution Documents, vol. I, Oxford 1966, 172. 20 Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht (Anm. 2), 390-403; Rolf Reichardt, Reform und Revolution bei Condorcet. Ein Beitrag zur späten Aufklärung in Frankreich, Bonn 1973. 21 Art. 11: Tout acte exerce contre un homme hors des cas et sans les fonnes que Ia loi detennine est arbitraire et tyrannique; celui contre lequel on voudrait l'executer par Ia violence a le droit de le repousser par la force. -Art. 33: La resistance l'oppression est Ia consequence des autres droits de l'homme.- Art. 34: II y a oppression contre le corps social, lorsqu 'un seul de ses membres est opprime. ll y a Oppression contre chaque membre, lorsque le corps social est opprime. lohn Hanfman (Hrsg.), French Revolution Documents, vol. II: 1792-95, Oxford 1973, Nr. 81, 140, 142. 22 Que tout individu qui usurperait la souverainete soit l 'instant mis mort par les hommes libres. Ebd., 141. 23 Siehe dazu J. P. Sommerville, Politics and Ideology on England, 1603-1640, London 1986. J. H. M. Salmon, The French Religious Wars in English Political Thought, Oxford 1959. M. J. Mendle, Politics and Political Thought 1640-1642, in: Conrad Russell (Hrsg.), The Origins of the English Civil War, London 1973, 219-245.

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sehen Bewußtsein verankert25 . Immerhin zögerte man die eigenen Kampfbandlungen lange hinaus, um Karl I. beschuldigen zu können, er habe den Krieg begonnen und damit den öffentlichen Frieden gebrochen, man selbst übe nur Selbstverteidigung. Die zweite Rechtfertigungsstrategie bestand in der Destruktion der königlichen Majestät durch eine extreme Entpersönlichung und Fiktionalisierung des Königtums, indem man ,the King's two bodies' aufspaltete26, den ,natural' von dem ,political body', das königliche Amt von seinem Inhaber in radikaler, nicht mehr vermittelbarer Weise von einander trennte und das Königtum gegen die Person des Königs ausspielte. Es galt nicht der persönliche Wille König Karls I., sondern der mit Hilfe subtiler Rechtsvermutungen konstruktiv ermittelte wahre Wille eines fiktiven Königs. Befehlen Karls I. wurde auf diese Weise die Rechtskraft abgesprochen; es mußte kein zu rechtfertigender Widerstand geübt werden27 . Außerdem stellten die Gegner des Königs der Doktrin vom Königtum als inhärentem Geburtsrecht gemäß dem ,divine right of kings • die Auffassung entgegen, die königliche 24 Kenneth R. Minogue, Reason and the Early Modem State: Scenes from a Mesalliance, in: Roman Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986,421-435. 25 Unterhalb der Schwelle des Bürgerkrieges wurde in England gewissermaßen ein institutioneller, verfassungsmäßiger Widerstand geübt, gestützt auf das die Politik verrechtlichende Prinzip des ,rule of supremacy of the law' (Dicey) oder des ,due process of law' (Coke) mit den Formen von Gravamina, Petitionen, Petitions of right(s), von Remonstranzen und Protestationen des Parlaments, ferner auf Grund einer selbständigen Prozeßbefugnis des Parlaments mit den Mitteln des Impeachment und des Act of attainder. 26 Grundlegend: Ernst H. Kantorowicz, The King's Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology, 2. Auf!. Princeton 1966. 27 Das House of Lords mediatisierte den Willen des Königs durch eine Rechtsvermutung unter den Willen des Parlaments, als es 1642 einen königlichen Befehl an den Lieutenant des Tower konterkarierend von seiner gegenteiligen Order behauptete, es werde stets vermutet, daß der Befehl des Königs in einer Order des House of Lords enthalten sei. Conrad Russell, The Causes of the English Civil War, Oxford 1990, 23. Als die beiden Häuser des Parlaments den König des Friedensbruchs für schuldig befanden, äußerten sie in der Deklaration vom 19. Mai 1642 die Hoffnung, der König werde nicht seine eigene Auffassung oder seine Griinde zur Richtschnur seiner Regierung machen, sondern die Hilfe eines weisen und klugen Rates zulassen, der getreulich zwischen ihm und dem Volk vermittle, und daß er eingedenk sei, daß seine Entscheidungen das Königreich beträfen und deshalb nicht von ihm selbständig getroffen werden sollten. In derselben Deklaration bezeichnete sich das Parlament als höchsten Gerichtshof des Königs, dessen Urteil von Rechts wegen als vom König in seinem Gerichtshof gefälltes Urteil gilt, auch wenn der König in seiner Person nicht anwesend war und dem Urteilsspruch nicht zugestimmt hat. Gegen diese völlige, örtlich konkretisierte Trennung von Person und Amtsautorität verwahrte sich Kar! I. zwar in seiner Proklamation vom 18. Juni 1642, bei anderer Gelegenheit beklagte er jedoch, daß man unter dem Vorwand, liebende Untertanen seines königlichen Amtes zu sein, Leute überrede, gegen ihn zu den Waffen zu greifen und ihn zu vernichten, um den König erhalten zu können. Diese subtile Argumentation auf seiten der Gegner des Königs läßt sich bis in Privatkorrespondenzen hinein belegen. Ebd., 158, 134. Im Jahr 1661 dekretierte dann unter Kar! II. das Parlament, es sei Hochverrat, zwischen der Person und dem Amt des Königs zu unterscheiden, wie es die Rebellen des Parlaments 1642 getan hätten. Roben Beddard, The Unexpected Whig Revolution of 1688, in: ders. (Hrsg.), The Revolutions of 1688, Oxford 1991, 86.

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Gewalt sei ,an office upon trust', ein analog zum Institut der Treuhandschaft zu deutendes und vom tatsächlichen Vertrauen abhängiges Amt. Wenn Kar! I. bitter die Frage stellte, ob er die einzige Person in England sei, an der Verrat nicht begangen werden könne, so mußte er im Urteil des Regizids von 1648/49 erfahren, daß er als klassischer Tyrann, der mit unbegrenzter Gewalt nach seinem Pt:rsönlichen Willen herrsche, als Hochverräter, Mörder und öffentlicher Feind des Gemeinwesens zu enthaupten sei. Auf der Grundlage des ,divine right' und des Erbrechts der nur Gott verantwortlichen Könige machten die Tories in der Restaurationszeit die ältere Doktrin des ,non-resistance' und der ,passive obedience' zur politischen Orthodoxie, die in den Homilien der anglikanischen Staatskirche gelehrt, im Huldigungseid und Korporationseid gegenüber Kar! II. sowie in der durch die Uniformitätsakte vorgeschriebenen Deklaration enthalten war und von anglikanischen Kasuisten unter die Kardinalpunkte des Christentums aufgenommen worden war. Die Staatskirche hatte im 16. und 17. Jahrhundert im Kampf gegen konkurrierende Ansprüche der römischkatholischen Kirche die Lehre vom göttlichen Recht der Könige propagiert und gegen die ihr staats-und kirchenzersetzend erscheinenden Widerstandslehren der Freikirchen und Sekten ihre Non-resistance-Lehren entwickelt. Diesen Lehren mit ihrer Affinität zum festländischen religiösen und politischen Absolutismus des Papsttums und der katholischen Staaten setzten die Whigs als Vorzug und Wesensgrund des Protestantismus das Widerstandsrecht, den Protest entgegen und setzten Parlamentarismus und protestantische Freiheit einander gleich. Das Widerstandsrecht gründeten sie auf das Naturrecht und den Urvertrag, den ,covenant' in Analogie zur alttestamentlichen Offenbarung, den sie aber zunehmend in Richtung auf eine abstraktere regulative Vertragsidee hin rationalisierten. Gegen Divine Right und Erbrecht, die politisch nicht faßbare mystische Beziehung des Königs zu Gott, machten sie außerdem geltend, daß auch der König nur Glied des irdischen ,body politick' sei. Als 1688 auch drei toristische Peers Wilhelm von Oranien nach England einluden, gerieten die Tories als Hüter der Verfassung und der Legitimität mit ihrer Non-resistance-Doktrin in ein Dilemma, aus dem sie sich durch verschiedene Hilfskonstruktionen herauszuwinden versuchten. Um ihre Doktrin zu retten, vertraten sie die Auffassung, der König sei durch seine Flucht desertiert, habe selbst abgedankt; der character indelebilis des Königs hänge nur am ,political body' und nicht an seinem ,natural body', es sei kein wirklicher Widerstand geleistet worden, oder der Widerstand gegen die Diener der Illegalität sei kein Ungehorsam. In der Resolution des Konventionsparlaments vom 28. 1. 1689 erscheinen dann die Whiggistische Vertragsbruchtheorie und die toristische Fiktion einer Abdankung Jakobs. Um den Anspruch des Sohnes Jakobs auf die Thronfolge auszuschalten, bedurfte es der weiteren Fiktion der Thronvakanz. Die widerstandsrechtliche Kontrakttheorie und die Fiktion der Thronvakanz ruinierten das Divine Right des Königtums28 . 28 Kurt Kluxen, Das Problem der politischen Opposition. Entwicklung und Wesen der englischen Zweiparteienpolitik im 18. Jahrhundert, München 1956, 49, 51, 56. Lais G. Schwoe-

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Das englische politische Denken hat nun als genuine Spezialität auf der Grundlage des Parlamentarismus und seines parteipolitischen Zustandes nach der Glorious Revolution von 1688 im 18. Jahrhundert aus den konkurrierenden Prinzipien von ,resistance' und ,non-resistance' mit dem institutionellen Gedanken der parlamentarischen Opposition ein legales Verfahren entwickelt, das Unterwerfung und Widerstand in sich vereinigt. In den Worten Bolingbrokes war die reasonable and legal opposition against dangeraus and destructive measures ein fortwährendes notwendiges Korrektiv angesichts einer chronischen Gefährdung des Staatswesens durch die Korruptibilität des Menschen. Widerstand kann dadurch ohne den dramatischen ,Appell an Gott', d. h. ohne Bürgerkrieg, im Parlament selbst zur Geltung gebracht werden. Diese Form des Widerstands erfolgt hingegen unter Fortbestand der Gesamtordnung, by constitutional methods and by a legal course of opposition, d. h. ohne widerstandsrechtliche Berufung auf den aufs äußerste zugespitzten casus necessitatis und stellt statt dessen den permanenten Normalfall dar, the ordinary method of eure. In dieser legalen Opposition liegt aber inuner im Ausnahmefall die Möglichkeit eines darüber hinausgehenden Widerstandes, denn die Nation hat ein Recht, ihre Verfassung zu erhalten, und damit ein Recht zu aktivem Widerstand als ultima ratio29. So weit der flüchtige, mehr vom Ausgang der friihen Neuzeit und von der Ausbildung des modernen Verfassungs- und Rechtsstaats her unternonunene tour d'horizon zur problemgeschichtlichen Einordnung des Gegenstandes. Die nahezu unüberschaubare Forschung zur Frage des Widerstandsrechts in der frühen Neuzeit kreist im wesentlichen um die Haltung der Reformatoren Luther, Zwingli, Calvin und Knox zur Frage von Obrigkeit und Widerstand, um die Schriften der englischen, schottischen und französischen Monarchomachen, die Übernahme und populistische Radikalisierung der monarchomachischen Ideen durch die Theoretiker und Agitatoren der katholischen Liga in Frankreich, um die jesuitische Kontrakttheorie und Lehre vom Tyrannenmord sowie um die systematische Verarbeitung der Debatten des 16. Jahrhunderts in den Werken des Althusius, Grotius und Pufendorf, um die fiktiven Vertragskonstruktionen der rationalistischen Naturrechtslehre. Hier sollen nun vor allem der eingangs skizzierte, von Schlözer sogar ohne weiteres als entwicklungsgeschichtliche Tatsache behauptete Zusammenhang zwischen Widerstandsrecht und Ausformung des Staatsrechts im Hinblick auf die vorkonstitutionelle Verfassung aufgenonunen und die Grundlegung der Diskussion erörtert werden. Das Recht zum Widerstand gegen ein für unrechtmäßig erachtetes Handeln des Herrschers ist dort ein Rechtsproblem von eminenter tatsächlicher Bedeutung, wo rer; The Role of Lawyers in the Revolution of 1688-89, in: Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen (Anm. 24), 473-498. Mark Goldie, The Political Thought of the Anglican Revolution, in: Robert Beddard (Hrsg.), The Revolutions of 1688 (Anm. 27), 102-136; Beddard, The Unexpected Whig Revolution of 1688, ebd., 47- 86. 29 Kluxen, Politische Opposition (Anm. 28), 207.

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der Herrscher ohne den Entscheidungsvorrang eines über das positive ius humanumdisponierenden Souveräns nicht über dem Recht steht, sondern- wie die Untertanen auch - der Rechtsordnung unterworfen ist, einer Rechtsordnung zudem, in der das Recht als subjektiver Rechtsanspruch und die Gerechtigkeit zusammenfallen und viele Rechtsbereiche noch keine anerkannte positive Regelung gefunden haben, so daß innerhalb des politischen Verbands gewissermaßen legale, rechtmäßig nicht aufhebbare Widersprüche auftreten30• Die Situation wird verschärft, wenn gegen den Herrscher für die Anerkennung und Durchsetzung gut begründeter materieller Rechtspositionen kein wirklich unabhängiges Gericht oder ein anderer akzeptabler gewaltfreier Verfahrensweg zu finden ist, so daß die ,via iuris', der ,Weg des Rechtes', häufig nicht beschreitbar erscheint. Die Verletzung des subjektiven Rechtes des einzelnen erscheint als eine Verletzung der Rechtsordnung schlechthin, der mit einem umfassenden überzeugungsrechtlichen Unrechtsvorwurf und mit gewaltsamer Gegenwehr begegnet wird. Dies ist weitgehend im Mittelalter der Fall. ,,Das Handeln und Gebieten des mittelalterlichen Herrn und Herrschers", so legt es Otto Brunner dar, kann "in seiner Rechtmäßigkeit von jedem bestritten werden, der durch dieses Handeln und Gebieten betroffen ist"31 • Der Widerstand, der in die lehnrechtliche Form der diffidatio gekleidet sein kann, stellt daher in der noch vergleichsweise wenig verrechtlichten Gesellschaft des Mittelalters ein verfassungsinhärentes, strukturelles Rechtsproblem dar. Hinzu kommt, daß nicht nur das Lehensverhältnis, sondern grundsätzlich das durch wechselseitige Treuebindungen regulierte Verhältnis zwischen Herrscher und Ständen einer vertraglichen Deutung offensteht Widerstand droht ferner, wenn der Herrscher das Konsensverfahren der Rechtsfortbildung und politischen Entscheidung als mittelalterliches Verfassungsprinzip mißachtet. Das Rechtsproblem des Widerstands bleibt jedoch grundsätzlich auch dann noch erhalten, wenn das positive Recht, die lex, zwar als Emanation des herrscherliehen Willens und als Befehl gilt, der über das positive Recht mit absoluter Gewalt disponierende Souverän indessen weiterhin nicht nur moralisch, sondern im Sinne einer Rechtspflicht an das göttliche Recht und Naturrecht gebunden bleibt. Deshalb kennt auch der große Theoretiker der Souveränität, Jean Bodin, der die Gesetzgebung als das zentrale Souveränitätsrecht schlechthin begreift, immmer noch ein rudimentäres Widerstandsrecht in der Form der Gehorsamsverweigerung und Resignation der Magistrate vom Amt bei eklatanten Verletzungen des göttlichen und natürlichen Rechts durch den Souverän32.

30 Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität. Bd. 1: Die Grundlagen, Frankfurt a. Main 1970,268. 31 Otto Brunner, Land und Hemchaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl., Wien 1965, 142. 32 Quaritsch, Staat und Souveränität (Anm. 30), 391 f. J. H. M. Salmon, Bodin and the Monarchomachs, in: Horst Denzer (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München, München 1973, 359- 378.

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Thomas Hobbes, der Restbestände eines seiner Ansicht nach im einzelnen ohnehin strittigen Naturrechts unverbindlich dem bloßen Gewissen des Souveräns überantwortet, blieb mit seinem extremen Gesetzespositivismus und Formalismus auctoritas non veritas facit Iegern - und seiner schrankenlos konzipierten Herrschermacht bis in das 19. Jahrhundert hinein der irritierende, anstößige Außenseiter. Wenn die auf den willkürlichen, den voluntaren Befehl des Souveräns gegründete Iex nicht mehr mit dem ius, der Gerechtigkeit und Billigkeit, sowie mit dem Naturrecht konfrontiert werden kann, dann fehlt der archimedische Punkt, an dem eine widerstandsrechtliche Argumentation ansetzen kann, dann gibt es, wie schon Hermann Conring gegen Hobbes vorgebracht hat, keinen Unterschied mehr zwischen ,richtigem' und ,falschem' Recht, zwischen dem König und dem Tyrannen33. Vor allem im Zeitraum vom 13. bis 15. Jahrhundert gelang es den Ständen vielerorts in Europa, in England (1215), Ungarn (1222), Aragon (128311287), Brabant (13121 13141 1356), in den burgundischen Niederlanden (1477), in Bayern ( 1302 I 11 I 58 I 92 11429), Mecklenburg (1304), Braunschweig-Lüneburg (1392), Brandenburg (1472) und anderen Reichsterritorien, im 16. und 17. Jahrhundert in Württemberg (1514) und insbesondere in Polen (15011157311607) ihren Herrschern in günstigen Situationen auf der Grundlage von Gravamina die Bestätigung ihrer Rechte und Freiheiten, aber auch bestimmter verfassungsrechtlicher Positionen abzuringen und die Bestandskraft, die Einhaltung dieser Bestätigungen und Regelungen durch eine Widerstandsklausel zu sichern34. Die Ausgestaltung dieser Widerstandsklauseln reicht von der durch den Herrscher legalisierten bloßen Aufkündigung des Gehorsams (Joyeuse Entree 1356) und bewaffnetem Widerstand (Bayerischer Freiheitbrief von 1311, Lüneburger Sate 1392) bis hin zu der hyper33 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 1. Bd.: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, München 1988, 281. Conring selbst sieht in drei Fällen Widerstand als zulässig an: Wenn die ,summa potestas' gegen göttliches und natürliches Recht verstößt, wenn der ,princeps' in einer ,respublica civilis' zum Tyrannen wird und wenn er versucht, die Staatsform zu ändern. Die Untertanen können sich dagegen mit Bitten und Petitionen an den Herrscher wenden, nach Art der alten Kirche zivilen Ungehorsam leisten und schließlich ,vis vi opponenda' in defensiver oder offensiver Form. Äußerstenfalls kann der Herrscher mit vertragsrechtlicher Argumentation abgesetzt werden. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 3), 195. 34 Herrschaftsverträge des Spätmittelalters (Quellen zur neueren Geschichte, hrsg. vom Historischen Seminar der Universität Bem, 17), bearbeitet von Wemer Näf, Bem 1951; Quellen zur Entstehung der Landesherrschaft (Historische Texte/Mittelalter, 13), hrsg. von Hans Patze, Göttingen 1969, Nr. 30, 76-81 (Lüneburger Sate); G. Frhr. v. Lerchenfeld, Die altbaiensehen landständischen Freibriefe mit den Landesfreiheitserklärungen. Mit einer Einleitung von L. Rockinger, 1853; James Clarke Holt, Magna Carta, 2. Aufl., Cambridge 1992. Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht (Anm. 2), 23- 94; Wemer Näf, Herrschaftsverträge und Lehre vom Herrschaftsvertrag, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 7 (1949), 26-52; Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, Göttingen 1977; Winfried Eberhard, Herrscher und Stände, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. v. /ring Petscherf Herfried Münkler; Bd. 2: Mittelalter, Zürich 1993,467-485.

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trophen fehderechtlichen Form in der englischen Magna Carta von 1215 (Art. 61), die einen ständischen Ausschuß von 25 Baronen einsetzt, dem es obliegt, über die Frage der Einhaltung zu judizieren und notfalls den Herrscher, ausgenommen dessen Person und Familie, legal mit allen Mitteln zu schädigen, und zwar mit Hilfe aller eidlich auf die Mithilfe verpflichteten Untertanen, denen der Herrscher, wenn erforderlich, selbst befehlen wird, dem Ausschuß den Eid zu schwören. Die Lüneburger Sate von 1392 etabliert einen Ausschuß von 16 ,Sateleuten', die über die Einhaltung der Bestimmungen wachen, bei Verstößen eine gütliche Übereinkunft herbeiführen oder rechtlich judizieren und entsprechende Zwangsmaßnahmen ergreifen35. Die aragonesischen Unionsprivilegien von 1287 wiederum verlangten zur Sicherung der alten Privilegien und Rechte sowie der neuen Artikel von König Alfons die Aushändigung von 16 königlichen Schlössern in neuralgischer Grenzlage und sahen als letztes Mittel die Absetzung des Königs vor. In einem bedingten Selbsturteil stimmt der König den im Falle eines Zuwiderhandeins eintretenden Sanktionen zu und entbindet im Hinblick darauf die Stände und Untertanen von allen Treueiden und Pflichtbindungen. Betrachtet man etwa die bayerischen Freiheitsbriefe des 14. und frühen 15. Jahrhunderts und die berühmte Brabanter Joyeuse Entree von 1356, so werden politische, rechtspolitische und verfassungsrechtliche, teilweise eine dualistische Struktur der Verbandsverfassung begründende Sätze als Rechtszustand festgeschrieben. Sie haben eine geordnete, unparteiische Rechtspflege, das in einem Syndikatsprozeß gegen den Richter zu erweisende rechtskonforme Amtshandeln und die Haftung des Richters bei Rechtsbeugung, die Freiheit der Verkehrswege, den Indigenat hinsichtlich des fürstlichen Rates und der Amtsträger, die Freiheit von Eigentum und die Sicherheit von Besitz, die Unveräußerlichkeit und Unteilbarkeit des Landes, das Erfordernis der Zustimmung der Stände hinsichtlich der Führung eines Krieges, der Erhebung neuer Abgaben und der Prägung neuer Münzen sowie das Recht der Stände, sich zu versammeln, zum Inhalt. Und sie verknüpfen - arn eindrucksvollsten formuliert in dem lapidaren aragonesischen ,si no, no' von 1461 bedingungsweise Huldigung und Gehorsarn36 mit der Anerkennung und Beachtung der überkommenen Rechte und Privilegien. Die aragonesischen Privilegien des ausgehenden 14. Jahrhunderts etwa enthalten neben der Bestätigung der alten Rechte, Gewohnheiten, Privilegien und Besitzrechte wichtige verfassungs- und rechtspolitische Bestimmungen wie die Periodizität der allgemeinen Hoftage (Cortes) der Aragonier, die jährlich stattzufinden haben, die Wahl der unmittelbaren Ratgeber des Königs durch die Stände, die Gerichtsbarkeit des ,Justitia' arn Hof unter Beiziehung der Stände, die Ablehnung des Inquisitionsprozesses und eines herrscherliehen ,merum und mixturn imperium'.

35 M. Reinbold, Die Lüneburger Sate. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte Niedersachsens im späten Mittelalter, Bildesheim 1987. 36 Andre Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800) (Quellen urid Forschungen zur Agrargeschichte, 36), Stuttgart/New York 1991.

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Im Unterschied zum Konstitutionalismus seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde jedoch keine umfassend und einheitlich gedachte Herrschaftsgewalt vorausgesetzt, die es zu beschränken galt; entsprechend wurde die Beteiligung der Stände nur an Einzeltatbeständen der Herrschaft beanspruche7 • Die Frage eines Konstitutionalismus stellt sich jedoch bereits auch für das ausgehende 16. Jahrhundert in neuer Weise, da nunmehr umfassenden absolutistischen Herrschaftsansprüchen mit einem gleichfalls umfassenden ständestaatliehen Verfassungsentwurf begegnet wurde. Waren die älteren Herrschaftsverträge mit Widerstandsklauseln in ihrer Bestandskraft durch starke Fürsten, die die Rechtmäßigkeit des Widerstands im gegebenen Moment kaum zuzugeben gewillt waren, erheblich gefahrdet, so hat etwa doch noch König Philipp II. von Spanien die durch die Joyeuse Entree von 1356 fixierte Rechtslage grundsätzlich anerkanne8 , und Wilhelm von Oranien war seit 1560 dann der Auffassung, daß die Joyeuse Entree die juridische Rechtfertigung eines Aufstandes der Niederlande gegen Spanien abgebe. Als positives Recht und eingebunden in einen politischen Mythos wurden Herrschaftsverträge und Privilegien, wie etwa auch das Generalprivileg Marias von Burgund von 1477, ein wichtiges Element des Staatsbildungsprozesses39. Folgende Entwicklunglinie zeichnet sich zunächst ab: Im Mittelalter galt angesichts der allgemeinen Bindung des Herrschers an ein übergeordnetes Recht ohne weiteres ein Widerstandsrecht gegen für rechtswidrig erachtete Handlungen und rechtswidrige Gewalt des Fürsten und Königs, laut Sachsenspiegel im übrigen, ohne daß dadurch die lehnrechtliche oder verwandtschaftliche Treuepflicht verletzt wurde, auch gegen den König als ungerechten Richter40. Eine Positivierung des Widerstandsrechts erfolgte im späteren Mittelalter im Zusammenhang mit der Sicherung von Privilegien und darüber hinaus von einzelnen verfassungsrechtlichen Positionen, die zugleich durch die Widerstandsklauseln gewährleistet werden sollten. Im spätmittelalterlichen Reich hat der Reichskrieg Kaiser Friedrichs III. gegen Herzog Ludwig von Bayern-Landshut und Pfalzgraf Friedrich in den Jahren 1459 bis 1463, der von beiden Seiten von rechtfertigenden Mandaten und Verteidigungs37 Zu den rechts- und verfassungsgechichtlichen Entwicklungslinien siehe Gerhard Oestreich, Vom Herrschaftsvertrag zur Verfassungsurkunde. Die ,,Regierungsfonnen" des 17. Jahrhunderts als konstitutionelle Instrumente, in: Vierhaus (Hrsg.), Herrschaftsverträge (Anm. 34), 45- 67; Gerhard Dilcher; Vom ständischen Herrschaftsvertrag zum Verfassungsgesetz, in: Der Staat 27 (1988), 161-193. 38 Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht (Anm. 2), 28. 39 Wim P. Blockmans, Breuk of continuiteit? De Vlaarnse privilegien van 1477 in het licht van het staatsvorrningsproces, in: ders. (Hrsg.), Le Privilege general et !es privileges regionaux de Marie de Bourgogne pour !es Pays-Bas- 1477- Het algemene ende gewestelijke privilegien van Marie van Sourgondie voor de Nederlanden, Kortrijk/Heule 1985, 97-124. Hans W. Biom, The great Privilege (1477) as ,.Code of Dutch Freedom": the Political Role of Privileges in the Dutch Revolt and after, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1 (lus commune, Sonderhefte, 93), Frankfurt am Main 1997, 233-247. 40 Sachsenspiegel, Landrecht III, 78, § 2.

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schriften begleitet war, die eindringlichste Diskussion um die Frage eines Widerstandes gegen den Kaiser hervorgerufen. Dabei wurden von den Gegnern der kaiserlichen Seite der naturrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör und der naturrechtliche Satz des ,vim vi repellere licet' ins Feld geführt, und es wurde mit der Behauptung, der Krieg betreffe nicht das Reich, sondern territoriale Angelegenheiten, versucht, die amtsrechtlich-obrigkeitliche Person des Kaisers von dem die Kaiserwürde innehabenden, in territoriale Konflikte verstrickten Österreichischen Landesfürsten zu trennen. Der Vorwurf unrechter Gewalt und die Trennung zwischen dem Reichsoberhaupt und dem Territorialherrn zielte darauf ab, Kaiser Friedeich III. von den Mitteln der amtsrechtlichen Reichsgewalt abzuschneiden, da es sich nicht um eine Sache des Reichs handle, dadurch die Gehorsamspflicht der Reichsstände und Reichsstädte zur gebotenen Hilfe in Abrede zu stellen und die Exceptionsklauseln der zwischenständischen Bündnisse, in denen das Reichsoberhaupt von Rechts wegen auszunehmen war, unwirksam zu machen41 • Seit dem frühen 16. Jahrhundert nun wurde die Frage eines Widerstandsrechts durch den fundamentalen Glaubenskonflikt für weitere Kreise zu einem unmittelbar drängenden Problem und erschien zugleich auf eine neue Diskussionsebene gehoben. Infolge der lutherischen Reformation erlangte das römisch-deutsche Reich die zeitliche Priorität hinsichtlich der von der Glaubensfrage und ihren rechtlichpolitischen Konsequenzen in Mittel- und Westeuropa provozierten Auseinandersetzung um ein aktives oder passives Widerstandsrecht42 • Diese Auseinandersetzung wurde im Reich gattungsmäßig mit juristischen und theologischen Gutachten geführt43 • Die Rechtsgutachten zur Frage des Widerstandsrechts sind über ihre 41 Eberhard Isenmann, Integrations- und Konsolidierungsprobleme der Reichsordnung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Ferdinand Seibt/Winfried Eberhard (Hrsg.), Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit, Stuttgart 1986, 123-140; ders. , Kaiserliche Obrigkeit, Reichsgewalt und ständischer Untertanenverband. Untersuchungen zu Reichsdienst und Reichspolitik der Stände und Städte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Habilitationsschrift Tübingen 1983 (masch.), Erster Teil: Kaiserliche Obrigkeit, Reichsdienst und ständischer Widerstand: Die Reichskriege 1459-1463,33-461, passim. 42 Heinz Seheihle (Hrsg.j, Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523-1546 (Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 10), Gütersloh 1969; Eike Wo/gast, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 47), Gütersloh 1977; ders., Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1980, Abh. 9), Heidelberg 1980; Wolfgang Günter; Luthers Vorstellung von der Reichsverfassung (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 114), Münster 1976; Quentin Skinner; The Foundations of Modem Po1itical Thought, vol. 2: The Age of Reformation, Cambridge 1978, 189-358; Eberhard lsenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung in Konsilien reichsstädtischer Juristen (15.-17. Jahrhundert), in: Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen (Anm. 24), 613- 617; Diethelm Böttcher; Ungehorsam oder Widerstand? Zum Fortleben des mittelalterlichen Widerstandsrechtes in der Reformationszeit (1529-1530) (Historische Forschungen, 46), Berlin 1991; Robert v. Friedeburg, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530-1669 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 27), Berlin 1999, 51 - 70.

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rechtspraktische Intention hinaus zugleich ein erster Beitrag zu einer systematischeren Betrachtung der Reichsverfassung in der frühen Neuzeit und gehen in dieser Hinsicht zeitlich der Reichspublizistik vor, die sich erst seit Beginn des 17. Jahrhunderts etabliert. Die Frage eines gewaltsamen Widerstandes gegen die kaiserliche Obrigkeit und die damit implizierten Rechtsfragen zwangen die Gutachten erstattenden Juristen, aber auch Theologen, sich in einer bis dahin nicht gekannten umfassenden, detaillierten und zugleich grundsätzlichen Weise zum Verfassungsrecht des Reiches zu äußern, insbesondere zur Frage, inwieweit Herrschaftskonstruktionen des römischen Rechts und allgemeinere Normen und Rechtsfiguren des römisch-kanonischen Rechts gegenüber den herkömmlichen und positivierten, auf eine rechtlich gebundene und begrenzte Herrschaft hindeutenden reichsrechtlichen Tatbeständen wie die Goldene Bulle von 1356, die Wahlkapitulation Karls V., die Landfrieden seit 1495 und die als vertragliche Abmachung begriffenen Reichsabschiede Geltung besaßen. Aber auch Politiker und Obrigkeiten hatten sich zu bestimmten kontroversen Grundanschauungen zu bekennen. Theologen definierten gestützt auf die Heilige Schrift nach göttlichem und natürlichem Recht die weltliche Obrigkeit und setzten sich mit juristischen Argumenten auseinander, die dem römisch-kanonischen Recht entnommen waren und die reichsrechtlichen Verhältnisse interpretierten, während es auf der anderen Seite für die Juristen unabweisbar war, auf die Beweisführung der Theologen einzugehen. Wenn ein Theologe wie Luther oder der primär theologisch argumentierende lutherische Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler ein Widerstandsrecht schließlich doch einräumten oder Widerstand nicht ausschließen wollten, bezogen sie sich auf juristische Argumente oder auf das Reichsrecht, das als Voraussetzung für Widerstand die Herrscherabsetzung ermöglichte44. Einige der Argumente der intensiven Diskussion werden dann von den französischen Monarchomaehen aufgenommen, die sich nun des umfangreichen diskursiven Traktats bedienen und für moderne politische Konzepte im Hinblick auf den aus universalen Zusarnrnenhängen gelösten souveränen Nationalstaat der frühen Neuzeit in Europa maßgebend werden45 . Im Falle des Glaubenskonfliktes bezog die Frage eines Widerstandsrechts ihre dramatische Aktualität aus dem Umstand, daß den Protestanten die Unterdrückung ihres Glaubens, zivile und politische Rechtlosigkeit, ihre politisch-militärische Niederwerfung oder gar physische Vernichtung durch einen Ketzerkrieg und durch 43 Wolzendorff hat in seinem großen Werk diese Gutachten zum Widerstandsrecht nicht näher behandelt. Im folgenden werden nur einige markante kontroverse Grundlinien der Argumentation auf Grund weniger ausgewählter, miteinander in enger Verbindung stehender Gutachten und Rechtsdarstellungen skizziert. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den Gutachten und ihren Rechtsquellen soll unter Einbeziehung archivalischer Quellen an anderer Stelle erfolgen. 44 Wo/gast, Die Wittenberger Theologie (Anm. 42), bes. 84-94, 149-185; Skinner, Foundations II (Anm. 42), 194-206. 45 Salmon, The French Religious Wars (Anm. 23), 3.

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Massaker wie das der Bartholomäusnacht von 1572 drohte, daß der politische Protestantismus andererseits frühzeitig ein militärisches Widerstandsbündnis anstrebte und Phitipp von Hessen sogar einen Präventivschlag befürwortete. Die vehement ausgebrochene Diskussion brachte nun aber als ein wesentliches Ergebnis zutage, daß Widerstand gegenüber der mittelalterlichen Situation rechtlich prekär geworden war. Dafür sind einige Gründe erkennbar. Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert hatte sich auf breiter Front ein mit Hilfe juristischer Gelehrsamkeit formalisierter, auf das römisch-kanonische Recht gestützter und an die Figur des römischen Princeps, der ein ,Princeps legibus solutus' war46, gebundener Obrigkeitsbegriff Geltung verschafft. Der auf verfassungsrechtlicher Ebene etablierte Obrigkeitsbegriff entfaltete seine volle Wirkung im Zusammenhang mit der reichsrechtlich definitiven Befriedung des Reichs durch das absolute Fehdeverbot von 1495, das ein Gewaltmonopol des Kaisers und der nachgeordneten, gleichfalls mit dem ,ius gladii' ausgestatteten territorialen Obrigkeiten zur Folge hatte. Obrigkeitsbegriff, absoluter Friede und obrigkeitliches Gewaltmonopol eliminieren die eigenmächtige Gewalt zur Rechtsdurchsetzung aus der nunmehr prinzipiell friedlichen Rechtsordnung und überantworten den Rechtsschutz ganz im Sinne des römischen Rechts ausschließlich den Gerichten. Zu unterscheiden ist, wenn vom ,Kaiser' die Rede ist, verfassungsgeschichtlich und verfassungsrechtlich das Reichsoberhaupt mit den schutz- und gerichtsherrlichen Befugnissen des römisch-deutschen Königs, ferner der Kaiser vornehmlich der politischen Philosophen und Juristen als Rechtsnachfolger der römischen Imperatoren mit der höchsten weltlichen Gewaltenfülle gemäß der Figur des ,princeps' des römischen Rechts und schließlich der Kaiser im mittelalterlichen Verständnis, das ihn hauptsächlich als den ,advocatus ecclesiae' sieht. Zwar drängen erst der konfessionelle Bürgerkrieg in Frankreich im 16. Jahrhundert und der englische Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts mit ihrer existentiellen Not oder der als Bürgerkriegsszenario gedeutete Naturzustand der politischen Philosophie den Zeitgenossen die scharfe neuzeitliche Alternative von Anarchie oder absoluter, souveräner Herrschaft auf und lassen die Anarchie schlimmer als die schlimmste Tyrannei erscheinen, doch schon der Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler bezieht das existentielle Moment in seine juristischen Überlegungen ein, wenn er sich unter dem Eindruck des Bauernkrieges von 1525, von Empörung und Anarchie, in einem Gutachten von 1529 aus Gründen der Wahrung von Ordnung und Frieden für die Unantastbarkeit der Obrigkeit ausspricht47 • Widerstand prekär macht schließlich noch die politische Theologie mit dem Obrigkeitsbegriff von Römerbrief 13,1, der ein Widerstreben gegen die Obrigkeit (exusia)48 als Widerstreben gegen die Ordnung Gottes verbietet und nur den leidenden lsenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (Anm. 42), 566-597. Scheible, Widerstandsrecht (Anm. 42), Nr. 8, 29-39. 48 Zum Begriff: Hans Wulf, Der Christ und die Obrigkeit (1963/64), in: Kaufmann (Hrsg.), Widerstandsrecht (Anm. 1), 199-204. Ferner: Gerta Schaffenorth, Römer 13 in der 46

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Ungehorsam erlaubt gemäß der sogenannten Clausula Petri, wonach Gott mehr als den Menschen zu gehorchen ist. Der formale Obrigkeitsbegriff von Verfassung, Rechtswissenschaft und politischer Theologie, die inhaltliche Bestimmung des obrigkeitlichen Herrscheramtes, die Stellung der Obrigkeit zum Recht, insbesondere die Geltung naturrechtlicher Widerstandslegitimationen gegenüber der Obrigkeit, das Problem der Anarchie, die Interpretation der Reichsverfassung, die Formen einer Reaktion auf rechtswidrige obrigkeitliche Akte und die Rechtsidee selbst sind die grundlegenden Fragen, die in der frühen Widerstandsdiskussion um 1530 gestellt und auf methodischer Ebene im Widerstreit zwischen einer ahistorischen, absoluten und systematischen auf der einen und einer historisierenden Zugangs- und Betrachtungsweise auf der anderen Seite beantwortet werden. In Nümberg hat der Ratsschreiber Lazarus Spengler die Diskussion eröffnet, an deren vorläufigem Ende die Ablehnung des Rates stand, dem Schmalkaldischen Bund gegen den Kaiser beizutreten. Der Nürnberger Rat begründete seine Ablehnung auch mit dem Hinweis darauf, daß die Frage eines Widerstandsrechts von den Theologen und Rechtsgelehrten in Nürnberg kontrovers erörtert, die Zulässigkeit eines gewaltsamen Widerstands gegen den Kaiser aber mehrheitlich verneint worden sei49. Der rechtskundige Ratsschreiber und Lutheraner Spengler50 verbindet bei der Erörterung der Frage, ob ein christlicher Reichsstand in Sachen des Evangeliums sich mit Gewalt und der Tat gegen den Kaiser als seinen Oberherrn wehren dürfe, Argumente der politischen Theologie und des eigentlich nur akzessorisch zur theologischen Fundamentalargumentation herangezogenen Verfassungsrechts, das die jeweilige Obrigkeit ermittelt. Der Lutheraner Spengler rückt Römer 1351 als lauteres Wort Gottes und göttliches Recht ganz ins Zentrum, indem er zwischen dem Menschen als bloßem Menschen und dem Menschen als Christen unterscheidet und dadurch grundsätzlich jedes im ius humanum und in dem - darin vom göttlichen Recht geschiedenen - natürlichen Recht vorfindliehe widerstandsrechtliche Argument zurückweist. Für den Christen gilt im Hinblick auf die Obrigkeit in Sachen des rechten Glaubens, selbst dann, wenn sie den christlichen Untertanen vom Reich Christi dringen und ihn unter das Reich des Antichrists zwingen will, nicht der fundamentale naturrechtliche Satz des römischen und kanonischen Rechts: vim Geschichte des politischen Denkens. Ein Beitrag zur Klärung der politischen Traditionen in Deutschland seit dem 15. Jahrhundert, Diss. theol. Beideiberg 1964. 49 StA Nürnberg, Ansbacher Religionsakten, Supplement 1 a, fol. 248rv. 50 Zu Spengler siehe mit weiterführender Literatur Bemdt Hamm. Der Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler als Rechtsdenker und Advokat der Reformation, in: Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, I. Teil, hrsg. von Hartmut Boockmann, Ludger Grenzmann, Bemd Moeller, Martin Staehelin (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge, 228), Göttingen 1998,230- 257. 51 Römer 13, 1: non est [ ... ] potestas nisi a Deo; quae autem sunt, a Deo ordinatae sunt. ltaque qui resistit potestati, Dei ordinationi resistit.

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vi repellere licet- ,es ist erlaubt, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben' 52• Außerdem steht er der gleichfalls naturrechtliehen Bestimmung und der Billigkeit entgegen, daß niemand sein eigener Richter sein darf. In seiner politischen Theologie vertritt Spengler eindeutig und kompromißlos die Position des leidenden Ungehorsams. Das Verbot des Widerstandes gegen die Obrigkeit mit Waffengewalt gilt absolut und läßt keine kasuistische Durchbrechung zu, weil es auf dem lauteren Wort Gottes beruht, das keine Einschränkung duldet. Die Rechtsverhältnisse im Reich waren indessen dadurch kompliziert, daß infolge der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung hin zur Verselbständigung und Autonomie der Teilgewalten mit den Reichsständen, den Landesherren und den Räten der Freien Städte und Reichsstädte Obrigkeiten entstanden waren, die auf den ersten Blick in ihren Aufgaben und Befugnissen mit dem Kaiser, d. h. verfassungsrechtlich dem römisch-deutschen König, konkurrierten. Die Reichsstände haben Spengler zufolge als Obrigkeiten zwar die Amtspflicht, die Guten zu schützen, die Bösen zu bestrafen und ihre Untertanen vor jedweder rechtswidrigen Gewalt nach Vermögen zu bewahren; dies gilt hinsichtlich aller christlichen und heidnischen Gewalthaber, nicht jedoch im Hinblick auf den Kaiser. Dieser ist die einzige originäre Obrigkeit, während die Stadträte und Landesherren als Reichsstände nur abgeleitete, subordinierte Obrigkeiten darstellen, die in bezug auf den Kaiser und in Konkurrenz zu ihm unter Suspendierung ihrer obrigkeitlichen Rechtsstellung nur einzelne amtslose Privatpersonen und Untertanen des Kaisers sind und daher zugunsten ihrer eigenen Untertanen nicht den obrigkeitlichen Rechtsschutz mit Waffengewalt ausüben dürfen. Daß die Stadträte und Landesherren ihre obrigkeitlichen Befugnisse nicht aus eigenem Recht besitzen und nur als kaiserliche Amtleute und Verwalter fungieren, belegt Spengler aus verschiedenen, auf die Stadt Nürnberg bezogenen Verfassungstatbeständen, mit der Huldigung und Anerkennung des Kaisers als des einzigen rechten Herrn und Oberen auf Erden, der Leihe von Gerichtsbann (Hochgericht und ,merum imperium') und Regalien, aus dem Gerichtsstand vor dem Kaiser, d. h. vor dem kaiserlichen Kammergericht und der Ladung zu den Reichstagen. Die reichsrechtlichen Erörterungen Spenglers sollen im Grunde nur erweisen, daß der Kaiser die höchste Obrigkeit im Reich ist und damit den formalen Obrigkeitsbegriff von Römer 13 erfüllt. Wenn Spengler nun andeutet, Widerstand könnte dann geleistet werden, wenn der Kaiser durch reichrechtlich rechtmäßige Absetzung seine obrigkeitliche Stellung verlöre und dadurch nur noch amtslose Privatperson wäre, so kann er doch die Gewaltfrage und die Ordnungsproblematik nicht von dem durch eine Spezialität des Reichsrechts ermöglichten Vorgang der Absets2 D. 2, 1, 10. Ein anonymer juristischer Gutachter vertrat hingegen die Auffassung, daß das Evangelium an keiner Stelle gegen das natürliche Recht sei. Scheible, Widerstandsrecht (Anm. 42), Nr. 17, 71; Johann Christion Lünig, Europaeische Staats-Consilia, oder curieuse Bedencken [ ... ],Leipzig 1715, Nr. XIV, 54. Vgl. auch das Gutachten des sächsischen Juristen und Rates Dr. utr. iur. Basilius Monnerus von 1547, ebd., Nr. XXXVII, 158, 159; Hortleder; Rechtmäßigkeit II (Anm. 54), 2, cap. 34, 198-208.

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zung fernhalten, die er als ordnungsgemäßen rechtlichen Vorgang nach altem Herkommen und der Goldenen Bulle von 1356 und nicht als Widerstandshandlung, sondern als deren Voraussetzung deklariert. Die Absetzung und Neuwahl hatte on ferlikeit und schedliche enderung des reichs ohne Gewalt zu geschehen5 3 • Ein nach dem Augsburger Bekenntnisreichstag von 1530 erstattetes Rechtsgutachten des Nürnberger Ratskonsulenten Dr. Johannes Müll(n)er54 stützt in wesentlichen Punkten die reichsrechtliche Position des Ratsschreibers auf der Grundlage des römisch-kanonischen Rechts, entsprechend dem mos italicus systematisch argumentierend ohne den humanistischen verfassungsgeschichtlichen Rekurs der späteren rechtsgelehrten französischen Monarchomachen. Müllner geht von dem Codextitel Ut armorum usus inscio principe interdictus si~ 5 aus, der ein kaiserliches Gewaltmonopol begründet, indem bestimmt wird, daß niemand außer dem Kaiser oder ohne dessen Ermächtigung Streitkräfte rekrutieren und einen Krieg beginnen darf. Auch der obrigkeitliche Status des Nürnberger Rates ändert nichts an dem Verbot aktiven Widerstands gegen den Kaiser, denn die Obrigkeit des Rats hört als die einer unteren Gewalt durch Gebot des obersten Hauptes auf: Nam magistratus superiore aut pari imperio nullo modo possunt cogi56• Die Gewalt (potestas) der unteren Obrigkeiten stammt zwar auch von Gott, sie wird jedoch als ein dem Kaiser zugehöriges Regal durch den Kaiser vermittelt, so daß ein Widerstandsrecht nicht mit dem Argument begründet werden kann, jegliche Obrigkeit sei von Gott und wenn der Kaiser widerrechtlich handle, seien ihm die anderen Obrigkeiten gleich. Die Rechtsmacht der subordinierten Obrigkeiten ist in allen Monarchien und Königreichen nach dem Delegationsprinzip abgeleitet und ohne weiteres widerrufbar. Andererseits gilt, daß ein ,Oberherr', der seine ,Obrigkeit' mißbraucht, dennoch Oberherr bleibt, wie ein Richter, der ein ungerechtes Urteil spricht, dennoch Richter bleibt. Eine Scheidung der abstrakten amtsrechtlichen ,Obrigkeit' oder ,Exusia' von der konkreten Person des ,Oberherrn' und die mit einer solchen Unterscheidung eröffnete Möglichkeit, den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gegen die Person auszuspielen und gegen eine widerrechtlich handelnde Obrigkeit vorzugehen, lehnt der Jurist als reines Wortgezänk und verdecktes Schul-Gezänk des Concreti und Abstracti, als eine wenngleich gefährliche Gedankenspielerei der Müßigen ohne reale Fundierung ab57 . 53 54

Scheible, Widerstandsrecht (Anm. 42), Nr. 8, 37; Nr. 12, 54 f . Friedrich Hortleder, Der römischen keyser- und königlichen Majesteten, auch deß heili-

gen römischen Reichs geistlicher und weltlicher Stände [ . . . ] Handlungen und AuSschreiben [ ... ] von Rechtmässigkeit, Anfang, Fort- und endlichem Außgang des Teutschen Kriegs Keyser Carls des Fünfften wider die Schmalkaldische Bundsoberste Chur- und Fürsten, Sachsen und Hessen [ ... ]vom Jahre 1546 biß auff das Jahr 1558 [ .. . ],Frankfurt am Main 1618, I. Buch, cap. 9, 14-17; Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. IX, 38-40. 55 c. 11, 47. 56 D. 4, 8, 4. 57 Hingegen sagten die Rechtsgelehrten, daß Oberherr und wirkliche Obrigkeit nicht gesondert seien und wie Körper und Seele zusammengehörten, solange die Obrigkeit nach dem Willen derer, die ihr die Gewalt gegeben haben, Oberherr ist. Wer gegen die Obrigkeit han-

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Dr. Müllner legt dar, es sei zwar richtig, daß ausweislich des Decretum Gratiani nicht Gehorsam geleistet werden solle, wenn der Kaiser etwas Unchristliches gebiete, doch soll sich ein Untertan einem solchen Gebot nicht mit Gewalt widersetzen. Es sei ein Unterschied zwischen bloßer Gehorsamsverweigerung (Ungehorsam) und gewaltsamem Widerstand, der von Rechts wegen untersagt sei. Auch der naturrechtliche Satz ,vim vi repellere licet' gestattet Dr. Müllner zufolge gewaltsamen Widerstand nicht, denn die Obrigkeit griindet - darauf hatte schon Philipp Melanchthon hingewiesen58 - gleichermaßen in naturrechtliehen Normen, die unwandelbar sind, so daß die Rechtsgelehrten notwendigerweise die Gegenwehr- als Notwehr- nur zwischen Privatpersonen zugelassen haben, nicht jedoch gegen die oberste Obrigkeit, außer in den Fällen von Notwehr, in denen jedermann sein eigener Richter sein darf, und in den Sachen, in denen sich die Obrigkeit selbst ihrer Rechte begeben hat, wie dies neulich - gemeint ist die Wahlkapitulation Karls V. in enumerativer Weise geschehen ist. Der gegenwärtige, die Religion betreffende Fall ist darin jedoch nicht inbegriffen. Schließlich wirft er die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und dem Resultat von Widerstandshandlungen im vorliegenden Falle auf und kommt zu der Prognose, die auch nach scholastischer Lehre legitimen Widerstand nicht mehr für zulässig erklärt, daß nämlich viele Tausende von Menschen dabei erwürget und also viel mehrseelenzur Hölle geführet, denn durch den Krieg erhalten würden59• In einem zweiten Gutachten von 1531 nimmt der Nürnberger Ratskonsulent Dr. Müllner60, in Übereinstimmung mit seinem Kollegen Dr. Christoph Scheuer!, einen Iegalistischen und positivistischen Standpunkt ein, indem er den Nachweis zu führen versucht, daß der Kaiser in Vollziehung des Reichstagsbeschlusses gegen die Protestanten als ,advocatus ecclesiae' und Exekutor völlig rechtmäßig auf der Grundlage geltenden positiven Rechts handle, auch wenn dieses Recht nunmehr als unchristlich erachtet werde. Die Durchsetzung geschriebenen Rechts, hier sind in erster Linie Konzilsbeschlüsse und kanonisches Recht gemeint, falle nicht unter den Gewaltbegriff der ,violentia', und der Vollzug geschriebenen Rechts könne nicht Schaden oder Unrecht genannt werden, noch weniger ein unwiederbringlicher Schaden61 . Hingegen erklärte später im Zusammenhang mit der Frage des delt, der handelt zugleich gegen den Oberherrn und fällt in die Strafen der Iex Julia Maiestatis, die dafür die Todesstrafe vorsieht. Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. IX, 39. Eine ähnliche Auffassung vertrat in Nürnberg der Theologe Dr. Wenzeslaus Linck, der es mit Bezug auf 1. Petrus 2, 13 für eindeutig hält, daß der oberherre, so am ambt ist, die oberkeif sey. Osiander Gesamtausgabe, Bd. 3 (Anm. 68), 460, Anm. 10. 58 Scheible, Widerstandsrecht (Anm. 42), Nr. 13, 57 f. 59 Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. IX, 40. 60 Dr. Müllners bedenken, daß k. m. unbillichem gewalt nit soll mit gewalt widerstanden, sondern geduldet werden. StA Nürnberg, Rep. 51, Ratschlagbücher, Nr. 24, fol. 400v-4llv. Mehrfach überliefert. 61 Ebd., fol. 404rv, 409r. Dr. Scheuerl (ebd., fol. 4llv-421') bezieht sich in seiner Sachverhaltsdarstellung gleichfalls auf den Augsburger Reichstag, dessen religionspolitische Be-

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Augsburger Interims von 1548, als erneut mit den Nürnberger Ratskonsulenten die Frage eines Widerstandsrechts erörtert wurde, Dr. Gemel in einer Konsultation mit den Ratsdeputierten, die mittelalterliche kaiserliche Aufgabe der advocatio ecclesiae außer Kraft setzend, der Kaiser sei in Glaubens- und Gewissenssachen nur eine ,persona privata', d. h. ohne Jurisdiktions- und Amtsgewalt, so daß ihm widerstanden werden könne62 . Die Unantastbarkeit der jeweiligen Obrigkeit ist für Spengler vernünftigerweise Voraussetzung dafür, daß sie ihre friedens- und ordnungserhaltende Wirksamkeit entfalten kann. Denn würde die Obrigkeit in Frage gestellt, wenn und sobald sie, schlüsse er grundsätzlich für unbillig hält. Er ist aber der Auffassung, daß es sich bei dem Streit der Gelehrten um die Formen des Sakramentsempfangs oder die Frage der Priesterehe um eine ,Religionssache' und nicht um eine ,Glaubenssache' handle, die würdig sei, eines solchen abfalls, entpörung, schadens und geverlichkeit der seele, Leibes und gutes. Er macht geltend, daß alle angeführten Rechtsgelehrten, die eine Notwehr konzedierten, nur von den Unterrichtern der bürgerlichen Gerichte sprächen und überhaupt nicht von der höchsten Gewalt, der wir gelobt, geschworen und unterworfen sind. Sie redeten außerdem von einer ,tätlichen Gegenwehr' und nicht von einem ,Landeskrieg', mit dem sich die Untertanen ihres natürlichen Herr, des Heiligen Reichs Spruch (erkanntnus), Abschied und der Exekution des Kammergerichts zu erwehren vermeinten. Bezüglich des kaiserlichen Amtes bestehe mit anderen Einigkeit, daß der Kaiser kein ,Herr des Glaubens' sei, daß er aber den Augsburger Abschied in allen Artikeln, die den Glauben nicht beträfen, vollstrecken könne. Er, Scheuer!, könne sich an keinen Artikel erinnern, der den Geboten Gottes, an denen sein Seelenheil hänge, oder dem Nicäischen Symbolum entgegenstehe. Deshalb handle der Kaiser als ein vogt der kirche, der nichts neues erkennt, sondern bloßlieh der allten decreta und mit bewilligung der stände exequirt. Die Doctores sagten, daß nur die ,letzte Not' die Gegenwehr rechtlich zulässig mache, wenn kein anderer Behelf mehr vorhanden sei. Es sei strittig, ob die durch den Kaiser erfolgte ,Vergewaltigung' wiederbringlieh sei. Mich bedunkt aber, die weil der abschied niemand tödtet und dz concilium vor augen ist, dz deshalben rechtmeßige erkanntnus alle beschwernus gar villleichter wider erholen, dann deß kriegs und acht zugefügte beschedigung widerbracht werden möchte. Ebd., 414v, 416v-417'. In der Diskussion um das Augsburger Interim von 1548 vertrat der Ratskonsulent Dr. Gerne! die Auffassung, die Artikel die auf Äußerliches lauteten und Zeremonien darstellten, möchten tolleriert und angenommen werden. Ebd., fol. 219v. 62 Konsultation vom 8. Juni 1548. Ratschlagbücher, Nr. 24, fol. 219'. Dr. Gerne! und seine Kollegen stellten aber auch fest, daß die Ratsherren in Glaubensfragen, die das Gewissen des einzelnen betrafen, gleichfalls nur ,Privatpersonen' seien und nicht als ,Magistrat' handeln könnten. Verfassungsrechtlich sah Dr. Gerne! die Lösung darin, die Angelegenheit dem repräsentativen Großen Rat vorzulegen: Wer aber der kaiserlichen Maiestat meinung, die artikel de necessitate zue halten, so wurde denselben die execution undt inquisition angehengt und daraus eine allgemeine sach werdten, die meine herren nicht alls magistratum, sondern alls cristen und privat personen betreffen wurdte, darinn aber gemeinen rechten nach ohne die gemeindt, quarum ut singulorum universorum interest, mit guttem gewissen nichts zue bewilligen noch zu berattschlagen, zu verhüttung von allerlei gevehrlichkeiten, die sonsten dem rat ut magistratui daraus erfolgen möchten, an den größeren rat, der die ganntz gemeindt representirt, gelangen zu lassen. Ebd., fol. 218v-219'.- Auch der Münsteraner Syndikus Dr. Wiek führt 1531 aus, daß die Obrigkeit, die ihre Jurisdiktionsgewalt- wie in Sachen des heiligen Glaubens - überschreitet, zu einer ,einzeligen sonderlichen Person', d. h. zu einer Privatperson, wird, der widerstanden werden darf. Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XIII, 45, 46. Hortleder, Rechtmäßigkeit II (Anm. 54), cap. 7, 74-80.

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wie sich der Ratsschreiber ausdrückt, gelegentlich ,über die Schnur haute', was erfahrungsgemäß überall und häufig vorkomme, dann bräche das gesamte friedensstiftende gestufte Herrschafts- und Ordnungsgefüge von der kaiserlichen, fürstlichen und bürgermeisterliehen bis hinunter zur hausherrliehen Gewalt zusarnmen63 . Der Nürnberger Ratskonsulent Dr. Johannes Müllner geht wie Spengler von dem Befund aus, daß die Obrigkeit häufig keine rechtskonforme und gerechte Entscheidung trifft. Wenn den Untertanen nun ein aktives Widerstandsrecht zustünde, könne aus diesem Grund keine von der Herrschaft bewirkte Ordnung (Policey) auf Erden erhalten bleiben, zurnal wenn einzelne auf einen Kreis von Sympathisanten stoßen würden. Deshalb hätten die Rechte Widerstand untersagt64. Spenglers theologischer und juristischer Obrigkeitsbegriff ist universell, ahistorisch und verabsolutiert, weil er keine kasuistischen Einschränkungen zuläßt, als juristischer Begriff, wie der Dr. Müllners an den gerneinrechtlichen Vorstellungen der Nürnberger Ratskonsulenten seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts orientiert, Resultat rechtssystematischer und nicht verfassungsgeschichtlicher Überlegungen, dabei wesentlich formell gefaßt und damit tendenziell absolutistisch in einem modernen Sinne. Die inhaltliche Festlegung obrigkeitlicher Herrschaftsaufgaben fehlt zwar nicht, sie wird aber in ihrer Bedeutung durch das formelle Verhältnis zur oberen Gewalt aufgehoben und dadurch als Argument zugunsten der niederen Obrigkeit entkräftet. In unmittelbarer Reaktion auf Spenglers Gutachten brachte die Seite des Landgrafen Philipp von Hessen, des Vorkämpfers einer gerneinprotestantischen Bündnispolitik und Befürworters eines Präventivschlages, reichsrechtliche Tatbestände, Normen und Grundätze vor, die als Resultate der Verfassungsgeschichte des Reichs erscheinen und einer Interpretation der Reichsverfassung nach Maßgabe des römischen Rechts und der amtsrechtlichen Delegation widersprachen. Die hessische Seite65 macht die konkrete verfassungsgeschichtliche Lage und zugleich die Frage der materialen Gerechtigkeit geltend, die für das Verhältnis von Kaiser und ReichsScheible, Widerstandsrecht (Anm. 42), Nr. 8, 34, 37 f. ; Nr. 12, 54 f. Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. IX, 38. Vgl. Hortleder, Rechtmäßigkeit II (Anm. 54), cap. 9, 14-17. Dr. Müllner allegiert dazu unter anderem die regulae iuris der Digesten (D. 50, 17, 176): Non est singulis concedendum, quod per magistratum publice possit fieri, ne occasio sit maioris tumultus faciendi. Er faßt das zeitlose, nicht absolut lösbare Problem des Konflikts zwischen der obrigkeitlichen Machtfülle, der obrigkeitlich gewahrten Ordnung und der Gerechtigkeit noch etwas schärfer, indem er sich unbedingt für die Obrigkeit ausspricht, aber konzediert, daß die sich empörenden Bauern durchaus gute Griinde gehabt hätten, der geistlichen Gewalt, die zur Unterdriickung des Wortes Gottes gebraucht worden sei, zu widerstehen. Dennoch habe Gott die Bauern ungeachtet dessen, daß die Obrigkeit im Unrecht war, ernst und schrecklich gestraft. Vgl. auch Müllners zweites Gutachten: Dann ich glaub nit, dz ein obrigkeit auf erden sey, die nicht bisweilen imandt beschwerdt und unrecht tut, möchte nun jedesmal ein untertan mit gewalt der obrigkeit widerstehen, wie wolt ein policey auf erden bestehen, wer wollt ein ratherr; ein richter; ein schöpf [Schöffe] sein. StA Nürnberg, Ratschlagbücher, Nr. 24, fol. 409r. 65 Schreiben des Landgrafen Philipp von Hessen an Markgraf Georg von BrandenburgAnsbach vom 21. Dezember 1529. Scheible, Widerstandsrecht (Anm. 42), Nr. 10,43-47. 63 64

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ständen konstitutiv und formell dadurch verwirklicht ist, daß der kaiserliche Herrschaftsanspruch und die ständische Gehorsamspflicht - analog zu den spätmittelalterlichen Herrschaftsvorstellungen und Herrschaftsverträgen - auf der Grundlage eines gegenseitigen Vertrages beruhen und resolutiv bedingt sind. Zur Begründung braucht sie keine biblischen Bünde und keine naturrechtliche Herrschaftsvertragstheorie als konstruktives und regulatives Hilfsmittel zu bemühen, denn ein Vertragsverhältnis ergibt sich aus dem Reichsrecht selbst. Der Kaiser hat sich eidlich verpflichtet - dies bezieht sich auf den Krönungseid -, die Stände bei Billigkeit und Recht zu belassen, wie sich die Stände auf der anderen Seite verpflichtet haben dies bezieht sich auf den hier bereits restriktiv interpretierten Treue- und Huldigungseid -, dem Kaiser in zirnblichen pillichen sachen Gehorsam zu leisten. Dadurch stehen beide Seiten in einem verdingten wege, d. h. in einem gegenseitigen Vertragsverhältnis. Inhaltlich ist die Herrschaft des Kaisers nur auf die äußere weltliche Ordnung (,Polizei') bezogen, nicht auch auf die innere und ewige Ordnung. Der Kaiser hat zudem keine Rechtsmacht, in wichtigen weltlichen Angelegenheiten ohne die Zustimmung aller Reichsstände Änderungen an der bestehenden Ordnung vorzunehmen oder neue Satzungen zu machen, viel weniger ist er befugt, hinsichtlich des Evangeliums Anordnungen zu treffen, die diesem zuwider sind. Die Wahlkapitulation Karls V. als Herrschaftsvertrag kommt mit der Verpflichtung des Reichsoberhauptes zum Zuge, die Stände, ohne ihnen rechtliches Gehör eingeräumt zu haben und ohne Vorliegen eines Gerichtsurteils, nicht zu beschweren, noch weniger sie mit Krieg zu überziehen und sie ihrer Stellung zu berauben. Ein weiteres argumentatorisches Gewicht erhalten die reichsrechtlichen Darlegungen durch ihre Verknüpfung mit einer Historisierung des Römerbriefs 13, der bei Spengler das Fundament für die Zurückweisung eines Widerstandsrechts gebildet hatte. Nach hessischer Auffassung sind die Briefe der Apostel auch historisch zu interpretieren, und aus der Historizität von Obrigkeit müssen Folgerungen für die Beurteilung der gegenwärtigen Lage gezogen werden. Die Apostel haben sich damals an die Oberen von Städten gewandt, die einfache, jederzeit von den Römern nach Belieben ein- und absetzbare Landpfleger waren und nicht wie heute die Stände ,erbangeborene Fürsten', die abzusetzen niemand die Befugnis hat. Diese Obrigkeiten hatten ferner nur eine weltliche Obrigkeit und keine Untertanen unter sich, deren Seelenheil ihnen anbefohlen war, wie es in vorsichtiger Andeutung einer cura religionis der Landesherren heißt. Eine andere Möglichkeit der Relativierung von Römer 13 führt der Münsteraner Syndikus Dr. Wiek vor, der, unter Berufung auf den Groninger Theologen Dr. Gerhard Wyssel, den formalen Obrigkeitsbegriff von Römer 13 durch Heranziehung von Korinther 2,10 teleologisch substantiiert und dadurch den Weg für eine kasuistisch wirksame Bindung der Obrigkeit an eine Rechtsidee eröffnet66, während eine weitere Möglichkeit in einem 66 Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XIII, 46. Dr. Wiek zitiert Römer 13, 1 und fährt dann fort: Angesehen, daß die Worte ihre Erfüllung damit haben: daß keine Gewalt ist anders, denn zur Besserung. Wie denn St. Paulus in der 2. zun Cor. am 10. schreibet. So fern nun die Obrigkeit nicht bessert und nutzet, so ist sie von Gott: denn alsdenn, wer

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philologisch-begrifflichen Ansatz bestand, der als Konsequenz eine Scheidung von Amt und Person erlaubte67• Eine Entschärfung und zugleich Pluralisierung des in Römer 13 vorfindliehen Obrigkeitsbegriffs bestand schließlich darin, daß Obrigkeit als ,Gewalt' begriffen wurde, die Gott als eine streng amtsrechtlich und dem Zweck nach definierte, rechtlich gebundene, als eine ,ordentliche' Gewalt geschaffen hatte. Sie wurde auf allen Herrschaftsebenen und allen Herrschaftsbereichen als eigenständige und unaufhebbare, im Hinblick auf ihre Zweckbestimmung zeitlos-universale und stets unmittelbar von Gott verliehene und daher jedem weltlichen und reichsrechtlichen Delegationszusammenhang entzogene Gewalt verstanden, bei der es nicht auf den Inhaber der Gewalt als Person oder Korporation und ir widerstrebet, sündiget. so fern aber die Obrigkeit nicht bessert, so hat der mehr Obrigkeit, der mit Widerstreben bessert, denn die Ubelthäter. 67 Vgl. auch das Bedencken einer hohen Fürstlichen Person von 1552, in dem gleichfalls Korinther 2,10 sowie 2,13 herangezogen werden. Zu den theologischen Interpretationen führt der Gutachter aus: Ich habe mich lange Zeit sehr verwundert, dieweil fast alle Theologi den Gehorsam der Obrigkeit so hoch geschärfft haben, als sollten die Unterthanen schlecht [einfach] nicht Recht noch Macht haben, ihren Tyrannen, ob sie gleich von denselbigen an Leib und Seele verderber würden, Widerstand zu thun, sondern müsten alles leiden, und stille darzu schweigen, was doch Gott mit solchen scharffen und mit beschwerlichen Rechten meynte? [ . .. 1 Darum kam ich in den Argwohn, als verstünden entweder die Theologi die Schrifft nicht recht, oder aber dürfften die Wahrheit, aus Furcht der Menschen, sonderlich der grossen Herren in der Welt, nicht frölich und unerschrocken heraus sagen. Denn es regieren wenig Herren in der Welt so recht und wohl, daß sie nicht ein Entsetzen haben, wenn man ihnen aus Gottes Wort lauter und klar sagt, was sie zu thun schuldig seyn, und wenn sie es nicht thun, was sie dagegen zu gewarten haben. Der Gutachter setzt bei dem philologischen Befund an, daß Paulus seinen Römerbrief in griechischer Sprache geschrieben hat. Paulus sagt nicht, daß man den Ober-Herren, sondern den obschwebenden Obrigkeiten soll gehorsam seyn. Nun ist es offenbar, daß die Obrigkeit nicht des Ober-Herrn Person ist; Denn gleichwie man einen lobet, einen frommen, weisen oder heiligen Mann, und er ist doch nicht die Frömmigkeit, Weisheit oder Heiligkeit selbst, sondern er hat nur etwas von der Frömmigkeit, Weisheit oder Heiligkeit; Also ist des Regenten Person wohl ein Ober-Herr, er ist aber keineswegs die Obrigkeit selbst, sondern er hat und führet nur die Obrigkeit, die er von Gott empfangen hat, wie das lateinische Wörtlein, gerere Magistratum, gar fein bezeuget. Es ist aber die Obrigkeit eigentlich der Befehl und die Macht, die Gott den Ober-Herren und Regenten durch sein Wort vom Himmel herab gegeben hat. Und ist nemlich das der Befehl, daß sie sollen die Frommen schützen, dargegen die Bösen straffen und ihnen wehren. [ . .. 1 Damit aber nicht iemand gedencke, es sey ohngefehr geschehen, daß uns Paulus der Obrigkeit, und nicht den OberHerrn gebiete, unterthänig zu seyn, so ist zu wissen, daß der heilige Paulus die Obrigkeit in seiner Griechischen Sprache eine Weile [ . .. 1 Archen eine Weile [ . .. 1 Exusien nennet. Nun ist weder Arche noch Exusia ein Ober-Herr, sondern heissen und deuten beyde eigentlich die Obrigkeit, Macht oder Gewalt. So braucht sie auch Paulus beständig/ich, wenn er von Gehorsam redet, und nennet nicht einmahl den Ober-Herrn selbst, oder des Ober-Herrn Person, sondern die Exusien. Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XXXIX, 175, 176. In einem Gutachten von 1530 heißt es: Paulus Rom. 13. heist dieobrigkeitein ordnung gottes, den magistrat[.1 ministrum dei. Welcher sonderzweifelauch von den Christen redet und [daß] die weltlichen obrigkeiten von gott bestetiget sein, verkundet. Nun ist ia die obrigkeit die unterthanen vor gewalt zu beschutzen schuldig. Scheible, Widerstandsrecht (Anm. 42), Nr. 17, 74 f.; Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XIV, 55. Vgl. dazu Anm. 57, 66 und 68.

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die Herrschaftsbegründung durch adeliges Geburtsrecht oder Wahl, sondern lediglich auf die Ausübung und den richtigen Gebrauch nach ihrer Zweckbestimmung

ankam68 .

Der Kaiser ist den hessischen Ausführungen zufolge eine reichsrechtlich eng limitierte, in der Zuständigkeit ungeachtet seiner als Kaiser und weltliches Haupt der respublica christiana genuinen und traditionalen Aufgabe der advocatio ecclesiae auf einen rein innerweltlichen Bereich reduzierte Obrigkeit, die zudem nicht über wirklich subordinierte Untertanen, Untertanen im eigentlichen Sinne, gebietet, sondern über Reichsstände69. Diese Stände wiederum besitzen eine eigene, auf 68 Nürnberger theologisches Gutachten des Andreas Osiander von 1530, das insbesondere den Positionen Spenglers und Dr. Müllners widerspricht: Als Paulus zun Römern am 13. Capitel saget: Wie alle Gewalt von Gott sey: das ist anders nicht, denn allein von ordentlicher Gewalt zu verstehen. Eine ordentliche Gewalt aber ist, die ordentlich gemacht, und seines Amtes ordentlich gebrauchet; das ist, die zu einer Furcht ist den bösen, und nicht den guten Wercken, die die Wohlthäter lobet, die ein Diener ist dem menschlichen Geschlecht zum guten, die die Bösen straffet, und die Frommen beschützet. [ . .. 1 So aber irgend eine Gewalt unordentlich geschaffen ist und seines Amtes unordentlich gebrauchet, die soll dafür; als wäre sie von Gott geschaffen, keineswegs geachtet werden. Niemand darf daran zweifeln, daß Paulus nicht jede Gewalt als von Gott geschaffen erachtet, sondern vielmehr alle Tyranney und unbilliche Herrschung ausgeschlossen hat. [ . .. 1 Darum, so ist die Gewalt der Obrigkeit, die Paulus fürgelegt, nicht irgend eine Person oder Stat, sondern das, das entweder von göttlichen oder menschlichen Rechten geordnet wird, zu Beschirmung der Frommen, und zu Züchtigung der Bösen, und endlich zu Erhaltung des Friedens. [ . .. 1Aus dem ist offenbar; daß die Gewalt, nicht in einigem adeliehen Stamme, odereiniger Wahl, sondern allein in der Administration und Regierung, die die Bösen straffet, und die Frommen handhabet, begriffen wird. [ ... 1 So ist die Einsetzung Gottes, so viel die Gewalt antrifft, von Anfang der Welt nichts anders ie gewesen, wird auch hinführo nichts anders seyn, denn daß die Frommen vor den Bösen sicher seyn, und also zwischen den Menschen ein friedsam Leben erhalten werde. [ ... 1 Daß denn Paulus saget: Alle Gewalt sey von Gott verordnet; Damit begreiffet er nicht allein der Könige und Fürsten Gewalt, sondern auch der Städte, Gemeinschafften, und aller derjenigen, die Recht und Befehl haben, die Frommen zu beschützen. Denn wiewohl der Römische Kayser; als Paulus von Gewalt schriebe, allein ein einiger [einziger] Herr der Welt war; und dafür erkandt wurde, so hat er doch nicht allein eine einige, sondern viel Gewalt gemeynet, also, daß niemand zweifeln darff, daß die Städte und Communen Gewalt, nicht weniger denn des Kaysers, als von Gott verordnet, durch Paulum gelobet sey. Darum irren sich, die wenigere Gewalt gegen der höhern zu vergleichen, keine von Gott verordnete Gewalt, sondern allein eine schlechte [einfache] einzeliche Unterthänigkeit wollen seyn lassen. Gleich als so iemand des Kaysers, oder Königs Gewalt, gegen der Reichs- oder Frey-Städte Obrigkeit vergliche, und für keine Gewalt hielte. Denn mit der Weise wäre nach St. Pauli Meynung nicht eine iede Gewalt von Gott geordnet, sondern der gröste Theil einer ieden Gewalt müste dem Kayser; als wäre er ein Geber der Gewalt, zugemessen werden, das doch wider die Schrifft wäre. Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XV, 57 f. Vgl. Hortleder; Rechtmäßigkeit II (Anm. 54), cap. 10, 86-88 (datiert auf 1531). Neue Edition und Datierung des Gutachtens in: Andreas Osiander d. Ä. Gesamtausgabe, Bd. 3: Schriften und Briefe 1528 bis April 1530, hrsg. von Gerhard Müller und Gottfried Seebaß, Gütersloh 1979, Nr. 125, 451-467; Text, 459-467 (bearbeitet von Bernhard Schneider); ein weiteres, weitschweifiges Gutachten Osianders zur Frage des Widerstandsrechts mit ähnlichem Tenor aus dem Jahre 1531 in: Gesamtausgabe, Bd. 4: Schriften und Briefe Mai 1530 bis Ende 1532, hrsg. von Gerhard Müller und Gottfried Seebaß, Gütersloh 1981, Nr. 151, 158-206; Text, 167- 206 (bearbeitet von Bernhard Schneider).

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Grund der Erblichkeit der Fürstentümer eine eigenberechtigte, insoweit nicht abgeleitete Obrigkeit, deren Befugnisse und Aufgaben erheblich weiter reichen als diejenigen des Kaisers. Im völligen Gegensatz dazu hebt Spengler die Mediatisierung der landesherrlichen und reichsstädtischen Untertanen gegenüber dem Kaiser schon dadurch auf, daß er die Reichsstände in bezug auf die übergeordnete Gewalt des Kaisers nur als Privatpersonen und Untertanen begreift, deren obrigkeitliche Gewalt im Falle der Kollision suspendiert ist, und dadurch einen einzigen, umfassenden Untertanenverband von Privaten konstituiert. In seiner Antwort auf die hessische Rechtsbelehrung wiederholt Spengler ausführlich seinen Standpunkt70• Er bekräftigt zwar die Bindung des Kaisers an das Recht und an den christlichen Glauben, wendet sich aber entschieden gegen die den Juristen möglicherweise einleuchtende Deutung des Verhältnisses zwischen Kaiser und Ständen mit Hilfe des resolutiv bedingten Vertrages, die konsequenterweise dann auch für andere Herrschaftsverhältnisse gelten müsse. Auch wenn der Kaiser die ordentlichen gesatzten [positivierten] limites seines Amtes überschreitet und dem, wozu er sich den Reichsständen gegenüber verpflichtet hat - gemeint ist die Wahlkapitulation mit ihren kassatorischen Klauseln - zuwiderhandelt, bleiben die Stände dennoch zu gehorsamer Untertänigkeit verpflichtet und dürfen nicht zu den Waffen greifen, denn dies ist kein rechtlicher und ordentlicher Weg, sondern offene Rebellion und Ungehorsam. Den einzig möglichen, den ordentlichen Weg, um einen solchen Kaiser loszuwerden, erblickt Spengler, wie schon im ersten Gutachten angedeutet, in der Absetzung durch seine Wähler, die unter gewissen, auf den Rechtszustand des Reichs und die Vermeidung von Gewalt bezogenen Kautelen vorgenommen werden kann. Die hessische Argumentation hingegen stützt ein anonym überliefertes juristisches Gutachten71 , das gleichfalls den Gedanken des verfassungsgeschichtlichen Wandels aufgreift und nunmehr auf das Kaisertum im Sinne der antiken Imperatoren und der Figur des Princeps des römischen Rechts anwendet. Wohl waren die römischen Kaiser zur Zeit Christi und noch einige Jahrhunderte später principes mundi, jetzt aber ist der Kaiser den Kurfürsten und Fürsten eidlich verpflichtet und hat keine ,vollkommene', sondern nur eine ,gemessene' Gewalt. Das Reich (keyserthumb) ist mehr eine ,Aristokratie' denn eine ,Monarchie' und gleicht der anti69 Ein theologisches Gutachten aus dem Jahre 1531, das einem vorgängigen antwortet, wirft die Frage auf, ob die Fürsten gegen den Kayser vielleicht nicht so richtig Unterthanen seyn möchten, sondern mit Bedingung ihrer Freyheit und Rechten, oder sonst mit Maaß und Restriction, in ihren gemeinen verliehenen Rechten verfasset, dem Kayser unterworffen; Wie man denn sonst siehet, daß der Kayser in keinen grossen, und zuvor nachtheiligen Sachen, ettwas ohne Rath und Bewilligung der mehreren Reichs-Stände zu statuiren hat. Lünig, Europaeisehe Staats-Consilia (Anm 52), Nr. XVI, 60; Hortleder; Rechtmäßigkeit II (Anm. 54), cap. 11, 88-91. Zur Herkunfts. Osiander Gesamtausgabe, Bd. 3 (Anm. 68), 456 f. Vgl. Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XV, 57-59. 70 Scheible, Widerstandsrecht (Anm. 42), Nr. 12, 54. 71 Scheible, Widerstandsrecht (Anm. 42), Nr. 17, 69-77; Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XIV, 53-57.

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ken römischen Verfassung mit Senat und den beiden jährlich gewählten Konsuln, gegenwärtig der Kirchenverfassung mit Bischof und Kapitel oder der Verfassung Venedigs mit dem Dogen (hertzog) und den Senatoren. Weder waren die römischen Senatoren verpflichtet, den Konsuln ihren mutwiellen zu gestatten, noch sind ein Kapitel und die venezianischen Senatoren verpflichtet, dem Bischof und dem Dogen in allen sachen zu gehorchen. Von dem Sachverhalt der Wahlmonarchie wird unmittelbar auf einen Mitregierungsanspruch der Reichsstände geschlossen. Der Kaiser ist kein ,Monarcha' im eigentlichen Wortsinn, da die Kurfürsten ihn wählen und die Stände mit ihm regieren. Auf der anderen Seite wird, in Abwehr der von Spengler postulierten Übertragbarkeit der Konstruktion des resolutiv bedingten Vertrages auch auf die fürstliche Herrschaft, allein mit der Erblichkeit der Fürstentümer und der damit - im Gegensatz zur Auffassung Dr. Müllners - prätendierten Verleihung des ,ius gladii' an die Fürsten unmittelbar durch Gott72 ein absoluter Gehorsamsanspruch der Landesherren gegenüber ihren territorialen Untertanen begründet, der selbst die lehnrechtliche ,diffidatio', die dem Kaiser gegenüber zugelassen wird, ausschließt. Den Fürsten erwächst sogar eine Widerstandspflicht gegen den Kaiser, denn die Fürsten haben, so sieht es auch der Bremer Syndikus Dr. Wiek, ihre Untertanen analog zu der naturrechtliehen Verpflichtung des Vaters gegenüber seinen Kindem zu schützen73 . Die widerstandsrechtliche Argumentation hatte bereits um 1530 grundlegende Fragen aufgeworfen, und, soweit sie ein Widerstandsrecht zuließ, die höchste Obrigkeit, den römisch-deutschen Kaiser, gegenüber den Positionen des römischen Rechts durch eine historisierende, verfassungsgeschichtliche Beurteilung vielfachen Beschränkungen unterworfen, so daß die Rechtsmacht der subordinierten fürstlichen Obrigkeiten der kaiserlichen sogar überlegen erschien74 und für das Reichjetzt die Frage der gemischten Staatsform aufgeworfen wurde75 • n Die Schwierigkeit, die sich für die Behauptung einer erblichen und originären Gewalt der Fürsten aus dem Reichslehnrecht ergibt, wird nicht sehr überzeugend dadurch entschärft, daß der Gutachter gemäß der feudistischen Unterscheidung von ,Obereigentum' oder ,dominium directum' und ,Untereigentum' oder ,dominium utile' dem Kaiser zwar das ,dominium directum' an den Fürstentümern zubilligt, unter Berufung auf Jacobus Alvarotus (zu L. F. 2, 8, 1) und Bartolus (zu C. 8, 41, 3) aber das fürstliche ,dominium utile' als rege1mäßg vorzuziehen bezeichnet. Scheible, Widerstandsrecht (Anrn. 42), Nr. 17, 76. 73 D. 1, 1, 1, 3; D. 25, 3, 4. Scheible, Widerstandsrecht (Anrn. 42), Nr. 17, 73; Lünig, Europaeisehe Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XIV, 55. Dr. Wiek betrachtet die Pflicht, den Nächsten zu retten, als ein biblisches Gebot der Nächstenliebe und somit des göttlichen Rechts, des kanonischen Rechts, des Völkerrechts und als Pflicht des Herrn gegenüber seinen Untertanen unter Berufung auf die Glosse zu D. 50, 17, 50 und Bartolus zu D. 1, 18, 6 auch des römischen Rechts. Außerdem üben die Reichsfürsten eine der Gerichtssituation analoge Mitherrschaft aus und besitzen ein Recht zur Korrektur: Es widerstreben auch die Fürsten dem Kayser, der zum lrrthum geneigt ist, als seine im Reich Beysitzer, billich. Gleichwie die andere Unterthanen gegen ihrem Prälaten, der das Gesetz und Recht nicht weiß, ihn desselben zu unterweisen[... ]. Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XIII, 47-49. 74 Das theologische Gutachten Osianders aus dem Jahre 1530, das sich gleichfalls mit den Positionen Spenglers auseinandersetzt, spricht dies deutlich aus: So ist auch im römischen

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Für die gelehrten französischen Monarchomaehen des späteren 16. Jahrhunderts - Beza, Duplessis-Momay I Languet und Hotman76 - und noch für oppositionelle juristische Schriftsteller wie Joly und Picault während der Regierung Ludwigs XIV., inmitten eines dem staatstheoretischen Anspruch nach absolutistischen Regimes77, war die Reichsverfassung mit ihren quasi-konstitutionellen Beschränkungen Reich keine wahrhafftige Gewalt, die eine Ordnung Gottes ist, aus einiger Personfürnemlich, sondern er hat seine Krafft aus der Regierung, darum, dßß nicht die Personen der Könige den Regierungen für sich, als wären sie Geber der Gewalt, einige Gewalt gebähren oder machen: Sondern das Reich, oder Regierung, den Königen ihre Gewalt, so viel sie der üben, durch die Wahl und Ordnung heimsetzen und geben. Darum auch oben die, nemlich die Wächter, so dem Könige die Gewalt geben und überantwortet, haben ihm die, so er nicht hält, wessen er sich verpflichtet hat, und seine ordentliche Gewalt nicht übet, wiederum zu nehmen, guten Fug und macht. Aus dem ist auch zu ermessen und zu schliessen, ®ß auch die niedere Gewalt, sofern es Gottes Ordnung ist, nicht allein der höhern gleich, sondern auch in etlichen Fällen höher undfürnehmer ist. Und wird also offenbar und klar, dßß keine niedere Gewalt, zu was höherer Obrigkeit sie auch verglichen wird, für eine einzeliche, oder sonderbare Person [Privatperson], billich kann geachtet werden, sondern daß dieselbe nichts desto weniger schuldig sey, aus Göttlichen Rechten ihre Unterthanen zu beschützen. Lünig, Europaeisehe Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XV, 58; Osiander Gesamtausgabe Bd. 3 (Anm. 68), 464f. 75 Als hundert Jahre später, während des Dreißigjährigen Krieges, im Jahre 1632 in einem Rechtsgutachten die Frage aufgeworfen wird, ob bewaffneter Widerstand gegen den Kaiser Rebellion darstelle, wird nicht anders mit dem Reichsherkommen argumentiert und der Rekurs auf das römische Recht zur Beurteilung der Reichsverfassung und der Herrschaftsgewalt des Kaisers zurückgewiesen. Es ist ein mercklicher Unterschied zwischen den Lateinischen und ietzigen Teutschen Kaysernlund der heutige Status lmperii Romani nicht/wie tempore latae Legis Regiae, absolute Monarchicus, sondern ex Monarchico & Aristocratico mixtus, und gleichsam temperirt oder vermischet. Dehalb haben die Reichsstände auch einen erheblichen Anteil an den Jura Majestatica. Der Kaiser hat keine absolutam potestatem, in allen begebenden Fällen ex plenitudine potestatis zu gebieten und zu disponiren, sondern in etlichen eine gewisse bedingte und conditionirte Gewalt zu gebrauchen. Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52) II, Nr. XXXVII, 272-279./senmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (Anm. 42), 616 f. Vgl. auch die Erörterungen in dem Gutachten des Dr. utr. iur. Basilius Monnerus von 1547. Hortleder, Rechtmäßigkeit II (Anm. 54), cap. 30, 156-177; Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XXXVII, 153-173. 76 Beza, Brutus, Hotrnan. Calvinistische Monarchomachen, übersetzt von Hans Klingelhöfer, hrsg. und eingeleitet von Jürgen Dennert (Klassiker der Politik, 8), Köln I Opladen 1968. 77 Hartmut Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert. Die politische Lehre der Akademien Sedan und Saumur, mit besonderer Berücksichtigung von Pierre Du Moulin, Moyse Amyraut und Pierre Jurieu (Historische Forschungen, 8), Berlin 1975; Klaus Malettke, Opposition und Konspiration unter Ludwig XIV. Studien zu Kritik und Widerstand gegen System und Politik des französischen Königs während der ersten Hälfte seiner persönlichen Regierung (Veröffentlichungen des Max-Planck-lnstituts für Geschichte, 49), Göttingen 1976; ders., Hugenotten und monarchischer Absolutismus in Frankreich, in: Francia 15 (1987), 299-319. Während der Fronde von 1648 bis 1653 gab es in Frankreich einige Autoren, die in Anknüpfung an die Monarchomaehen eine institutionelle Beschränkung des Königtums durch Generalstände und die Parlements forderten und den Ständen ein Widerstandsrecht zuerkannten. Unter ihnen ragt der Jurist und Kanonist Claude Joly heraus, der in einer gegen Mazarin gerichteten Schrift unter Berufung auf Gerson von einem völlig gleichgewichtigen, einem - wie er ihn selbst nennt - synallagmatischen Vertrag zwischen Fürst und

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der vertraglich bedingten kaiserlichen Gewalt ein überaus wichtiges Beispiel für ihr Ideal einer gemischten Verfassung78 . Im Unterschied zur aktuellen Verfassungslage des Reichs mußten für Frankreich ständestaatliche Verfassungselemente vornehmlich in einer stark mythisierten fränkischen, d. h. zugleich freiheitlichen Vergangenheit aufgespürt werden. Mit Hilfe fragwürdiger Kontinuitäten und gewagter Etymologien wurde ein einigermaßen geschlossenes Bild einer angeblich tausendjährigen vorabsolutistischen, alten und wahren Verfassung gezeichnet. In dieser Verfassungsordnung dominierten Ständeversammlungen als Vertretungsorgane des Volkes; das Königtum war durch Grundgesetze beschränkt, an die Gesetze und den ständischen Konsens gebunden. Das eindringlichste Bild einer solchen nationalen Verfassungsrekonstruktion, wie wir sie ähnlich auch von Buchanan, Grotius und Althusius kennen, lieferte Francais Hotman, Lehrer des römischen Rechts, mit seiner «Francogallia». Den entscheidenden Schlag hat der alten Verfassung nach Rotrnans Ansicht hundert Jahre zuvor König Ludwig XI. versetzt. Hotman äußert die Überzeugung, daß das angeschlagene französische Gemeinwesen erst dann wieder gesunden werde, wenn es, wie er sagt, ,durch eine unvergleichliche Tat wieder in seinen alten, sozusagen natürlichen Zustand versetzt' werde79• Duplessis-Momay versuchte, mit Hilfe römischer Rechtsregeln darzulegen, daß die alte Verfassung Frankreichs durchaus noch Gültigkeit habe, weil die freiheitsmindernden Machtverschiebungen zugunsten des Königs unrechtmäßig gewesen, die Rechte des Volkes aber unverjährbar seien. Denn niemand könne einem andem mehr Rechte übertragen, als er selber hatte, so auch nicht der König seinem NachVolk ausgeht, der von Gott ,ratifiziert und gebilligt' wird. Der Fürst verspricht, für Gerechtigkeit zu sorgen und das Volk zu schützen; das Volk, das entsprechend der römischen Iex regia seine Gewalt in die Hände des Fürsten legt, gelobt dem Fürsten Treue, Hilfe und die Leistung von Abgaben. Wenn der Fürst den Vertrag verletzt und das Volk offenkundig, hartnäckig, grundlos und widerrechtlich verfolgt, darf es dem Naturrecht gemäß Gewalt mit Gewalt aufhalten. Das Widerstandsrecht gründet auf dem positiven Vertragsrecht und dem Naturrecht, es kann aber auch mit dem alten unveijährbaren Gewohnheitsrecht der Stände, die in der Vergangenheit Könige eingesetzt und abgesetzt haben, begründet werden. Der möglicherweise den Hugenotten zuzurechnende Pierre Picault geht in seinem 1679 erschienenen «Traine des parlements ou estats generaux» konzeptuell einen Schritt weiter und spricht von einer puissance opposee der Parlements gegenüber der königlichen Herrschaftsgewalt Nach Picaults Auffassung ist das Verhältnis zwischen König und Parlements dann zugunsten der Regierten am besten geregelt, wenn beide Gewalten ein Kräftegleichgewicht bilden und dadurch eine gegenseitige Kontrolle gewährleistet ist. Malettke, Opposition (Anm. 77), 93 f. Eine solche, auf sich ausbalancierenden Kräften beruhende verfassungspolitische Konzeption war in der französischen staatstheoretischen Publizistik bislang noch nicht erörtert, in England aber angesichts eines viel weiter gesteckten und komplexeren politischen Handlungsfeldes in James Harrlogtons «Oceana>> mit Sinn für die politische Mechanik und mit technisch-institutioneller Experimentierfreudigkeil virtuos durchgespielt worden. V gl. Kluxen, Politische Opposition (Anm. 28), 21 f. Jnngard Hantsche, James Harrlogton und das Problem des englischen Bürgerkriegs, Köln 1968. 78 Beza, Brutus, Hotrnan, hrsg. von Dennert (Anm. 76), bes. 121, 139, 160 f. («Vindiciae»), 257 (Hotrnan). 79 «Franco Gallia», Vorwort; Beza, Brutus, Hotrnan, hrsg. von Dennert (Anm. 76), 206.

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folger. ,Die Jahre mindern keineswegs die Rechte des Volkes, sie vermehren nur das Unrecht des Königs' 80• Widerstand gewinnt dadurch einen fundamentalen Charakter, denn er richtet sich nicht nur gegen einzelne rechtswidrige Handlungen des Königs, sondern erfolgt zugleich auf einer prinzipielleren Ebene im Namen der alten Volksrechte gegenüber einer unrechtmäßigen, usurpierten königlichen Machtsphäre. Das resolutiv bedingte, d. h. bei Nichterfüllung der Bedingungen aufgelöste Vertragsverhältnis zwischen Herrscher und Volk, gewonnen aus den alttestamentlichen Bünden zwischen Volk, Herrscher und Gott, aus römischem Vertragsrecht sowie aus Relikten eines Königswahlrechts, ferner das wechselseitige lehnrechtliche Treueverhältnis, ein dienendes, pflichtgebundenes und nicht besitzrechtliches Verständnis vom königlichen Amt, die grundsätzliche Scheidung von König und Königreich, der überkommene Tyrannenbegriff, die strikte Bindung des Herrschers an Fundamentalgesetze, die Herrschaft der Gesetze anstelle affektunterworfener herrscherlicher Willensäußerungen81 und die mittelalterliche Korporationslehre in der Konsequenz, daß die Amtsträger des Reichs als Gesamtheit und das Volk als korporative Einheit höher stehen als der König, das Konsensprinzip, die Teilhabe der Stände an der königlichen Regierung und ihre ephorengleiche Aufgabe, die Rechte des Volkes gegen den König zu wahren - dies sind die Grundelemente der monarchomachischen Widerstandslehre, welche die rudimentären und vorsichtigen Positionen Calvins weit hinter sich läßt. Der gewaltsame Widerstand der niederen und vor allem der höheren Amtsträger des Königreichs, zu dem diese auf Grund ihrer Amtspflicht, ihrer Mitherrschaft und damit Mitverantwortung verpflichtet sind, richtet sich gegen den König, der von Leidenschaften verblendet durch sein Regiment zum Tyrannen degeneriert ist. Der von Aristoteles, Thomas von Aquin und Bartalus übernommene hauptsächliche definitorische Unterschied zwischen dem König und dem Tyrannen ist sehr einfach, aber unbestimmt und dadurch sehr weitreichend. ,Das Volk ist nicht des Königs wegen, sondern der König ist um des Volkeswillen geschaffen' 82• Die Könige sind zum Nutzen des Volkes eingesetzt, der König dient daher dem Gemeinwohl; der Tyrann hingegen ist auf seinen privaten Nutzen aus83 • Hotman zitiert daBeza, Brutus, Hotman, hrsg. von Dennert (Anm. 76), 128. Ebd., 133 f. («Vindiciae>>). 82 Beza, Brutus, Hotman, hrsg. von Dennert (Anm. 76}, 285 (Hotman). Die gleiche Argumentationsstruktur, die den Herrscher den Beherrschten oder dem Herrschaftszweck unterwirft, benutzt der deutsche anonyme Gutachter von 1530: Der Kaiser ist des Friedens wegen bestätigt, der Friede aber nicht um des Kaisers wegen, wie der Hirte der Schafe wegen da ist, und nicht die Schafe des Hirten wegen existieren. Scheible, Widerstandsrecht (Anm. 42), Nr. 17, 73 f. Lünig, Europaeiscbe Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XIV, 55. Vgl. Nr. XVI, 60: Es seynd ja die Herren mehr um der Unterthanen willen, denn die Unterthanen um der Herren willen. 83 Ebd., 140, 144 («Vindiciae>>). Im Gutachten Osianders von 1530 erscheint Tyrannis als eine Herrschaft, die gegen die Ordnung Gottes und den mit der göttlichen Amtseinsetzung 80 81

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her mehrfach Cicero mit der Maxime: Salus populi suprema Iex esto. Für Hotman gehört zum wichtigsten Kennzeichen der Tyrannis, daß der Herrscher gegen den Willen des Volkes regiert, daß er seine Anordnungen nicht zum Vorteil und nach dem Willen der bürgerlichen Gemeinschaft und der Untertanen, sondern nach seiner Willkür trifft. Gemeint ist der konkrete, in Ständeversammlungen institutionalisierte Wille des Volkes, von dem der König Gesetze empfängt, die er zu schützen und zu beachten hat. Es gehört zur Freiheit, daß nach dem Rat und mit der Zustimmung derer regiert wird, deren Existenz dabei berührt wird. Hier zitiert Hotman die berühmte Codexstelle: Quod omnes similiter tangit, ab omnibus comprobetur; ,was alle in gleicher Weise angeht, das soll von allen gebilligt werden' 84• Das institutionelle Forum der Konsensbildung in allen das Gesamtwohl und das Gemeinwesen betreffenden Angelegenheiten sind die überall - in Frankreich, Deutschland, England, Aragon - anzutreffenden allgemeinen Ständeversammlungen, die auf Grund des empirischen Befundes, daß sie überall vorfindlieh sind, zum Recht der Volker gehören, unverletzliches Recht in der besonderen Qualität und Dignität des Volkerrechts sind. Hotman folgert die völkerrechtliche Qualität der Ständeversammlungen zudem aus der bei allen nicht tyrannisch regierten Volkern und Nationen stets anerkannten Gewohnheit, daß das Wohl des Volkes als höchstes Gesetz zu gelten habe. Könige, welche die berühmte und hochheilige Freiheit, allgemeine Ständeversammlungen abzuhalten, unterdrücken, verletzen das Volkerrecht. ,Da sie sich dadurch von der menschlichen Gesellschaft ausschließen, sind sie nicht als Könige, sondern als Tyrannen anzusehen' 85 . Zur Begründung ihres ständestaatliehen Verfassungsmodells und des daraus resultierenden Widerstandsrechts benutzen die französischen Monarchomaehen biblische Exempla, historisch-antiquarische Belege, internationale Verfassungstatbestände, Rechtsregeln und Institute des römisch-kanonischen Rechts wie die gesamtschuldnerische Haftung und die gemeinschaftliche Vormundschaft zur Begründung einer Widerstandspflicht sowie abstrakte Denkfiguren antiker und mittelalterlicher Staatstheorie. Ein zentraler Stützpfeiler der Argumentation ist neben der vertraglichen Ausdeutung der herrschaftlichen Rechtsverhältnisse der korporationsrechtliche und konziliaristische mittelalterliche Satz ,rex maior singulis, universis minor' 86, den später Thomas Hobbes als Absurdität zu erweisen suchte verbundenen Auftrag die Bösen schützt und die Frommen und Unschuldigen verfolgt. Der Tyrann, der zudem seinem eigenen Willen und nicht dem gemeinen Nutzen folgt, wird zur Privatperson, gegen die untergeordnete Amtsgewalten Widerstand leisten dürfen: Denn eyn König seyn, ist nicht, thun was einer will, sondern das handeln, das des Reiches Nutz ist. Allso, daß die [der] niedere Gewalt, wo er einem Mißhändler widerstrebet, nicht wider den König und Gewalt streitet, sondern wehret nur einer sondern Person, die ihrer königlichen Gewalt mißbrauchet. Lünig, Europaeische Staats-Consilia (Anm. 52), Nr. XIV, 59; Osiander Gesamtausgabe, Bd. 3 (Anm. 67), 466. 84 C. 5, 59, 5; reg. 29 in Vl0 V, 13. 85 Beza, Brutus, Hotman, hrsg. von Dennert (Anm. 76), 258. 86 Ebd., 116, 118 («Vindiciae»). Zu den korporationsrechtliehen und konziliaristischen Traditionslinien siehe Skinner, Foundations II (Anm. 42), 320-335; Anthony Black, Monar-

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und den eine Generation später (1690) der skeptizistisch-liberale hugenottische Aufklärer und Verteidiger der Thronrechte der Stuarts, Pierre Bayle, als reine Fiktion abtat87• Ähnlich abstrakt hatte bereits 1531 ein Nürnberger Jurist gegen alle umlaufenden Rechtsparömien zugunsten einer unbeschränkten und voluntaristischen, gar vergöttlichten Herrschermacht das Widerstandsrecht allein aus der irnrnanenten Logik und Teleologie des Rechtsgedankens begriindet88• Dem römischen Recht wird hier nicht das geschichtliche Verfassungsrecht des Reichs zur Beweisführung für ein Widerstandsrecht entgegengestellt, sondern es wird das Widerstandsrecht aus dem römischen Recht hergeleitet. Der Gutachter referiert zunächst verschiedene, aus Mittelalter und Spätmittelalter überkommene Rechtsparömien zur Stellung des Kaisers, die er vornehmlich den Kommentaren des Bartolus und des Baldus entnirnrnt. Der Kaiser figuriert als ,Herr der ganzen Welt' (dominus mundi), ,lebendiges Recht' (Iex animata) und ,Gott auf dem Erdreich' (deus terrestris), dessen ,Machtvollkommenheit' (plenitudo potestatis) eine Frage nach den Griinden seiner Handlungsweise nicht zuläßt89• Er hat stets die Rechtsvermutung für sich, nichts ohne guten und nützlichen Grund zu tun. Als Haupt und Regierer der ganzen Welt kann er niemandem Unrecht tun; er kann nichts Ungerechtes oder Unbilliges wollen; er ist das lebendige Recht; er kann Richter in eigener Sache sein; und schließlich: was ihm gefallt und was er verfügt, das ist Recht90• Der Gutachter setzt dann aber bei dem herrschaftsbegrundenden Rechtsakt an. Der Kaiser hat seine Herrschaftsgewalt nicht aus sich selbst, etwa kraft Eroberungsrecht, sondern auf Grund der freiwilligen Übertragung durch Bürger und Volk von Rom auf dem Wege der ,Iex regia'. Selbst wenn es sich mit chy and Cornmunity: Political Ideas in th Later Conciliar Controversy, Cambridge 1970,9 ff., 29 ff.; ders., Council and Commune: The Conciliar Mouvement and the Fifteenth-Century Heritage, London 1979, Kap. 16, 194 ff. 87 Salmon. The French Religious Wars (Anm. 23), 145. 88 Rathschlag. dz kayserlicher Mayestat vnbillichen Vergewaltigung inhallt der recht mit gewalldt moge widerstandten werden, anno domini 1531. StA Nürnberg, Ratschlagbücher, Nr. 24, fol. 359r-375r. Das Gutachten wurde vermutlich vom Ratskonsulenten Dr. Valentin Kötzler erstattet. Osiander Gesamtausgabe, Bd. 3 (Anm. 67), 456; Bd. 4 (Anm. 67), 161, 163. 89 Ebd., fol. 359v- 360v. Die gleichen Parömien und Rechtsvermutungen finden sich im Gutachten Dr. Scheuerls, ebd., fol. 411v-413r. In der Ansprache anläßlich der Überreichung des Wahldekrets apostrophierte der Kanzler des Kurfürsten von Mainz, Dr. Heinrich Leubing, den gewählten König und künftigen Kaiser Friedrich III. in erdrückender staatstheoretischweltherrschaftlicher Parömie als caput temporale, monarcham et patricium orbis, patrem omnium, deum terrestrem, principem victoriosissimum, legem animatam, publicam personam et adeo publicam, ut fere nulla a tua jurisdictione excepta reperiatur persona, advocatum ecclesie sancti dei. Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe, Bd. 15, Nr. 106, 184. Dazu und zur verfassungspolitischen Diskussion um die Stellung des römisch-deutschen Kaisers als ,monarcha' um die Mitte des 15. Jahrhunderts siehe Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (Anm. 42), 545- 548; ders., Integrations- und Konsolidierungsprobleme (Anm. 41), 136138. 90 Baldus zu C. 1, 19, 7. Ratschlagbücher, Nr. 24, fol. 360v.

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den heutigen römischen Kaisern verhielte wie vor 1600 Jahren, als Julius Cäsar der erste römische Kaiser geworden war, und alle Lande unter sich hätten wie damals die römischen Kaiser und zuvor die Konsuln, so könnte doch nichts anderes gesagt werden, als daß sie ihre Hoheit und ihr Kaisertum vom Volk haben. Wer will aber glauben, daß das Volk und die Römer dem Kaiser die Gewalt übertragen haben sollten, sie ohne Rechtsgrund verfolgen zu dürfen, und daß sie freiwillig auf Widerstand gegen Unrecht und rechtswidrige Gewalt verzichtet hätten, wie denn auch die vielen Historien über schlechte Regenten das Gegenteil belegten91 • Der zweite Gesichtspunkt bezieht sich auf die Herrschaftsausübung. Der Kaiser ist wie jede andere Obrigkeit in seiner Herrschaft durch den materiellen Amtsauftrag gebunden, Vergehen zu strafen, den gemeinen Nutzen zu fördern, die Unschuldigen zu schützen sowie Frieden und Recht zu wahren. Verstößt er gegen diese positiven Bestimmungen seines Amtes, so handelt er nicht mehr in der Eigenschaft als Kaiser, sondern nur noch als amtslose Privatperson92. Eine besondere Bindung, deren Überschreiten durch den Herrscher Widerstand rechtfertigt, gewinnt seit der Wahlkapitulation Karls V. und durch die formelle Interpretation der Reichsabschiede als Verträge für die Zukunft immer mehr an Bedeutung. Selbst wenn der Kaiser, wie einige meinen, dem positiven Recht zuwider handeln darf, so ist er doch an die von ihm eingegangenen Verträge gebunden. In zwei wichtigen Punkten wird den Gutachten Spenglers und Dr. Müllners widersprochen. Der gemeinrechtliche Satz ,vim vi repellere licet' gehört dem Naturrecht und Völkerrecht, d. h. dem bei allen Volkern geltenden Recht, an, das vom Kaiser nicht aufgehoben werden kann. Und: Die Rechte unterscheiden nicht zwischen non obedire und resistere. Wer nicht zu Gehorsam verpflichtet ist, der hat die ,Freiheit', d. h. ein subjektives Recht, ein ius non obediendi und das Recht auf seiner Seite; und er kann sich gegen denjenigen zur Wehr setzen, der ihm sein Recht nehmen will93 • Die Gegenwehr müsse jedoch so zurückhaltend wie möglich ausfallen, so daß nur der animus defendendi, der Wille zur Verteidigung, nicht aber ein animus offendendi erkennbar werde94 . Ratschlagbücher, Nr. 24, fol. 363v. Ebd., fol. 364'. 93 Ebd., fol. 372'. Der Gutachter konstatiert, daß sich im ganzen kaiserlichen Recht nirgendwo ein Gesetz finde, in dem stracks und austrücklich stehe, daß man dem Kaiser mit Gewalt und Krieg Widerstand leisten dürfe. Die römischen Kaiser würden auch solche Gesetze, alls die ihnen selbst zum höchsten entgegen, nicht zugelassen, approbiert und konfirmiert haben. Dennoch kann man in den kaiserlichen Rechten allerlei schlüssige (beschließliche) Argumente finden, so der k. iemant wider recht und billigkeif vergeweltigen wollte, dz derselbe zur rettung seins Ieibes, Iebens und gutes mit der Tat Widerstand leisten darf. Ebd., fol. 36lv. Zu der elementaren Ebene eines naturrechtliehen Notwehrrechts zur Sicherung der menschlichen Existenzgrundlagen siehe Renate Blickle, Rebellion oder natürliche Defension. Der Aufstand der Bauern in Bayern 1633/34 im Horizont von gemeinem Recht und christlichem Naturrecht, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle (Studien zur historischen Kulturforschung, 3), Frankfurt a. M. 1990, 56-84, 281-286, bes. 80- 84. 91

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Der entscheidende Kunstgriff, mit dem der Gutachter alle dem Kaiser zugeschriebenen Rechtsparömien und Rechtssätze als Ausweis rechtlich ungebundener, voluntarer Herrschergewalt unschädlich macht, besteht nun darin, daß er sie dem Gedanken des Rechts schlechthin unterwirft und sowohl mit der Logik des Rechtsbegriffs als auch mit der Funktion des Rechts argumentiert, diebeidedie Verwirklichung des Rechts fordern und rechtswidrige Gewalt aus der Herrschaftsordnung eliminieren95: Wenn dem Kaiser nicht widerstanden werden darf, falls er Unrecht tut, so würde daraus folgen, daß der Kaiser das Recht hätte, Unrecht zu tun. Dies aber wäre gegen jedes göttliche und menschliche Recht, denn es ist niemand in der Welt, dem das Recht gestattet, Unrecht und Gewalt zu üben, denn alle geschriebenen Rechte sind nur dazu ersonnen, daß niemandem Unrecht und jedermann das ihm Gebührende zuteil wird96• Sollte man Unrecht leiden müssen und von Rechts wegen nicht widerstehen dürfen, so könnte gesagt werden, Unrecht tun ist Recht und durch das Recht zugelassen, denn wenn dem Unrecht nicht widerstanden werden darf, so muß man Unrecht bestehen lassen. Es erscheint nicht ganz abwegig, diese Gedankengänge mit einer auf die französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärungen von 1789 und 1793 bezogenen Feststellung des bekannten französischen Juristen Leon Duguit aus dem Jahre 1901 in Verbindung zu bringen: ,Das Recht und die Pflicht, legitimerweise einer tyrannischen Regierung den Gehorsam zu verweigern und sie sogar mit Gewalt umzustürzen, sind auf theoretischer Ebene nicht zu bestreiten' 97 •

94 Dann wie woll die rechte gegenwer erlauben, so erlauben sie es doch allein zue befrie· dung, nit zue beschedigung, auch nit frey sonder mit einem maaß, l. j ubi Baldus et doctores C. unde vi [C. 8, 4, I]: utfiant defensio animo defendendi, paribus armis et cum moderamine inculpatae tutelae, dnnn wollte man weiters handeln, ist zu besorgen, es were weder glück noch haill dnrbey. Ratschlagbücher, Nr. 24, fol. 374v-375'. Vgl. das Gutachten Dr. Scheuerls, ebd., fol. 4I7v-418r. 95 Ebd., fol. 366. 96 l. j l. iustitia ff. de iustitia et iure, jus enim nihil aliud est, quam ars boni et aequi, justicia tribuit unicuique, quod suum est [D. 1, I, I und 10]. 97 ,,Le pouvoir et le devoir de refuser legitimement l'obeissance a un gouvernement tyrannique et de le renverser meme par Ia force sont theoriquement incontestables". Uon Duguit, L' etat, le droit objectif et Ia loi positive, Paris I90 1, 3I6. Zit. auch bei Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht (Anm. I), 460 f., Anm. 5.

Die Frühe Neuzeit zwischen individueller Erfahrung und strukturgeschichtlichem Zugriff: Erfahrungen, Defizite, Konzepte Von Winfried Schulze, München Seit der glücklichen Erfindung des ,,Sehepunktes" durch Johann Martin Chladenius im Jahre 1752 verfügen wir Historiker über das theoretische Rüstzeug - zumindest im Prinzip-, um die schwierige Gratwanderung zwischen der notwendigen Objektivität historischen Arbeitensund der zeitbedingten Perspektivität dieser Arbeit aushalten zu können 1• Dieses spannungsvolle Nebeneinander von methodisch bedeutsamer Objektivität und ertragreicher Perspektivität soll auch diesen Beitrag bestimmen, der auf eine bestimmte Weise eine Forschungsbilanz der Frühen Neuzeit ziehen will. Dabei soll es jedoch keineswegs darum gehen, alle neuen Zugriffe und Ergebnisse etwa der letzten beiden Jahrzehnte zusammenzutragen. Ich will mich vielmehr darauf konzentrieren, zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Frühe Neuzeit herauszuarbeiten, ihr manchmal nicht konfliktfreies Nebeneinander zu kommentieren und Strategien zu entwickeln, die von einem unfruchtbaren Gegeneinander zu einer integralen Sicht führen können. Wenn ich die Frühe Neuzeit zwischen strukturgeschichtlichem Zugriff und der individuellen Erfahrung verorte, dann will ich damit zum einen jene Strategien charakterisieren, die unsere Epoche aus Verfassungs-, politik- oder sozialgeschichtlicher Perspektive gesehen haben, zum anderen jene Forschungsrichtung, die den Zugriff des Historikers eher durch individuelle Wahrnehmung gegeben sieht. Natürlich wird dies nicht immer als eindeutige Alternative formuliert, doch aus Gründen der Verdeutlichung sollen hier einmal diese beiden Positionen so voneinander abgesetzt werden2 . Vor über einem Jahrzehnt ließ Thomas Nipperdey seine Geschichte des 19. Jahrhunderts mit dem eindrucksvollen Satz beginnen: "Am Anfang war Napoleon". Wenn man so eine Geschichte des 19. Jahrhunderts beginnen lässt, dann zeugt dies - auch wenn diese Formulierung gewiss nicht überinterpretiert werden darf - von t Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft. Mit einer Einleitung von Christoph Friedrich und einem Vorwort von Reinhard Koselleck. Neudruck der Ausgabe Leipzig 1752, Wien/Köln/Graz 1985. 2 Methodisch ähnlich angelegt ist Jürgen Kocka, Sozialgeschichte zwischen Struktur und Erfahrung. Die Herausforderung der Alltagsgeschichte, in: ders., Geschichte und Aufklärung, Göttingen 1989, 29-44.

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einer eher geringen Aufmerksamkeit für die Zeit vor Napoleon3 . Die Friihe Neuzeit erscheint damit sehr fern vom offensichtlich spannenderen 19. und 20. Jahrhundert. In jedem Fall scheint es für deutsche Historiker immer noch sehr viel schwieriger zu sein, die Bedeutung der Frühen Neuzeit, also der Epoche etwa zwischen Reformation und Französischer Revolution, für die allgemeine neuere Geschichte unseres Landes zu beweisen. Französische und englische Kollegen tun sich da sehr viel leichter, die jeweils ,,klassischen Zeitalter" absolutistischer Machtentfaltung (Frankreich) oder parlamentarischer Machtbegrenzung (England) als unverzichtbare Grundlage der modernstaatlichen Entwicklung zu deuten. Die neuere deutsche Geschichtsforschung greift im allgemeinen nur sehr kurz zurück, kaum weiter als bis in das friihe 19. Jahrhundert, die Zeit der Reformen in Preußen und in den Rheinbundstaaten. Die deutsche Geschichtsschreibung hat bedauerlicherweise keinen Tocqueville gefunden, der die unverzichtbare Bedeutung der vorrevolutionären Zeit für die moderne Entwicklung dargelegt hätte; vielfache Diskontinuitäten haben sich daraus ergeben. Heinz Schilling hat deshalb seine Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts ganz bewusst als Versuch bezeichnet, diese überstarke Zäsur um 1800 aufzuheben und die Frühe Neuzeit wieder in einen stärkeren Erklärungszusammenhang mit der modernen Geschichte unseres Landes zu stellen4 , eine Bemühung, der man sich nur anschließen kann. Erste Wirkungen unseres gemeinsamen Bemühens mag man daran erkennen, dass Heinrich August Winkler den ersten Band seiner deutschen Geschichte der Neuzeit von 1999 kontrapunktisch zu Nipperdey mit dem Satz beginnen läßt: "Im Anfang war das Reich"5. Schauen wir kurz zurück: Wahrend für die deutschen Historiker am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein eindeutiger Weg von der Reformation Martin Luthers zum Kaiserreich von 1871 führte, wagten ihre Nachfolger nach dem Ende des Nationalsozialismus nie mehr solche weit ausgreifenden Verknüpfungen. Heinrich von Treitschkes berühmte Lutherrede von 1883 sah im Reformator geradezu "den Grund alles Großen und Edlen in der modernen Welt" wie es Ernst Troeltsch einmal karikierte6 -,und 1890 hat der Reformationshistoriker Friedeich von Bezold die Bedeutung der Reformation so beschrieben: "Spät, aber überreich hat die Reformation ihrem Vaterland Friichte gebracht. Aus dem deutschen Protestantismus, der die Feuerprobe des 30jährigen Krieges überdauert hat, sind unserer Nation ihre heutige Kultur und ihr nationaler Staat erwachsen. Ohne Luther hätten wir keinen Kant und Goethe, ohne die protestantische und antikaiserliche Herkunft des preußischen Staates nicht unser neues Deutsches Reich." 3 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, 11. 4 Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648, Berlin 1988, Vorwort, 9-12. s Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bd. I, München 2000, 5. 6 Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus ftir die Entstehung der modernen Welt (zuerst HZ 97 [1906], 1-66), 5. Auf!. München/Berlin 1928, 23.

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Mit "dankbarer Erhebung" wollte von Bezold deshalb auf die Reformation zurückschauen, in der er gleichsam den Kraftquell der neueren (preußisch)-deutschen Geschichte sehen wollte7 • Nach dem Zweiten Weltkrieg unternahm der im katholischen Freiburg lehrende protestantische Historiker Gerhard Ritter erneut einen Rückblick auf die Reformation Martin Luthers, aber er konnte dies nur unter einer radikal veränderten Perspektive tun. Er war mit einer Fülle kritischer Entwürfe zur deutsch-preußischen Geschichte vor allem aus dem angelsächsischen Raum konfrontiert, die einen Weg "von Luther zu Hitler" konstruierten. Aber auch angesichts süddeutsch-katholischer Forderungen nach einer "Entpreußung" der deutschen Geschichte blieb für Ritter nur mehr das Eingeständnis, dass "die große Katastrophe" die Deutschen zwinge, "unsere nationale Vergangenheit nach allen Seiten neu zu durchdenken" und "nüchtern und rücksichtslos den ganzen Bestand unserer nationalen Traditionen zu überprüfen". Damit schloss sich Ritter zumindest verbal der breiten geschichtsrevisionistischen Stimmung der unmittelbaren Nachkriegsjahre an. Nur mehr defensiv argumentierend, bezweifelte er einen spezifisch "lutherischen Untertanengehorsarn". Von einer wirklichen Bedeutung Luthers für die spezifische Lage Deutschlands konnte nach 1945 keine Rede mehr sein, schon gar nicht in der Bundesrepublik Konrad Adenauers mit ihrem bekannt starken katholischen Anteil8 . Deutlicher wird man den Verlust einer für dieneuere deutsche Geschichte Sinn und Einheit stiftenden Idee kaum belegen können als im Vergleich der Luther-Deutungen von Bezolds 1890 und Ritters nach 1945. Die Umorientierung der historischen Sinnstrukturen in der Nachkriegszeit lenkt den Blick auf andere makrohistorische Interpretationen, die der Frühen Neuzeit besondere Aufmerksamkeit beschert hatten. Dies gilt auch für die "klassische Modeme", die noch um die Jahrhundertwende große Köpfe wie Troeltsch, Weber und Simmel bewegt hatte; jetzt war sie als einheitsstiftendes Konzept nicht mehr ohne weiteres zu verwenden. Zunächst war sie zu universal angelegt, um den Deutschen in ihrer spezifischen Lage zu helfen, später verlor sie selbst unter dem Eindruck einer Sinnkrise des Modemitätsbegriffs ihre dominierende Erklärungskraft Unter dem Druck arnerikanischer Ansätze wurde Modeme vielmehr zu der erheblich unbestimmteren Prozesskategorie der "Modemisierung" zurückgebildet, die die Brechungen, Diskontinuitäten, Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten in sich aufnahm, indem sie sie präzise messen wollte. Dieser Modemisierungsbegriff ließ die Historiker das heute geflügelte Wort von der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" entdecken, also das sich kompliziert überlagemde Nebeneinander von Altem und Neuem9 . Aus dieser Perspektive sah Hans-Ulrich Wehler schließlich in der deutschen Frühen Neuzeit, deren "komplexen Eigencharakter" er zu Recht betonte, 7

Friedrich von Bezold, Geschichte der deutschen Reformation, Berlin 1890, 872.

s Vgl. dazu Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München

1989, bes. 58 ff. 9 Vgl. dazu Hans-Ulrich Wehler; Modemisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, und Winfried Schulze, Ende der Modeme? Zur Korrektur des Begriffs der Modeme aus historischer Sicht, in: Heinrich Maier (Hrsg.), Zur Diagnose der Modeme, München 1990, 55- 83.

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insgesamt die Vorbedingungen einer "defensiven Modernisierung" seit 1800 erwachsen10. Johannes Kunisch hat in einer seiner frühen Arbeiten unser Interesse auf den Begriff der Frühen Neuzeit gelenkt, und er hat damit eine intensive Diskussion über Benennung und Gesamtdeutung dieser Epoche angestoßen 11 • Wenn wir heute über die Frühe Neuzeit sprechen, dann sind wir uns alle im Klaren darüber, dass wir damit einen Begriff verwenden, den es vor 50 Jahren noch gar nicht gab. Wenn wir etwa in ältere Auflagen des "Gebhardt" oder in alte Bände der Historischen Zeitschrift schauen, dann finden wir da Begriffe wie "Reformation und Gegenreformation" und "Absolutismus und Aufklärung" als Oberbegriffe zur Einteilung des Literaturberichts 12, aber keine ,,Frühe Neuzeit" als übergreifende und allgemein akzeptierte Epochenbezeichnung. Johannes Kunisch ging 1975- wie wir alle damals- davon aus, dass der Begriff in der wissenschaftlichen Diskussion zum erstenmal in dem Aufsatz des Philosophie-Historikers Wilhelm Karnlab auftauche, der 1957 einen Aufsatz mit dem Titel ,,Zeitalter überhaupt, Neuzeit und Frühneuzeit" veröffentlichte (in: Saeculum 1957), in dem er u. a. nicht nur die Notwendigkeit einer periodisierenden Geschichtsbetrachtung begründete, sondern auch die Gründe für eine im Grunde schwer bestimmbare Zwischenepoche zwischen Reformation und Industrieller Revolution bzw. Französischer Revolution anführte 13 . Intensivere Nachforschungen ergaben jedoch bald, dass eine erheblich frühere Formulierung im deutschsprachigen Raum dem Schweizer Historiker Werner Näf zu verdanken war, der auf dem Internationalen Historikerkongreß in Paris 1950 in seinem Vortrag über "Frühformen des modernen Staates im Mittelalter" zum erstenmal vom "Dualismus des frühneuzeitlichen Staates" sprach14• Ihm folgte dann 10 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: 1700-1815, München 1987, bes. 42 ff. 11 Johannes Kunisch, Über den Epochencharakter der Frühen Neuzeit, in: Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Festschrift für Karl Dietrich Erdrnann, hrsg. v. Eberhard Jäkkel/Emst Weymar, Stuttgart 1975, 150-161. 12 Dazu die Übersicht bei llja Mieck, Periodisierung und Terminologie der frühen Neuzeit. Zur Diskussion der letzten beiden Jahrzehnte, in: GWU 19 (1968), 357-373, und ders., Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, Stuttgart 5 1994. 13 Vgl. dazu Wilhelm Kamlah, Vorn teleologischen Selbstverständnis zum historischen Verständnis der Neuzeit als Zeitalter, in: Walter Hubatsch (Hrsg.), Absolutismus, Darmstadt 1973, 202-222. Hierbei handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Beitrags, der zuerst in Saeculurn 8 (1957), unter dem Titel ,,Zeitalter überhaupt, Neuzeit und Friihneuzeit" publiziert wurde. 14 Ich gehe davon aus, daß Wemer Näf in Paris die gleichen Formulierungen gebrauchte wie ein Jahr später in ders., Frühformen des ,modernen Staates' im Spätrnittelalter, in: HZ 171 (1951), 225 - 243, hier 228. Erneut in: Hanns Hubert Hofmann (Hrsg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates, Köln/Berlin 1967, 101 - 114, hier 103. Gerhard Oestreich, Der römische Stoizismus und die oranische Heeresreform, in: HZ 176 (1953), 1743, hier 21, griff die Formulierung bald auf.

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sehr bald der damals noch in Berlin lehrende Historiker Gerhard Oestreich. In der amerikanischen Forschung tauchte der Begriff "early modern history" allerdings schon im Zweiten Weltkrieg auf; ein Zusammenhang zwischen beiden Notierungen kann im Augenblick allerdings nicht belegt werden. So sprach der Wissenschaftshistoriker Edgar Zilsel 1945 in einem Beitrag für das "Journal of the History ofldeas" von der "early modern era" 15, ohne diesen Begriff besonders herauszuheben, der ihm offensichtlich schon geläufig war. Genauere Nachforschungen haben nun ergeben, dass alle diese Herleitungen überholt sind, denn der erste bislang feststellbare Gebrauch dieses neuen Konzepts geht auf den bekannten Mediävisten Otto Brunner zurück, der schon 1939 von den "Quellen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit" sprach 16• Damit war- wie wir inzwischen wissen -ein außerordentlich wirksames wissenschaftliches Periodisierungskonzept gefunden, von dem man wohl sagen kann, dass es Karriere gemacht hat. Dies konnte 1939 eigentlich auch nicht verwundern, denn man muss daran erinnern, dass der Berliner Universalhistoriker Kurt Breysig als erster Historiker - soweit mir bekannt ist - die Frühe Neuzeit als inhaltlich distinkte Epoche angesprochen hat. Schon 1898 sprach er in einem Aufsatz über die soziale Entwicklung der führenden Völker Europas in der neueren und neuesten Zeit vom "Übergangszeitalter zwischen Mittelalter und Neuzeit" und sagte: "Man wird von der Epoche zwischen 1500 und 1789 doch i. w. als von einer Einheit sprechen dürfen" 17 . So wird man wohl die Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem Ende der 1930er Jahre im wesentlichen als die Entstehungsphase der Frühen Neuzeit auch im begrifflichen Sinne bezeichnen können. Wenn wir uns solchermaßen in begriffsgeschichtliches Gestrüpp begeben, dann dürfen wir uns als Historiker jedoch nicht dem Irrglauben hingeben, als vollzögen sich die Auswahl unserer Themen und die Gliederung unseres Materials nur im keimfreien Gehäuse der Hörsaal-Wissenschaft, als wäre die Frühe Neuzeit nur eine abstrakte Lerneinheit unseres Studiums, von spezialisierungswütigen Historikern geschaffen, um Studenten zu plagen und Leser zu beeindrucken. Unsere Arbeit als Historiker vollzieht sich vielmehr - ich sagte es einleitend schon - im konstanten Spannungsfeld von zeitgebundenen Perspektiven und objektivierender wissenschaftlicher Arbeit. Damit nähern wir uns faktisch dem Komplex von methodisch geregelten Verfahren an, als den wir heute die moderne Geschichtswissenschaft verstehen. Der Philosoph Hans Blumenberg hat in diesem Zusammenhang hellsichtig davon gesprochen, dass Geschichte nurmehr "im Modell eines aus vielen Adern gebündelten Stranges, eines Plurals von Zusammenhängen, Traditionen, 15 Edgar Zilsel, The Genesis of the Concept of Scientific Progress, in: JHI 6 ( 1945), 325349, hier 326. 16 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter (Veröffentlichungen des Instituts fUr Geschichtsforschung, 1), Briinn/Leipzig/Prag 1939, Kap. 1.4.d, 80.- Ich verdanke diesen Hinweis meinem Mitarbeiter Thomas Ott, M.A. 17 Schmollers Jahrbuch 22 (1898), 141 ff.

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Sach- und Schulgeschichten, Rezeptionen und Reaktionen" erfasst werden könne 18• Es geht uns heute nicht mehr allein darum, mit Ranke zu fragen, wie es eigentlich gewesen sei. Wir wollen vielmehr wissen, wie und warum im Vergleich mit anderem sich etwas ereignet hat, das früher einmal anders interpretiert worden ist, wozu es geführt hat und warum wir heute daran interessiert sind 19• Aus solchen etwas komplizierten Formulierungen scheint mir das Konzept einer "doppelten Geschichte" hervorzugehen, in der unsere Arbeit an der Realgeschichte im engeren Sinne mit der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte eng verknüpft werden muss. In diesem Zusammenhang interessiert besonders die fachliche Entwicklung der "Frühen Neuzeit" als von Historikern zunehmend als bedeutsam erkannte Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg. Als unmittelbar nach der Reorganisation des wissenschaftlichen Lebens an den Universitäten der Westzonen und der späteren Bundesrepublik die Geschichtswissenschaft zu einem durchaus beliebten Studienfach wurde, wuchs die Epoche etwa zwischen Reformation und Französischer Revolution in eine ganz neue Rolle hinein, die sich von der der Weimarer Republik deutlich unterschied. Sieht man sich nämlich die Promotionsthemen der 1950er Jahre einmal näher an, dann stellt man fest, dass in diesen Jahren der Aufstieg der Frühen Neuzeit zu einem wirklichen historischen Teilfach schon begann, noch bevor dafür eigens definierte Professuren besetzt wurden, was im wesentlichen erst seit Ende der 50er und Beginn der 60er Jahre geschah. Fritz Fischer hatte 1958 Hans Rothfels gegenüber die Unmöglichkeit konstatiert, noch die gesamte neuzeitliche Geschichte vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg im akademischen Betrieb zu vertreten. Jetzt begann die Differenzierung an den meisten Historischen Seminaren der Bundesrepublik, nachdem an der FU Berlin die erste spezielle Frühneuzeit-Professur mit Carl Hinrichs besetzt worden war. Man wird nicht fehlgehen, in dieser Entwicklung eine Reaktion auf die besondere Lage der deutschen Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Nationalsozialismus zu sehen. Die jüngste neuere Geschichte und die Zeitgeschichte waren noch sehr sensible Forschungsgegenstände, die mit großer Vorsicht behandelt werden mussten, so dass sich hier zunächst noch keine breiten Forschungsaktivitäten entfalten konnten. Dies konnte erst zu einem Zeitpunkt geschehen, als mit der Einrichtung des Münchener Instituts für Zeitgeschichte und der Formulierung von forschungsleitenden Grundüberzeugungen eine solide Grundlage für breite akademische Forschung gelegt werden konnte. In dieser Situation füllte die Frühneuzeit-Forschung eine wichtige Lücke aus; sie wurde zu einem idealen Ersatzgebiet für eine große Zahl von Doktoranden, sie bot zudem die Möglichkeit der Forschungsarbeit in den umliegenden Archiven und die erHans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1966, 440. Vgl. Winfried Schulze, Formen der Präsentation von Geschichte, in: Bernd Mütter/ Siegfried Quandt (Hrsg.), Historie, Didaktik, Kommunikation. Wissenschaftsgeschichte und aktuelle Herausforderungen, Marburg 1988,97-108. 18 19

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wünschte Kooperation mit der akademisch .schon etablierten Landesgeschichte. Kein Wunder, wenn die Verteilung der Dissertationen der 50er Jahre die Frühe Neuzeit als einen gerne gewählten Schwerpunkt ausweist. Ein quantifizierender Blick in die Jahresverzeichnisse der deutschen Hochschulschriften kann diese Aussage unterstreichen. Gewiss hat in den folgenden Jahren auch das Beispiel der europäischen Nachbarländer gewirkt, wo die ,,histoire moderne" oder die "early modern history" schon früh zu eigenen Studiengebieten wurden. Man braucht nur daran zu erinnern, dass die Frühe Neuzeit bevorzugtes Arbeitsgebiet der französischen ,,Annales" wurde, dass ihr Nestor Femand Braudei wiederum in Italien und in den Vereinigten Staaten stark rezipiert wurde. Man wird im Rückblick auf die 50er Jahre deshalb betonen müssen, dass sich die Herausbildung einer spezifischen Epoche der ,,Frühen Neuzeit" eher einer langfristigen Europäisierung der Geschichtsforschung verdankt als spezifischen programmatischen Anregungen aus der deutschen Fachentwicklung heraus20. Abgesehen einmal von den eben geschilderten Differenzierungsbemühungen und der Ersatzfunktion frühneuzeitlicher Studien für die politisch brisante neueste Geschichte scheinen in Deutschland eher jene Anregungen entwickelt worden zu sein, die auf eine Akzentuierung der europäischen "Sattelzeit um 1800" abzielten21 . Die engere Konzeption eines umfassenden Konzepts der Frühen Neuzeit wird sich also insgesamt eher dem in Westeuropa geschärften Interesse an dem spannungsreichen Nebeneinander der Entwicklung von staatlicher Souveränität, konfessionellem Dissens und individualistischer Sozialphilosophie zurechnen lassen als dem Interesse an der Genese reformfreudiger Staatlichkeit und gesellschaftlicher Umwälzung, das in Deutschland vorherrschte. Dieser Widerspruch zwischen der deutschen Sicht und der europäisch-amerikanischen Deutung des Konzepts der Frühen Neuzeit führte auch zu einem offenen Dissens der Historiker über den Beginn der Modeme. Auf der einen Seite gab es die tradierte und vor allem von den deutschen Reformationshistorikern vertretene, aber keineswegs unwidersprochene These, dass die Reformation den eigentlichen Beginn der Neuzeit darstelle. Auf der anderen Seite wurde seit dem Beginn der 50er Jahre ein Werk rezipiert, das heute kaum mehr zum Lektürekanon der Historiker gehört. Es handelt sich dabei um das während des Zweiten Weltkriegs geschriebene Buch des Historikers und Soziologen Hans Freyer mit dem Titel "Weltgeschichte Europas"22• Vor allem dank der starken öffentlichen Wirkung dieses 20 Dazu auch Rudolf Vierhaus, Vom Nutzen und Nachteil des Begriffs ,,Frühe Neuzeit". Fragen und Thesen, in: ders. (Hrsg.), Frühe Neuzeit- Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen, Göttingen 1992, 13-24. 21 Zuletzt dazu noch einmal Reinhart Koselleck, Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Roman Herzog/Reinhart Kaselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, 269-282. 22 Hans Freyer, Weltgeschichte Europas, 2. Aufl. Stuttgart 1954. Zu Freyer vgl. Jerry Z. Muller, The Other God That Fai1ed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton N.Y. 1987.

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Buches und seiner Propagierung durch einflussreiche Historiker wie Wemer Conze und Otto Brunner konnte sich das Konzept der ,,2eitschwelle" um 1800 bemerkenswert schnell durchsetzen, das zu einem der wirksamsten Interpretamente der Nachkriegshistoriographie wurde23 . Conze sprach 1957 in seinem berühmten Aufsatz über die "Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht" davon, dass die traditionelle Zeitwende um 1500 "immer mehr verwischt worden" sei und sich die Epoche der Revolutionen immer mehr als tiefer Einschnitt erweise24. Heute ist uns dieses Konzept vor allem durch Reinhart KoseHecks Begriff der europäischen "Sattelzeit" vertraut, also einer markanten Übergangsphase zwischen 1750 und 185025 . Die Sattelzeit steht in enger Verwandtschaft zum Begriff der "Doppelrevolution", der von Eric Hobsbawm26 in die Diskussion eingeführt worden ist, also der Parallelität von Französischer und Industrieller Revolution. Er war aber bei Hans Freyer der Sache nach schon vorhanden, wenn er von der faszinierenden Gleichzeitigkeit der Schlacht von Valmy am 20. September 1792 und dem Auftreten englischer Maschinengarne auf dem europäischen Markt sprach27 • Dieses Konzept, das in den 1950er Jahren von Werner Conze vor allem sozialgeschichtlich fundiert und von Reinhart Koselleck später begriffsgeschichtlich unterfüttert wurde, zielte auf eine prinzipielle Neustrukturierung der neueren europäischen Geschichte und betonte vor allem die Gleichzeitigkeit von industrieller, sozialer und politischer Revolutionen. Gleichwohl hat dieses lnterpretament es nicht vermocht, die Frühe Neuzeit als distinkte Epoche zum Verschwinden zu bringen, ganz im Gegenteil. Die damit vorliegenden kontroversen Konzeptionen über den Beginn der Modeme legen die Vermutung nahe, dass es gerade dieser Widerspruch war, der zum Erfolg der Epoche der Frühen Neuzeit beigetragen hat. Der Dissens hat das Eigengewicht dieser "neuen" Zwischenzeit unterstrichen, und so konnte die aus dem 17. Jahrhundert stammende Trias von Altertum, Mittelalter und Neuzeit zugunsten einer neuen Schlüsselepoche aufgebrochen werden. So konnte ein durchaus fruchtbarer Gegensatz zwischen jenen Frühneuzeit-Historikern entstehen, die an Phänomenen wie der Reformation, der Konfessionalisierung, dem territorialstaatlichen 23 Hans Erich Boedeker/Emst Hinrichs (Hrsg.), Alteuropa - Ancien Regime - Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991,29 und 40. 24 Wemer Conze, Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, Köln/Opladen 1957, jetzt erneut abgedruckt in Wemer Conze, Gesellschaft- Staat- Nation. Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Ulrich Engelhardt/Reinhart Koselleck!Wolfgang Schieder; Stuttgart 1992,66-85. 25 Unter begriffsgeschichtlichen Aspekten vgl. Reinhart Kasellecks Einleitung in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, Stuttgart 1972, XIII ff. Ders. (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977. Vgl. auch ders., "Wie neu ist die Neuzeit?", in: HZ 252 (1990), 539553. 26 Eric J. Hobsbawm, Die europäische Doppelrevolution, Zürich 1962, Einleitung. 27 Hans Freyer; Weltgeschichte Europas, 548. Ausführlicher dazu ders., Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, 81.

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Absolutismus, dem System des Heiligen Römischen Reiches oder den Formen der Aufklärung interessiert waren, und jenen, die als Historiker des Industriellen Zeitalters vorrangig auf die Voraussetzungen jener Modernisierungsvorgänge blickten, die das bürgerliche Zeitalter heraufgeführt haben. Gerade angesichts dieses Befundes hat Johannes Burkhardt von zwei "konkurrierenden Modernitätschwellen ... in ihrem relativen Recht" gesprochen, zwischen die sich die Frühe Neuzeit als "Zwischenepoche" einfüge28 • Die Beobachtung, dass die drei Jahrhunderte zwischen Reformation und Französischer Revolution eine historische Einheit darstellen, ist - das lässt sich vielfach belegen - freilich keineswegs neu, die Gemeinsamkeiten dieser Epoche werden schon unmittelbar nach der Revolution betont. Im Jahre 1800 schrieb der Rechtshistoriker Johann Gottfried Eichhorn eine "Geschichte der drei letzten Jahrhunderte", und er begründete dies damit, dass diese Geschichte "ein in sich geschlossenes, für sich bestehendes historisches Ganzes ausmache, ohne dessen Kenntnis noch nicht einmal die Lektüre der Zeitung möglich" sei. "Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts" - so fährt er fort - "entspann sich nach und nach aus einzelnen Verbindungen der allgemeine Weltzusammenhang der neuesten Zeiten, und zu gleicher Zeit fing das neue Staatensystem sich in seinen ersten Keimen zu entwickeln an. In einem Zeitraum von 50 bis 70 Jahren ward es in allen seinen Teilen sichtbar, und gab, früher oder später, allen Weltteilen eine völlig neue Gestalt"29. Das "für sich bestehende historische Ganze" und der "neue Weltzusammenhang" waren die Phänomene, die Eichhorn interessierten, und er nahm damit im Grunde wesentliche Bestimmungselemente der Frühen Neuzeit vorweg. Auch die Antwort des Göttinger Historikers Heeren auf die Frage nach den "politischen Folgen der Reformation auf Europa" von 1802 begriff "die letzten drei Jahrhunderte" als spezifischen Wirkungszusarnmenhang 30, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung seines Staatensystems, dessen neuere Phase er mit dem Kampf um Italien beginnen ließ. "Während der Verfasser", so schrieb Heeren in der Vorrede zum "Handbuch der Geschichte des europäischen Staatensystems", "indes die Geschichte des Europäischen Staatensystems bearbeitete, sah er dasselbe in seinen wesentlichen Teilen zusammenstürzen. Auf seinen Trümmern ward seine Geschichte geschrieben"31 • Man muss den Eindruck gewinnen, dass das Erlebnis der Französischen Revolution nicht nur zu einer Fülle von Vergleichen zwischen der Reformation zu Beginn des 16. und der Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts führte, sondern letztlich auch die Einheit dieser drei Jahrhunderte begründete32, die seitdem mit geschärf28 Johannes Burkhardt, Frühe Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Fischer-Lexikon Geschichte, Frankfurt am Main 1990, 364-385, hier 365. 29 Johann Gottfried Eichhorn, Geschichte der letzten drey Jahrhunderte, Göttingen 1803, Bd. 1, 3. 30 Amold Hermann Ludwig Heeren, Entwicklung der politischen Folgen der Reformation für Europa, in: ders., Kleine Historische Schriften, Bd. 8, Wien 1817, 1-86. 3! Amold Hermann Ludwig Heeren, Handbuch der Geschichte des europäischen Staatensystems und seiner Colonien, Göttingen 1809, Vorrede.

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tem Blick wahrgenommen wurde. Damit vertiefte sich der Eindruck, der schon im späten 18. Jahrhundert formuliert worden war, dass mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts eine neue Zeit begonnen habe. Zugespitzt könnte die These lauten; dass erst die Französische Revolution den Blick auf die jetzt abgeschlossenen drei Jahrhunderte, die ihr vorausgingen, unter der Epochenbezeichnung der "neuen Zeit" möglich gemacht hat. Sie lässt die strukturelle Einheit dieser Zeitspanne deutlicher ins Blickfeld der Historiker und Zeitgenossen geraten. Jacob Burckhardts Kritik an der leichtfertigen Haltung, die herrlichen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts auf das Reformationszeitalter zurückzuführen, belegt diese Feststellung ex negativo33. Das bedeutet, dass die Frühe Neuzeit alle jene Problernlagen enthält, die die Neuzeit bestimmen sollten. Kein Wunder also, wenn wir für die Frühe Neuzeit immer wieder ähnliche Begriffe wie "Vorlauf der Modeme", "Geburtsstunde der Modeme", oder "Inkubationszeit der Modeme" finden, wie es Paul Münch treffend formuliert hae4 • Auch die Geburtsmetapher ist immer wieder aufgegriffen worden; so hat der Philosoph Ernst Cassirer 1945 vom 15. und 16. Jahrhundert als den "Geburtswehen der Neuzeit" gesprochen35. Noch wichtiger erscheint jedoch, dass die Frühe Neuzeit in einer ganzen Reihe von zivilisationssoziologischen Ansätzen eine prominente Rolle spielt, die im Betrieb der Fachwissenschaft durchaus unterschiedlich intensiv wahrgenommen werden. Während etwa das auf Vorleistungen von Max Weber und Norbert Elias aufbauende Konzept der Sozialdisziplinierung in der Fachwissenschaft erstaunlich stark rezipiert und diskutiert wurde36, gilt dies in viel beschränkterem Maße für die Versuche Niklas Luhmanns, seine globale Theorie der Differenzierung sozialer Systeme an der Frühen Neuzeit zu exemplifizieren37. Der Übergang von der stratifikatorischen Ständegesellschaft zur funktional differenzierten Gesellschaft scheint das ideale Beweisobjekt für diese Art von 32 Eichhorn, Geschichte der drey letzten Jahrhunderte (Anm. 29), IV. - Über das neue Bewußtsein nach 1815, Zeuge eines entscheidenden Bruchs geworden zu sein, vgl. Reinhart Kose/leck, Neuzeit. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979,300-348, hier bes. 328 ff. 33 Jacob Burckhardt, Historische Fragmente. Aus dem Nachlaß gesammelt von E. Dürr mit einem Vorwort von Wemer Kaegi, Stuttgart 1957,78 f., 84, 200. 34 Paul Münch (Hrsg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der ,.bürgerlichen Tugenden", München 1984, 15. 35 Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt am Main 1985 (zuerst Zürich/Wien 1949), 213. ders., Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig I Berlin 1927. 36 Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff der Sozialdisziplinierung, in: ZHF 14 (1987), 285-302. S. Vogel, Sozialdisziplinierung als Forschungskonzept, in: Frühneuzeit-Info 8 (1997), 190-193. U. Behrens, "Sozialdisziplinierung" als Konzeption der Frühneuzeitforschung. Genese, Weiterentwicklung und Kritik - Eine Zwischenbilanz, in: Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 12 ( 1999), 35-68. 37 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt am Main 1993.

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Forschungen zu sein. Alle diese Denkansätze zeigen 38, dass in der Frühen Neuzeit wesentliche Prozesse der Modeme in ihrer Keimform beobachtet und an dieser Keimform die Probleme weiter fortgeschrittener moderner Gesellschaften überprüft werden können. Gleichwohl ist bei der Erwähnung von Luhmanns Deutung der Frühen Neuzeit zu bedenken, dass sein Gesamtkonzept gesellschaftlicher Evolution auf den Verzicht auf jene teleologischen Konzepte hinausläuft, die in der klassischen Deutung der Modeme um die Jahrhundertwende präferiert wurden. Luhmanns Deutung ist erkennbar offener für divergierende Entwicklungen, Regression und Ungleichzeitigkeiten, es läuft nicht auf ein Ziel der Entwicklung hinaus, schon der Begriff "Entwicklung" ist bekanntlich für Luhmann ein Unwort. In diesem Zusammenhang ist auch vielfach auf die Schlüsselstellung unserer Epoche in der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte hingewiesen worden. Ungeachtet aller kontinuitätsgeschichtlichen Debatten, in denen der Beitrag der mittelalterlichen Wissenschaft für die ,,neue Wissenschaft" problematisiert wird39, beginnen die meist westeuropäisch-amerikanischen Arbeiten fast einhellig um 1600, integrieren in diese Deutung aber durchaus die spezifischen Vorleistungen des 15. und 16. Jahrhunderts in Gestalt von Regiomontanus, Kopemikus und Kepler40 • Während unsere deutsche Frühneuzeit-Forschung sich vor allem im Bereich der Universitäts- und Bildungsgeschichte stark engagiert hat41 , ist unbeschadet großer Editionsleistungen (etwa im Fall Kepler) der Bereich der engeren Wissenschaftsgeschichte nach meinem Eindruck hierzulande ebenso stark vernachlässigt worden, wie er in der angelsächsischen Welt forciert wurde. Von besonderer Ergiebigkeit scheint mir die europäische Frühneuzeit vor allem als historisches Entwicklungsmodell im Übergang von agrarischen zu industrialisierten Gesellschaften, das die Voraussetzungen dieses Prozesses vorzüglich studieren lässt. In den Fragestellungen vor allem der angloamerikanischen Makrogeschichte läuft diese Debatte als Frage nach den Gründen des ,,rise of the west" oder nach dem "european rniracle"42, anders gewendet- in der Sprache des amerikani-

38 A. Hahn. Theorien zur Entstehung der Modeme, in: Philosophische Rundschau 31 (1984), 178-202. 39 D.C. Lindberg, Die Anfänge des abendländischen Wissens, München 2000,373 ff. 40 Klassisch dafür ist Herben Butterfield, The Origins of Modem Science, London 1949, 10. Vgl. auch Charles Webster (Hrsg.), The Intellectual Revolution of the Seventeenth Century, London 1974. A. Mark Smith, Knowing Things Inside Out: The Scientific Revolution from a Medieval Perspective, in: AHR 95 (1990), 726-743. Zuletzt hat P. Rossi, Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, München 1987, 19 f., den Begriff der "wissenschaftlichen Revolution" unterstützt. 41 Als Überblick etwa Notker Hammerstein (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. I: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe, München 1996, und Anton Schindling, Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650-1800, München 1994. 42 V gl. z. B. Douglas C. North/ Robert Paul Thamas, The Rise of the Western World. A New Econornic History, Cambridge 1973, und E.L. Iones, The European Miracle. Environ-

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sehen Historikers und Soziologen Imanuel Wallerstein - nach dem europäischen Weltsystem, also jenem frühneuzeitlichen Europa, das in seiner Trennung in Zentrum und Peripherie schon die Trennung der Welt vorwegnimmt43 . In der deutschen Forschung zur Problematik der Entwicklungsländer - zu denken wäre hier etwa an die Arbeiten von Dieter Senghaas -ist die Frühe Neuzeit natürlich vor allem als der Zeitraum wahrgenommen worden, in dem sich die europäische Herrschaft über die Erde begründete, an dem aber zugleich die Unterschiede zwischen der selbstgestalteten europäischen Modemisierung und der Zwangsmodemisierung der Länder der Dritten Welt wahrgenommen werden können44• Zugleich muss man feststellen, dass diese Möglichkeit der Frühneuzeit-Forschung in Deutschland selbst bislang kaum wahrgenommen wurde. Worin lag denn nun die besondere Attraktivität der neuen "Frühen Neuzeit"? Es wäre doch naiv anzunehmen, dass hier nur ein willkürlicher Begriffswechsel vorgenommen wurde, ohne dass dem inhaltliche Neuorientierungen zugrunde gelegen hätten, oder dass allein die Zahl der historischen Doktorarbeiten oder die Meinung überlasteter Neuzeit-Professoren den Trend hätten ausmachen könne. Das zentrale Problem scheint mir darin zu liegen, 1. dass die Frühe Neuzeit eine Antwort auf die Frage nach den Gründen und Dimensionen strukturellen Wandels geben kann,

2. dass sie uns die Erfahrung und Bewältigung der Pluralisierung der Welt bieten kann, 3. dass sie elementare Grundfragen staatlicher Ordnung und individueller Lebensführung diskutiert. Das sind - ohne jeden Zweifel - große Fragen, die ich hier noch einmal bewusst zugespitzt habe. Sie bedienen sich eher einer Methode, die in der neueren Forschung etwas verächtlich "Makroperspektive" genannt wird. Hier scheint es schwierig zu sein, eine Verbindung herzustellen mit jener Richtung historischen Fragens, die sich unter dem Dach von Alltagsgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Wahrnehmungsgeschichte oder neuer Kulturgeschichte in den letzten Jahren etabliert hat. Ohne hier schon in komplizierte Differenzierungen zwischen diesen Richtungen einzusteigen, kann doch gesagt werden, dass hier Fragen an das historische Material gestellt werden, die sich fundamental von den Makrofragen unterscheiden: In welcher Hinsicht?

ments, Economies and Geopolitics in the History of Europe, 2. ed. Cambridge 1987. Diese Titel seien hier stellvertretend für diese Literaturgattung genannt. 43 bruJnuel Wallerstein, The Modern World System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World Economy, 3 Bde., New York/Orlando 1974-1988, und ders. , Der Westen, Kapitalismus und das moderne Weltsystem, in: R. Scholz (Hrsg.), Kritik der Sozialgeschichtsschreibung, Harnburg 1991, 49- 86. 44 Dieter Senghaas, Von Europa lernen. Entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen, Frankfurt am Main 1982.

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Bevor wir hier eine Antwort geben können, ist an den generellen Wandel historischen Denkens und Arbeitens zu erinnern, der natürlich auch unsere Epoche betrifft und von uns zu bedenken ist. Damit meine ich jene Entwicklung der letzten zwanzig Jahre, die in der allgemeinen Geschichtswissenschaft bewirkt hat, dass die allgemeinverbindlichen Deutungen der Epochen und Ereignisse an Gewicht verloren haben, dass sich eine ungeheure Themenvielfalt etabliert hat45 • Zugleich sind keine Mechanismen erkennbar geworden, die uns in die Lage versetzten, eindeutige Bedeutungszuschreibungen vorzunehmen. Hatte Werner Conze zunächst noch diese Bewegung als "Sozialgeschichte in der Erweiterung" bezeichnet und damit der älteren Sozialgeschichte zuzurechnen versucht46, so zeigte sich sehr bald, dass diese Hilfskonstruktion nicht mehr ausreichte, die tatsächlich eingetretene Differenzierung zu bündeln. In unserem Fach ist dies auf der einen Seite als enorme thematische Bereicherung sichtbar geworden, von der Geschlechter- bis zur Kriminalitätsgeschichte und zur "neuen" Militärgeschichte, von der Wahrnehmungsgeschichte bis zur neuen Geistesgeschichte47 • Auf der anderen Seite hat dies zu Spannungen geführt, die zu übersehen wenig weiterführend wäre: Sie artikulieren sich dann, wenn es etwa um die Positionierung der großen Themen geht, die auf den fachinternen Treffen der Arbeitsgemeinschaft der Frühneuzeit-Historiker im Historikerverband diskutiert werden sollen. Ein unverkennbarer Dissens macht sich dann in der Zunft breit, die sich zwischen einer eher traditionellen Politik- und Sozialgeschichte der Makroperspektive und einer neuen Wahrnehmungsgeschichte der Mikroperspektive entscheiden soll. Ähnliche Fragen stellen sich, wenn zwischen der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, seiner Institutionen und politischen Mechanismen auf der einen Seite und quer dazu stehenden Fragen der neuen Geistes- oder Kulturgeschichte entschieden werden soll. Ist es wichtiger, die wahrlich klassischen Fragen des Absolutismus in den Territorien oder der konfessionellen Dispute im Reich zu bearbeiten oder über Klientelbildung im städtischen Patriziat, über Kindsmord in einer schwäbischen Kleinstadt oder über wirtschaftliches Überleben einer Weberfamilie 45 Als Problemskizze vgl. Richard van Dülmen, Historische Kulturforschung zur Frühen Neuzeit. Entwicklung- Probleme - Aufgaben, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 403-429, und ders., Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Köln/ Weimar/Wien 2000. Zur Theoriedebatte vgl. Th. Mergel/Th. Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997. 46 Wemer Conze, Sozialgeschichte in der Erweiterung, in: Neue Politische Literatur 19 (1974), 501-508. 47 Vgl. Dirk Blasius, Kriminologie und Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven interdisziplinärer Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 136-149; G. Schwerhoff, Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1992), 385-414; Ralf Pröve (Hrsg.), Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer modernen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, Köln 1997; Frank LotharKroll (Hrsg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderbom 1997; darin besonders der Beitrag von Günther Lottes, "The State ofthe Art". Stand und Perspektiven der "intellectual history", 27-45.

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in Württemberg zu forschen? Welchen Stellenwert messen wir schließlich Fragen der Kommunikation bei, der Dimension und Rolle der Öffentlichkeit oder den Zeitvorstellungen verschiedener sozialer Gruppen, ganz zu schweigen von Körperoder Geschlechtsvorstellungen oder einer Geschichte der Sinne, wie sie Robert Jütte gerade vorgelegt hat48 . Spätestens dann, wenn man solche Kontroversen anspricht und zu gewichten versucht, ist auch die Frage aufgeworfen, welche Perspektiven sinnvollerweise in den nächsten Jahren entwickelt werden sollen. Wo liegen die noch ergiebigen Fragestellungen und mit welchen Quellenbeständen können sie erschlossen werden? Und schließlich ergibt sich als zentrales Problem: Wie integrieren wir all diese en detail zweifellos wichtigen Teilaspekte, welcher Leitbcgriff ordnet unseren chaotisierten Blick auf die Fülle der Phänomene? Dabei gehe ich von der Vermutung aus, dass eine bloße Rekonstruktion des Details nicht befriedigen kann. Dies würde nicht viel mehr sein als der kulturhistorische Positivismus, den man in den älteren Bänden der ,,zeitschrift für Kulturgeschichte" seit 1893 wiederfinden kann49 • Die Fragen, die ich hier angesprochen habe, berühren inzwischen die gesamte Historikerzunft Der Aachener Historikertag des Jahres 2000 mit seinem Leitthema "Eine Welt- eine Geschichte?" stand ganz unter dem Eindruck dieser Frage, auch wenn dieses Problem nicht so zentral erörtert wurde, wie es vielleicht der Problemlage angemessen gewesen wäre. Nicht wenige der Zeitungsberichte über den Historikertag bemängelten, dass den Historikern die Fähigkeit abhanden gekommen sei, die Vielfalt der einzelnen Sehweisen zu gewichtigen Fragen zu bündeln, und damit auch gesellschaftliche Wirkung zu erzielen. Die amerikanische Frühneuzeithistorikerin Natalie Zernon Davis plädierte in Aachen für "one history, but multiple stories", was auf den ersten Blick jedenfalls nach der Versöhnungzweier nicht zueinander passender Forderungen klingt. Mit dieser Problernlage aber hat sie genau das Dilemma beschrieben, vor dem die moderne Geschichtswissenschaft steht, und dies nicht etwa nur für die frühneuzeitliche Geschichte. Die frühneuzeitliche Geschichte ist freilich am direktesten mit dieser Frage konfrontiert, weil hier der Druck des rein Politischen nicht so hoch ist wie in der Neuesten und in der Zeitgeschichte. Sie erlaubt die Konfrontation in unmittelbarer Form. Es geht also um die Frühe Neuzeit zwischen individueller Erfahrung und strukturgeschichtlichem Zugriff. Ich möchte die Problernlage verdeutlichen, indem ich zwei Selbstdarstellungen unseres Faches paraphrasierend zitiere, die ich aus dem Internet bezogen habe. Es handelt sich um die kurzen Vorstellungen der jeweiligen Professuren an den Universitäten Halle-Wittenberg und Konstanz, die auf ihren Homepages die wesentlichen Charakteristika ihres Fachgebiets beschreiben. Man wird vermuten dürfen, dass diese Texte sorgfältig zusammengestellt wurden, insofern scheinen sie mir für diesen Zweck gut nutzbar zu sein. Robert lütte, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000. Zeitschrift für Kulturgeschichte 1, 1894 ff. Herausgeber der Zeitschrift war Georg Steinhagen. 48 49

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Beginnen wir mit Halle: Hier heißt es: "Der Begriff ,Frühe Neuzeit' bezeichnet die Epoche von ca. 1500 bis 1800, d. h. die Zeit zwischen der Reformation und dem Ende des Heiligen Römischen Reiches als Folge der napoleonischen Hegemonie in Europa. Diese Anfangsphase aus dem Gesamtverlauf der neuzeitlichen Geschichte herauszulösen, der sich ja permanent nach vorne verlängert, war zunächst eine Entscheidung der angloamerikanischen Geschichtswissenschaft (,Early Modern History') und hat sich nun auch in Deutschland zusehends eingebürgert. Daraus entwikkelte sich ein eigenständiges Fachgebiet innerhalb der neuzeitlichen Geschichte, was 1995 in der Griindung einer ,Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit' im Verband der Historiker Deutschlands seinen wissenschaftspolitischen Ausdruck fand. Hinter dieser Entwicklung steht nicht nur der allgegenwärtige Trend zu weiterer Spezialisierung der Fächer, dahinter steht die Erkenntnis, dass es kein gemeinsames Interpretationsmuster für die Zeit von der Reformation bis heute - bald bis ins 21. Jahrhundert hinein- geben kann. Am Beginn der Frühen Neuzeit standen mit der Entdeckung der ,Neuen Welt' und dem Auseinanderbrechen der universalen christlichen Kirche des Mittelalters ,revolutionäre' Bewegungen, die Weltbild und Lebensverhältnisse der Menschen änderten. Aber mindestens so einschneidend waren die Veränderungen, die das 19. Jahrhundert als Beginn der Moderne vom 18. Jahrhundert trennten: Es entstanden die bürgerlichen Gesellschafts- und Staatsstrukturen (beginnend mit der Französischen Revolution), die Industrialisierung revolutionierte das wirtschaftliche Leben, Technik und Naturwissenschaften eröffneten Möglichkeiten, die der frühneuzeitliche Mensch bestenfalls als utopische Phantasien kannte. [ ... ] Die Frühe Neuzeit ist also die Vor-Modeme, in der vieles anders war als in unserer Gegenwart, sie ist aber auch der Übergang in die moderne Zeit. Im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, haben die Prozesse ihre Wurzeln, die schließlich zur modernen Gesellschaft, zu unseren umfassenden Kommunikationsmöglichkeiten, aber auch zu den Problemen führten, die unsere Gegenwart bestimmen. So ist es nicht überraschend, dass gerade an den Quellen des 16. bis 18. Jahrhunderts neue Interpretationsansätze und Methoden der Geschichtswissenschaft entwickelt und erprobt wurden, die für die Neuzeit insgesamt Gültigkeit gewannen: Alltagsgeschichte, Mikrogeschichte, die Annäherung an die Historische Anthropologie oder auch die Mentalitätsgeschichte bzw. eine Kulturgeschichtsschreibung im umfassenden Sinne. Sie alle reflektieren die großen Tendenzen der Epoche, die sich - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - in folgendem Katalog auflisten lassen: - die fortschreitende Auflösung kirchlicher Einheit durch Reformation, Konfessionalisierung und schließlich Säkularisierung; - die Emanzipation des Denkens vom Humanismus zur Aufklärung und die zunehmende Verbreitung von Bildung und Alphabetisierung; - die Entstehung des friihneuzeitlichen Fürstenstaats als Grundmuster der modernen Staatsbildung;

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- der Übergang des Rechtsmonopols an den Staat und die Entwicklung eines allgemeinverbindlichen, überpriitbaren Rechts; - die Bindung von Außenpolitik und Kriegführung an das Volkerrecht und internationale Systeme; - die Entwicklung von der Agrarwirtschaft zur Industrialisierung; die permanente Veränderung demographischer und familialer Strukturen sowie das dynamische Bevölkerungswachstum; - die Umwandlung der ständischen in eine bürgerliche Gesellschaft"50. Wechseln wir nach Konstanz. Hier wird der Forschungsschwerpunkt "Friihe Neuzeit" folgendermaßen definiert: "Die Zeit vom ausgehenden 15. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert wird seit etwa vierzig Jahren als Frühe Neuzeit- und damit als eigenständige Epoche- begriffen und erforscht. Frühe Neuzeit umfasst die säkularen Wandlungsprozesse, die aus der Welt des Mittelalters hin zur Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts führten. Diese Umformung war fundamental. Siebetraf die Formen der Vergemeinschaftung und Gruppenbildung sowie des Wirtschattens ebenso wie die Ordnung des Wissens und die politische Organisation der Gesellschaft. Diese Transformation der vormodernen Gesellschaften lässt sich auf einer Vielzahl von Themenfeldern nachvollziehen. Im Vordergrund des Forschungsinteresses stehen gegenwärtig Reformation und Konfessionalisierung, das Werden des modernen Staates, die Expansion Europas in die übrige Welt und der Aufstieg des Kapitalismus, die ,Erfindung' der modernen Wissenschaft und die Säkularisierung der Weltdeutungen, Umgestaltung und disziplinierende Formung von Verhaltensweisen oder auch Entwicklung neuer Formen der sozialen Kommunikation und Gruppenbildung. Die Geschichtsschreibung zur Friihen Neuzeit war und ist ein Experimentierfeld für neuere methodische Ansätze. Geschlechtergeschichte, die Perspektive der Wahrnehmungs- und Erfahrungsgeschichte oder auch die Mikrohistorie haben in Forschung und Lehre ihren festen Platz. Frühneuzeitliche Forschung steht immer in einem engen methodischen Austausch mit benachbarten Kulturwissenschaften. Sie diskutiert Fragestellungen und Methoden der Anthropologie, reflektiert die Theorieentwicklung in den Sozialwissenschaften und greift konzeptionelle Neuorientierungen in den Literaturwissenschaften auf. Gesucht wird nach dem Unmodernen im "Prozess der Modernisierung", nach dem Ungleichzeitigen im Gleichzeitigen. Nicht zuletzt durch den Blick für Alternativen in der Geschichte gewinnt die Beschäftigung mit der Friihen Neuzeit einen außergewöhnlichen Aktualitätsbezug"51 . Niemand wird der Grundaussage dieser Panorama-Artikel widersprechen wollen, wenn sich auch interessante Differenzierungen zwischen beiden Texten ergeURL: http://www.geschichte.uni-halle.delstrukturlfnz.htm (19. 03. 2001). URL: http: II www.uni-konstanz.de I FuF I Philo I Geschichte I Lehre I Fruhe_Neuzeit I Schlog11Forschungsschwerpunktlforschungsschwerpunkt. htrnl (19. 03. 2001). 50 51

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ben. Konstanz betont erkennbar deutlicher die neuen Forschungsansätze in der Frühneuzeitforschung, Halle spricht die fehlende, weil schwieriger gewordene Gesamtinterpretation unübersehbar an. Diese Artikel reflektieren ohne Zweifel wesentliche Grundlinien unseres heutigen Verständnisses der Frühen Neuzeit. Im Vergleich dieser beiden reflektierten Präsentationen unseres Fachs kann man zwei Beobachtungen machen: Zum einen: Während die älteren Ordnungsvorstellungen wie z. B. der Begriff des Absolutismus hoch aggregierte Begriffe darstellten, die zwar auf einzelne Territorien wie Bayern oder Brandenburg-Preußen differenziert anzuwenden sind, aber ihren Wert doch von einer vermuteten Gesamtentwicklung europäischer Staatlichkeit beziehen, wollen die neuen mikrohistorischen Fragestellungen diese hohe Aussageebene gar nicht erreichen, wobei ich jetzt nicht auf die Frage der erkenntnistheoretischen Grundpositionen eingehen will. Die Reichweite der intendierten Aussage ist erheblich begrenzter, es geht um einzelne Biographien, kleine soziale Einheiten, soziale Strategien in kleinem Format, einzelne Rechtsfälle, die im methodischen Zugriff der sog. "dichten Beschreibung" analysiert werden. Es ist nun von besonderem Interesse zu sehen, dass der immer schon intensiv diskutierte Absolutismusbegriff im Rahmen der neueren Debatte wieder unter Druck geraten ist, denn nachdem der englische Historiker Niebolas Henshall vom Mythos des Absolutismus gesprochen hatte, fragten auch deutsche Historiker erneut nach der Adäquanz des Begriffs52. Zum anderen: Im allgemeinen bezwecken die einschlägigen Forschungen nicht unmittelbar, eine umfassende Analyse auf gesamtgesellschaftlicher Deutungshöhe vorzulegen. Die Absicht der Verfasser liegt vielmehr zumeist darin, eben die Detailliertheit des Gegenstandes zu erforschen und ihn in diesem begrenzten Aussagestatus zu belassen. Er wird also nicht belastet mit der Annahme, darauf eine Aussage zum gesamten Sozial- oder politischen System zu machen. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass Geschichte prinzipiell nicht auf bestimmte großräumige Linien reduziert werden könne, sondern immer in ihrer Vielfalt gesehen werden müsse. Und diese Vielfalt lasse sich in kleinen Geschichten sehr viel besser präsentieren als in großen Erzählungen53 • Vor einer vorschnellen Ablehnung dieses Vorgehens sei auf einige Probleme verwiesen, die sich vor allem im Blick auf die neuere Forschungsgeschichte ergeben. Betrachten wir z. B. einen ohne jeden Zweifel komplexen Vorgang wie die Bevölkerungszunahme der Frühen Neuzeit etwas genauer. Wir kennen drei wichtige Abschnitte: das "lange 16. Jahrhundert" mit beachtlicher Bevölkerungszunahme, den 52 Nicholas Henshall, The Myth of Absolutism. Change and Continuity in Early Modem European Monarchy, London I New York 1992, und Ronald G. Asch/Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Absolutismus- ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in Westund Mitteleuropa (ca.1550-1700), Köln/Weimar/Wien 1996. 53 Vgl. Hans Medick, Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994, und Jürgen Schlumbohm, Mikrogeschichte - Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel?, Göttingen 1998.

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Einbruch im 17. Jahrhundert und den säkularen Anstieg seit etwa 1740, der in die moderne Bevölkerungsvermehrung hineinführt54• Die nackten Zahlen, die diese Einteilung ermöglichen, sind Ergebnisse der frühen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Sie wurden zuerst aus einer Reihe von statistischen Quellen und beschreibenden Aussagen erhoben, nicht zuletzt auf der Basis der frühen Statistik, die seit dem 18. Jahrhundert zum methodischen Repertoire der europäischen Staaten gehörte. In der neueren Forschung sind hier zwar auf der Basis differenzierter und klug genutzter Quellenbestände (wie z. B. Kornmunikantenziffern, Steuerregister, Feuerstellenzählungen etc.) beachtliche Differenzierungen geleistet worden - ich erinnere an die Diskussion über die Bevölkerungszahl Frankreichs zur Zeit der Französischen Revolution -, aber die entscheidenden Fragen hat die Forschung nicht mehr in diesem problematischen Zahlenwerk gesehen. Sie hat sie vielmehr in der Frage gesehen, warum in bestimmten Phasen dieses Prozesses Elternpaare ein anderes Reproduktionsverhalten an den Tag legten als etwa Generationen früher. Solche Fragen aber können in der Tat nicht mehr aus der Perspektive einer Gesamtgesellschaft ermittelt werden, einfach deshalb, weil es in der Frühen Neuzeit keinen verwertbaren Diskurs über solche Fragen gab und auch die theologischen Distinktionen - etwa im Rahmen der Ehegerichtsbarkeit - nur wenig verwertbare Aussagen liefern können. Hier lag es also nahe, zunächst einmal die Reproduktionsvorgänge in kleinen Einheiten genauer zu untersuchen und auf dieser Basis zu präzisen Aussagen dazu zu kommen, wann und unter welchen Umständen in bestimmten gesellschaftlichen Schichten eine bewusste Reduzierung der Kinderzahl pro Familie um sich griff. Ich verweise hier auf die Studie zur Bevölkerungsgeschichte der Stadt Genf im 16. und 17. Jahrhundert, in der diese Fragen zum ersten Mal untersucht wurden55 • Damit war eine Fragerichtung entdeckt, die völlig neue Einsichten in bislang anonyme Prozesse ermöglichte; Quellen wurden gefunden, die jetzt zunehmend auch jenen Menschen eine historische Singularität und Individualität gaben, die bislang eher zu denen gehörten, die die namenlosen Arbeiter im Brecht'schen Sinne waren. Im Rahmen dieser Entwicklung der Forschung haben sich erstaunliche Neuorientierungen ergeben, die sowohl die Suche nach neuen Quellen, als auch deren Interpretation betreffen. Exemplarisch kann ich hier auf die Gattung der sog. "Ego-Dokumente" verweisen, eine Quellengattung also, die in besonderer Weise geeignet ist, zu zeigen, wie sog. "normale Menschen" wichtige historische Prozesse aus ihrer je eigenen Perspektive gesehen oder nicht gesehen haben. Die "große Geschichte" des Dreißigjährigen Krieges bekommt eine ganz andere Dimension, wenn man sie aus der Perspektive des Schuhmachers Hans Heberle sieht, der als Söldner in der Nähe von Ulm lebte und dort den Krieg erlebte und in seinem Tagebuch festhielt56• Genau hierin sehe ich den Gewinn, der aus dem rnikroskopi54 M. W. Flinn, The European Demographie System, 1500-1820, Saltimore 1981, und als Regionalstudie Karlheinz Blaschke, Bevölkerungsgeschichte Sachsens, Weimar 1967. 55 Alfred Perrenoud, La population de Geneve, XVI-XIX siecles. Etude demographique, Bd. 1: Structures et mouvements, Genf/Paris 1979.

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sehen Blick gezogen werden kann, vorausgesetzt freilich, es gibt noch große Fragen, die auf das kleinteilige Material angewendet werden. Wenn ich es recht sehe, gibt es keinen Grund, auf dieses Material zu verzichten, denn an mehreren Feldern der neueren Forschung kann gezeigt werden, welche neuen Einsichten aus diesen Quellen gewonnen werden können. Die "unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne", von der Gert Zang sprach, sollte von einer unaufgebbaren Perspektive des Allgemeinen begleitet werden57. Wieder habe ich auf die großen Fragen verwiesen, aus deren Perspektive die Fragen an das Material zu stellen wären. Ich gehe dabei von der Einsicht aus, dass historisches Denken seine letzte Legitimierung aus den Gestaltungsabsichten für die Zukunft erhält. Damit ist aber auch die Notwendigkeit angesprochen, die unbestreitbare historische Vielfalt überschaubar zu machen, die immer vorhandene historische Komplexität also zu reduzieren. Hierin liegt der Wert der "großen Fragen". Welche großen Fragen werden uns in Zukunft bewegen? Mir scheint, dass die Frühe Neuzeit der klassische Erfahrungsraum für das elementare Verhältnis von Disziplinierung und Individualisierung bleiben wird. Dies sollte verstärkten Zugriff auf Fragen der politisch-gesellschaftlichen Theorie einerseits, der gesellschaftlichen Praxis andererseits hervorrufen. Hier wird man am leichtesten die Fragen der neuen Wahrnehmungs- und Kulturgeschichte integrieren können. Daneben werden die aktuellen revolutionären Vorgänge in der Technik der Wissensspeicherung und -Verteilung den vergleichenden Blick auf frühneuzeitliche Formen der Wissensorganisation und -Vermittlung lenken. Die Wissenschaftsgeschichte und das Konzept des "sozialen Wissens" sollten aus diesem Grunde stärker aktiviert werden. Schließlich kann die Frühe Neuzeit neues Interesse vor dem Hintergrund der erkennbar gewordenen Grenzen wirtschaftlichen Wachstums finden. Die Infragestellung des lange dominierenden Wachstumsparadigmas könnte die Frühe Neuzeit als Epoche des Umgangs mit begrenzten Ressourcen wieder interessant werden lassen. Auch hier können wahrnehmungshistorische Fragen wichtige Beiträge leisten. Natürlich werden diese Fragen nicht in der hier genannten globalen Form zu erforschen sein, sie könnten sich vielmehr zu Leitfragen entwickeln, die dann ihrerseits arn konkreten Material zu operationalisieren wären. All dies kann aber nur 56 Benigna von Krustenstjem/ Hans Medick (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreissigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1999, und G. Zillhardt (Hrsg.), Der Dreissigjährige Krieg in zeitgenössischer Darstellung. Hans Heberies ,,zeytregister" (16181672). Aufzeichnungen aus dem Ulmer Territorium, Ulm 1975. 57 So habe ich auch bislang Natalie Z. Davis verstanden, die auf dem letzten Historikertag (Aachen 2000) ihre Position verdeutlichte. Vgl. Natalie Z. Davis, The Shapes of Social History, in: Storia della Storiografia 17 ( 1990), 28- 34. Vgl. Gert Zang, Die unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne. Reflexionen über den theoretischen und praktischen Nutzen der Regional- und Alltagsgeschichte, Kontanz 1985.

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sinnvoll verwirklicht werden, wenn die Frühneuzeit-Historiker sich von den anderen Feldern der Geschichte und den anderen Kulturwissenschaften nicht abkapseln, sondern offen für deren Anregungen sind und offensiv den Austausch mit ihnen suchen. Man wird deshalb einer thematisch und methodisch offenen FrühneuzeitForschung, die sich nicht nur in Kleinstprobleme vertieft, sondern sich in der Arbeit am jeweiligen Einzelproblem der großen gemeinsamen Fragen bewußt bleibt und aktiv die Berührung mit den anderen Bereichen der Geschichte sucht, das Wort reden müssen. Bedenken wir die gewiss feststehende Tatsache, dass auch noch so überzeugende Periodisierungen und methodische Konzepte nur variable Zugriffe auf die Geschichte sind, mit denen wir sie für uns verständlich machen.

Föderalismus und Multi-Konfessionalismus als ungewolltes Erbe Kaiser Karls V. in deutscher Perspektive Von Heinz Schilling, Berlin

I. Kaiser Karl V. 1 anläßlich seines 500. Geburtstages aus deutscher Perspektive zu würdigen, heißt zunächst sich einzugestehen, daß er im Geschichtsbild der Bundesrepublik kein "lieu de memoire" ist2 • Das entspricht einerseits der notorischen I "Regie führen in diesem eineinhalb Jahrhunderte umfassenden Geschehen nicht Personen, wenn man von Luther und seinem Gegenspieler Zwingli einmal absieht, nicht Kaiser, Päpste und Sultane, auch nicht die den gesamten Kontinent erfassenden Rivalitäten und Expansionsgelüste der Dynastien, nicht der Machtgedanke oder das Glaubensbekenntnis, sondern anonyme Triebkräfte, die sich in Bevölkerungswachsturn und Preisverfall, in Mobilität und Erstarrung, in ,kommerziellen Revolutionen', in Fieberkurven und steigendem Anpassungsdruck zu Wort melden, ohne durch Faktoren wie das Prinzip der Volkssouveränität oder die Mechanismen autonomer Wirtschaftsprozesse gesteuert zu sein."- So charakterisierte Johannes Kunisch 1988 in der Frankfurter Allgerneinen Zeitung meine Darstellung ,,Aufbruch und Krise. Deutschland 1517 -1648" (FAZ, 4. 10. 1988, Nr. 231, L 33). -Ich weiß nicht, ob Johannes Kunisch diese Besprechung zu seinen "schönsten Verrissen" zählt. Jedenfalls nehme ich die Festschrift zu seinem 65. Geburtstag gerne als Gelegenheit, ihm zu dokumentieren, daß es ein "produktiver Verriß" war, der - gerechtfertigt oder nicht - seine Wirkung offensichtlich nicht verfehlt hat. Aus einer Reihe von Beiträgen zu den internationalen Gedenkfeierlichkeiten anläßlich des füntbundertsten Geburtstages Kaiser Karls V, die - bezeichnend für die im Text markierte "shallow past" der Deutschen - fast ausschließlich im Ausland stattfanden, habe ich den Text ausgewählt, der arn 6. November 2000 an der von Robert Schurnan gegründeten Maison de l'Europe in Paris vorgetragen wurde. Es handelt sich um den deutschen Beitrag zu einer internationalen Ortsbestimmung für die Person Karls V. und seine Epoche, bei der Wirn Blockrnans die belgisch-niederländische, Micheie Escarnilla und Joseph Perez die französische bzw. spanische, Adriano Prosperl die italienische und Alfred Kohler die Österreichische Sicht vertraten. Anwesend war im übrigen auch Georg von Habsburg, und zwar in doppelter Funktion, nämlich als einer der jüngsten Nachfahren des Kaisers und als Botschafter der Republik Ungarn beim Europarat - ein kleiner Beleg dafür, daß erst Personen- und Strukturgeschichte zusammengenommen ein tiefenscharfes Bild ergeben. 2 Das läßt sich mit einer Vielzahl von Beobachtungen aus dem öffentlichen Raum belegen: Die Deutsche Bundespost gab zwar im Frühjahr 2000 eine hochrangige Kar!-Briefmarke heraus. Sie ist aber nicht Karl V., sondern Kar! dem Großen gewidmet. Anlaß war die 1200-Jahrfeier des Aachener Dornes, dem verbunden mit der Person Karls des Großen in Deutschland also mehr Erinnerungswert zugernessen wird als Karl V. - Zwar wurde auch in Deutschland

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Kurzsichtigkeit der historisch-politischen Kultur - "the shallow past of the Germans", wie das ein amerikanischer Deutschlandexperte kürzlich kritisch genannt hae. Andererseits hängt die historische Sehschwäche im konkreten Fall aber auch mit der Person des Habsburgers und der Rolle zusammen, die er in der deutschen Geschichte in einem Moment gespielt hat, als geistig-kulturell wie institutionell und politisch Entscheidungen fielen, die bis heute das Profil Deutschlands und der Deutschen in Europa mitbestimmen. Diese These gilt es im folgenden zu belegen, und zwar auf den zwei Feldern, auf denen im 16. Jahrhundert die für die neuzeitliche Geschichte Deutschlands entscheidenden Weichen gestellt wurden: auf dem Feld der Kirche und der konfessionellen Identität und auf dem Feld der Politik, konkret der verfassungsrechtlichen Formierung. Die Verfassungsfrage war in Deutschland, und zwar nur dort, deshalb eine inzwischen bei solchen Anlässen unvenneidliche Ausstellung gezeigt. Anders als die Europaratsausstellung zum 350. Jahrestag des Westfalischen Friedens 1998 in Münster und Osnabriick, deren Konzept von einem interdisziplinär besetzten Gremium deutscher Historiker erarbeitet wurde und die dadurch den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden als "lieu de memoire" der Deutschen zu definieren vennochte, handelte es sich bei der Bonner Ausstellung im wesentlichen um die von einem Museumskurator sachkundig überarbeitete Übernahme einer zuvor andernorts, nämlich in Gent, erarbeiteten Ausstellung. Dementsprechend lag die Verantwortung nahezu ausschließlich in der Hand von Museumsleuten, während Geschichtswissenschaftler im engeren Sinne nur am Rande beteiligt waren. Anders als die Gedenkfeiern zum Westfalischen Frieden blieb daher die Bonner Ausstellung zu Kar! V. für die Gedächtniskultur und für eine Reflexion zur Bedeutung Karls für die historischpolitische Kultur der Gegenwart weitgehend folgenlos. Dem entspricht der Unterschied im protokollarischen Rang - während das Jubiläum des Westf3lischen Friedens durch den Bundespräsidenten im Kreise von europäischen Staatsoberhäuptern gewürdigt wurde, hatte sich die Erinnerungsfeier für Karl V. mit der Anwesenheit des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und demzufolge mit dem spanischen Thronfolger als Vertreter des Königs zu begnügen. Die Tageszeitung ,,Die Welt", die am prominentesten über die Ausstellung berichtete, gab ihrer von Hubert Glaser verfaßten Besprechung daher den provozierenden Titel ,,Der Herrscher kehrt zuriick, aber die Regierung bleibt fern" (Ausgabe vom 26. 2. 2000, 35). Die ganze Unprofessionalität des bundesrepublikanischen Umgangs mit älteren Geschichtsepochen machte dann schließlich ein Feature des Deutschlandsfunks am 19. Oktober 2000 zur besten Sendezeit zwischen 20.10 und 21 Uhr offenbar. Der Kölner Sender ließ zwar einen ortsansässigen Historiker zu Wort kommen. Hierzu wählte er aber einen Spezialisten zum Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts aus, der verständlicherweise nur Allgemeines zu Kar! V. zu sagen wußte und daher auch gar nicht erst den Versuch unternahm, auf der Basis der gerade zu diesem Problem international sehr regen Friihneuzeitforschung eine aktuelle Ortsbestimmung des Habsburgers und seiner Epoche für die historisch-politische Kultur der Gegenwart vorzunehmen. 3 Thomas A. Brady/Heinz Schilling, The Protestant Refonnation in Gennan History (Annual Lecture 1997, DHI Washington) in: Occasional Paper Nr. 22, Washington 1998, v. a. 10 ff., 40 ff. - Daß sich an dieser im internationalen Vergleich nachgerade pathologisch wirkenden Amnesie der Deutschen gegenüber den älteren Geschichtsepochen, zu denen inzwischen auch schon das 19. Jahrhunderts zu zählen scheint, nichts geändert hat, belegt noch jüngst eine Ausschreibung des DAAD für historische "Gastdozenturen in Nordamerika", die deutsche Geschichte auf das "20. und 21. Jahrhundert, insbesondere seit 1945" beschränkt (Rundschreiben 6. 12. 2000, AZ 315-99-ans).

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so kompliziert und konfliktträchtig, weil die "Deutsche Nation" Träger des Heiligen Römischen Reiches war und daher nicht ohne weiteres den Weg in einen frühmodernen Nationalstaat antreten konnte. Diese beiden Schlüsselprobleme der deutschen Geschichte im Zeitalter Karls V. waren strukturell miteinander verzahnt. Denn einerseits besaßen Religion und Kirche in Alteuropaper se politischen Charakter. Und andererseits war die Verfassung des Reiches selbst ein sakrales Phänomen, weil sie nicht nur in Deutschland, sondern in Europa generell für eine Institution der Heilsgeschichte angesehen wurde. Für Karl mußten die deutsche Verfassungs- und die deutsche Konfessionsfrage, die als causa Lutheri bei den Zeitgenossen heiß umstritten war, zum Schicksal werden. Ihre Lösung entschied nicht nur über Erfolg und Mißerfolg in Deutschland, sondern über Erfolg und Mißerfolg seiner Politik schlechthin. Denn er wollte Europa unter dem Dach eines universellen Kaisertums einen und befrieden und war daher sowohl auf ein intaktes Reich als auch auf eine ungeteilte Christenheit angewiesen. Karl war nie das "edle teutsche Blut", als das ihn die deutsche Publizistik im Moment seines Wahlsieges über Franz I. von Frankreich feierte. Als Karl von Gent war er im niederländisch-burgundischen Kulturkreis großgeworden, und seine politischen Erfolge feierte er als spanischer König, wie überhaupt seine Macht militärisch wie fiskalisch in Kastilien verankert war. Über sein Lebenswerk insgesamt aber, speziell über sein universelles Christenheitskonzept und seine damit noch weitgehend identische Europapolitik, wurde aber nirgends anders als in Deutschland entschieden. Über seine Kaiseridee und sein Kaiserkonzept konnten seine italienischen, burgundischen oder spanischen Berater viel diskutieren. Ihre Verwirklichung hing aber ganz und gar von den deutschen Fürsten, speziell den Kurfürsten, ab. Als Karl sein Königtum antrat, war gleichzeitig mit der Einheit des Christentums das Heilige Römische Reich herausgefordert. Das hat Karl durchaus erkannt. Er hat die Gefahr aber zeitlebens unterschätzt. Und er hat seinen Bruder Ferdinand, der sich in den deutschen Verhältnissen weit besser auskannte, lange an einer realistischen Reichspolitik gehindert. Das änderte sich erst 1552, doch da war es bereits zu spät - weil der gealterte und kranke Kaiser nun nicht mehr willens war, zu neuen Ufern aufzubrechen, und weil der habsburgische Handlungsspielraum sowohl in der Religions- als auch in der Verfassungsfrage mittlerweile dramatisch geschrumpft war. Die deutsche Verfassungsfrage will ich nur ganz kurz skizzieren, um hinreichend Zeit für die Religionsfrage zu gewinnen, die Europa bis heute in Atem hält, wie noch Anfang September diesen Jahres die heftigen Debatten um die vatikanische Verlautbarung zur Wahrheitsfrage des Christentums belegt haben4 • 4 Im folgenden wird das gesprochene Wort im wesentlichen unverändert beibehalten und dementsprechend auch auf einen ausführlicheren wissenschaftlichen Apparat verzichtet. Ver-

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I. Territorialisierung und Teilmodernisierung des Reiches Die deutsche Verfassungsfrage der werdenden Neuzeit läßt sich abgekürzt auf die beiden komplementären Prozesse Territorialisierung und Teilmodernisierung des Reiches bringen. Seit der Reformation war der damit bezeichnete politische Wandel aufs engste mit der Religions- und Kirchenfrage verknüpft. Das belegen eindrucksvoll die beiden einschneidenden Ereignisse zu Ende der Regierungszeit Karls V., die Fürstenrebellion von 1552 und der Augsburger Reichsabschied von 1555, der nicht nur Religionsfrieden, sondern zugleich auch Reichsgrundgesetz mit einschneidenden Beschlüssen für die Verfassung des friihneuzeitlichen Reiches waren. Indem die Tolerierung des Luthertums 1555 durch den reichsrechtlichen Grundsatz "cuius-regio-eius-religio" geregelt wurde, also durch die Abtretung der Religions- und Kirchenhoheit vom Reich an die einzelnen Reichsfürsten und deren Territorien, war mit der Antwort auf die mit Luther aufgebrochene Religionsfrage zugleich eine Antwort auf die noch ältere Verfassungsfrage gegeben worden. Entscheidend für das Problem der politischen Neuordnung des Reiches war, daß sich in Deutschland dieausgangsdes Mittelalters allenthalben in Europa aufgeworfene Frage nach der friihmodernen Neuordnung des Politischen dringlicher und vor allem in prinzipiell anderer Weise als in irgendeinem anderen Land Europas stellte. Das war eine Folge der mittelalterlichen Geschichte, die das Reich zur politischen Organisationsform der Deutschen hatte werden lassen. Das Reich war aber ein prae-staatlicher Lehnsverband, der sich nicht zu einem Staat im friihmodernen Sinne fortentwickeln konnte, ohne sich selbst aufzugeben5 . Zudem waren bei Regierungsantritt Karls V. die entscheidenden Regalrechte, die die west- und nordeuropäischen Herrscher zum Ausbau ihrer Souveränität oder friih-absolutistischen Fürstengewalt nutzten, in Deutschland längst vom König auf die Reichsstände überwiesen sei auf die einschlägigen Publikationen im Vor- und Umfeld des Gedächtnisjahres: Hugo Soly (Hrsg.), Charles V. 1500-1558 and bis Time, Antwerp 1999 (niederländische u. französische Version: Antwerpen 1999, deutsche Version: Köln 2000, spanische Version: Madrid 2000); Horst Rabe (Hrsg.), Politik und politisches System, Konstanz 1996; Alfred Kahler; Kar! V. 1500-1558. Eine Biographie, München 1999; Ernst Schulin, Kaiser Karl V. Geschichte eines übergroßen Wirkungsbereiches, Stuttgart 1999; Pierre Chaunu/Michele Escamilla, Charles Quint, Paris 2000. In den nächsten Jahren werden zudem eine Reihe von Tagungsbänden erscheinen, die die - mit Ausnahme der Bundesrepublik - allenthalben in den ehemals von Kar! V. regierten Ländern Europas im Jahr 2000 abgehaltenen wissenschaftlichen Kongresse dokumentieren und damit einen vorzüglichen Einblick sowohl in den Forschungsstand als auch in die Rolle gewähren, die die einzelnen Länder Europas dem Gedächtnis Karls V. beimessen. s Akzentuiert andere Sicht bei Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit, 1495-1806, München 1999; zur Auseinandersetzung mit dieser Mindermeinung Heinz Schilling, Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem. Überlegungen zu Charakter und Aktualität des Alten Reiches, in: HZ 272 (2001), 377 - 395.

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gegangen. Somit hatten diese und nicht der deutsche König um 1500 die besten Instrumente für die frühmoderne Staatsbildung in der Hand. In dieser Situation war bereits unter Karls Vorgänger und Großvater Maximilian I. die sogenannte Reichsreform in Angriff genommen worden, die das Reich soweit verändern und an die unter seinen Nachbarn aufziehende frühmoderne Staatlichkeit anpassen sollte, daß es als politischer Verband überleben konnte. Mit dem Ewigen Landfrieden, der Begründung eines höchsten Reichsgerichtes, der Einführung reichsweiter Steuern und der darauf aufbauenden Konsolidierung des Wehrwesens war die - wie es die Reichshistoriker in der Regel nennen - frühmoderne Formierung des Reiches auch bereits entscheidende Schritte vorangekommen. Allerdings war der Bestand dieser Reformen noch keineswegs auf Dauer gesichert, und vor allem war noch nicht entschieden, wer in einem neu formierten Reich das entscheidende Sagen haben würde - der deutsche König oder die Reichsstände. Diese Alternative war der Kern des verfassungsrechtlichen Ringens, das die Stände propagandistisch auf die Schlagworte "deutsche (Fürsten-)Libertät" gegen "spanische Servitut" brachten. In diesem Machtkampf zwischen Fürsten und deutschem König ging es darum, ob die notwendige Anpassung des mittelalterlichen Reiches an die neuzeitlichen staatlichen Strukturen im Sinne der Fürsten als eine Föderation von Territorialstaaten oder im Sinne des Königs als Reichs-Staat erfolgen sollte. Gesiegt haben bekanntlich die Fürsten, aber doch nicht ganz - denn die Territorialisierung Deutschlands wurde durch die Teilmodernisierung des Reiches ergänzt. Kurz gesagt, bedeutete das einerseits, daß in der Regierungszeit Karls V. endgültig die Weichen für die politische Ordnung Deutschlands gestellt wurden, die Madame de Stael später von "den Deutschländern" sprechen ließ. Andererseits wurde das Reich als eine einzelne Territorien überwölbende Institution nicht zerstört, sondern durchaus gefestigt. Diese neue politische Ordnung Mitteleuropas wurde ebenfalls 1555 zusammen mit dem Religionsfrieden reichsrechtlich festgelegt. Letztlich war somit gegen den Willen des Kaisers der Weg fortgesetzt worden, den das Reich bereits im späten Mittelalter eingeschlagen hatte. Es war einerseits der Weg in die Staatlichkeit der Territorien und Fürstentümer, die durch die neu errungene Reformations- und Kirchenhoheit ihre Landesherrschaft entscheidend festigen konnten. Andererseits war damit der Weg in eine Teilmodernisierung des Reiches eröffnet. Das bedeutete nicht den Aufbau eines frühmodernen Reichsstaates. Vielmehr wurde das Reich umgebildet zu einem vorstaatlichen, frühmodernen politischen System, das als Rechts-, Verteidigungs- und Kultureinheit bis 1806 überleben konnte. 2. Die Kirchen- und Konfessionsfrage der ungewollte Weg in die Multikonfessionalität Karl und sein vorwiegend aus West- und Südeuropäern bestehender Beraterstab haben immer wieder die Gefahren unterschätzt, die mit der causa Lutheri verbunden waren. Ja, es deutet vieles darauf hin, daß der Habsburger die religiöse Dyna-

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mik der deutschen Reformation, die zugleich eine gesellschaftliche und politische Dynamik war, im Kern nie begriffen hat: "Der soll mich nicht zum Ketzer machen", äußerte der junge, eben in Aachen gekrönte deutsche König ungerührt, als er im Aprill521 den Augustinermönch erstmals von weitem sah6 . Bereits der erste, auf Frühjahr 1521 nach Worms einberufene Reichstag, auf den Karl Luther unter Zusage freien Geleits geladen hatte, machte deutlich, daß die Gegensätze unüberbrückbar waren und auf Sieg oder Niederlage gespielt wurde: Als Karl am 17. und 18. April im Palais des Wormser Bischofs Luther vor seinem Thron empfing, standen sich zwei Welten und zwei ganz unterschiedlich geprägte Persönlichkeiten gegenüber. Luther, der Wittenberger Bibelprofessor, war durch seine mutige Publikation der 95 Thesen im Oktober 1517 als Vorkämpfer gegen die Mißbräuche der verweltlichten Renaissance-Kirche eine Berühmtheit geworden. Auf ihm ruhten in Deutschland, aber auch bereits weit darüber hinaus, alle Hoffnungen auf eine Erneuerung des Christentums von den evangelischen Wurzeln her. Nach Luthers schweren, sprachlich oft übergroben Angriffen auf den Papst, mußte den meisten Zeitgenossen klar sein, daß diese Erneuerung nur gegen das Papsttum erfolgen konnte, jedenfalls in seiner damaligen Gestalt. Ohne daß er sich dessen bewußt war, war Karl ein hohes Risiko eingegangen, als er den prominenten, von vielen hochverehrten Mönch auf den Reichstag lud und ihm damit gleichsam auf der angesehensten Bühne politischer Öffentlichkeit Gehör verschaffte. Luther hat diese Chance bekanntlich genutzt und am zweiten Tag der Anhörung sich mutig zur radikalen Veränderung der Kirche bekannt, die unweigerlich eine Veränderung auch in den weltlichen Dingen bis hin zur Position des Kaisers nach sich ziehen mußte. Die Propagandisten der Reformation verbreiteten diese Botschaft sogleich in einer Flut von Pamphleten. Der Satz "Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen", der Luthers Rede vor dem Reichstag geschickt pointierte, war bald weltberühmt. Die Anhänger Luthers - unter den Reichsständen eine zwar noch kleine, aber um so aktivere und mit ihrem Anführer Kursachsen sehr gewichtige Gruppe - erwarteten von Karl nicht mehr und nicht weniger, als daß er als erwählter Kaiser und weltliches Oberhaupt der Christenheit sich an die Spitze des Reformverlangens stellen würde. Es ging ihnen darum, die Reichskirche gemäß den bereits im 15. Jahrhundert gegen Rom formulierten "Gravamina deutscher Nation" neu zu organisieren und damit zugleich auch die gesamte Christenheit geistig und rechtlichinstitutionell gemäß den von Luther wiederentdeckten evangelischen Prinzipien zu reformieren. In dieser Erwartung hatten sich Luther und seine Parteigänger aber 6 Zu den kirchen- und religionsgeschichtlichen Zusammenhängen, speziell zur persönlichen Religiosität des Kaisers vgl. mit ausführlichen Quellen- und Literaturbelegen Heinz Schilling, Kar! V. und die Religion. Das Ringen um Reinheit und Einheit des Christentums., in: Soly (Hrsg.), Kar! V. (Anm. 4), 285-364. Kenntnisreich und weiterführend hierzu auch die einschlägigen Kapitel von Micheie Escamilla, in: Chaunu/ Escamilla, Charles Quint (Anm. 4), sowie vor allem Martin Brecht, Martin Luther und Kar! V., in: Christoph Strosetzki (Hrsg.), Aspekte der Geschichte und Kultur unter Kar! V., Vervuert 2000, 78-96.

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tief getäuscht. Mit der Anhörung des Mönchs hatten Karl und seine Berater nichts anderes im Sinn als einen sofortigen, umfassenden Widerruf, um unbeschwert von dem ihnen lästigen Theologengezänk rasch ihre eigentliche Aufgabe in Angriff zu nehmen und das Reich wie Europa im Sinne der Habsburger geistig und politisch neu zu ordnen. Drei Gründe schlossen eine Allianz zwischen Karl V. und der deutschen Reformation von vornherein aus, nämlich persönliche, sachlich-politische und proto-nationale: Persönlich war die Distanz Karls V. zu Luther und der Reformation in einer Spiritualität und Religiosität Karls begründet, die in krasser Opposition zu Luthers individualistisch-subjektiver Gottes- und Wahrheitserfahrung stand: In burgundischer Kultur und Frömmigkeit unter Einfluß der devotio moderna erzogen, war Karl von einem religiösen Traditionalismus bestimmt. Das war keineswegs religiöses Desinteresse oder gar - wie Karl von protestantischer Seite gelegentlich unterstellt - eine Haltung ohne persönliches Gewissen. Für das Anliegen der Kirchenreform war Karl durchaus offen. Die Reform der Kirche konnte er sich aber nur - wie er selbst in seiner Wormser Antwort auf Luther formulierte -im Einklang mit der Tradition der Kirche vorstellen- als "Verteidiger des katholischen Glaubens, der heiligen Zeremonien, Gesetze, Anweisungen und der heiligen Gebräuche". Sachlich-politisch stand einer Allianz mit den deutschen Protestanten die übernationale, universelle Kaiseridee entgegen, mit der Karl und seine Berater die aufbrechende neuzeitliche Staatenwelt Europas zusanunenzwingen und befrieden wollten. Das schien ihnen aber nur möglich auf der geistigen Basis einer ebenso ungeteilten, universellen Religion, wie sie nur die Römische Kirche mit einem ungebrochenen Geltungsmonopol in der lateinischen Christenheit garantieren konnte. Und schließlich tat sich eine protonationale, sozialpsychologische Kluft auf, die um so geschiehtsrnächtiger war, als sie nicht nur das Denken des Kaiserhofs bzw. der Politiker um Luther prägte, sondern als nationale Identität breite Bevölkerungsschichten erfaßte: Wurde Luther von den Deutschen als ,,Hercules Germanicus" gefeiert, der mit göttlichem Zorn die verderbte welsche Händlerbrut aus den heiligen Hallen des Tempels vertreibt, so galten Luther und seine Reformation den Spaniern als "Pestis Germaniae", als deutscher Wundbrand am Leib der Christenheit. Nein, Karl war weder mittelalterlicher Ketzerjäger noch bereits neuzeitlicher Konfessionalist. Das bezeugen zwei Szenen von beeindruckender persönlicher Unabhängigkeit, an die hier nur im Vorübergehen erinnert werden kann: Die eine ist die berühmte Episode an Luthers Grab in der Wittenberger Schloßkirche, als die katholischen Konfessionalisten in Karls Umgebung die Exhumierung und Ketzerverbrennung Luthers forderten und von dem Habsburger tief enttäuscht wurden, als dieser bei aller Härte gegen den Protestantismus auch auf dem Höhepunkt des militärischen Triumphes jene Humanität bewahrte, die er auch bereits zuvor gegenüber einzelnen Lutheranhängern gezeigt hatte7 • Die andere, nicht weniger be7 Näheres hierzu und zur Überlieferung dieser Episode bei Heinz Schilling, Veni, vidi, Deus vicit - Kar! V. zwischen Religionskrieg und Religionsfrieden, in: ARG 89 (1998),

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wegende Szene zeigt den Kaiser auf dem eigenen Sterbebett am 21. September 1558 in Yuste. Die Sterbeminuten hat der Kaiser, der nach seiner Abdankung nur noch Don Carlos sein wollte, in einer Christus- und Kreuzesfrömmigkeit durchlebt, die an Luthers solus-Christus-Rechtsfertigungslehre erinnern mochte und daher den Unwillen der Konfessionalisten erregte. In Wahrheit aber war dieses Sterberitual Ausdruck spätmittelalterlicher Christusfrörnrnigkeit8 , die zu den Fundamenten sowohl der protestantischen als auch der katholischen Reformation des 16. Jahrhunderts zählt. Die Wurzeln von Karls persönlicher, vorkonfessionalistischer Frömmigkeit lagen bei Erasmus und der niederländischen devotio modema, die ihm sein Lehrer Adrian von Utrecht nahegebracht haben dürfte, und bei den Ritterorden - dem Goldenen Vlies, dem Hausorden der Burgunder, in den Karl bereits als Kind aufgenommen worden war, und den spanischen Ritterorden der Rekonquista, die den Heiligen Jakobus zum Schutzpatron nahm, vor allem aber St. Georg, den Drachentöter, der persönlich in den Kampf gegen die Mauren eingegriffen und den christlichen Heeren den Sieg gebracht haben soll. So konnte es jedenfalls Karl der Darstellung eines gewaltigen, heute im Londoner Victoria-und-Albert-Museum ausgestellten Flügelaltars in Valencia entnehmen. Diese Ritterorden, deren religiöse Zielsetzungen damals noch allen vor Augen standen, weckten Karls glühenden Kampfeswille für die reine, katholische Lehre. Karl war sich bewußt, daß dieser Kampf nur durch eine innere Erneuerung der Kirche gewonnen werden könne, wie das die niederburgundischen Humanisten und Devoten ebenso wie der spanische Erzbischof Cisneros bereits in die Wege geleitet hatten. Karl konnte - so haben wir gesagt - Luther und der Reformation aus politischen Gründen nicht folgen, weil das universelle Kaisertum auf die einheitliche Universalkirche angewiesen war. Doch der geradezu persönliche Widerwille gegen den Neuerer, den Karl nur als Spalter erleben konnte, war tiefer, existentiell begründet. Auf dem Wormser Reichstag antwortet der Kaiser einen Tag, nachdem Luther sein protestantisches Bekenntnis vorgetragen hatte, mit einem sehr persönlichen Gegenbekenntnis. Da es sich um eine der ganz wenigen direkten Aussagen des Kaisers zu seiner persönlichen Religiosität handelt, sei es erlaubt, etwas ausführlich zu zitieren: Ihr wißt, ich stamme ab von den allerchristlichsten Kaisem der edlen deutschen Nation, von den katholischen Königen Spaniens, den Erzherzögen Österreichs, den Herzögen von Burgund, die alle bis zum Tod treue Söhne der römischen Kirche gewesen sind; immer Verteidiger des katholischen Glaubens, der heiligen Zeremo144-166, hier 163 f.; ders., Kar! V. und die Religion (Anm. 6), dort 307 eine Abb. des Historiengemäldes von Alfred Friedrich Teichs von 1815. s Schilling, Kar! V. und die Religion (Anm. 6), 310-315, v. a. 315. Zur spätmittelalterlichen Kreuzesfrömmigkeit und deren Fortwirken in der Neuzeit ausführlich und mit zahllosen eindrücklichen Belegen Klaus Schreiner; Fetisch oder Heilszeichen? Kreuzsymbolik und Passionsfrömmigkeit im Angesicht des Todes, in: ZHF 20 (1993), 417-461.

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nien, Gesetze, Anweisungen und der heiligen Gebräuche - zu Ehren Gottes, Mehrung des Glaubens und zum Heil der Seelen. Nach ihrem Heimgang haben sie uns dank angestammten Rechts als Erbe hinterlassen die genannten heiligen katholischen Verpflichtungen und ihnen gemäß zu leben und zu sterben nach ihrem Beispiel - ihnen gemäß haben wir als wahre Nachahmer dieser unserer Vorgänger kraft der Gnade Gottes hier und heute gelebt. Aus diesem Grund bin ich fest entschlossen alles aufrechtzuerhalten, was meine genannten Vorgänger und ich bis zur Stunde aufrechterhalten haben: . . . denn es ist gewiß, daß ein einzelner Ordensbruder irrt mit seiner Meinung, die gegen die ganze Christenheit ist sowohl während der vergangenen tausend und mehr Jahre als auch in der Gegenwarr. Nicht anders als der Wittenberger Mönch folgte auch der Kaiser seinem Gewissen. Ohne Zweifel war das in seinem Fall eine Geste des Traditionalismus. Zugleich war es aber auch Ausdruck unbedingter Gottesgewißheit Die Verbindung von religiöser Demut und weltlichem majestas-Anspruch gab dem Habsburger im umstürzenden Wandel des Zeitalters Sicherheit und Unerschütterlichkeit des Handeins - nicht um den Wandel zu blockieren, sondern um ihn in seinem Sinne zu gestalten. Darum hat er zeit seines Lebens gekämpft. Am Ende ist er unterlegen, was die Größe seines Kampfes nicht mindert. Denn die in Worms aufgebrochenen religiösen und kirchenpolitischen Gegensätze haben Leben und Werk Karls V. bis zuletzt tief geprägt. Tragischer Höhepunkt und Peripetie in der Religions- und Reichspolitik des Kaisers waren Schmalkaidiseher Krieg von 1546/47 und Geharnischter Reichstag von Augsburg 1547 I 48. Im Schmalkaldischen Krieg zerschlug er zwar mit leichter Hand den gordischen Knoten der deutschen Religions- und Verfassungsfrage. Doch gerade dieser Triumph und die drohende Gefahr eines kaiserlichen Absolutismus, den auch die katholischen Reichsstände fürchteten, ließ die Gegenkräfte erstarken. In einer knappen Frist von drei, vier Jahren war Karl besiegt und mußte erkennen, daß er im Reich und in Deutschland endgültig gescheitert war. Politisch wurde er bekanntlich durch den Aufstand der Fürsten unter Führung Kurfürst Moritz von Sachsen besiegt. So tief aber auch dieser Verrat das Herrschafts- und Ehrgefühl des Kaisers verletzte, so wurde Karl in jenen Monaten doch ungleich schwerer durch die Erkenntnis erschüttert, daß es auf absehbare Zeit, wahrscheinlich sogar für immer nicht möglich sein werde, die Christenheit wieder zur Einheit zu bringen. Diese bittere Wahrheit hat ihm kein anderer als sein Bruder Ferdinand übermittelt: Im Friihjahr 1552 legte er in Villach, wohin der Kaiser vor dem Aufstand der deutschen Fürsten geflohen war, dem Bruder dar, daß nur eine unbefristete Toleranz der Protestanten Reich und Christenheit zur dringend benötigten Ruhe kommen 9 Zitiert in der Übersetzung der Deutschen Reichstagsakten unter Kaiser Kar! V. (Jüngere Reihe) nach dem Abdruck in: Alfred Kahler (Hrsg.), Quellen zur Geschichte Karls V. (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 15), Darmstadt 1990, 74.

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lasse. Karl widersetzte sich nun nicht mehr, zugleich machte er aber unmißverständlich deutlich, daß er nicht bereit war, diese Lösung auf sein Gewissen zu nehmen. Den Augsburger Religionsfrieden, der 1555 den Protestanten unbefristet Toleranz gewährte, indem er sie in den seit 1495 geltenden Ewigen Reichslandfrieden aufnahm, mußte Ferdinand I. alleine aushandeln und verantworten. Der Augsburger Religionsfrieden besiegelte das, was Karl V. seit seiner ersten direkten Berührung mit Luther und dem Luthertum 1521 in Worms unbedingt hatte vermeiden wollen. Zwar stand er selbst auch dreieinhalb Jahrzehnte später nicht in der Gefahr, zum Ketzer zu werden. Die Einheit der Christenheit war aber endgültig verspielt - in Deutschland, aber auch in Europa. Mehr noch - es war grundgesetzlieh und reichsrechtlich verankert, daß Deutschland und das Reich fortan bikonfessionell, nämlich katholisch und lutherisch sein würden. Ab dem Westfälischen Frieden von 1648, der den Augsburger Religionsfrieden modifizierte und befestigte, war Deutschland rechtlich sogar trikonfessionell, also katholisch, lutherisch und reformiert. In der Realität war die religiöse Vielfalt sogar noch weit größer, weil neben den Judengemeinden auf besonderer Rechtsgrundlage bald auch christliche Denominationen außerhalb der Konfessionskirche geduldet wurden 10•

111. Fragen wir abschließend und zusammenfassend, welcher Stellenwert Karl V. im historisch-politischen Bewußtsein der Europäer, speziell der Deutschen, einzuräumen ist und inwieweit es geboten ist, anläßlich des fünfhundertsten Geburtstages Karls V. eine Neubewertung der historischen Rolle dieses bedeutenden Habsburgers vorzunehmen. Besonders zwei Überlegungen scheinen mir in diesem Zusammenhang erwägenswert: Erstens. Auch ich würde die europäische Dimension seiner Politik, die in diesem Gedenkjahr vor allem durch Politiker gerne beschworen wird 11 , als erinne10 Zur Geschichte der frühneuzeitlichen Religionsfrieden in vergleichend europäischer Perspektive vgl. Jean Delumeau (Hrsg.), L'acceptation de l'autre. De l'Edit de Nantes nos Jours, Paris 2000, zum Augsburger Religionsfrieden 72-85, und Olivier Christin, La paix de religion. L'autonomisation de Ia raison politique au 16e siede, Paris 1997. 11 Bereits in der Nachkriegszeit wurde Kar! zum Vorläufer moderner Europapolitik gemacht, besonders akzentuiert in einer in nahezu alle europäischen Sprachen übersetzten Darstellung des belgiseben Vicomte Charles Terlinden, Carolus Quintus. Kaiser Kar! V. Vorläufer der europäischen Idee, dt. Zürich 1978 (frz. Original Brüssel 1965). - Behutsamer als mancher Historiker hat der spanische König Juan Carlos die europageschichtliche Perspektive des Gedenkjahres markiert. Im Anschluß an die wissenschaftliche Würdigung Karls V. durch vier Mitglieder europäischer Akademien der Wissenschaften führte der Monarch zum Abschluß des Staatsaktes in der Kathedrale von Toledo hierzu aus: "Wir Spanier wissen von der Bedeutung dieses Gedanken (nämlich der Idee von Europa als ein höheres Ganzes ... , das auf einer Gesamtheit kultureller Werte beruht, aus dem alle Bestandteile schöpfen) für die moderne Geschichte. Seit den Theologen und Rechtsgelehrten der Schule von Salamanca zu Zeiten des Kaisers schlägt im Tiefsten des spanischen Denkens ein Ruf hin zum universalen Bewußtsein mit Überwindung allen Partikularismus.

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rungswürdig ansehen. In der Regierungszeit dieses Kaisers war das Reich, und damit Deutschland, in einem ganz besonderen Maße in eine trans-nationale, europäische Dimension eingespannt - im Positiven wie im Negativen. Dabei ist aber nicht aus dem Auge zu verlieren, daß Karl mit Sicherheit kein Wegbereiter einer europäischen Union war, wie sie heute angestrebt wird und teilweise auch bereits existiert. Wie wäre das auch über eine solch lange Zeitspanne hinweg möglich? Die heutigen Buropapolitiker können und sollten ihn aber dennoch als "lieu de memoire" oder "personnage de memoire" ihrer Konzepte akzeptieren. Denn wie kein zweiter hat Karl V. zeit seines Lebens daran gearbeitet, die auseinanderstrebenden, partikularen Kräfte zu bändigen und die prolo-beziehungsweise frühstaatliche Welt der werdenden Neuzeit durch eine Idee neu zu ordnen und zu einen. Diese Idee selbst allerdings, also das universelle Kaisertum über ein einheitlich römisch-katholisches Christenheitseuropa, ist heute längst anachronistisch. Realistisch gesehen, war sie das bereits im 16. Jahrhundert 12• An der Diskrepanz zwischen Idee und Realpolitik ist Karl tragisch gescheitert. Wichtiger noch als dieser europa-geschichtliche Zusammenhang erscheint mir aber eine zweite, revisionistische Überlegung: Die im 19. Jahrhundert und auf weiDaher haben wir uns in den bald fünfundzwanzig Jahren meiner Regierungszeit leidenschaftlich und enthusiastisch an der Aufgabe zur Errichtung Europas beteiligt, ohne dabei unsere Bande zu den Völkern lberoamerikas zu vernachlässigen, in denen die Völkergemeinschaft auf besondere Weise deutlich wird, welche die westliche Zivilisation darstellt. Die Konsolidierung des Buropagedankens in unserer Zeit, eine der fruchtbarsten Schöpfungen des 20. Jahrhunderts, ist untrennbar mit dem Recht verbunden. Wie zutreffend angemerkt wurde, ist die Europäische Union vor allem eine Rechtsgemeinschaft, die arn Gemeinwohl orientiert ist und in dem Prinzip der Rechtmäßigkeit sowie in den Werten des Rechts, der Freiheit und der Solidarität verwurzelt ist. Ein wesentlicher Ausdruck dieses Denkens ist die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einer Initiative des Europarats, die sich gerade zum fünfzigsten mal jährt und als zivilisatorischer Faktor ein entscheidendes Instrument bei der Errichtung Europas darstellt. Das Jubiläum Karls V., zu dessen Zeit sich Europa ausdehnte und zugleich erfolglos versuchte, seine Spaltungen zu überwinden, ist ein ausgezeichneter Augenblick, um all jenes zu unterstreichen, was uns als Europäer eint, und dasjenige zu proklamieren, was uns unlösbar mit dem Schicksal der übrigen Menschheit verbindet, und dies zunächst gegenüber den Völkern, die Teil unserer Zivilisation sind. Nach Einführung der einheitlichen Währung wird diese Perspektive durch die Erweiterung der Europäischen Union auf andere Länder dieses Kontinents, wenn überhaupt, gestärkt, indem die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prinzipien der Union erneuert werden. Die europäische Familie soll in den Worten von Ortega y Gasset weiterhin ,eine Vielzahl von Bienen, aber ein einziger Bienenstock' bleiben. Hierzu muss der wirtschaftliche Integrationsprozess, welcher von den Griindern der Gemeinschaft ausgehend von der scharfsinnigen Intuition Jean Monnets postuliert wurde, notwendigerweise gestärkt und auf der Ebene politischer Institutionen gestärkt werden." (offizielle dt. Übersetzung des spanischen Redetextes nach Acto academico con motivo de Ia Conmemoraci6n del V Centenarios del Nacimiento del Emperador Carlos V, Palabras de S. M. EL REY, Santa Iglesia Catedral Primada de Toledo el jueves 5 de octubre de 2000, Oficina de Informaci6n Diplomatica, 7). 12 Vgl. dazu Heinz Schilling, Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250 bis 1750 (Siedler Geschichte Europas, 3), Berlin 1999.

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ten Strecken des 20. Jahrhunderts dominante protestantische Interpretation der deutschen Geschichte im späten Mittelalter und im 16. Jahrhundert hat so etwas wie einen Luther- und Reformationsmythos erzeugt, der die historisch-politische Kultur Deutschlands bis in die Gegenwart prägt, und zwar nach 1989 stärker noch als in denfünfzigerund sechziger Jahren 13 . Spiegelbildlich dazu wurden die Gegner der Reformation negativ bewertet. Neben den Päpsten ist davon vor allem Karl V. betroffen, den bereits die protestantischen Zeitgenossen als Knecht oder gar Bluthund des Papstes beschimpften 14. Darüber hinaus wurde ihm im Vergleich zu dem ,,religiösen Heros" Luther immer wieder Religiosität im eigentlichen Sinne abgesprochen, weil er theologisch uninteressiert und religiös ein Traditionalist gewesen sei. Nachdem die konfessionelle Totalkonfrontation längst überwunden ist, sollte es anläßlich seines fünfhundertsten Geburtstages möglich sein, die spezifische Religiosität Karls von Gent zu würdigen. Als Kaiser wie als Christenmensch folgte er ebenso seinem Gewissen, wie das der Wittenberger Mönch tat. Dieses Gewissen war allerdings anderer Art, nämlich gleichsam kollektiv auf seine Vorfahren und deren Glauben bezogen, nicht individualistisch und subjektivistisch wie im Falle Luthers. Jedenfalls galt 1521 in Worms jenes bereits erwähnte "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen", das im historischen Bewußtsein nur Luther zum Verdienst gerechnet wird, für beide - frir den Kaiser ebenso wie für den Mönch. Und auch in der Kirchenpolitik war Karl V. - recht gesehen - alles andere als ein Päpsteknecht Im Gegenteil, er hat den widerstrebenden Päpsten die Reformpolitik geradezu abgerungen. Er war somit "der eigentliche Vater des Trienter Konzils"15. Ihm hat somit der reformierte und konfessionalisierte Katholizismus viel zu verdanken. Und dieser tridentinische Katholizismus hat das neuzeitliche Europa nicht weniger nachhaltig mitgeprägt als die Reformation und die protestantischen Konfessionskirchen. Max Weber, so meine ich, hat also nicht recht, wenn er die Entstehung der modernen Welt ausschließlich auf Luther und die Protestanten zurückführt. Auch der Katholizismus und Kaiser Karl V. hatten Anteil daran.

13 Ausführlich hierzu und zum folgenden Heinz Schilling, Reformation - Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Reformes ? in: Bernd Moeller (Hrsg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 199), Gütersloh 1998, 13-34, und demnächst ders. L' Europe des eglises, in: Micheie Dumoulin (Hrsg.), Europa, Antweq>en 2001. 14 So der Harnburger Bürgermeister Matthias Reder in bezug auf Karls V. Verhalten im Schmalkaldischen Krieg: Des Bürgermeister Mattbias Reders Harnburger Chronik von 1534-1553, abgedruckt in: J. M. Lappenberg (Hrsg.), Harnburgische Chroniken in niedersächsischer Sprache, Harnburg 1861, 321-339, hier 332. 15 Schulin, Kar! V. (Anm. 4), 20.

Grafschaft und Großmacht Mindermächtige Reichsstände unter dem Schutz des Reiches oder Schachfiguren im Wechselspiel von Großmachtinteressen: Der Weg der Grafschaft Teekienburg vom gräflichen Territorium zur preußischen Provinz* Von Harm Klueting, Köln

Einleitung Wer nach 1967 in der damaligen Bundesrepublik Mittlere und Neuere Geschichte studierte und sich für die damals aufblühende Geschichte der Frühen Neu-

* Der Verfasser konnte 1981 bei Gelegenheit eines monatelangen Aufenthaltes im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien (nachfolgend: HHStA) neben diesen seiner Kölner Habilitationsschrift dienenden Forschungen auch die Wiener Akten zum Teckienburger Erbstreit (HHStA, RHR, Decisa 472, 563, 564; Kleinere Reichstände 518) einsehen. Über die Ergebnisse gab er in einem Vortrag in Teekienburg am 11. November 1981, der unveröffentlicht blieb, Auskunft. Nach ergänzender Aktendurchsicht im damaligen Zentralen Staatsarchiv der DDR, Dienststelle Merseburg (ZStA) -jetzt befinden sich die Akten im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (nachfolgend: GStA) -, im Sommer 1986 (ZStA bzw. GStA, Rep. 1; Rep. 96 D) wurde die Sache am ~-Juni 1988 in einem wiederum in Teekienburg gehaltenen Vortrag und zuletzt in einem Vortrag an der Universität Osnabrück am 11. Januar 1996 noch einmal aufgegriffen. Auch diese Vorträge blieben ungedruckt. Siehe jedoch die knappen Skizzen zum Teckienburger Erbstreit bei Harm Klueting, Geschichte Westfalens. Das Land zwischen Rhein und Weser vom 8. bis zum 20. Jahrhundert, Paderbom 1998, 161 f.; ders., Das Reich und Österreich 1648-1740 (Historia profana et ecclesiastica, 1), Münster 1999, 119 f. Dieses monographische Werk ist eine verbesserte Neufassung eines umfangreichen Aufsatzes unter demselben Titel, erschienen in: Wilhelm Brauneder I Lothar Höbelt (Hrsg.), Sacrum Imperium. Das Reich und Österreich 996-1806, Wien 1996 (dort 162287). - Neben den Überlieferungen im HHStA Wien und im GStA Berlin finden sich Archivalien zur Grafschaft Teekienburg u. zum Teckienburger Erbstreit im Fürstlich zu BentheimTeckienburgischen Archiv Schloß Rheda in Rheda-Wiedenbrück (nachfolgend: FA Rheda), im Fürstlich zu Bentheim-Steinfurtschen Archiv Schloß Burgsteinfurt in Steinfurt, im Fürstlichen Archiv Solms-Braunfels Schloß Braunfels in Braunfels bei Wetzlar (nachfolgend: FA Braunfels), im Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv Münster (nachfolgend: StA Münster) und im Niedersächsischen Staatsarchiv Osnabrück (nachfolgend: StA Osnabrück). Heranzuziehen ist auch das Archiv des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises (Kreisarchiv) im Nordrhein-Westfalischen Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (nachfolgend: HStA Düsseldorf). Zu Teckienburger Archivalien im Fürstlichen Archiv Solms-Braunfels siehe Horst Conrad, Die Teckienburger und Rhedaer Archivalien im Fürstlichen Archiv Solms-Braunfels, in: Archivpflege in Westfalen und Lippe H. 52 (2000), 14-16. Zu den Teckienburger Beständen im

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zeit 1 interessierte, hörte in Vorlesungen und Seminaren einerseits vom "Frühmodernen Staat"2 , erlebte aber andererseits eine Abkehr vom Staat als Paradigma. Hatte der Geschichtsunterricht im Gymnasium in einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen noch im Zeichen und unter den Nachwirkungen Johann Gustav Droysens und der kleindeutsch-horussischen Schule gestanden und für die Zeit nach 1648 das Bild vom Absterben des Reiches und vom Aufstieg des brandenburg-preußischen Staates vermittelt, so wurden dem jungen Studenten oder der Studentin nun plötzlich Landstände3 wichtiger als fürstliche Behörden oder gar Kriege4 • Vor allem erschien das Alte Reich in neuer Sicht. 1967 hatte Karl Otmar Freiherr von Aretin seine Göttinger Habilitationsschrift "Heiliges Römisches Reich 1776- 1806" veröffentlicht 5 und damit entscheidend zu dieser Neubewertung des Alten Reiches6 beigetragen, was eine Vielzahl von Forschungen und Veröffentlichungen zur Reichsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts nach sich zog7 . Dabei war Aretins Sicht nicht eigentlich neu, sondern nahm die Tradition der großen Reichsstaatsrechtslehrer des späteren 17. und des 18. Jahrhunderts- Samuel von Pufendorf, Johann Jakob Maser, Johann Jakob Schmauß, Johann Stephan Pütter- auf. MitPütterund Pufendorf beschrieb Aretin das Reich nach 1648 als StA Münster Wilfried Reininghaus (Bearb.), Territorialarchive von Minden, Ravensberg, Tecklenburg, Lingen und Herlord (Veröffentlichungen der Staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, A: Inventare staatlicher Archive. Das Staatsarchiv Münster und seine Bestände, 5), Münster 2000. 1 Dazu grundsätzlich llja Miede, Die Friihe Neuzeit. Definitionsproblerne, Methodendiskussion, Forschungstendenzen, in: Nada Boskovska Leimgrober (Hrsg.), Die Friihe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge, Paderbom 1997, 17- 38; Anette Völker-Rasor (Hrsg.), Friihe Neuzeit, München 2000. 2 Die Debatte ging aus von Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des friihrnodemen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969. 3 Hier ging die Debatte aus von Dietrich Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-lnstituts für Geschichte, 27), Göttingen 1969. 4 Der Verfasser erinnert sich als damaliger Hörer der Vorlesung ,,Absolute Monarchie und Ständewesen. Problerne der deutschen Geschichte im 18. Jahrhundert", die Rudolf Vierhaus im Sommersernester 1969 an der Ruhr-Universität Bochurn hielt, deutlich der Gespräche unter interessierten Kommilitonen, die hier einer anderen als der aus der Schule gewohnten Perspektive gewahr wurden. Auf der Grundlage dieser Vorlesung später Rudolf Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (Deutsche Geschichte, hrsg. von Joachim Leuschner, 6 =Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1439), Göttingen 1978. 5 Karl Otmar Freiherr von Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, 2 Tle. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, 38), Wiesbaden 1967. 6 Anton Schindling, Kaiser, Reich und Reichsverfassung 1648-1806. Das neue Bild vorn Alten Reich, in: Olaf Asbach/Klaus Malettke/Sven Externbrink (Hrsg.), Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert (Historische Forschungen, 70), Berlin 2001, 25-54. 7 Literaturiibersicht bei Klueting, Reich und Österreich (Anrn. *), 7-17.

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ein System verbündeter Glieder ungleichen Rechts ohne einen Träger allumfassender Gewalt im Sinne des Rodinsehen Souveränitätsbegriffs. Das Reich war für ihn kein Bundesstaat und besaß keine föderalistische Ordnung, weil die Territorien der Reichsstände mehr waren als autonome Provinzen. Doch erschien das Reich bei ihm auch nicht als Staatenbund, weil auch die großen Reichsstände nicht souverän waren. So charakterisierte Aretin das Reich als eine auf der Ungleichheit der Glieder beruhende, hierarchisch bestimmte Privilegienordnung, die als Friedensordnung und Bestandsgarantie der Glieder wirkte8 • In seinem Werk "Das Alte Reich 1648-1806", der Summe seiner Forschungen zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, betonte Aretin 1993, daß Deutschland nach 1648 entgegen der im Westfatischen Frieden angelegten Tendenz - und entgegen der Prognose Pufendorfs von 1667 - nicht in eine Anzahl größerer Staaten zerfiel. "Tatsächlich blieb Deutschland in einem Reich zusammen, in dem der kleinste Reichsritter ungefährdet neben einem größeren Land existieren konnte. Ungefährdet war dessen Existenz allerdings nur, weil es das Reich, den Kaiser und die Verfassungsorgane des Reiches gab"9 . Aretins Erklärung dafür lautete, daß die "föderalistischen Tedenzen" des Westfeilischen Friedens zur Umwandlung des Reiches in einen Staatenbund größerer Territorialstaaten, die sich nach und nach um die Gebiete der dann schutzlosen kleineren Reichsstände arrondiert hätten, nach 1648 verhindert und die "hierarchischen Strukturen" des Reiches gefestigt wurden10• "Der Kaiser blieb der Schutzherr der kleinen, mindermächtigen Fürsten, der Grafen, der Reichsritterschaft und der Reichsstädte" 11 . Bald aber wurde deutlich, daß die neue Sicht des Reiches, so wichtig sie war, nur die eine Seite sein konnte, neben der Macht 12 und Machtstaat auch für die deutsche Staatenwelt des späteren 17. und des 18. Jahrhunderts sich nicht zu einem Phantasiegebilde preußisch-kleindeutscher Historiker älterer Schule reduzieren ließen. Hierher gehörte die Einsicht, daß das Reich, trotz der Rolle des Kaisers als des Protektors der kleinen Reichsstände, kein Naturschutzpark zur Pflege und zum Erhalt kleiner Reichsgrafschaften, Reichsstädte oder reichsritterlicher Herrschaftsgebiete war. Dazu trug Aretin selbst ebenso bei 13 wie der Blick darauf, daß der s Aretin, Heiliges Römisches Reich (Anm. 5), Bd. 1, 7-109, hier bes. 7-11. Ders., Das Alte Reich 1648-1806, Bd. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung 1648-1684, Stuttgart 1993,9. Der 2. und der 3. Band erschienen 1997. w Ebd., 27, 34. 11 Ebd., 34. Siehe auch ders., Reichssystem, Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht, in: ders., Das Reich. Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht 1648-1806, Stuttgart 1986,55-75. 12 Hann Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der ,politischen Wissenschaft' und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert (Historische Forschungen, 29), Berlin 1986. 13 U. a. Karl Otmar von Aretin, Tausch, Teilung und Länderschacher als Folge der europäischen Gleichgewichtspolitik Die polnischen Teilungen als europäisches Schicksal, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 30 (1981), 53-68, wieder in: ders., Das Reich (Anm. 11), 434-448. 9

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Westfälische Frieden dem Kaiser als Landesherrn der österreichisch-böhrnischen Länder Möglichkeiten einräumte, die weit über die allen anderen Reichsständen garantierten Rechte hinausgingen und den Kaiser als Landesfürsten als Hauptgewinner des Westfalischen Friedens erscheinen lassen 14. Hinzu kam die Erkenntnis, in welchem Maße die Reichspolitik der Kaiser seit 1648 unter dem Primat erbländischer Politik bzw. österreichischer Großmachtpolitik stand und den Interessen des Hauses Österreich diente 15, was auch für die Italienpolitik Josephs I. 16 zwisehen 1705 und 1711 betont wird 17 und hinter der "Preisgabe der Reichsinteressen"18 zugunsten der Großmacht Österreich in der Zeit Karls VI. sichtbar wird. Unübersehbar war aber auch jene Grundstruktur dynastischer Politik in der Frühen Neuzeit, die Johannes Kunisch schon 1979 hervorhob: "Neben der ständigen Bereitschaft, sich auf Kosten anderer zu bereichern, ist in besonderem Maße auch die Verfassungsstruktur der monarchischen Fürstenstaaten ein Faktor gewesen, der den ,esprit de partage' begünstigte. Denn ebenso, wie die dynastischen Staatsgebilde dieser Zeit durch Heirat und Erbschaft zusammengefügt wurden, konnten sie im Falle strittiger Erbansprüche auch wieder aufgeteilt werden. Die einzige Klammer war die Dynastie" 19• Ein gutes Beispiel und zugleich ein Indikator für das Verhältnis von "Kaiser und Reich" und für diese Grundstruktur der Politik in der Frühen Neuzeit ist der Erbstreit um die Grafschaft Tecklenburg, an dessen Ende der Übergang Tecklenburgs an Preußen stand20• Die Vorgeschichte des Kaufs der Grafschaft Teekienburg durch

14

Klueting, Reich und Österreich (Anm. *), 22.

1s Ebd., 127. 16 Dazu Karl Otmar von Aretin, Kaiser Joseph I. zwischen Kaisertradition und österreichischer Großmachtpolitik, in: Historische Zeitschrift 215 (1972), 529-606, wieder in: ders., Das Reich (Anrn. 11), 255- 322; ders., Der Heimfall des Herzogturns Mailand an das Reich im Jahre 1700, in: Gedenkschrift Martin Göhring, hrsg. von Ernst Schulin (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, 50), Wiesbaden 1968, 78-90, wieder in: ders., Das Reich, 241- 254; ders., Reichsitalien von Kar! V. bis zum Ende des Alten Reiches. Die Lehnsordnungen in Italien und ihre Auswirkungen auf die europäische Politik, in: ders., Das Reich, 76-163, zuerst u.d.T.: Die Lehnsordnungen in Italien im 16. und 17. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf die europäische Politik, in: Hermann Weber (Hrsg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Abt. Universalgeschichte, Beiheft 8 =Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, 2), Wiesbaden 1980, 53- 80. 17 Volker Press, Josefl. (1705-1711)- Kaiserpolitik zwischen Erblanden, Reich und Dynastie, in: Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für Karl Otrnar Freiherr von Aretin zum 65. Geburtstag, hrsg. von Ralph Melville, 2 Bde. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, 134), Stuttgart 1988, Bd. 1, 277-297, hier 288 f. Siehe auch ders., Kriege und Krisen. Deutschland 1600-1715 (Die Neue Deutsche Geschichte, 5), München 1991, 464; Klueting, Reich und Österreich (Anrn. *), 109f. 18 Press, Kriege und Krisen (Anrn. 17), 472. 19 Johannes Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik. Zur Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus (Historische Forschungen, 15), Berlin 1979, 75.

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Preußen reicht bis in das 16. Jahrhundert zurück, wobei die Grundstruktur der Politik des dynastischen Fürstenstaates auch hier begegnet: Heirat und Erbschaft und strittige Erbansprüche und in ihrer Folge die Aufteilung von Territorien, was sich mit verwickelten dynastischen Verwandtschaftsfragen, mit der Konkurrenz von Reichshofrat und Reichskammergericht, mit dem Streit um die oranische Erbschaft, mit dem beginnenden preußisch-österreichischen Gegensatz und mit der Politik Kaiser Karls VI. um die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion von 1713 verband. Die Grafen von Teekienburg und die Grafen von Bentheim-Teekienburg Der letzte Graf von Teekienburg aus dem Haus Schwerin, der seine gesamten Besitzungen und Rechte uneingeschränkt ehelich geborenen Söhnen vererben konnte, war der 149621 - nach fehlerhaften Angaben 1508- gestorbene Graf Nikolaus III. 22• Von seinen beiden Söhnen erhielt der ältere, Otto IX. (VII.)23 , 1498 die zwischen den Hochstiften Münster und Osnabrück gelegene - erst dadurch auf dieses Gebiet reduzierte - Grafschaft Teekienburg mit der Burg Tecklenburg, den Orten Tecklenburg, Lengerich, Lienen, Ladbergen, Ledde, Lotte, Kappein und Wersen und dem Zisterzienserinnenkloster Leeden sowie dem Kreuzherrenkloster Osterberg und die Herrschaft Rheda am Oberlauf der Ems mit der Burg Rheda, den Orten Rheda und Gütersloh, dem Benediktinerinnenkloster Herzehrock und dem Prämonstratenserstift Clarholz24• Für den jüngeren, Nikolaus IV., wurde die 2o Zur Grafschaft Teekienburg August Karl Holsche, Historisch-topographisch-statistische Beschreibung der Grafschaft Teekienburg nebst einigen speciellen Landesverordnungen mit Anmerkungen als ein Beytrag zur vollständigen Beschreibung Westphalens, Berlin I Frankfurt am Main 1788, Nachdruck Osnabrück 1975; Bernhard Gertzen, Die alte Grafschaft Teekienburg bis zum Jahre 1400 (Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, 71), Münster 1939; Friedrich Ernst Hunsche, Geschichte des Kreises Teckienburg, in: Der Kreis Teckienburg, Stuttgart/ Aalen 1973, 64-104; Wolfgang Leesch (Hrsg.), Schatzungs- und sonstige Höferegister der Grafschaft Teekienburg 1494 bis 1831 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, XXX: Westfälische Schatzungs- und Steuerregister, 4), Münster 1974. 21 Manfred Wolf, Die Entstehung der Obergrafschaft Lingen, in: Westfälische Zeitschrift 140 (1990), 9-29, hier 13. 22 Zu Genealogie Hunsche, Geschichte (Anm. 20), 101 -104; Harm Klueting, Das fürstliche Haus Bentheim-Teckienburg. Eine Familiengeschichte in Bildern. Münster 1993, 9 f. Die Bezeichnung "Haus Schwerin" hängt damit zusammen, daß der 1328 gestorbene Graf Otto IV. (V.) keine legitimen Kinder hinterließ, so daß mit ihm die Grafen von Teekienburg aus dem Hause Bentheim-Holland ausstarben. Sein Erbe trat sein Neffe Nikolaus I. an, der älteste Sohn seiner Schwester R.ichardis, die mit dem Grafen Gunzelin (Günzel) von Schwerin verheiratet war. 23 Die unterschiedliche Zählung rührt daher, daß bei Hunsche, Geschichte (Anm. 20), nur die ,,regierenden" Namensträger seit dem 12. Jahrhundert gezählt werden, bei Klueting, Fürstliches Haus (wie Anm. 22) aber alle nachgewiesenen Namensträger. Auch die Zählung als Otto VIII. kommt vor.

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Grafschaft Lingen abgeteilt, die sich seit 1548, seit dem Übergang des beide Landesteile trennenden Kirchspiels Schale an Tecklenburg25 aus der Niedergrafschaft Lingen26 mit Lingen an der Ems als Hauptort und aus der Obergrafschaft Lingen27 um lbbenbüren und Brochterbeck zusammensetzte 28. Nikolaus IV. starb 1541, womit Lingen an die Hauptlinie des Tecklenburger Grafenhauses, den Sohn Konrad seines 1534 gestorbenen Bruders Otto IX. (VII.), zurückfiel. Doch blieb die Wiedervereinigung Lingens mit Teekienburg Episode. Nikolaus IV. hatte sich 1528 durch Lehnsaufttagung der Grafschaft Lingen an den Herzog von Geldern, Karl von Egmont, den Unwillen Kaiser Karls V. zugezogen, der nach dem Tod Karls von Egmont 1538 im Geldeischen Erbfolgekrieg und im Vertrag von Venlo von 1543 den Verzicht Herzog Wilhelms des Reichen von Jülich-Kleve-Berg auf Geldem erreichte und Geldem seinem burgundisch-niederländischen Hausbesitz zuschlug29. Als Graf Konrad von Teekienburg als Erbe Nikolaus IV. den Lehnsempfang Lingens von Karl V. als neuem Herzog von Geldem verweigerte - für ihn war Lingen lediglich ein Amt der Grafschaft Teekienburg- und 1544 durch den Statthalter des Kaisers im Herzogtum Geldem zum Lehnsempfang für Lingen aufgefordert wurde, den Lehnseid aber weiterhin verweigerte 30, übertrug sich der Unwille des Reichsoberhauptes in gesteigertem Maße auf Konrad von Tecklenburg, der als erster Landesherr Westfalens für die Reformation optiert und 1527 in der Schloßkapelle seiner Residenz Rheda lutherischen Gottesdienst eingeführt hatte31 • Zu Beginn des Schmalkaldischen Krieges ließ Karl V. den Statthalter von Friesland und Overijssel, Maximilian Egmont Graf von Büren, militärisch gegen Konrad von Teekienburg vorgehen, der im November 1546 vom Kaiser in die Reichsacht und seiner Besitzungen für verlustig erklärt wurde, die Karl V. dem Grafen von Büren übertrug. Ein von dem Kölner Kurfürst-Erzbischof Adolf III. von Schaumburg und 24 Karte 2: Politische und administrative Gliederung um 1590, bearb. v. Wolfgang Leesch, in: Geschichtlicher Handatlas von Westfalen, hrsg. v. Provinzialinstitut für Westfälische Landes- und Volksforschung, Lfg. 1, Münster 1975. 25 Wolf, Entstehung (Anm. 21), 28. 26 Heute zu Niedersachsen. 27 Heute wie die Grafschaft Teekienburg zu Nordrhein-Westfalen. 2s Karte 2 (Anm. 24).

29 Hann Klueting, Das Konfessionelle Zeitalter 1525-1648 (UTB, 1556), Stuttgart 1989, 98; Paul Heidrich, Der geldrische Erbfolgekrieg 1537-1543, Kassel 1896; Franz Petri,

Landschaftliche und überlandschaftliche Kräfte im habsburgisch-kievischen Ringen um Geldem und im Frieden von Venlo (1537 -1543), in: Aus Geschichte und Landesgeschichte. Festschrift Franz Steinbach, Bonn 1960, 92-113. 30 Dazu Wolf, Entstehung (Anm. 21), 26. 31 Klueting, Geschichte Westfalens (Anm. *), 114; Alois Schröer, Die Reformation in Westfalen. Der Glaubenskampf einer Landschaft, Bd. 1, Münster 1979, 184-198; Robert Stupperich, Westfalische Reformationsgeschichte. Historischer Überblick und theologische Einordnung (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 9), Bietefeld 1993, 61 ff.; Friedrich Große-Dresse/haus, Die Einführung der Reformation in der Grafschaft Teckienburg, Diss. Münster 1918; Ernst Friedländer (Hrsg.), Die Kirchenordnung der Grafschaft Teekienburg vom 24. August 1543, Münster 1870.

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dem Grafen Wilhelm von Nassau vermittelter Vertrag zwischen dem Grafen von Büren und dem Grafen von Teekienburg vom Jahre 1548 bewahrte diesen vor dem völligen Verlust seiner Lande, doch mußte er damit auf die Grafschaft Lingen, mit Ausnahme des Kirchspiels Schale, zugunsten des Grafen von Büren verzichten32, die den Grafen von Teeidenburg und ihren Nachfolgern, den Grafen von Bentheim, für immer verlorenging 33 . Graf Otto IX. (VII.) von Teeidenburg hatte drei Söhne, von denen Konrad als ältester schon zehn Jahre vor dem Tod seines Vaters, 1524, die Verwaltung der Herrschaft Rheda übernahm, um 1534 dessen Nachfolge auch in Teekienburg anzutreten. Seine Brüder Otto und Nikolaus waren unverheiratete Geistliche. Von Konrads sechs Schwestern heiratete die älteste, Anna, den Grafen Philipp von Solms-Braunfels. Konrad von Tecklenburg34 heiratete 1527 Mechthild (Mathilde) von Hessen, eine Tochter des Landgrafen Wilhelm I. von Hessen und Kusine des Landgrafen Philipp. Das einzige Kind aus dieser Ehe, Anna von Tecldenburg, heiratete 1553 den Grafen Everwin III. von Bentheim. Dadurch gingen die Grafschaft Teeidenburg und die Herrschaft Rheda nach dem Tod des 1558 gestorbenen Grafen Konrad an das Bentheimer Grafenhaus über. Der 1554 geborene Sohn Everwins III. und Annas von Tecklenburg, Graf Amold II. (IV.)35 von Bentheim36, vereinigte aufgrund seiner 1573 mit Magdalena von Neuenahr eingegangenen Ehe in seiner Hand den bentheimischen, den tecklenburgischen und bedeutende Teile des neuenahrischen Besitzes, nämlich die Grafschaften Bentheim, Steinfurt, Teekienburg und Limburg37 sowie die Herrschaften Rheda, Wevelinghoven38, Helpenstein39, Gronau40 und Alpen41 sowie die beiden Ämter Freudenberg und Uchte in der Grafschaft Hoya, die Amold II. 1575 bzw. 1582 als hessische Lehen erworben hatte42 • Wolf, Enstehung (Anm. 21), 27 f. Hans-Joachim Behr; Der Verlust der Herrschaft Lingen und die Bemühungen der Tecklenburger Grafen um ihre Rückgewinnung, in: Emsland/Bentheim 4 (1988), S. 7-44. Siehe auch Johann Caspar Möller; Geschichte der vormaligen Grafschaft Lingen von den ältesten Zeiten bis aufunsere Tage, Lingen 1874. 34 Hans Richter; Konrad von Teckienburg, in: Westflilische Lebensbilder 3 (1934), 175194; Rudolf Rübesam, Konrad von Teekienburg (1501-1557). Ein Lebensbild des letzten Teckienburger Grafen, Phi!. Diss. Münster 1928. 35 Der Graf wird in Bentheim als Amold II., in Steinfurt als Amold IV. und in dem von seiner Mutter Anna von Teekienburg ererbten Teekienburg und Rheda als Amold I. gezählt. 36 Rudolf Rübel, Graf Amold von Bentheim-Steinfurt, in: Westfälische Lebensbilder 9 32 33

(1962), 18-33. 37 Limburg an der Lenne aus neuenahrischem Besitz. 38 Kurkölnische Unterherrschaft unter der Landeshoheit der Kurf"ürsten von Köln in der Nähe von Neuß am Niederrhein. 39 Aus der neuenahrischen Erbschaft stammende kurkölnische Unterherrschaft bei Neuß. 40 Münsterische Unterherrschaft. 41 Aus der neuenahrischen Erbschaft stammende kurkölnische Unterherrschaft am Niederrhein. 42 Klueting, Fürstliches Haus (Anm. 22), 27-29.

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Graf Amold II. von Bentheim führte in seinen Ländern zwischen 1587 und 1597 nach und nach das Reformiertenturn ein, das er für sich persönlich schon 1573 und 1575 für den gräflichen Hof angenommen hatte43 . Nach dem Tod Amo1ds II. 1606 wurde der Territorialbesitz unter die fünf Söhne Adolf, Amold Jobst, Wilhelm Heinrich, Friedrich Ludolf und Konrad Gumprecht aufgeteilt, wobei Adolf Teddenburg und Rheda erhielt und die Linie BentheimTecklenburg- auch: Bentheim-Tecklenburg-Rheda- begründete, während Amold Jobst Bentheim bekam und Wilhelm Heinrich Steinfurt erbte. Friedrich Ludolf wurde der Erbe seines Vaters in Alpen, Konrad Gumprecht in der Grafschaft Limburg44. Nachdem dessen Linie mit dem Tod seines Sohnes Wilhelm 1626 erloschen und Limburg an Bentheim-Teekienburg gefallen war, vererbten sich die beiden Grafschaften Teekienburg und Limburg45 und die Herrschaft Rheda46 über den Sohn des Grafen Adolf, Moritz (t 1674), dessen kinderlosen älteren Sohn Johann Adolf (t 1704) und dessenjüngeren Bruder Friedrich Mauritz (t 1710) bis auf dessen Sohn Moritz Casimir 1., der 1701 aus der Ehe des Grafen Friedrich Mauritz 43 Harm Klueting, Die refonnierte Konfessions- und Kirchenbildung in den westfälischen Grafschaften des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die refonnierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der ,,Zweiten Reformation" (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 195), Gütersloh 1986, 214-232, hier 222-227; J. F. Gerhard Goeters, Die Reformation in der Grafschaft Bentheim und die Entstehung der reformierten Landeskirche, in: Refonniertes Bekenntnis in der Grafschaft Bentheim 1588-1988 (Das Bentheimer Land, 114), Bad Bentheim 1988, 61-111; ders., Die Bentheim-Tecklenburgische Kirchenordnung von 1588 und die Moerser Kirchenordnung von 1581, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 35 (1986), 75 -92; Wilhelm H. Neuser, Die Spanier "unter meinem Haus Teekienburg im Dorf Lengerke". Graf Amold zu Bentheim-Tecklenburg erläßt eine neue Kirchenordnung, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 82 (1989), 168 -185; Thomas RohmlAnton Schindling, Tecklenburg, Bentheim, Steinfurt, Lingen, in: ders. /Walter Ziegler (Hrsg.), Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, Bd. 3: Der Nordwesten (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 51), 2. Aufl. Münster 1995, 182- 198; Georg Schmidt, Die zweite Reformation in den Reichsgrafschaften. Konfessionswechsel aus Glaubensüberzeugung oder aus politischem Kalkül?, in: Meinrad Schaab (Hrsg.), Territorialstaat und Calvinismus (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, B 127), Stuttgart 1993, 97-136 (u. a. auch Bentheim u. Tecklenburg). 44 Klueting, Fürstliches Haus (Anm. 22), 16 f. 45 Zu Limburg Harm Klueting, ,,Daß sie ein Abspliß von der Grafschaft Mark ist, daran ist kein Zweifel": Die Grafschaft Limburg vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Mit einem Exkurs über die Anfänge der Freiheit Limburg, in: Jahrbuch des Vereins für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark [Witten] 93 I 94 (1995), 63- 126; ders., Ständewesen und Ständevertretung in der westfälischen Grafschaft Limburg im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur territorialen Verfassungsgeschichte Deutschlands in der Frühneuzeit, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 70 (1976), 109-201. 46 Zu Rheda Harm Klueting, Ständebildung ohne Ritterschaft. Die Klöster Marienfeld, Clarholz und Herzehrock als Landstände der Herrschaft Rheda, in: Johannes Meier (Hrsg.), Clarholtensis Ecclesia. Forschungen zur Geschichte der Prämonstratenser in Clarholz und Lette (1133 - 1803) (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte, 21), Paderborn 1983, 235-256.

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von Bentheim-Teckienburg mit der Gräfin Christiane Marie zu Lippe-Brake hervorging47.

Die Grafen von Bentheim-Teekienburg und die Grafen von Solms-Braunfels im Streit um Tecklenburg: 1577 bis 1686 Die Schwester des Grafen Konrad von Teckienburg, die 1554 gestorbene Anna - ihre mit dem Grafen Everwin III. von Bentheim verheiratete gleichnamige Nichte lebte bis 1582 - hatte bei ihrer Eheschließung mit dem Grafen Philipp von Solms-Braunfels im Jahre 1534 gegen einen Brautschatz von 6.000 Goldgulden auf ihre Rechte an Teekienburg unter der Voraussetzung verzichtet48, daß ihre Geschwister nicht ohne Leibeserben sterben würden. Dieser Fall trat nicht ein, weil ihr Bruder Konrad von Teekienburg über seine Tochter Anna und aus deren Ehe mit Everwin III. von Bentheim Leibeserben hatte. Philipp von Solms leistete 1535 eine schriftliche Bestätigung dieses Verzichts49. Konrad von Teekienburg blieb von den 6.000 Goldgulden 2.000 Goldgulden schuldig und mußte sich 1536 zur Verzinsung dieser Schuld mit jährlich 100 Goldgulden, also mit 5 Prozent, verpflichten50. Am 22. Juni 1536 bestimmten Philipp von Solms und sein Vater Bemhard die Reichsstadt Köln zum Zahlungsort der ausstehenden Summe und beauftragten den Sekretär Johann Lieberich, die Gelder in Köln in Empfang zu nehmen und darüber zu quittieren51 . Am 26. Juni 1536 quittierte Johann Lieberich als Bevollmächtigter des Grafen von Solms dem Grafen Konrad von Teekienburg über 4.000 Goldgulden Bargeld und 2.000 Goldgulden als Schuldverschreibung52. Dennoch focht der Sohn Philipps von Solms und Annas von Teckienburg, Graf Konrad von Solms-Braunfels, Herr zu Münzenberg, 1577 den Erbverzicht seiner Mutter an53 , erhob Klage vor dem Reichskarnrnergericht in Speyer gegen Graf Amold II. von Bentheim und dessen Mutter Anna von Teckienburg, Witwe des Grafen Everwin III. von Bentheim, und verlangte einen Anteil an der Hinterlassenschaft seines Klueting, Fürstliches Haus (Anm. 22), 17 f. FA Rheda, E (Rheda) Urk. 160: 1534 Aug. 7: Heiratsvertrag zwischen Philipp Graf von Solms, Sohn des Grafen Bemhard von Solms, und der Gräfin Anna, Tochter des Grafen Otto von Teekienburg und der Irmgard, geborene Gräfin von Rietberg; dasselbe FA Braunfels, Akten A 46,7; auch erw. HHStA, RHR, Decisa 563, Bll. 4r-26r: 1701 März 25: Aktenmäßige Anzeige des Sachverhalts aus der Sicht des Klägers; dasselbe HHStA, RHR, Decisa 472. 49 Erwähnt ebd. 50 FA Rheda, E (Rheda) Urk. 166: 1536 April2. 51 FA Rheda, E (Rheda) Urk. 167: 1536 Juni 22. 52 FA Rheda, E (Rheda) Urk. 168: 1536 Juni 26. 53 Johann Jacob Moser, der im 18. Jahrhundert die Vorgänge kommentierte, nannte irrtümlich das Jahr 1576, vgl. Johann Jacob Moser. Von der Teutschen Justiz-Verfassung(= ders., Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 8 in 3 Tle.) Frankfurt am Main/Leipzig 1774, Nachdruck Osnabrück 1967, dort Bd. 8, TL 1, 2. Hälfte, 950-954 (2. Buch, 31. Kap.,§ 16). 47

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Großvaters, des Grafen Otto IX. (VII.) von Tecklenburg54. Er begründete seine Klage damit, daß seine Mutter Anna von Tecklenburg, wie ihr Bruder Konrad von Tecklenburg, von ihrem Vater, Graf Otto IX. (VII.), zur Miterbin deklariert und die Erbschaft daher beiden zu gleichen Teilen zugefallen sei. Konrad von Teekienburg sei ein "usurpator sororiae hereditatis" gewesen; der Sohn der um ihren Erbanteil geprellten Gräfin Anna klage also zu Recht gegen die Erben Konrads von Teekienburg auf Herausgabe des Erbteils "cum fructibus perceptis et percipiendis"55 • Der Prozeß zog sich lange hin. 1590 wurden etliche Zeugen vernommen, darunter der paderbornische Kanzler lic. iur. Laurenz Sibelius, der gräflich waldeeidsehe Rat Dr. iur. Joachim Buxtorf, der Rhedaer Pastor Hermann Beventrup, der Rentmeister zu Rheda Johann Andreas Lautz, der Bürgermeister Johann Bunge zu Rheda und etliche andere Personen56. Erst am 13. Dezember 1686 erging das Urteil des Reichskammergerichts in Speyer gegen den Grafen Johann Adolf von BentheimTecklenburg, wonach Graf Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels als Erbe und Rechtsnachfolger des Klägers von 1577 drei Achtel der Grafschaft Teekienburg und drei Achtel der Herrschaft Rheda erhalten sollte57 • Mit dieser Entscheidung des Reichskammergerichts war der Erbstreit aber noch nicht beigelegt. Das Reichskammergericht konnte seine Urteile nicht selbst vollstrecken. Seit der Reichsexekutionsordnung von 155558 war das, wenn "die execution wider einen churfürsten, fürsten oder standt, geystlichen oder weltlichen, [ ... ] beschehen solt"59, eine Aufgabe der Kreisobristen bzw. der Direktoren der Reichskreise60• Die drei Direktoren des Niederrheinisch-Westfalischen Reichskreises, zu dem die Reichsgrafschaft Teekienburg gehörte, waren der Fürstbischof von Münster, Maximilian Heinrich von Bayern, und nach dessen Tod 1688 Friedrich Christian von Plettenberg, der Herzog von Jülich, Pfalzgraf Philipp Wilhelm von 54 RKG-Prozeßakten im StA Münster, vgl. Günter Aders I Helmut Richtering (Bearb.), Gerichte des Alten Reiches. Reichskammergericht Reichshofrat, 3 Tie. (Das Staatsarchiv Münster und seine Bestände, 21 1-3), Münster 1966-1973, Nr. 5360 u. Nr. 5361. Prozeßschriften, Urkundenkopien, Korrespondenzen, Rechtsgutachten u. andere Aktenstücke zu diesem RKG-Prozeß FA Braunfels, Akten A 46.7-9; FA Rheda, E (Rheda) Akten P 244-277, bes. P244-257. 55 HHStA, RHR, Decisa 563 u. 472: 1701 März 25 (Anm. 48). S6 Aders/Richtering, Gerichte des Alten Reiches (Anm. 54), Nr. 5360. 57 FA Braunfels, Akten A 47.1; erwähnt HHStA, RHR, Decisa 563 u. 472 (Anm. 48). 58 Zum Verhältnis von Reichsexekutions- und Reichskammergerichtsordnung Adolf Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 3), Köln/Wien 1976, 22 f. Text der RKGO von 1555 mit der Exekutionsordnung ebd., 55-280; Kar[ Zeumer (Bearb.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. Aufl. Tübingen 1913, Nr. 190 (371-388). Siehe auch ebd., Nr. 189, 347-361 u. 361 f. S9 Laufs, RKGO (Anm. 58), 270: Tl. ill, Tit. XLIX § 3; Zeumer, Quellensammlung (Anm. 58), Nr. 190,386 f. 60 Tl. m, Tit. XLVill § 8: Laufs, RKGO (Anm. 58), 267; Zeumer, Quellensammlung (Anm. 58), Nr. 190,385.

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Neuburg, und nach dessen Tod 1690 Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz, und der Kurfürst von Brandenburg als Herzog von Kleve, Friedrich Wilhelm, und nach dessen Tod 1688 Friedrich III. 61 . Mit der Exekution der Reichskammergerichtsurteile durch die Kreisobersten oder Kreisdirektoren konnten die politischen Interessen der Kreisdirektoren in die Sache hineinspielen und deren Ausgang beeinflussen. So konnte es geschehen, daß ein Rechtsstreit nach dem Urteilsspruch des Reichskammergerichts größere Dimensionen als vor dem Urteil annahm und zu einem Streit um politische Gegensätze und schließlich zu einer Machtfrage wurde. So war es auch in der Tecklenburger Angelegenheit. Der Kurfürst von Brandenburg, der Streit um die oranische Erbschaft und der zweite Reichshofratsprozeß wegen Tecklenburg: 1694 bis 1700 1694 ergriff einer der drei Kreisdirektoren, Kurfurst Friedrich III. von Brandenburg, die Partei des Grafen Johann Adolf von Bentheim-Tecklenburg. In seiner Deklaration vom 4./ 14. Dezember 1694 heißt es, daß das 1686 zugunsten des Grafen Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels ergangene Urteil "durch gantz unzulässige Mittel und Corruption des Referenten"62 zustandegekommen sei. Das Urteil könne daher "in keine Weise vor eine rechtskräfftige Urtheil", sondern müsse "vielmehr ipso jure vor null und nichtig gehalten werden"63 • Er, der Kurfürst, werde "sich des Gräfl[ichen] Hauses Bentheim Tecklenburg, alß welches durch solche vermeinte Urtheil zum höchsten graviret worden, hierunter nachtrücklieh annehmen und durch alle diensame Recommendationes und Officia wie durch andere zureichende Mittel verhüten und abwenden wollen, daß ermeltes Gräfliches Hauß durch solches nichtige Urtheil keineswegs verkürtzet oder in Schaden gesetzet, sondern vielmehr bey dem ihme darwieder zustehenden Rechte und habender Befugnis wieder männiglich gebührend geschützet und mainteniret werde"64. Im Laufe der nächsten zwei Jahre nahm die brandenburgische Politik in der Tecklenburger Angelegenheit aber eine bedeutsame Wendung. 1696 unterstützte Kurfürst Friedrich III. statt des Grafen von Bentheim-Teekienburg den Grafen von Solms-Braunfels65 • Was war zwischenzeitig geschehen? Die 1693 aufgenommenen Verhandlungen mit Kaiser Leopold I., an deren Ende der Krontaktrat vom 16. November 1700 und die preußische Königswürde vom 18. Januar 1701 standen, spielten hier keine Rolle. Der Kaiser, mit dem der Kurfürst seit 1686 verbündet war, war vor der Anrufung des Reichshofrates noch nicht in die Tecklenburger Sache 61 Zum Niederrheinisch-Westfa1ischen Reichskreis Winfried Dotzauer; Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998, 297-333. 62 HHStA, RHR, Decisa 563; Abschrift HHStA, Kleine Reichsstände 518. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 FA Braunfe1s, Akten A 46.9-10 u. A 47.1.

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involviert. Außerdem kamen die Verhandlungen in Wien erst voran, nachdem England und die Niederlande im Juni 1699 I März 1700 mit Frankreich den Teilungsvertrag über Spanien geschlossen und den Kaiser zum Beitritt aufgefordert hatten66. Die Deklaration Friedrichs III. von 1694 trägt die Kontrasignatur Eberhards von Danckelman, der seit 1688 als Wirklicher Geheimer Staats- und Regierungsrat der leitende Minister des Kurfürsten von Brandenburg war. Danekelman stammte aus Lingen und könnte private Interessen in der Grafschaft Teekienburg gehabt haben67. Doch wurde er erst 1697 entmachtet, entlassen und verhaftet68 . Der Sturz Danckelmans kann die Wendung der brandenburgischen Politik hinsichtlich Tecklenburgs somit nicht erklären. Am 26. Oktober 1696 kam der Vertrag zwischen Kurfürst Friedrich III. und Graf Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels zustande69 . Der Kurfürst versprach, "erstlich in Güte das Haus [Bentheim-JTecklenburg zur Satisfaktion bewegen, event[ueliJ aber auch die kaiserlichen Exekutionsmandate, selbst ohne der Mitdirectoren Hülfe, zur Ausführung zu bringen und das gräfliche Haus Solms bei dem adjudicirten Lande etc. behaupten zu wollen"70. Als Gegenleistung trat Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels "alle Rechte und Anspruche, so ihm aus dem ihn als Miterben des weiland Graf Otto von Teekienburg anerkennenden Reichskarnmergerichtsurtheil vom 13. December 1686 zukommen können, lediglich die Grafschaften TeekIenburg und Rheda ausgenommen", an den Kurfürsten ab71 , dem er insbesondere "seine Anspruche auf die Grafschaft Lingen" überließ72• Überdies sagte der Graf von Solms zu, falls er in den Besitz der Grafschaft Teekienburg gelangen sollte, diese dem Kurhaus Brandenburg als Mannlehen auftragen zu wollen73 . Mit dieser Vereinbarung wird deutlich, daß es dem Kurfürsten von Brandenburg gar nicht um die Grafschaft Teekienburg oder um seine Pflichten und Rechte als Mitdirektor des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises ging, sondern um die 66 Klueting, Reich und Österreich (Anm. *}, 87; Bemhard Erdmannsdörffer; Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1648 1740, 2 Bde., Berlin 1892/93, Nachdruck der Ausgabe 1932, Dannstadt 1974, Bd. 2, 117 f.; Alfred Francis Pribram, Oesterreich und Brandenburg 1688-1700, Prag/Leipzig 1885, 122 ff. 67 Johannes Schultze, Eberhard Dancke1man, in: Westfälische Lebensbilder 4 (1930), 162-179. 68 Kurt Breysig, Der Prozeß gegen Eberhard von Danckelman. Ein Beitrag zur brandenburgiseben Verwaltungsgeschichte (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, 8/4) Leipzig 1889. 69 Theodor von Moemer (Hrsg.), Kurbrandenburgs Staatsverträge von 1601 bis 1700, Berlin 1867, Nachdruck Berlin 1965, 625-627: Nr. 400. Original: FA Braunfels, Urk. 1696 Okt. 26; siehe auch FA Braunfels, Akten A 41.1. 1o Ebd., 626, § 3. 71 Ebd., § 4. n Ebd., § 5. 73 Ebd., 626 f., § 7. Diese Lehnsaufttagung kam tatsächlich zustande: FA Braunfels, Urk. 1700 Juli 31: Tecklenburger Lehnsurkunde Kurfürst Friedrichs III. für Solms.

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seit dem 16. Jahrhundert von Teekienburg abgeteilte Grafschaft Lingen. Der Streit zwischen den Grafen von Bentheim-Teekienburg und den Grafen von SalmsBraunfels wurde damit in den Streit um die oranische Erbschaft hineingezogen. Die 1546 dem Grafen von Büren übertragene Grafschaft Lingen war nach dessen Tod von den Vormündern seiner Tochter, der später mit Wilhelm von Oranien verheirateten Anna von Büren, an Karl V. verkauft worden. Karl V. hatte Lingen 1555 mit den Niederlanden seinem Sohn Philipp II. überlassen, womit Lingen ein Teil der habsburgischen Niederlande wurde. 1578- ein Jahr vor der Union von Utrecht von 1579- schenkte Philipp II. von Spanien Lingen Wilhelm von Oranien, dessen Besitz Wilhelms Sohn Moritz von Oranien, der Statthalter von Holland und Seeland, 1597 sichern konnte. Trotz der spanischen Besatzung zwischen 1605 und 1632 blieb die Grafschaft Lingen seitdem Hausbesitz des Hauses Nassau-Oranien74. Der 1647 gestorbene Statthalter von Holland, Seeland, Utrecht, Geldem und Overijssel, Friedrich Heinrich, auch er ein Sohn Wilhelms von Oranien, hatte für den Fall des Aussterbens des Hauses Nassau-Oranien seine Tochter Louise Henriette als Universalerbin eingesetzt, was aber im Widerspruch zu den alten nassauischen Erbverträgen von 1472 stand, die Töchter von der Erbfolge ausschlossen. Louise Henriette war seit 1646 mit dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg verheiratet und die Mutter Kurfürst Friedrichs III. Der Enkel des Statthalters Friedrich Heinrich, Wilhelm Heinrich, seit 1672 Statthalter von Holland und Seeland und seit 1689 als Wilhelm III. König von England, Schottland und Irland, war seit 1677 kinderlos verheiratet mit Maria, der Tochter Jakobs II., des durch die Revolution von 1688 seines Thrones verlustig gegangenen letzten englischen und schottischen Königs aus dem Hause Stuart. Mit Wilhelms III. Tod im Jahre 1702 starb das Haus Nassau-Oranien aus, so daß Kurfürst Friedrich III., seit 1701 als Friedrich I. König "in Preußen", als ältester Sohn der Louise Henriette die reichen und von Südfrankreich bis in die Niederlande und nach Norddeutschland verstreuten oranischen Hausbesitzungen als Erbschaft seiner Mutter erwarten konnte. In Nordwestdeutschland gehörten die Grafschaft Lingen und die Grafschaft Moers am Niederrhein zum oranischen Erbe. Doch erhoben neben dem Kurfürsten von Brandenburg auch Fürsten aus anderen Linien des weitverzweigten Hauses Nassau Anspruche auf das oranische Erbe, was in den ersten Jahren des Spanischen Erbfolgekrieges zu einem Politikum wurde. Wilhelm III. von Oranien ließ den Kurfür74 Ludwig Remling (Hrsg.), Im Bannkreis habsburgischer Politik. Stadt und Herrschaft Lingen im 15. und 16. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Lingener Geschichte, 1), Bielefeld 1997; Karl-Klaus Weber, Die Grafschaft Lingen und die Oranier 1550-1580, in: Osnabrücker Mitteilungen 102 (1997), 35-63; Rudolfine Freiin von Oer, Oranien-Nassau und die Grafschaft Lingen, in: Horst Lademacher (Hrsg.), Onder den Oranje boom. Textband. Dynastie in der Republik. Das Haus Oranien-Nassau als Vermittler niederländischer Kultur in deutschen Territorien im 17. und 18. Jahrhundert, München 1999,257 -262; W. Wilhelm Cramer, Geschichte der Grafschaft Lingen im 16. und 17. Jahrhundert besonders in wirtschaftskundlicher Hinsicht (Veröffentlichungen des Provinzial-Instituts für Landesplanung, Landesund Volkskunde in Niedersachsen an der Universität Göttingen, 5), Oldenburg i. 0. 1940.

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sten von Brandenburg stets in dem Glauben, daß er mit der Anerkennung seiner Rechte auf den oranischen Hausbesitz rechnen könne. Tatsächlich dachte und handelte Wilhelm III. ganz anders. Schon 1695 hatte er in einem geheimen Testament den Fürsten Johann Wilhelm Friso von Nassau-Dietz zum Erben eingesetzt, der zum Begründer des heutigen niederländischen Königshauses Oranien-Nassau wurde75. Nachdem die Nachricht von dem Testament Wilhelms III. durchgesickert war, machte sich der Kurfürst von Brandenburg in seinen Bemühungen um die Sicherung der oranischen Erbschaft die Teckienburger Angelegenheit zunutze. Es ging der brandenburgischen Seite darum, die Grafen von Bentheim-Teekienburg und die Grafen von Solms-Braunfels gegeneinander auszuspielen und dadurch den Verzicht beider Grafenhäuser, die alte Rechte auf Lingen hätten anmelden können, zu erreichen. So konnte der Kurfürst hoffen, wenigstens Lingen als Teil des oranischen Erbes halten zu können. Hier hat der Vertrag Friedrichs III. mit Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels vom 26. Oktober 1696 seinen ,Sitz im Leben'. So wird die Wendung der brandenburgischen Politik in der Teckienburger Sache zwischen 1694 und 1696 verständlich. Währenddessen hatte Graf Johann Adolf von Bentheim-Teekienburg gegen das Reichskammergerichtsurteil von 1686 um ,,restitutionem in integrum" gebeten und angeführt, daß es "per corruptiones expracticiret" worden sei. Durch Sentenz vom 30. Oktober 1696 wurde er abgewiesen, woraufhin er das "beneficium revisionis reservatio tarnen omnibus aliis beneficiis" ergriff. Auch wurde er bald danach bei Kurmainz und beim Reichshofrat sowie beim Reichskammergericht vorstellig. Das Reichskammergericht wies jedoch die Gravamina als "unstatthaft, widerrechtlich und unerheblich" ab. Am 29. Oktober 1697 wurde das Mandat "de exequendo", ohne Kenntnis des Grafen, an die Direktoren des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises erteilt. Am 18. August 1698 sprachen deren Subdelegierte dem Grafen von Solms-Braunfels drei Achtel von Teekienburg und Rheda zu76, womit das Reichskammergerichtsurteil von 1686 bestätigt wurde. Unabhängig davon zeichnete sich zwischen den beiden Grafenhäusern bald eine andere Regelung ab. Im Vergleich von Lengerieb vom 17. I 27. Juli 1699 einigten sich Graf Johann Adolf von Bentheim-Teekienburg und Graf Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels - in Abänderung des Reichskanunergerichtsurteils von 1686 darauf, daß Solms drei Viertel der Grafschaft Teekienburg und ein Viertel der Herr75 Erdmannsdör.ffer, Dt. Geschichte (Anm. 66), Bd. 2, 173 f.; Sirnon Groenveld, Beiderseits der Grenze. Das Familiengeflecht bis zum Ende der ersten oranisch-nassauischen Dynastie 1702, in: Lademacher (Hrsg.), Onder den Oranje boom (Anm. 74), 139-156; Klaus Vetter, Oranien-Nassau und die Hohenzollern im 17./18. Jahrhundert. Zur Charakterisierung einer Beziehung ebd., 213-224; Horst Lademacher (Hrsg.), Oranien-Nassau, die Niederlande und das Reich. Beiträge zur Geschichte einer Dynastie (Niederlande-Studien, 13), Münster 1995. 76 Nach HHStA, RHR, Decisa 563 u. 472: 1701 März 25 (Anm. 48). Zum Fortgang bis zu 1699 FA Braunfe1s, Akten A 47.2-47.4.

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schaft Rheda erhalten sollte77 . Am 14. September 1699 kam ein weiterer Vergleich zwischen den Grafen zustande, mit dem ein Vorkaufsrecht jeder der beiden Seiten auf den Anteil der jeweils anderen an Teekienburg und Rheda vereinbart wurde78. Im September 1699 schaltete sich aber auch Brandenburg wieder ein. Am 15. I 25. September 1699 schloß der Kurfürst einen Vertrag mit Graf Johann Adolf von Bentheim-Teekienburg und mit dessen Sohn Johann August79, mit dem nun auch diese beiden ihre Rechte an Lingen dem Kurfürsten von Brandenburg überließen 80, was sich aber nur auf die Niedergrafschaft Lingen bezog. Bezüglich der Obergrafschaft Lingen versprach der Kurfürst für den Fall des Erwerbs der Grafschaft Lingen, den Grafen von Bentheim-Teekienburg die Obergrafschaft Lingen als Lehen überlassen und sie in deren Besitz schützen zu wollen81 . Am 21. Mai 1700 schloß Friedrich III. einen ähnlichen Vertrag mit Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels, mit dem dieser erneut zugunsten Brandenburgs auf seine Rechte an Lingen verzichtete82. Wie wichtig dem Kurfürsten der Verzicht beider Grafenhäuser auf ihre Ansprüche an diesem Teil der oranischen Erbschaft war, zeigt sich daran, daß Friedrich III. am 19. Juni 1700 erneut einen Vertrag schloß83 , worin er den Grafen Johann Adolf und Johann August von Bentheim-Teckienburg für den Verzicht auf Lingen eine Reihe von Vorteilen - u. a. für den jungen Grafen Johann August den Charakter eines Kammerherrn mit 1.000 Talern Gehalt - in Aussicht stellte und ihnen seine Unterstützung "in causa Solms" und die Überlassung eines Teils der Obergrafschaft Lingen als Lehen "una cum annexa superioritate territoriali et immedietate" zusagte84, nachdem er mit dem Grafen von Solms-Braunfels nur vier Wochen vorher den bereits erwähnten Vertrag geschlossen hatte.

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Abschrift HHStA, RHR, Decisa 563; Extractus HHStA, Kleine Reichsstände 518.

78 Abschr. HHStA, RHR, Decisa 563; Extractus HHStA, Kleine Reichsstände 518. Gegen

einen weiteren Vergleich des Grafen Johann Adolf von Bentheim-Teddenburg mit dem Grafen von Solms-Braunfels vom l. Dezember 1699 protestierte Johann Adolfs Sohn Johann August am 4. April 1700, FA Rheda, E (Rheda) Urk. 962. 79 Johann August, der Sohn aus der zweiten Ehe Graf Johann Adolfs mit Charlotte Landgräfin von Hessen-Kassel, einer Tochter des Landgrafen Friedeich von Hessen-Kassel zu Eschwege und Witwe des Herzogs August von Sachsen-Weißenfels, starb vor seinem Vater (t1704) im Jahre 1701. Aus der ersten Ehe Johann Adolfs waren nur Töchter hervorgegangen~ Nachfolger Johann Adolfs wurde 1704 sein Bruder Friedeich Mauritz, Klueting, Fürstliches Haus (Anm. 22), 18. 80 Moemer; Kurbrandenburgische Staatsverträge (Anm. 69), 655: Nr. 429. 81 Ebd., § 2. Vom 2./12. November 1699 datiert ein Rechtsgutachten der Juristenfakultät der Universität Rinteln zu dem Rechtsstreit So1ms-Braunfels ./ . Bentheim-Tecklenburg, FA Rheda, E (Rheda) Urk. 955. 82 Moemer; Kurbrandenburgische Staatsverträge (Anm. 69), 666: Nr. 437. 83 Ebd., 666-668: Nr. 438a. Extractus HHStA, Kleine Reichsstände 518. 84 Im Gegensatz zu dem Vertrag vom 15./25. September 1699 bezog sich das jetzt nur noch auf etwa die Hälfte der Obergrafschaft Lingen, nämlich auf zwei der vier Kirchspiele, vgl. ebd., 667.

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Angesichts dieses Doppelspiels des Kurfürsten wundert man sich nicht, daß sich die beiden Grafen, trotz ihrer Abmachungen im Vertrag von Lengerieb vom Juli 1699, nicht einig werden konnten. So reichte Graf Wilhelm Moritz von SolmsBraunfels im Jahre 1700 beim Reichskammergericht, das seit 1689 in Wetzlar saß, eine Klage gegen Graf Johann Adolf von Bentheim-Teckienburg ein85, womit der Teckienburger Erbstreit ein zweites Mal am Reichskammergericht anhängig wurde.

Der Prozeß vor dem Reichshofrat und der Kauf der Grafschaft Teekienburg durch Preußen: 1701 bis 1710 Mit dem Jahr 1701 trat die Auseinandersetzung um Teekienburg in eine neue Phase ein, doch spielte die Königskrönung des Kurfürsten von Brandenburg dabei ebensowenig eine Rolle wie der Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges. Am 1. Februar 1701 protestierten Johann Adolf und Johann August von Bentheim-Tecklenburg gegen ein preußisches fait accompli, die im Einverständnis mit SolmsBraunfels erfolgte preußische Besitznahme der Grafschaft Teckienburg86. Am 15. April 1701 starb der noch nicht regierende Graf Johann August von BentheimTeckienburg87, der Sohn des erst 1704 gestorbenen Grafen Johann Adolf. Damit wurde der jüngere Bruder Johann Adolfs, Friedrich Mauritz, der seit dem Teilungsvertrag der Brüder von 1681 in der Grafschaft Limburg saß88, zu seinem Nachfolger auch in Rheda und Teckienburg89. Im März 1701 nahm Friedrich Mauritz vor dem anderen der beiden hohen Reichsgerichte, dem Reichshofrat in Wien, einen neuen Prozeß gegen Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels um Teekienburg aufXl. Bereitsam 14. Oktober 1701 erlangte Friedrich Mauritz die Citation- Ladung"ad videndum vindicari et revocari Comitatum Teckienburgensem" an SolmsBraunfels91 . Eilig versicherte sich der Kurfürst, inzwischen König Friedrich 1., 85 Aders/Richtering, Gerichte des Alten Reiches (Anm. 54), Nr. 5362 u. 5363; FA Braunfels, Akten A 47.4-47.7. 86 1701 Februar 1: FA Rheda, E (Rheda) Urk. 970. Schon am 10. Dez. 1700 hatte die Gräflich zu Bentheim-Tecklenburgische Regierung zu Teekienburg gegen solmsische und brandenburgische Eingriffe protestiert, ebd., Urk. 969. 87 Das Sterbedatum bei Hunsche, Geschichte (Anm. 20), 104. 88 1681 März 13: FA Rheda, E (Rheda) Urk. 800. 89 Am 14. Juni 1701 überließ Johann Adolf seinem Bruder Friedrich Mauritz die Grafschaft Tecklenburg, FA Rheda, E (Rheda) Urk. 975, 976 u. 980; am 19. August 1701 trat er ihm auch die Herrschaft Rheda ab, FA Rheda, E (Rheda) Urk. 985 u. 986. 90 Vom 25. März 1701 datiert die umfangreiche Aktenmäßige Anzeige des Sachverhalts aus der Sicht des Klägers, HHStA, RHR, Decisa 563, Bll. 4'-26', dasselbe RHR, Decisa 472 (Anm.48). 91 HHStA, RHR, Decisa 563. Akten zum RHR-Prozeß 1701 ff. FA Rheda, E (Rheda) Akten P 258-260; FA Braunfels, Akten A 47.8 u. 47.12. Siehe auch: An/Die Römische Kayserliche I auch zu Rungarn und Boheim I Königliche Majestät I Allerunterthänigste Duplicae I fori declinatoriae I In Sachen I Bentheim-Tecklenburg-Hohen-/ Limburg I Contra I Solms-

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durch einen Vertrag vom 12. November 1701 vorsorglich auch der Rechte des Grafen Friedrich Mauritz an Lingen92, wobei diesem jetzt die seinem Bruder und Neffen noch vorbehaltenen zwei Kirchspiele der Obergrafschaft Lingen nicht mehr zugestanden wurden, sondern lediglich für den Eventualfall das Drostenamt in der Grafschaft Lingen. Vom gleichen Tag datiert die Deklaration Friedrichs I. Dieser riet dem Grafen Friedrich Mauritz, der eigens nach Berlin gekommen war, wegen seines Verfahrens vor dem Reichshofrat zu einer gütlichen Übereinkunft mit dem Hause Solms, erklärte aber zugleich, dem Recht seinen Lauf lassen zu wollen93 . Als Wilhelm III. wenige Monate später, am 19. März 1702, in London starb, war die oranische Erbschaft eröffnet; Lingen wurde von Preußen besetzt. Mit seiner Klage vor dem Reichshofrat machte Graf Friedrich Mauritz von Bentheim-Teekienburg von den Möglichkeiten Gebrauch, die die konkurrierende Gerichtsbarkeit der beiden Reichsgerichte bot. Das Reichskammergericht94, das von den Reichsständen durch Matrikularbeiträge, die Karnmerzieler, unterhalten wurde und dessen zahlreiche Beisitzer von den Kurfürsten und den Reichskreisen präsentiert wurden, stand unter dem Einfluß der größeren Reichsfürsten, darunter der preußische König als Kurfürst von Brandenburg. Dagegen war der Reichshofrat95 eine den Reichsfürsten entzogene, ganz unter dem Einfluß des Reichsoberhauptes stehende kaiserliche Gerichtsbehörde, was der Westfalische Frieden (IPO Art. V, §§ 54, 55), ungeachtet der Visitation des Reichshofrates durch Kurmainz (IPO Art. V, § 56), und die Reichshofratsordnung von 165496 bestätigt hatten97 • Braunfelsz-Teekienburg I Praetensae Citationis ad videndum vindicari & revocari bona avita, die immediate Reichs-Graffschafft Teekienburg cum summo jure territoriali & Regalibus etc. betreffend. Mit Beylagen sub Nr. 1 biß 74 inclusive. o. 0. u. o. J. [vorhanden HHStA, RHR, Decisa 562]; Moser; Justiz-Verfassung (Anm. 53), 950. 92 Moerner; Kurbrandenburgische Staatsverträge (Anm. 69), 668: Nr. 438b; Victor Loewe (Hrsg.), Preussens Staatsverträge aus der Regierungszeit König Friedrich I. (Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven, 92), Leipzig 1923, 7; Extract HHStA, Kleine Reichsstände 518. 93 Abschrift HHStA, Kleine Reichsstände 518. Am 11. März 1702 riet Friedrich I. dem Grafen von Bentheim-Teckienburg abermals, von weiteren Prozessen gegen Solms-Braunfels abzulassen und eine Übereinkunft zu suchen, FA Rheda, E (Rheda) Urk. 996. Am 4. April 1702 übernahm er die Vermittlung zwischen den beiden Grafenhäusem, ebd., Urk. 997. 94 RudolfSmend, Das Reichskammergericht, Weimar 1911, Nachdruck Aalen 1965; Laufs, Reichskammergerichtsordnung (Anm. 58); Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 4), Köln/Wien 1976; Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 24), Köln I Weimar I Wien 1993; Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806. Katalog zur Ausstellung, hrsg. v. Ingrid Scheurmann, Mainz 1994. 95 Oswald von Gschließer; Der Reichshofrat Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte des ehemaligen Österreich, 33), Wien 1942. 96 Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates 1550-1766, 2 Tle. (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 8), Köln/Wien 1990, Tl. 2, 12 - 45: Text der RHRO vom 16. März 1654.

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Das Reichskammergericht war, neben seinen Aufgaben als Appellationsinstanz, erstinstanzlieh u. a. zuständig für Prozesse Reichsunmittelbarer wie der Grafen von Bentheim-Teckienburg und der Grafen von Solms-Braunfels gegeneinander. Der Reichshofrat hatte die ausschließliche Zuständigkeit für kaiserliche Rechte im Reich und für alle Reichslehnssachen, konkurrierte aber mit dem Reichskammergericht in seiner erstinstanzliehen Zuständigkeit für die Rechtsstreitigkeiten von Reichsständen und Reichsunmittelbaren 98 . Bereits am 28. Februar 1703 hob der Reichshofrat das Reichskammergerichtsurteil von 1686 auf: "Haben Ihro Kayserliche Majestät alle die von Dero Kayserlichen Cammer-Gericht in diser Sache [ . .. ]ergangene resp[ective] Sententiarn paritoriarn, Citation und Mandata, als schnurstracks wider Dero allerhöchste Jurisdiction, Autorität und Reservata lauffend, auch an sich selbst null und nichtig, aus Kayserlicher Macht Vollkommenheit völlig caßirt und aufgehoben"99• Das war eine schwere Niederlage des Grafen von Solms, der zwischenzeitig, 1702, das Reichskammergericht angerufen und einen Antrag auf Erlaß eines Mandats zur Sicherstellung seiner Ansprüche auf die Grafschaft Teekienburg gestellt hatte 100. Wie das Reichskammergericht, so bestritt auch Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels die Zuständigkeit des Reichshofrates in der Teckienburger Sache. Der Streit um Teekienburg wurde damit zu einem Gegenstand des Kompetenzstreites der beiden Reichsgerichte und des Streites um die sog. Prävention, nach der das zuerst angerufene Gericht zuständig war101 • Solms behauptete überdies für Teekienburg den Charakter einer Allodialherrschaft, berief sich auf die Reichskammergerichtsordnung von 1555 und den darin ausgesprochenen Vorbehalt des Kaisers bei "fürstenthumb, herzogthumb, graffschaft etc. [ . . . ], so vom reich zu Iehen rüren, so eynem theyl gentzlich und entlieh abgesprochen werden solten" 102, und schloß daraus auf die Unzuständigkeit des Kaisers und damit des Reichshofrates in der Teckienburger Sache 103 . Am 16. Juli 1703 beantragten das Reichskammergericht und arn 27. Juli 1703 der Graf von Solms-Braunfels beim Regensburger Reichstag ein Reichsgutachten 104, während die bentheim-teckienburgische Seite darauf beKlueting, Reich und Österreich (Anm. *), 34, 51. Wolfgang Sellert, Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, N.F. 4), Aalen 1965. 99 Moser, Justiz-Verfassung (Anm. 53), 951. 100 Aders I Richtering, Gerichte des Alten Reiches (Anm. 54), Nr. 5366. 101 Dazu auch Peter Moraw, Art. Reichshofrat, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, 630- 638, hier 635. 102 RKGO 1555, Tl. II, Tit. VII, Laufs, RKGO (Anm. 58), 177; Zeumer, Quellensammlung (Anm. 58), Nr. 190, 383. 103 Moser, Justiz-Verfassung (Anm. 53), 951. Siehe auch Reinhold Koser, BrandenburgPreußen in dem Kampfe zwischen Imperialismus und reichsständischer Libertät, in: Historische Zeitschrift 96 (1906), 193-242, hier 219. 104 Moser, Justiz-Verfassung (Anm. 53), 952. 97 98

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harrte, die Grafschaft Teeidenburg "sey eine unmittelbare, mit allen Regalien versehene, auch Siz und Stimm habende Reichs-Graffschafft, welche denen ReichsLehen gleich gehalten würden, worüber allein dem Kayser die Erkenntniß zustehe"105, so daß dem Kaiser und dem Reichshofrat auch die rechtliche Erkenntnis in der Tecklenburger Sache zustünde 106. Die gewählte und von Johann Jacob Moser wiedergegebene Formulierung spiegelt die Unklarheit der Abgrenzung von Reichslehen und Reichsallod 107 im Falle der Grafschaft Tecklenburg, die in der Reichsmatrikel von 1521 aufgeführt war108 und deren Inhaber zum Reichstag geladen wurde 109• Die Privilegienbestätigungen Friedrichs III. von 1475 110 und Karls V. von 1521 111 , mit denen die Privilegien und Rechte der Grafen, insbesondere das Münz- und Zollrecht und die hohe und niedere Gerichtsbarkeit, und der Rechtsstatus der Grafschaft Teeidenburg als einer freien Grafschaft, bestätigt wurden, scheinen für ein Reichsallod zu sprechen. So mag es auch Graf Konrad von Teeidenburg gesehen haben, wenn er, wie erwähnt, den Lehnsempfang für Lingen von Geldem mit dem Argument ablehnte, die Grafschaft Tecklenburg, "darin das Amt Lingen von alters je und allewege gehört", sei "des heiligen Reiches freie Grafschaft" 112 . Hans-Joachim Behr spricht Teeidenburg hingegen als Reichslehen an 113 und erwähnt einen Revers Konrads von Teeidenburg vom 2. Juni 1548, in dem dieser nach dem Verlust Lingens und der Rückgewinnung Tecklenburgs 114 versprach, "die verkleinerte Reichsgrafschaft vom Kaiser zu Lehen zu nehmen" 115 . Die mit Ebd. Memoriale,/ An/Die Hochlöbl[iche] Reichs-Versammlung/zu Regenspurg In Sachen I Fridrich Moritzen I Grafen zu Benth- I heim-Tecklenburg-Hohen-Limburg I Contra I Herrn Wilhelm Moritzen/Grafen zu/Solms-Braunfels/und dessen unterm 27. Juli 1703/ überreichtes Memoriale/Mit/Beylagen/Sub Num[ero] I biß Num[ero] XIX inclusive, wie auch/beygefügten wenigen Remarques. o. 0. u. o. J. [vorhanden HHStA, RHR, Decisa 562]. Dazu auch FA Braunfels, Akten A 47.8, dort auch die "Gründliche Refutation" des Grafen von Solms-Braunfels auf das ,,Memoriale". Gedruckte Memoralien zum Streit um Teeidenburg auch FA Rheda, E (Rheda) Akten P 277. Drucksachen auch FA Braunfels, Akten A 46.4,1-6. 107 Rüdiger Freiherr von Schönberg, Das Recht der Reichslehen im 18. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zu den Grundlagen der bundesstaatliehen Ordnung (Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts, A 10), Heidelberg I Karlsruhe 1977, 81 ff. 108 Zeumer; Quellensammlung (Anm. 58), 316: Deckelnburg. 109 Reichstag zu Speyer 1570: 1570 Febr. 1: FA Rheda, E (Rheda) Urk. 264. uo 1475 Sept. 19: FA Rheda, E (Rheda) Urk. 70; StA Münster, Tecldenburger Landstände (verloren, Nachweis nur durch Eintragung im Repertorium von 1884). 1ll 1521 März 12: FA Rheda, E (Rheda) Urk. 119; StA Münster, Gft. Tecldenburg, Urk. 387. 112 Bei Behr, Verlust der Herrschaft Lingen (Anm. 33), 9. Siehe auch oben bei Anm. 30. ll3 Ebd., 11, 18. ll4 Oben bei Anm. 32 u. 33. us Behr; Verlust der Herrschaft Lingen (Anm. 33), 21. Siehe auch StA Münster, Gft. Tecklenburg, Akten II, 2a (Belehnung des Grafen Konrad von Teekienburg durch den Kaiser, 1548). 10s

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Teekienburg verbundene Herrschaft Rheda war Lehen der Bischöfe von Münster116. 1705 bot König Friedrich I. die preußische Vermittlung zur Herbeiführung eines Vergleich zwischen Bentheim-Teckienburg und Solms-Braunfels an 117 . Eine ganz neue Lage trat jedoch ein, als der König mitten im Spanischen Erbfolgekrieg, an dem Preußen auf der Seite des Kaisers teilnahm, den Anteil des Grafen Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels an Teekienburg und Rheda für 250.000 Taler kaufte 118. Das bezog sich auf die 1699 im Vertrag von Lengerich 119 zwischen Bentheim-Teckienburg und Solms-Braunfels vereinbarten drei Viertel der Grafschaft Teekienburg und ein Viertel der Herrschaft Rheda. Das 1699 vereinbarte Vorkaufsrecht des Grafen von Bentheim-Teckienburg 120 fand dabei keine Beachtung. Deshalb steht heute in einschlägigen Nachschlagewerken, daß Teekienburg 1707 an Preußen fiel. Tatsächlich verschoben sich damit aber nur die Gewichte. An die Stelle des gleichrangigen und politisch gleich machtlosen Grafen von Solms-Braunfels trat nun als Prozeßgegner des Grafen Friedrich Mauritz von Bentheim-Teekienburg die junge preußische Monarchie 121 • In dem umfangreichen Reichshofratsgutachten vom 9./24. Dezember 1710122, das eine ausführliche Darlegung des Sachverhalts seit dem 16. Jahrhundert enthält, 116 Schon die Herren zur Lippe trugen ebenso wie später die Grafen von Teekienburg und die Grafen von Bentheim-Teekienburg Rheda von Münster zu Lehen, und zwar seit der Lehnsauftragung an Ludolf von Holte als Bischof von Münster: 1245 Jan. 19: Westfalisches Urkundenbuch, Bd. 3: Bistum Münster 1201 - 1300, Münster 1876, Nr. 431. Das Lehnsverhältnis zu Münster blieb bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts beibehalten (Lehnsbriefe u. a. 1458 Nov. 20: FA Rheda, E [Rheda] Urk. 61; 1468 Juni 26: ebd. Urk. 67; 1548 Nov. 1: ebd. Urk. 194; 1555 Mai 14: ebd. Urk. 214; 1565 Juli 9: ebd. Urk. 243, 1568 Juni 21: ebd. Urk. 256; 1613 April 9: ebd. Urk. 418; 1632 Jan. 5: ebd. Urk. 536; 1698 Nov. 24: ebd. Urk. 946; 1702 Jan. 24: ebd. Urk. 994; 1708 Nov. 16: ebd. Urk. 1074; 1711 Dez. 4: ebd. Urk. 1113; 1720 Juni 28: ebd. Urk. 1199; 1763 Juli 30: ebd. Urk. 1491; 1768 Nov. 5: ebd. Urk. 1550; zuletzt Maxirnilian Franz von Österreich, Kurfürst-Erzbischof von Köln, als Bischof von Münster: 1784 Okt. 2: ebd. Urk. 1728) und wurde noch nach der Säkularisation des Fürstbistums Münster von Preußen als Rechtsnachfolger 1805 für GrafMoritz Casirnir II. (1805 Juni 8: FA Rheda, E [Rheda] Urk. 3155) und 1806 für Graf Ernil Friedrich erneuert (1806 Aug. 30: ebd. Urk. 1957). Siehe auch StA Münster, Gft. Teckienburg, Akten II, 3 u. II, 4. 117 1705 September 27: Abschrift HHStA Wien, Kleine Reichsstände 518. Ähnlich schon 1702 (Anm. 93). 118 1707 März 9/19: Loewe, Staatsverträge Friedrich I. (Anm. 84), 83. Abschrift des Kaufbriefes FA Rheda, E (Rheda) Akten T 4. Akten zum Verkauf der Grafschaft Teekienburg FA Braunfels, Akten A 47.9. 119 Wie Anm. 77. 120 Wie Anm. 78. 121 Von den zeitgenössischen Druckschriften: Heinrich Henniges, Memoriale an die hochlöbliche Reichsversammlung zu Regensburg, die Grafschaft Teekienburg und deren dependentien betreffend. Mit Beylagen (Okt. 1708). [GStA, Rep. 96 D, Nr. 126]; Kurtze Vorstellung der Grafschaft Teekienburg betreffend (1709). [ebd., Nr. 137]. 122 HHStA, RHR, Decisa 563, Bll. 14'-29v. Conclusum 9. Dez. 1710, leeturn vero et approbatum24. Dez. 1710.

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wurde bemängelt, daß Graf Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels "sich unter allerhandt nichtigen praetexten darein [in die Grafschaft Tecklenburg] geschwungen und einen guthen theil davon, zusambt denen hohen Territorial- und Landesherrlichkeiten, in wircklichen besitz genommen" 123 hatte. Als rechtswidrig verwarf der Reichshofrat den Verkauf Tecklenburgs an Preußen: "So hat der impetrantische graff von [Solms-Braunfels-] Teckhlenburg unter dem 20. Junij 1707 die anzeig thun lassen, was maßen der nun gedachte graff von Solms bloß zu deß lmpetrantis mehrer bekranckhung [?] den widerrechtlichen entschluß gefasset, sein in der graffschafft Teckhlenburg vermeintlich habendes, annoch in lite befangenes recht und possession an den König in Preussen gegen eine Summam von 250.000 Rtlr. zu uberlassen und würcklich abzutretten" 124• Das Votum 125 kam zu dem Ergebnis, daß Preußen die Grafschaft Teekienburg gegen Erstattung des an Solms-Braunfels gezahlten Kaufpreises durch Bentheim-Teekienburg an dieses Grafenhaus restituieren solle, womit sich der Reichshofrat, eingedenk der "difficultät [ ... ] bey bekander concurrenz deß Kay[ser]l[ichen] Cammergerichts" 126, auf einen Vergleichsvorschlag des Grafen von Bentheim-Tecklenburg bezog 127 • Der Kaiser, der Reichshofrat und die Reichsexekution gegen Preußen: 1713 bis 1722 Die Jahre 1713 und 1714 stehen wieder für den Beginn einer neuen Phase der Auseinandersetzungen um Tecklenburg. Wahrend 1713 in Preußen der Herrscherwechsel von Friedrich I. zu Friedrich Wilhelm I. erfolgte, endete mit den Friedensschlüssen von 1713 und 1714 der Spanische Erbfolgekrieg. Danach ergaben sich neue politische Gruppierungen und Bündniskonstellationen 128 . Im Bentheim-Tecklenburgischen Grafenhaus war Graf Friedrich Mauritz schon 1710 gestorben. Sein Sohn und Nachfolger Moritz Casimir I. war 1713 jedoch erst zwölf.Jahre alt. An seiner Stelle führte seine Mutter, die Gräfin Christiane Marie, die Regentschaft 129• Im Reich und in Österreich war der für die folgenden Jahrzehnte entscheidende Herrscherwechsel 1711 mit dem Tod Kaiser Josephs I. eingetreten. Dessen jüngerer Bruder und Nachfolger, Kaiser Karl VI., verkündete acht Tage nach dem Abschluß des Friedens von Utrecht, am 19. April 1713, die seit 1711 123 124 125 126 127

Ebd., BI. 14v. Ebd., BI. 25vf. Ebd., BI. 26v-29v. Ebd., Bl. 28'. Ebd., Bl. 28v.

128 Max lmmich, Geschichte des europäischen Staatensystems 1660-1789 (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. li), München/Berlin 1905, Nachdruck Darrnstadt 1967,238-242,246-250. 129 1711 Jan. 20: Kaiser Joseph I. bestätigt die Gräfin Christiane Marie als Vormündeein ihres unmündigen Sohnes Moritz Casirnir, FA Rheda, E (Rheda) Urk. 1097.

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vorbereitete Pragmatische Sanktion 130, eine Primogeniturerbfolgeordnung, die in der hergebrachten Weise des europäischen Fürstenrechts die männliche Nachkommenschaft privilegierte, aber ein subsidiäres Erbrecht der Töchter kannte 131 • Karl VI. wollte damit seinen eigenen Nachkommen die Erbfolge vor den Nachkommen seines älteren Bruders sichern. Fehlte dem Kaiser ein männlicher Nachkomme, so trat nach dieser Ordnung der älteste weibliche Deszendent an dessen Stelle. Erst bei einem völligen Aussterben aller mäßnlichen und weiblichen Deszendenten Karls VI. sollte die Erbberechtigung der Nachkommen Josephs I. wieder aufleben. 1716 wurde dem Kaiser mit dem Erzherzog Leopold ein Sohn geboren, der aber nach einem halben Jahr starb. Mit dem Schwinden der Aussichten auf die Geburt eines weiteren Sohnes wurde die Pragmatische Sanktion zu einer Regelung der weiblichen Erbfolge zugunsten der 1717 geborenen einzigen Tochter Karls VI., Maria Theresia. Der Ausschluß von der Erbfolge galt den beiden Töchtern Josephs 1., Maria Josepha und Maria Amalia, von denen die erste 1719 den späteren Kurfürsten von Sachsen und König von Polen, August III. (Friedrich August II.), heiratete, während die zweite 1722 die Ehe mit dem späteren Kurfürsten Karl Albrecht von Bayern einging. In der Übergehung der Erbansprüche dieser Töchter Josephs I. und in der weiblichen Erbfolge lagen politische Probleme, die den Kaiser, der die Erfahrung des großen Krieges um das spanische Erbe gemacht hatte, die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion durch die Landstände seiner Länder, durch den Reichstag in Regensburg und durch die europäischen Mächte suchen ließ. Die Bemühungen begannen nach der Geburt Maria Theresias 1717. Seit 1720 stand die Sicherung der Pragmatischen Sanktion im Mittelpunkt der Politik Karls VI. 132, der der Kaiser alles andere unterzuordnen bereit war133• 1720 begann die Reihe der Anerkennungserklärungen der Pragmatischen Sanktion seitens der Landstände der Länder des Hauses Österreich, was sich bis 1725 hinzog 134• Die erste auswärtige 130 Gustav Turba (Hrsg.), Die Pragmatische Sanktion. Authentische Texte samt Erläuterungen und Übersetzungen, Wien 1913; ders., Die Grundlagen der Pragmatischen Sanktion, 2 Bde. (Wiener staatswissenschaftliche Studien, 10/2 u. 11/1), Leipzig/Wien 1911/12. 131 Allgemein Johannes Kunisch (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates (Historische Forschungen, 21), Berlin 1982. 132 Erdmannsdörffer; Dt. Geschichte (Anm. 66), Bd. 2, 376, 378-381; Press, Kriege und Krisen (Anm. 17), 475 f.; ders., Die Erblande und das Reich von Albrecht 11. bis Kar! VI. (1438-1740), in: Robert A. Kann/Friedrich E. Prinz (Hrsg.), Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, München/Wien 1980,44-88, hier 87 f. ; Hugo Hantsch, Die Geschichte Österreichs, 2 Bde., Graz/Wien/Köln 3./4. Auf!. 1959/62, Bd. 2, 100-103; Oswald Redlich, Das Werden einer Großmacht. Österreich von 1700 bis 1740, 3. Auf!. Brünn/München/Wien 1942, 320-349; Hanns Leo Mikoletzky, Österreich. Das große 18. Jahrhundert. Von Leopold I. bis Leopold II., Wien 1967, 109 ff. 133 Siehe auch Johannes Kunisch, Hausgesetzgebung und Mächtesystem. Zur Einbeziehung hausvertraglicher Erbfolgeregelungen in die Staatenpolitik des ancien regime, in: ders. (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat (Anm. 107), 49-80. 134 Die Anerkennungserklärungen der Landtage von Österreich ob und unter der Enns (1720) bis zur Lombardei (1725) bei Turba, Pragmatische Sanktion (Anm. 130), 94-200.

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Macht, die die Pragmatische Sanktion 1725 anerkannte, war Spanien 135 ; 1726 folgte Ruß1and 136. Die Bemühungen um die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion spielten ebenso in den Streit um Teekienburg hinein wie zuvor das Problem der oranischen Erbschaft. Besonders schwierig gestalteten sich die Bestrebungen Karls VI. um die Zustimmung Preußens zur Pragmatischen Sanktion137 , weil der Kaiser seine Autorität im Reich durch den Reichshofrat den Reichsfürsten und vor allem dem preußischen König gegenüber immer wieder in Erinnerung zu bringen suchte. Ein Hebel dazu war der Streit um Tecklenburg. Im Herbst 1715 fällte der Reichshofrat eine Entscheidung. Mit kaiserlichem Kommissionsdekret vom 29. Oktober 1715 wurde König Friedrich Wilhelm I. auferlegt, die Grafschaft Teekienburg an den Grafen von Bentheim-Teekienburg zurückzugeben, der jedoch, gemäß dem Votum von 1710138 , Preußen die 1707 an den Grafen von Solms-Braunfels gezahlten 250.000 Taler erstatten sollte 139. Das Kommissionsdekret bestellte König Georg I. von Großbritannien als Kurfürst von Hannover und Herzog August Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel zu Exekutoren, also Fürsten des Niedersächsischen Reichskreises, denen 1718 auch die Reichsexekution gegen Herzog Kar1 Leopold von Mecklenburg übertragen wurde140. Während die Gräfin Christiane Marie von Bentheim-Teekienburg mit dieser Lösung, die einem Rückkauf der Grafschaft Teekienburg gleichgekommen wäre, einverstanden war141 , protestierte der preußische König gegen das Verfahren vor dem Reichshofrat, den er für in der Sache unzuständig erklärte, und gegen die Einsetzung des Kurfürsten von Hannover und des Herzogs von Wolfenbüttel als Exekutoren, die von ihm die Abtretung der Grafschaft Teekienburg an das gräfliche Haus Bentheim-Teekienburg verlangten. Friedrich Wilhelm I. führte an, daß 1. Georg I. seines Wissens Vormund des unmündigen Grafen Moritz Casimir I. von Bentheim-Teekienburg und somit Partei sei, und daß 2. bei der Beauftragung Hannovers und Wolfenbüttels mit der Exekution die an sich zuständigen Direktoren des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises - Kurköln, Kurpfalz und Preußen -übergangen worden seien 142. Außerdem bemängelte er, daß der Reichshofrat nur 135 Grete Mecense.ffy, Karls VI. spanische Bündnispolitik 1725-1729. Ein Beitrag zur Österreichischen Außenpolitik des 18. Jahrhunderts, lnnsbruck 1934. 136 Walter Leitsch, Der Wandel der Österreichischen Rußlandpolitik in den Jahren 17241726, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F. 6 (1958), 33-91. 137 Zu den diplomatischen Bemühungen um die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion auch Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik (Anm. 19), 41-62. 138 Wie Anm. 125. 139 HHStA, RHR, Decisa 563. 140 Michael Hughes, Law and Politics in Eighteenth-Century Germany. The Imperial Aulic Council in the Reign of Charles VI (Royal Historical Society studies in history, 55), Woodbridge 1988. 141 1716 Februar 21: HHStA, RHR, Decisa 563. 142 Seit 1712 waren im Niedersächsischen Reichskreis Preußen (für Magdeburg) und England-Hannover Kreisdirektoren, vgl. Dotzauer. Reichskreise (Anm. 61), 354.

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die bentheim-teckienburgische Seite und nicht auch die preußische gehört habe. Den Vergleichsvorschlag, wonach Preußen die Grafschaft Teekienburg gegen Erstattung der 1707 an Solms-Braunfels gezahlten Kaufsumme an Bentheim-Tecklenburg abtreten sollte, lehnte er ab 143 • Einen Tag später, am 19. Mai 1716, legte König Friedrich Wilhelm I. dem Kaiser ausführlich die Gründe dar, die seiner Auffassung nach gegen das vom Reichshofrat dem gräflichen Haus Bentheim-Teekienburg zugesprochene Jus retractus anzuführen waren 144• Am 26. Mai 1716 wiederholte Friedrich Wilhelm I. in einem Schreiben an Georg I. von Großbritannien seine Ablehnung der Entscheidung des Reichshofrates 145 • Am 19. Juli 1716 setzte Georg I. den Kaiser, mit dem er in demselben Monat ein Bündnis einging 146, von der Ergebnislosigkeit seines Bemühens in Kenntnis, Preußen zur Rückgabe Tecklenburgs an das gräfliche Haus Bentheim-Teckienburg zu bewegen 147 • Vom 13. Februar I 3. März 1717 stammt das dem Kaiser am 26. April desselben Jahres vorgelegte Reichshofratsgutachten zugunsten Bentheim-Teckienburg148, aufgrund dessen am 20. April 1717 die Kommissionsdekrete an den König von Großbritannien und an den Herzog von Wolfenbüttel gingen 149, ebenso unter demselben Datum ein kaiserliches Reskript an König Friedrich Wilhelm 1. 150• Während der Kaiser seit 1718 mit Großbritannien und Frankreich in der Quadrupelallianz verbunden war151 , spitzte sich der Streit zwischen dem Kaiser und dem preußischen König immer mehr zu, bis 1721 der diplomatische Verkehr zwischen den Höfen in Wien und Berlin abgebrochen wurde. An eine Anerkennung der Pragmatischen Sanktion durch Preußen war unter diesen Umständen ebensowenig zu denken wie an eine Beilegung der Auseinandersetzungen um Teckienburg. Der Höhepunkt wurde erreicht, als Kaiser Karl VI. am 10. Juli 1722 den König von Großbritannien als Kurfürst von Hannover und den Herzog von BraunschweigWolfenbüttel für die Reichsexekution gegen Preußen bestellte und von Preußen die Rückgabe der Grafschaft Teekienburg binnen zweier Monate an die "verwittibte gräffin zu Bentheimb Teekienburg alß Vormünderirr ihres Sohns", Graf Moritz Casimir I. von Bentheim-Teckienburg, verlangte 152• Angeordnet wurde die "Abtrettung" der Grafschaft Teekienburg "in dem stand, wie selbige zurzeit der graff[lich] 1716 Mai 18: HHStA, RHR, Decisa 563. HHStA, RHR, Decisa 563, Bll. 57;'-72'. 145 Abschrift HHStA, RHR Decisa, 563. 146 Immich, Staatensystem (Anm. 128), 241. 147 HHStA, RHR, Decisa 563. 148 HHStA, RHR, Decisa 563, Bll. 97'-118v. 149 Abschriften HHStA, RHR, Decisa 563. 150 Abschrift HHStA, RHR, Decisa 563, Bll. 150'-157'. 151 lmmich, Staatensystem (Anm. 128), 248 f. 152 Abschrift HHStA Wien, RHR, Decisa 564, unpaginiert. Siehe auch Johann Gustav Droysen, Friedrich Wilhelm I. König von Preußen, Bd. 1 (ders., Geschichte der Preußischen Politik, Tl. IV, 2. Abt., 1), Leipzig 1869, 328, 339 f.; Koser, Brandenburg-Preußen (Anm. 103), 219. 143

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Solmsischen immission geweßen, gegen einziehung des Kaufpretii" 153 . Für den Fall, daß der König in Preußen diese Anordnung nicht innerhalb von zwei Monaten befolgte, wurde die Reichsexekution in die Grafschaft Teekienburg festgesetzt. Außerdem sollte die "bisher zu Teekienburg gestandene [preußische] Reg[ierung] nacher Minden transferiret werden" 154. Doch waren die Forderung des Kaisers nicht durchsetzbar, auch nicht auf dem Wege der Reichsexekution 155 •

Der Vertrag von Wusterhausen, die preußische Anerkennung der Pragmatischen Sanktion und der Berliner Vertrag mit dem Grafen von Bentheim-Tecklenburg: 1725 bis 1729 Im Jahre 1725 bildeten sich zwei Bündnissysteme, mit denen fast ganz Europa in zwei gegnerische Lager gespalten wurde. Auf der einen Seite stand die Allianz von Herrenhausen, der Großbritannien, Frankreich und Preußen angehörten, auf der anderen Seite Österreich, Rußland und Spanien 156. Doch hatte das keine Rückwirkungen auf den immer noch nicht beigelegten Streit um Teckienburg, weil Preußen sich bald mit Rücksicht auf Rußland aus der Herrenhauser Allianz zurückzog und sich mit Rußland verband. "Diese Allianz wurde die Brücke zur Verständigung mit dem Kaiser" 157 • Das wurde auch die Brücke zur Beendigung des Streites um Teckienburg, und zwar über den Kopf des Grafen von Bentheim-Teekienburg hinweg. Am 12. Oktober 1726 schloß Preußen mit dem Kaiser den Vertrag von Wusterhausen 158• Damit war der Weg frei für die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion durch Preußen im Berliner Vertrag vom 23. Dezember 1728 159 und für ein enges Bündnis Preußens mit dem Kaiser 160• Damit waren aber auch die lmmich, Staatensystem (Anm. 128), 248 f. Ebd. 155 Druckschriften von preußischer Seite: Anmerkungen zu den von Seiten der Gräfin Christiane Marie zu Bentheim Steinfurth [sie!] herausgegebenen unrichtigen Statum Causae wider die namens Sr. Kgl. Maj. In Preußen in Druck gekommenen Speciem Facti, dero wohl erworbenen Possession und Gerechtsame der unmittelbaren Allodial Reichs-Grafschaft TeekIenburg betreffend (1722). [GStA, Rep. 96 D, Nr. 178); Explication Succincte de la possession et du droit incontestable de Sa Maj. Prussienne, sur Ia comte immediate & allodiale de l'empire, de Tecklembourg (1722). [ebd., Nr. 179); Ernst Graf von Mettemich [preuß. Gesandter beim Reichstag zu Regensburg), Memorial an die Reichsversammlung zu Regensburg, die unmittelbare allodial Reichs-Grafschaft Teekienburg und Depententien betreffend. Mit Beylagen (1722). [ebd., Nr. 180]. 156 lmmich, Staatensystem (Anm. 128), 260 ff. 1s1 Ebd., 262. 158 Victor Loewe (Hrsg.), Preußens Staatsverträge aus der Regierungszeit König Friedeich Wilhelms I. (Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven, 87), Leipzig 1913, Nr. 74 (311-321). 159 Ebd., Nr. 82 (357- 373). 153

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Würfel für Teekienburg und für den Grafen von Bentheim-Teekienburg gefallen, der die Unterstützung des Kaisers und des Reichshofrates verlor 161 . Am 14./20. August 1729 162 schlossen König Friedrich Wilhelm I. und Graf Moritz Casimir I. von Bentheim-Tecklenburg, der 1726, mit 25 Jahren, selbst die Regierung seiner Länder angetreten hatte, den Berliner Vergleich 163 • Der Graf verzichtete gegen eine Abfindung in Höhe von 175.000 Rtlr. endgültig auf die Grafschaft Tecklenburg, während die Herrschaft Rheda seinem Hause im alten Umfang erhalten blieb. Der König erklärte sich im Berliner Vergleich zur Unterstützung eines Antrags des Grafen an den Kaiser bereit, die, Grafschaft Limburg, deren Lehnsbindung an das Herzogtum Berg 1669 gegen eine Zahlung von 10.000 Rtlr. abgelöst worden war 164, zu einer Reichsgrafschaft zu erheben 165 . Eine Belehnung des Grafen Moritz Casimir I. mit Limburg durch Kaiser Karl VI., der den Berliner Vergleich am 9. Januar 1730 ratifizierte 166, unterblieb jedoch, wie auch den Bemühungen des Grafen, für Limburg die Kreisstandschaft im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis zu erlangen, kein Erfolg beschieden war 167• Somit verblieben dem reichsgräflichen Haus Bentheim-Teekienburg nach dem endgültigen Verlust der Grafschaft Teekienburg nur noch die vom Hochstift Münster zu Lehen gehende Herrschaft Rheda und die Grafschaft Limburg als Allodialherrschaft Ungeachtet des immer noch offenen Streites wurde die Grafschaft Teekienburg aber schon vor 1729 als preußische Provinz in den preußischen Staat eingefügt. 160 Kunisch, Staatsverfassung (Anm. 19), 48 ff.; Erdnumnsdörffer; Deutsche Geschichte (Anm. 66), Bd. 2, 382 f., 396-400 und 431-434; Hantsch, Geschichte Österreichs (Anm. 132), Bd. 1, 112 ff. 161 Aus der Sicht traditioneller borossischer Historiographie Koser; Brandenburg-Preußen (Anm. 103), 220: ,,Das Donnergewölk zerteilte sich, als eine politische Annäherung, bald auch ein Bündnis zwischen den Höfen von Wien und Berlin erzielt wurde". 162 Die Ausfertigung durch den Grafen von Bentheim-Tecklenburg erfolgte zu Schloß Rheda am 14., die durch König Friedrich Wilhelm I. zu Berlin am 20. August 1729. Vorangegangen war schon 1724 ein Vergleichsangebot des Königs (1724 Juni 24: FA Rheda, E [Rheda] Urk. 1225}, der sich mit der Hinzuziehung eines Vertreters Georgs I. zu den Vergleichsverhandlungen einverstanden erklärte (1724 Juli 1: ebd., Urk. 1226). 163 Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhelms I. (Anm. 158), Nr. 86 (384-391). Original FA Rheda, E (Rheda) Urk. 1277 (u. Urk. 1278: "articulus separatus" betr. Stift Elsey). Abschrift FA Rheda, D (Limburg) Akten E ll u. E 12 (nur "articulus separatus"). Vorakten u. Akten zur Ausführung des Vergleichs FA Rheda, E (Rheda) Akten T 5-T 11, ferner StA Osnabriick, Rep. 100, Abschnitt 1, Nr. 191. 164 1669 Juli 3/Dezember 12: FA Rheda, E (Rheda) Urk. 748. 165 Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhe1ms I. (Anm. 158), 386, § 2. 166 FA Rheda, E (Rheda) Urk. 1281. 167 HStA Düsseldorf, Kreisarchiv, I L Nr. 9 (1738) u. I B 17 (1734-48); Klueting, ,,Daß sie ein Abspliß ... " (Anm. 45), 120 f. Siehe auch Johannes Amdt, Das Niederrheinisch-Westf!ilische Reichsgrafenkollegium und seine Mitglieder ( 1653- 1806) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 133 = Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, 9), Mainz 1991.

Grafschaft und Großmacht

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Schon 1714 beschloß Friedeich Wilhelm I., die preußischen Besitzungen im östlichen und nördlichen Westfalen, Minden, Ravensberg, Lingen und Tecklenburg, zu "kombinieren", was 1719 durchgeführt wurde. Auch von dem 1723 gegriindeten Berliner Generaldirektorium, der Zentralbehörde der preußischen Monarchie im 18. Jahrhundert, wurde Teekienburg zusammen mit Minden, Ravensberg und Lingen verwaltet 168 • 1723 wurde in Minden an der Weser, wie gleichzeitig auch andernorts in Preußen, als nachgeordnete Behörde des Generaldirektoriums eine Kriegs- und Domänenkammer errichtet, der außer dem Fürstentum Minden, der Grafschaft Ravensberg und der Grafschaft Lingen auch die Grafschaft Teekienburg unterstand 169• Schluß

Der Kaiser wirkte als Schutzherr kleiner, mindermächtiger Reichsstände und Reichsunmittelbarer wie des Grafen von Bentheim-Teekienburg gegen mächtige Reichsstände wie den durch Territorien außerhalb des Reiches zur Souveränität und zu königlichen Würden aufgestiegenen und militärisch starken Kurfürsten von Brandenburg bzw. gegen das am Beginn seiner Großmachtrolle stehende Preußen. Diese Schutzfunktion wurde auf rechtlichem Wege durch den Reichshofrat als der dem Einfluß der Reichsstände entzogenen kaiserlichen Gerichtsbehörde ausgeübt. Dabei wurde der von einem mindermächtigen Reichsstand oder Reichsunmittelbaren angerufene Reichshofrat auch dann tätig, wenn der seit der Reichshofratsordnung von 1654 eingespielte verfahrensrechtliche Grundsatz der Prävention oder die Regelung von Teil III, Titel VII der Reichskammergerichtsordnung von 1555 bei Reichslehen und Reichsalloden einem Tätigwerden an sich entgegen stand. Der Kaiser setzte den Reichshofrat - und damit seine Schutzherrenrolle zugunsten der mindermächtigen Reichsstände - als Instrument gegen große Reichsstände ein, die auf der Ebene der europäischen Mächtepolitik mit ihm konkurrierten 170• Die durch den Reichshofrat wahrgenommene Schutzherrenrolle des Kaisers fand aber nur solange statt, wie sie mit den politischen Interessen des Kaisers als Herrscher der 168 Walther Hubatsch, Brandenburg-Preußen, C. Verwaltungsentwicklung von 17131803, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl u. Georg-Christoph von Unruh, Bd. 1: Vorn Spätmittelalter bis zum Endes des Reiches, Stuttgart 1983, 892-941, hier 899-902. 169 Hans Nordsiek, Zur Eingliederung des Fürstbisturns Minden in den brandenburgischpreußischen Staat, in: Peter Baumgart (Hrsg.), Expansion und Integration. Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat (Neue Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte, 5), Köln/Wien 1984,45-79, hier 63. 170 Michael Hughes tritt hingegen der Ansicht entgegen, wonach der Reichshofrat Instrument habsburgischer Politik war, vgl. Hughes, Law and Politics (Anrn. 140), 62: ,,Larger states tried to discredit the Ernperor by attacking bis jurisdiction as partial and rnotivated only by concem for bis own dynastic interests [ . .. ]. The sources on which the ,conspiracy theory' of the aulic council is based are rnainly reports frorn the agents of these states in Vienna". Der Streit um Teekienburg zeigt das Gegenteil.

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Hann Klueting

Großmacht Österreich zu vereinbaren war und diesen diente; sie endete dort, wo diese Voraussetzung nicht mehr gegeben war. Die Schutzherrenrolle des Kaisers zugunsten der mindermächtigen Reichsstände und Reichsunmittelbaren erscheint somit, zumindest in der Zeit Karls VI., als Funktion österreichischer Großmachtpolitik. Beherrschend im Mittelpunkt der Politik Karls VI. standen dessen Bemühungen um die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion, denen alles andere untergeordnet wurde, bis hin zu den handelspolitischen Interessen des Kaisers und der 1722 I 23 in Ostende in den Österreichischen Niederlanden gegründeten Ostindischen Handelskompagnie, die Karl VI. 1731 für die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion durch Großbritannien liquidierte 171 . Solange von Preußen die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion nicht zu erwarten war, unterstützte der Kaiser in der Tecklenburger Sache den machtlosen Grafen von Bentheim-Tecklenburg; mit der Anerkennung der Pragmatischen Sanktion durch Preußen ließ der Kaiser den Grafen fallen, der sich somit- wie zuvor im Zusarnrnenhang mit der brandenburgischen Politik zur Sicherung Lingens als Teil der oranischen Erbschaft - als Schachfigur im Wechselspiel von Großmachtinteressen erwies. Doch hatte die Unterstützung durch Kaiser und Reichshofrat auch vor der Wendung der Politik seit dem Ausscheiden Preußens aus der Herrenhauser Allianz für den Grafen von Bentheim-Teekienburg keine praktischen Auswirkungen. Das Reichshofratsdekret gegen Preußen war politisch nicht durchsetzbar und die Reichsexekution gegen Preußen durch Eng1and-Hannover und Wolfenbüttel - im Sinne eines mourir pour Tecklenbourg? - kein Gegenstand realer Politik. Das hing aber nur zum Teil mit der Schwäche des Kaisers im Norden des Reiches zusammen, auch wenn Volker Press sagt: "Die Schwäche des Reichsoberhauptes lag darin, daß sich seine Mitgestaltungsmöglichkeiten im Norden in Grenzen hielten, auch wenn die Ständekonflikte in Ostfriesland oder Mecklenburg immer wieder den Reichshofrat mobilisierten. Gleichwohl konnte das Reichsoberhaupt im Norden nur mittelbar einwirken" 172• Der Reichshofratsprozeß und die erfolgreiche Reichsexekution England-Hannovers und Wolfenbüttels gegen den Herzog von Mecklenburg von 1718 173 zeigt, daß etwas anderes entscheidend war: die Machtfrage und die politische Konjunktur. Somit bestätigt der Streit um Teekienburg die Verwundbarkeit der kaiserlichen Reichspolitik als Folge der mit der Pragmatischen 171 Kunisch, Staatsverfassung (Anm. 19), 51-55; Gerald B. Hertz, England and the Ostend Company, in: The English Historical Review 22 (1907), 255-279. 172 Press, Kriege und Krisen (Anm. 17), 380. 173 Watther Mediger; Mecklenburg, Rußland und England-Hannover 1706-1721. Ein Beitrag zur Geschichte des Nordischen Krieges, 2 Bde. (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, 70), Bildesheim 1967, Bd. 1, 367 -415; Hughes, Law and Politics (Anm. 140), 156- 205; Sigrid Jahns, ,,Mecklenburgisches Wesen" oder absolutistisches Regiment? Mecklenburgischer Ständekonflikt oder neue kaiserliche Reichspolitik ( 16581755), in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift Peter Moraw (Historische Forschungen, 67), Berlin 2000, 323 - 351.

Grafschaft und Großmacht

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Sanktion erreichten "unzertrennlichen Vereinigung" der Länder der Österreichischen Monarchie 174 und die "Preisgabe der Reichsinteressen" 175 durch Kaiser Karl VI. zugunsten der Großmacht Österreich.

174 Wilhelm Brauneder, Die Pragmatische Sanktion- das Grundgesetz der Monarchia Austriaca, in: Prinz Eugen und das barocke Österreich, hrsg. von Karl Gutkas, Salzburg 1985, 141-150; ders., Die Pragmatische Sanktion als Grundgesetz der Monarchia Austriaca von 1713 bis 1918, in: ders., Studien I. Entwicklung des Öffentlichen Rechts, Frankfurt arn Main 1994,85-115. 175 Press, Kriege und Krisen (Anm. 17), 472.

Gesetzgebung als Kommunikation Zu symbolischen und expressiven Aspekten französischer ,,ordonnances de reformation" des 16. und frühen 17. Jahrhunderts

Von Lothar Schilling, Frankfurt am Main Die Gesetzgebung frühmoderner Staaten hat in den letzten Jahrzehnten breite Beachtung 1, aber auch widersprüchliche Beurteilung durch die Forschung erfahren. Zwar ist unbestritten, daß fast überall in Europa spätestens seit dem 13. Jahrhundert2 in großer, bis zum 18. Jahrhundert fast kontinuierlich wachsender Zahl Gesetze erlassen wurden. Umstritten ist jedoch, inwieweit dies eine Positivierung des Rechts bewirkte3 und welche tatsächlichen Wirkungen von dieser Gesetzgebungstätigkeit ausgingen. Gerhard Oestreich erblickte in den Policeyordnungen einen wichtigen Beleg für seine These von der Sozialdisziplinierung als Fundamentalvorgang sozialer und mentaler Formierung4 , und Helmut Quaritsch deutete die I Vgl. Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Regime, in: Jus Commune 4 (1972), 188-239; Bemhard Diestelkamp, Einige Beobachtungen zur Geschichte des Gesetzes in vorkonstitutioneller Zeit, in: ZHF 10 (1983), 385-420; Reiner Schulze, Geschichte der neueren vorkonstitutionellen Gesetzgebung. Zu Forschungsstand und Methodenfragen eines rechtshistorischen Arbeitsgebiets, in: ZRG GA 98 (1981), 157-235; Michael Stolleis, Condere Ieges et interpretari. Gesetzgebungsmacht und Staatsbildung im 17. Jahrhundert, in: ZRG GA 101 (1984), 89 - 116; Dietmo.r Willoweit, Gesetzgebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff, hrsg. v. 0. Behrends I Chr. Link, Göttingen 1987, 123-146; Barbara Dölemeyer/Diethelm Klippe[ (Hrsg.), Gesetz und Gesetzgebung in der Frühen Neuzeit, Berlin 1998. 2 Vgl. v.a. Sten Gagner; Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Stockholm u. a. 1960; Armin Wolf, Gesetzgebung in Europa 1100-1500. Zur Entstehung der Territorialstaaten, München 1996. 3 Während etwa Gagner; Studien (Anm. 2), bereits um die Wende zum 13. Jahrhundert eine "gesetzespositivistische Umwälzung" der Rechtsordnung annimmt (351), beurteilt Niklas Luhmann die Frage, ob vor der Französischen Revolution von einer nennenswerten Positivierung des Rechts die Rede sein kann, skeptisch; vgl. Rechtssoziologie, zuerst 1972, 3. Aufl., Opladen 1987, 195; ders., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, zuletzt in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt a. M. 1981, 113153, hier 126 f.; vgl. ferner Joachim Rücken, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, Hannover 1988, 19-35; Ulrich Falk, Der faule Kern im System. Bemerkungen zur Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, in: Rechtshistorisches Journal 8 (1989), 144-154.

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Lotbar Schilling

Gesetzgebungskompetenz als den "archimedischen Punkt [ ... ], von dem aus der staatliche Gesetzgeber der Neuzeit die alte Welt aus den Angeln zu heben vermochte"5. Die sozial- und mikrohistorisch ausgerichtete Forschung hingegen vertritt vielfach die Auffassung, vormoderne Gesetzgebung sei weitgehend wirkungslos gewesen. So hat Jürgen Schlumbohm, gestützt auf Untersuchungen zu den unterschiedlichsten Bereichen frühneuzeitlicher Gesetzgebung, die These vertreten, die lediglich partielle Durchsetzung der zahlreichen Gesetzesnormen stelle ein ,,Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates" dar. Demnach hätten "das Erlassen und- zunehmend- Publizieren von Gesetzen seinen [d. h. ihren] Sinn in sich selbst" gehabt; ihr Ziel seien nicht so sehr Verhaltensänderungen der Untertanen gewesen als vielmehr die Selbstdarstellung der Obrigkeit als gute Obrigkeit im Sinne christlicher und später aufgeklärter Ideale. Dieser "symbolische Aspekt" sei "auch schon ein wesentlicher Teil dessen [gewesen], was von der Herrschaft erwartet" worden sei, denn hinsichtlich der Realisierung der Norminhalte habe den Zeitgenossen offenbar "ein exemplarisch auswählendes partielles Vorgehen genügt"6 . Freilich gibt es bis heute wenige Studien, die sich mit der Gesetzgebungspraxis frühneuzeitlicher Staaten auseinandersetzen. Nicht ausreichend untersucht ist insbesondere der Zusammenhang zwischen dem Erlaß und der Anwendung von Gesetzen einerseits und politisch-gesellschaftlichen Problemlagen bzw. deren Konzeptualisierung durch die Zeitgenossen andererseits. Will man die Wirkungen frühneuzeitlicher Gesetze genauer beurteilen und die Gründe frir die inzwischen von der Forschung vielfach nachgewiesene Partialität ihrer Anwendung ermitteln, sind neben der Erforschung der lokalen Herrschaftspraxis genauere Untersuchungen der mit der Normgebung verknüpften und in sie einfließenden Vorstellungen, Intentionen und Zielsetzungen notwendig. Andernfalls besteht die Gefahr, Erfolg und Mißerfolg frühneuzeitlicher Gesetze an anachronistischen Maßstäben zu messen. Zum anderen bedarf es eines Modells zur Beschreibung der Wirkungsformen frühneuzeitlicher Gesetze, das über das dichotome Schema Durchsetzung versus Nichtdurchsetzung hinausgeht7 • Im folgenden möchte ich versuchen, am Beispiel einiger französischer ,ordonnances' des 16. und 17. Jahrhunderts die Wirkungen frühneuzeitlicher Gesetze und deren Beurteilung durch die Zeitgenossen vorzustellen. Dabei werde ich mich auf 4 Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, 179-197, hier 192 f. 5 Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1: Grundlagen, Frankfurt a. M. 1970,510. 6 Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden - ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: GG 23 (1997), 647-663, hier 659-661; der Titel des Beitrags ist insofern irreführend, als im Text selbst sinnvollerweise vor allem von partieller Durchsetzung die Rede ist. 7 Vgl. zur Kritik solcher binärer Schemata aus der Perspektive der Erforschung lokaler Herrschaftsverhältnisse nun Achim Landwehr, ,,Normdurchsetzung" in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: ZfG 48 (2000), 146-162.

Gesetzgebung als Kommunikation

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jene "symbolischen", nicht rechtsnormativen Wirkungen konzentrieren, die- angeregt durch das wachsende Interesse an der Inszenierung und symbolischen Repräsentation von Herrschaft - in jüngerer Zeit von der Forschung betont wurden. In einem ersten Schritt möchte ich zunächst das Gesetzesverständnis der Zeitgenossen und deren Erwartungen und Forderungen an die Gesetzgebung skizzieren und insbesondere deutlich machen, daß der Erlaß von Gesetzen als Akt der Kommunikation zwischen Monarch und Untertanen verstanden wurde und die hier untersuchten Gesetze in hohem Maße Rechts- und Ordnungsvorstellungen der Untertanen Rechnung trugen (1-11). Ausgehend von einem theoretischen Modell (III) sollen dann die vom Gesetzgebungsakt und der Gesetzespublikation ausgehenden Wirkungen (IV), die symbolischen "Botschaften" des Gesetzestexts (V) und die begrenzte rechtsnormative Wirksamkeit einzelner Gesetzesbestimmungen (VI) vorgestellt werden. Anhand von Flug- und Beschwerdeschriften will ich anschließend zeigen, daß die Zeitgenossen die mangelnde Anwendung und Durchsetzung von Gesetzesnormen nicht ohne weiteres hinnahmen (VII). Schließlich möchte ich deutlich machen, daß auch der Gesetzgeber Konsequenzen aus der begrenzten rechtsnormativen Wirksamkeit früherer ,ordonnances' und der öffentlich geäußerten Kritik an deren defizitärer Anwendung und Durchsetzung zog (VIII). Im Mittelpunkt des Beitrags werden die ,ordonnances' von Orleans (1561), Roussillon (1564), Moulins (1566) und Blois (1579) sowie die meist als ,code Michau' bezeichnete ,ordonnance' von 16298 stehen. Diese umfangreichsten und bekanntesten Gesetze ihrer Zeit regelten ein breites Spektrum unterschiedlicher Rechtsmaterien. Sie beanspruchten für das ganze Königreich Geltung und sollten als ,ordonnances de reformation' eine grundlegende Reform des Königreichs bewirken. Was sie von den meisten anderen ,ordonnances' unterschied, ist die Art und Weise, wie sie zustande kamen - wurden sie doch jeweils im Gefolge von Generalständen erlassen und stellten eine unmittelbare Reaktion auf deren Beschwerden dar9 . Interessant erscheinen diese Gesetze, weil sie bereits von den Zeitgenossen als Versuche gedeutet wurden, die Krise der Religionskriege zu überwinden, und weil sie von einer breiten öffentlichen Debatte begleitet wurden, von der 8 Sie sind u. a. gedruckt in: Recueil d' edits et d' ordonnances royaux sur le fait de Ia justice et autres matieres !es plus importantes [ ... ], augmente sur l'edition de Mes Pierre Neron/ Etienne Girard [ . .. ], 2 Bde., Paris 1720, hier Bd. I, 368-423,424-430,444-490, 508657, 782-841; Recueil general des anciennes lois fran~aises depuis I' an 420 jusqu' Ia revolution de 1789, bearb. v. Isambert/Taillandier!Decrusy, 29 Bde., Paris 1821-1833, hier Bd. 14, 63-98, 160-169, 189-212, 380-461; Bd. 16, 223-344. Im folgenden werden diese Gesetze lediglich mit Angabe des betreffenden Artikels zitiert. 9 Dies gilt auch für die als ,ordonnance additionneUe celle d'Orleans' deklarierte ,ordonnance' von Roussillon und für die ,ordonnance' von Moulins. Ihr ging zwar lediglich eine Notabienversammlung voraus, doch legte auch diese einen ,cahier de doleances' vor. Vgl. zum Zustandekommen dieser Gesetze nun Lothar Schilling, Krisenbewältigung durch Verfahren? Zu den Funktionen konsensualer Gesetzgebung im Frankreich des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in: Vormodeme politische Verfahren. Tagung in Münster, 22.-24. September 1999, hrsg. v. B. Stollberg-Rilinger (ZHF, Beiheft 25), Berlin 2001, im Druck (dort auch Literatur zu den Ständeversammlungen).

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Lothar Schilling

man denke nur an Bodins Souveränitätslehre10 und das in jenen Jahren formulierte Konzept der ,lois fondamentales' 11 - entscheidende Impulse für das Gesetzesverständnis der Zeit ausgingen.

I. Fragt man nach den Erwartungen und Vorstellungen der Zeitgenossen im Hinblick auf die ,ordonnances de reformation ', ist zunächst das allgemeine Gesetzesverständnis in den Blick zu nehmen. Dabei fällt auf, wie häufig in den juristischen und politischen Debatten im Frankreich der Zeit von den Religionskriegen bis zur frühen Ära Richelieu in den unterschiedlichsten Zusammenhängen von Gesetzen die Rede ist- in juristischen Traktaten, in den ,cahiers de doleances' der Generalstände und den Flugschriften der Religionsparteien, in Beschwerden über die Amtsführung der ,officiers', in Vorschlägen zur Beseitigung der allgemeinen Unordnung usw. Die Zeitgenossen beriefen sich auf Gesetze, forderten ihre Einhaltung oder warfen der gegnerischen Partei ihre Mißachtung vor. Umgekehrt galt das ,vivre sous les lois' als Synonym für inneren Frieden und gute Ordnung des Gemeinwesens. Zunehmend wurden die Gesetze zudem als Fundamente des in die Krise geratenen Königreichs apostrophiert. So berief sich 1560 eine hugenottische Flugschrift auf die sacrees loix qui sont apres Dieu le fondement et etablissement de ce Royaume 12 , und der katholische Autor eines Werks zur Zeitgeschichte Frank10 Vgl. noch immer grundlegend Quaritsch, Staat und Souveränität (Anm. 5), 243-394; ders., Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vorn 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin 1986, 46-65; ferner Diethelm Klippe/, Art. ,Staat und Souveränität', Teil 6-8, in: Geschichtliche Grundbegriffe [ ... ], hrsg. v. 0. Brunner u. a., Bd. 6, Stuttgart 1990, 98-128, hier 107 -110; Sirnone Goyard-Fabre, Jean Bodin et Je droit de Ia republique, Paris 1989, 86 - 99; Olivier Beaud, La puissance de !'Etat, Paris 1994, 53130. II Vgl. allgernein Heinz Mohnhaupt, Von den ,Ieges fundamentales' zur modernen Verfassung in Europa. Zum begriffs-und dogmengeschichtlichen Befund (16.-18. Jahrhundert) in: lus Cornmune 25 (1998), 121-158; Martyn P. Thompson, The History of Fundamental Law in Political Thought from the French Wars of Religion to Arnerican Revolution, in: AHR 91 (1986), 1103-1138; zu Frankreich Andre Lemaire, Les lois fondarnentales de Ia rnonarchie fran~aise d'apres !es theoriciens de I' Ancien Regime, Paris 1907, ND Genf 1975; Klaus P. Swoboda, Die Bedeutung der ,lois fondamentales' im Zeitalter der Religionskriege in Frankreich, Diss. phil. rnasch. Wien 1979; Harro Höpfl, Fundamental Law and the Constitution in Sixteenth-Century France, in: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hrsg. v. R. Schnur, Berlin 1986, 327 - 356; zum Verhältnis von Gesetzgebung und ,Ieges fundamentales' Stolleis, Condere Ieges (Anm. 1), 103 -107; zum Grundgesetzcharakter der Hausgesetzgebung Johannes Kunisch, Staatsbildung als Gesetzgebungsproblern. Zum Verfassungscharakter frühneuzeitlicher Sukzessionsordnungen, in: Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung [ ... ], Berlin 1984, 63-88. 12 Supplication & rernonstrance Adressee au Roy de Navarre et autres Princes du Sang de France, pour Ia delivrance du Roy & du Royaurne, o.O. 1560, ohne Paginierung (16. Druckseite).

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reichs rühmte 1570 in seinem Vorwort le fondement de ses bel/es ordonnances et constitutions 13 • Die Gesetze stellten somit über alle konfessionellen und politischen Präferenzen hinweg eine wichtige Referenz dar, ja sie wurden- ungeachtet der Kritik an einzelnen Gesetzesnormen-auch in Phasen scharfer Auseinandersetzungen als allgemein gültiger Wertmaßstab herangezogen. Allerdings wurde zur Bezeichnung des gesetzten Rechts einerseits eine Vielzahl oftmals nach Art eines Hendiadioyn verbundener Begriffe (,lois ', ,ordonnances ', ,edits ', ,decrets ', ,commandements ', ,statuts ', ,constitutions' etc.) verwendet. Andererseits bezeichneten viele dieser Begriffe, nicht zuletzt der Zentralbegriff ,lois ', nicht nur gesetztes Recht, sondern auch Bestimmungen des Gewohnheitsrechts und des römischen Rechts, Institutionen sowie unterschiedlichste Entscheidungen und Regelungen des Königs und der von ihm beauftragten ,officiers" 4 • Nicht selten wurde unter ,loi' auch die Gesamtheit der die gute Ordnung gewährleistenden Normen verstanden, wenn etwa Etienne Pasquier definierte: Quand je vous parle de Ia loy, j'entens [ ... ] ceste reigle qui nous apprend tenir /es ordres en bon ordre, & entretenir de une teile armonie & convenance /es grans avec /es petits, qu 'aussi content & satisfaict vive le petit en sa petitesse, comme le grand en sa grandeur15 • So selbstverständlich es für die meisten Zeitgenossen war, daß das gesetzte Recht ein zentrales Element der Rechtsordnung darstellte, so wenig wurde andererseits versucht, es begrifflich klar von anderen Bestandteilen dieser Rechtsordnung abzugrenzen. Ins Auge gefaßt und oftmals mit ,lois' bezeichnet wurde vielmehr die Gesamtheit der Ordnung und Gerechtigkeit sichemden Normen.

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Charakteristisch für die Diskussionen im Kontext der Generalstände scheint mir, daß man jenes Normgefüge, das als Fundament des Königreichs dienen und Zusammenhalt, Ordnung und Gerechtigkeit gewährleisten sollte, als stark gefährdet auffaßte. Dies wurde darauf zurückgeführt, daß einzelne, Gruppen oder die gesamte Gesellschaft sich über Normen hinwegsetzten oder insgesamt die ,lois' mißachteten. Zwischen dem Verstoß gegen Rechtsnormen und der Mißachtung allgemeiner sozialer Normen wurde dabei kaum unterschieden. In diesem Sinne stellte der ,cahier' des Klerus bei den Generalständen von Orleans 1560 die Mißachtung der ,lois' als ansteckende Krankheit dar, die alle Glieder des politischen Körpers befallen habe 16. 13 Bemard de Girard du Haillan, De l'Estat et Succez des Affaires de France, zuerst Paris 1570, hier zit. nach der Aufl. Paris 1572, Vorwort, unpaginiert; weitere Belege bei Höpfl, Fundamental Law (Anm. 11), 336 f. 14 Vgl. zur semantischen Offenheit des Begriffs ,Joi' Walther von Wartburg, Französisches Etymologisches Wörterbuch. Eine Darstellung des galloromanischen Sprachschatzes, Bd. 5, Basel1948-1950, ND Basel1978, 291-293. 15 Etienne Pasquier, Pourparler du Prince, zuerst 1560, zuletzt in: ders., Pourparlers. Edition critique accompagnee d'un cornrnentaire, hrsg. v. B. Sayhi-Perigot, Paris 1995, 59-159, hier 97. Vgl. zum Ganzen Höpfl, Fundamental Law (Anm. 11): "laws [are] a generous category which embraces customs, ordonnances, institutions, and of course habits of law-abidingness, and links them indissolubly with the idea of moral norrns" (336).

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Allerdings trug auch das Gesetzesrecht selbst nach Meinung vieler Zeitgenossen zur Mißachtung der ,lois' bei, genauer die Vielzahl neu erlassener Gesetze und deren rasche Änderung. 1560 etwa geißelte der bereits erwähnte Jurist und spätere ,politique' Pasquier die ständige innovation de loix als Kennzeichen eines Tyrannen und vertrat die Auffassung, es sei besser, schlechte alte Gesetze zu achten als täglich neue zu schaffen 17 . Zur seihen Zeit beschwerte sich eine hugenottische Flugschrift über den Einfluß der Guise, qui [ . . . ] plantent des Edicts & Ordonnances, & [es arrachent de jour a autre avecques teile inconstance, qu 'il semble que ce soyent des petits enfans, ou des gens tournez du cerveau 18 • Weniger polemisch klagte 1577 der Dritte Stand: Ia misere du temps est cause d'une infinite d'ordonnances [ . .. ], changees et rechangees selon le temps [ . . . ], ce qui rend vos sujets en doute, non seulement les avocats qui /es conseillent, mais /es juges memes19• Die Grundtendenz dieser Aussagen war identisch und wurde auch von zahlreichen juristischen Werken und Traktaten zur Regierungskunst bestätigt20 : Die rasche Änderung von Gesetzen barg die Gefahr eines allgemeinen ,mepris des lois '.

II.

Ungeachtet der Kritik an der ständigen Änderung der Gesetze wurde das Recht des Königs, Gesetze zu erlassen und dabei auch neues Recht zu schaffen, nicht in Zweifel gezogen. So war mit großer Selbstverständlichkeit davon die Rede, der 16 ,Cahier' des Klerus 1560, ediert bei Lalourci!Duval, Recueil des cahiers generaux des trois ordres aux Etats generaux, 4 Bde., Paris 1789, Bd. 1, 1-67, hier Art. 2: Les ecclisiastiques qui doivent sanctimonie et exemplariti de vie, les laics et seculiers qui les doivent suivre, les grands et les petits ont rompu le joug et Lien de la loi; de maniere que tous les membres de ce corps politique de France sont malades par la contagion des uns et des autres, et a peine pourroit-on discemer lequel est le plus malade et debile. 17 Pasquier, Pourparler du Prince (Anm. 15), 89 f. 18 Lamaniere d'appaiser !es troubles qui sont maintenant en France, & pourront estre ciapres. A Ia Roine Mere du Roy, Druck in: Memoires de Conde [ .. . ]Augmente d'un supplement [ ... ] avec des Notes Historiques, Critiques, & Politiques, hrsg. v. Denis-Fran~ois Secousse, 6 Bde., London 1743-1745, Bd. 1, 584-619, hier 607; ähnlich Supplication & remonstrance (Anm. 12), Druckseite 16. 19 ,Cahier' des ,tiers' 1577; Lalourci!Duval, Recueil des cahiers (Anm. 16), Bd. 2, 184355, hier Art. 200. zo Pointiert etwa Pierre Ayrault, Bref discours de Ia nature, variete et mutation des lois, Vorwort, in: Fran~ois Grimaudet, Paraphrase du droict de retraict lignager [ .. . ], Paris 1567, ohne Paginierung: Les prundents legislateurs se doibvent gouvemer si reservement, avec temperature, doulce, lente & costoyante application & accomodation de leurs loix, qu 'on n'apperroyve qu'ilz changent rien legerement, qu'avec evidente utiliti, & sans attendre außi iusques la neceßiti. Car autrement si nous faisons tous propos [ . . . } loix sus loix, esdierz sus edictz, nous persuadans tousiours des utilitez recentes, presentees au peuple soubz beau Langage, mais qui crient une avarice ou affectation de choses nouvelles: telles loix seront bien tost mesprisees, & par exemple & accoustumance apporteront un plus facile mespris de toutes les autres.

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König könne ,donner lois', ,faire des ordonnances qui vaillent loy' usw. Auch die Begriffe ,legislation' und ,legislateur' wurden bereits regelmäßig gebraucht. An diese seit langem etablierte Auffassung konnte Bodin anknüpfen, als er 1576 das Recht, a donner loy aux subiects en generat sans leur consentement, zum poinct principal de Ia maieste souueraine, & puissance absolue erklärte21 . Im 16. und zum Teil noch im 17. Jahrhundert wurde freilich die Gesetzgebungsgewalt in der Regel nicht als eigenständiges Herrschaftsrecht konzeptualisiert, sondern- wie bei Bartolus22, aber auch bei den Vertretern der Schule von Salamanca23- als Bestandteil einer umfassenden richterlichen Gewalt definiert oder unmittelbar aus dieser Gewalt hergeleitet24. Besonders die in 'ordonnances de reformation' mündende gesetzgebefische Entscheidung über die Beschwerden der Generalstände wurde von vielen Zeitgenossen als quasi richterlicher Akt des Königs interpretiert. 1560 etwa bezeichnete der ,cahier' des Klerus die Generalstände als ,lit de justice', bei dem die Ständevertreter dem König ihre ,remontrances' zur Entscheidung vorlegten25 , und Vertreter des Adels gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, der König möge leur administrer justice sur beaucoup de remonstrances26• Kanzler l'Höpital betonte bei der Eröffnung dieser Generalstände, deren oberstes Ziel sei es, dem König zu ermöglichen, [de] donner audience generate a ses sujets et faire justice a chacun. Les rois ont este esleus, premierement pour faire Ia justice27. Doch auch noch 1614 stellte eine anonyme Flugschrift aus Anlaß der Gene21 Jean Bodin, Les six livres de Ia republique, zuerst 1576, Buch I, Kap. 8, hier zit. nach der Ausgabe Paris 1583, ND Aalen 1961, 142; vgl. ferner ebd., Buch I, Kap. 10, 223: sous ceste mesme puissance de donneret casser Ia loy sont compris tous [es autres droits et marques de souverainete. 22 Bei Bartolus von Sassoferrato heißt es: statuta condere est iurisdictionis: quia qui statuit, ius dicit; zitiert nach Mohnhaupt, Potestas legislatoria (Anm. 1), 189. 23 Vgl. Eckehard Quin, Personenrechte und Widerstandsrecht in der katholischen Widerstandslehre Frankreichs und Spaniens um 1600, Berlin 1999,410 f. 24 Die Bedeutung der richterlichen Gewalt wird in der jüngeren Forschung auch für das 17. und 18. Jahrhundert betont; vgl. Roland Mousnier; Les institutions de 1a France sous la monarchie absolue, 2 Bde., Paris 1974-1980, Bd. 2, 34; Bernard Durand, Royal Power and its Legal Instruments in France, 1500-1800, in: Legislation and justice, hrsg. v. A. PadoaSchioppa, Oxford 1997, 291 - 312, hier 291. 2s ,Cahier' des Klerus 1560 (Anm. 16), Präambel. Zum ,lit de justice', einer "feierliche[n] Sitzung des Parlement unter perönlichem Vorsitz des Königs als höchstem Richter", das u. a. anberaumt wurde, um die Registrierung von Gesetzen zu erzwingen, und das wie kaum eine Rechtsinstitution der französischen Monarchie die Abhängigkeit der gesetzgebensehen von der richterlichen Gewalt verdeutlicht, vgl. allgemein Franfoise Autrand, Art. ,Lit de justice', in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), 2010 (dort das Zitat); ferner Sarah Hanley Madden, The Lit de Justice of the Kings of France: Constitutional Ideology in Legend, Ritual and Discourse, Princeton 1983; zur Entwicklung bis 1600 (mit deutlicher Kritik an Hanley) Elizabeth A.R. Brown/ Richard C. Famiglietti, The Lit de Justice: Semantics, Ceremonials, and the Parlement ofParis 1300-1600, Sigmaringen 1994. 26 So die Formulierung in den ,remontrances' der Deputierten aus der Normandie und anderen westfranzösischen Provinzen; Druck in: LalourceI Duval, Recueil des cahiers (Anm. 16), Bd. I, 176- 189, hier 178.

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ralstände fest: Le premier iuge & Magistrat du Royaume est le Roy. Il faict les loix, les defait, les corrige, les modifie, tout avec Iustice - autrement il n 'est plus Ro/8 • Wichtigste Aufgabe des Monarchen war nach diesem Verständnis die ,administration de Ia justice'. Der König hatte sicherzustellen, daß einem jeden Gerechtigkeit widerfuhr - eine Aufgabe, die neben der zu einem erheblichen Teil an professionelle Richter delegierten "eigentlichen" Jurisdiktion die Verpflichtung einschloß, durch den Erlaß von "Gesetzen" dem Recht zur Geltung zu verhelfen. In formaldiplomatischer Hinsicht waren "Gesetze" kaum von anderen Entscheidungen des Königs zu unterscheiden29, und auch inhaltlich waren die Übergänge fließend, da die Zeitgenossen unter Gesetzen nicht nur allgemeine Rechtsnormen, sondern auch Privilegien und Einzelentscheidungen verstanden30 - auch Bodin machte hier keine Ausnahme31 • Mit der Ableitung der ,potestas legislatoria' aus der richterlichen Gewalt eng verknüpft war für die meisten Zeitgenossen die Vorstellung, Gesetzgebung stelle einen (herrschaftlich strukturierten) Akt der Konununikation dar32. Ihr lag die bis zum Ende des Ancien regime in allen europäischen Monarchien wirksame Überzeugung zugrunde, der Fürst müsse (idealerweise persönlich) die Beschwerden 27 Rede l'Höpitals vom 13. 12. 1560, zuletzt gedruckt in: Michel de ['Hospital, Discours pour la majorite de Charles IX et trois autres discours, hrsg. v. R. Descimon, Genf 1993,6994, hier74. 28 Advis, remonstrances et requestes aux estats generaux tenus a Paris, 1614. Par six Paisans, o.O. 1614, 20. 29 Vgl. Lothar Schilling, Gesetzgebung im Frankreich Ludwigs Xill. - ein konstitutives Element des Absolutismus? Das Beispiel des Code Michau (1629), in: Ius Commune 24 (1997), 91-131, hier 106-109; ferner Roland Mousnier, Les institutions de Ia France sous Ia monarchie absolue, 2 Bde., Paris 1974-1980, Bd. 2, 233: "Toute decision dans le gouvernement et l'administration centrale est formellernefit un ordre du roi. Une loi, un jugement, un commandement du roi sont au meme titre des ordres du roi." 30 Vgl. Franr;ois Olivier-Manin, Les lois du roi, Typoskript Paris 1945-1946, 9 f.; mit Blick auf das 16. Jahrhundert zusammenfassend Ulrich Scheuner, Stände und innerstaatliche Kräfte bei Bodin, in: Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München, hrsg. v. H. Denzer, München 1973, 379-397, hier 388; allgemein Mohnhaupt, Potestas legislatoria (Anm. 1), 214-220. 31 Vgl. Bodin, Les six livres (Anm. 21), Buch I, Kap. 8, 155: la loy n'est autre chose que le commandement du Souverain, usant de sa puissance; vgl. ferner ebd., Buch I, Kap. 10, 221: Ia premiere marque du prince souverain c'est Ia puissance de donner loi a tous en generat et achacun en paniculier. 32 Vgl. Denis Slatka, L'acte de "demander" dans !es cahiers de doleances, in: Langue franfi:aise 9 (1971), 58-73; Jean-Marie Constant, Le Iangage politique paysan en 1576: les cahiers de doleances des bailliages de Chartres et de Troyes, in: Representation et vouloir politiques: autour des Etats generaux de 1614, hrsg. v. D. Richet/R. Chanier, Paris 1982, 2549; ferner Roben lütte, Sprachliches Handeln und kommunikative Situation. Der Diskurs zwischen Obrigkeit und Untertanen am Beginn der Neuzeit, in: Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Wien 1992, 159-181; vgl. allgemein zur Untersuchung von Öffentlichkeit und Kommunikation in der Frühneuzeit Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, insbes. 24-33.

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und Suppliken seiner Untertanen entgegennehmen und entscheiden, um seiner Verantwortung als oberster Richter gerecht zu werden. Da die Übergänge zwischen gerichtlichen und gesetzgebensehen Entscheidungen fließend waren, konnte der König ihm vorliegende Beschwerden auch gesetzgebefisch "beantworten". Tatsächlich kamen in der Praxis die Mehrzahl der Privilegien und Einzelfallregelungen, aber auch ein Großteil der allgemeinen Normen einschließlich der ,ordonnances de reformation' ,sur requete' oder im Gefolge von ,plaintes', ,doleances' und ,remontrances' zustande, während vom König ,proprio motu' erlassene Akte eher selten waren33 • Andererseits wurden Gesetze vielfach allgemein als Antwort des ,supreme justicier' auf ihm vorgetragene Bitten und Beschwerden verstanden. Bei den hier untersuchten ,ordonnances' stammten die gesetzgebefisch "verarbeiteten" ,requetes' nicht von einzelnen Personen oder Gruppen, sondern von eigens einberufenen Repräsentativversammlungen. Jene Zeitgenossen, die für die Abhaltung von Generalständen eintraten, begriindeten dies bezeichnenderweise damit, daß die ,communication' zwischen Monarch und Untertanen gestört sei. Die Generalstände sollten die ,communication' wieder herstellen und die durch die ,serviteurs' des Königs bewußt verborgene Wahrheit ans Licht bringen: les rois, tenans les Estats, oyent Ia voix de Ia verite qui leur est souvent cachee par leurs serviteurs, betonte etwa Kanzler l'Höpital in der bereits erwähnten Rede zur Eröffnung der Generalstände von 156034. Voraussetzung für die gesetzgebensehe Tätigkeit des Königs war demnach dessen Bereitschaft, die Beschwerden der Untertanen anzuhören. In den ,cahiers de doleances' wurden denn auch den konkreten Forderungen meist Schilderungen der abzuschaffenden Mißstände vorangestellt; ,entendre les plaintes' und ,ordonner' erschienen hier als direkt aufeinander bezogene Aufgaben des Monarchen. Folgt man der hier skizzierten Auffassung, wobei offen bleiben kann, ob sie Probleme und Krisenursachen tatsächlich angemessen erfaßte, wird deutlich, worin für die Zeitgenossen die spezifische Aufgabe einer die ständischen Gravamina aufgreifenden Gesetzgebung lag, und weshalb viele von ihnen in dieser Gesetzgebung 33 Vgl. für die ,ordonnances de reformation' des Spätmittelalters Raymond Cazelles, Une exigence de l'opinion depuis saint Louis: Ia reformation du royaume, in: Annuaire-Bulletin de Ia Societe de.l'Histoire de France, annees 1962/63, Paris 1964, 96 f.; Claude Gauvard, Ordonnance de reforme et pouvoir legislatif en France au XIVe siecle (1303 -1413), in: Renaissance du pouvoir legislatif et Genese de !'Etat, hrsg. v. A. Gouron/A. Rigaudiere, Montpellier 1988, 89-98, hier 97; zur Seltenheit der ,actes de propre mouvement' im Bereich der ,police' Albert Rigaudiere, l..es ordonnances de police en France a Ia fin du Moyen Age, in: Policey im Buropa der Frühen Neuzeit, hrsg. v. M. Stolleis unter Mitarb. v. K. Härter/L. Schilling, Frankfurt a. M. 1996, 97- 161, hier 125 - 129; zum ,dialogue' zwischen Königtum und Untertanen im Spätmittelalter Jacques Krynen, L'empire du roi. Ideeset croyances politiques en France Xllie-XVe siecle, Paris 1993, 240-338; für das 16. Jahrhundert Beat Hodler, Doleances, Requetes und Ordonnances. Kommunale Einflußnahme auf den Staat in Frankreich im 16. Jahrhundert, in: Gemeinde und Staat im Alten Europa, hrsg. v. P. Blickle, München 1998,23-67. 34 Rede vom 13. 12. 1560 (Anm. 27), 74.

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ein entscheidendes Heilmittel zur Überwindung der beklagten Probleme erblickten35. Der König als oberster Richter und Gesetzgeber sollte gestützt auf möglichst genaue Kenntnis der Probleme ,pourvoir aux plaintes', indem er seine Entscheidungen in einem allgemein bekannten, Zweifel und Unsicherheiten überwindenden Gesetz den Beamten, Herrschaftsträgem und Untertanen unmißverständlich mitteilte. Das Gesetzgebungsverfahren sah zunächst die Redaktion ständespezifischer ,cahiers generaux' auf der Grundlage der lokalen Beschwerdehefte, sodann deren Beantwortung durch den König und schließlich den Erlaß einer auf die ,cahiers' Bezug nehmenden ,ordonnance de reforrnation' vor36. Auf diese Weise wurde eine Vielzahl unterschiedlichster Informationen und Anregungen in die Gesetzgebung einbezogen und von ihr verarbeitet. Das Verfahren sollte eine für frühneuzeitliche Verhältnisse bemerkenswert breite Öffentlichkeit zumindest im Vorfeld an der Gesetzgebungstätigkeit beteiligen und sie zugleich einbinden, um auf diese Weise Bekanntheit und Akzeptanz der im Gefolge der Generalstände erlassenen ,ordonnance' zu steigern. Welche verfassungsrechtlichen Konsequenzen dieses Verfahren nach Auffassung der Zeitgenossen für die Geltung der betreffenden Gesetze hatte, muß hier offen bleiben. Was die Regelungsinhalte dieser Gesetze angeht, sind die Auswirkungen des Verfahrens indes unverkennbar. Im Falle der ,ordonnance' von Orleans von 1561 griffen fast sämtliche, bei der ,ordonnance' von Blois 1579 etwa 90% und beim ,code Michau' von 1629 immerhin noch etwa zwei Drittel der Artikel Forderungen der ,cahiers de doleances' aue7 . Wie in den ,cahiers' bildeten auch in den Gesetzen die Stellung des Adels, die Kirchenorganisation, einzelne nach modernem Verständnis zivilrechtliche Fragen, ,police generale' und ,police militaire' sowie vor allem die ,administration de la justice' die inhaltlichen Schwerpunkte. Andererseits nahmen die Beschwerden der Stände in breitem Umfang auf ältere Gesetze Bezug; zudem implizierte die unmittelbare Ableitung der Gesetzgebung aus der Rechtsprechung die Orientierung der zu erlassenden Gesetze am tradier35 Vgl. die Argumentation einer mehrfach abgedruckten Flugschrift aus Anlaß der Generalstände von 1614: Les Rois vos predecesseurs, Sire, n'ont point trouve de moyen plus prompt pour remedier aux maladies violentes de leur Estat, que d'user de ce remede comme le plus doux & le plus iuste, de tant plus qu'il doit estre sans violence & sans contraire, & qu'en icelui tous les membres du corps dont vous estes le chef, peuvent librement representer leurs ulceres, faire leurs plaintes & doleances, pour sur icelles leur estre pourveu de remede convenable pour leur bien & guerison. [Jacques Gillot], Le Caton Fran~ois . Au Roy, o.O. 1614. 36 Vgl. im einzelnen Schilling, Krisenbewältigung (Anm. 9). 37 Vgl. Georges Picot, Histoire des Etats Generaux consideres au point de vue de leur influence sur le gouvemement de Ia France de 1355 a 1614, 4 Bde., Paris 1872, ND Genf 1979, v.a. die Tabellen: II, 292 - 295; III, 72-82; IV, 184-196; zum Ganzen auch Henri Regnault, Manuel d'histoire du droit fran~ais, 5. Auf!., Paris 1947, 205; zum Code Michau ferner Raynald Petiet, Du pouvoir legislatif en France depuis l'avenement de Philippe le Bel jusqu'en 1789, Paris 1891, 212, und Schilling, Gesetzgebung (Anm. 29), 115 und 125.

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ten Recht: Den ,cahiers' zufolge sollten vor allem die Bestimmungen der ,anciennes ordonnances' eingeschärft, präzisiert oder leicht modifiziert, Neuerungen zurückgenommen und insgesamt die allzu rasche Änderung des Gesetzesrechts vermieden werden38 . Mag man deshalb auch der These, wonach zumal die Forderungen des Dritten Standes die entscheidende Grundlage der ,ordonnances de reformation' bildeten39, nur mit Einschränkungen zustimmen, so ist doch unverkennbar, daß diese Gesetze das Ergebnis eines komplexen Interaktions- und Kommunikationsprozesses darstellten, in den nicht nur Repräsentanten von Staat und Krone, sondern in breitem Maße auch Untertanen Forderungen, Vorstellungen und Erwartungen einbrachten. Die Erwartungen an und die Nachfrage nach Gesetzen bleiben allerdings nicht nur in der - Untertanen vor allem als Normadressaten in den Blick nehmenden Verfassungs- und Gesetzgebungsgeschichte weitgehend ausgeblendet, sie spielen auch in Schlumbohms Überlegungen zur Nichtdurchsetzung von Gesetzen kaum eine Rolle. Dieser betont zwar die Fähigkeit von Untertanen, rechtliche Innovationen ohne Beteiligung des staatlichen Gesetzgebers einzuführen, versteht aber andererseits Gesetzgebung einseitig als ,,Diffusionsprozeß von oben nach unten". Gesetze gelten ausschließlich als Ausdruck der "Ordnungsvorstellungen frühneuzeitlicher Staaten", deren Nichtdurchsetzung erscheint als Beleg für die ,,Macht der Untertanen, über Praktizierung oder Ignorierung der erlassenen Gesetze zu entscheiden"40. Meines Erachtens läßt sich jedoch die Entstehung des modernen (Gesetzgebungs-)Staates ohne die Nachfrage der Gesellschaft nach Regulierung nicht erklären. Die Wirkung frühneuzeitlicher Gesetzgebung ist nur angemessen zu beurteilen, wenn man berücksichtigt, daß sie in starkem Maße auf die Befriedigung an den Gesetzgeber gerichteter Forderungen, Nachfragen und Erwartungen abzielte41. 38 Die ,cahiers' forderten vielfach die Einschärfung oder Bestätigung genau bezeichneter Gesetze oder einzelner Artikel. Allgemein wurde etwa 1577 im ,cahier' des Dritten Standes (Anm. 19) gefordert, der König möge eine Kommission zur Überprüfung aller älteren Gesetze durchsehen; Bestimmungen die pour la seule necessiti du temps, et non qu'elles fussent raisonnah/es erlassen worden seien, sollten gestrichen werden. Davon ausgenommen bleiben sollten aber die ordonnances faites suivant l'avis des etats (Art. 200); die Einschärfung aller helles et justes ordonnances faictes par les Rois vos pridicesseurs wurde etwa 1614 im ,cahier' des Adels gefordert; Lalourci/Duval, Recueil des cahiers (Anm. 16), Bd. 4, 166-269, hier Art. 159. 39 Vgl. etwa Augustin Thierry, Essai sur l'Histoire de Ia Formation et des Progres du Tiers Etat, suivi de deux Fragments du Recueil des Monuments inedits de cette Histoire, Paris 1853; Picot, Histoire (Anm. 37). 40 Schlumhohm, Gesetze (Anm. 6), alle Zitate 662 f.; vgl. Andre Holenstein, Die Umstände der Normen - die Normen der Umstände. Policeyordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Regime, in: Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, hrsg. v. K. Härter, Frankfurt a. M. 2000, 1-46, der Schlumbohms Ansatz zurecht als "eigentümlich staatsbezogen" kritisiert (43). 41 Vgl. nun Michael Stolleis, Was bedeutet ,,Normdurchsetzung" bei Policeyordnungen der frühen Neuzeit?, in: Grundlagen des Rechts. Festschrift für Peter Landau zum 65. Ge-

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111. In welcher Weise aber sollten die im Gefolge der Generalstände erlassenen umfangreichen ,ordonnances' die an den König gerichteten Erwartungen befriedigen -und waren sie dazu in der Lage? Um diese Frage zu klären, erscheint es sinnvoll, zunächst theoretisch verschiedene Funktionen von Gesetzgebung gegeneinander abzugrenzen. Dabei kann man auf Studien der jüngeren Strafrechtswissenschaft und Rechtssoziologie zuriickgreifen, die herausgearbeitet haben, daß auch die Effekte der heutigen staatlichen Gesetzgebung nicht allein an Kriterien instrumenteller Wirksamkeit wie Normdurchsetzung, Regelbefolgung, Vollzugseffizienz und Zielerreichung gemessen werden können, ja daß diese Faktoren oftmals hinter im weitesten Sinne symbolischen, politisch-ideologischen Effekten zuriicktreten42 • Ausgehend von diesen Arbeiten hat der Rechtstheoretiker Marcelo Neves vorgeschlagen, zwischen instrumentellen, symbolischen und expressiven Funktionen bzw. Variablen moderner Gesetze zu unterscheiden43 • Die instrumentelle Funktion einer Gesetzesnorm liegt demnach darin, als rechtsnormatives Mittel zur langfristigen Erreichung eines objektiven, zuvor festgelegten Zwecks zu dienen. Dies geschieht, indem ein im Gesetzestext definiertes "Konditionalprograrnm" normativ konkretisiert, das heißt von Normadressaten befolgt, von Gerichten angewandt und von Exekutivorganen durchgesetzt wird. Betrifft die instrumentelle Variable den Versuch, auf rechtsnormativem Wege langfristig Verhalten zu beeinflussen, so nimmt die symbolische Variable den latenten politisch-ideologischen Sinn von Geburtstag, hrsg. v. R. H. Helmholz/P. Miknt/J. Müller/M. Stolleis, Faderborn u. a. 2000, 739-757, hier 755. Ob die Nachfrage nach Regulierung als alleiniger Erklärungsfaktor ftir die Entstehung des modernen Staates ausreicht, wie dies pointiert Heinrich Richard Schmidt, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: HZ 265 (1997), 639- 682, hier 680, vertritt, erscheint mir fraglich. 42 Vgl. Rainer Hergenbarth, Symbolische und instrumentelle Funktionen moderner Gesetze, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 14 (1981), 201- 204; Peter Noll, Symbolische Gesetzgebung, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 100 (1981 ), 347- 364; Wolfgang Schild, Funktionale und nicht-funktionale Bedeutung des Gesetzes. Einige Anmerkungen zur Gesetzgebungslehre am Beispiel des materiellen Strafrechts, in: Rechtstheorie und Gesetzgebung. Festschrift für Robert Weimar, hrsg. v. /. Tammelo/ E. Mode, Frankfurt a.M. 1986, 195-215; Harald Kindermann, Symbolische Gesetzgebung, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie l3 ( 1988), 222- 245; ders. , Alibigesetzgebung als symbolische Gesetzgebung, in: Symbole der Politik. Politik der Symbole, hrsg. v. R. Voigt, Opladen 1989, 257- 273; Winfried Hassemer; Symbolisches Strafrecht und Rechtsgüterschutz, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 9 ( 1989), 553-559; Monikn Voß, Symbolische Gesetzgebung. Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungsakten, Ebelsbach 1989; vgl. zur Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten mit Blick auf vormoderne Gesetzgebung Milos Vec, Hofordnungen. Versuch einer rechtshistorischen Funktionsanalyse. Zu einem Beispiel spätmittelalterlicher Normsetzung, in: Höfe und Hofordnungen 1200-1600 [ ... ], hrsg. v. H. Kruse/W. Paravicini, Sigmaringen 1999,43-63, hier 60-63, und lAndwehr, Normdurchsetzung (Anm. 7), 152 f. 43 Vgl. Marr:elo Neves, Symbolische Konstitutionalisierung, Berlin 1998, 13-52; ders., Von der symbolischen Gesetzgebung zur symbolischen Konstitutionalisierung. Ein Überblick, Neubiberg 1999.

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setzestexten in den Blick. Neves definiert die symbolische Funktion der Gesetzgebung insofern enger als vielfach üblich, als er darunter ausschließlich die Nutzung von (vordergründig rechtsnormativen) Gesetzestexten zum Zwecke der konnotativen Vermittlung politischer, nicht spezifisch rechtsnormativer Inhalte versteht. Im Unterschied dazu bezeichnet er als expressive Variable der Gesetzgebung das Bestreben, durch den Gesetzgebungsakt auf performativem Wege an den Gesetzgeber gerichtete Erwartungen zu erfüllen und zur Bereinigung schwieriger politischer Situation beizutragen44• In der gesetzgebensehen Praxis sind Neves zufolge allerdings immer sämtliche Variablen gleichzeitig wirksam; von "symbolischer Gesetzgebung" könne deshalb nur bei "Vorherrschaft oder gar [ . . . ]Hypertrophie der symbolischen Funktion der gesetzgebensehen Tatigkeit und ihres Produkts, des Gesetzes, vor allem auf Kosten der rechtsinstrumentellen Funktion"45 die Rede sein. Obschon das skizzierte Modell auf der Analyse heutiger Gesetzgebung beruht, scheint es mir abstrakt genug, um die ihm zugrundeliegenden Kriterien und Distinktionen zur Beschreibung und Beurteilung der Funktionen und Wirkungen vormoderner Gesetzgebung heranzuziehen. Im folgenden möchte ich deshalb versuchen, expressiv-performative, symbolische und instrumentell-rechtsnormative Aspekte der ,ordonnances de reformation' zu unterscheiden und vorzustellen.

IV. Dem performativ-expressiven Aspekt gesetzgebenscher Handlungen kam bis ins 18. Jahrhundert im Vergleich zum Gesetzestext bzw. dem Inhalt der betreffenden Rechtsnormen ein relativ größeres Gewicht zu als heute46• Dies lag unter anderem daran, daß Gesetze von der Bevölkerung in der Regel nur im Akt des Erlassens und Verkündens überhaupt zur Kenntnis genommen wurden. Das Inkrafttreten 44 Die Unterscheidung zwischen expressiven und symbolischen Variablen politischen Handeins ist bislang selten; so bezeichnet etwa Schlumbohm, Gesetze (Anm. 6), durch den Akt der Gesetzgebung vermittelte Wirkungen als "symbolischen" Aspekt (660); auch die in Anm. 42 genannte juristische Literatur qualifiziert die nicht rechtsnormativen Funktionen der Gesetzgebung meist insgesamt als symbolisch; Niklas Luhmann wiederum riickt den Gegensatz zwischen der symbolisch-expressiven und der instrumentellen Variablen in den Vorder. grund; letztere diene einem fern liegenden Zweck, erstere der kurzfristigen Erfüllung von Bedürfnissen (Legitimation durch Verfahren, zuerst 1969, hier 4. Aufl., Frankfurt 1997, 223 232). Mir scheint die Unterscheidung zwischen expressiver und symbolischer Variable gerade im Hinblick auf die vormoderne Gesetzgebung wichtig, weil sie erlaubt, die nicht rechtsnormativen Wirkungen des Gesetzgebungsakts und jene des Gesetzestextes zu unterscheiden. 45 Neves, Symbolische Konstitutionalisierung (Anm. 43), 28. 46 Vgl. etwa Dietmar Willoweit, Gesetzespublikation und verwaltungsinterne Gesetzgebung in Preußen vor der Kodifikation, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, hrsg. v. G. Kleinheyer/P. Mikat, Paderborn 1979,601-619, der für das Gesetzesverständnis des 18. Jahrhunderts eine Schwerpunktverlagerung "vom Gesetzgebungsakt zur Autorität der Rechtsnorm" konstatiert (602).

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von Gesetzen durch Abdruck in einem Gesetzesblatt war unbekannt und wäre zumindest bei jenen Gesetzen, die von größeren Kreisen der Bevölkerung befolgt werden sollten, wegen der begrenzten Lesefähigkeit impraktikabel gewesen. Andererseits dürfte in der Frühen Neuzeit durch die Vermittlung in einem konkreten Akt des Mitteilens ein Großteil der Bevölkerung weit unmittelbarer mit Gesetzen konfrontiert gewesen sein als heute. Für viele zumal ungebildete Untertanen stellte die Verkündung offizieller Texte und der Ausruf von Gesetzen die wichtigste Möglichkeit dar, von der Regierungstätigkeit des Monarchen zu erfahren47 . Unabhängig von den Norminhalten boten der Erlaß und die Verkündung von Gesetzen dem König die Gelegenheit, seine Herrschaft vor der gesamten Nation sichtbar und erfahrbar zu machen und den an ihn gerichteten Erwartungen zu entsprechen. Neben den von Schlumbohm zurecht angesprochenen Erwartungen an eine christliche, Ordnung wahrende bzw. stiftende Obrigkeit kam dabei auch jene aus der Antike tradierte Vorstellung von der Rechtsetzung als ,repraesentatio maiestatis', als Kennzeichen und ,decus' des Monarchen zum Tragen, die in der Einführungskonstitution der Institutionen Kaiser Justinians in eine seither immer wieder zitierte Formel gekleidet worden war: Imperatoriam maiestatem non so/um armis decoratam, sed etiam legibus oportet armatam48• So formulierte Kanzler l'Höpital 1563 bei der Erklärung der Volljährigkeit Karls IX. in Anspielung auf den Beginn der Institutionen: Nos predecesseurs et majeurs ne sont moins a lauerde leur prudence a faire loix et ordonnances que de leur vaillance au faict de Ia guerre, dont sont plaines les histoires49 . Bei den hier behandelten ,ordonnances de reformation' kam hinzu, daß dem Erlaß jeweils Generalstände (bzw. im Falle der ,ordonnance de Roussillon' eine Notablenversammlung und eine lange Informationsreise des Königs) vorausgingen, die als den Informationsaustausch zwischen Monarch und Untertanen zeremoniell überhöhende Veranstaltungen ihrerseits auf ein breites öffentliches Interesse stießen50. Sie wurden im Sinne der oben skizzierten Komplementarität von ,entendre' und ,ordonner' als Bestandteil einer im Erlaß eines Gesetzes gipfelnden ,communi47 Vgl. zum Spätmittelalter Peter Johanek, Methodisches zur Verbreitung und Bekanntmachung von Gesetzen im Spätmittelalter, in: Histoire comparee de 1'administration (IVeXVllle siecles) [ ... ], hrsg. v. W Paravicini/K. F. Wemer, München 1980, 88-101; für Frankreich Andre Stegmann, Transformations administratives et opinion publique en France (1560-1580), ebd., 594-612, hier 604, sowie Micheie Fogel, Les ceremonies de l'information dans Ia France du XVIe au milieu du XVIIIe siede, Paris 1989, 23-59 und 102- 111. 48 Es handelt sich um die ersten Worte des Proömiums; zur Bedeutung dieser Formel für die Rechtfertigung und Darstellung der Gesetzgebungstätigkeit spätmittelalterlicher Monarchen Wolf, Gesetzgebung (Anm. 2), 3; Johanek, Methodisches (Anm. 47), 88. 49 Rede vom 17. 08. 1563, Druck in: I'Hospital, Discours (Anm. 27), 97-116, hier 102. so Bei Fogel, Ceremonies (Anm. 47), liegt der Akzent auf der Information der Untertanen durch die Krone, weshalb Generalstände und Notabienversammlungen ausgeblendet bleiben. Zur Funktion der Generalstände, höchstmögliche öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen, vgl. nun Gerrit Walther, Der andere Körper des Königs? Zum politischen Verfahren der französischen Generalstände, in: Vormoderne Verfahren (Anm. 9), im Druck.

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cation' zwischen Untertanen und Monarch verstanden. Die Einberufung von Generalständen und der Erlaß einer auf deren ,cahiers' beruhenden ,ordonnance' erschienen in dieser Perspektive als Ausdruck der ,familiarite' des Königs51 mit seinen Untertanen und als Antwort auf die vielfach vorgetragene Forderung, der König müsse se communiquer ii ses sujets bzw. communiquer son authorite ii ses subiects52. Eine besondere Bedeutung kam diesen expressiven Aspekten insofern zu, als die hier zur Debatte stehenden Gesetze jeweils im Kontext schwerer innerer Krisen erlassen wurden5 3. Das Erlassen einer umfassenden ,ordonnance de reformation' sollte nicht nur die Handlungsfähigkeit der Krone unter Beweis stellen, sondern auch die Integrationskraft der Monarchie und den Zusammenhalt der in der Regel als politischer Körper imaginierten Gesellschaft. Galt die Bereitschaft des Königs, die ,requetes' seiner Untertanen anzuhören und ihnen Rechnung zu tragen, bereits als entscheidendes Kriterium einer guten Regierung, so stellte nach der Meinung vieler Zeitgenossen erst recht die Kooperation zwischen Haupt und Gliedern des politischen Körpers vor, was durch das schließlich erarbeitete Gesetz langfristig gesichert werden sollte: Die Überwindung der Krise und die gute Ordnung des Gemeinwesens. Aus der Sicht der Krone war diese Möglichkeit, die Integration des ,corps politique' vorzustellen, insofern besonders attraktiv, als sie die Frage der verfassungsrechtlichen Konsequenzen der Ständebeteiligung an der Gesetzgebung offenließ.

V. Schwieriger als die expressiven Wirkungen des Gesetzgebungsakts sind die symbolischen Wirkungen des Gesetzestexts zu identifizieren, denn dem Text selbst läßt sich oft nicht eindeutig entnehmen, wie er nach dem Verständnis des Gesetzgebers wirken sollte - und erst recht nicht, wie er in der Praxis wirkte. Lediglich hinweisen kann ich ferner auf die Tatsache, daß Gesetzestexte generell - ganz unVgl. etwa die Rede l'Höpitals vom 13. 12. 1560 (Anm. 27), 75. Das erste Zitat im ,cahier' des Adels des ,baillage de Troyes' vom 17. 12. 1560, gedruckt bei Lalourctf!Duval, Recueil des cahiers (Anm. 16), Bd. 1, 69-80, hier 80, das zweite bei [Gillot], Caton (Anm. 35), 62; derselbe Grundgedanke in einer Rede des Erzbischofs von Vienne, Charles de Marillac, bei der Notabienversammlung von Fontainebleau vom 23. 08. 1560, in der dieser für die Einberufung von Generalständen plädierte; Druck in: Lalource I Duval, Recueil de pieces originales et authentiques, concernant Ia tenue des Etats generaux, 9 Bde., Paris 1789, hier Bd. 1, Nr. 12,76-99, hier 88-99. 53 Wie die ,ordonnances' des 16. Jahrhunderts entstand auch der Code Michau im Kontext verschärfter konfessioneller Auseinandersetzungen, die kurz vor dem Erlaß dieser ,ordonnance' arn 15. 1. 1629 mit dem Fall von La Rochelle (28. 10. 1628) ihren vorläufigen Abschluß fanden; anders als etwa die böhmische Verneuerte Landesordnung von 1627 scheinen sie mir freilich kaum als Instrumente einer auf Konfessionalisierung abzielenden Politik deutbar; vgl. für das böhmische Beispiel Johannes Kunisch, Staatsräson und Konfessionalisierung als Faktoren absolutistischer Gesetzgebung. Das Beispiel Böhmen (1627}, in: Gesetz und Gesetzgebung (Anm. 1), 131-156. 51

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abhängig von ihrer spezifisch rechtlichen Wirksamkeit - Einfluß auf Rechts- und Wertvorstellungen ausüben, ihre Funktion also immer auch in der Diskursivierung von Normen und Normabweichungen liegt54• Im folgenden kann ich lediglich Indikatoren skizzieren, die die Vermutung nahelegen, daß Gesetzesbestimmungen vorwiegend bzw. ausschließlich diskursiv-ideologische Funktionen erfüllten, da sie keine spezifisch rechtliche Wirkung entfalten konnten. Besonders nahe liegt diese Vermutung bei deklarativen Gesetzespassagen, die keine konkreten Rechtsregeln beinhalteten. In den ,ordonnances de reformation' nahmen diese Passagen - wie bei vielen umfassenden Gesetzen der Vormodeme auch außerhalb der Präambeln einen relativ breiten Raum ein. In ihnen wurde nicht nur das Zustandekommen der Gesetze einschließlich der Beteiligung von Repräsentativversammlungen und des königlichen Rates dargestellt (was durchaus die normative Konkretisierung dieser Gesetze befördern konnte), sondern auch programmatische Aussagen, Ordnungsvorstellungen, Wertbekenntnisse und Appelle vermittelt, die vorrangig auf politisch-ideologische Wirksamkeit abstellten 55• So wurde die Gesetzgebungstätigkeit selbst thematisiert, indem etwa die Sorge der französischen Könige um die ,administration de Ia justice' und ihre traditionelle Rolle als Gesetzgeber unterstrichen56 und die Notwendigkeit von Gesetzesmodifikationen begründet wurde57 • Gelegentlich wurden auch Passagen eingefügt, die vorstellten, worauf Mißstände zurückzufuhren und wie sie zu überwinden seien. So wurde einerseits die Schuld an solchen Übeln der ,importunite', ,faute' oder ,malice' einzelner Personen, der allgemeinen ,corruption' oder den ,troubles' zugeschrieben und damit der König von Verantwortung entlastet58 • An54 Diesen Aspekt betonen Martin Dinges, Normdurchsetzung als Praxis? Oder: Warum werden die Normen zur Sachkultur und zum Verhalten so häufig wiederholt und was bedeutet dies für den Prozeß der "Sozialdisziplinierung", in: Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit [ ... ],Wien 1997, 39-53, hier 52, und Gerd Schwerhoff Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum. Zum Profil eines ,verspäteten' Forschungszweigs, in: Krirninalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, hrsg. v. A. Blauert/G. Schwerhoff Konstanz 2000,21 - 67, hier 52. 55 Vgl. zum Grundsätzlichen zuletzt Vec, Hofordnungen (Anm. 42), 61. 56 So heißt es etwa in der ,ordonnance' von Orleans, Art. 34, que l'office d'un bon roy est de faire rendre ses sujetsprompte justice sur /es lieux. Ausführlich geht auch die Präambel der ,ordonnance' von 1629 auf dieses Thema ein: Les rois nos pridicesseurs ont timoigni par les ordonnances qu'ils ontfait publier en divers temps, le soin qu'ils ont eu que lajustice fU.t dignement administrie; et par l'itablissement de bonnes loi.x, travailli maintenir un bon ordre entre leurs sujets, soit en paix ou en guerre, par le moyen de quoi cet estat ajleuri plus que tous les autres de Ia terre; ce qui a donni sujet leurs voisins et itrangers, d'emprunter souvent et se servir des reglements qu 'ils avoient faits. 57 Vgl. etwa die Präambel zur ,ordonnance' von 1629: ce qui est utile en une saison, peutetre aucunement prejudiciable en une autre, et les meilleurs polices sont ordinairement sujettes quelque dichiance, par Ia nigligence de ceux qui n 'ont pas le soin de les faire exactement entretenir. 58 So heißt es in der ,ordonnance' von Orleans zu den ,mariages forces' (Art. 111): qu'aucuns abusans de Ia faveur de nos pri dicesseurs par importuniti, ou plutost subrepticement,

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dererseits griffen viele Gesetzesartikel die Struktur der (gelegentlich explizit erwähnten) Ständebeschwerden auf und stellten der Schilderung der Übel die Entscheidung des Königs gegenüber, für die Abstellung des genannten Mißstands Sorge zu tragen (,pourvoir') und Ordnung zu stiften (,donner ordre') - eine Gegenüberstellung, die jenseits der konkreten Rechtsregel die Rolle des Königs als ordnungsstiftende Instanz vorstellte. Mutmaßlich ohne rechtsnormative Wirkung waren Passagen, in denen sich der Gesetzgeber zu allgemeinen Werten und Grundsätzen bekannte, etwa zur Notwendigkeit, den Adel zu schützen, oder zum Grundsatz, Verdienste von Personen durch Ehrbezeigungen statt durch Geld zu belohnen59 . Die Frage nach dem rechtsnormativen Gehalt stellt sich auch bei den zahlreichen Passagen, in denen auf die ältere Gesetzgebung bezug genommen und deren Bestimmungen eingeschärft wurden. An sich läßt die Tatsache, daß bereits ausreichend regulierte Materien erneut im seihen Sinne gesetzlich geregelt werden, auch in der modernen Gesetzgebung nicht zwingend auf eine lediglich symbolische Bedeutung der betreffenden Gesetze schließen, da die Neuregelung zu einer höheren normativen Wirksamkeit des Gesetzesinhalts beitragen und somit eine instrumentelle Funktion übernehmen kann60. Erst recht scheint mir für die Friihe Neuzeit angesichts der Kommunikationsbedingungen in einer stark oral geprägten Kultur und der allgemeinen Hochachtung gegenüber alten Rechtsnormen die Wiederholung und Einschärfung von Gesetzesbestimmungen und die Bezugnahme auf ältere Gesetze funktional im Sinne einer Verbesserung der rechtsnormativen Wirksamkeit gewesen zu sein und jedenfalls per se keinen Indikator für eine lediglich symbolische Funktion der betreffenden Gesetze bzw. Gesetzesteile darzustellen61 • Die hier untersuchten ,ordonnances • beschränkten sich allerdings nicht darauf, konkrete gesetzliche Regelungen einzuschärfen, sondern enthielten viele allgemeine Bezüge auf frühere Gesetze. So wurden in der ,ordonnance de Blois' die ,anciennes ordonnances' bzw. die ,ordonnances des rois nos predecesseurs' 23 mal evoziert, zahlreiche weitere Bezugnahmen auf ,nos ordonnances ', ,!es ordonnances' etc. kamen hinzu. Einige der betreffenden Artikel beschränkten sich darauf, die Geltung der alten Gesetze in einem bestimmten Materienbereich zu unterstreichen, ohne diese Gesetze oder deren Bestimmungen zu konkretisieren62 . Ob solche unspezifischen ont obtenu des lettres de cachet et closes, ou patentes, en venu desquelles ils ont fait siquestrer des jilles. In der Präambel des ,code Michau' wird erläutert, weshalb die Krone den Mißständen in den letzten Jahren nicht abhelfen konnte: comme la malicedes hommes s 'est accrue par les troubles et dbiglement dont notre royaume a i ti affligi par plusieurs annies, quelque remede qu 'on y aye voulu apponer; il n 'a esti possible de pourvoir a tous les inconviniens et abus que la licence avait introduits, ni a ritablir tout a-la-fois ce que la corruption de plusieurs siedes avoit fait mipriser ou pervenir. 59 Vgl. Art. 189 bzw. 377 der ,ordonnance' von 1629. 60 Vgl. in diesem Sinne Neves, Symbolische Konstitutionalisierung (Anm. 43), 35, gegen Schild, Bedeutung (Anm. 42), 197. 61 Vgl. Holenstein, Umstände (Anm. 40), 6-8; Stolleis, Normdurchsetzung (Anm. 41), 751; anders hingegen Dinges, Normdurchsetzung (Anm. 54).

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Regelungen zu einer größeren Wirksamkeit der betreffenden Norminhalte beitrugen, scheint zweifelhaft. Ihre primäre Funktion dürfte vielmehr ein grundsätzliches Bekenntnis zu den auch in den ,cahiers' immer wieder als Referenz dienenden ,anciennes ordonnances', zur Wiederherstellung und Geltung des älteren Gesetzesrechts gewesen sein. Das Bestreben, möglichst an das ältere Gesetzesrecht anzuknüpfen, verstärkte zudem das Problem, daß Widersprüche zwischen älteren und neu erlassenen Bestimmungen oftmals ungeklärt blieben. Zwar gab es einzelne Artikel, in denen ältere Regelungen explizit außer Kraft gesetzt wurden63 , und in der ,ordonnance' von 1629 ist das Bestreben unverkennbar, für einzelne Regelungsbereiche eine Zusammenfassung des geltenden Rechts zu erreichen64• Doch ungeachtet solcher kodifikatorischer Ansätze vermochten die ,ordonnances de reformation' die in sie gesetzten Erwartungen im Hinblick auf die Überwindung der Unübersichtlichkeit des Gesetzesrechts allein schon deshalb nicht zu erfüllen, weil ein Großteil der Bestimmungen auf einzelne Artikel der ,cahiers de doleances' Bezug nahm, was der Strukturierung des Rechtsstoffs enge Grenzen setzte und gelegentlich sogar Widersprüche zwischen einzelnen Artikeln ein und derselben ,ordonnance' zur Folge hatte65 . Schließlich war auch das Verhältnis des Gesetzesrechts zu anderen Rechtsquellen, insbesondere zum Gewohnheitsrecht, trotz mancher Vereinheitlichungstendenzen der ,ordonnances' 66 , vielfach unklar. All dies hatte zur Folge, daß in nicht wenigen Materienbereichen mehrere "Konditionalprogramme" einander überlagerten, was der rechtsnormativen Wirksamkeit des Gesetzesrechts zwangsläufig Grenzen setzte67 . 62 So lautet etwa Art. 316 der ,ordonnance' von Blois: Nous voulons /es ordonnances des rois nos predecesseurs, faites pour le ban et arriere-ban de nostre royaume, estre gardies selon leur forme et teneur. 63 So wird in Art. 64 der ,ordonnance' von Orleans eine Regelung zum Ennittlungsverfahren nonobstant [es ordonnances de nos predecesseurs getroffen; Art. 98 der ,ordonnance' von 1629 hebt bestimmte in Art. 151 der ,ordonnance' von Blois vorgesehene Ausnahmeregelungen im Hinblick auf gerichtliche Kommissionen auf. 64 Dies gilt v.a. für die ,police militaire', die in Art. 212-353 sehr systematisch behandelt wird; vgl. zur Bewertung dieses Teils als ,code militaire' Gabriet Hanotaux/ l..e Duc de La Force, Histoire du cardinal de Richelieu, 6 Bde., Paris 1896-1947, hier Bd. 4, 119; ferner Ulrich Muhlack, Absoluter Fürstenstaat und Heeresorganisation in Frankreich im Zeitalter Ludwigs XIV., in: Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, hrsg. v. J. Kunisch und B. Stollberg-Rilinger; Berlin 1986, 249-278, v.a. 268; ein Zug zur Systematisierung ist auch in den Bestimmungen zum ,crimen lesae majestatis' (Art. 170-180) erkennbar. 65 Vgl. am Beispiel der ,ordonnance' von 1629 Uon Desjonqueres, Le gardedes sceaux Michel de Marillac et son reuvre legislative, these, Paris 1908, 97 - 99. 66 In den ,ordonnances' finden sich relativ häufig Bestimmungen, die ausdrücklich ungeachtet gegenteiliger örtlicher ,coutumes' oder ,usances' gelten sollten, vgl. ,ordonnance' von Orleans, Art. 15, 19; ,ordonnance' von Moulins, Art. 18, 71 ; ,ordonnance' von Blois, Art. 20, 47, 115, 163, 171; ,ordonnance' von 1629, Art. 13, 124, 157; andere Bestimmungen bestätigten freilich ganz unspezifisch bestehende örtliche ,usances'.

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Auffällig ist ferner die inhaltliche Offenheit vieler Gesetzesbestimmungen, und zwar sowohl hinsichtlich der inkriminierten Tatbestände wie hinsichtlich der angedrohten Rechtsfolgen. Wie die ,cahiers' beschränkten sich die Gesetzesbestimmungen vielfach auf allgemeine Umschreibungen eines abzustellenden Mißstandes, ohne das zu sanktionierende Verhalten exakt zu definieren. Noch vager waren oft die Bestimmungen hinsichtlich der bei einem Verstoß gegen die betreffende Norm zu gewärtigenden Rechtsfolgen. Sie beinhalteten häufig lediglich die Aufforderung an die Amtsträger, sicherzustellen, daß die Mißstände abgestellt wurden68 , nicht selten mit dem Zusatz, andernfalls müßten sie sich ihrerseits verantworten oder gar mit dem Verlust ihres Amtes rechnen69. Diese Offenheit ist freilich kein spezifisches Kennzeichen der hier zur Debatte stehenden ,ordonnances de reformation', sondern kennzeichnet einen erheblichen Teil der vormodernen Gesetzgebung70 • Derart offene Gesetzesbestimmungen, die den lokalen Amtsträgem einen weiten Ermessensspielraum bei der Einschätzung wie bei der Sanktionierung von Mißständen ließen, stellten sehr rudimentäre "Konditionalprogramme" dar, die nur in geringem Maße spezifisch rechtliche Wirkung entfalten konnten und statt dessen vor allem symbolisch wirkten: Sie verdeutlichten den Anspruch des Gesetzgebers, in den betreffenden Bereichen als ordnungsetzende Instanz zuständig zu sein, und suchten sein Bekenntnis zu den durch die betreffenden Mißstände verletzten Werten und seinen Appell an das Pflichtbewußtsein der königlichen Amtsträger zu vermitteln; gelang dies, konnten solche Gesetzesbestimmungen durchaus eine Verbal67 Art. 207 der ,ordonnance' von Blois sah deshalb (wie von den Generalständen gefordert, vgl. Anm. 38) die Einsetzung einer Kommission vor, die eine Kompilation der wichtigsten Gesetze erarbeiten sollte; auf diesen Anstoß ging der unter Federführung des ,premier president' am ,parlement de Paris', Ba17Ulbe Brisson, zusammengestellte Code du Roy Henry III. Roy de France et de Pologne, Paris 1587, zurück, der durch die Krone nicht approbiert wurde, aber dennoch viele Neuauflagen erfuhr; parallel dazu entstanden zahlreiche Kompilationen, sie boten detaillierte Verweisungen, verdeutlichten aber oftmals durch Verweise auf das Römische Recht das Nebeneinander unterschiedlicher Normsysteme; vgl. etwa Pierre Guenois, La Conference des ordonnances et edits royaux, distribuee en XII livres, a l'imitation du Code de l'Empereur Justinian [ . .. ],zuerst Paris 1585; das Werk erfuhr unter dem Titel ,La Grande Conference des ordonnances et edits royaux' im 17. Jahrhundert zahlreiche Neuauflagen. 68 So bestimmte die ,ordonnance' von Orleans zu Übergriffen adliger ,seigneurs' (Art. 106): Sur la remontrance et plainte faite par les deputez du tiers estat, contre aueuns seigneurs de nostre royaume, de plusieurs extorsions, corvees, contributions, et autres semblables exactions et charges indues, nous enjoignons tres-expressement nos juges de faire leur devoir; et administrer la justice a tous nos sujets, sans exception de personnes, de quelque autorite et qualite qu'ils soient, et nos avocats et procureurs y tenir La main, et ne permettre que nos pauvres sujets soient travaillez et opprimez par la puissance de leurs seigneurs feodaux, censiers, ou autres, ausquels defendons intimider ou menacer leurs sujets et redevables, leurs enjoignons se porter envers eux moderement. 69 V gl. etwa ebd., Art. 98: Enjoignons tres-expressement tous juges et aux maire, eschevins et conseillers des villes, de tenir la main a[Ia] decoration [gemeint ist hier die bauliche Instandsetzung] et bien public de nos villes, apeine de s'en prendre aeux, en cas de dissimulation ou negligence. 70 Analoge Beobachtungen zu den Policeyordnungen bei Stolleis, Normdurchsetzung (AI1m. 41), 748.

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tenssteuerung bewirken. Pointiert könnte man formulieren: Solche Gesetzesbestimmungen konnten befolgt, aber nur schwer angewandt werden; ihre Wirkung war also nicht primär rechtsnormativ. Faßt man die anhand der Gesetzestexte gewonnenen Befunde zusammen, so scheint mir unverkennbar, daß die ,ordonnances de r6formation' von ihrer Anlage her in starkem Maße auf expressive und symbolische Wirkungen abstellten, während andererseits für erhebliche Teile nur von einer begrenzten rechtsnormativen Wirkung ausgegangen werden kann.

VI. Die Beobachtungen am Text der ,ordonnances' reichen nicht aus, um auf deren rechtsnormative Wirkungslosigkeit zu schließen, denn erhebliche Teile dieser Gesetze erhielten durchaus Rechtsregeln, die hinreichend präzise formuliert waren, um angewandt und durchgesetzt zu werden. Wie weit dies in der Praxis der Fall war, dürfte ohne eingehende Untersuchungen zur Tatigkeit einzelner Gerichte bzw. Verwaltungsorgane schwerlich zu beurteilen sein. Für einzelne Bestimmungen freilich sind auch ohne derartige Studien gesicherte Aussagen möglich. So trugen um ein prägnantes Beispiel zu wählen - die ,ordonnances de n!formation' des 16. Jahrhunderts den von Generalständen und öffentlicher Meinung beinahe unisono erhobenen Klagen gegen Überzahl, Amtsmißbrauch und Eigennutz der ,officiers' durch zahlreiche Bestimmungen Rechnung, die das Verbot bzw. die Abschaffung der Ämterkäuflichkeit und die Verringerung der seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts explosionsartig gewachsenen Anzahl der ,officiers' vorsahen71 • Ein Blick in die Handbücher genügt jedoch, um festzustellen, daß ungeachtet mancher Ansätze mittel- und langfristig keine dieser Bestimmungen umgesetzt wurde72• Kaum besser scheint es um die Durchsetzung von Regelungen über die (angesichts der Ämterkäuflichkeit zunehmend brisante) Tatigkeit mehrerer Angehöriger einer Familie an einem Gerichtshof (,parente'f3 sowie über den Mißbrauch von Gerichtsstandsprivilegien74 bestellt gewesen zu sein75 . 71 Vgl. Art. 30, 39-41, 50, 51, 82, 85,94 und 131 der ,ordonnance d'Orleans'; Art. 24 der ,ordonnance de Roussillon'; Art. 9, 13 und 84 der ,ordonnance de Moulins'; Art. 100, 101, 104, 111 und 212-254 der ,ordonnance de Blois'; vgl. Roland Mousnier, La venalite des offices sous Henri IV et Louis XIII, 2. Aufl., Paris 1971, 86-89. n Zur Entwicklung der ,venalite' Martin Göhring, Die Ämterkäuflichkeit im Ancien Regime, Berlin 1938; Mousnier, Venalite (Anm. 71); Kuno Böse, Die Ämterkäuflichkeit in Frankreich vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: Ämterhandel im Spätmittelalter und im 16. Jahrhundert. Referate eines internationalen Colloquiums in Berlin vom 1. bis 3. Mai 1980, Berlin 1984, 83- 111; Klaus Malettke (Hrsg.), Ämterkäuflichkeit: Aspekte sozialer Mobilität im europäischen Vergleich (17. und 18. Jahrhundert), Berlin 1980; zur Entwicklung der Anzahl der ,officiers ', die von 1515 bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts von ca. 4.000 auf ca. 46.000 stieg, vgl. Roland Mousnier et al., Le Conseil du Roi de Louis XII a Ia Revolution, Paris 1970, 17- 20; Guy Cabourdin I Georges Viard, Lexique historique de Ia France d' Ancien Regime, Paris 1978, 236; James Russell Major, From Renaissance Monarchy to Absolute Monarchy. French Kings, Nobles & Estates, Baltimore/London 1994,32.

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Mögen diese Beispiele auch kein repräsentatives Bild der Gesamtwirksamkeit der ,ordonnances de reformation' vermitteln, so betreffen sie doch zentrale Fragen der ,administration de lajustice', jenes Bereichs also, der nach dem oben skizzierten Herrschaftsverständnis die wichtigste Aufgabe des Königs darstellte und für die Herleitung und Konzeptualisierung der Gesetzgebung von entscheidender Bedeutung war. Nicht umsonst ist mehr als die Hälfte der Artikel der ,ordonnances de reformation' des 16. Jahrhunderts diesem Materienbereich zuzuordnen76 • Sie berührten zudem den rechtlichen und sozialen Status sowie die Kontrolle der mit der Anwendung der Gesetzesnormen betrauten Amtsträger und damit einen Gegenstand, der in der Gesetzgebung fast aller frühmodernen Staaten einen breiten Raum einnahm. Denn die den Amtsträgem vom Gesetzgeber eingeräumte Autonomie bei der Handhabung von Gesetzesbestimmungen trug angesichts der Einbindung dieser Personen in lokale, familiäre, ständische und klienteläre Netzwerke dazu bei, daß Gesetzesbefehle in der Regel nur insoweit umgesetzt wurden, als sie mit den von den Amtsträgern vertretenen Interessen vereinbar waren77 • Die Käuflichkeit und Vererblichkeit von Ämtern verstärkte diese Tendenz, da sie die soziale und materielle Unabhängigkeit der Amtsträger gegenüber der Krone untermauerte78 . Fragt man nach den Gründen für die rechtsnormative Wirkungslosigkeit der oben genannten Bestimmungen, ist zunächst auf den Widerstand der ,officiers de 73 Vgl. ,ordonnance' von Orleans, Art. 32; ,ordonnance' von Moulins, Art. 85; ,ordonnance' von Blois, Art. 116. 74 Vgl. ,ordonnance' von Orleans, Art. 34, 36, 74, 75; ,ordonnance' von Roussilon, Art. 21; ,ordonnance' von Moulins, Art. 38, 39, 56; ,ordonnance' von Blois, Art. 83, 152, 178; wichtige Regelungen zu diesem Bereich bereits in Art. 42-45 der ,ordonnance' von Blois vorn März 1499; Druck: Isambert, Recueil (Anrn. 8), Bd. 11, Nr. 26, 323-379. 75 Zur Beschränkung der ,parentes' bemerkte der Siegelbewahrer Marillac 1628 in einem Schreiben an den ,procureur general' arn ,parlernent de Paris', Mole: [cette loi] a estefaite a Orleans et negligee, repetee a Moulins, et negligie, renouvelie a Blois avec des termesfort expres et neantmoins encores negligie, repetie et renouvelie en chaque provision et tousjours negligie; Schreiben vorn 15. 1. 1628, Druck: Memoires de Mathieu Mole [ ... ], hrsg. v. Aimi Champollion-Figeac, 4 Bde., Paris 1855 - 1857, Bd. 1, 500-503, hier 501; zum Mißbrauch der Gerichtsstandsprivilegien vgl. die 15. ,proposition' der Krone für die Notabienversammlung des Jahres 1617, Druck: ebd., 202; zum Ganzen ferner Desjonqueres, Marillac (Anrn. 65), 129-132 und 136-139. 76 Etwa 60 der 150 Art. der ,ordonnance' von Moulins, etwa 35 der 39 Art. der ,ordonnance' von Roussillon, etwa 75 von 86 Art. der ,ordonnance' von Moulins und etwa 165 der 363 Art. der ,ordonnance' von Blois (insgesamt ca. 335 von 638 Art.) betrafen diesen Materienbereich. 77 Vgl. zu diesem Problem grundsätzlich Michael Stolleis, Grundzüge der Bearntenethik, 1550-1650, in: ders., Staat und Staasträson in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1990, 197 -231; ders., Normdurchsetzung (Anm. 41), 756; auch Schlumbohm, Gesetze (Anm. 6), charakterisiert die Stellung der Amtsträger treffend (656). 78 Vgl. Ernst Hinrichs, Absolute Monarchie und Bürokratie. Bemerkungen zu ihrer Unvereinbarkeit im französischen Ancien Regime, in: ders., Ancien Regime und Revolution. Studien zur Verfassungsgeschichte Frankreichs zwischen 1589 und 1789, Frankfurt a. M. 1989, 81-98.

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justice' selbst zu verweisen. Zumal die Obergerichte, denen seit dem 14. Jahrhundert das Recht zustand, Rechtsakte des Königs vor der Registrierung zu priifen und ihre Bedenken gegebenenfalls in Form von Remonstranzen mitzuteilen 79, nutzten ihre Stellung zur Beeinflussung bzw. Verhinderung von ihren Interessen entgegenstehenden Gesetzen. Daß die Krone und die Generalstände bestrebt waren, die im Gefolge von Ständeversammlungen erlassenen ,ordonnances' von der Priifung durch die Obergerichte auszunehmen, verschärfte deren Skepsis noch. Tatsächlich gelang es nicht, die ,verification' der ,ordonnances de reformation' zu verhindem80 - mit der Folge, daß diese Gesetze von den ,parlements' jeweils nur mit Modifikationen registriert wurden81 • Entscheidend für die Wirkungslosigkeit der angeführten Bestimmungen war aber vor allem die Tatsache, daß die Krone selbst gegen sie verstieß. Zwar scheint es mir falsch zu unterstellen, die genannten Gesetzesbestimmungen seien in der Absicht erlassen worden, die Untertanen zu täuschen, hätten also von vomherein auf die nur symbolische Befriedigung jener Normvorstellungen abgestellt, denen sie rechtsnormative Geltung zu verleihen schienen. Denn angesichts der durch das Heer der ,officiers' verursachten langfristigen Kosten und wachsender Konflikte mit den zunehmend autonom agierenden Gerichtshöfen war auch die Krone an einer Reduzierung der Anzahl der Amtsträger, der Abschaffung der Ämterkäuflichkeit, einer verschärften Aufsicht gegenüber den ,officiers' sowie an einer Begrenzung gerichtlicher Sonderrechte interessiert - Ziele, denen zumal der bei der Erarbeitung der ,ordonnances' der 1560er Jahre federführende Kanzler l'Höpital am ehesten im Wege einer konsensualen, sich ausdrücklich auf die Forderungen der Generalstände berufenden Gesetzgebung rechtsnormative Wirksamkeit verleihen zu können glaubte82. 79 Vgl. zur Entwicklung des Registrierungs- und Verifikationsrechts der ,parlements' Filix Aubert, Histoire du Parlement de Paris de l'origine aFran~ois ler, 1250-1515, 2 Bde., Paris 1894, hier Bd. 1, 357 - 364; Edouard Maugis, Histoire du Parlement de Paris de l' avenement des rois Valois a Ia mort d' Henri IV, 3 Bde., Paris 1913 - 1916, ND New York 1967, hier Bd. 1, 517- 546; James Hosea Kitchens, The Par1ement of Paris During the Ministry of Cardinal Richelieu, 1624- 1642, 2 Bde., Ph.D. thesis (masch.) The Louisiana State University Baton Rouge 1974, Mikrofilm Ann Arbor 1981,73-80. 80 Vgl. im einzelnen Schilling, Krisenbewältigung (Anm. 9). 81 Vgl. zu den Beratungen der ,parlements' die Remontrances tres-humbles [ . . . ] sur !es Ordonnances par lui faites sur !es plaintes, requetes & doleances des Etats de son Royaume, envoyees audit Parlement pour y etre Iues, publiees & enregistrees (August 1561); Druck: Lalourci /Duval, Recueil de pieces (Anm. 52), Bd. 1, Nr. 28, 369-384, sowie die (nicht immer exakte) Wiedergabe der Registerauszüge des ,parlement de Paris' vom 23.6. bis 31. 7. 1561 in: Memoires de Conde (Anm. 18), II, 401-409, und vom Mai 1579 bis Januar 1580 bei Lalourci/Duval, Recueil de pieces (Anm. 52), Bd. 3, Nr. 51, 649-684; Hinweise auf die Nichtregistrierung einzelner Artikel auch in den Kommentaren der Ausgabe von Niron/Girard, Recueil (Anm. 8). 82 Vgl. Seong-Hak Kim, Michel de L'Höpital. The Vision of aReformist Chancellor during the French Religious Wars, Kirksville 1997, hier 146- 170; ferner die Einleitung von Robert Descimon, in: I' Hospital, Discours (Anm. 27), 27-32, sowie Schilling, Krisenbewältigung (Anm. 9).

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Doch sorgte in der Praxis vor allem die durch immer neue Religionskriege bedingte Finanzkrise dafür, daß die Krone die Bestimmungen über die Reduzierung der Ämter und die Aufhebung der Ämterkäuflichkeit jeweils bald nach ihrem Inkrafttreten fallenließ und weitere Ämter schuf und verkaufte. Unter Heinrich IV. wurde das System der ,venalite' dann durch die Einführung einer verbindlichen Regelung über die Vererblichkeit der gekauften Ämter weiter stabilisiert, so daß fortan an dessen Abschaffung kaum mehr zu denken war. Die Normen über familiäre Verbindungen der Gerichtsmagistrate und über privilegierten Gerichtsstand wiederum wurden vor allem deshalb weitgehend wirkungslos, weil die Krone angesichts knapper Mittel zur Gewährung von ,pensions' und Geschenken 83 im Rahmen ihrer Klientel- und Patronagepolitik auf die Erteilung von Ausnahmeregelungen nicht verzichten wollte, auch wenn dies die betreffenden Bestimmungen der ,ordonnances de r6formation' konterkarierte. Unter Heinrich IV. wurde den betreffenden Regelungen zwar deutlich mehr Beachtung geschenkt, doch nach der Ermordung des Königs 1610 kehrte die Krone rasch zu der während der Religionskriege verfolgten Linie zurück. Faktisch handelte es sich bei den skizzierten Bestimmungen also um hypertroph symbolische Gesetzesnormen. Welche symbolischen Wirkungen von ihnen ausgingen, dürfte verständlicher werden, wenn man die zeitgenössischen Vorstellungen über das Verhältnis des monarchischen Gesetzgebers zum tradierten Recht in den Blick nimmt. Nach einer bis weit ins 16. Jahrhundert dominierenden Auffassung war der König bei seinen Akten nicht nur an das göttliche und natürliche Recht, sondern auch an das Rechtsherkommen gebunden84, dem im 16. Jahrhundert auch das Prinzip des natürlichen Richters (chacun plaide devant son juge naturel)85 und der Grundsatz zugerechnet wurde, der König dürfe seine wichtigste Aufgabe, die ,administration de Ia justice', nicht gegen Geld verkaufen 86• Andererseits wurde dem König unter Bezugnahme auf die bereits im Spätmittelalter geläufige Unterscheidung zwischen der ,potestas ordinaria' und der ,potestas absoluta' zugebilligt, in Not- und Krisenfällen, also bei Vorliegen einer unabweislichen ,necessite ', das tradierte Recht zu suspendieren und ihm widersprechende Befehle und Gesetze zu erlassen87 . Im Laufe der Regierung Franz' I. ließ die Krone jedoch immer deutli83 Vgl. James Russell-Major; The loss of royal initiative and the decay of the estates general in France 1421-1615, in: Album Helen Maud Cam, Paris/Löwen 1960, 247 -259; ders., Renaissance Monarchy (Anm. 71), 108-112. 84 Vgl. zuletzt Durand, Royal Power (Anm. 24), 294 f. 85 Es besagte, daß niemand gezwungen werden dürfe, vor einem anderen als seinem örtlich zuständigen Richter einen Prozeß zu führen; vgl. etwa David Parker, Sovereignty, Absolutism and the Function of the Law in Seventeenth-Century France, in: Past and Present 122 (1989), 36-74, hier 54 f. 86 Vgl. Kuno Böse, Die Auseinandersetzung um die Ämterkäuflichkeit in Frankreich, in: Soziale und politische Konflikte im Frankreich des Ancien Regime, Berlin 1982, 125- 189. 87 Vgl. zur spätmittelalterlichen Debatte Krynen, L'empire (Anm. 33), 390-402; zur Diskussion des 16. Jahrhunderts William F. Church, Constitutional Thought in Sixteenth-Century

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eher eine Neigung zum habituellen Gebrauch der absoluten Gewalt erkennen. Seit der Mitte des Jahrhunderts mehrten sich denn auch Stimmen, die auf die Gefahren eines Mißbrauchs des ,pouvoir absolu' hinwiesen - eine Warnung, die mit dem Ausbruch des religiösen Bürgerkriegs aus der gelehrten in die allgemeine politische Debatte übernommen wurde. Denn nun wurde der Vorwurf "absoluter" Handhabung der Macht zum zentralen Argument der von der üblichen Beteiligung an der Herrschaft (und am königlichen Patronagewesen) Ausgeschlossenen, das 1560 von den Hugenotten gegen die Guise ebenso verwandt wurde wie 1576 von den Malkontenten beider Konfessionen gegen Heinrich III. oder später von der Liga gegen Heinrich IV. Neben den bereits erwähnten Beschwerden wegen der ,innovation' bzw. ,multiplicite des lois', die ihrerseits eng mit der Ämterproblematik verknüpft waren, gehörte die Kritik an der zunehmenden Durchsetzung der ,venalite des offices' zu jenen Themen, an denen der Mißbrauch des ,pouvoir absolu' besonders häufig illustriert wurde88 . Vor diesem Hintergrund scheint mir die symbolische Funktion der Bestimmungen zur Reduktion der ,officiers ', zur Abschaffung der Ämterkäuflichkeit und zur Einschränkung der ,parentes' in erster Linie darin gelegen zu haben, zu vermitteln, daß auch die Krone die Geltung der überkommenen Rechtsgrundsätze im Grundsatz anerkannte und die seit Franz I. eingeführten ,innovations' als durch die ,necessite' erforderliche Ausnahmeregelungen verstand89• In diesem Sinne betonte France. A Study in the Evolution of Ideas, Carnbridge u. a. 1941, sowie Arlette Jouanna, Le devoir de revolte. La noblesse fran~aise et Ia gestation de !'Etat moderne, 1559-1661, Paris 1989, 327- 334; dies., Die Debatte über die absolute Gewalt im Frankreich der Religionskriege, in: Der Absolutismus - ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550-1700), hrsg. v. R. G. Asch/H. Duchhardt, Köln/Wien 1996, 57- 78. 88 Die ständige Zunahme der ,offices' wurde vielfach als Ausweis eines despotischen Regiments interpretiert und in einem Atemzug mit der Ausweitung der königlichen Gesetzgebu'!-.8 und der ,multiplicite des lois' kritisiert, was nicht nur daran lag, daß die Schaffung neuer Amter in Gesetzesform erfolgte, mit der Folge, daß zeitweise 40% der neu erlassenen Gesetze diesen Gegenstand betrafen (vgl. im einzelnen Albert Cremer, Die Gesetzgebung im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Gesetz und Gesetzgebung [Anm. 1], 33-53, hier 44-52), sondern auch deshalb, weil die Verkomplizierung des Rechts durch immer neue Gesetze vor allem in der Judikatur eine ständig wachsende Anzahl an ,officiers' erforderte. Pointiert zu diesem Problem Pasquier, Pourparler du Prince (Anm. 15), 75; ferner Vittorio De Caprariis, Propaganda e pensiero politico in Francia durante le guerre di religione, Bd. l: 1559-1572 (mehr nicht erschienen), Neapel 1959, 274-277; Salvo Mastellone, Venalita e Machiavellismo in Francia (1572-1610): All'origine della mentalita politica borghese, Florenz 1972, 145-158. 89 Anders als den Grundsatz der Unverkäuflichkeil der Gerichtsämter anerkannte die Krone das Prinzip des ,juge nature!' auch noch im späten 16. und im 17. Jahrhundert; so betont etwa Art. 13 eines im Gefolge einer Notabienversammlung erlassenen ,edit sur l'administration de lajustice' vom Januar 1597 (das v.a. die Bestimmungen der ,ordonnances de retormation' einschärfte), es sei untersagt de distraire nosdits subjets de leur nature/ ressort et juridiction; Druck in: Isambert, Recueil (Anm. 8), Bd. 15, 120-128, hier 123 f. ; in diesem Sinne sprach auch der als typischer Vertreter absolutistischer Positionen bekannte Jurist Cardin le Bret von einem ordre qui a este estably par la nature mesme; De Ia souverainete du

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die ,ordonnance' von Blois, que nostre intention est defaire cesserdu tout la venalite desdits offices, laquelle a nostre tres grand regret a este soufferte pour l 'extreme necessite des affaires de nostre royaume90• Über die Anerkennung einzelner Rechtsgrundsätze hinaus vermittelten solche Regelungen eine allgemeine "Botschaft" mit Blick auf die skizzierte Diskussion um die verfassungsrechtliche Stellung des Königs, indem sie einerseits die Unterscheidung zwischen regulärer und außerordentlicher Gewalt anerkannten, zugleich aber die Frage nach den Voraussetzungen für den Gebrauch des ,pouvoir absolu' und damit für die Befreiung des Königs vom überkommenen Recht offenließen.

VII. Wie aber haben Öffentlichkeit und Untertanen auf die hypertroph symbolische Beantwortung ihrer Forderungen nach Gesetzgebung reagiert? War für sie - wie Schlumbohm meint - mit dem Erlaß und der Publikation der ,ordonnances' "ein wesentlicher Teil dessen, was von der Herrschaft erwartet wurde", erfüllt? Betrachtet man die französischen Diskussionen der hier untersuchten Zeit, ergibt sich ein anderes Bild. Tatsächlich setzte sich bald der Eindruck durch, diese Gesetze seien - wie überhaupt die meisten Gesetze in Frankreich - wirkungslos. So notierte Pierre Estoile 1579 anläßlich der Verkündung der ,ordonnance de Blois' in seinem Tagebuch, dieses Gesetz enthalte viele gute Regelungen, lesquelles, s'il plaisoit Dieu et au Roy qu 'elles fussent bien observees, tous [es Estats et peuple de France en seroient grandement souZages et satisfaits, mais est craindre qu'on en die, comme de l'Edit des Estats d'Orleans et de toutes autres bonnes ordonnances faites en France: Apres trois jours, non vallables91 • 1614 wiederholte eine anonyme Flugschrift die inzwischen offenbar zum Topos gewordene Dreitageformel und unterstrich zugleich den aus der Nichtachtung der Gesetze erwachsenden Schaden: L'observation des Edicts ne dure pas 3 iours: lncroyable ruine a l'Estat & sujet de mespris aux estrangers92 .

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Die ,ordonnances de reformation' trugen nicht wie erhofft dazu bei, die vielfach beklagte Mißachtung des Gesetzesrechts zurückzudrängen, sondern rückten dieses Problem erst recht ins öffentliche Bewußtsein, zumal bei den Diskussionen aus Anlaß der jeweils folgenden Generalstände. In den zahlreichen im Kontext der Roy, in: Les reuvres de Messire C. Je Bret [ ... ], Revües, corrigees & augmentees par I' Autheur, Paris 1635, 1-336, hier 242. 90 ,Ordonnance de Blois', Art. 100. 91 Pierrede l'Estoile, Registre-journal du regne de Henri III, edite avec une introduction et des notes par Madeleine Lazard et Gilbert Schrenck, bislang 3 Bde., Genf 1992, 1996, 1997, hier Bd. 3, 91 f. 92 Advis, remonstrances et requestes (Anm. 28), 18.

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Ständeversammlungen publizierten Denkschriften wurde immer wieder betont, Frankreich verfüge zwar über gute Gesetze, doch kümmere man sich viel zu wenig um deren Umsetzung. Mit Blick auf die ,ordonnances de reformation' der letzten Jahrzehnte hieß es etwa 1588 in einer aus Anlaß der zweiten Generalstände von Blois erschienenen Flugschrift, nous pouvons vrayement appeler Ia France mere des loix, mais mauvaise nourrice d'icelles, les estouffant taut aussi tost qu 'elles sont nees: qui me fait desirer que nos ordonnances se peussent graver en diamans & non pas sur Ia eire, c'est a dire, qu'on derneurast lang temps a les dresser: mais qu 'apres constamment & perpetuellement elles fussent observees93 . Der Wunsch nach auf Diamanten eingravierten Gesetzen spiegelte einerseits die verbreitete Vorstellung, wonach gerade die ,ordonnances de reformation' dauerhaft gültig sein und die ständige Änderung des Gesetzesrechts begrenzen sollten, verwies aber auch indirekt auf die Verantwortung des Gesetzgebers, der solche Gesetze auf die Schnelle erließ, ohne für ihre Achtung Sorge zu tragen. Tatsächlich veranlaßte die Erfahrung mit den ,ordonnances de reformation' manche Zeitgenossen, die Gründe für die mangelnde ,Observation' der Gesetze genauer in den Blick zu nehmen. Neben der bereits angesprochenen Vielzahl und Unübersichtlichkeit des Gesetzesrechts wurde nun besonders das Verhalten der ,officiers' für die Wirkungslosigkeit der Gesetze verantwortlich gemacht. Vor allem 1614, als der Hinweis auf die allgemeine Unordnung und die Religionskriege kaum mehr zur Rechtfertigung der Nichtachtung bzw. Nichtanwendung der Gesetze herangezogen werden konnte, standen sie im Mittelpunkt der Kritik. Die negligence ou connivence des Iuges94 galt als der entscheidende Grund für die Wirkungslosigkeit der vielen guten Gesetze. So hieß es zu den strafrechtlichen Bestimmungen des Gesetzesrechts: Pour le regard des crimes et punition d'iceux, y a[-t-]il au monde tant de bonnes loys que pour cella? Et neanmoins combien de negligences aux poursuittes, combien de proces gastez par faveurs d' amys et parentes95 . Neben den ,officiers' machte man aber auch die Krone für die Kraft- und Wirkungslosigkeit des Gesetzesrechts verantwortlich96. Vorgeworfen wurde ihr nicht nur die mangelnde Aufsicht der ,officiers', sondern- zumindest in Einzelfällenauch Eingriffe in den Gang der ,justice ordinaire' durch ,lettres de rernission', ,lett93 [Claude Binet], Harangue pour !es Estats, Lyon 1588, erneut in: Memoires de Conde (Anm. 18), Bd. 3, 104-108, hier 107. 94 Die Formulierung in: Des Estats Generaux de France. Avec ouverture des moyens d'une bonne reformation, pour le bien du service du Roy & de son estat, utilite, commodite & soulagement de son peuple & pour l'execution des ordonnances, o.O. 1615, 35. 95 Anonyme Remonstranz, Archives Nationales Paris, K 675, Nr. 48; der Hinweis auf die ,parentes' illustriert, welche Bedeutung dem Thema im Zusammenhang mit der Gesetzestreue der ,officiers de justice' beigemessen wurde. 96 [Les lois] sont meprisees, avec l'authorite des Roys et magistrats,faulte de fesfaire observer et garder; hieß es 1614/15 in einer handschriftlichen ,remontrance'; Archives Nationales, K 675, Nr. 48, und in einer Flugschrift wurde betont: c'est donc [auf Conseil qu'il se faut prendre en ce temps, si les bonnes loix ne sont pas observees; Advis, remonstrances et requestes (Anm. 28), 21.

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res d'abolition' und die bereits angesprochenen Dispensationen. So vertrat der Verfasser einer anonymen Flugschrift die Auffassung, die vielfach erteilten graces, remissions & abolitions machten die als remparts, &forteresse de l'Estat verstandenen Gesetze wirkungslos, da sie es den Feinden der guten Ordnung erlaubten, sich in das Gemeinwesen einzuschmuggeln97 • Kritisiert wurde auch, daß die Krone immer wieder neue Gesetze erließ und mit großem Aufwand Generalstände inszenierte, um über deren Beschwerden in einem Gesetz zu entscheiden, für dessen Umsetzung sie sich danach kaum engagierte. So warnte eine 1588 im Umfeld der zweiten Generalstände von Blois erschienene Flugschrift den König davor, auf die gleiche Weise wie ein Jahrzehnt zuvor erneut ein Gesetz zu erlassen, ohne dessen Anwendung durchzusetzen. Die Nichtachtung einer auf die Beschwerden der Stände hin erlassenen ,ordonnance' lasse das Volkjede Hoffnung auf gute Regelungen verlieren und gefährde auf die Dauer die Grundlagen des Königtums98 . Urteile der jüngsten Forschung beinahe vorwegnehmend, bewertete eine zur selben Zeit erschienene Schrift die Gesetzgebung der Krone als lediglich symbolisches, rechtlich aber wirkungsloses Handeln: Nous [ . . . ] avons pris telle habitude, quelque douleur qui nous presse, ne monstrer & ne ehereher rien que l'apparanee exterieure en toutes ehoses, faire de grandes assemblees grandsfrais qui se resolvent en fumee, adresserde belles loix & ordonnanees, & ne rien effeetuer99 • Ähnlich wurde 1614 betont, die Krone mache sich über die Generalstände lustig, wenn sie das in deren Gefolge erlassene Gesetz wie schon die ,ordonnances' von Orleans und Blois nicht umsetze 100.

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Die Beispiele zeigen, daß in Frankreich vom Beginn der Religionskriege bis zum Beginn der Ära Richelieu eine breite Öffentlichkeit die Anwendung und Durchsetzung der königlichen ,ordonnances' genau beobachtete und kritisierte. Trotz struktureller Bedingungen, die dazu führten, daß dem Erlassen und Verkünden von Gesetzen im Vergleich zu den Norminhalten großes Gewicht zukam, kann also keineswegs von einem allgemeinen Desinteresse an der rechtsnormativen Wirksamkeit der einmal erlassenen Gesetzesnormen ausgegangen werden. Hypertroph symbolische bzw. als hypertroph symbolisch wahrgenommene Gesetze wurden vielmehr als Belastung der öffentlichen Ordnung eingeschätzt und nicht zuletzt dem Gesetzgeber selbst angelastet, der durch sie leichtfertig die Wirksamkeit von Gesetzen und die Stabilität der Rechtsordnung insgesamt gefährdete. Auch in der Frühneuzeit kostete es also den Gesetzgeber Legitimität, wenn die behauptete Des Estats Generaux (Anm. 94), 55 f. [Etienne Pasquier], Advis au Roy, o.O. 1588, erneut in: Estienne Pasquier. Ecrits Politiques, hrsg. v. Dorothy Thiekett, Genf 1966, 91 - 126, hier 115 f. 99 [Binet], Harangue (Anm. 93), 107. 100 C'est se moquer des estats de les faire assembler pour donner advis au Roy des moiens de pourvoir aux abus de son Royaume, sy l'on n'est oblige et cantraint d'observer ce qui sera advise et ordonne. Nous en avons veu l'experience des ordonnaneesfaites tant a Orlians que principallement en celles de Blois, auxquelles on a plustost deroge qu'elles n'ont este exercies (Anonyme Remonstranz, Archives Nationales Paris, K 675, Nr. 56). 97 98

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rechtsnormativ-instrumentelle Funktion von Gesetzen dauerhaft blockiert war und die symbolisch-expressiven Variablen hypertroph wurden 101 . Die Folgerungen und Forderungen, die sich nach Auffassung der Zeitgenossen aus den rechtsnormativen Wirkungsdefiziten der ,ordonnances de reformation' des 16. Jahrhunderts ergaben, können hier nicht im einzelnen erörtert werden. Neben der sich in zahlreichen Artikeln der ,cahiers' niederschlagenden Forderung nach strengerer Kontrolle der ,officiers' standen Bestrebungen im Vordergrund, den Gesetzgeber selbst in stärkerem Maße auf die von ihm erlassenen Gesetze zu verpflichten. So findet sich in den ,cahiers de doleances' vielfach der Vorschlag, der König solle Ausnahmen von den vorgeschlagenen gesetzlichen Regelungen nicht zulassen und müsse seine ,officiers' gegebenenfalls anweisen, gegenteilige Weisungen zu ignorieren 102• Ferner wurde vor allem bei den Generalständen von 1577 gefordert, der König solle den im Gefolge einer Ständeversammlung erlassenen ,ordonnances de reformation' einen grundgesetzliehen Status zuerkennen und selbst einzelne Artikel dieses Gesetzes nur auf der Grundlage eines erneuten Ständevotums ändern 103 • Neben diesen Bestrebungen, mit den als Verträge zwischen König und Ständen gedeuteten ,ordonnances de reformation' auch für die Krone unverfügbares Recht zu schaffen, wurde vor allem 1614 mehrfach vorgeschlagen, eine unabhängige Kontrollkommission einzurichten, die über die Achtung, Anwendung und Durchsetzung der Gesetze wachen sollte 104• Anders als zu Beginn des Untersuchungszeitraums, als kaum jemand in Frage stellte, daß die beklagten ,desordres' neue Gesetzgebung erforderten, mehrten 101 Dies konstatiert Neves, Symbolische Konstitutionalisierung (Anm. 43), 26, gegen Luhmann auch für die moderne Gesetzgebung. 102 Vgl. etwa 1614 die ,cahiers' des Klerus (Lalourci/Duval, Recueil des cahiers [Anm. 16], Bd. 4, 1-149, hier Art. 181) und des ,tiers' (ebd., 270-475, hier Art. 190) zur Bestrafung von Duellanten; in beiden Artikeln wird gefordert, eine Milderung der Strafe durch den König a priori auszuschließen. 103 ,Cahier' des ,tiers' 1577 (Anm. 19), Art. 8; vgl. auch die ,cahiers' des Klerus (Lalource/Duval, Recueil des cahiers [Anm. 16], Bd. 2, 1-122, hier Art. 430) und des Adels (ebd., 184-355, hier Art. 1); zum Ganzen Picot, Histoire (Anm. 37), Bd. 3, 96 u. 100 f.; Edmond Charleville, Les Etats generaux de 1576. Le fonctionnement d'une tenue d'Etats, Paris 1901, 173-175; Jouanna, Devoir (Anm. 87), 313-327. Radikaler noch wurden entsprechende Forderungen bei den zweiten Generalständen von Blois 1588/89 vertreten. Tatsächlich wurde dort ein Gesetz von den Deputierten wie vom König als ,loi fondamentale' beeidet, doch handelte es sich nicht um eine ,ordonnance de reformation', sondern um ein Gesetz über die Katholizität Frankreichs; vgl. Picot, Histoire (Anm. 37), Bd. 3, 381-390; Swoboda, Bedeutung (Anrn. 11), 158-178; zum Ganzen nun auch Schilling, Krisenbewältigung (Anm. 9). 104 Vgl. ,cahier' des Klerus von Troyes; Teildruck bei l\!es Durand, Cahiers de doleances des paroisses du baillage de Troyes pour les Etats generaux de 1614, Paris 1966, 312-315, hier 315; sie wird damit begründet, que la pluspart de ce qui est cy dessus represente et demande par reglement a Sa Maieste a ja este par les deffuncts Roys ordonne sans en avoir toutesfois observe; ähnlich die anonyme Remonstranz, Archives Nationales Paris, K 675, Nr. 56; vgl. ferner [Gillot], Caton (Anm. 35), 30, wonach diese Aufgabe dem ,parlement' übertragen werden sollte.

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sich 1614 angesichts der Erfahrungen mit den ,ordonnances' der 1560er und 1570er Jahre die Stimmen, die forderten, keine neue ,ordonnance' zu erlassen. So hieß es etwa in einer handschriftlichen Remonstranz: Veult on faire des loix et ordonnances nouvelles oultre celles que nous avons par milliers et en nombre infiny? Tous nos maux, nos desordres et abbus ne viennent pasfaulte de loys. Il ny a rien a desirer au fait de Ia justice, des finances et de la police tant generate que particuliere de ce royaume, qui ne soit decide, resolu et regLe par bonnes et iustes loys, bien approuvees et verifiees par les parlemens et chambres des comptes105. Eine andere Schrift betonte, die ,justice' und die ,police civile et militaire' seien si suffisament reglees par les ordonnances, mesmement [insbesondere] par celles d'Orleans de Maulinset de Blois qu'il ne reste que de /es executer106• Die Erfahrung mit den ,ordonnances de reforrnation' hatte somit zur Folge, daß die traditionelle Legitimation der Gesetzgebung als Mittel zur Abstellung bestehender Mißstände in Frage gestellt wurde. Denn weder der Mangel an Gesetzen noch deren Unkenntnis stellte nach Auffassung der Zeitgenossen das Problem dar, sondern die mangelnde Bereitschaft der Krone, endlich für die Anwendung und Durchsetzung der bestehenden Gesetze und zumal der früheren ,ordonnances de reforrnation' zu sorgen.

VIII. Die Krone war 1614 demnach in einem Dilemma; einerseits wurde von ihr erwartet, daß sie die in den Beschwerdeheften beklagten Mißstände abstellte, andererseits aber war offensichtlich, daß der erneute Erlaß einer rechtsnormativ nur eingeschränkt wirksamen ,ordonnance' ihre Legitimität weiter untergraben würde. Problematisch waren auch jene Forderungen, die darauf hinausliefen, den König an die Bestimmungen der auf der Grundlage ständischer Gravamina erlassenen ,ordonnances de reforrnation' zu binden. Zwar enthielt zumal die ,ordonnance' von Blois zahlreiche Artikel Bindeklauseln, die Ausnahmen ausschlossen 107, doch hatte sich die Krone in der Praxis unter Berufung auf die ,necessite' über solche Klauseln hinweggesetzt. Alle Versuche, auch nur einzelnen Artikeln der zu erlassenden ,ordonnance' grundgesetzliehen Status zuzubilligen, waren für die Krone inakzeptabel, selbst dann, wenn sie wie der erste Artikel des Dritten Standes vorsahen, die Souveränität des Königs zur ,loi fondamentale' zu erklären 108. Gefahrlieh Anonyme Remonstranz, Archives Nationales Paris, K 675, Nr. 48. Moyens projettez par les Estats generaux tenus a Paris l'an 1615 pour la reformation generalle du Royaume, Bibliotheque Nationale Paris, Manuscrits fran~ais 18474, fol. 173'206v, hier 189' (vgl. auch 193 v f.); die Schrift stellt wahrscheinlich eine Vorfassung der gedruckten Schrift Des Estats Generaux (Anm. 94) dar. 107 Vgl. ,ordonnance' von Blois, Art. 190-192, 194 f., 200, 204, 267, 269, 279, 305, 320, 331,336-338. 108 Der ,cahier' des ,tiers' (Anm. 102) begann mit einem Abschnitt ,Des lois fondamentales de l'Estat'. Er hatte zunächst einen Artikel beinhaltet, der vorsah, als loifontklmentale fest105

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war aber auch der Verzicht auf jegliche gesetzgebensehe Reaktion, da er als mangelndes Interesse des Königs an den Nöten und Beschwerden der Untertanen ausgelegt werden konnte. So kritisierten 1615 die Obergerichte und der erste Prinz von Geblüt und Führer der Adelsopposition, Henri II. de Conde, das Ausbleiben einer ,ordonnance.J 09 , obwohl sie mit vielen Forderungen der Generalstände nicht übereinstimmten. Angesichts dieser Lage vermied die Krone die ansonsten übliche summarische Beantwortung der Beschwerdehefte, um sich nicht vorschnell auf gesetzgebefische Maßnahmen festzulegen - lediglich die Abschaffung der Ämterkäuflichkeit wurde den Ständevertretern vom Kanzler mündlich zugesagt 110 - und versuchte Zeit zu gewinnen, ohne den Plan, ein auf die ,cahiers' der Generalstände Bezug nehmendes Gesetz zu erlassen, aus dem Auge zu verlieren. Nachdem 1618 eine zuvor einer Notablenversarnmlung 111 zur Beratung vorgelegte ,ordonnance' wegen der darin enthaltenen Bestimmungen über das Verbot der ,venalite des offices' am Widerstand der Obergerichte gescheitert war112, ruhten die Arbeiten zwar über Jahre, da dem König durch innere Konflikte die Hände gebunden waren. Als sich gegen Mitte der 1620er Jahre die innenpolitische Lage beruhigte, knüpfte man jedoch wieder an das 1618 gescheiterte Vorhaben an. Wieder wurde eine Notabienversammlung einberufen 113, deren ,cahier' zusammen mit den Beschwerden von 1614 zulegen, daß die Souveränität des Königs unantastbar und jede Infragestellung dieses Prinzips als ,lese-majeste' zu verurteilen sei. Der Artikel wurde auf Drängen der Krone nicht in den ,cahier general' aufgenommen. Der Text ist zuletzt ediert bei Jean-Fran,.:ois Solnon (Hrsg.), Sources d'histoire de Ia France moderne, Paris 1994, 218 f.; vgl. J. Michael Hayden, France and the Estates General of 1614, Cambridge 1974, 188; lohn Russell Major, Representative Govemment in Early Modem France, New Haven/London 1980, 406 f.; Denis Richet, Pariset !es Etats de 1614, in: Representation et vouloir politiques (Anm. 32), 63-87, hier 71 f.; zur Entstehung nun ferner Eric W. Nelson, Defining Fundamental Laws of France: The Proposed First Article of the Third Estate at the French Estates General of 1614, in: EHR 464 (2000), 1215 - 1230. 109 Vgl. die Reformremonstranz des Pariser ,parlement' vom 22. Mai 1615, in der das Ausbleiben der von den Ständen geforderten Reformgesetzgebung beklagt wird; Text abgedruckt in Charles Joseph Mayer (Hrsg.), Des Etats generaux et autres Assemblees nationales, 18 Bde., Paris 1788-1789, hier Bd. 17, 2. Paginierung, 138-173, hier 144; vgl. zur Kritik Condes dessen Ende Juli 1615 formuliertes Schreiben an den König; Druck in: Memoires de Mole (Anm. 75), Bd. 1, 67-69, v.a. 69. 110 Wenige Tage nach der Auflösung der Generalstände teilte Kanzler Brulart de Sillery den noch in Paris weilenden Deputierten mit, die ,venalite' werde weitgehend abgeschafft; vgl. Les sept Demiers Articles accordez par Je Roy & son Conseil, a Messieurs !es Deputez des trois Estats, Paris 1615; Mousnier, Venalite (Anm. 71), 627-631. 111 Die Notabienversammlung fand im Dezember 1617 und Januar 1618 in Rouen statt; vgl. Aleksandra Dimitrievna Lublinskaya, Les assemblees d'etats en France au XVIIe siecle. Les assemblees des notables de 1617 et 1626, in: Xlle Congres international des sciences historiques, Wien 1965, Löwen/Paris 1966, 163 - 177; B. de Chantirac, Les assemblees de notables dans I' ancienne France, These droit, Paris 1919, 37-40. 112 Vgl. Hayden, France (Anm. 108), 213; Major, Govemment (Anm. 108), 414 f.; Mousnier, Venalite (Anm. 71), 635 f.

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und 1617 in die künftige ,ordonnance' einfließen sollte. Freilich scheint im Ministerium Ludwigs XIII. zu diesem Zeitpunkt keine Einigkeit über den Sinn eines solchen Vorhabens bestanden zu haben. Denn bei der Notablenversanunlung von 1626 deutete auch Richelieu unter Rückgriff auf das tradierte Bild von der Gesetzgebung als Heilmittel seine Skepsis gegenüber einer neuerlichen umfassenden ,ordonnance' an 114• Zunächst setzten sich indes jene Kräfte unter Führung des Siegelbewahrers Marillac durch, die dafür eintraten, als Kernstück einer umfassenden inneren Reform eine sich auf die ,cahiers' der Generalstände und der beiden Notahlenversammlungen berufende ,ordonnance' zu erlassen. Ein 461 Artikel umfassendes Gesetz wurde erarbeitet, das nach der Vorstellung des Siegelbewahrers keineswegs nur symbolisch wirken sollte. So verzichtete die ,ordonnance' einerseits auf unrealistische Bestimmungen wie das Verbot der Ämterkäuflichkeit (lediglich militärische Führungsämter sollten nicht länger käuflich sein) und sah im Hinblick auf die ,parentes' gegenüber den vorausgegangenen ,ordonnances' eindeutigere Sanktionen vor. Zudem wurden- wie von den ,cahiers' vielfach gefordert- die Kontroll- und Eingriffsrechte der Krone gegenüber den ,officiers' gestärkt und für einige Bereiche eine weitgehende Systematisierung des bestehenden Rechts erreicht 115 • Schließlich machte Marillac durch seine Amtsführung deutlich, daß er konsequenter als die meisten seiner Vorgänger auf die Durchsetzung der geltenden Gesetze achtete und sie auch gegen den Widerstand der königlichen ,officiers' durchzusetzen suchte 116. Doch die ,ordonnance' von 1629 ist gescheitert, denn die Obergerichte verspotteten das Gesetz, ermutigt durch den Sturz Marillacs im Gefolge der Joumee des dupes', als ,Code Michau', wandten es kaum an, ja schwiegen es tot 117 • Freilich 113 Vgl. Paul Ardier de Beauregard, L' Assemblee des notab1es, tenue a Paris, es annees 1626 et 1627 [ ... ],Paris 1652; Jeanne Petit, L'assemblee des notables de 1626-1627, Paris 1936. 114 Rede Richelieus zur Eröffnung der Notabienversammlung vom 2. 12. 1626; zuletzt abgedruckt in: Les papiers de Richelieu. Section politique interieure. Correspondance et papiers d'Etat, bearb. v. Pierre Grillon, bislang 6 Bde.: 1624-1631, Paris 1975-1985, Bd. 1, 557561, hier 561: Puisqu 'on tue aussy bien les malades en les surchargeant de remedes qu 'en /es privant tout afait, il n'est pas besoin pour restablir cet Estat en sa premiere splendeur, de beaucoup d'ordonnances mais bien de reelles executions. 115 Vgl. im einzelnen Desjonqueres, Marillac (Anm. 65), 100-201; Schilling, Gesetzgebung (Anm. 29), 116-124; zu Systematisierungstendenzen vgl. oben Anm. 64. 116 Vgl. etwa den Konflikt, der sich an der Weigerung Marillacs entzündete, dem Sohn des ,president a mortier' Bellievre ,lettres de provision' auszustellen; dazu die Korrespondenz des Siegelbewahrers mit Mole, z. T. gedruckt in: Memoires de Mole (Anm. 5), Bd. 1, 496516; vgl. ferner ein etwa 1628 verfaßtes Schreiben Marillacs an Kardinal Berulle, in dem dieser die Grundsätze seiner Amtsführung darlegt und die Angriffe schildert, denen er u. a. wegen seiner restriktiven Haltung zur Gewährung von Gerichtsstandsprivilegien ausgesetzt sei; Druck: Nouvelle collection des memoires relatifs a l'histoire de France [ ... ], hrsg. v. Michaud!Poujoulat, Bd. 11, 2. Auf!., Paris 1857,537-539. 117 Vgl. zum weitgehenden Scheitern der ,ordonnance' von 1629 Schilling, Gesetzgebung (Anm. 29), 125-130.

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scheiterte diese ,ordonnance' nicht nur am Widerstand der ,parlements', sondern auch daran, daß die Krone das Gesetz nach 1630 faktisch fallenließ, da Richelieu als der dominierende Minister sich mit der Auffassung durchsetzte, parallel zu dem von ihm befürworteten militärischen Eingreifen Frankreichs in Italien sei an die Anwendung und Durchsetzung einer umfassenden ,ordonnance' nicht zu denken. Charakteristisch für die Gesetzgebung der folgenden Jahrzehnte waren denn auch flexible, sich auf die jeweilige ,necessite' berufende Einzelakte, die die Krone weit weniger banden als die umfassende Gesetzgebung der großen ,ordonnances' ein Beispiel, das mir zu belegen scheint, daß das Streben nach ,legislativer Souveränität' zunächst auf die möglichst weitgehende Befreiung des Gesetzgebers von der Bindung an Gesetze hinauslief und erst in zweiter Linie auf die Gestaltung des Rechts im Wege der Gesetzgebung. So scheiterte der letzte Versuch, auf der Grundlage ständischer Beschwerden eine umfassende ,ordonnance' zu erlassen, weil die Krone das Interesse an einem Gesetzgebungstyp verlor, dessen expressive und symbolische Wirksamkeit durch Hypertrophierung erlahmt war, der aber andererseits im Falle konsequenter Anwendung als Rechtsnorm den Gesetzgeber stärker band, als ihm angesichts ständig neuer innerer und äußerer Konflikte gelegen sein konnte.

IX. Faßt man die Ergebnisse zusammen, so ist zunächst nicht zu übersehen, daß die hier untersuchten ,ordonnances de reformation' in wichtigen Bereichen nur eingeschränkte rechtsnormative Wirksamkeit entfalteten und andererseits aufgrund ihres Entstehungszusammenhangs wie ihrer Anlage in starkem Maße auf expressive und symbolische Wirksamkeit abstellten. Die nicht rechtsnormativen Effekte beschränkten sich freilich nicht auf die bislang von der Forschung in den Vordergrund geriickte Vorstellung des monarchischen Gesetzgebers als gute, ihren Herrscherpflichten nachkommende Obrigkeit, sondern waren geprägt von komplexen Erwartungen und Forderungen an bzw. Nachfragen nach Gesetzgebung. Vom Gesetzgeber erwartet wurde einerseits die Schaffung eines eindeutigen, stabilen, allseits bekannten und geachteten Gesetzesrechts, das die ,administration de la justice' sicherstellte, die Geltung der umfassend verstandenen ,anciennes lois' gewährleistete, die als Beliebigkeit wahrgenommene Positivität des Rechts begrenzte und tradierte Rechts- und Wertvorstellungen mit den Erfordernissen der Zeit vereinbarte. Zugleich wurde die Gesetzgebung der ,ordonnances de reformation' als Schlußakt einer (durch die Ständeversammlungen zeremoniell überhöhten) Kommunikation zwischen Untertanen und Monarchen verstanden. Beide Erwartungen spiegelten sich im Bild des über die Beschwerden und Nöte seiner Untertanen auf der Grundlage der im Kern als unveränderlich verstandenen ,anciennes lois' quasi gerichtlich entscheidenden Königs wider. Den vielfältigen und vielfach überspannten Erwartungen an die ,ordonnances de reformation' allein auf rechtsnormativem Wege Rechnung zu tragen, dürfte nicht

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möglich gewesen sein. Um so mehr suchten diese Gesetze auf symbolischem und expressivem Wege, der Vielzahl der in sie gesetzten Hoffnungen gerecht zu werden. Sie stellten den König als Ordnungsstifter ebenso vor wie seine ,familiarite' und seine Sorge um die ,administration de la justice', sie zeigten die ,communication' zwischen Haupt und Gliedern und die Überwindung der Krise durch gemeinsames Handeln. Sie erklärten Verhaltensweisen für deviant, zielten auf die Bestärkung sozialer Werte, unterstrichen die Vereinbarkeil der jeweiligen ,ordonnance' mit dem tradierten Recht, appellierten an das Pflichtbewußtsein der Amtsträger, benannten die Ursachen der beklagten Mißstände, identifizierten Schuldige und suchten zugleich, die Verantwortung des Königs zu leugnen oder dessen Politik zu rechtfertigen. Attraktiv waren solche nicht rechtsnormativen "Botschaften", weil sie es erlaubten, vieles in der Schwebe zu halten: die verfassungsrechtlichen Konsequenzen der Ständebeteiligung an der Gesetzgebung ebenso wie die Voraussetzungen für den Gebrauch des ,pouvoir absolu' oder die Frage, in welcher Weise Amtsträger den an sie gerichteten Appellen Rechnung tragen sollten und was geschah, wenn sie ihnen nicht Folge leisteten. Dies konnte unter den gegebenen Umständen durchaus funktional sein und Verhaltenssteuerungen bewirken. Auch ändert der Nachweis des großen Gewichts dieser nicht rechtsnormativen Funktionen nichts an der zentralen Bedeutung der Gesetzgebung bei der Durchstaatlichung der gesellschaftlichen Beziehungen in frühneuzeitlichen Territorien, nur daß deren Wirkungen weit stärker als lange Zeit angenommen auf der Ebene des Diskurses und der Kommunikation anzusiedeln sind118• Das Beispiel der ,ordonnances de reformation' zeigt auch, daß die symbolische und expressive Wirksamkeit von Gesetzen keineswegs unabhängig war von der Anwendung und Durchsetzung ihrer spezifisch rechtlichen Gehalte, denn die Untertanen, die rechtliche Regulierung b:t;w. Sicherheit und Eindeutigkeit des Gesetzesrechts einforderten, waren auf Dauer allein durch politisch-ideologische Appelle und Botschaften nicht zu befriedigen. Hier lag die entscheidende Schwäche der ,ordonnances de reformation', denn obschon die Krone diese Gesetze nicht in der Absicht erließ, ihnen keine rechtsnormative Geltung zu verleihen, wäre ein die Erwartungen der Untertanen befriedigender Grad der Anwendung und Durchsetzung nur unter der Voraussetzung innen- und außenpolitischer Ruhe erreichbar gewesen. Da diese Voraussetzungen im gesamten Untersuchungszeitraum - mit Ausnahme einiger Jahre während der Regierung Heinrichs IV.- nicht gegeben waren, setzte die Krone viele Gesetzesbestimmungen schon bald nach Verkündung des Gesetzes außer Kraft, tolerierte deren Mißachtung oder konnte sie zumindest nicht verhindern. Dies wiederum verstärkte nicht nur die Forderung nach einer Bindung der Krone an von ihr erlassene Gesetze, sondern stellte schließlich auch die expressive und symbolische Wirksamkeit der ,ordonnances de reformation' in Frage.

118 Dies betont zurecht Milos Vec, Alles halb so wild. Frühneuzeitliche Staatsräson: Die besten Gesetze sind die, die nicht durchgesetzt werden, in: FAZ vom 9. 2. 1998, N 6.

"Den eygen nutz hindan setzen und der Gemeyn wolfart suchen." 1 Überlegungen zum Wandel politischer Normen im 16./17. Jahrhundert

Von Luise Schorn-Schütte, Frankfurt am Main Mit dem Wandel der je zeitgebundenen Fragestellungen verändern sich auch die Fragen historischer Forschung, die die Blickrichtung auf die Vergangenheit bestimmen. Forschungen zu den Werten und Normen der vergangenen Jahrhunderte haben deshalb über lange Jahre nicht im Zentrum des historischen Arbeitens gestanden2. Das scheint sich derzeit zu ändern; nicht zuletzt der Blick auf deren Geltungsansprüche und Norrnierungsbehauptungen gibt neue Aspekte auf die vergangene Wirklichkeit des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts frei, eines Zeitraumes also, in dem sich aufgrund der Trennung der Konfessionen neue Verfahren politischer Entscheidung und politischer Kornmunikation entwickeln rnußten3 . Was sind politische Normen, woraus bestehen politische Werte in jener Zeitspanne? Die Praxis eines bestimmten Regierungshandelns, einer politischen OppoI Untertitel der Schrift des Johmmes Ferrarius [Eisermann], Von dem Gemeinen nutze, I. Aufl. Marburg 1533 (Exemplar der HAB K 270 Helmst 4°). 2 Die dazu prägend gebliebene Arbeit erschien vor nunmehr 15 Jahren: Winfried Schulze, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz, München 1987. - Im Blick auf die Reformation wurde der Charakter des religiösen Wandels weiterhin unter dem Aspekt des Normwandels diskutiert; vgl. dazu u. a. Bemdt Hamm, Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation. Der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: ARG 84 (1993), 7-83. Der Aufsatz von Pierangelo Schiera, "Bonum Commune" zwischen Mittelalter und Neuzeit. Überlegungen zur substantiellen Grundlage der modernen Politik, in: AKG 81 (1999), 283-303, verfolgt einen anderen Ansatz. 3 Damit ist auch ein veränderter theoretischer Zugang zum Zusammenhang von "Norm" und "Geltung" angesprochen, der sich unter starker Rezeption soziologischer Institutionenforschung als historische Institutionenforschung etabliert hat. Vgl. dazu mit weiterer Literatur u. a. Bemhard Jussenf Craig Koslofsky, "Kulturelle Reformation" und der Blick auf die Sinnformationen, in: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400-1600, hrsg. v. dens., Göttingen 1999, 13-27, besonders 14: "Nicht mehr historische Ordnungsformen werden untersucht, nicht mehr Normen und ihre Geltungen. Als sinnvoller Forschungsgegenstand gelten nurmehr die Ordnungsbehauptungen, Geltungsansprüche, Handlungs- und Rollenstilisierungen. " - Zur weiteren historiographischen Fundierung dieses Ansatzes siehe Gert Melville (Hrsg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001 .

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sition setzt Grundmuster politischer Orientierung, Handlungsorientierungen also voraus, die von der Mehrzahl derjenigen, die an diesen Entscheidungen beteiligt waren, ebenso akzeptiert wurden wie von der Mehrzahl derjenigen, die die Folgen dieser Entscheidungen zu tragen hatten. Diese Wechselwirkung versucht die institutionenhistorische Forschung mit dem Begriff der "Sinnformation" zu fassen. Die Arbeiten von Johannes Kunisch haben sich mit den Bedingungen solchen politischen Normierens seit Jahrzehnten beschäftigt und Maßstäbe für die weitere Forschung gesetzt. Die hier vorgetragenen Reflexionen knüpfen an diese Fragestellungen an, ein Zeichen akademischer Verbundenheit mit dem Geehrten. Die Frage nach dem Wandel setzt die Klärung des Charakters des Vorhandenen voraus. Selbstverständlich kann im hier gesetzten Rahmen eine erschöpfende Analyse des Politikverständnisses im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert nicht gegeben werden. In einer knappen Begriffsdiskussion soll aber der Rahmen für die weitere Darstellung skizziert werden (I). Mit Hilfe einer vergleichenden Untersuchung dreierTexte des 16./17. Jahrhunderts, die zur Kategorie der Herrschaftslehren gezählt werden können, sollen jene Grundaussagen zum Politischen auf ihre Prägekraft in normierenden Texten untersucht werden. Damit wird ein kleiner Blick auch auf die Autoren solcher Schriften, auf deren Einbindung in die politische Kommunikation und deren Formen4 in der hier interessierenden Zeit möglich (II). In einer abschließenden Überlegung sollen einige Forschungsperspektiven skizziert werden, die Chancen weiterer Arbeiten zum politischen Normwandel in der Frühen Neuzeit benennen (III). I. Politische Normen in der Frühen Neuzeit

Wenn eingangs bereits auf die enge Verzahnung von Religion und Politik hingewiesen wurde, dann ist damit eine Grundtatsache frühneuzeitlicher Ordnungen benannt worden, die es dem Historiker grundsätzlich verwehrt, jene vergangene Realität in den Kategorien des 19. I 20. Jahrhunderts zu beschreiben. Denn die prinzipielle Trennung von Politik und Religion, von Politik und Gesellschaft war jenen 4 Zum Konzept der politischen Kommunikation als eines Weges, sprachliche Austauschprozesse als Charakteristika politischer Debatten der Zeitgenossen zu verstehen, die Aufschluß geben über den Wandel auch der politischen Realität vgl. u. a. Quentin Skinner, A Reply to my Critics, in: Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics, hrsg. v. James Tully, Princeton 1988; lohn G.A. Pocock, The Concept of a Language and the metier d' historien: Some Considerations on Practice, in: The Languages of Political Theory in Early-Modem Europe, hrsg. v. Anthor.y Pagden, Cambridge 1987, 19-38, und die um dies Konzept geführte, lang reichende Forschungsdebatte, die zur Zeit auch in Deutschland rezipiert wird; dazu informativ Hartmut Rosa, Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie: Der Beitrag der ,Cambridge School' zur Metatheorie, in: PVS 35 (1994), 197-223, und Eckhart Hellmuthl Christoph von Ehrenstein, Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: GG 27 (2001), 149-172. Es erscheint einleuchtend, daß politische Kommunikation in diesem Sinne große Ähnlichkeiten mit den Phänomenen aufweist, die für die institutionenhistorische Forschung als Geltungsansprüche u.ä. bezeichnet werden.

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Zeiten fremd. Das Normalleben aller (der Abhängigen wie der Unabhängigen) 5 fand in den ökonomischen "Haushalten" statt, die die grundlegende Struktureinheit jedweder sozialen Organisation darstellte. Die Arten des Zusammenlebens dieser Haushalte konstituierten einen nichthäuslichen, also "öffentlichen" Raum, der als Sphäre des Politischen bezeichnet werden kann. Ein Begriff für das politische System, das sich wie in der Gegenwart ausschließlich aus dem Bezug auf Staatlichkeil herleitet, existierte zumindest im 16. I 17. Jahrhundert nicht! Das hatte zur Folge, daß es radikal andere Formen der Ordnung des Zusammenlebens nicht gab. Gegenstand politischen Handeins konnte deshalb nicht die Schaffung des ganz Anderen, Neuen, sondern immer nur die Bewahrung, die Erhaltung des Vorhandenen bzw. die Wiederherstellung der als richtig erkannten Tradition sein6 • Deren Festlegung allerdings konnte durchaus zu gegensätzlichen Positionen führen, die sich z. B. gut greifen lassen in den voneinander abweichenden biblischen Traditionen, auf die sich Protestanten und Katholiken zur Legitimation politischer Ordnungsvorstellungen beriefen7 . Bewahrung, Erhaltung und Wiederherstellung war stets Wiederherstellung und Bewahrung einer als ideal beschriebenen Ordnung8 . Für das 16. I 17. Jahrhundert hat Horst Dreitzel drei klassische Modelle9 benannt: Tacitismus, Aristotelismus, politica christiana. Mit deren Hilfe konnten unterschiedliche Gewichtungen für die stets gleichbleibende Aufgabe politischer Ordnungen und für die in diesen Handelnden vorgenommen werden: Bewahrung des "allgemeinen Besten" durch Verteilung von Herrschaft insbesondere als Abwehr von Willkür einerseits; Wechselseitigkeit von Fürsorge und Dienstleistung (Schutz und Schirm/Rat und Hilfe) zum anderen. Es liegt auf der Hand, daß auf der Grundlage dieser gemeinsamen Normen sehr unterschiedliche Ansichten im Blick auf die praktische Herrschaftsverteilung entwickelt werden konnten. Der zeitgenössisch klassische Konflikt um das Teilhaberecht der Stände wurde im Rahmen dieses Wertesystems ebenso ausgetragen, wie s Diese dem Historiker vertraute Tatsache findet sich in seiner letzten Publikation auch bei Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt arn Main 2000, 8. Dies ist bemerkenswert, weil die früheren Charakterisierungen der frühneuzeitlichen Gesellschaft durch den Sielefelder Soziologen stets die Kategorien des 19. Jahrhunderts als wertenden Maßstab für die Frühe Neuzeit angelegt haben; dadurch verzerrten sich seine Darstellungen. 6 Entsprechend argumentiert im Blick auf den Charakter der reformatorischen Theologie auch Bemdt Hamm, Wie innovativ war die Reformation?, in: ZHF 27 (2000), 481-497, bes. 481 f.: "Innovation war insofern nicht das Ziel der Evangelischen des 16. Jahrhunderts, als sie ja betont nicht etwas Neues in den christlichen Glauben einführen wollten." 7 Vgl. dazu u. a. Horst Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, 2 Bde., Köln/Weimar/Wien 1991, bes. Bd. 2, Kap I, 465-590. 8 Vgl. dazu anregend, ohne daß allen Schlußfolgerungen gefolgt werden könnte, aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität, Frankfurt am Main 1991 , 125 ff., hier 142 u.ö. 9 Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 7), Bd. 2, Kap. I.

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der das Ende des 16. Jahrhunderts prägende Konflikt um das Gewicht der "drei Stände der Kirche" 10 und deren Bedeutung für die Ordnung des Zusammenlebens der frühneuzeitlichen "Gemeinde" 11 . Das bedeutet aber auch, daß die politiktheoretischen Diskussionen im Alten Reich jener Jahrzehnte 12 keineswegs ausschließlich als Rezeptionen der Werke Niccolo Machiavellis oder Jean Bodins geführt wurden! Entgegen der in der Forschung hartnäckig festgeschriebenen These von der Vorherrschaft monarchiezentrierter Diskurse 13 ist zu betonen, daß es an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert innerhalb der tradierten Modelle politischer Ordnung sehr wohl möglich war, verschiedene Formen von Herrschaftsverteilung zu erörtern; ein Rückgriff auf machtzentrierende Entwürfe wie sie zeitgenössisch natürlich auch vorhanden waren, wurde aber keineswegs überall für richtig oder gar notwendig erachtet 14. Ganz offensichtlich gab es zeitgleich mehrere "politische Sprachen" 15 , die gleichberechtigt nebeneinander gebraucht wurden.

lO Vgl. dazu u. a. Luise Scham-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit, Gütersloh 1996; dies., Die Drei-Stände-Lehre im reformatorischen Umbruch, in: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, hrsg. von Bemd Moeller, Gütersloh 1998,435461. II Um es zu wiederholen: damit war zu diesem Zeitraum stets die Identität von politischer und religiöser Gemeinde gemeint. 12 Auf die Bedeutung dieser Traditionen u. a. auch für die englische, französische, spanische, polnische Diskussion kann hier nicht näher eingegangen werden; aber eine Dominanz des Machiavelli- oder Bodindiskurses muß auch für diese Länder erneut geprüft werden. 13 Einen informativen Überblick über die theoriegeleiteten Diskussionen im frühen 17. Jahrhundert gibt jüngst Merio Scattola, Die Frage nach der politischen Ordnung: ,Imperium', ,maiestas', ,sumrna potestas' in der politischen Lehre des frühen 17. Jahrhunderts, in: Souveränitätskonzeptionen. Beiträge zur Analyse politischer Ordnungsvorstellungen im 17. bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. von Martin Peters/ Peter Schröder, Berlin 2000, 13-39. 14 Das benennt zutreffend Schulze, Gemeinnutz, Eigennutz (Anm. 2), 13-14, wenn er auf den ambivalenten Begriff des Gemeinnutz verweist, der einerseits den Altruismus des Menschen umfaßt, andererseits als Kategorie zur Bewertung staatlichen Handeins für diejenigen sozialen Gruppen dient, die an politischen Entscheidungen in ihren Augen nicht hinreichend beteiligt wurden. Parallel zu dieser Verwendung, die aber generell auf gute Herrschaft zielte, existierte die neue Kategorie des ragione di stato, .,die nur noch staatliches Handeln legitimieren sollte, für Herrschaftskritik aber keinen Ansatz mehr bot." Siehe dazu auch die gewichtige Untersuchung von Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 7), der die Parallelität der politischen Sprachen herausarbeitet. 15 Zum Konzept der politischen Sprache siehe Anm. 4.

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II. Konkretionen: Von J. Ferrarius "Von dem Gemeynen Nutz" (1533) über H. Weller, "Haustafel. Ein christlich Büchlein/von Geistlichem/ Weltlichem und Hausregiment" (1557) zu C. W. Friedtliebs "Prudentia politica christiana" (1614) 16

Der Begriff des gemeinen Nutzen ist die zentrale Norm politischen Handeins (im eingangs beschriebenen Sinne) in Spätmittelalter und Friihneuzeit. Die Charakterisierung, die Hans Maier dieser Kategorie 1966 gab, muß allerdings revidiert und ergänzt werden. Denn die Texte des späten 16. und friihen 17. Jahrhunderts, die den Begriff füllen, gehen keineswegs allein von einer "treuhänderischen Bindung eines im wesentlichen auf die Wahrung von Recht und Frieden beschränkten Staatsoberhaupts" aus, das als Rest eines erstarrten Mittelalters in die werdende Neuzeit hinein ragte, da deren Herrschaftskonzept mit der Staatsräson identisch gewesen sei 17 . Diese Sichtweise praktiziert das, was eingangs als unzulässig charakterisiert wurde, arbeitet sie doch bei der Beschreibung des 16. Jahrhunderts mit Kategorien des 19./20. Jahrhunderts. Der Zugang zur Kontinuität des Begriffes von politischer Ordnung geht damit verloren; er aber verband Spätmittelalter und Friihe Neuzeit. Betrachtet man die Fülle der Texte, die von Juristen ebenso wie von gelehrten Theologen verfaßt wurden und im unmittelbaren Zusammenhang mit dem reformatorischen Umbruch als protestantische Anweisungsliteratur entstanden, bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinein als Regentenbücher, als Herrschaftslehren o.ä.18 schließlich auch aus katholischer Feder vorgelegt wurden, so fallt zunächst zweierlei auf. Zum einen ist es die Einbindung dieser Textgruppe in sehr praktische politische Ordnungsaufgaben, sie wurde gewissermaßen als "politikberatende Literatur" verfaßt Und zum anderen ist es die Verwendung der Körpermetapher zur Charakterisierung des Aufbaus gerechter Herrschaft. Die Forschungen zur politischen Allegorie, zur politischen Metaphorik sind in den vergangenen Jahrzehnten vornehmlich von Germanisten, Volkskundlern, Politologen und Kunsthistorikern betrieben worden 19; für das Verständnis der politi16 Zu Ferrarius siehe Anm. 1; Hieronymus Weller, Haußtafel, Nürnberg 1557 [dt. Ausgabe der lateinischen von 1556; Signatur der HAB 1164.54 Th(l)]; Christoph Wemer Friedtlieb, Prudentia politica christiana das ist Beschreibung einer christlichen, nützlichen und guten Po1icey, Goß1ar 1614 [Signatur der HAB: 95.7 Po1itica]. 17 Hans Maier, Die ältere Staats- und Verwaltungslehre, München 1966,2. Auf!. 1980, 79 f. 18 Siehe dazu die Zuordnung bei Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: 1600-1800, München 1988. 19 Für die mittelalterliche Tradition ist zu verweisen auf Tz/mann Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, Stuttgart 1978; die Bedeutung dieser Metapher für das frühe 17. Jahrhundert untersucht die germanistische Arbeit von Gotthard Frühsorge, Der politische Körper, Stuttgart 1974; Mittelalter und Neuzeit kommen in den Blick bei Dietmar Peil, Der Baum des Königs. Anmerkungen zur politischen Baummetaphorik, in: Die Macht der Vorstellungen. Die politische Metapher in historischer Perspektive, hrsg. von Watther Euchner/ Francesca Rigotti/ Pierangeta Schiera, Bologna/Berlin 1993,

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sehen "Beratungsliteratur" seit der Mitte des 16. Jahrhunderts sind deren Ergebnisse von großer Bedeutung, lassen sich doch erst mit ihrer Hilfe die Vorstellungswelten, die Geltungsansprüche und die Ordnungsbehauptungen des politisch Normierenden benennen. 11.1. Einer der ersten protestantischen Regentenspiegel, der zudem von einem juristisch geschulten Praktiker verfaßt wurde, ist das Buch des Johannes Ferrarius (1485186-1558). Veröffentlicht wurde es in Marburg 1533, zu einem Zeitpunkt also, in dem der Landesherr, Landgraf Philipp, die Neuordnung seines Territoriums im Sinne der Reformation in Zusammenarbeit mit den Theologen und Juristen seiner Universität bzw. Landeskirche energisch vorangetrieben hatte und sich zugleich in ernsten Auseinandersetzungen um die Ordnung des Reiches und das Verhältnis zum Kaiser befand. Politischer Rat war also vielfach erbeten und Ferrarius gehörte zu denjenigen, die als Praktiker der politischen Ordnung mit zugleich gelehrtem Hintergrund an diesem Neubau mitwirkten20. Das Wissen, an einem neuen Kapitel der hessischen Geschichte mit zu schreiben, ist Ferrarius sehr wohl gegenwärtig. In seiner Vorrede bettet er diese historisch außergewöhnliche Situation ein in allgemeine Traditionslinien, die die Kontinuität des Neuen dokumentieren helfen. Die Philosophen schrieben, so Ferrarius, daß eine andere Zeit auch ein anderes Leben haben wolle. Dies bestätige sich durch den Blick in die Geschichte der Vorfahren, an deren Tugenden es anzuknüpfen gelte. Denn der Blick in die Gegenwart lehre, daß jene traditionsreichen Tugenden verfallen seien: "Dann der menschlich einfalt ist zur boesheit geratten I der Gehorsam gefallen I und der burgerlieh glaub I sampt allen tugenden in mircklichen abfall korneo ... Ist damit beynaw auff das wort komen I das ein mensch des andem wolff sey"21 . Um diesen Mißstand zu beenden, ist es zunächst notwendig, sich die Traditionen der Vorfahren zu vergegenwärtigen, sich zum anderen die Ziele vor Augen zu halten, an denen sich ein Gemeinwesen ausrichten soll und zum dritten wichtig, die 33-65, aus der Sicht der Politikwissenschaft zuletzt Francesca Rigotti, Die Macht und ihre Metaphern: Über die sprachlichen Bilder der Politik, Frankfurt am Main 1994. 20 Zur Biographie einige Hinweise nach ADB 6, Berlin 1968 (Neudr. der 1. Aufl. 1877), 719-720. Ferrarius hatte in Wittenberg bei Luther und Melanchthon an der Philosophischen Fakultät studiert und dort den Magistergrad erworben. Nach praktischer Tätigkeit wurde er in die Verwaltung der Landgrafschaft Hessen aufgenommen und schließlich zum Professor der Jurisprudenz an der neugegründeten Universität Marburg berufen. In diesem Amt verfaßt er seinen RegentenspiegeL Gewidmet war er seinem Schwager, dem Bürgermeister der hessischen Stadt Wetter. - Eine Auseinandersetzung mit dem Werk des Ferrarius gibt Britta Ekkert, Der Gedanke des gemeinen Nutzen in der lutherischen Staatslehre des 16. und 17. Jahrhunderts, Diss.phil. masch. 1976; sie ordnet ihn in eine als lutherisch bezeichnete Staatslehre ein, deren Charakteristikum in der Einheit von Politik und Ethik (171) gelegen habe. Mit Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 7), kann Ferrarius deshalb als Vertreter einer politica christiana betrachtet werden. 21 Ferrarius, Von dem Gemeinen nutze (Anm. 1), fol. A II r.- Diese Redewendung ist also in der deutschen Diskussion lange vor der beriihmteren Wendung im Gebrauch durch Thomas Hobbes gegenwärtig!

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konkreten Formen der Ordnung dieses Gemeinwesens zu benennen. Zur Klärung der Traditionen gehört die Charakterisierung des Ursprungs menschlicher Gemeinschaftsbildung; Ferrarius referiert zunächst die Aussagen antiker Autoren22, stellt ihnen mit der Schöpfungsgeschichte des Alten Testamentes aber sogleich die in seinen Augen maßgebliche Tradition gegenüber: Gemeinschaftsbildung ist Gottes Schöpfung, sie hat zunächst das "ehelich leben und die heuBliche geselschafft" geschaffen, aus der sich alle weiteren Gemeinschaftsformen entwickeln: "damit anzuzeigen I das nichts so fern außgebreit ist I als die versamlung unter den leuthen I geselschafft odder gemeinschafft der nutzungen und liebe des menschlichen geschlechts ... Danach begreifft sie auch das gantze menschlich geschlecht I als von einem vatter herkommen/und leret das wirgerechtigkeitunter einander halten sollen"23. Auch der Sinn menschlicher Gemeinschaft wird aus dieser Tradition hergeleitet: es sei nicht die Aufgabe der Menschen, allein für ihren eigenen Nutzen zu leben, vielmehr nach Gottes Schöpfung Aufgabe, daß sich die einzelnen als Brüder anerkennen und einer dem anderen diene, um "in alle wege den gemeinen nutz fordern", was dadurch ambestengesichert sei, daß jeder an dem Ort, an den er gestellt ist, sein bestes tue24. Daraus leitet Ferrarius eine allgemeine Definition des Gemeinen Nutzen ab: "Respublica I ader gemein nutz nit anders ist I dan ein gemein gutte ordenung einer statt/oder einer andern commun"25 . Unter ausdrücklicher Berufung auf Cicero, der von einer "menschlichen Gesellschaft" als einer Gemeinschaft des Nutzes spreche, bezeichnet er diese gute Ordnung zusammenfassend als eine "burgerliche geselschafft"26. Die äußere Ordnung, der diese "bürgerliche Gesellschaft" folgt, muß sich einerseits weltliche Gesetze geben, andererseits braucht sie eine Obrigkeit, die von Gott gegeben ist. Gesetze sind notwendig, um den Guten vor Gewalt zu schützen, und einem jeden das, was ihm zusteht, zuzuteilen; Gesetze sind eine Gabe Gottes, "ein verbindung des gemeinen nutzes I danach einem ieden zu leben gepurt I der in der gemein ist'm. Ausdrücklich differenziert Ferrarius zwischen einem Geltungsanspruch des Gesetzes gegenüber allen Teilen der Bevölkerung unabhängig von ihrer Religion und einer geistlichen oder inneren Freiheit jedes einzelnen, die es rechtfertigt, zwischen weltlichem und geistlichem Anspruch im Sinne des Neuen Testamentes zu unterscheiden28 . Angesichts der zu diesem Zeitpunkt im Reich bereits 22 Ferrarius verweist auf die zeitgenössisch wiederholt zitierte Literatur: Ovid, Platon, Cicero, Plinius, Autoren also, die er während seines Studiums kennengelernt haben dürfte. 23 Ferrarius, Von dem Gemeinen nutze (Anm. 1), 8 I v und 8 II r. 24 Ebd., fol. 8 m r. 25 Ebd., fol. F m V. 26 Ebd. 27 Ebd., fol. B m V. 28 Ebd., fol. BIV r: Verweis auf Matthäus 22 und Lucas 20: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.

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recht kontroversen Diskussionen um ein Notwehrrecht gegenüber dem Kaiser, ist diese Beschreibung unverbindlich; nicht nur der Landesherr des Ferrarius formulierte zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich schärfere Positionen29 . Zur Wahrung des Rechts ist weltliche Obrigkeit unverzichtbar, sie hat "das weltlich schwert in Regimenten zufüren". Sie ist von Gott eingesetzt, um die Bösen zu strafen und die Guten zu fördern. Die Ausübung dieser Form von Herrschaft steht allein dem Menschen zu, er allein ist Herr über alles, was auf der Erde ist. Weltliche Regierung ist deshalb als von Anfang an richtige und gute Einrichtung zu verstehen, darauf bezieht sich der Apostel Paulus mit seinem Wort an die Römer. Diejenigen also, die gegen diese Ordnung vorgehen, empören sich gegen die von Gott geschaffene Ordnung30. Es ist aber nicht allein der Ursprung, die Schöpfungsordnung, die die Rechtmäßigkeit weltlicher Obrigkeit ausmacht. Ein verstärkendes Argument besteht für Ferrarius im Aufbau weltlicher Herrschaft, die derjenigen eines Körpers entspricht. Auch der menschliche Körper hat Gliedmaßen, die jedes für sich eine eigene Aufgabe besitzen und dazu da sind, den anderen Körperteilen zu dienen. Koordinator dieser einzelnen Funktionen ist der Kopf des Menschen, er entspricht der weltlichen Obrigkeit. "Daher es kommen I das eine jede regirung oder oberkeit ein haupt genent wurdt'.31. Eine in diesem Sinne gute Obrigkeit kann aber nur von christlichen Herren errichtet werden; denn Ungläubige vermögen zwar, den äußerlichen Nutzen für die Gemeinde zu sichern, nicht aber die Wahrung der Ehre Gottes. Diese Argumentation ist angesichts der bereits erwähnten angespannten Lage im Reich bemerkenswert, denn hier geht Ferrarius über die bekannten Positionen hinaus. Einerseits deutet sich damit der Schutzauftrag weltlicher Obrigkeit an32, die für die Wahrung des rechten Gottesdienstes zu sorgen habe, andererseits wird mit dieser Einschränkung das Tor für die Argumentation gegenüber allen weltlichen Obrigkeiten geöffnet, die nicht der als wahr erkannten christlichen Konfession angehören. In den Debatten um das Notwehrrecht die sich in den folgenden Jahren verdichteten, war eben dieses Argument sehr zentral. Nicht weniger aufschlußreich ist die Auseinandersetzung des Ferrarius mit dem zeitgenössischen Einwand, daß Christus geboten habe, dem Übel nicht zu widerstehen, so daß weltliche Obrigkeit, die dies als ihre Aufgabe betrachte, dem Wort des neuen Testaments zuwiderhandele 33 . Unter Hinweis auf Luther betont Ferrarius, daß dieser Einwand sehr wohl für den einzelnen Christen gültig sei: er solle 29 Vgl. dazu Luise Scham-Schütte, Politikberatung im 16. Jahrhundert, in: Festschrift für E. Wolgast, hrsg. v. Armin Kohnle, 2001 (im Druck); sowie Diethelm Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand?, Berlin 1991. 30 Ferrarius, Von dem Gemeinen nutze (Anm. I), fol. C IV r. 31 Ebd., fol. D II r. 32 Ferrarius entfaltet dies weiter: Er weist der Obrigkeit ein zweifaches Amt zu: eines, das durch das Schwert symbolisiert und als Schutzfunktion bezeichnet wird, und ein anderes, das durch das Zepter symbolisiert wird und die Aufgabe der Rechtsprechung kennzeichnet. Vgl. ebd. fol. D 111 r und v

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dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Damit aber werde nicht die Notwendigkeit eines weltlichen Regiments aufgehoben, im Gegenteil. Derjenige, der das weltliche Regiment führt, ist in diesem Augenblick nicht länger eine einzelne Person, sondern eine "gemeine person", eine, die ein Amt führt und in dieser Funktion die Pflicht hat, die Bösen zu strafen und die Guten zu schützen34. Und mit Hinweis auf die christliche Hausstandsethik des J. Menius35 betont Ferrarius, daß diese Doppelung für alle Amtsträger in der christlichen Gemeinschaft gelte: für Hausväter ebenso wie für weltliche Obrigkeiten, ebenso wie für die Geistlichkeit. Deshalb kann der einzelne "Hausvater" die Pflichten dem äußerlichen Gesetz gemäß sehr wohl erfüllen und doch zugleich ein geistlicher Mensch sein, der den Geboten des neuen Testaments folgt. "Daraus folgt I das ein person zwey unterschiedlich ampt tragen kann I eines weltlich I und das andere geistlich"36. In knapper Form wendet sich Ferrarius schließlich auch der Beschreibung der einzelnen Funktionsträger I Ämter zu. Ganz im Sinne des reformatorischen Bildungsauftrages betont er die Notwendigkeit guter Schulen, um zukünftige tüchtige Amtsträger auszubilden 37 . Deren Nutzen sei keine neue Erkenntnis, auch hier könne man an die Erziehungstraditionen der Griechen und Römer anknüpfen. Den wahren Glauben allerdings gelte es nunmehr mit besonderer Sorgfalt weiter zu geben; diese Aufgabe weist Ferrarius der Geistlichkeit zu: " ..uff das wirs erkennen/ unnd erfaren I was Gott von uns fordert oder nit I so mussen wir inn der gemeyn prediger haben I die in der schrifft erfaren sein I uns leren künnen I wie wir uns gegen Gott und den nechsten/ gottliebem gesatz nach halten solen"38• Während die Prediger den "geistlichen Menschen" belehren sollen, wird diese Aufgabe für den "äußerlichen Menschen" den Juristen übertragen. Denn dieser ist dem weltlichen Regiment unterworfen, das sich nach weltlichen Gesetzen zu richten hat; diese müssen sowohl diejenigen kennen, die das Amt des Regiments ausüben, als auch diejenigen, die "als unterdanen" leben sollen. Schließlich ist es für ein gutes Regiment wichtig, daß man gelehrte Ärzte habe, ebenso wie es unverzichtbar ist, Schreiber und Schulmeister auszubilden, die Kenntnisse in der Verwaltung mitbringen. 33 Ferrarius, Von dem Gemeinen nutze (Anm. 1), bezieht sich hier auf Matthäus 5 und Lucas 6; siehe ebd., fol. D III r. 34 "Also ist ein man ein Christ und I ein weltlich oberkeit I Als ein Christ strebet er dem ubelln nit widder I aber als ein oberkeit thut er alles das I so zu erhaltung weltlichs regiments dienlich ist." Ebd., fol EI r. 35 Ferrarius verweist in einer Randnotiz fol. E I r auf Justus Menius, Oeconomia christiana, Wittenberg 1529. 36 Ferrarius, Von dem Gemeinen nutze (Anm. 1), fol. EI v. 37 "Damit aber auch leuthe inn den gemeinen erzogen werden zum regiment dinlich I ist vonnöten das man schulen hab". Ebd., fol. NI r. 38 Ebd., fol N II r.

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Zusammenfassend läßt sich festhalten: In einer von ihm selbst als Umbruch erfahrenen Zeit entwirft der hessische Jurist ein Modell christlicher Herrschaftsordnung, das in Begrundung und Zielsetzung nachdriicklich an die Traditionen des Alten und Neuen Testaments anknüpft. Für die ganz aktuelle Charak:terisierung der Pflichten und Grenzen weltlicher Obrigkeit bezieht er sich gleichrangig auf die noch junge reformatorische Theologie bzw. Hausstandsethik und die antiken Rechtslehren; über beides verfügte er aufgrund seiner Wittenberger Studien als Jurist und Philosoph. In dieser Verbindung zweier Pfade der Herrschaftslegitimation, die sich zudem für die Umsetzung im städtischen Umfeld als tragfähig erwiesen, lag der Ursprung der Ausbildung spezifisch protestantischer Normen für die ständische Gesellschaft der Fruhen Neuzeit. Das heißt nicht, daß etliches davon nicht weiterhin auch im katholischen Bereich des Alten Reichs Gültigkeit bewahrte; dennoch ist von der Entfaltung zweier konfessionell geschiedener Normentableaus auszugehen. Die Frage, die sich für das folgende stellt, ist, ob sich der "protestantische Normbestand" im Laufe der folgenden Jahrzehnte veränderte; die Maßstäbe solchen Wandels gilt es zu benennen39• I1.2. Eine gewichtige Ergänzung zum Regentenspiegel des Juristen Ferrarius stellt die Hausstandsethik des protestantischen Theologen Hieronymus Weller (1499-1572) dar40, die zudem gut zwanzig Jahre später, nämlich 1557, in einer gänzlich veränderten politischen Landschaft publiziert wurde. Während Ferrarius in seiner Schrift das Verhältnis zwischen weltlichem und geistlichem Regiment nicht thematisiert, lediglich der Geistlichkeit eine Aufgabe als Lehrer des geistlichen Wissens zuweist, setzt die Haustafel des Superintendenten Weller gerade an dieser Stelle an. Unter Berufung auf die Ordnung der Welt in drei Stände entwirft der sächsische Theologe ein Bild christlicher Gemeinschaft, für die die enge Verzahnung des weltlichen und geistlichen Bereiches konstitutiv ist. Daß beide Texte sich in ihrer Aussage so erheblich unterschieden, ist nur vordergrundig mit der unterschiedlichen Profession beider Autoren zu erklären. Gewichtiger war die Tatsache, daß sich innerhalb der zwanzig Jahre, die zwischen beiden Publikationen vergangen waren, die politischen Bedingungen für die Entwicklung protestantischer Ordnungen einerseits konsolidiert hatten, andererseits interne Reibungspunkte entstanden waren, die es notwendig machten, das Gewicht der Kräfte, die in den protestantischen Sozialordnungen mitwirken sollten, zu bestimmen und 39 Die Bewertung des Ferrarius als Vorläufer des Absolutismus und Kritiker der Volkssouveränität durch Ecken, Gedanke des gemeinen Nutzens (Anm. 20), verwendet Maßstäbe, deren Angemessenheit sehr fragwürdig ist; ausführlicher dazu unten Teil m. 40 Zu Titel und Druckort siehe Anm. 14. Weller war Sohn eines sächsischen Bürgermeisters, hatte in Wittenberg bei Luther Theologie studiert und sich sodann der Juristerei zugewandt; 1535 wurde er zum Doktor der Theologie promoviert, 1539 berief ihn Herzog Heinrich von Sachsen zum Superintendenten in Freiberg, seiner Vaterstadt. Ausführlicheres zur Biographie siehe in Christian Gottlieb Jöcher, Allgemeines Ge1ehrten-Lexicon, Vierter Theil, Leipzig 1751,1879-1880.

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aufeinander abzustimmen. Das Modell, das sich dafür seit den ausgehenden zwanziger Jahren abzeichnete und das auch Ferrarius offensichtlich zur Kenntnis genommen hatte, indem er auf Menius verwies, war die Drei-Stände-Lehre, die eine lange, bis in das Mittelalter zurück reichende Tradition besaß41 . In deutlicher Weiterführung der Hausstandsethik des J. Menius bindet der sächsische Superintendent die drei Stände in einer einheitlichen Form weltlicher Ordnung zusammen. Denn während Menius noch eine weltliche und eine geistliche Realität voneinander schied und erst innerhalb dieser beiden Bereiche drei Stände differenzierte, konstituieren in Wellers Verständnis die drei Stände den einen Bereich irdischer Realität, der geistlich und weltlich zugleich ist. Lediglich die Reflexion seiner eigenen Zeit läßt ihn eine eigenwillige Differenzierung einführen, die er theologisch begründet: im ersten Stand befinden sich all die Stände, die die Alte Kirche unterschieden hat (u. a. Könige, Fürsten, Bischöfe, Prediger); im zweiten Stand befinden sich die eigentlich von Gott gestifteten Stände, insofern sie nicht um der Werke willen eingesetzt wurden, sondern um durch ihr Wirken dem Lob Gottes zu dienen. "In den andern I wie gesagt/ den Gott geordnet hat I gehört die Kirche I das weltlich unnd RauBregiment I welche stende alle I von Gott selbst dazu gestifftet sind.[ ] Darumb sie denn auch sindt I rechte heylige und herrliche stende I nicht aber umb der werck willen"42 . Inhalt und Aufbau der Haustafel dienen einerseits der Präzisierung der Aufgaben und der Normen, die die drei Stände: "Kirchen, Politischer und der Haußhaltung"43 haben bzw. erfüllen sollen. Sie dienen damit andererseits der protestantischen Traditionsbildung und -Stabilisierung, einer Aufgabe also, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts für die jungen evangelischen Gemeinwesen lebenswichtig war. Innerhalb der drei (auch stilistisch) als gleichberechtigt charakterisierten Stände existieren vergleichbare Strukturen. Derstatus ecclesiaticus besteht aus dem Amt des Bischofs, dem Amt des Diakon und dem Amt der christlichen Zuhörer. Der status politicus, d. h. die weltliche Obrigkeit, besteht aus dem Amt christlicher Fürsten I Herren I Obrigkeiten und dem Amt der Untertanen. Der status oeconornicus, der Stand der Haushaltung also, besteht aus dem Amt des Ehemannes und der Ehefrau, dem Amt der Eltern und dem Amt der Kinder, dem Amt der Hausväter und Hausmütter, dem Amt der Knechte und Mägde, dem Amt der gemeinen Jugend, der frommen Schüler, der Schulmeister und schließlich dem Amt der Witwen. Schon diese Aufzählung macht deutlich, daß es zwischen allen drei Ständen zu Überschneidungen kommen kann und soll: so ist der Bischof zugleich Ehemann, Elternteil und Hausvater, der christliche Fürst zugleich Hausvater, Elternteil und Ehemann, der christliche Fürst zugleich christlicher Zuhörer, der Bischof zugleich Untertan, der Hausvater zugleich Untertan und christlicher Zuhörer. Mit dieser 41 Siehe dazu Scham-Schütte, Politikberatung (Anm. 29), sowie dies., Drei-Stände-Lehre (Anm. 10). 42 Weller, Haußtafel (Anm. 16), Vorrede, 5. 43 Ebd., fol. A IV r.

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Wechselseitigkeit der Verbindungen wird die Gemeinsamkeit in der Vielfalt beschrieben, die Verzahnung von Funktionen, ohne zugleich die Hierarchisierung der Gemeinschaft fest zu schreiben. Selbstverständlich gibt es ein "oben" und ein "unten" in allen Ständen, aber wie in der Körpermetapher gemeint, besteht darin zugleich die Begrenzung von Herrschaft. Am Beispiel des christlichen Fürsten wird dies in Wellers Haustafel ausdrücklich formuliert: "Weil Gott die Obrigkeit dazu geordent unnd eingesatzt hat I das sie sey eine dieneein Gottes I das ampt eines frommen hirten füren solIist hierauß leicht zuschließen I das Fürsten und Herrn nicht alles geziemen kann was sy gelüstet. Der halben auch ihnen nicht gebüren will I das sie irer gewalt mißbrauchen unnd tyranney treyben" 44• Sinn menschlicher Gemeinschaftsbildung ist auch für Weller die Wahrung des "gemeinen friedts unnd ruhe"45 , selbst wenn er den Begriff des "Gemeinen Nutz" nicht verwendet. Wie Ferrarius aber geht es auch ihm um die Beschreibung einer christlichen Gemeinschaft, die den Prinzipien der biblischen Schöpfungsordnung folgt. Die Dreiständeordnung erfüllt diese Vorgabe aufs beste, sie knüpft zudem an spätmittelalterliche Traditionen an, so daß die notwendige Kontinuität für die Begründung der Legitimität von Herrschaft gegeben ist. Dieser Aspekt ist in der Wellersehen Schrift von besonderer Bedeutung, geht es ihm doch darum, zu zeigen, daß die Ordnung der Stände durch die Alte Kirche den Mißbrauch göttlicher Ordnung darstellte, die Ordnung der Stände durch die Kirche der Reformation dagegen die Ordnung im Sinne der Schöpfung wiederherstellte! In dieser Gemeinschaft gilt weltliche Obrigkeit von Anfang an als gut und richtig. Lediglich der Mißbrauch ihrer Macht darf und muß begrenzt werden. Über den Umfang dieser Grenzziehung wird in Wellers Schrift an verschiedenen Stellen gesprochen; vor allem ist die Dreiteilung der Gemeinschaft, die nur in der wechselseitigen Verzahnung funktionstüchtig wird, ein tiefgreifendes Argument für Herrschaftsbegrenzung als Folge christlicher Politik. Für den Verfasser liegt hierin auch der Schlüssel zum Verständnis für das zeitgenössisch weiterhin umstrittene Pauluswort zum Obrigkeitsgehorsam. Ebenso wie die beiden anderen Stände ist die Obrigkeit in erster Linie Dieneein Gottes: "welche eusserliche guthe zucht I erbarkeyt unnd friede I unter ihren unterthanen erhelt und bewaret I und den ungehorsamen I mit gebürlicher leibs straffe steuret"46. Nur in der Pflicht zu körperlicher Strafe unterscheidet sie sich vom status ecclesiasticus, vom "Lehrer in der Kirchen", der als Diener Gottes "straffet die Ieute mit Gottes wort I das ist I er excommunicirt und schleust auß die halsstarrigen unnd unbußfertigen"47 . Ein Mißbrauch der dienenden Aufgabe ist durch die Wechselseitigkeit der Strafpflicht und die damit verbundene Kontrolle ausgeschlossen.

Ebd., fol.I VIII r I v. Ebd., fol. I II r. 46 Ebd., fol. H IV r. 47 Ebd. 44 45

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Auch dem sächsischen Superintendenten war die Labilität dieser auf Balance der Kräfte angelegten Ordnung bewußt; gerade deshalb betonte er die wechselseitige Einbindung aller Stände in die Schöpfungsordnung immer wieder und unterstrich deren Legitimität mit Hinweisen auf ihre Verankerung im Alten und im Neuen Testament. Nur in der doppelten Herleitung aus biblischer Tradition und vorreformatorischer Praxis konnte der politische Ordnungsentwurf Akzeptanz erwarten. Ebenso wie der hessische Jurist folgt auch der sächsische Theologe zwei Traditionssträngen, um die Ordnung des evangelischen Gemeinwesens zu legitimieren. Die praktische Herausforderung, der sich die Generationen des ausgehenden 16. Jahrhunderts zu stellen hatten, war die Konkurrenz zwischen weltlicher Obrigkeit und geistlichem Stand; dieses Konfliktpotential kannte die Generation um Ferrarius noch kaum. Erst mit der sozialen und theologischen Etablierung der evangelischen Kirche entwickelte sich Ordnungsbedarf. Darin aber lag nicht nur eine soziale Herausforderung; vielmehr ging es um die auch das 17. Jahrhundert noch prägende verfassungspolitische Frage nach dem Verhältnis zwischen Kirche und weltlicher Obrigkeit: war sie ein Glied der Kirche oder ihr Haupt? Diese Frage bewegte nicht nur die Geistlichkeit; sie bezeichnete eines der zentralen Probleme im Alten Reich und in den deutschen Territorien, an deren Beantwortung sich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts unterschiedliche Modelle politischer Legitimität entwickeln ließen. 11.3. Auch in der Schrift des Christian Wamer Friedtlieb aus dem Beginn des 17. Jahrhunderts begegnet sie uns wieder48 . Der Verfasser, protestantischer Magister, vermutlich in den Diensten der Reichsstadt Goslar stehend, hatte sein Buch 1614 verfaßt und es als eine "Prudentia politica christiana das ist: Beschreibung einer christlichen nützlichen und guten Policey" bezeichnet. Damit nahm er zwei zeitgenössisch wohl bekannte Begriffe zur Beschreibung seiner Ordnungsvorstellungen auf: der Policeybegri~9 war dabei, sich als Metapher für eine gute Ordnung zwischen "Landesherrn" und "Land" zu etablieren, die in der wechselseitigen Verpflichtung zur Erfüllung bestimmter Aufgaben festgelegt war. Und der Begriff der politica christiana signalisierte die Einbindung in eine christliche Politikvorstellung, die sich als Abgrenzung vom zeitgenössischen Machiavellismus, als Ablehnung einer "Klugheit" ohne normative und d. h. vor allem christliche Verpflichtung darstellte50• Friedtliebs "Regimentslehre" band weitere Elemente der zeitgenössischen theologisch-politischen Kommunikation über Herrschaft ein. Dies war einerseits die Anknüpfung an die Körpermetapher, die den Aufbau seiner Ausführungen strukturierte und über das hinausging, was bei Weller und Ferrarius benannt wurde. Sie verband zum anderen den hierarchischen Aufbau sozialer Ordnung in seiner GeFriedtlieb, Prudentia politica christiana (Anrn. 16). Vgl. dazu Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (Anrn. 18), I, 334-396. so Friedtlieb, Prudentia politica christiana (Anrn. 16), 14: ,,Es ist besser geringe Klugheit mit Gottesfurcht I denn grosse Klugheit mit Gottes verachtung". 48 49

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stalt als "politischer Körper"51 mit der Dreiständeordnung, so daß die Aufgabenverteilung unter den an der Herrschaft Beteiligten (u. a. der Geistlichkeit) charak.terisierbar wurde. Neben der Verwendung zeitgenössischer politisch-theologischer Metaphorik hat Friedtlieb einige eigenständige Elemente in seine Arbeit aufgenommen. Selbstverständlich ist der Regent das Haupt des politischen Körpers; das war bei Ferrarius und Weller nicht anders, dies setzt sich in der gesamten Regimentsliteratur auch der folgenden Jahrzehnte fort52• Dem Landesherrn zur Seite steht eine Regierung, die als Herz bezeichnet wird; militärische Hilfskräfte (Diener in Kriegs- und Friedenszeiten werden sie bezeichnenderweise genannt) gleichen Armen, Fingern und Händen; den beiden Beinen entsprechen der sogenannte "Lehr- und Regierstand", mit Füßen und Zehen wird der sogenannte "Nehrstand" verglichen53 . Ein guter Regent zeichnet sich aus durch Weisheit und Verstand sowie durch eine Regierungsführung, die die Wohlfahrt und das Gemeine Beste des Landes und seiner Gliedmaßen, d. h. der Untertanen, im Blick behält. Ein solcher Fürst kann mit der "pia mater", einer zentralen Haut innerhalb des Gehirns verglichen werden. Dies allerdings nur dann, wenn er sich aller Arglist und Spitzfindigkeit enthält, denn eine solche Politik folgt "des Machiavelli und seines gleichen Lehr"54 ; diese ist nicht nur gottlos, sondern auch schädlich. Statt dessen soll der Fürst den Worten des alttestamentlichen Propheten Syrach folgen und seine Regierung in rechter Gottesfurcht führen, denn der Regent soll "ein defensor und bechützer der ersten und der andern Tafel der heiligen zehen Gebott Gottes sein"55 • Damit nimmt Friedtlieb ausdriicklich Bezug auf die durch Melanchthon in der Mitte des 16. Jahrhunderts formulierte Bestimmung der Aufgabe eines christlichen Fürsten, der "defensor utriusque tabulae" zu sein habe56• Recht und Pflicht eines christlichen Regenten bestehe darin, den Bestand der christlichen Lehre ( u. a. im Schutz des Ritus, im Schutz der kirchlichen Institutionen) nach außen und im Innern zu sichern. In dieser Doppelung lag erheblicher Konfliktstoff, konnte sich doch der Regent, der auch die richtige Lehre in ihrer Fortdauer zu schützen hatte, leicht als Haupt der Kirche verstehen. Melanchthon hat dies nachdriicklich zuriickgewiesen; die 51 So die Bezeichung durch Gottluzrd Frühsorge, Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises, Stuttgart 1974; Friihsorge bezieht in seine entsprechenden Ausführungen die Lehre des Friedtlieb ausführlich ein, vgl. ebd., 59-74. 52 Prominente Beispiele hierfür sind die Werke Veit Ludwig von Seckendorffs und Dietrich Reinkingks. 53 Friedtlieb, Prudentia politica christiana (Anm. 16), 8. 54 Ebd., 16. 55 Ebd., 15. 56 1535 definierte Melanchthon in den Loci communes: ,.Magistratum custodem ess non solum secundae tabulae, sed etiam primae tabulae". Corpus Reformatorum, Bd. 21, Sp. 553. Vgl. dazu Eike Wolgast, Melanchthon als politischer Berater, in: Melanchthon. Erlanger Forschungen, Bd. 85, Erlangen 1998, 179-208, hier 190 f.

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politischen, theologischen und juristischen Diskussionen des beginnenden 17. Jahrhunderts aber zeigten, daß der Anspruch weltlicher Obrigkeit auf einen Sonderstatus immer drängender wurde57 • Die Verzahnung des reformatorischen defensor- Gedankens mit der Drei-Stände-Lehre, wie sie bei Friedtlieb formuliert wurde, kann als Abwehr jenes Zentrierungsanspruches verstanden werden. Damit setzte er die Argumentationslinie fort, die bereits bei Weller am Ende des 16. Jahrhunderts zu beobachten war. Friedtlieb beschreibt das Wechselverhältnis zwischen "Lehr- und Regierstand" als ein sehr enges, der "Nehrstand" ist davon sichtbar abgesetzt. Im Rahmen der Körpermetapher, die die ganze Darstellung zusammenhält, bleibt aber ähnlich wie bei Weller der Zusammenhang gewahrt. Alle drei Stände sind für die Existenz und Aufrechterhaltuung einer christlichen, guten Lebensordnung (Policey) unverzichtbar. Der Lehrstand hat die Aufgabe, die ihm anvertrauten Pfarrkinder zur Frömmigkeit zu erziehen, das heißt sie zu lehren, wie sie Gottseligkeit erhalten und bewahren können. Dazu sollen sich die Theologen und geistlichen Lehrer, die den Lehrstand bilden, des Wortes und der Zuchtstrafen bedienen, die ihnen im Rahmen ihres geistlichen Amtes zur Verfügung stehen. Der Regierstand hat die Aufgabe, den ihm anbefohlenen Untertanen "die heilsame iusticiam", d. h. Recht und Gerechtigkeit unparteiisch mitzuteilen58 . So wie die Geistlichkeit das Wort verwendet, sollen die "Weltlichen" die "That" einsetzen, um die Ungehorsamen und Widerspenstigen zu strafen59. Bemerkenswert ist die Zusammensetzung dieses Regierstandes: neben der Regierung, die Friedtlieb dem Herzen gleichgesetzt und als kontrollierende Beratungsinstanz dem Regenten zugeordnet hat, gehören die vom Fürsten als Richter berufenen Personen und dieser selbst hinzu60 ! Regier- und Lehrstand sind die Säulen einer guten Ordnung (Policey), sie sollen nicht in Zwietracht gegeneinander arbeiten. In ihrer wechselseitigen Unterstützung liegt vielmehr die Chance, tyrannische Herrschaft zu verhindern: ,,Nam lusticia et Pietas tute sunt Principis arces, nulla Tyrannorum vis diutuma manet"61 . 57 Vgl. zum ganzen Themenkomplex Martin Hecket, Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1968, bes. 131-139. Wichtig dort auch der Hinweis auf die Auffassung der Reformatoren, die für den magistratus christianus ausdrücklich einen obrigkeitlichen Gehorsamsanspruch im Blick auf die inneren Angelegenheiten der Kirche (cura interna) ausschlossen; dieser sollte vielmehr als membrum praecipuum in "genossenschaftlich, helfender Weise [handeln], ohne zu regieren". Ebd., 133 mit Anm. 705. 58 Friedtlieb, Prudentia politica christiana (Anm. 16), 83 f. 59 Ebd., 86 f. 60 Ebd., 84: "Der Regierstandt aber darzu I daß diejenige I so von dem Regenten I weil derselbe mit und neben seiner zu Hofe bestalter und habender Regierung I solches an allen orten nicht allein I verrichten kan I sondern andere mehr darzu gebrauchen muß I darzu verordnet seyn I daß sie denen ihnen anbefohlenen Unterthanen die heilsam iusticiam[ ... ]mittheilen." 61 Die deutsche, nicht ganz wörtliche Übersetzung gibt Friedtlieb (ebd., 117) gleich dazu: "Gerechtigkeit und Gottseligkeit I schaffen dem Regenten sicherheit I aber der Tyrannen groß gewalt wehret nicht lang I sondern vergehet bald."

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Der Nehrstand gehört zur rechten Lebensordnung als deren dritte Säule zwar hinzu62 , wird aber innerhalb der Körpermetapher von den beiden anderen Ständen abgesetzt; ihn vergleicht Friedtlieb mit Füßen und Zehen. Seine Träger sind Gärtner, Bauern, Viehzüchter, Weingärtner u. a. m., deren Aufgabe darin besteht, den Lebensunterhalt für alle anderen zu sichern. Deshalb ist es erforderlich, diese Gruppe, sei sie auch noch so aufriihrerisch und ungebildet, vor unnötiger Belastung durch Kriegsdienst und Abgabenlast zu schützen63 • Zusammenfassend ist festzuhalten: Der Sinn menschlicher Gemeinschaftsbildung ist auch für Friedtlieb die Errichtung einer gerechten und das heißt christlichen Lebensordnung. Der Begriff zu ihrer Charak.terisierung lautet nicht mehr "gemeiner Nutz" sondern "christliche, nützliche und gute Policey". Deren Verwirklichung ist Aufgabe des politischen Körpers, der ein Haupt (den Regenten) hat und gleichgewichtig wirkende Glieder. Auch der Körper ist Teil der Schöpfungsordnung und die für sein Funktionieren notwendige Hierarchie von Anfang an gut. Diese bleibt nur wirksam, wenn die Balance der Kräfte in Gestalt der funktionalen Dreiteilung der Stände (als Balance der Glieder) gesichert ist. Ausdrucklieh bezieht sich Friedtlieb auf solche Traditionen politiktheoretischen Denkens, die sich von dem Anspruch zentraler obrigkeitlicher Herrschaftskompetenz des Machiavellismus seiner Zeitgenossen absetzten; einmal mehr ist dies die Tradition alttestamentlicher, begrenzter Königsherrschaft

111. Wandel politischer Normen in der Frühneuzeit als Modernisierung? Herrschaftsbegrenzung war für die politiktheoretische Diskussion im Protestantismus seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ein zentrales Thema. Diese Aussage gilt es fest zu halten; die Sichtung einiger Herrschaftslehren jener Jahrzehnte hat die Vielschichtigkeit der Argumentationen belegt. Die Anknüpfung an legitimierende Traditionen (Hausstandsethik, antike Rechtslehren, alttestamentliche Bilder vom guten König) erwies sich als ebenso wichtig wie die Wiederbelebung solcher Ordnungsmuster, die auch für die Festigung der neuen Institutionen hilfreich sein konnten, wie dies für die wiederbelebte Drei-Stände-Lehre ohne Zweifel galt. Immer wieder konnte deshalb darauf verwiesen werden, daß die Begrenzung von Herrschaft Bestandteil einer christlichen Herrschaftsordnung, der politica christiana, sei, der Fürst wie der Hausvater Teil, nicht Haupt der christlichen Gemeinde als Kirche sei. In diesem Sinne galt weltliche Herrschaft als von Anfang an gut, der Zweck menschlicher Gemeinschaftsbildung war die Wahrung des "Gemeinen Besten", der 62 Ebd., 120: "Also kann keine Policey I in welcher dieser Standt nicht ist I sein noch vor sich bestehen." 63 Ebd., 127.

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"Guten Policey" als einer Ordnung, innerhalb derer jedes Teil seine unverzichtbare Funktion, dem menschlichen Körper vergleichbar, auszuüben habe. Die ältere, u. a. mit Troeltsch beginnende Forschung hat diese "christliche Herrschaftslehre" als quietistisch, als Wendung zum Konservativen, als Grundlegung autoritärer Strukturen in der Politikauffassung, die auf einem patriarchalischen Obrigkeits - Untertanen - Verhältnis beruhen, charakterisiert64. Die Forschung der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ging mitunter soweit, jene als "lutherische Staatslehre" beschriebene Politikauffassung deshalb als "riickwärtsgewandt" zu charakterisieren, weil ihr die Nähe zur Volkssouveränität gefehlt habe, sie vielmehr dem Souveränitätsverständnis des "modernen absoluten Staates" vorgearbeitet habe65 . Und auch die eingangs bereits zitierte Untersuchung von W. Schulze sieht das weiterführende Element in der politiktheoretischen Literatur des ausgehenden 16. I beginnenden 17. Jahrhunderts gerade darin, daß der Gedanke des Gemeinen Nutzen durch denjenigen der legitimen individuellen Vorteilsnahme abgelöst zu werden beginnt66 • Angesicht der obigen Befunde stellt sich deshalb die Frage nach dem Maßstab für die Charakterisierung historischen Wandels mit Dringlichkeit. Denn warum sollten politische Normen, die der Herrschaftsbegrenzung dienen, zugleich aber im Rahmen der politica christiana an einem Norm begrundenden Anspruch auf Verwirklichung des "Allgemeinen Besten" festhalten, weniger "entwicklungsträchtig" sein als solche, die den Eigennutz legitimieren? Und wo liegt die Logik des Troeltsch'schen Arguments angesichts des herrschaftsbegrenzenden Charakters des patriarchalischen Obrigkeitsbegriffes, der ohne Zweifel für die Herrschaftslehren des späten 16./friihen 17. Jahrhunderts charakteristisch war, insofern sie sich auf die Drei-Stände-Lehre und die Hausstandsethik beriefen? Der Maßstab, mit dem zahlreiche Untersuchungen aus dem 20. Jahrhundert die Entwicklungen politischer Normen in der Friihen Neuzeit gemessen haben, war der Entwicklungsgedanke des 19. Jahrhunderts, der im späten 20. Jahrhundert vielfach durch seine variierte Fassung, die Modemisierungstheorie, abgelöst wurde67 • Deren Gültigkeit allerdings steht auf dem Priifstand angesichts der Einsicht, daß ihre Verwendung dazu führt, solche historischen Bewegungen unbeachtet zu lassen, die nicht intendiert waren zum einen, die sich dem dominanten Gang der Entwicklung nicht anschlossen oder widersetzten zum anderen. Es ist deshalb notwen64 So die Charak.terisierung bei Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften, 1), ND der 1. Auf!. von 1922, Aalen 1961, 548 mit Anrn. 255. 65 So die Argumentation bei Eckert, Gedanke des gerneinen Nutzens (Anrn. 20), 77. 66 Schulze, Vorn Gerneinnutz zum Eigennutz (Anrn. 2). 67 "Die klassischen Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts basierten auf der Überzeugung, daß es möglich sein mußte, eine zuverlässige Methode zu finden, mit deren Hilfe man unterschiedliche Gesellschaften differenzieren konnte." Nico Stehr, Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 44.

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dig, über das Verhältnis zwischen sogenannten "traditionalen" und sogenannten "modernen" Gesellschaften neu nachzudenken. Eine Formel, die eine gewisse Plausibilität in Anspruch nehmen kann, ist diejenige, die historischen Wandel in Phasen der Ausweitung sozialen Handeins zu fassen versucht. "Um zumindest zu illustrativen und analytischen Zwecken eine Alternative zu formulieren, möchte ich [d. h. der Autor N. Stehr] vorschlagen, den Modernisierungsprozeß nicht als einen Ablauf von strikt vorbestimmten Entwicklungsstadien zu verstehen, sondern als einen offenen, häufig sogar reversiblen Prozeß der Ausweitung sozialen Handelns"68. Für die Charakterisierung des Wandels politischer Normen in der Frühen Neuzeit kann dieser Ansatz weiterführend wirken. Denn natürlich war die Debatte um die Normierungsintentionen, die oben skizziert wurde, Antwort auf veränderte Wirkungsbedingungen, die durch die Reformation ausgelöst worden waren. Veränderte bzw. ganz neue Aufgabenfelder traten hinzu, neue Trägergruppen zudem forderten Integration und Normdeutungskompetenz. Das Verhältnis zwischen den an politischen Entscheidungen Beteiligten veränderte sich ebenso wie deren sozialer Ort, ihre Aus- und Vorbildung. Dies alles ist mit den Kategorien des Modernerwerdens allein nur unzureichend fassbar. Das Neben- und Miteinander des "Traditionalen" und des "Neuen", beides in vertrauten und dadurch legitimen Formen, war das Charakteristische; dem entsprach das Neben- und Gegeneinander der politischen Kommunikation. Es ist an der Zeit, den Charakter dieser Verschränkungen sehr viel intensiver zu erforschen als bisher.

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Die Deutschen und der Dreißigjährige Krieg Zeiterfahrung des steten Wechsels und Reichspolitik* Von Anton Schindling, Tübingen Es gehört zu den Gemeinplätzen für die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts, daß die deutsche Geschichte schwierig, reich an Kontinuitätsbrüchen und katastrophenträchtig sei 1• Dabei haben die politische und moralische Katastrophe des Nationalsozialismus und die Erfahrung von zwei Weltkriegen die älteren Epochen einer tausendjährigen Geschichte überschattet und dieser nach Meinung mancher Interpreten einen neuen Sinn unterlegt, der deutsche "Sonderwege" und Fehlentwicklungen erklären soll. Die Bilder von massenhaftem Sterben und Morden in einer nahen Vergangenheit lassen in der kollektiven Erinnerungskultur Bilder älterer Vergangenheiten zurücktreten. Das vorangegangene geschichtliche Erinnern der Deutschen kannte dabei auch eine als Tiefpunkt erfahrene Katastrophe, welche die dunkle Folie für Jahrhunderte bildete, nämlich den Dreißigjährigen Krieg. Es gibt kaum ein Geschehen in der älteren deutschen Geschichte, welches so sehr in der kollektiven Erinnerung des deutschen Volkes in lokalen und regionalen Traditionen verankert ist wie der Dreißigjährige Krieg. Hierbei dominieren Angst und Schrecken und Dankbarkeit der noch-einmal-Davongekommenen. Eine erste Begegnung mit dieser sedimentierten Kriegserfahrung aus fernen Tagen hatten viele beim Singen jenes merkwürdigen Kinderliedes: Maikäfer; flieg!

Dein Vater ist im Krieg, Dein Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, Maikäfer, flieg 2 !

* Dieser Aufsatz ist die Druckfassung meiner Tübinger Antrittsvorlesung, die arn 1. Juli 1996 gehalten und seitdem überarbeitet wurde. Für tatkräftige Hilfe bei der Drucklegung danke ich sehr herzlich Herrn cand. phil. Gregor Maier (Tübingen). Grundsätzlich zum Thema: Matthias Asche/Anton Schindling (Hrsg.), Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Münster 200 I . I Heinrich August Wink/er, Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., 2. Auf!. München 2001. 2 Friedrich Amold, Das deutsche Volkslied, T. 2, 4. Auf!. Prenzlau 1927, 238; vgl. Günter Barudio, Der Teutsche Krieg 1618-1648, Frankfurt a. M. 1985, 381-389.

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Ein anderer Kinderreim kann diese Melancholie des Maikäfers ergänzen: Bet' Kinder, bet'! Morge kommt der Schwed'! Morge kommt der Oxestern, Der wird die Kinder bete lern3 .

Erinnerungen an Stadtbrände und wüst gewordene Dörfer, an Raub und Mord, an Schlachten und Feldherren, an erzwungenen Glaubenswechsel sowie an Verfolgung und Vertreibung um des Glaubens willen, an Hexenprozesse und Pestepidemien, an Kriegszerstörungen, an verschleppte Kunstschätze und Bibliotheken, an Herrschaftswechsel und mühsamen Wiederaufbau: Solche düsteren Bilder von Kriegserfahrungen finden sich in zahlreichen Variationen in den deutschen Ländern zwischen den Alpen und den Meeresküsten. Dies reicht von Geländebezeichnungen wie Schwedenschanze, Schwedenwald und Mordwiese über Wüstungen und verfallene Befestigungswerke bis hin zu den nach Kriegszerstörung neugebauten Barockstädten wie Eichstätt. Bilder von Fremdherrschaft und Unterdrückung verbinden sich mit den Spaniern in der Pfalz, den Bayern in Oberösterreich, Wallenstein in Mecklenburg oder den Schweden in den katholischen Territorien Süddeutschlands. Es fixierten sich dabei Vorstellungen von Fremden und grausamen Feinden - ob es sich um die Zerstörung von Magdeburg durch Tilly4 oder um den sogenannten Schwedentrunk handelte. Lokale Feste und Bräuche halten Not und Errettung im Elend des Krieges in Erinnerung, von den Oberammergauer Passionsspielen über den Friedenstag in Augsburg, die Kinderzeche in Dinkelsbühl und den Meistertrunk in Rothenburg ob der Tauber bis zum "Segen gegen die Hessen" in Paderborn und zum "Hohnblasen" auf Wallenstein in Stralsund - wenn auch manchmal erst im historistischen 19. Jahrhundert das heute geläufige Brauchtum fixiert wurde. Kaum ein historischer Festzug ohne Landsknechtstypen des Dreißigjährigen Krieges, so wie auf der Bühne Schillers Wallenstein und Brechts Mutter Courage und in der neuesten Literatur das Treffen in Telgte von Günter Grass fiktionale Erinnerungsräume eröffnen. In Wallensteins Lager schildert Schillers Kapuziner das Elend des Großen Krieges: Der Rheinstrom ist worden zu einem Peinstrom, Die Klöster sind ausgenommene Nester, 3 Friedrich Kar! Freiherr von Er/ach (Hrsg.), Die Volkslieder der Deutschen. Eine vollständige Sammlung der vorzüglichen deutschen Volkslieder von der Mitte des fünfzehnten bis in die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 4, Mannheim 1835, 456; vgl. Barudio, Teutscher Krieg (Anm. 2), 381-389. 4 Hans Medick, Historisches Ereignis und zeitgenössische Erfahrung. Die Eroberung und Zerstörung Magdeburgs 1631, in: Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, hrsg. v. Benigna von Krusenstjem/Hans Medick (Veröffentlichungen des Max-Pianck-Instituts für Geschichte, 148), Göttingen 1999, 377-408.

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Die Bistümer sind verwandelt in Wüsttümer; Die Abteien und die Stifter Sind nun Raubreien und Diebesklüfter; Und alle die gesegneten deutschen Länder Sind verkehrt worden in Elender [ . .. ]5 . Die Stoff- und Bilderfülle des Krieges hat über die akademische Geschichtsschreibung hinaus die Literatur befruchtet. Gustav Freytag und Ricarda Huch seien hier erwähnt6 . Der Bucherfolg von Golo Manns "Wallenstein" ist dafür ein noch junges BeispieC. Was zeichnete den Dreißigjährigen Krieg so aus, daß er diese breite und tiefgehende Erinnerungskultur bewirkte?- und zwar mehr als alle anderen Kriege vorher und nachher bis zum Ersten Weltkrieg. War es das singuläre Ausmaß von Leid und Zerstörung? War es die Opferrolle der Deutschen? Oder die zeitliche Erstrekkung der als zusammenhängend erlebten Aufeinanderfolge von Kriegen und Krisen, die in der suggestiven Benennung als "Dreißigjähriger Krieg" bereits durch die Generation der Mitlebenden und Wahrnehmenden zum Ausdruck kam8 ? Die moderne Geschichtsforschung hat gezeigt, daß die Zerstörungen und die Menschenverluste des Krieges regional sehr differenziert gesehen werden müssen9 • Neben einer Zone schlimmster Verwüstungen, die sich von Pommern und Mecklenburg nach Südwesten diagonal quer durch das Reich über Brandenburg, Thüringen, Hessen, Franken und Schwaben bis ins Elsaß und nach Lothringen erstreckte, gab es Zonen, die sehr viel weniger betroffen waren, so der gesamte Nordwesten vom Niederrhein bis Schleswig-Holstein sowie die Österreichischen Alpenländer und Salzburg. Etwa bis zu 40 Prozent der Vorkriegsbevölkerung im Reich kamen ums Leben 10. Weitaus die meisten Kriegstoten sind dabei der Pest und dem Hunger s Friedrich Schiller, Wallenstein (Schillers Werke. Nationa1ausgabe, 8), Weimar 1949, 30. 6 Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd. 3: Aus dem Jahrhundert des großen Krieges (ders., Gesammelte Werke. Neue wohlfeile Ausgabe, 2/6), Leipzig/Berlin [ca. 1912]; Ricarda Huch, Der große Krieg in Deutschland. Roman (dies. , Gesammelte Werke, 3), Köln/Berlin 1967. 7 Golo Mann, Wallenstein. Sein Leben, 7. Auf!. Frankfurt a. M. 1997. s Konrad Repgen, Dreißigjähriger Krieg, in: Theologische Realenzyklopädie, hrsg. v. Gerhard Krause/Gerhard Müller, Bd. 9, Berlin/New York 1982, 169-188; ders., Über die Geschichtsschreibung des Dreißigjährigen Krieges. Begriff und Konzeption, in: ders., Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N.F. 81), Paderborn u. a. 1998, 21 111 ; Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600-1715 (Neue Deutsche Geschichte, 5), München 1991. 9 Günther Franz, Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, 7), 4. Auf!. Stuttgart 1979; Wolfgang von Hippel, Eine südwestdeutsche Region zwischen Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Kriegsfolgen im Herzogtum Württemberg, in: 1648. Krieg und Frieden in Europa, hrsg. v. Klaus Bußmann/Heinz Schilling, Bd. I, Ausstellungskatalog Münster I Osnabrück 1998, 329-336.

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zum Opfer gefallen, die als apokalyptische Reiter dem Zug der Armeen folgten und die Bevölkerung der ausgeplünderten Landschaften dahinmähten. Es gab andererseits Städte und Territorien, die am Krieg nicht schlecht verdienten, so die Hansestädte Harnburg und Bremen und die Grafschaft Oldenburg mit ihrer kriegswichtigen Pferdezucht 11 . Selbst in Zerstörungsgebieten gab es in Handelsstädten wie Leipzig, Nürnberg, Frankfurt und Straßburg einen Fortgang der Geschäfte und sogar manchen Wohlstand, der sich in bürgerlichen Wohnbauten und Gartenanlagen, aber auch in neuen Stadtbefestigungen mit modernen Bastionen ausdrückte 12• In den großen Städten kam es mitten im Krieg zu einer Kulturblüte im Aufschwung der deutschsprachigen Dichtung. Hier sind neben Nümberg und Straßburg vor allem die Metropolen im alten deutschen Sprachraum des Ostens zu nennen - Breslau in dem ansonsten vom Krieg und seinen Folgen hart mitgenommenen Schlesien sowie Danzig und Königsberg, die allerdings in den beiden Preußen außerhalb des Reiches und außerhalb der Kriegsgebiete lagen. Die Dichter variierten gerne das Motiv des Lebens in Arkadien, so wie in der Malerei gleichzeitig, etwa in Frankfurt, das Stilleben gepflegt wurde 13 . Waren dies Ausflüchte aus einer trostlosen Gegenwart? Für die Menschen im Heiligen Römischen Reich und im alten deutschen Sprachraum war die Zeiterfahrung des Krieges regional sehr unterschiedlich - aber fast alle nahmen sie daran Anteil, als unmittelbar Betroffene oder als Zuschauer, als Täter oder als Opfer, als Mitleidende oder als Profiteure. Ein intensiviertes Nachrichtenwesen und gedruckte Medien wie Flugblatt, Zeitung und Pamphlete ließen die Schauplätze von Krieg und Diplomatie kommunikationsmäßig in Raum und Zeit zusamrnenrücken 14• Ein Verleger wie Matthäus Merlan in Frankfurt am Franz, Krieg (Anm. 9), 59. Christian Hoffmann, Oldenburg, in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, hrsg. v. Anton Schindling/Walter Ziegler (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 49-53, 56 f.), Bd. 6, Münster 1996, 130- 151. 12 Anton Schindling, Frankfurt am Main 1555-1685. Wachstum und Wandel vom Konfessionellen Zeitalter bis zum Zeitalter Ludwigs XIV., in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission, 17), 2. Autl Sigmaringen 1991, 205-260; ders., Nümberg, in: Territorien (wie Anrn. 11), Bd. 1, 2. Auf!. Münster 1989, 32-42; ders./Georg Schmidt, Frankfurt am Main, Friedberg, Wetzlar, in: ebd., Bd. 4, Münster 1992, 40-59; Francis Rapp, Straßburg. Hochstift und Freie Reichsstadt, in: ebd., Bd. 5, Münster 1993,72-95. 13 Renate Jürgensen, Utile cum dulci. Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nümberg 1644 bis 1744, Wiesbaden 1994; Kurt Wettengl (Hrsg.), Georg Flegel 1566-1638. Stilleben, Stuttgart 1999; Klaus Garber (Hrsg.), Göttin Gelegenheit. Das Personalschrifttums-Projekt der Forschungsstelle "Literatur der Frühen Neuzeit" der Universität Osnabrück (Kleine Schriften des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, 3), Osnabrück 2000. 14 Wolfgang Behringer; Veränderung der Raum-Zeit-Relation. Zur Bedeutung des Zeitungs- und Nachrichtenwesens während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Alltag und Katastrophe (Anm. 4), 39-81. 10

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Main trug dem geschickt Rechnung und vermarktete das "Kriegstheater" - so der zeitgenössische Ausdruck: theatrum belli 15 • Die mit dem Krieg verbundenen Wanderungsbewegungen von Soldaten und Angehörigen des Armeetrosses, von Flüchtigen vor Hunger, Not und Pest, von missionierenden Glaubensboten und von vertriebenen Glaubensexulanten ließen die Kriegsfolgen an vielen Orten leibhaftig sichtbar werden, ganz zu schweigen von dem Schattenheer der Krüppel und Bettler, die als vom Krieg Ausgespiene ein namenloses Dasein am Rande der Gesellschaft führten. Die ländliche Bevölkerung floh vor der plündernden und vergewaltigenden Soldateska hinter die Schutz versprechenden Mauem der Städte - mit dem doppelten Resultat, daß die Felder unbebaut blieben und die Lebensmittelversorgung zum Erliegen kam und daß in den Städten jetzt Seuchen ausbrachen und Tausende dahinrafften. Die Ständegesellschaft des Alten Reiches wurde durch den Großen Krieg an vielen Stellen stark in Bewegung versetzt. Grundregeln des gesellschaftlichen Umgangs wurden bedroht, je länger er währte - vor allem die alltägliche Gewalt der Soldaten gegen die Menschen auf dem Lande ist hier anzuführen 16• Nach dem Krieg kamen Neusiedler in die entvölkerten Landstriche und Dörfer und markierten durch Kolonisation den mühsamen Neubeginn und Wiederaufbau 17 • Aufstieg und Absturz lagen nicht nur für einen Feldherrn wie Wallenstein nahe beieinander, sondern waren für viele in unterschiedlichen Lebenswelten jetzt mehr erfahrbar als in den Generationen davor und danach. Johann Jakob Christofiel von Grimmeishausen hat in seinem Roman "Simplicius Simplicissimus" dieser allseits flüchtigen Zeiterfahrung einen allegorischen Ausdruck in der Figur des Baldanders gegeben. Baldanders sagt zu Simplicius, daß "ich doch alle Zeit und Tage deines Lebens bin bey dir gewesen": "[ ... ] ich [habe] dich mehr als ander Leut bald groß I bald klein I bald reich bald arm I bald hoch bald nider I bald 15 Theatrum Europaeum, oder Aussführliche und warhafftige Beschreibung aller undjeder denckwürdiger Geschichten, so sich hin und wider in der Welt, fürnämlich aber in Europa und teutschen Landen so wol in Religion- als Prophan-Wesen [ ... ] zugetragen haben, 21 Bde., Frankfurt a. M. 1617-1718. 16 Bemhard R. Kroener, "Kriegsgurgeln, Freireuter und Merodebrüder". Der Soldat des Dreißigjährigen Krieges. Täter und Opfer, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, hrsg. v. Wolfram Wette, 2. Auf!. München 1995, 51-67; ders., ,,Die Soldaten sind ganz arm, bloß, nackend, ausgemattet". Lebensverhältnisse und Organisationsstruktur der militärischen Gesellschaft während des Dreißigjährigen Krieges, in: 1648 (Anm. 9), 285- 292; Stefan Kroll I Kersten Krüger (Hrsg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit, 1), Münster 2000, darin v.a.: Michael Kaiser, Die Söldner und die Bevölkerung. Überlegungen zu Konstituierung und Überwindung eines lebensweltlichen Antagonismus, 79-120, sowie Frank Kleinehagenbrock. Die Verwaltung im Dreißigjährigen Krieg. Lokalbeamte in der Grafschaft Hohenlohe zwischen Herrschaft, Untertanen und Militär, 121-142. 17 Georg Rusam, Österreichische Exulanten in Franken und Schwaben (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, 63), 2. Auf!. Neustadt a. d. A. 1989; Wemer Wilhelm Schnabel, Österreichische Exulanten in oberdeutschen Reichsstädten. Zur Migration von Führungsschichten im 17. Jahrhundert (SchrrReiheBayerLdG, 101), München 1992.

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lustig bald traurig I bald böß bald gut I und in summa bald so und bald anders gemacht'"8. Baldanders schreibt für Simplicius ein Rätselgedicht nieder. "Alß er diß geschriben I wurde er zu einem grossen Aichbaum I bald darauff zu einer Sau I geschwind zu einer Bratwurst/und unversehens zu einen großen Baurentreck (mit Gunst) er machte sich zu einem schönen Kleewasen I und ehe ich mich versahe I zu einem Kühefladen; item zu einer schönen Blum oder Zweig I zu einem Maulbeerbaum I und darauff in einem schönen seidenen Teppich etc. biß er sich endlich wider in menschliche Gestalten verändert I und dieselbe öffter verwechselt [ ... ] [Schließlich] verändert er sich in einen Vogel/flohe schnell darvon/und liesse mir das nachsehen" 19 . Die Flüchtigkeit der Zeit und der Kriegskonjunkturen driicken sich in vielen Zeitzeugnissen aus. So etwa in dem Tagebuch der Klosteroberin Klara Staiger aus Mariastein bei Eichstätt, die mit nüchternen Worten zwischen den Fronten Erfolg und Mißerfolg der "Unsrigen", das heißt der katholischen Truppen, und der "Feinde", das heißt der Schweden, festhäle0 . Eine andere Frau im Krieg, Frau Libuschka aus Böhmen, bekannt als Landstörzerin Courage, erlebte die Flüchtigkeit der Zeit ihrerseits im steten Wechsel ihrer Liebhaber und Ehemänner und im geschäftlichen Auf und Ab ihrer Marketenderei 21 . Matthäus Merian in Frankfurt am Main brachte seine "Topographia Germaniae" in mehreren Bänden heraus, um - wie er selbst im Vorwort schreibt - seinen Lesern die Schönheit des unzerstörten Deutschlands vor dem Krieg vor Augen zu führen 22. Mit den beriihmten Kupferstichen der deutschen Städte konnte jeder für sich das ihm erlebbare Erscheinungsbild der Nachkriegszeit kontrastieren. Die Unsicherheit und Wechselhaftigkeit des Daseins gehörte zweifelsohne zur Grunderfahrung der Kriegsgenerationen, es war dies ein existentielles Erleben, das in den Friedensschluß von 1648 und in die Nachkriegszeit einging. Dabei ist wichtig, daß die beschleunigte Zeitwahrnehmung und die negativen Erlebnisse über die Erfahrungsräume einzelner Regionen hinaus durch eine intensive Medienvermittlung fast überall im deutschen Sprachraum und innerhalb des 18 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Werke, Bd. I/ 1 (Bibliothek der Frühen Neuzeit, 2. Abt., 4/ 1), Frankfurt a. M. 1989,604. 19 Ebd., 605. 2o Ortrun Fina (Hrsg.), Klara Staigers Tagebuch. Aufzeichnungen während des Dreißigjährigen Krieges im Kloster Mariastein bei Eichstätt, Regensburg 1981. 21 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Trutz simplex oder Ausführliche und wunderseltzame Lebensbeschreibung Der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche, in: ders., Werke, Bd. 112 (Bibliothek der Frühen Neuzeit, 2. Abt., 4/2), Frankfurt a. M. 1992, 9-151. 22 Matthäus Merian, Vorrede, in: Martin Zeiller, Topographia Helvetiae, Rhaetiae et Valesiae. Das ist Beschreibung unnd eygentliche Abbildung der vornehmsten Stätte und Plätze in der Hochlöblichen Eydgenoßschafft, Graubündten, Wallis und etlicher zugewandten Orthen, 2. Auf!. Frankfurt a. M. 1654 (ND Kassel/Basel1960), 5-9.

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Reiches geteilt wurden. Für die Nachbarn der Deutschen galten demgegenüber diese Erfahrungen nicht, sie nahmen den Krieg anders wahr - in Westeuropa eingebunden in eine längere Phase machtpolitischer Auseinandersetzungen und vom schließliehen Ausgang her mit einer positiven Konnotation, so etwa in den Niederlanden und in Frankreich. Der Dreißigjährige Krieg wurde für die emotionale Ausformung einer deutschen Identität und deren Eigenprägung inmitten anderer Volker zu einem Schlüsselerlebnis. Die Zeitgleichheit von Krieg und Ausbildung einer deutschen Nationalliteratur durch Martin Opitz, die schlesische Dichterschule und die teutschen Sprachgesellschaften war alles andere als ein historischer Zufall23 . Jedoch muß auch die durch den Krieg bewirkte Internationalisierung von Politik und Kultur angemessen gewürdigt werden, besonders der nach dem Krieg einsetzende starke französische Einfluß auf die höfisch-adelige Lebenswelt All dies zusammen erst macht den Spannungsbogen aus, welcher der deutschen Identitätskonstruktion unter dem Eindruck des Krieges zugrunde liegt. Die deutsche Geschichte war seit ihren Anfangen im 9. und 10. Jahrhundert sehr stark regional gegliedert, vor allem waren die Entwicklungen in Oberdeutschland und Niederdeutschland unterschiedlich verlaufen. Das Heilige Römische Reich war seit der Stauferzeit und der Reichsreform um 1500 von Oberdeutschland her geprägt; der Norden wuchs erst allmählich und zeitlich versetzt in das werdende Reichssystem hinein. Am meisten noch hatten die Reformation und ihre Folgen die Regionen, Territorien und Städte übergreifend - die Menschen des Alten Reiches und des alten deutschen Sprachraums gemeinschaftlich erlaßt und emotional bewegt. Aber die Ausbreitung der Reformation führte zur Glaubensspaltung und zur konfessionellen Teilung in zwei bzw. drei Blöcke. Die Konfessionalisierung hatte freilich auch ihre großräumig integrierende Wirkung in den jeweils gleichglaubenden Reichsteilen, und zwar über regionale Unterschiede hinweg24. Am Anfang des Dreißigjährigen Kriegs standen die Krise der Reichsverfassung und der Konfessionskrieg 25 • Aber durch Verlauf und Folgen des Krieges sowie 23 Klaus Garber, Zentraleuropäischer Calvinismus und deutsche "Barock"-Literatur. Zu den konfessionspolitischen Ursprüngen der deutschen Nationalliteratur, in: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der ,,Zweiten Reformation". Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1985, hrsg. v. Heinz Schilling (SchrrVRefG, 195), Gütersloh 1986, 317- 348; Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495- 1806, München 1999, 173- 177. 24 Georg Schmidt, Integration und Konfessionalisierung. Die Region zwischen Weser und Ems im Deutschland des 16. Jahrhunderts, in: ZHF 21 (1994), 1-36; ders., Konfessionalisierung, Reich und deutsche Nation, in: Territorien (Anm. 11), Bd. 7, Münster 1997, 171-199; Volker Press, Soziale Folgen der Reformation in Deutschland, in: ders., Das alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Johannes Kunisch (Historische Forschungen, 59), 2. Aufl. Berlin 2000,435-479. 25 Friedrich Hermann Schubert, Ludwig Camerarius 1573-1651. Eine Biographie (Münchener historische Studien. Abteilung neuere Geschichte, 1), Kalimünz 1955; A.xel Gotthard, "Politice seint wir bäpstisch". Kursachsen und der deutsche Protestantismus im frühen 17. Jahrhundert, in: ZHF 20 (1993), 275-319; Dieter Albrecht, Maximilian I. von Bayern 1573 - 165l,München 1998.

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durch dessen emotionale Bewältigung wuchs das Reich zusammen - stärker als vorher. Geographische Distanzen schienen in der Beschleunigung des Geschehens zu schrumpfen: Der bayerische Ligafeldherr Tilly in Westfalen und Niedersachsen, Wallenstein als General des Kaisers an der Ostsee, die Schweden als Schützer der Protestanten in München und Prag sowie vor den Toren von Wien - dies waren bis dahin unvorstellbare Machtverschiebungen in Raum und Zeit26• Der Krieg machte scheinbar fast alles möglich und mußte um alles fürchten lassen - dies erfuhren die Menschen an der Donau genauso wie an Rhein, Eibe und Oder, als Katholiken genauso wie als Protestanten. Die Kriegsmüdigkeit hat über alle Zerstörungen und Verwüstungen hinaus in dieser alles verunsichernden Grunderfahrung der Zeitwahrnehmung eine Hauptursache. Simplicius faßte diese Erfahrung des Krieges zusammen: "Also wurde ich bey Zeiten gewahr I daß nichts beständigers in der Welt ist/ als die Unbeständigkeit selbsten'm. Einzelne Frauen und Männer konnten hieraus die Konsequenz der religiösen Weltflucht ziehen, wie es Simplicius schließlich als frommer Einsiedler tat. Auf vielfältige Weise suchte die religiöse Verinnerlichung der Zeit ihren Ausdruck, etwa in der geistlichen Liederdichtung eines Friedrich von Spee und Paul Gerhardt, in der Erbauungsliteratur sowie im Aufkommen des Pietismus nach dem Kriege und in der katholischen Barockfrömmigkeit Die Kriegserlebnisse wurden von den Theologen und im Kirchenvolk mit religiösen Paradigmen gedeutet, die sich in der Bibel und in der Frömmigkeitstradition fanden: War der Krieg ein Strafgericht Gottes für die Sünden der Menschen? Dann halfen nur Umkehr und Buße, wozu die Geistlichen aller Konfessionen die ihnen anvertrauten Gläubigen eindringlich aufriefen. Aber welche Schlußfolgerungen konnte die Politik im Reich aus der Erfahrung der dreißig Kriegsjahre ziehen, an welche Traditionen konnte sie für "allgemeinen Friedstand" und Wiederaufbau anknüpfen? Daß die politische Utopie auch mitten im Krieg ihren Platz hatte, finden wir wiederum bei Grimmelshausen. Simplicius nimmt als Jäger von Soest einen Phantasten gefangen, "der sich überstudirtlund in der Poeterey gewaltig verstiegen" und der sich für den Gott Jupiter ausgab. Im Gespräch mit Simplicius entwickelt Jupiter eine politische Zukunftsvision: "[ ... ] ich will einen Teutschen Helden erwecken I der soll alles mit der Schärffe deß Schwerds vollenden"28 • Der Teutsche Held soll das Reich befrieden und reformieren: Er wird "von jeder Statt durch gantz Teutschland zween von den klügsten und gelehrtesten Männern 26 Sverker Oredsson, Geschichtsschreibung und Kult. Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krieg (Historische Forschungen, 52), Berlin 1994; Mann, Wallenstein (Anm. 7); Michael Kaiser, Politik und Kriegführung. Maximilian von Bayern, Tilly und die Katholische Liga im Dreißigjährigen Krieg (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., 28), Münster 1999. 27 Grimmelshausen, Werke (Anm. 18), 271. 2s Ebd., 253 ff.

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zu sich nemmen I auß denselben ein Parlament machen I die Stätt miteinander auff ewig vereinigen I die Leibeigenschafften sampt allen Zöllen I Aceisen I Zinsen I Gülten und Umbgelten durch gantz Teutschland auftbebenlund solche Anstalten machen I daß man von keinem Fronen I Wachen I Contribuiren I Gelt geben I Kriegen I noch einiger Beschwerung beym Volck mehr wissen I sondern viel seeliger als in den Elysischen Feldern leben wird"29 • Fürsten und Adel wird der reutsehe Held abschaffen, er wird Konstantinopel von den Türken befreien, und er wird durch ein Universalkonzil die Einheit aller christlichen Konfessionen wieder herstellen. Mehr noch: Alle christlichen Könige werden von der teutschen Nation ihre Länder aus freien Stücken zu Lehen empfangen. Das Wunschgemälde des Phantasten Jupiter ist natürlich bar der Realität, aber es spiegelt einen Reichsgedanken mit alten Motiven von Universalkaisertum und Kreuzzug, aber auch revolutionäre Ideen von Adelsfeindschaft und Wiedervereinigung der Konfessionen. Das real Mögliche war weniger: Die Reichsgeschichte vor dem Großen Krieg bot ein Potential an Lösungsmustern, auf die sich Politiker und Gelehrte im Reich, je länger der Krieg andauerte, aufs neue besannen. Es war das Werk des Westfälischen Friedens, das aus der Tradition des Reiches entstand und das gegen das Trauma der alles in den Strudel ziehenden und verändernden Kriegserfahrung Widerhalte vor dem Absturz aufrichtete30• Die restaurativen Züge des Westfälischen Friedens, die aber doch erfolgreich Bestand hatten, ergaben sich wohl gerade aus der traumatisierenden Zeiterfahrung mit ihrem beschleunigten Wechsel des Baldanders und der flüchtigen Projekte von aufsteigenden und scheiternden Kriegsherren, die als Gustav Adolf oder Wallenstein sich auf Bahnen bewegten, die vielleicht nur auf den ersten Blick von dem Jupiter des Simplicius weit entfernt waren. Am unberechenbaren Wechsel des sich rasch verändernden Kriegsglücks stießen sie sich alle. Was konnte da überhaupt noch Schutz bieten, wenn nicht das überlieferte Recht von Kaiser und Reich? Die Bewältigung der Kriegserfahrung ließ nach Kontinuität und Stabilität jenseits der Zerstörerischen Parteileidenschaften suchen. Von allen Formen des gesellschaftlichen Umgehens mit dem immer wiederkehrenden Krieg erwies sich in Deutschland schließlich die gelehrte Sichtweise der Reichsjuristen als die am meisten zukunftsfähige31 . Die Reichsjurisprudenz, die vor allem an den Ebd., 257. Anton Schindling, Westfälischer Frieden, in: HRG, hrsg. v. Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann/Dieter Werkmüller, Bd. 5, Berlin 1995, 1302 - 1308; Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 7. Aufl. Münster 1998; Konrad Repgen, Die Hauptproblerne der Westfälischen Friedensverhandlungen von 1648 und ihre Lösungen, in: ZBayerLdG 62 (1999), 399438. 31 Friedrich Hennann Schubert, Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit (Schriftenreihe der Historischen Kornmission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 7), Göttingen 1966; Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972; ders., Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte (Historische Forschungen, 29

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protestantischen Universitäten zuhause war, wurde zu einer Geburtshelferin für die das Gewaltpotential eindämmende Friedensordnung. Militärisch endete der Krieg in den 1640er Jahren in einem Patt zwischen dem Haus Habsburg und seinen Verbündeten einerseits und den beiden gegen das Haus Habsburg angetretenen Kronen Frankreich und Schweden und ihren Verbündeten andererseits 32 . Wahrend die Friedensverhandlungen in Münster und Osnabriick bereits im Gange waren, konnten beide Seiten in dem andauernden Kampfgeschehen zwar noch auf Positionsgewinne, aber nicht auf den großen Sieg hoffen. Der Krieg hatte in diesen Jahren seinen deutschen Charakter weitgehend verloren und war zum internationalen Mächtekrieg geworden33 . Die binnendeutschen Regionen zwischen Rhein und Oder gerieten in die passive Rolle eines Schlachtfeldes der fremden Kronen. Das deutsche Nationalgefühl, das in der Bewältigung der Kriegserfahrung anklang, konnte sich zwar am Reich als einem Friedens- und Rechtssystem aufrichten, aber nicht zur Identifikation mit einer der kämpfenden Großmächte gelangen. Für das spätere Hinauswachsen Österreichs aus dem Reich wurden der Dreißigjährige Krieg und der Westfälische Frieden in den langfristigen Folgen zu einer Wegegabelung34. In den habsburgischen Erbkönigreichen und Erbländern35 modifizier69), Berlin 2000; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, München 1988. 32 Moriz Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555 - 1648), Bd. 3, Stuttgart 1908 (ND Darmstadt 1974). 33 Geoffrey Parker, Der Dreißigjährige Krieg. Studienausgabe Frankfurt a. M./ New York 1991; Gerhard Schormann, Der Dreißigjährige Krieg (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1506), 2. Aufl. Göttingen 1993; Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg (Edition Suhrkamp, N.F. 542), 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1998; Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Westfalische Friede. Diplomatie- politische Zäsur- kulturelles Umfeld- Rezeptionsgeschichte (HZ. Beih., N.F. 26), München 1998; Georg Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg (Beck'sche Reihe, 2005), 4. Aufl. München 1999. 34 Volker Press, Die Erblande und das Reich von Albrecht li. bis Karl VI. (1438-1740), in: Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, hrsg. v. Robert A. Kann/ Friedrich Prinz (Bilaterale Geschichtsbücher, 2), Wien 1980, 44-88; ders., Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740. Versuch einer Neubewertung, in: Altes Reich (Anm. 24), 189-222; Konrad Repgen, Ferdinand lU. 1637-1657, in: Die Kaiser der Neuzeit 1519-1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland, hrsg. v. Anton Schindlingl Walter Ziegler, München 1990, 142-167; Anton Schindling, Leopold I. 1658-1705, in: ebd., 168-185; Harm Klueting, Das Reich und Österreich 1648-1740 (Historia profana et ecclesiastica, 1), Münster 1999. 35 Karl Amon, Innerösterreich, in: Territorien (Anm. 11), Bd. 1, 2. Aufl. Münster 1989, 102-116; Walter Ziegler, Nieder- und Oberösterreich, in: ebd., 118-133; Franz Machilek, Böhmen, in: ebd., 134-152; ders., Schlesien, in: ebd., Bd. 2, 3. Aufl. Münster 1993, 102138; Anton Schindling, Verspätete Konfessionalisierungen im Reich der Frühen Neuzeit. Retardierende Kräfte und religiöse Minderheiten in den deutschen Territorien 1555- 1648, in: Forschungen zur Reichs-, Papst- und Landesgeschichte. Peter Herde zum 65. Geburtstag von Freunden, Schülern und Kollegen dargebracht, hrsg. v. Kar[ Borchardt I Enno Bünz, T. 2, Stuttgart 1998, 845- 861; Marta Fata, Ungarn, das Reich der Stephanskrone, im Zeitalter

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ten Gegenreformation und konfessioneller Absolutismus manche Entwicklungen gegenüber dem Binnenreich, dem reichischen Deutschland, das seinerseits durch die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges enger zusammenrückte. Ein solches Zusammenriicken des auf dem Reichstag vertretenen und in acht Reichskreisen organisierten außerösterreichischen Deutschlands war in der Reichsverfassungsentwicklung des 16. Jahrhunderts angelegt, begann aber in der Schlußphase des Dreißigjährigen Krieges neue Lebenskraft zu gewinnen. Der Regensburger Reichstag von 1641 und die Beteiligung der deutschen Reichsstände am Friedenskongreß in Münster und Osnabriick wiesen hierin den Weg, der sich dann im Frieden durchsetzte36 . Die Restauration des Reichssystems im Westfalischen Frieden war getragen von einem durch den Krieg entfachten deutschen Reichspatriotismus, der gegen die Flüchtigkeit der Zeit und den stürzenden Verfall überkommener Ordnungen ein Gegenbild hielt. Zur Befriedung des Reiches verhalfen die Zentralbestimmungen des Osnabrükker Friedens, nämlich Amnestie, politische Herrschaftsrestitution, Redintegration der Reichsinstitutionen sowie der Religionsfrieden. Es erfolgte weitgehend eine territoriale Restitution auf dem Status quo ante bellum - abgesehen von der als kriegsschuldige Macht abgestraften Kurpfalz und abgesehen von den an Frankreich und Schweden abgetretenen Reichsterritorien. Es scheint so, daß diese Gebietsabtretungen die zeitgenössische deutsche Öffentlichkeit nicht sonderlich beschäftigten. Die Integration der Oberpfalz in das Kurfürstentum Bayern und deren Rekatholisierung waren 1648 bereits abgeschlossen37 • Schweden war in das protestantische Reich durch die Politik Gustav Adolfs und Axel Oxenstiemas soweit integriert, daß die Inbesitznahme von Territorien an der Nordsee und der Ostsee nicht eigentlich als Fremdherrschaft empfunden wurde. Auch wurde Schweden für diese Territorien ja Mitglied von Reich und Reichstag. Frankreich erhielt die Abtretungen in Lothringen und im Elsaß zwar zu souveränem Besitz. Aber eine reichspatriotische Protestwelle gegen die französische Annexionspolitik im Elsaß erhob der Reformation und Konfessionalisierung. Multiethnizität, Land und Konfession 1500 bis 1700 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 60), Münster 2000. 36 Kathrin Bierther, Der Regensburger Reichstag von 1640/1641 (Regensburger historische Forschungen, 1), Kalimünz 1971; Winfried Becker, Der Kurfürstenrat Grundzüge seiner Entwicklung in der Reichsverfassung und seine Stellung auf dem Westfälischen Friedenskongreß (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., 5), Münster 1973; Anton Schindling, Der Westfälische Frieden und der Reichstag, in: Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, hrsg. v. Hemwnn Weber (VeröfflnstEurG. Beih., 8), Wiesbaden 1980, 113 -153; ders., Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden (VeröfflnstEurG. Abteilung Universalgeschichte, 143), Mainz 1991; Axel Gotthard, Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband (Historische Studien, 457), 2 Bde., Husum 1999. 37 Anton Schindling /Walter Ziegler, Kurpfalz, Rheinische Pfalz und Oberpfalz, in: Territorien (Anm. ll), Bd. 5, Münster 1993, 8-49.

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sich erst rund zwei Jahrzehnte später gegen die Kriegs- und Reunionspolitik Ludwigs XIV. Wenn die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Westfalischen Frieden von gravierenden Verlusten des nationalen Territoriums sprach, so haben die mitlebenden Zeitgenossen dies so nicht empfunden. Für deren Wahrnehmung standen andersgeartete Errungenschaften des Westfalischen Friedens voran, und hier ist an erster Stelle der endlich erreichte Religionsfrieden im Reich zu nennen 38 . Der Osnabrücker Frieden schrieb den Augsburger Religionsfrieden fest und ergänzte ihn in entscheidender Weise um die Prinzipien der Parität und des Normaljahres 1624. Durch den reichsrechtlich vorgeschriebenen Normaljahrstermin des 1. Januar 1624 wurden die konfessionellen Besitzstände fixiert, und in dem für die Identität der Menschen wichtigen religiösen Bereich wurde Rechtssicherheit geschaffen: Jeder wußte jetzt, wo er hingehörte, für Zweifelsfälle gab es eine Entscheidungsnorm, und für Dissidenten von der Landeskonfession wurde ein Auswanderungsrecht mit Eigentumsgarantie festgelegt. Das ius emigrandi ist übrigens das älteste formulierte Grundrecht der deutschen Geschichte39 • Für einige Territorien, so die Kurpfalz, das habsburgische Schlesien, das Fürstbistum Osnabrück und die schwäbischen Reichsstädte Augsburg, Biberach, Dinkelsbühl und Ravensburg wurden im Friedensinstrument Regeln zum Minderheitenschutz oder für ein bikonfessionelles Nebeneinander aufgestellt40 • Das Prinzip der Parität vor allem, das für Reichstag, Reichsdeputation und Reichskarnmergericht, für das Fürstbistum Osnabrück und für die doppelkonfessionellen schwäbischen Reichsstädte festgelegt wurde, bedeutete einen Durchbruch41 • Hier gelang 38 Anton Schindling, Der Westfälische Frieden und die deutsche Konfessionsfrage, in: Friedenssicherung, hrsg. v. Manfred Spieker, Bd. 3, Münster 1989, 19-36; ders., Der Westfälische Frieden 1648. Die Regelung im konfessionellen Nebeneinander, in: V. D. M. I. .IE. Gottes Wort bleibt in Ewigkeit. 450 Jahre Reformation in Osnabriick, hrsg. v. Karl-Georg Kaster/Gerd Steinwascher, Ausstellungskatalog Osnabriick 1993, 623 -634; ders. , 350 Jahre Westfälischer Friede. Ein zentrales Datum deutscher Geschichte, in: Verwüstet und entvölkert. Der Dreißigjährige Krieg in Württemberg, bearb. v. Albrecht Ernst, Ausstellungskatalog Stuttgart 1998, 9-24. 39 Martin Hecke/, Deutschland im konfessionellen Zeitalter (Deutsche Geschichte, 5), Göttingen 1983. 40 Anton Schindling, Andersgläubige Nachbarn. Mehrkonfessionalität und Parität in Territorien und Städten des Reichs, in: 1648 (Anm. 9), 465-473. 41 Paul Wannbrunn, Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648 (VeröfflnstEurG. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, 111), Wiesbaden 1983; Anton Schindling, Westfälischer Frieden und Altes Reich. Zur reichspolitischen Stellung Osnabrücks in der Friihen Neuzeit, in: OsnabMitt 90 ( 1985), 97- 120; Thomas Rohm, Osnabriick, in: Territorien (Anrn. II ), Bd. 3, 2. Auf!. Münster 1995, 130-147; Herbert Immenkötter/Wolfgang Wüst, Augsburg. Freie Reichsstadt und Hochstift, in: ebd., Bd. 6, Münster 1996, 8-35; Christian Hoffmann, Ritterschaftlieber Adel im geistlichen Fürstentum. Die Familie von Bar und das Hochstift Osnabriick. Landständewesen, Kirche und Fürstenhof als Komponenten der adeligen Lebenswelt im Zeitalter der

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aus der Bewältigung der Kriegskatastrophe heraus eine wegweisende politische Neugestaltung: In einer Epoche, für welche die religiöse Geschlossenheit des Staates weitgehend noch als notwendig erschien und gemäß dem Grundsatz religio vinculum rei publicae die Intoleranz gegenüber konfessionellen Minderheiten im Interesse der Staatsräson gefordert wurde, realisierte der Westfälische Frieden für das Reich eine mehrkonfessionelle staatliche Ordnung, in welche neben Katholiken und Lutheranern jetzt auch die Calvinisten, die Reformierten, einbezogen wurden. Für Identität und Mentalität der Deutschen wurde dies wichtig: Zwar bestanden die sichtbaren und die unsichtbaren Grenzen zwischen den Gläubigen der unterschiedlichen Konfessionen fort, ja sie wurden jetzt erst fest und lückenlos etabliert, aber die Menschen gewöhnten sich an ein alltägliches Nebeneinander, an ein Auskommen miteinander trotz aller glaubensmäßigen Vorbehalte - so war es in der engräumigen Territorialwelt Binnendeutschlands, wo der anders orientierte Nachbar fast immer nahe war42 • Wenn auch die wechselseitigen Vorurteile, Gehässigkeiten, Schikanen und Benachteiligungen auf Dauer im gesellschaftlichen Leben stark blieben, so hat doch die Gewöhnung an ein Zusammenleben mit Andersglaubenden die deutschen Verhältnisse tiefgreifend geprägt. Freilich blieb dies auf die christlichen Konfessionen begrenzt. Die Einbeziehung der Juden in ein solches duldsames Nebeneinander wurde erst von den Aufklärern des 18. Jahrhunderts gefordert. Für die Friihe Neuzeit jedoch hatte das Reich eine europäische Vorreiter-Rolle für die Beendigung der konfessionellen Bürgerkriege und für die staatsrechtliche Regelung von Mehrkonfessionaliät in einem Land. Die Säkularisierung des Reichsstaatsrechts war dafür der entscheidende Ansatz. Als sich in Münster und Osnabriick die Mehrheit der Katholiken und die Protestanten darauf einigten, den Protest des Papstes gegen den Westfälischen Frieden zuriickzuweisen, wurde die mittelalterliche sakrale Legitimation des Romanum Imperium abgebrochen43 • Die Benennung Heiliges Römisches Reich blieb jetzt nur noch traditioneller TitelReformation und Konfessionalisierung 1500-1651 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen, 39), Osnabrück 1996. 42 Etienne Franr;ois, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg, 33), Sigmaringen 1991; Helmut Neumaier, Simultaneum versus Reichsverfassung. Der Rosenherger Kirchenstreit 16581756, in: Wertheimer Jahrbuch 1993, 153 - 214. 43 Konrad Repgen, Die römische Kurie und der westfalische Friede. Idee und Wirklichkeit des Papsttums im 16. und 17. Jahrhundert (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 24 f.), 2 Bde., Tübingen 1962-1965; ders., Wartenberg, Chigi und Knöringen im Jahre 1645. Die Entstehung des Plans zum päpstlichen Protest gegen den Westfalischen Frieden als quellenkundliches und methodisches Problem, in: Dreißigjähriger Krieg (Anm. 8), 487- 538; ders., Die Proteste Chigis und der päpstliche Protest gegen den Westfalischen Frieden (1648/50). Vier Kapitel über das Breve ,,zelo Domus Dei", in: ebd., 539-561; ders., Fabio Chigi und die theologische Verurteilung des Westfälischen Friedens.·Ein Zirkulare aus dem Jahre 1649, in: ebd., 597-620.

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schmuck, tatsächlich stellte der Westfälische Frieden die Weiche zum "Deutschwerden" eines säkular verstandenen Römischen Reiches Deutscher Nation, das keine Universalistischen Ansprüche gegenüber den anderen christlichen Reichen mehr anmeldete. Säkularisation der Reichslegitimation bedeutete allerdings keine Entchristlichung - um einem verbreiteten Mißverständnis des Begriffes Säkularisierung vorzubeugen - vielmehr waren die erlaubten christlichen Konfessionen im Reichskirchenstaatsrecht fest in das Rechtssystem des Reiches und seiner Territorien eingebunden44. Die Parität wurde eine neue oberste Rechtsnorm: aequalitas exacta mutuaque, wie das Osnabrücker Friedensinstrument formuliert45 • Die hohe Bedeutung des paritätischen Staatskirchenrechts in der deutschen Geschichte - bis hin zur Weimarer Reichsverfassung und zum Bonner Grundgesetz - hat hier ihre Wurzel46 • Die Ächtung des Religionskrieges durch den Westfälischen Frieden erwies sich als dauerhaft, weil sie gestützt wurde durch ein verbindliches juristisches Regelwerk, welches zugleich öffentlichen Lebensraum und rechtliche Einbindung für die christlichen Konfessionskirchen festlegte. Damit wurde aus der blutigen Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges heraus eine sehr spezifische Profliierung der politischen Kultur im mehrkonfessionellen Deutschland ermöglicht, die auch das Alte Reich und manche Krise überdauern sollte. Verrechtlichte Mehrkonfessionalität entwickelte sich zu einem prägenden Charakterzug deutscher Verfassungsgeschichte und des staatlichen Lebens im föderalistischen Verbund der deutschen Länder. Die Regelung der Konfessionsfrage im Sinne von rechtlich garantiertem Nebeneinander, Mehrkonfessionalität und Parität war ein zentrales Ergebnis des Dreißigjährigen Krieges. Hier wirkte sich die von den Reichsjuristen reflektierte Kriegserfahrung aus. Der Religionskrieg blieb tabuisiert, wenn es auch mehrfach noch zu schweren konfessionellen Krisen und zu einem gefährlichen Spiel mit dem Feuer kam. Aber die im Westfälischen Frieden geschaffenen Bremsen und Sicherungen wirkten aufs Ganze gesehen erfolgreich. Und es wirkte auch eine mentale Sperre bei den politisch führenden Schichten in den katholischen ebenso wie in den evangelischen Reichsteilen, daß es zum Äußersten nicht noch einmal kommen dürfe. Der säkulare Staatsgedanke legte sich als Brandschutzwall um Konfliktpotentiale, die rechtlich entschärft werden konnten. Die staatskirchenrechtliche Einbindung der Konfessionen in Reich und Territorien erwies sich dabei als friedensstiftend: 44 Bemd Mathias Kremer, Der Westfälische Friede in der Deutung der Aufklärung. Zur Entwicklung des Verfassungsverständnisses im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vom Konfessionellen Zeitalter bis ins späte 18. Jahrhundert (lus ecclesiasticum, 37), Tübingen 1989; Helmut Neuhaus, Das Reich in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 42), München 1997. 45 IPO V § 1; vgl. Michael Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 51), München 1999, 15 ff. 46 WRV Art. 135-141; GG Art. 140.

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als Instrument der Deeskalation; das Prinzip der Parität war ein vertrauensfördernder Regelungsmechanismus. Das politische Denken gewöhnte sich so in Deutschland an die Grundannahme, daß die Zeit der Religionskriege vergangen sei. Der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges untermalte den negativen Beiklang, den das Wort "Glaubenskrieg" seitdem in der Umgangssprache angenommen hat. Die Kulturverdichtung in der kleinräumigen territorialen Welt des Alten Reiches im 18. Jahrhunderts entstand aus diesem Wurzelgrund47. Das Reichssystem garantierte in der anhaltenden Kombination mit der Vormacht Österreich und dann auch in wechselnden Konfigurationen mit Preußen die Existenz der Kleinen und Waffenlosen48. Erst Napoleon bereitete dem ein Ende in der nächsten großen Krise der deutschen Geschichte, die allerdings nicht die Zerstörungskraft des Dreißigjährigen Krieges erreichte. Die schreckensvolle Erinnerung des Dreißigjährigen Krieges blieb bis ins 20. Jahrhundert singulär. Der Zusammenhang von vorangegangenem Kriegselend und gegenwärtigem friedlichem Kulturstand wurde im 18. Jahrhundert von maßgebenden intellektuellen Meinungsführern, wie Justus Möser in Osnabrück, reflektiert49 . Dies formte sich vor allem aus der protestantischen Sicht zu einem in sich sinnhaften, teleologi47 Anton Schindling, Die Julius-Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: Vierhundert Jahre Würzburg. Eine Festschrift, hrsg. v. Peter Baumgart (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg, 6), Neustadt a. d. A. 1982, 77 -127; ders., Kurfürst Clemens August, der "Herr Fünfkirchen". Rokokoprälat und Reichspolitiker 1700-1761, in: Clemens August. Fürstbischof, Jagdherr, Mäzen, Ausstellungskatalog Bramsehe 1987, 1528; ders., Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650-1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 30), 2. Aufl. München 1999; Ludwig Hammermayer, Die Aufklärung in Wissenschaft und Gesellschaft, in: Handbuch der bayerischen Geschichte, hrsg. v. Andreas Kraus, Bd. 2, 2. Aufl. München 1988, 1135 -1197; Peter Baumgart (Hrsg.), Michael Ignaz Schmidt (1736-1794) in seiner Zeit. Der aufgeklärte Theologe, Bildungsreformer und "Historiker der Deutschen" aus Franken in neuer Sicht. Beiträge zu einem Symposion vom 27. bis 29. Oktober 1994 in Würzburg (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg, 9), Neustadt a. d. A. 1996; Dieter Stievermann, Absolutismus und Aufklärung (1648-1806), in: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, hrsg. v. Meinrad Schaab/Hansmartin Schwarzmaier, Bd. 1/2, Stuttgart 2000, 307-456, hier 434-456. 48 Peter Baumgart, Friedrich der Große als europäische Gestalt, in: Analeeta Fridericiana, hrsg. v. Johannes Kunisch (ZHF, Beih., 4), Berlin 1987, 9-31; Johannes Kunisch, Von der gezähmten zur entfesselten Bellona. Die Umwertung des Krieges im Zeitalter der Revolutions- und Freiheitskriege, in: Kleist-Jahrbuch 1988/89. Internationales Kleist-Kolloquium Berlin 1986, hrsg. v. Hans Joachim Kreutzer, Berlin 1988, 44-63; ders., Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Regime (UTB für Wissenschaft. Geschichte, 1426), 2. Aufl. Göttingen 1999; Volker Press, Friedrich der Große als Reichspolitiker, in: Altes Reich (Anm. 24), 260-288. 49 Anton Schindling, Osnabrück, Nordwestdeutschland und das Heilige Römische Reich zur Zeit Mösers, in: Möser-Forum 1/1989, hrsg. v. Winfried Woesler (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen, 27), Münster 1989, 211-222; Manfred Rudersdorf, "Das Glück der Bettler". Justus Möser und die Welt der Armen. Mentalität und soziale Frage im Fürstbistum Osnabrück zwischen Aufklärung und Säkularisation, Münster 1995; Kar/ H. L. Welker, Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Justus Möser als Jurist und Staatsmann (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen, 38), 2 Bde., Osnabrück 1996.

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sehen Geschichtsbild, welches die Ergebnisse des Dreißigjährigen Krieges als blutig bezahlt, aber letzten Endes segensreich würdigte. Friedrich Schiller schreibt in der Einleitung seiner "Geschichte des Dreißigjährigen Krieges": "Seit dem Anfang des Religionskriegs in Deutschland bis zum Münsterischen Frieden, ist in der politischen Welt Buropens kaum etwas großes und merkwürdiges geschehen, woran die Reformation nicht den vornehmsten Anteil gehabt hätte. [ ... ] Die Trennung in der Kirche hatte in Deutschland eine fortdauernde politische Trennung zur Folge, welche dieses Land zwar länger als ein Jahrhundert der Verwirrung dahin gab, aber auch zugleich gegen politische Unterdrückung einen bleibenden Damm aufthürmte. [ ... ]Und so mußte es durch einen seltsamen Gang der Dinge die Kirchentrennung seyn, was die Staaten unter sich zu einer engem Vereinigung führte. Schrecklich zwar und verderblich war die erste Wirkung, durch welche diese allgemeine politische Sympathie sich verkündigte - ein dreyßigjähriger verheerender Krieg, der von dem Innem des Böhmerlandes bis an die Mündung der Scheide, von den Ufern des Po bis an die Küsten der Ostsee Länder entvölkerte, Aemten zertrat, Städte und Dörfer in die Asche legte; ein Krieg, in welchem mehr als dreymal hundert tausend Streiter ihren Untergang fanden, der den aufglimmenden Funken der Kultur in Deutschland auf ein halbes Jahrhundert verlöschte, und die kaum auflebenden bessern Sitten der alten barbarischen Wildheit zuriick gab. Aber Buropa ging ununterdriickt und frey aus diesem ftirchterlichen Krieg, in welchem es sich zum erstenmal als eine zusammenhängende Staatengesellschaft erkannt hatte; und diese Theilnehmung der Staaten an einander, welche sich in diesem Krieg eigentlich erst bildete, wäre allein schon Gewinn genug, den Weltbürger mit seinen Schrecken zu versöhnen. Die Hand des Fleißes hat unvermerkt alle verderbliche Spuren dieses Kriegs wieder ausgelöscht, aber die wohlthätigen Folgen, von denen er begleitet war, sind geblieben. Eben diese allgemeine Staatensympathie, welche den Stoß in Böhmen dem halben Buropa mittheilte, bewacht jetzt den Frieden, der diesem Krieg ein Ende machte. So wie die Flamme der Verwüstung aus dem Innem Böhmens, Mährens und Oesterreichs einen Weg fand, Deutschland, Frankreich, das halbe Buropa zu entzünden, so wird die Fackel der Kultur von diesen Staaten aus einen Weg sich öffnen, jene Länder zu erleuchten u50. Die Interpretation von Friedrich Schiller spiegelt den Zivilisationsoptimismus und das Selbstvertrauen der Aufklärung, freilich offenbart sie auch das Superioritätsempfinden des protestantischen Deutschlands und eine teleologische Geschichtskonstruktion. Hat sich der Dreißigjährige Krieg für die Deutschen also gelohnt? Es sollte demgegenüber auch die Melancholie des Maikäfers in dem eingangs zitierten Kinderlied in Erinnerung bleiben. so Friedrich Schiller, Historische Schriften, T. 2 (Schillers Werke. Nationalausgabe, 18), Weimar 1976, 9 f.; zu Schiller vgl. demnächst: Holger Mannigel, Wallenstein in Weimar, Wien und Berlin. Das Urteil über Albrecht von Wallenstein in der deutschen Historiographie von Friedrich von Schiller bis Leopold von Ranke, Diss. Tübingen 1999 (im Druck).

"Sed vincere sciebat Hanibal" Pappenheim als empirischer Theoretiker des Krieges

Von Michael Kaiser, Köln I.

Es war schon Mittag, und die kaiserlichen Truppen waren in schwerer Bedrängnis, als für den linken Flügel Entlastung kam: Etwa zweitausend Reiter unter der Führung des Feldmarschalls Pappenheim waren am 16. November 1632 auf dem Schlachtfeld bei Lützen spät, aber noch nicht zu spät angekommen 1• Pappenheim kam rechtzeitig, um einen gegnerischen Angriff aufzufangen, und führte seine Truppen umgehend gegen den Feind. Ob diese Kavallerieattacke eine eindeutige Wendung in der Schlacht zugunsten der kaiserlichen Seite hätte bringen können, muß offen bleiben. Denn Pappenheim, an der Spitze seiner Kavallerieregimenter vorriickend, wurde von zwei Musketenkugeln getroffen - dies war das Ende des Gegenangriffs: Führungslos machten die Reiter kehrt und entschwanden aus dem Schlachtgeschehen. Pappenheim, auf den Tod verwundet, mußte sich dieses Desaster noch hilflos ansehen, bevor ihn sein Trompeter aus dem Schlachtgetümmel führte. Kurz darauf starb er. Pappenheims Schlachtentod erscheint als typisch für einen Kommandeur, der vor allem als ungestümer Reitergeneral seinen Platz in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs gefunden hat. "Sein Kriegerschicksal vollendete sich bereits zu Beginn der ersten wilden Attacke" 2 ; diese noch jüngst gemachte Einschätzung entspricht vielen älteren Wertungen der Literatur. So wird Pappenheims Erscheinen auf der Walstatt bei Lützen in Golo Manns Darstellung mit einem Lied der oberösterreichischen Bauern eingeleitet: "Hascha, dort kommt der unsinnig I von Pappenheim geritten gar grimrnig"3 . Schon Kar! Wittich stand er "in erster Linie als t Die Schilderung der Schlacht von Lützen im wesentlichen nach Barbara Stad/er, Pappenheim und die Zeit des Dreissigjährigen Krieges, Zürich 1991, hier 729-736; vgl. ferner Marcus Junkelmann, Gustav Adolf (1594-1632). Schwedens Aufstieg zur Großmacht, Regensburg 1993,451-460, bes. 455 f. 2 Jörg-Peter Findeisen, Gustav II. Adolf von Schweden. Der Eroberer aus dem Norden, Graz/Wien/Köln 1996, 219. Ebd. aber auch die Einschätzung, daß die Schlacht bei Lützen ohne Pappenheims frühen Tod für die Schweden zur Katastrophe geworden wäre. 3 Golo Mann, Wallenstein. Sein Leben erzählt von Golo Mann, Frankfurt a.M. 1987 (zuerst 1971), 739. Vgl. zu diesem sog. "Bauernlied" und seinem Stellenwert im Traditionsbild Pappenheims Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 759 f.

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schneidiger Reiterofficier an der Spitze seines Kürassierregiments [ ... ] vor Augen"4, eine Einschätzung, die vielfach auf den Begriff des "Reitergenerals" verkürzt wurde5 . Mag Moriz Ritters Beurteilung, daß Pappenheim als einer der "tüchtigsten, jedenfalls unternehmungslustigsten seiner [=Tillys, M.K.] Offiziere" gelten könne6 , um eine gewisse Ausgewogenheit bemüht sein, spielt das Epitheton vom "Schrammhans" bewußt mit dem Bild eines gegen sich selbst und andere rücksichtslosen und vernarbten Schlagetats7 . Und noch jüngst fand sich Pappenheim als "fanatische[r] Kriegsmann" ldassifiziert8 . In deutlicher Abgrenzung von dieser, zumeist älteren Forschung hat neben anderen vor allem Barbara Stadler vor einiger Zeit ein neues Bild von Pappenheim entworfen und dabei mit manchem Klischee aufgeräumt, das sich in friiheren Jahrzehnten über Pappenheim verfestigt hatte9 • Dazu zählt vor allem die Behauptung, Pappenheim sei ein ausgesprochen militanter Verfechter der Gegenreformation gewesen10. Im Gegensatz dazu kann Stadler zeigen, daß Pappenheim in seinen eigenen Besitzungen, wo er selbst als Landesherr das Jus reformandi ausüben konnte, eine im zeitgenössischen Vergleich tolerante Haltung an den Tag legte 11 • Seine gegenreformatorischen Äußerungen waren vor allem karrieretaktisch bestimmt. Zum Restitutionsedikt nahm er - und dies ist ein wichtiges Kriterium dafür, ob man Pappenheim einen religionspolitischen Rigorismus attestieren kann - eine erstaunlich kritische Haltung ein, die eben nicht zum Bild eines konfessionellen Wüterichs paßt 12. Auch bei der Zerstörung Magdeburgs wird ihm längst nicht eine so fatale 4 Kar/ Wittich, Pappenheim, in: ADB, Bd. 25, Leipzig 1887, 144-161, hier 160. Zu Magdeburg vgl. ders. , Magdeburg, Gustav Adolfund Tilly, 2 Bde., Berlin 1874. 5 Vgl. zum Beispiel Andreas Kraus, Maximilian I. Bayerns Großer Kurfürst, Graz I Wien I Köln/Regensburg 1990, 154. - Zum Klischee des "Reitergenerals" Stad/er; Pappenheim (Anm. 1), 762 f. 6 Moriz Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555 -1648), Bd. 3: Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart/ Berlin 1908, 476. 7 Zum Klischee des "Schrammhans" Stad/er; Pappenheim (Anm. 1), 761 f. s " ... gantz verheeret!" Magdeburg und der Dreißigjährige Krieg. Beiträge zur Stadtgeschichte und Katalog zur Ausstellung des Kulturhistorischen Museums Magdeburg im Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen 2. Oktober 1998 bis zum 31. Januar 1999, Halle 1998, 239 (Nr. 234). 9 Vgl. Stad/er; Pappenheim (Anm. 1), speziell 759 - 771 der Epilog II zur Traditionsbildung. Stadlers positive Einschätzung teilt im wesentlichen Junkelmann, Gustav Adolf (Anm. 1), der gerade auch die militärischen Fähigkeiten Pappenheims sehr hoch veranschlagt, vgl. z. B. die Bemerkungen 379, 407, 411, 423, 431, 440. - Von eher traditionellen Einschätzungen geprägt, wenngleich mit positiver Ausrichtung, ist der Essay bei Heinrich Bücheler; Von Pappenheim zu Piccolomini. Sechs Gestalten aus Wallensteins Lager, Biographische Skizzen, Sigmaringen 1994, 17-37. IO Vgl. das Schlagwort vom "modeme[n] Jesuitismus" bei Wittich, Pappenheim (Anm. 4), 158. 11 Vgl. Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 55-62.

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Rolle zugeschrieben, wie es seitens einiger älterer Autoren geschehen ist: Die Ansicht, daß er vorsätzlich den Brand in der Elbfeste gelegt habe, um beim Sturm auf die Stadt deren Verteidiger zu verwirren und eine schnellere Eroberung zu ermöglichen, findet kaum noch Anhänger 13• Schließlich wird auch die Frage nach seiner angeblichen (Mit-)Schuld an der Niederlage der kaiserlich-ligistischen Armee bei Breitenfeld gegen die schwedisch-kursächsischen Truppen differenzierter gesehen. Auch wenn unklar ist, ob ein Befehl Tillys, die Schlacht zu eröffnen, vorlag oder der Feldmarschall eigenmächtig gehandelt hat, wird man Pappenheims Kavallerieattacken gegen den rechten schwedischen Flügel des Gegners am 17. September 1631 nicht mit dem ihm oft attestierten Feuereifer erklären, sondern sie viel eher als eine präventive Maßnahme einschätzen, die (übrigens erfolgreich) eine Überflügelung durch die weitausscherenden schwedischen Kontingente verhindem wollte 14. Auch Pappenheims militärische Qualitäten sind in der Forschung kontrovers beurteilt worden. Die Kritik an seinen Feldherrnqualitäten war bereits zeitgenössisch, wofür insbesondere die Anekdote steht, derzufolge Tilly ihn im schwedischen Krieg zurechtgewiesen habe, daß es jetzt nicht mehr nur gegen aufrührerische Bauern gehe 15 . Dabei hatte Pappenheim zu diesem Zeitpunkt längst nicht nur den Oberösterreichischen Bauernaufstand niedergeschlagen (in dem übrigens mit Timon von Lintelo ein durchaus erfahrener Offizier zuvor gescheitert war 16), sondern er hatte auch im Niedersächsisch-Dänischen Krieg seine Meriten erworben, wo er beispielsweise Ende 1627 die Festung Wolfenbüttel eingenommen hatte. Desungeachtet hat K.Wittich Pappenheim zwar als "martialische Persönlichkeit" gese12 Vgl. Stadler; Pappenheim (Anm. 1), 326. Auch bei Mann, Wallenstein (Anm. 3), 534, findet sich bereits ein derartiger Hinweis. 13 Daß Pappenheim kaum die Schuld für den Brand Magdeburgs anzulasten sei, konnte bereits Wittich, Magdeburg (Anm. 4), Bd. I, 20-23, 74 f., 645 ff., Anm. 3, zeigen, vgl. auch zusammenfassend ders., Pappenheim (Anm. 4), 153. Jüngst dazu abwägend Dieter Albrecht, Maximilian I. von Bayern 1573 - 1651, München/Wien 1998, 783. 14 Wichtig hier die Hinweise hinsichtlich der legendenhaften Verunglimpfung Pappenheims bei Marcus S. Junkelmann, Feldherr Maximilians: Johann Tserclaes Graf von Tilly, in: Um Glauben und Reich. Kurfürst Maximilian I. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1573-1651 (Wittelsbach und Bayern, 1111), hrsg. v. Hubert Glaser, München 1980, 377-399, hier 397, Anm. 92. Zur Beurteilung von Pappenheims Verhalten bei Breitenfeld Junkelmann, Gustav Adolf (Anm. 1), 348, und Michael Kaiser; Politik und Kriegführung. Maximilian von Bayern, Tilly und die Katholische Liga im Dreißigjährigen Krieg (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, 28), Münster 1999, 453455.- Ein negatives Urteil bei Wittich, Pappenheim (Anm. 4), 154: "verfrühte und sehr bedenkliche Cavallerieattaque". 15 Die Anekdote findet sich zu einer spekulativen Einschätzung umgeformt bei Cecily Veronica Wedgwood, Der Dreißigjährige Krieg, 3. Aufl. (deutsch) München 1988 (zuerst 1938), 278: "Bisher unbesiegt, sah sich der anmaßende Adlige ohne Zweifel bereits die barbarischen Schweden und rohen Sachsen mühelos abschlachten, wie er es mit den Bauern bei Gmunden getan hatte." 16 Zu Lintelo vgl. Kaiser; Politik und Kriegführung (Anm. 14), 82-84.

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hen, ihm jedoch größere strategische Fähigkeiten abgesprochen 17. Doch schon G. Droysen hat auf die militärischen Leistungen hingewiesen, die Pappenheim in der für die kaiserlich-ligistische Seite so kritischen Phase nach Breitenfeld vollbracht hat, als er, bereits im Herbst 1631 mit einem selbständigen Kommando betraut, im Nordwesten des Reiches in einem für die schwedische Militärmacht und ihre Verbündeten ermüdenden Diversionskrieg erhebliche Kräfte der Gegner band und ihnen einige Schlappen beibrachte 18. Bis zum Sommer 1632 war der "Kriegsvirtuose"19 jedenfalls in diesem Raum "Herr der Lage"20• Angesichts dieser Erfolge blieb es nicht aus, daß seine Gegner ihm hohe Achtung zollten. Der schwedische General Baudissin schätzte die Truppen Pappenheims stärker ein als die vormalige, bei Breitenfeld geschlagene Armee Tillys, ja er bekannte, daß er seinen Gegner ,,hoher alss den Walleosteiner aestimiere" 21 • Sicher muß man einkalkulieren, daß das Lob Pappenheims auch eine salvatorische Funktion für die schwedischen Kommandeure haben sollte, die erklären mußten, warum dieses Kriegstheater mehr und mehr ihrer Kontrolle entglitt. Doch bleibt der Tatbestand, daß ihr Gegner militärische Qualitäten erkennen ließ, mit denen die Schweden in dieser Phase des Kriegs sonst nirgends konfrontiert wurden22 • Doch wer sich ein Bild von Pappenheim als Militär machen möchte, kann nicht allein auf die konkreten Beispiele seiner militärischen Laufbahn schauen. Wie sein militärisches Ungestüm sind für ihn gleichermaßen die vielen Gutachten typisch, die er im Laufe der Kriegsjahre zu den verschiedensten militärischen Problemen und Herausforderungen verfaßt hat. Daß Pappenheim nicht nur ein Mann des Krieges war, sondern auch seine Feder zu gebrauchen verstand, ist der Forschung seit langem bewußt. Schon G. Mann hat die Ambivalenz seines Charakters auf den Punkt gebracht, wenn er Pappenheim als "zugleich Haudegen und Theoretiker, draufgängerisch und nachdenklich" charakterisiert23 . Um so überraschender ist es, l7 Wittich, Pappenheim (Anm. 4), 159; ebd. im Vergleich zu Wallenstein: "Ob er [=Pappenheim, M.K.] zum commandirenden General geschaffen war, ist aber eine andere Frage.", und ebd. 160: ,,In höherem Sinne kein Stratege, dagegen ein brillanter Truppenführer." JB Gustav Droysen, Das Auftreten Pappenheims in Nordwestdeutschland nach der Schlacht bei Breitenfeld, in: Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde 8 (1871), 401-428, 601-622; ders., Der Krieg in Norddeutschland von 1632, in: Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde 9 (1872), 245-255, 289-312, 376-400, und ders., Die niedersächsischen Kreisstände während des schwedisch-deutschen Krieges 1631 und 1632, in: Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde 8 (1871), 362-383. 19 Mann, Wallenstein (Anm. 3), 698; allerdings bezeichnet Mann ihn im selben Atemzug als den "wilde[n] Graf[en] von Pappenheim", und auch sonst mischt Manns Wertung das Unruhig-Ungebärdige mit dem Talentiert-Genialischen. 2o Junkelmann, Gustav Adolf (Anm. 1), 431. 21 Stadler, Pappenheim (Anm. 1), 660. 22 Vgl. auch Oxenstiemas Wort vom "schnelle[n] und schlaue[n] Gast", mit dem vor allem der Beweglichkeit von Pappenheims Operationen hoher Respekt gezollt wird, bei Mann, Wallenstein (Anm. 3), 722. 23 Mann, Wallenstein (Anm. 3), 615; im wesentlichen schon bei Wittich, Magdeburg (Anm. 4), Bd. 1, 328 f.

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daß eine eingehendere Betrachtung und Würdigung dieser Schriften Pappenheims bislang unterblieben oder über erste Ansätze nicht herausgekommen ist. So hat B. Stadler in ihrem opus magnum zwar eine Zusammenstellung aller erhaltenen Gutachten Pappenheims geboten, dabei die Textgeschichte der einzelnen Gutachten aufgearbeitet und sie in ihrem oft nur schwierig zu fassenden historischen Kontext zu rekonstruieren versucht. Einen systematisierenden Zugriff auf dieses Corpus hat sie jedoch nicht untemommen24. Ihre Übersicht über die Pappenheimsehen Gutachten ist die vollständigste, doch beileibe nicht die erste. Bereits im 18. Jahrhundert hat der kurbayerische Kriegssekretär Sonnenleitner aus den Aktentomi des Dreißigjährigen Kriegs Exzerpte angefertige5 • Er ordnete seine Trouvaillen nach einzelnen Feldherrn dieser Zeit, so daß seine Abschriften nicht nur Material zu Pappenheim, sondern auch zu Tilly, Wallenstein, Piccolomini, Gallas, Hatzfeld, Holzappel (Melander), Gronsfeld, Haslang, Enkefort, Werth und Reusebenberg bieten. Auffrulig ist dabei, daß die mit Abstand umfangreichsten Exzerpte Pappenheim betreffen26. Seine Kriegsakten boten offenbar einen anschaulicheren Einblick in die Kriegsjahre als die anderer Kommandeure, was um so bemerkenswerter ist, als viele der behandelten Feldherrn als Oberkommandierende der kaiserlichen oder kurbayerischen Truppen eine viel herausragendere Charge innehatten als Pappenheim27. Was auch den Exzerptor im 18. Jahrhundert an Pappenheim faszinierte, läßt das Ergebnis seiner Arbeit deutlich werden: Es sind neben anderen Korrespondenzen vor allem dessen Gutachten, die, verglichen mit Stadlers Übersicht, sämtlich schon hier aufgenommen wurden. Zu welchem Zweck diese Exzerpte letztlich angefertigt wurden, ist unklar. Erneutes Interesse an Pappenheims Gutachten wurde in den "Kriegsschriften" bekundet, die 1820/21 eine ganze Reihe von ihnen publizierten und darauf aufbauend eine knappe "Geschichte seiner [=Pappenheims; 24

Stadler, Pappenheim (Anm. l), 827-832; vgl. lediglich die knappen Bemerkungen

ebd., 218 f.

25 Diese Exzerpte befinden sich heute als Codex Germanicus Monaciensis (im folgenden als: Cgm) 1938 unter dem Titel ,,Aktenauszüge des Kriegssekretärs Sonnenleitner" in der Handschriftensammlung der Bayerischen Staatsbibliothek München. - Auf die Bedeutung dieses Codex hat bereits Sigmund Riezler, Geschichte Baierns, Bd. 5, Gotha 1903, 154, Anm. 4, hingewiesen. 26 Vgl. folgende Übersicht zu Cgm 1938: f. 6-62' (Tilly), f. 63-155 (Pappenheim), f. 155' -159' (Wallenstein), f. 160-164' (Piccolomini), f. 165 -168' (Gallas), f. 169-173 (Hatzfeld), f. 173'-175' (Holzappel), f. 176-213 (Gronsfeld), f. 176-213 (Gronsfeld), f. 213' -218 (Haslang), f. 218' -230 (Enckhenforth), f. 230' -250 (Werth), f. 250' -259 (Reuschenberg). 27 Wobei auch nicht alle wichtigen und auch nicht alle wichtigen kurbayerischen Feldherren behandelt sind. So vermißt man Götz, Wahl, Geleen und - nicht nur wegen seines Rangs - Mercy. Zu den höheren Chargen der Iigistischen und später kurbayerischen Armee immer noch wichtig Johann Heilmann, Kriegsgeschichte von Bayern, Franken, Pfalz und Schwaben von 1506 bis 1651, Bd. 2: Kriegsgeschichte und Kriegswesen von 1598-1651, München 1868, bes. 1105 ff., sowie insbesondere für die spätere Zeit Cordula Kapser, Diebayerische Kriegsorganisation in der zweiten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges 1635 - 1648/49 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, 25), Münster 1997, bes. 88 ff.

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M.K.] Feldzüge" boten28 . Im weiteren Verlauf des 19. und dann auch des 20. Jahrhunderts haben Historiker immer wieder auf diese Schriften rekurriert und sie teilweise auch im Druck dargeboten, soG. Droysen29, aber auch J. H. Hess30, Villermont31, S. Röck132 und H. Hallwich33 . Schließlich finden sich auch in den Editionswerken der "Briefe und Akten" 34 sowie in den "Documenta Bohemica"35 weitere Ergänzungen, so daß bis auf wenige Ausnahmen die Gutachten Pappenheims der Forschung zur Verfügung stehen, wenn auch nicht immer in einer tadellosen Edition36 . Alle diese edierten Materialien bilden die Grundlage für folgende Ausführungen. Doch wozu sollen diese Gutachten sinnvoll sein? K. Wittich hat sie zum Anlaß genommen, um Pappenheim zu attestieren, "[k]ein bloßer Haudegen" zu sein, sondern ein "ebenso gebildeter wie geistvoller Offizier". Doch haben sie Wittich nicht davon abgehalten, darin - neben einigen brauchbaren Überlegungen - vor allem Pappenheims Maßlosigkeit zu entdecken, der sich zu "chimärischen und 28 Gottfried Heinrich Graf von Pappenheim, baienscher Feldmarschall. Beyträge zur Geschichte seiner Feldzüge. Aus officiellen Quellen, von E. v. A., in: Kriegsschriften, hrsg. v. Bayerischen Offizieren (Redakteure: Ludwig Ritter von Xylander u. Freiherr von Aretin), Heft 1, 21-114, Heft 2, 35-77, Heft 5, 74-137, München 1820/21. Nach Stad/er (Anm. 1), 910, ist Carl Maria Freiherr von Aretin als Verfasser anzunehmen, so daß auch im folgenden die Schrift unter seinem Namen zitiert wird.

Droysen, Auftreten Pappenheims (Anm. 18), 401-403. Johann Eduard Hess, Gottfried Heinrich, Graf zu Pappenheim. Nach Geschichtsquellen und Urkunden bearbeitet, Leipzig 1855, vor allem 94-98 (Gutachten zur Räumung fester Plätze, ca. Juli 1630). 31 Antoine Charles Hennequin Comte de Villennont, Tilly ou Ia Guerre de trente ans de 1618 1632,2 Bde., Paris/Tournai 1860, hier Bd. 1, 443-445; vgl. dazu auch die Angaben bei Stadler, Pappenheim (Anm. 1), 829. 32 Sebastian Röckl, Quellenbeiträge zur Geschichte der kriegerischen Tätigkeit Pappenheims, Teil I: Von der Schlacht bei Breitenfeld bis zur Schlacht bei Lützen (Programm des königl.Maximilians-Gyrnnasiums München 1888/89), München 1889, Teil III: Von 1627 bis zur Schlacht bei Breitenfeld (Programm des königl.Maximilians-Gyrnnasiums München 1892/93), München 1893, hier Teil 1, 9-12, Teil 3, 20-23 u. 63-65. Bei Röckl wie auch bei Hess, Gottfried Heinrich (Anm. 30), finden sich ausführliche Referate von Pappenheimischen Dokumenten im Wortlaut, teils im Auszug, teils vollständig. 33 Hennann Hallwich, FünfBücher Geschichte Wallensteins, 3 Bde., Leipzig 1910, hier Bd. 3, 386-388 (Nr. 417), und ders. , Briefe und Akten zur Geschichte Wallensteins (16301634), 4 Bde., hier Bd. 1 (Fontes Rerum Austriacarum, 2. Abt., 63), Wien 1912, 262 - 266 (Nr. 174). 34 Vgl. die Hinweise in: Die Politik Maximilians I. von Bayern und seiner Verbündeten 1618-1651, 2. Teil, Bd. 4: 1628- Juni 1629, bearb. v. Walter Goetz (Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Neue Folge), München 1948, 182 Z. 8-12 u. 3541. 3S Documenta Bohemica Bellum Tricennale Illustrantia, Bde. 1- 7, hrsg. von Milos Kouril/ Miroslav Toegel/Josef Kalimann u. a., Prag 1971-81, hier Bd. 4, 288 (Nr. 734). 36 Die wenigen Ausnahmen sind bei Stadler, Pappenheim (Anm. 1), 827 ff. verzeichnet, die übrigens selbst im Anhang drei hier relevante Stücke vorlegt, ebd., 883- 891 (Nr. 8, 9 u. 10). 29

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himmelstürmenden Projecten" verstiegen habe37• Eine derartig negative Beurteilung dieser Schriftstücke wird allerdings ihrer Bedeutung nicht gerecht. Im weiteren soll daher versucht werden, die Bedeutung dieser Gutachten auszuloten. Dies soll zunächst durchaus in einem biographischen Ansatz erfolgen. Vor allem wird die Intention dieser Gutachten im Kontext der Feldkorrespondenz Pappenheims zu berücksichtigen sein. Denn es ging Pappenheim nicht nur um die Lösung militärischer Herausforderungen, sondern auch um seine Karriere. Für den Stellenwert der Gutachten ist auch zu berücksichtigen, ob und wie andere Militärs seiner Zeit sich in dieser Form zu Wort meldeten (II.). Im weiteren ist danach zu fragen, welche Rückschlüsse auf Pappenheim als Militär möglich sind. Zunächst stehen hier Fragen der Methodik und Systematik in seinen Gutachten im Vordergrund (III.). Anschließend soll erörtert werden, welche Empfehlungen Pappenheim konkret für die Kriegführung gegeben hat. Dabei ist die Kriegsdoktrin der Liga zu berücksichtigen, doch auch die generellen Vorstellungen Pappenheims zur Kriegführung im Dreißigjährigen Krieg spielen hier eine Rolle (IV.). Abschließend geht es nicht mehr nur um die Figur Pappenheims, sondern um seinen Beitrag zur Entwicklung des Militärwesens im 17. Jahrhundert und darüber hinaus. Daß Pappenheim in diesem Zusammenhang nicht mehr als der "schneidige Reiteroffizier" (K. Wittich) erscheint, sondern vielleicht eher wie ein deutscher Montecuccoli, ist durchaus beabsichtigt.

II.

"Mein Geist ist offt gar zu curios, jedoch muß Jch ihm vnterweylen bey guettem vertrauten Freunden lufft vnd lauff lassen'a8 • Die Attitüde desjenigen, dem es ein Bedürfnis ist, sich in schriftlicher Form über Fragen der Kriegführung zu äußern, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Gutachten keineswegs nur der Laune eines Augenblicks entstammten. Pappenheim schrieb seine Diskurse zwar stets unaufgefordert, aber sehr zielbewußt Schon früh hatte er begonnen, mit Memoranden auf seinen militärischen Sachverstand aufmerksam zu machen. 1623 hatte er eine Denkschrift an Maximilian von Bayern geschickt, in der er sich über die Belagerung der kurpfälzischen Festung Frankenthai äußerte39. Als er kurze Zeit später in spanische Dienste wechselte und in Norditalien kämpfte, war der dortige Gouverneur Feria der Adressat Pappenheimscher Analysen40. Seine Rückkehr auf den Kriegsschauplatz im Reich leitete er wiederum mit zwei Gutachten ein, in denen er ganz offenkundig seine militärische Fachkompetenz verdeutlichen und sich auf Wittich, Pappenheim (Anm. 4), 159 u. 160. Pappenheim an A1dringen, 1. 7. 1628, Abschrift als Beilage für Trauttmansdorff, Hallwich, Fünf Bücher (Anm. 33), Bd. 3, 386. Vgl. auch die Notiz am Ende des Diskurses: "Das seindt beydieser muessigen Zeit meine studia", ebd., 388. 39 Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), Heft 1, 37 - 39. 40 Vgl. den Hinweis bei Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 192. 37

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diese Weise für das erstrebte Kommando im Kampf gegen die aufständischen Oberösterreicher empfehlen wollte41 • In dem einen Gutachten äußerte er sich darüber, wie das von den aufständischen Bauern bedrohte Linz zu entsetzen sei42 ; in einem zweiten lotete er die Möglichkeiten aus, "wie man die rebellischen Bauern mit gar wenig Volk ausrotten und bezwingen könnte"43 • Welchen Stellenwert das karrieretaktische Kalkül besaß, zeigte der Umstand, daß Pappenheim seinen Erfolg im Oberösterreichischen Bauernkrieg auch publizistisch zu verwerten bemüht war: Ein von ihm initiiertes Büchlein sollte den Bezwinger der rebellischen Bauern als herausragenden Militär für weitere, höhere Aufgaben empfehlen. Die Wirkung solcher Publizistik ist schwer nachvollziehbar, doch bekam Pappenheim nicht nur eine Charge im Ligaheer, sondern erhielt Anfang 1627 auch eine Offerte Wallensteins, die er jedoch ablehnte44 • Denn nun begann seine Karriere im Heer der Liga, und immer wieder äußerte er sich in seinen Gutachten zu verschiedenen militärischen Sachfragen. Seine Gutachten über den Krieg versandte Pappenheim jedoch nicht allein an Maximilian. Ebenso waren Tilly, aber auch Wallenstein und andere Adressaten seiner Gutachten. Bemerkenswert ist auch, daß die Denkschriften sich keineswegs exklusiv nur an einen Adressaten wandten; kennzeichnend ist die Streuung, die aber nicht durch die Weitergabe seitens des ersten Adressaten erfolgte, sondern einige Male von Pappenheim selbst initiiert wurde. Wenn seine Ausführungen zunächst an Tilly gerichtet waren, so gingen Abschriften kurz darauf nach München zum bayerischen Kurfürsten45 • Das Stralsund-Gutachten wandte sich an Aldringen, wurde aber auch an Trauttrnansdorff - mit einer deutlichen captatio benevolentiae -als einen "gutte[n] vertrauten Freunde(.]" gesandt46• Es wird deutlich, daß Pappenheim seine Ausführungen weniger als Arkanschriften behandelt wissen wollte, sondern mit seinen Gedanken gleich an mehreren Stellen präsent und im Gespräch zu sein beabsichtigte47 • Von seiner militärischen Fachkompetenz sollten mehrere 41 Eindeutig ist, daß Pappenheim beide ,,Diskurse" abgeschickt hatte, ohne schon eine Bestallung in der Armee der Liga in der Tasche zu haben, vgl. dazu Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 204 u. 206. 42 Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), Heft 1, 39-42. 43 Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), Heft 1, 42-48, hier48. 44 Dazu insgesamt Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 228 f. 45 Zum Gutachten bezüglich Glückstadt und Krempe am 12. 9. 1628, das parallel an Tilly und Maximilian abging, Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 828, zu dem bezüglich eines Angriffs auf Dänemark vgl. ebd., 305, und zum Diskurs bezüglich der schwedischen Operationen Ende August 1631 an Tilly und Maximilian ebd., 832. 46 Hallwich, Fünf Bücher (Anm. 33), Bd. 3, 386. 47 Da Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 827, in der Vorbemerkung darauf verweist, daß sie nicht alle ihr bekannten Ausfertigungen und Abschriften in ihrem Verzeichnis nachgewiesen hat, muß man davon ausgehen, daß die Gutachten noch in viel größerer Anzahl zirkulierten. Beispielsweise findet sich das an Tilly gerichtete Memorandum über die Operationsmöglichkeiten Gustav Adolfs (ca. ante 29. 8. 1631) auch noch als Kopie in: Kriegsarchiv Wien, Alte Feldakten 55, 1631,8,32. Auch das Gutachten vom 28. Juli 1631 wurde auf Maximilians

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erfahren, und mit Tilly und Maximilian und mit Wallenstein und Trauttmansdorff nahm er auch die Iigistischen und kaiserlichen Schaltstellen ins Visier48 • Die Funktion der Gutachten zielte daher keineswegs nur auf den unmittelbaren aktuellen militärischen Nutzen, sondern sollte den Verfasser als besonders befahigten Militär herausstellen, also auch karrierefördernd wirken. Wenn Pappenheim in seinen Gutachten dann noch sein eigenes Engagement anbot, lenkten ihn keineswegs altruistische Erwägungen: Er war in dem Fall Kriegsunternehmer genug, um angesichts des Schreckensszenarios, das er zeichnete, einen Lösungsvorschlag darin zu sehen, daß er "ein oder zwey guter Regimenter ... gar geschwind uffn Fueß zu bringen" sich anbot49. Insofern muß man sich dariiber im klaren sein, daß Pappenheims Diskurse keineswegs nur von einem objektiven Blick auf die Tatsachen getragen waren. Wie die eigene Karriere zu befördern sei, wurde in seinen Ratschlägen stets mitbedacht, und dementsprechend zielten Pappenheims Vorschläge immer auch darauf ab, sich selbst eine gute karrieretaktische Ausgangslage oder überhaupt ein entsprechendes Kommando zu verschaffen, um im anstehenden Feldzug das eigene militärische Können unter Beweis zu stellen. Doch ist Pappenheims Kalkül einer durch Gutachten beförderten Karriere aufgegangen? Ungeachtet der von ihm formulierten Unzufriedenheit, die sich im Laufe seiner Kriegsdienste einstellte5°, hat er in der Armee der Liga eine atemberaubende Karriere gemacht, die 1631 in der Ernennung zum Feldmarschall kulminierte. Daß Pappenheim dieser Titel von der Liga wie auch von Seiten des Kaisers verliehen wurde, war ein Zeichen dafür, daß er sich als ein geschätzter und umworbener Kommandeur einen Namen gemacht hatte. Sein Aufstieg ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil er sich nicht auf eine Klientelstruktur im bayerischen Umfeld stützen konnte51 • Daß er so zügig Karriere machen würde, konnte er deswegen Veranlassung für die kurbayerischen Gesandten zum Frankfurter Kompositionstag kopiert, "dz sie es andere leßen !aßen", Stadler; Pappenheim (Anm. 1), 532. 48 Zum Verhältnis zu Trauttmansdorff Stad/er; Pappenheim (Anm. 1), 291.- Neben diesen häufigeren Adressaten lassen sich vereinzelt auch weitere nachweisen, wie der Fürstbischof von Speyer (Frankenthal-Gutachten, 1623), der bayerische Hofkriegsratspräsident Eisenreich (Oberösterreich-Gutachten, 1626), der Fürstbischof von Bamberg (Mantua-Gutachten, 1630), Kurmainz (Gutachten vom 19./20. l. 1631) und Oberst Herliberg (Gutachten vom 28. 7. 1631), vgl. Stad/er; Pappenheim (Anm. 1), 827-832. 49 Pappenheim an Tilly, ca. Jan. 1631, Hallwich, Briefe und Akten (Anm. 33), Bd. 1, 262 - 266, hier 266. 50 Vgl. Pappenheims desillusionierte Äußerung vom 30. 10. 1630 bei Stad/er; Pappenheim (Anm. 1), 453. Pappenheim strebte offenkundig aus dem Militärdienst heraus und bewarb sich - mitten im Feldzug gegen Gustav Adolf- um den Posten als Präsident des Reichshofrats, vgl. Stad/er; Pappenheim (Anm. 1), 454; das Gesuch vom 19. 8. 1631 bei Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), Heft 5, 116 f. Mit zu dieser negativen Einschätzung dürfte beigetragen haben, daß sich seine militärischen Vorstellungen letztlich nur bedingt umsetzen ließen. 51 Pappenheim hatte zwar Adam Graf von Herberstorff zum Stiefvater- vgl. Stad/er; Pappenheim (Anm. 1), 28 ff. -, auch war er von Kardinal Khlesl protegiert worden (vgl. ebd., 47), doch hatte er im eigentlichen bayerischen Umfeld offenbar keinen Anknüpfungspunkt an Klientelstrukturen.

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nicht ohne weiteres annehmen, und tatsächlich lassen sich Indizien dafür finden, daß es Gruppierungen am kurbayerischen Hof und in der Militäradministration gab52, die dem Aufstieg Pappenheims mit unverhohlenem Argwohn begegneten und ihm entgegenarbeiteten53 . Wenn die Formel "Karriere durch Gutachten" für Pappenheim tatsächlich angewendet werden kann, wird man sie vor allem im Zusammenhang mit der starken, im weiteren Sinne absolutistischen Position MaximiHans von Bayern sehen müssen54• Hier wäre zu fragen, in welcher Weise diese intensive Gutachtertätigkeit auch als ein Faktor zur Stärkung eines absoluten Fürstenregiments beigetragen hat, indem die Fachkompetenz des Feldherrn nicht nur für denselben karrierefördernd wirkte, sondern auch den adressierten Fürsten von klientelgesteuerten Beratern unabhängiger machte und ihm somit in machtstabilisierender Weise zugute kam. Dabei kamen Charakter und Eigenheiten Maximilians von Bayern den Bemühungen Pappenheims, nicht nur das praktische militärische Talent, sondern vor allem auch die Fähigkeit zur analytischen Durchdringung von militärischen Sachverhalten für die eigene Karriere einzusetzen, zweifelsohne entgegen. B.Stadler hat auf die unterschiedlichen, ja konträren Wesenszüge bei Pappenheim und Maximilian aufmerksam gemacht, dabei aber nicht übersehen, daß Pappenheim für den bayerischenFürsten "der ideale General [war], der Siege gleichsam auf Bestellung lieferte, es nie versäumte, mit anschaulichen Berichten zu informieren und dessen Eifer und Umsicht Maximilians strengen Maßstäben entsprach"55 • Gerade den Aspekt der Korrespondenz wird man in seiner Bedeutung für das Verhältnis zwischen dem Kriegsherrn und dem Militär nicht unterschätzen dürfen56• So wie Maximilian ein aus der Kanzlei heraus regierender Fürst und eben auch Krieg führender Dienstherr w~7 , stellte eine konstante und ausführliche Feldkorrespondenz das Rückgrat für ein funktionierendes Miteinander zwischen politischer Führung und militärischer Exekutive dar. Vor dem Hintergrund mußte Pappenheim tatsächlich als der ideale Militär erscheinen, dessen reflektierender und theoretisch fundierter Umgang mit Fragen der Kriegführung zudem eine Eigenschaft darstellte, 52 Über Cliquenbildungen am kurbayerischen Hof und noch mehr in der Iigistischen und später kurbayerischen Armee läßt sich ungeachtet der weiterführenden Beobachtungen Stadlers noch nichts Abschließendes sagen. 53 Besonders die beiden Kriegskommissare Ruepp und Lerchenfeld müssen als Feinde Pappenheims gelten, waren aber nur Exponenten einflußreicher Kreise am Hof und in der Heeresverwaltung, vgl. Stadler, Pappenheim (Anm. 1), 455, 483 f., 513 f., 548 u.ö. Stadlers These, die das gesamte Werk durchzieht, daß Maximilian eine Marionette dieser Cliquen war, dürfte in ihrer Radikalität allerdings überspannt sein. 54 Zu dieser Einschätzung Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600-1715 (Neue Deutsche Geschichte, 5), München 1991, 164, 330, 338, und Albrecht, Maximilian (Anm. 13), 1118; beide tendieren zum Begriff des "Frühabsolutismus". 55 Stadler, Pappenheim (Anm. 1), 233 f., Zitat 234. 56 Zum hohen Stellenwert der Feldkorrespondenz, hier im Verhältnis zwischen Tilly und Maximilian, Kaiser, Politik und Kriegführung (Anm. 14), 44- 48. 57 Vgl. die Einschätzung bei Albrecht, Maximilian (Anm. 13), 627 f.

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die ihn nicht nur von Tilly, dem Generalleutnant der Liga- er galt als "alter Praktikus", nicht als Kriegstheoretiker58 -,sondern auch von vielen anderen Militärs seiner Zeit unterschied. Allerdings wird man Pappenheim insofern nicht als exzeptionell betrachten dürfen, als es auch in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs eine blühende kriegswissenschaftliche Literatur gab, der Dreißigjährige Krieg mitnichten eine vom Kriegschaos geprägte Phase war, die - im Gegensatz zur nachfolgenden, als "barock" apostrophierten Epoche mit ihren wohldisponierten Schlachteninszenierungen und einer korrelierenden Entwicklung in den Kriegswissenschaften - unreflektiert und theoriearm der Kriegsfurie freien Lauf ließ59• Nicht zuletzt der Impuls der Granischen Reformen löste eine theoretische Beschäftigung sowohl mit Fragen der Militärorganisation als auch der Kriegführung aus, die vielfachen Niederschlag gefunden hat. Dabei entwickelte sich eine Publizistik, die den aktuellen Diskurs über den Krieg beförderte und eine kriegswissenschaftliche Öffentlichkeit im frühen 17. Jahrhundert formierte 60• Neben diesen Schriften gab es jedoch auch eine ganze Reihe von Traktaten, die nicht in den Druck kamen (oder kommen sollten, was im Einzelfall zu überprüfen wäre). Die Verfasser solcher Schriften waren durchweg Militärs und Fürsten, die über das Kriegswesen ihrer Zeit reflektieren - aus Neigung, aus Profession, aus der empfundenen Notwendigkeit, sich in unruhigen Zeiten behaupten zu müssen. So ist der Rekurs auf antike militärische Vorbilder und vor allem die Rezeption des oranischen Reformansatzes für Markgraf Georg Friedrich von Baden-Durlach anhand von dessen Aufzeichnungen sehr gut nachvollziehbar61 und ebenso für den Grafen Johann von NassauSiegen62. Weitere militärtheoretische Skizzen sind auch anderweitig tradiert, mit58 So bezeichnete ihn einmal der kursächsische Feldmarschall Amim, der den Begriff durchaus positiv verstanden wissen wollte, zitiert nach Kaiser; Politik und Kriegführung (Anm. 14), 109 mit Anm. 31. 59 Vgl. allgemein die Angaben für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts bei Max Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland, Zweite Abteilung: XVII. und XVIII. Jahrhundert bis zum Auftreten Friedrichs des Großen 1740, München/Leipzig 1890, § 1-130, sowie Johannes Pohler; Bibliotheca historico-militaris, 4 Bde., Kassel/Leipzig 1887 I 1890/1893/1899, der neben zeitgenössischen Arbeiten vor allem auch die historiographischen Werke aufführt. 60 Über die Dimensionen, konkret die Verbreitung und Verfügbarkeit dieser Drucke liegen keine weiteren Befunde vor. Als Beispiele für entsprechende Flugblätter zum kriegswissenschaftlichen Diskurs, der genregemäß nie ganz von propagandistischer Publizistik zu trennen ist: [Peter Paedander;] Enucleata Veritas oder kurtz und wolgegründetes Bedencken, ob zu Kriegeszeiten das Fussvolck der Reuterey vorzuziehen, Erffurdt 1625; Zweyfacher SoldatenSpiegel/ Das ist: Treuwhertziger Diseurs. Darinnen Vrsachen augezeiget werden: Warumb in dem zehenjährigen teutzschen Kriege die Catholischen den Evangelischen gemeiniglich obgesieget/ vnd numehr fast die Oberhand bekommen. Allen Teutzschen Evangelischen zur Nachricht verfasset vnd mitgetheilet. Durch einen Fried= vnd Freyheitliebenden Teutzschen Soldaten. Gedruckt im Jahr M.DC.XXlX. [s.l. 1629]. 61 Wemer Hahlweg, Griechisches, römisches und byzantinisches Erbe in den hinterlassenen Schriften des Markgrafen Georg Friedrich von Baden, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 59 (1950), 38-114.

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unter namentlich überlieferte, meist aber anonyme Denkschriften63 . Interessant ist das Beispiel Wilhelm von Calckums genannt Lohausen, der in Diensten Christians IV. von Dänemark stand, aber das Pech hatte, in der Schlacht bei Lutter am Barenberge in Gefangenschaft der siegreichen Iigistischen Armee zu geraten64. Die Zeit der erzwungenen Muße nutzte er für schriftstellerische Versuche, unter denen neben einer mathematischen Abhandlung vor allem die Beschäftigung mit dem antiken Autor Sallust herausragt. Denn Lohausen fügte seinen Übersetzungen der Catilinarischen Verschwörung und des Jugurthinischen Krieges "KriegsDiscourse" an, in denen er verschiedene Aspekte von der Gottesfurcht der Kriegsknechte über die Frage nach der Rechtfertigung von Kriegen bis hin zur Heeresorganisation und Waffenkunde abhandelte. Lohausen, der seine Elaborate in Druck gab und 1629 in die Fruchtbringende Gesellschaft eintrat, fallt zweifelsohne in die Kategorie der schreibenden und das eigene Tun reflektierenden Militärs. Das prominenteste und dabei schon weit über den Rahmen des Dreißigjährigen Kriegs hinausreichende Beispiel ist gleichwohl Montecuccoli, der als erfolgreicher Feldherr gleichermaßen Beriihmtheit erlangt hat wie als Militärschriftsteller65. Doch bei beiden, Lohausen wie Montecuccoli, ist die Trennung der Kriegspraxis von der Kriegstheorie kennzeichnend, ein Umstand, der beide von Pappenheim trennt. Für diesen ging die Suche nach einer Lösung für ein akutes militärisches Problem Hand in Hand mit grundsätzlichen Erwägungen über die Kriegskunst im allgemeinen. Daß beides synchron geschah, beförderte auch eine Bürokratisierung des Krieges. Es wurde nicht nur über Finanz-, Rechts- und allgemeine politische Fragen gegutachtet, sondern auch das Militärwesen und insbesondere die Kriegführung verschriftlicht Daß über das Militär und den Krieg geschrieben wurde, ist nicht das Neue; wegweisend ist vielmehr, daß ein militärischer Akteur selbst Reflexionen anstellte, dies inmitten der Kriegshandlungen tat und nicht erst in der Retrospektive als Alterswerk. Insofern stellt auch die Genese der Gutachten einen wichtigen Hinweis dar, auf welche Weise Pappenheim zu seinen Analysen kam. Zwar waren einige bereits vom ihm selbst als "Diskurs" überschrieben worden, also durch den Verfasser 62 Wemer Hahlweg, Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Grafen von Johann von Nassau-Siegen, Wiesbaden 1973. 63 Vgl. die genannten Beispiele bei Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften (Anm. 59), § 23, 943, u. § 28, 949 f. für anonyme Schriften und die zeitgenössischen "Collectanea de arte militari" betitelten Skizzen zur Kriegskunst eines G. Walter, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Politisches Archiv 4 h 3537, f. 1-21; eine Bearbeitung dieser Quelle ist geplant. 64 E. v. Schaumburg, General Wilhelm von Calckum genannt Lohausen, ein Hergiseher Kriegsmann, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 3 (1866), 1-223, bes. 72-85. 65 Alois Veltze (Bearb.), Ausgewählte Schriften des Raimund Fürsten Montecuccoli General-Lieutenant und Feldmarschall, 4 Bde., Wien/Leipzig 1899/1900; Thomas M. Barker, The Military Intellectual and Battle. Raimondo Montecuccoli and the Thirty Years War, Albany, N.Y. 1975, und jüngst Georg Schreiber, Raimondo Montecuccoli. Feldherr, Schriftsteller und Kavalier. Ein Lebensbild aus dem Barock, Graz I Wien I Köln 2000.

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selbst als eigenständige Abhandlungen klassifiziert worden. Andererseits neigte Pappenheim mitunter in der laufenden Feldkorrespondenz zu weitschweifigen Deliberationen über die militärische Problemlage: Dies waren noch keine Gutachten, zeigte aber den Drang des Schreibers, über die übliche alltägliche Kommunikation hinausgehend Sachfragen des Krieges zu erörtern. Wie Pappenheims Analysen aus der Gattung der Feldkorrespondenz in das Genre des selbständigen Memorials wechselten, läßt sich am besten an einem Übergangstypus verdeutlichen: Am 29. Mai 1631 schickte Pappenheim einen Brief an Maximilian; aufschlußreicher als der Brief selbst ist jedoch das Postskripum. Dieses war bezeichnenderweise ausführlicher als der eigentliche Brief und äußerte sich weit über das Tagesgeschäft hinausgehend zur gesamtstrategischen Lage im Reich66 • An dem Stichwort der "conservation des ganzen Reichs" orientiert plädierte Pappenheim für ein "defensivu[s] exercitu[s]" gegen die sich abzeichnenden Werbungen protestantischer Reichsstände und für ein weiteres, offensiv agierendes Heer gegen Gustav Adolf. Diese Ausftihrungen bildeten für sich genommen noch kein eigenständiges Memorial, und sie haben auch nicht den Sprung in die Stadtersehe Liste der Pappenheimsehen Gutachten vollbracht. Sicher fehlen diesen Ausführungen auch formale Kriterien, die andere Gutachten als selbständige Schriftstücke kennzeichnen. Doch da sie inhaltlich eindeutig zu solchen sich verselbständigenden gutachterliehen Äußerungen hin tendieren, läßt sich an einem solchen Beispiel nicht nur die Genese der Gutachten aus der Feldkorrespondenz ablesen, sondern dementsprechend auch Pappenheims Sicht des Krieges aufgrund der eigenen Kriegserfahrung im Feld. Dies und die sehr enge Verzahnung von unmittelbarer Praktikabilität der Überlegungen sowie gleichzeitigem Streben nach gültigen Erkenntnissen über Krieg und militärischen Erfolg machen den hohen Reiz dieser Gutachten aus, deren inhaltliche Struktur im folgenden zu untersuchen ist. lß.

Von sich selbst behauptete Pappenheim, er verstehe sich auf das Kriegshandwerk "so sicher alß ein schneider ein kleidt nach dem faden schneiden, ein mahler die farben ufzutragen oder ein jedweder handtwergkhsman in seiner kunst nach seinen regeln zu gehen weiß"67 • B. Stadler hat ihm daraufhin ein wenig ausgeprägtes Standesbewußtsein attestiert und im weiteren gefolgert, daß "[w]er keinen Klassendünkel hegte, [ ... ] auch keinen Berufsdünkel [hatte]"68• Ob diese Inter66 Pappenheim an Maximilian, Magdeburg 29. 5. 1631, Bayerisches HStA: Kurbayern Äußeres Archiv 2381, f. 352 der Hauptbrief, das Postscripturn bezeichnenderweise auch in Cgm 1938f.106'-l07'. 67 Stadler, Pappenheim (Anm. 1), 218. 68 Ebd. Daß, wie es weiter heißt, Pappenheim seine Profession "intellektuell" wahrnahm und "gleichsam von aussen" betrachtete, ist mir angesichts seines Engagements schwer nachvollziehbar; auch das "Intellektuelle" muß nicht unbedingt für ein distanziertes Verhältnis zum Militärwesen stehen.

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pretation wirklich zutrifft, sei an dieser Stelle dahingestellt. Das vergleichende Bild des Handwerksmanns mit dem Feldherrn läßt sich hingegen auch ganz anders deuten. Denn daß Pappenheim mehrfach von seiner Profession als "Handwerk" gesprochen hat, ist sicher weder Zufall noch gedankenlose Wortwahl69. Viel eher deutet der Begriff an, auf welche Weise er sich den militärischen Problemen zuwandte und sie in seinen Gutachten abhandelte. Und hierfür ist bezeichnend, daß Pappenheim durchaus nicht als Buchgelehrter auftrat, sondern mit dem eigenen Erfahrungsschatz und der Authentizität der eigenen Anschauung seine Sichtweise der militärischen Sachlage entwickelte. Die Grundlage für Pappenheims Ausführungen bildeten die empirischen Daten, die er durch eigene Inaugenscheinnahme und vor allem durch intensive Kundschaftertätigkeit gewonnen hatte. Letztere war eine unabdingbare Notwendigkeit für eine erfolgreiche Kriegführung, und entsprechend häufig tauchten seine Klagen darüber auf, daß die Liga zu wenig Geld bereitstelle, um ein entsprechendes Informantennetz aufzubauen und zu unterhalten 70• Was Pappenheim Anfang 1629 über die Situation an der Ostsee schrieb, gründete, wie er selbst angab, auf den Informationen eines Leipziger Kaufmanns, der lange Jahre in Dänemark gelebt und dort Handel getrieben hatte71 . Fehlte die eigene Anschauung, erkannte Pappenheim dies selbst als ein Manko seiner Überlegungen an. Als er über den Feldzug gegen die oberösterreichischen Bauern gutachtete, gestand er ohne Umschweife ein, seine Vorschläge nur "soviel als einem Abwesenden möglich" gemacht zu haben72. Gleichwohl zeigte sein Gutachten die große Vertrautheit mit der Situation. Bezeichnend war es für Pappenheim, zunächst einmal eine Bestandsaufnahme der geographischen Situation samt ihren militärischen Implikationen zu machen: "Sobald ich in diese Land bin kommen, habe ich, auf daß ich alle Consilia und Actiones desto leichter und versicherter zu dem rechten scopo Euer churfürstlichen Durchlaucht Dienste dirigiren möchte, vor allen Dingen mich beflissen, recht eigentlich die Hauptursachen zu ergründen, warum der alte Markgraf in diesen Landen und nicht lieber in einem andern Orte, deren mich ersten Ansehens etliche viel sicherer, und bequemer bedünkt, eine Armada zu sammeln und zu errichten sich unterstanden" 73 • Dies war der Einstieg in die Denkschrift von 1627 über die strategische Bedeutung der Markgrafschaft Baden-Durlach, in der Pappenheim systematisch die möglichen militärischen Szenarien in den verschiedenen Regionen und mit jeweils anderen Bündnispartnern abhandelte. Erfaßte dieses Gutachten die für die Kriegführung relevanten topographischen Daten auf einem großen Tableau74, bezog sich die topo69 Vgl. außer dem Beispiel bei Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 218, noch Röckl, Quellenbeiträge (Anm. 32), Teil 3, 23, und Hallwich, Briefe und Akten (Anm. 33), Bd. I , 264. 70 Zu diesem Problem Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 475. 71 Pappenheim an Ungenannt, Gardelegen 31. I. 1629, Documenta Bohemica (Anm. 35), Bd. 4, 288, Nr. 734. Vgl. auch die Hinweise bei Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 305, im Kontext eines entsprechenden Gutachtens. n Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), Heft 1, 42. 73 Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), Heft 1, 80-84, hier 80.

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graphische Analyse in anderen Fällen nur auf einen sehr begrenzten Raum, wie etwa im Falle der an der Elbmündung gelegenen Festungen Glückstadt und Krempe, die seit dem Frühjahr 1628 von kaiserlichen Truppen wenig erfolgreich belagert wurden75 . Hier folgerte aus Pappenheims Deduktion immerhin eine komplette Neustrukturierung der Belagerung, die als neuen Schwerpunkt nicht mehr Krempe, sondern Glückstadt empfahl76. Es handelte sich daher nur scheinbar um einen narrativen Einstieg, wenn Pappenheim als Autor eines Gutachtens davon schrieb, er habe sich von anderen Offizieren die Fortifikationen bei Krempe und Glückstadt vorführen lassen77 • Ebenso sind die Hinweise, er habe "der Sache recht tief nachgedacht" und komme erst zum Ergebnis, "wann ich die Sache vom Anfang her ex fundamento examinire", keine Floskeln78 • Vielmehr benennt der Gutachter die methodischen Grundlagen seiner Arbeit und dabei auch die Autoritäten, auf die er sich verlassen hat: Es sind der nach Möglichkeit von ihm selbst erbrachte empirische Befund und die darauf basierende rationale Analyse. Was in seinen Gutachten fast vollständig fehlt, sind Exempla. Den Griff in den reichen Fundus der Kriegsgeschichte, gleich ob bei jüngeren Beispielen oder den antiken Heroen, hat Pappenheim, durchaus im Gegensatz zu vielen Militärschriftstellern seiner Zeit, höchst selten getan. Insofern ist auch unklar, ob und in welcher Weise Pappenheim sich mit antiken Militärschriftstellern beschäftigt hat und von ihnen beeinflußt wurde. Entsprechend vage sind auch die Einflüsse des Dranischen Reformansatzes79 • Wie gering er den Rekurs auf antike und andere historische Vorbitder schätzte, zeigte sich, als er einmal seinen Argumentationsgang wie folgt abbrach: "Exempla moderna et antiqua seindt vbertlüssig"80• Zwar erwähnte er im folgenden doch noch Hannibal, Pyrrhus, Alexander und Cäsar mit knappen Hinweisen auf konkrete Episoden, doch hatte Pappenheim durch seine vorausgegangene Bemerkung die antiken Autoritäten letztlich selbst entwertet. Selbst der Rückgriff auf die unmittelbar vorausliegenden Feldzüge, die er teilweise mitgemacht, ja mitgeprägt hatte, bleibt oft nur summarisch81 • 74 Dies geschah ebenso noch im Gutachten bezüglich der Generalstaaten im Februar I März 1630, in dem die geographischen Gegebenheiten und die Verteidigungsmöglichkeiten im Reich ("eines der offenen vnbefestigten Landen Jn der Welt") mit denen in den Niederlanden und in den "Oberlanden" kontrastiert wurden, Röckl, Quellenbeiträge (Anm. 32), Teil 3, 20-23, hier 20. 75 Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), Heft 1, 109-113. Zur Situation allgemein Stadler, Pappenheim (Anm. 1), 301. 76 Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), Heft 1, 113. 77 Vgl. Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), Heft 1, 109. 78 Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), Heft 1, 81 und 112. 79 Dazu, auch im Kontext seiner Gutachten, Stadler (Anm. 1), 218 f. 80 Pappenheim an Aldringen, 1. 7. 1628, Hallwich, FünfBücher (Anm. 33), Bd. 3, 387. 81 Vgl. Pappenheim an Tilly, ca. Jan. 1631, Hallwich, Briefe und Akten (Anm. 33), Bd. 1, 262-266, hier 263: "Derer Exempelseint sieder der Fragerischen Schlacht so viel, daß man in keine seither verflossene Jahrzeit greiffen wird, darin mannitein baar dergleichen ertappen könne."

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In die Diskurse eingestreut sind lateinische Halbsätze und Spruchweisheiten, und ein Livius-Zitat schätzte Pappenheim so sehr, daß er es mehrmals verwandte82• Doch haben humanistische Lesefrüchte nicht den Argumentationsgang bestimmt; Latinismen dienten vielmehr dazu, den Kerngedanken seiner Ausführungen sentenzartig zusammenzufassen. ,,Melius est praevenire quam praeveniri", brachte Pappenheim seine Präventivkriegsstrategie hinsichtlich der auf dem Leipziger Konvent beschlossenen Werbungen der protestantischen Reichsstände auf den BegriW3, und zum selben Thema hatte er schon zuvor doziert: "[ ... ] preuentio est mater superioritas, superioritas autem Securitatis et Victoriae"84• Wenige Wochen später erläuterte er seine Forderung nach einem Erstschlag gegen das politisch schwankende Kursachsen wie folgt: "Rebelliones neque patiuntur neque pacta neque dilationes, dann einmahl die Tractaten, und die Dilationes, So sie dardurch bekhommen [ ... ] machen die Conditiones vmb sovil schwerer alß Sie sich entzwischen gesterkht haben: Entgegen aber vmb sovil leichter, alß man Jhnen bey werender erster forcht, und Confusion (causis tractatuum) die Sporn angetruckht und ihre sterkhung verhindert hatt"85 . Und geradezu apodiktisch war sein "principum, quod est non disputandum, das der Sterkhste an Mannschaft, der ist auch herr Jn einem offenen Landt"86• Hier schmückte sich der Militär nicht mit wohlgesetzten Spruchweisheiten, vielmehr ging es ihm um die Essenz einer Sachanalyse. Kennzeichnend blieb für Pappenheim eine empirische Vorgehensweise, eine systematisierende, logisch aufgebaute Durchdringung der empirischen Basisdaten und ein Abwägen der Vor- und Nachteile und verschiedener Argumente87 • Doch so sehr jeder Vorschlag aus einer konkreten Situation heraus geboren war, verharrte die Denkschrift nur selten auf dem Niveau einer akuten Lösungssuche. Pappenheim wollte mehr: Sein Ziel war, Grundsätze der Kriegführung zu eruieren, und deswegen transportierten viele Memoranden, oft scheinbar beinebens, in prägnante Formulierungen gegossene "Principia" des Krieges - wie die obigen, so auch die folgenden: ,,Dann es ist ein principium unsers handwerks, daß, wer sich in offenem 82 Vgl. den Titel des Beitrags und dazu weiter unten 225 mit Anm. 130.- Besonders dominant sind die lateinischen Phrasen in den Ausführungen Pappenheims an Aldringen, 1. 7. 1628, Abschrift als Beilage für Trauttmansdorff, Hallwich, Fünf Bücher (Anm. 33), Bd. 3, 388; allerdings handelt es sich dabei nicht um Klassikerzitate. 83 Pappenheim an Maximilian, Siederitz 6. 4. 1631, Röckl, Quellenbeiträge (Anm. 32), Teil3, 51. 84 Pappenheim an Maximilian, Burg 8. 3. 1631, Röckl, Quellenbeiträge (Anm. 32), Teil3, 44-47, hier 44. 85 Pappenheim an Maximilian, Magdeburg 5. 7. 1631, Röckl, Quellenbeiträge (Anm. 32), Teil3, 66. 86 Pappenheims Gutachten über die Generalstaaten, ca. Feb./ März 1630, Röckl, Quellenbeiträge (Anm. 32), Teil 3, 20-23, hier 20. 87 Ein vorzügliches Beispiel dafür bietet das Gutachten über die Räumung rechtsrheinischer fester Plätze aus dem Sommer 1630, in dem Pappenheim systematisch die Vor- und die Nachteile sowohl für die Spanier, als auch für die Generalstaaten und die Katholische Liga aufführt und schließlich bewertet, bei Hess, Gottfried Heinrich (Anm. 30), 94-98.

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Land, wie diß ist, ad bellum defensivum reduciren lasset, der muß sich an allen orten fürchten undt vorsehen"88 . In einem "Principium" kulminierte die Analyse: "Daraus vnd auß unzehligen andem Exempeln, meine [!]oben gesezte Principium erwießen, das wegen Natur: vnd Künstliche Veste der Niederteutschen vnd Jtalienischen Landen, zumeinst angewandte macht den wenigsten effect thuet, und einem Jeden Kriegsverstenndigen der offensiv Krieg darinnen so viel zu fliehen alß in Teutschland zu suechen ist"89• Diese stetige Suche nach einem "Axioma"90 des Kriegs macht die Bedeutung von Pappenheims Analysen aus und läßt eine neue Qualität der Kriegsplanung erkennen. Das beste Beispiel für die Bemühungen, allgemeingültige Regeln für die Kriegführung zu formulieren, ist Pappenheims Gutachten vom 28. Juli 1631 91 . Es entstand in der spannungsgeladenen Situation nach dem Fall Magdeburgs, als die kaiserlich-ligistische Seite unschlüssig war, wie der Krieg weiterzuführen sei. Besonders strittig war die Einschätzung Kursachsens, das man nicht auf die Seite Schwedens treiben wollte, das aber als potentieller Gegner gefährlich werden konnte und eine strategische Schlüsselposition einnahm92. So wäre aus rein militärischer Perspektive ein Vormarsch auf Kursachsen eine plausible Maßnahme gewesen, die aber aus politischem Kalkül sowohl Wiens als auch Münchens untersagt wurde. Obwohl dieses Gutachten im Widerstreit militärischer Gründe und politischer Vorbehalte angesiedelt war, fehlt jeder konkrete Hinweis auf Heeresstärken, Dislozierungprobleme und logistische Erwägungen. Statt dessen bietet Pappenheim eine von früheren wie auch derzeitigen militärischen Aktionen abstrahierte Ausführung darüber, was einen Sieg im Krieg ausmache und wie dieser zu erringen sei. Abstrakt, aber gleichwohl mit großer Anschaulichkeit, die durch die Metapher der Waage vermittelt wird, ist die Denkschrift gehalten: Der Krieg hält die Waage im schwankenden Gleichgewicht, erst im Frieden hört das "zweiflhafftige aequilibrium" auf. Friede ist also nur möglich, wenn sich eine Waagschale ganz zu Boden geneigt hat, d. h. wenn eine "völlige victori" errungen ist93 • Genau dies hat die kai88 Pappenheim an Tilly, ca. Jan. 1631, Hallwich, Briefe und Akten (Anm. 33), Bd. 1, 262- 266, hier 264. 89 Pappenheims Gutachten über die Generalstaaten, ca. Feb. /März 1630, Röckl, Quellenbeiträge (Anm. 32), Teil3, 20-23, hier 20 f. 90 Vgl. Kaiser, Politik und Kriegführung (Anm. 14), 134. 91 Das Gutachten taucht auch im Cgm 1938 f. 108' -110' auf (danach wird hier zitiert) und ist gedruckt bei Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), Heft 5, 109-111, und Droysen, Auftreten Pappenheims (Anm. 18), 401-403 (dort mit dem verschriebenen Adressatennamen "Kerleberg" statt korrekt Herliberg, der gebeten wurde, es an Maximilian weiterzuleiten). Eine Einordnung und eingehende Wertung des Schriftstücks bei Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 525532. 92 Vgl. dazu Kaiser, Politik und Kriegführung (Anm. 14), 384 ff. 93 Auf die hier verwandte Gleichgewichtsmetapher, deren Verständnis sich von dem sonst zumindest in späterer Zeit gängigen abhebt, daß das Gleichgewicht, der austarierte Schwebezustand der Waage also, zu erstreben und zu erhalten sei, kann an der Stelle nicht weiter eingegangen werden, vgl. allg. dazu Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Inter-

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serlich-ligistische Seite nach Pappenheims Meinung in den vergangenen Jahren versäumt, als sie ihre Vorteile im Feld nicht nutzte, um den Gegner dauerhaft zu schwächen und ihn niederzuringen. Entsprechend wird das "contrarium" empfohlen: Siege im Feld sollen konsequent ausgenutzt werden, den Gegner gilt es zu "ruiniern vnd enerviern": "So kann es entlieh nit fehlen, das Gewücht würdt disseiths alleweiH vermehrt, vf der widrigen Parthey geringert, vnd exhauriert werden, muß entlieh vor sich selbsten euanesciren, also deficiente pondere contrario die Waagschüssl des Heyl. Röm. Reichs in Jhrem fundamento ohnbewöglich vnd fridlich bestehen [wird]". Eine besondere Leistung in diesem stark durchkomponierten Gutachten, dessen klarer Gedankengang durch keine Digression verwässert wird, besteht nicht zuletzt darin, eine Definition dafür zu bieten, was eigentlich ein Sieg im Krieg bedeutet. Nach Pappenheim kann die "völlige victori" nur im Frieden bestehen; ein Schlachtensieg hingegen "non est actus Victoriae, tantum potentia ad Victoriam, tanquam medium ad suum finem". Dabei verweist Pappenheim wiederum auf seine angewandte Methode, denn das Bild der Waage zeige durch eine "mathematische ohnfelbahre demonstration" die Ursache der bisherigen vergeblichen Erfolge, und mit dem Hinweis auf die "ipsa rerum magistra experientia" leitet er zu seinen Kritikpunkten an der bisherigen Kriegführung über. Doch es ist nicht allein die empirisch gewonnene und logisch strukturierte Erkenntnis, die den Adressaten für dieses Gutachten einnehmen soll. Gleichermaßen prägend für das Gutachten ist die rhetorische Verve, wenn etwa in anaphorischer Reihung die Liste bisheriger Versäumnisse aufgezählt wird und dann dazu in scharfen begrifflichen Kontrasten die Gegenmaßnahmen empfohlen werden: "Anstatt glauben, müsthrauen. I An statt tractiren, resolut verfahren. I Anstau perdoniern, strictam justitiam adrninistriern, vnnd exempla statuiern. I [ ... ]". Es sind diese Passagen, die das Memorandum zu Pappenheims "beriichtigte[m] Gutachten" (B. Stadler) gemacht haben, eben zu einem Dokument, das durch "diese furchtbaren Grundsätze" den Verfasser selbst diskreditiert. B. Stadler hat sich bemüht, den erbarmungslosen Grundton dieser Ausführungen nicht als Ausdruck einer originär dem Verfasser zuzuschreibenden Geisteshaltung zu interpretieren, sondern als Hinweis auf die Adressaten zu verstehen (also auf Maxirnilian und sein von gegenreformatorischen Eiferern geprägtes Umfeld), die (angeblich) genau solche radikalen Vorschläge goutierten. Schließlich soll auch der Verweis auf Gustav Adolfs etwa zeitgleiche "norma futurarum actionum" die Schärfe des Pappenheimsehen Gutachtens relativieren94• Doch erscheint es mehr als fraglich, ob man dem Tenor des Gutachtens auf diese Weise wirklich gerecht wird. Man wird nicht umhin können, die hier diskutierten Ansätze als "erbarmungslos" zu klassifizieren. Das hier zutage tretende Verständnis von Krieg und Sieg läßt schlagnationale Beziehungen 1700- 1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, 4 ), Paderbom I München I Wien I Zürich 1997, bes. 11 ff. 94 Vgl. Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 527.

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lichtartig eine neue Kultur des Kriegs erkennen, die die typische alteuropäische Konfliktlösungsstrategie überwindet, die nichts von der Vernichtung des Gegners weiß und statt dessen mit ihm die Beilegung des Streits in Kompromißlösungen sucht. Nun hat Pappenheim nicht vorzeitig im frühen 17. Jahrhundert einer "Entfesselung der Bellona" das Wort geredet; die geistigen Voraussetzungen und die politisch-sozialen Rahmenbedingungen waren, als dies an der Wende zum 19. Jahrhundert stattfand, sehr viel anders95 . Wohl aber ist auch an Pappenheims Gutachten schon erkennbar, wohin der Diskurs über den Krieg steuerte und welche immense Dynamik er zu entfalten imstande war, wenn er mathematisch-empirisch konsequent durchgeführt wurde.

IV. Wenn auch nach Pappenheims Definition der Schlachtensieg nicht als eigentlicher "actus victoria" gelten konnte, sondern nur ein Mittel für die Erringung des eigentlichen Siegs darstellte, kreiste die Überlegung vieler Denkschriften doch gerade um die Frage, wie eben der konkrete militärische Erfolg im Feld zu erringen sei, konkret: Was wollte eigentlich eine "aus rechtem fundamento herfliessende[.], praemeditirte[.] kriegskunst"96? Es geht also im folgenden um Pappenheims Konzept der Kriegführung im engeren Sinne. Hierfür lassen sich aus den verschiedenen, über die Jahre hinweg konzipierten Gutachten Grundgedanken herauslesen, die für sein Verständnis von einem erfolgreich geführten Feldzug konstitutiv waren97. Entscheidend für den militärischen Erfolg war die Überlegenheit der eigenen Kräfte über die des Gegners. Das entsprechende Stichwort für diese Überlegung, das in den Gutachten inuner wieder auftauchte, war die "Conjunction", also die Zusanunenfassung aller verfügbaren Kräfte, die es beim Feind zu verhindem und bei den eigenen Truppen sicherzustellen galt98. Pappenheim beschrieb dieses komplementäre Verhältnis von Machtkonzentration auf der einen und Machtzersplitterung auf der anderen Seite wie folgt: "Die mitel irer progress aber bestehen einzig und allein in der coniunction, dan an der coniunction hengt ihr macht, und dersel95 Vgl. dazu jetzt: Johannes Kunisch/Heifried Münkler (Hrsg.), Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 110), Berlin 1999. 96 So Pappenheims eigene Bezeichnung, gegenüber Trautmansdorff arn 4. 8. 1628, Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 219. 97 Die Penetranz mancher Vorschläge war Pappenheim selbst bewußt, so gegenüber Tilly: ,,E.Ex. verzeichen mir, es ist zwar mein alts Iied!, dz ich immerdar singe, aber die raison macht rnichs so offt widtrholen", Pappenheim an Tilly, ca. Mitte Oktober 1630, Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 886-889, hier 887. 98 Dieses Stichwort ist insgesamt von zentraler Bedeutung für die Kriegführung (wohl nicht nur) der Liga, dazu Kaiser, Politik und Kriegführung (Anm. 14), 138 ff.

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ben incentrierung unser schwechung und zertrennung in die circumferenz, dardurch einer irer soldaten vor zwen und zwen der unsem vor einen, ohne schwerdtstraich, gelten gemacht werden"99• Beide Kriegsparteien müßten darauf abzielen, ihre Kräfte zu bündeln; Pappenheim stellte klar, "dz [ ... ] dem feindt und uns dz meiste, ja alleß an der coniunction [ ... ] gelegen ist" 100. Hier kam es auf Schnelligkeit an: "Wan wür aber ein corpus vor ihnen formim, und dardurch ihnen die coniunction verhindteren werden, haben wür uns weder [ ... ] ihrer coniunction oder dahero besorgender macht und starckhen angrifs an keinem orth zu befürchten"101. Die konzentrierte Macht sicherte auch die militärische Initiative. Die Kriegführung durfte "nicht nur allein zuverhindterung deß feindts progreß, sondern [mußte] auch [zu] fortsezung der eigenen" ausgericht sein; Pappenheim wollte die Feldzüge offensiv führen 102. Doch als ein Grundproblem stellte sich dabei heraus, daß viele Truppen fest in Garnisonen lagen und somit für die Verwendung in der Feldarmee ausfielen. Daher klagte Pappenheim im schwedischen Krieg, daß die Stärke des schwedischen Königs eben darin bestünde, "daß wier nit so starckh alß er zu Veld gehen können"; die Folge war, daß die kaiserlich-ligistische Armee "ad bellum defensivum" gedrängt wurde 103. Gemäß seines Grundsatzes, "das je stärkher ich im veldt bin, je mehr darff ich die guarnisonen mit volckh entblößen und mich im veldt desto stärckher machen; je schwächer ich aber im veldt bin, je weniger darff ich die guarnisonen entblößen und je stärckher mueß ich sie besetzt halten"104, schlug Pappenheim eine Neuverteilung der Garnisonen vor: Einige feste Plätze sollten Truppen abgeben, einige sollten ganz aufgegeben, manche aber auch verstärkt werden; insgesamt sollte aber ein neues "Corpus" formiert werden, mit dessen Hilfe man wieder einen größeren Handlungsraum im Feld erringen würde105. An anderer Stelle hatte Pappenheim den Charakter eines solchen "Corpus" genauer definiert: Es sollte "mit kheiner defension occupiert, sondern frey und ohne 99 Pappenheim an Tilly, ca. Mitte Oktober 1630, Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 886-889, hier 887. 100 Pappenheim an Tilly, vor 3. 10. 1630, Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 883-886, hier 884. 101 Ebd. 102 Ebd., 885. 103 Pappenheim an Tilly, ca. Januar 1631, Hallwich, Briefe und Akten (Anm. 33), Bd. 1, 262- 266, hier 264. 104 Pappenheim an Maximilian, Wolfenbüttel 14. 2. 1631, Röckl, Quellenbeiträge (Anm. 32), Teil 3, 36-39, hier 37; siehe auch Kaiser, Politik und Kriegführung (Anm. 14), 134. 105 Pappenheim an Maximilian, Wolfenbüttel 14. 2. 1631, Röckl, Quellenbeiträge (Anm. 32), Teil 3, 36-39, hier 37. Bezeichnend für seine Stringenz und seinen Überblick hatte Pappenheim als Anlage ein Verzeichnis der Iigistischen Garnisonen beigefügt, in dem er die drei Kategorien in A, B und C (Aufgabe, Schwächung und Stärkung der Garnisonstruppen) klassifiziert hatte.

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sorg zur nöthigen offension hin- und wider gebraucht werden" 106. Daß Pappenheim die Forderung nach einem solchen "corpo volante" immer wieder erhob, zeigt, wie konsequent er seine Vorstellungen von einem erfolgreichen Feldzug vorbrachte. Und bezeichnenderweise erwarb er sich, als er nach der Niederlage von Breitenfeld eben ein solches "corpo volante" für den Kriegsschauplatz im Norden des Reiches erhielt, beim Gegner den meisten Respekt107• Eng mit diesem operativen Ansatz verknüpft war die stete Forderung nach einer starken Kavallerietruppe. Doch war dies viel weniger das Bekenntnis zu einer angeblich präferierten Waffengattung, die dann für die Nachwelt in der Stilisierung zum "Reitergeneral" mündete, sondern folgte konsequent aus der Überzeugung heraus, daß der Krieg offensiv zu führen sei: Auch Pappenheim suchte die Regel des "melius praevenire quam praeveniri" zu beherzigen 108 . Falls dies nicht umzusetzen war, sollten starke Reiterverbände - Pappenheim forderte auch hier immer wieder die Konzentration der Kräfte - eine bewegliche Kriegführung ermöglichen, die auf verschiedene Bedrohungsszenarien frühzeitig (d. h. in den meisten Fällen präventiv) reagieren konnte und nicht unwesentlich zur Beherrschung strategischer Räume beitrug 109. Doch ungeachtet aller Kriegsregeln, in die viele der Vorschläge und Empfehlungen immer wieder mündeten, folgte Pappenheims Kriegführung keineswegs einem starren Schema. Vielmehr verstand er es, eine strategische Option der jeweiligen Situation gemäß zu entwickeln. Unterschiedliche Empfehlungen für die Kriegführung sind daher nicht Indizien für eine prinzipienlose Gedankenführung, sondern entsprangen dem Bemühen, ganz verschiedenen Anforderungen gerecht zu werden. So riet Pappenheim Anfang 1631 zu einem offensiven Vorgehen und konstatierte, daß "unserm statu nicht giftigers noch schedlichers, alß der Defentiv[!]- und Protractiv-Krieg ist" 110. Daß er wenige Monate später für eine hinhaltende Kriegführung plädierte, "daß nicht die Schlachten, sondern die Diversiones . . . daß rechte Mittel zur wahren victori seye" 111 , erklärt sich aus der neuen Situation nach dem Debakel von Breitenfeld, als die Möglichkeiten für ein offensives Vorgehen fehlten. Ganz aus dem Rahmen der üblichen Feldzugsplanung fiel auch sein Vorschlag, mit dem er 1626 aufwartete, um das bedrängte Linz zu befreien. Da die Stadt nur schwach befestigt war, eine geringe Besatzung hatte und die Einwohner von Linz 106 Pappenheim an Tilly, ca. Mitte Oktober 1630, Stad/er; Pappenheim (Anm. 1), 886889, hier 888. 101 Siehe oben 204. 108 Dazu mit Nachweisen Kaiser, Politik und Kriegführung (Anm. 14), 119 mit Anm. 94. 109 Dieses Denken offenbarte Pappenheim besonders in seinem Guiachten über die Markgrafschaft Baden-Durlach, ca. März 1627, Aretin, Kriegsschriften (Anm. 28), 80-84. Pappenheim bezog sich auf die gegen den Markgrafen erfolgten Präventivmaßnahmen noch Ende 1630 gegenüber Tilly, vgl. Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 886 (Nr. 9). 110 Pappenheim an Tilly, ca. Januar 1631, Hallwich, Briefe und Akten (Anm. 33), Bd. 1, 262- 266, hier 266. 111 Pappenheim an Maximilian, Bischofsheim o.d.T. 3. 11. 1631, Röckl, Quellenbeiträge (Anm. 32), Teil 3, 70.

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als wenig verläßlich eingestuft werden mußten, forderte Pappenheim einen schnellen Sukkurs durch eine starke Armee. Doch weil diese sich den Weg durch das "Land voll starker Päß, zu geschweigen der großen Anzahl Bauern so beysammen", kaum würde bahnen können, suchte Pappenheim nach einem "Mittelweg", "dadurch man diesen Difficultäten remediren und vorbauern möchte", und fand ihn in der Nutzung der Donau: Auf dem Schiffsweg sollten 5.-6.000 Soldaten und 100 Pferde nach Linz gebracht werden, ein Unternehmen, dessen Vorzug nicht zuletzt im Überraschungsmoment (im sog. "Sekret") lag 112. Ähnlich variabel wie seine operativen Entwürfe war die allgemeine thematische Vielfalt in Pappenheims Gutachten, die hier nur kurz umrissen werden kann. Er äußerte sich zu Belagerungen 113 , machte sich generell Gedanken über strategische Probleme 11 \ berücksichtigte die Kriegführung unter einschränkenden politischen Maßgaben wie der Einhaltung der Neutralität gegenüber den Generalstaaten 115 , erging sich in Reflexionen über die angemessene Strategie im allgemeinen und befaßte sich mit der Seekriegführung 116• Gerade letzteres mag erstaunen, insofern der Binnenländer Pappenheim sich zutraute, eine Waffengattung in die strategische Gesamtplanung einzubeziehen, mit der er selbst gar keine Erfahrungen gemacht hatte. Auch wenn man deswegen dem Gehalt dieser Ausführungen mit Skepsis begegnen wird, ist doch bemerkenswert, daß Pappenheim flexibel und unvoreingenommen genug war, um sich mit einem solchen Problem zu beschäftigen. Mit dieser Einstellung setzte er sich völlig von dem Verhalten ab, wie es in der politischen und militärischen Führung der Liga vorherrschte. Nur schwer mochte sich die Liga mit dem Gedanken vertraut machen, daß nun, als die eigenen Truppen die Küste erreicht hatten, auch neue militärische Herausforderungen anstanden. Bereits bei der Belagerung Stades hatte man erfahren können, wie schwierig es war, die Entsatzversuche für eine befestigte Küstenstadt von der Seeseite her abzuwehren 117• Wie sehr sich auf Seiten der Liga die Unerfahrenheit und auch die Unwilligkeit, sich mit diesen Gegebenheiten zu befassen, in krassen Fehlurteilen niederschlugen, zeigte die generelle Wahrnehmung der 112 Aretin, Kriegsschriften (Anrn. 28), Heft 1, 39-42. Pappenheim erörterte die Vorteile eines so geführten Feldzugs in einer weiteren Denkschrift: Gutachten über den Angriff auf Oberösterreich, ebd., 42-48. 113 So seine Gutachten über Frankenthai 1623 und Glückstadt und Krempe im September 1628, Röckl, Quellenbeiträge (Anrn. 32), Tei11 , 9-12, undAretin, Kriegsschriften (Anrn. 28), Heft 1, 109- 113. 114 Deutlich im Gutachten über die Markgrafschaft Baden vorn März 1627, Aretin, Kriegsschriften (Anrn. 28), Heft 1, 80 - 84. 115 Besonders im Verlauf des Jahres 1630 kam er mehrfach darauf zu sprechen, vgl. die Nachweise bei Stad/er, Pappenheim (Anm. 1), 829-831. 116 Pappenheim an Ungenannt, Gardelegen 31. 1. 1629, Documenta Bohernica (Anrn. 35), Bd. 4, 288, Nr. 734; ausführlich Stadler, Pappenheim (Anrn. 1), 305-307. ll7 Vgl. Onno Klopp, Der dreißigjährige Krieg bis zum Tode Gustav Adolfs 1632, 4 Bde., Paderborn 1891 I 93 I 95 I 96, hier Bd. 3 I 1, 76 f.

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"See- und Hansestädte". Ihnen wurde eine militärische Bedeutung und Schlagkraft zugeschrieben, die die wahre Stärke der Hanse völlig verkannte, gleichwohl aber Ausweis dafür ist, wie sehr sich die unbekannte Größe einer dem Meer zugewandten Organisation wie der Hanse in konkreten Angstszenarien vor Anschlägen der Hansestädte niederschlug 118 • Daß Tilly Anfang 1629 gegenüber Maximilian bemerkte, er halte Pappenheims Vorschlag hinsichtlich der Schiffe für "ein untuenliches werk" 119, war eine bezeichnende Reaktion für die Kriegführung der Liga insgesamt120. Überhaupt war Pappenheims Kriegskunst- sein "Handwerk" - in manchem wenig mit der Iigistischen Kriegsdoktrin vereinbar. Zwar paßte sein Offensivdrang durchaus noch zur Prämisse Tillys, des Generalleutnants der Ligaarmee, doch sobald die Defension ligistischer Gebiete vernachlässigt zu werden drohte oder die Neutralität mit den Generalstaaten gefährdet war 121 , stieß eine offensive Kriegführung auf heftigen Widerstand des Bundesoberst Maximilian von Bayern. Dieser konnte sich ebenso wenig mit den vielfachen Forderungen nach Neu- und Zuwerbungen anfreunden, die sowohl Pappenheim wie auch Tilly wünschten: Für die Liga erschienen die Mehrkosten einer Truppenvergrößerung einfach unerträglich. Doch vor dem Hintergrund der strategischen Optionen, wie sie Pappenheim vielfach entwarf, zeigt sich deutlich, wie sehr der Ruf nach mehr Soldaten nicht einfach nur die typische und zeitlose Forderung von Militärs nach noch weiteren Rü118 Die Korrespondenzen der Liga in den späten 1620er Jahren sind voll von entsprechenden Hinweisen. Hier hat sich auch der Einfluß der "Korrespondenten" niedergeschlagen, die aus Harnburg und Bremen umfassende Berichte für die Liga verfaßten und neben den Feldkorrespondenzen Tillys und anderer Kommandeure maßgeblich die zur Einschätzung Norddeutschlands relevanten Informationen beisteuerten. Vgl. als ein Beispiel dafür A. Heskel, Consilium politicum wegen der Stadt Hamburg. Eine Denkschrift des Dr. Michael von Mentzel aus dem Jahre 1628, in: Hamburger geschichtliche Beiträge, Hans Nirrnheim zum siebzigsten Geburtstag am 29. Juli 1935 dargebracht, Harnburg 1935, 40-58. Zur tatsächlichen Bedeutung der Hanse in dieser Phase knappe Hinweise zuletzt bei Heinz Duchhardt, Die Hanse und das europäische Mächtesystem des friihen 17. Jahrhunderts, in: Niedergang oder Übergang? Zur Spätzeit der Hanse im 16. und 17. Jahrhundert, hrsg. v. Antjekathrin Grassmann (Quellen und Darstellung zur hansischen Geschichte, NF 44), Köln/Weimar/Wien 1998, 11 - 24, bes. 19 f., sowie Rainer Poste/, Zur "erhaltung dem commercien und dariiber habende privilegia". Hansische Politik auf dem Westf3.lischen Friedenskongreß, in: Der Westfalische Friede. Diplomatie- politische Zäsur- kulturelles Umfeld- Rezeptionsgeschichte, hrsg.v. Heinz Duchhardt (Historische Zeitschrift, Beiheft 26), München 1998, 523-540, bes. 525 f. 119 Tilly an Maximilian, Stade 17. l. 1629, Goetz, Politik Maximilians (Anm. 34), Bd. 2,4, 228 z. 21 f. 12o Bekanntermaßen reagierte nur Wallenstein in dieser Situation ähnlich wie Pappenheim und erkannte die Notwendigkeit, sich mit dem Krieg zur See auseinanderzusetzen. Daß seine Pläne zum Aufbau einer kaiserlichen Ostseeflotte schließlich scheiterten, f3.llt nicht so sehr ins Gewicht; entscheidend ist auch hier die prinzipiell offene Einstellung Wallensteins zu diesen Problemen, vgl. Mann, Wallenstein (Anm. 3), 518 ff. 121 Zur Defension und Neutralität als den grundlegenden Koordinaten der Iigistischen Politik und Kriegführung Kaiser, Politik und Kriegführung (Anm. 14), 183-204 u. 205-235.

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stungen darstellte, sondern den operativen Zwängen Tribut zollte, die im Zuge der Militärischen Revolution für eine erfolgreiche Kriegführung mehr denn je notwendig wurden. Vor dem Hintergrund werden bei aller Wertschätzung, die Pappenheim offenkundig durch Maximilian von Bayern erfuhr, zwischen beiden grundlegende Differenzen hinsichtlich der Maximen in der Kriegführung sichtbar 122. Gleichwohl läßt sich erkennen, daß Pappenheims Kriegskunst vielleicht nicht innovativer123, wohl aber zeitgemäßer war als die tatsächlich von der Liga praktizierte 124• Pappenheim selbst war übrigens davon überzeugt, daß er in seinen Gutachten eine zutreffende Analyse und demzufolge angemessene Ratschäge gegeben habe. Mit Blick auf die Misere der kaiserlich-ligistischen Waffen forderte er Maximilian von Bayern im Herbst 1632 auf, sich noch einmal die .,vielen importunen Discurse" vorlegen zu lassen: Er werde dann sehen, .,daß ihnen weniger geglaubt worden, als sie getreu, gut und wahrhaftig gewesen sind" 125 • Schließlich darf man nicht übersehen, daß Pappenheim in seinen Ausführungen die militärische Problematik keineswegs isoliert betrachtete. Immer wieder gingen seine Erwägungen über den engen militärischen Rahmen hinaus und bezogen allgemeine politische Faktoren mit ins Kalkül ein 126• Seine Weitläufigkeit zeigte sich besonders in seiner Stellungnahme zur Belagerung Stralsunds 127 . Die Kritik, die er an Wallensteins Vorgehen übte, zielte keineswegs auf militärtechnische Details. Vielmehr stellte er fundamental das ganze Unternehmen in Frage; es handele sich dabei um .,kein proportioniete Impresa pro tanto viro [=Wallenstein; M.K.] nec pro tanto exercitu". Pappenheims Plädoyer ging dahin, die Gunst der Stunde zu nutzen, konkret sprach er von der .,occasion [ ... ],der Weldt sich zu impatroniren". Dabei ordnete er die gegenwärtige Situation in den bisherigen Kriegsverlauf ein, versäumte aber auch nicht, einen Entwurf frir die künftige Entwicklung anzuschließen: War es zunächst die Aufgabe, .,das Verlorne zu recuperiren", dann dieses .,zu conserviren" und schließlich die Macht in ganz Deutschland .,zu stabiliiren", projektierte er für die kommenden Jahre, daß .,der Adeler vber ganz Europam reuiren vndt 122 Insbesondere ist hierbei an die vielleicht überzogen dargestellte, aber im Kern sehr einleuchtende ,,Doktrin der kleinen Armee" zu denken, vgl. Stadler, Pappenheim (Anm. 1), 311 ff., 536 u. öfter. 123 Auf das innovative Potential Pappenheims gerade auch im taktischen Bereich weist Stadler, Pappenheim (Anm. 1), 218, hin. So experimentierte er beispielsweise mit dem Schießen in Salven (ebd.) und besaß auch besonderes artilleristisches Können, ebd., 265. 124 Dabei wird die Iigistische Kriegführung unter Tilly nicht als derart antiquiert abgetan werden dürfen, wie es lange Zeit geschehen ist, vgl. dazu jetzt Kaiser, Politik und Kriegführung (Anm. 14), 105-151. 12s Pappenheim an Maximilian, 11. 10. 1632, Klopp, Dreißigjähriger Krieg (Anm. 117), Bd. 3/2,785. 126 Dies gilt allgemein für die Gutachten, die das Verhältnis zu den Generalstaaten tangieren, besonders aber für das Memorial zum Mantuanischen Erbfolgekrieg, vgl. Stadler, Pappenheim (Anm. 1), 829. 127 Pappenheim an Aldringen, 1. 7. 1628, Hallwich, FünfBücher (Anm. 33), Bd. 3, 386388.

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die alte federen wider zusamben samblen lassen [sollte]"; "vf die vbrige Jahr- wird sich das plus ultra [ ... ] schon fein selbsten schickhen". Selten ist derart offen in dieser Zeit die politische Zielvorstellung einer Monarchia UniversaUs formuliert worden 128, und es bleibt an dem Punkt die schwierige Frage zu beantworten, inwieweit Pappenheim tatsächlich solchen Vorstellungen anhing oder wie in Fragen der Gegenreformation er auch in diesem Fall glaubte, mit derartigen Gedanken bei den Adressaten auf besonders geneigte Ohren zu stoßen. Unabhängig davon bleibt aber zu konstatieren, wie sehr Pappenheim die Kriegführung nicht als l'art pour l'art ansah, sondern sie in den Dienst einer politischen Konzeption stellen wollte. Dies zeigte sich bei dem von ihm oftmals diskutierten Teilproblem des Verhältnisses des Reiches zu den Generalstaaten und auch bei der Kriegszieldiskussion von imperialem Ausmaß- jedenfalls lassen Pappenheims Gutachten deutlich erkennen, daß für ihn eine Bezeichnung als "Nur-Soldat" in keiner Weise zutrifft 129•

V. "Sed vincere sciebat Hanibal", kommentierte Pappenheim bitter im Frühsommer 1631 die unerquickliche Lage der kaiserlich-ligistischen Truppen 130, als politische Erwägungen verhinderten, den Vorteil der Eroberung Magdeburgs militärisch weiterzuverfolgen. Wie man den Sieg erringen konnte, stellte den Fluchtpunkt von Pappenheims Überlegungen dar. Dabei entsprach es mitnichten seiner Überzeugung, daß, wie es Tilly einmal formuliert haben soll, der Krieg ein Spiel sei, in dem man einmal gewinne und einmal verliere 131 • Pappenheim war vielmehr um 128 Grundsätzlich dazu Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit, Göttingen 1988, und mit engerem Bezug zum Dreißigjährigen Krieg ders., Die Habsburger und die Entstehung des Dreißigjährigen Krieges. Die ,,Monarchia Universalis", in: Krieg und Politik 1618-1648. Europäische Probleme und Perspektiven, hrsg. v. Konrad Repgen, München 1988, 151 - 168. 129 Der Begriff bei Mann, Wallenstein (Anm. 3), 628, bezogen auf Tilly als Prototyp eines sich auf den militärischen Sektor allein beschränkenden Militärs. Relativierend wird man hinzufügen müssen, daß gerade im Fall Tillys keine entsprechenden schriftlichen Quellen überkommen sind, die Einblicke in eine zweifellos vorhandene politische Überzeugung geben könnten; vgl. dazu Kaiser, Politik und Kriegführung (Anrn. 14), 14. 130 Pappc:nheim an Maximilian am 2. 7. 1631, Cgm 1938 f. 107', das Zitat spielt auf die klassische Äußerung des Maharbal gegenüber Hannibal an, als dieser nach Cannae den Sieg nicht nutzte, um durch einen Vorstoß auf Rom den Krieg zu entscheiden: "Vincere scis, Hannibal, victoria uti nescis", bei Livius 22,51,4. Wie geläufig Pappenheim diese Klassikerwendung war, zeigte sich daran, daß er sie am 3. 11. 1631 gegenüber Maximilian nochmals verwendete, Stadler, Pappenheim (Anrn. 1), 547 mit Anm. 126, komplett gedruckt bei Röckl, Quellenbeiträge (Anrn. 32), Teil 3, 68-71, hier 70.- Zur strategischen Gesamtsituation im Frühsommer 1631 Kaiser, Politik und Kriegführung (Anrn. 14), 384 ff. 131 Den Ausspruch soll Tilly auf dem Regensburger Kurfürstentag 1630 getan haben, als ihm für den anstehenden Feldzug gegen Gustav Adolf das Kommando auch über die kaiserlichen Truppen übertragen worden war; das Diktum ist überliefert bei Franz Christoph Khevenhüller, Annales Ferdinandei oder wahrhaffte Beschreibung Kaysers Ferdinandi des

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eine planbare und rationale Kriegführung bemüht, die auf empirischen Grundlagen fußte. Und in diesem Streben gehört er durchaus zu den Schrittmachern einer Verwissenschaftlichung des Krieges, die im frühen 17. Jahrhundert noch in den Anfangen steckte, bevor sie im 18. Jahrhundert dann eine bis dato nicht gekannte Blüte erlebte 132. Pappenheim als einen zweiten Montecuccoli zu bezeichnen, ist dabei wohl zu hoch gegriffen. Denn auch wenn das Talent zu einem militärtheoretischen Schriftsteller in ihm durchaus erkennbar ist, muß diese Annahme - nicht zuletzt durch seinen frühen Tod bei Lützen - ein ungedeckter Wechsel in der historischen Interpretation bleiben. In anderer Hinsicht ist die in die Zukunft weisende Bedeutung der Denkschriften Pappenheims über das Kriegswesen unzweifelhaft. So läßt sich für die Dezennien nach dem Dreißigjährigen Krieg und auch hier besonders im 18. Jahrhundert vielfach beobachten, daß den Militärs gerade auch hoher und höchster Ränge die Reflexion über das eigene Tun - was zur Zeit Pappenheims vielleicht nicht die Ausnahme, aber doch selten genug war 133 - immer selbstverständlicher wurde 134• Aus der Fülle der Beispiele 135 sei hier als besonders prominentes Exempel Friedrich der Große herausgehoben, der viele seiner Essays im Feldlager schrieb, durchaus Andem ... , Eilffter Theil [=1628-1631], Leipzig 1726, Sp. 1289, und oft wieder aufgenommen, so bei Johann Baptist Mehler; General Tilly, der Siegreiche, 2., verm. Auf!., München 1914, 85. 132 Dazu allgemein Daniel Hohrath/Klaus Geneis (Hrsg.), Die Kriegskunst im Lichte der Vernunft. Militär und Aufklärung im 18. Jahrhundert, Teile I u. II (= Aufklärung, 1112 u. 1211), Harnburg 199912000, insbesondere der umfassende Beitrag von Daniel Hohrath, Spätbarocke Kriegspraxis und aufgeklärte Kriegswissenschaften. Neue Forschungen und Perspektiven zu Krieg und Militär im ,,zeitalter der Aufklärung", in: Aufklärung 1211 (2000), 5-47. 133 Für die Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg dürfte der Befund noch geringer ausfallen, wie die Angaben bei Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften (Anm. 59), 447 ff., und Pohler; Bibliotheca historico-rnilitaris (Anm. 59), Bd. 1, 354-390, vermuten lassen; vgl. zur Situation im 16. Jh. jüngst auch Reiner Leng, der an der Universität Würzburg der Forschergruppe ,,Das Bild des Krieges im Wandel vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit" angehört und am Teilprojekt 5 "Kriegstechnische Traktate und Bilderhandschriften" beteiligt ist. Lengs Arbeiten sind teilweise in Vortragsform im Internet unter http://www.uni-wuerzburg. e I kriegsbild I fg5.htm abrufbar. Eine exzeptionelle Erscheinung unter den (schreibenden) Militärs des 16. Jhs. stellt zweifelsohne Lazarus von Schwendi dar, zu ihm Thomas Nicklas, Um Macht und Einheit des Reiches. Konzeption und Wirklichkeit der Politik bei Lazarus von Schwendi (1522-1583) (Historische Studien, 442), Husum 1995. 134 Vgl. dazu anhand der Österreichischen Armee Eric A. Lund, War for the every day. Generals, Knowledge and Warfare in Early Modem Europe, 1680-1740 (Contributions in Military Studies, 181), Westport, Conn.l London 1999, der zunächst auf die vielfältigen allgemeinen und theoretischen Kenntnisse der Offiziere hinweist, die in der Kriegspraxis notwendig waren, aber deren theoretische Reflexionen auch in den Zusammenhang der Karriereplanung stellt, vgl. insbes. Kap. 4 "Adrninistering War in an Age of Reason: Staff Generals Through 1740", 139 ff.; beispielhaft stellt Lund dazu noch Feldmarschall Ludwig Andreas Graf Khevenhüller vor, 167 ff. 135 Den besten Überblick bietet dazu immer noch Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften (Anm. 59), bes. das 6. und 7. Buch für die Phase zwischen 1648 und 1740.

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als Versuch zur Selbstvergewisserung und als Mittel, die eigene militärische Situation zu reflektieren und aus ihr gültige Schlüsse für die Kriegführung allgemein zu gewinnen 136• Nach wie vor eine große Rolle spielte das karrieretaktische Kalkül, das die Militärs veranlaßte, zur Feder zu greifen. Bekanntermaßen verfaßte der auf österreichischer Seite im Siebenjährigen Krieg kämpfende Loudon, wie andere Kommandeure auch, gerade im Winter, wenn die Kämpfe ruhten, Memorials über künftige Operationen - nicht zuletzt auch, um mit militärischen Reflexionen in der Wiener Hofburg auf sich als besonders kriegsverständigen Feldherrn aufmerksam zu machen 137• Schamhorst weist dagegen schon aus dem Ancien Regime hinaus, doch ist sein Beispiel vielleicht das schlagendste, um den Typus von Militär zu kennzeichnen, der seinen Aufstieg nicht über gewonnene Schlachten, sondern über eine kriegswissenschaftliche Tatigkeit befördert hat138 . Karriere über die Teilnahme am Kriegsdiskurs - dieses Schlagwort sollte zweifelsohne für die militärischen Eliten in der anbrechenden Moderne eine feste Größe werden 139. Für Pappenheim reicht dies nicht aus, um seine Leistung, die eben auch in der Kriegspraxis gründete, ganz zu würdigen. Doch indem er am zeitgenössischen Diskurs über den Krieg anknüpfte und diese Beschäftigung zielgerichtet für seine eigene Karriere einsetzte, erweist sich Pappenheim, der zweifelsohne in vielem ein Mensch der alteuropäischen Gesellschaft war, in wichtigen Punkten als ein Militär, dessen Handeln und Denken den Weg in die Moderne weist. 136 Vgl. Johannes Kunisch (Hrsg.), Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg (Bibliothek der Geschichte und Politik, 9), Frankfurt a.M. 1996, wo exemplarisch die Traktate über die Taktik und über Karl Xß. von Schweden vorgestellt werden. Zur Einordnung dieser Texte vgl. ebd. die Einleitungen 942-947 u. 951-962. 137 Zu Loudon vgl. Johannes Kunisch, Ernst Gideon Frhr. von Loudon, in: NDB, Bd. 13, Berlin 1982, 700 ff., und ders., Feldmarschall Loudon oder das Soldatenglück, jetzt in: ders., Fürst - Gesellschaft - Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaats, Köln I Weimar I Wien 1992, 107- 129. 138 Zu Schamhorst vgl. Michael Silwra, Zwischen Liberalismus und Militarismus: Gesichter Schamhorsts 1813- 1918, in: Gerhard von Schamhorst. Vom Wesen und Wirken der preußischen Heeresreform. Ein Tagungsband, hrsg. v. Eckardt Opitz (Schriftemeihe des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit e.V., 12), Bremen 1998,94-132, und ders., Schamhorst und die militärische Revolution, in: Kunisch I Münkler, Die Wiedergeburt des Krieges (Anm. 95), 153-183.- Eine Edition der Schriften Schamhorsts unter der Leitung von Johannes Kunisch ist auf dem Weg, erschienen ist jüngst: Gerhard von Schamhorst, Private und dienstliche Schriften, hrsg. v. Johannes Kunisch, bearb. v. Michael Silwra/Tilman Stieve, Bd. 1: Schüler, Lehrer, Kriegsteilnehmer (Kurhannover bis 1795), Köln 2001. 139 Zum Kriegsdiskurs und zur Kriegswissenschaft im 19. Jahrhundert vgl. Reinhard Stumpf (Hrsg.), Kriegstheorie und Kriegsgeschichte. Carl von Clausewitz. Helmuth von Moltke (Bibliothek deutscher Klassiker, 87 /Bibliothek der Geschichte und Politik, 23), Frankfurt a.M. 1993, der mit Clausewitz und Moltke zwei herausragende Persönlichkeiten in ihrer Einzigartigkeit vorstellt, ohne sie weiter in den damaligen Kontext der Kriegswissenschaft einzuordnen. Zur Entwicklung des kriegswissenschaftlichen Diskurses vom 18. bis ins 19. Jahrhundert, freilich von einer ganz anderen Warte, knapp Daniel Hohrath, Prolegomena zu einer Geschichte des Kriegsspiels, in: ,,Das Wichtigste ist der Mensch". Festschrift für Klaus Gerteis zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Angela Giebmeyer/Helga Schnabel-Schüle, Mainz 2000, 139-152.

Wiener Argumente gegen ein Verbot der Römischen Königswahl zu Lebzeiten des Kaisers durch die Westnilischen Friedensverträge (Juli/ August 1645) Von Konrad Repgen, Bonn

I. Die Westfeilischen Friedensverträge mit Frankreich und Schweden haben nicht alle anhängigen Streitfragen geklärt, sondern Einiges, weil derzeit kein Konsens erreichbar schien, einer späteren Regelung vorbehalten 1. Ein Teil dieser unerledigten Angelegenheiten wurde dem künftigen Reichstag überwiesen: in IPM § 64 = IPO VIII, 3 steht der diesbezügliche Katalog mit elf stichwortartig formulierten Problemen2 - darunter Erblasten, die seit langer Zeit unerledigt von Reichstag zu Reichstag fortgeschleppt worden waren3 • Verschiebung auf den künftigen Reichstag konnte also durchaus die Vertagung ad katendas graecas bedeuten, mußte aber keineswegs allein diese Folge haben. Es mochte unter anderen Umständen auch wieder Anknüpfungspunkt für erneute Aktualisierung des Themas werden. Die Zukunft blieb offen. Unter den negotia remissa der Verträge steht an erster Stelle das Wahlrecht für den Römischen König4 , doch war keine Vorentscheidung über die Richtung der künftigen Verfassungsnovelle getroffen worden. Im politischen Klartext bedeutete 1 Beispielsweise die endgültige Klärung der jülich-klevischen Erbfolge: IV, 57 IPO = § 46IPM. 2 (1) Römische Königswahl; (2) beständige Wahlkapitulation; (3) Erweiterung der Bestimmungen über das Achtverfahren gegen einen Reichsstand; (4) Redintegration der Reichskreise; (5) Überarbeitung der Reichsmatrikel; (6) Verringerung der Zahl der exempten Reichsstände; (7) Überarbeitung und Senkung der Reichssteuern; (8) Reform der Reichsjustiz; (9) Gerichtskosten beim Reichskarnmergericht; (10) Reichsdeputationsordnung; (11) Direktorium der Reichskollegien. 3 Vgl. Anton Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg: Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden, Mainz 1991, 35 -46. 4 VIII, 3 IPO = § 64 IPM, Satz 2 (APW III B 1 I 1, 131 und 20): In proximis vero comitiis emendentur inprimis anteriorum conventuum defectus, ac tum quoque de electionen Romanorum rege, ... Zum Kontinuitätsproblem der frühneuzeitlichen Wahlmonarchie vgl. Helmut Neuhaus, Die Römische Königswahl vivente imperatore in der Neuzeit, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur friihneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin 1997, 1-53.

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dies: Bis zu einer Neuregelung gilt das Königswahlrecht der Goldenen Bulle von 1356 weiter. Sie enthielt keinerlei positive Bestimmungen über die Neuwahl eines nächsten Kaisers vivente imperatore, ohne eine solche Sukzession ausdrücklich oder indirekt zu verbieten. War somit die Nachfolgerwahl zu Lebzeiten des Kaisers untersagt oder erlaubt5 ? Eine Entscheidung dieser Frage war zwar durch den Kaadener Frieden (29. Juni 1534) im Zusammenhang des kursächsischen Widerspruchs gegen die Römische Königswahl Ferdinands I. vom 5. Januar 1531 einmal den Kurfürsten übertragen worden6 . Sie haben aber zu keinerneuen VerfassungsRegelung gefunden. Kursachsen lenkte schließlich ein und anerkannte 1544 Ferdinand I. als Römischen König7 • So blieb es bei der schon im 14. Jahrhundert8 realis Dieses theoretische Problern war vor dem Westfalischen Frieden nicht aktuell. Die reichsrechtlichen Enzyklopädien behandelten es daher nicht: vgl. Paul Matthias Wehner, Practicarurnjuris ... liber singularis ct1608), ed. Johannes Schilter, Straßburg 1735, 505 f., s. v. Wahltag; Christoph Besold, Thesaurus practicus (1629) ed. Christoph Ludwig Dietherr, Nürnberg: Johannes Andreas Endter & Erben Wolfgang jr. Endter 1666, 845, s.v. Römischer König; Johann Jakob Speidel, Sylloge variarum quaestionurn ct1629), ed. Jakob David Möglin, II, Nürnberg: Joh. Andreas Endter Erben 1728, 9-14, s.v. Imperium; Johann Jakob Speidei, Speculurn juridico-politico-philologico historieuro ( 11634), Nürnberg: Wolfgang jr. & Johann Andreas Endter 1657, 715- 727, s. v. König I Römischer König. 6 •• •Ferrer ist auch beredt und vertragen, das der churfürst zu Sachsen sampt seinen mitveiWandten den Römischen kunig wie andere churfürsten, forsten und stände für einen Römischen kunig erkennen, Seiner Majestat den titel geben und von der disputation der wahlsachen abstehen und die fallen lassen soll und will, ... Dargegen hat die Königliche Maiestar bewilligt bey der Kayserlichen Maiestat zu erlangen und ires tayls bey den churfürsten hierzwüschen und ostem nehstkommend zu sollicitiren, das diese nachvolgende artickel bewilligt und darauf durch die Kayserliche Maiestar bey der gutden bullen confirmirt und dieselbige damit ercleret und verbriever werde. Nemlich das kunftiglich, wann bey leben eins Römischen kaysers oder kunigs ein Römischer kunig soll eiWehlet werden, alle churfürsten zuvom zusampne beschayden werden, davon zu reden, ob ursach gnugsam vorhanden und dem Reich vertreglich sey, ein Römischen kunig bey leben eins kaysers oder kunigs zu eiWehlen. Und wann sie sich des veraynigt, das alsdann und nit ehr die churfürsten vermöge und inhalt der gulden bullen sollen zu koniglicher wahl erfordert und zur wahl geschritten und derselben bullen unveruklich in allem nachgegangen werden ... Im fall aber, das solche obgemelte artickel zwüschen angetzeigter zeitdurch den merhem tayl der churfürsten nit bewilligt noch beslossen und die Kayserliche Maiestar zugelassen, bestetigt und verbriever worden, so soll dann der churfürst zu Sachsen sampt seinen mitveiWanten des kunigs der wahl und titels halber widerumb freystehen und ihm sein recht vorbehalten sein, sich auch die Konigliche Maiestar in keinerley weise in noch auserhalb rechtens des falles damit zu behelfen haben ... Wie es auch der personen halber, die zu Romischen kunigen zu eiWehlen . .. , auch ob zwene, drey oder mehr Romische kunige aus einem hause nacheynander mogen eiWehlet werden, darumb sollen sich die churfursten inwendig vorbestimpter zeitvergleichen und veraynigen und solchs in irer veraynigung verordent werden . .. (Eugen Schneider, Ausgewählte Urkunden zur Württernbergischen Geschichte, Stuttgart 1911, 95-106, hier 98 f.). Zur Sache vgl. Alfred Kohler, Antihabsburgische Politik in der Epoche Karls V., Göttingen 1982, 358-371; zu den Folgen Axel Gotthard, Säulen des Reiches, 2 Bde., Husurn 1999, passim, besonders 188, Anrn. 26, und 626-646. 7 Vgl. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Kar! V., Bd. 15: Der Speyrer Reichstag von 1544, Tei14, bearb. v. EIWein Eltz, Göttingen 2001, Nr. 540, 2180 f. s Wahl Wenzels 1376.

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sierten Interpretation, daß die Rechtslage von 1356 die Wahl vivente imperatore gestatte. Und daran hat sich bekanntlich bis zum Ende des Alten Reiches nichts mehr geändert. Die Kurfürsten konnten 1653, 1690 und 1764 den ältesten Sohn des regierenden Kaisers zum Römischen König wählen, ohne den Vorwurf einer Verletzung der Reichsverfassung befürchten zu müssen. Das hat die Österreichischen Sukzessionen im Kaisertum über 1648 hinaus nicht erst ermöglicht, wohl aber erleichtert. Das Alte Reich blieb bis zu seinem Ende einerseits eine Wahlmonarchie, andererseits war das Kaisertum (abgesehen von dem wittelsbachischen Zwischenspiel 1742 -1745) seit 1438 Habsburgs Domäne9 . II.

Für den Verlauf der Kongreßverhandlungen über das Römische Königswahlrecht vivente imperatore ist von Fritz Dickmann auszugehen 10: Nicht die Reichsstände, sondern die ausländischen Kronen Frankreich und Schweden (und zwaranscheinend - ohne internen Hinweis oder Anstoß von reichsfürstlicher Seite 11 ) hatten das politisch und rechtlich hochbrisante Thema Königswahl vivente imperatore mit ihren Propositionen vom 11. Juni 1645 in die Verhandlungen eingebracht. Dabei formulierten sie ihre Ziele unterschiedlich. Die Schweden verlangten (als Punkt 5 ihres Katalogs), daß jede Kaiserwahl nisi vacante lmperio verboten würde12. Sie haben diese Forderung 1646 modifiziert und die Möglichkeit einer Neuwahl vivente imperatore mit einem vorgängigen Votum des Reichstags junktimiert. Das hatte der größere Teil der protestantischen Reichsstände gefordert 13 . Die schwedischen Vertragsentwürfe vom Juli 1646 und April 1647 entsprechen diesem Petitum 14, jedoch haben die Schweden am 17. Mai 1647 dem kaiserlichen GegenGotthard (Anm. 6), Bd. 2, 593-652. Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden (1959), Münster 7 1998, vor allem 153-156, 325-329. Eine klare Darstellung nach dem Forschungsstand der Mitte des 18. Jahrhunderts Christian Gottlieb Buder, Repertorium Reale Pragmaticvm Ivris Pvblici Et Fevdalis Imperii Romano-Germanici, Jena: Christian Heinrich Cuno 1751, 628-639, s.v. König, Römischer. Friiher und ausführlicher, aber weniger übersichtlich: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexikon, Bd. 15, Halle/Leipzig 1737, 1240-1283, s. v. König (Römischer). n In dem Themenkatalog Hessen-Kassels (vgl. Dickmann, Westfälischer Frieden [Anm. 10], 542, Anm. zu 180, 181) findet sich kein Stichwort Römische Königswahl vivente imperatore. Sehr denkbar wäre ein interner Vorstoß des braunschweigisch-lüneburgischen Gesandten Jakob Larnpadius; in den schwedischen und den französischen Akten läßt sich jedoch kein einschlägiger Hinweis finden. 12 •• •haec potissimum requiruntur: ut, si rex Romanorum eligendus sit, non eligatur, nisi vacante lmperio (Johann Gottfried von Meiern, Acta Pacis Westphalicae Publica, Bd. I, Hannover 1734, 437). 13 APW III A 3 I 3, Münster 2001, Nr. 103 (15. Februar 1646). 14 1646 [VII 9] (Reichsarchiv Stockholm, DG 7 fol. 1218' I 1219): .. .cum universalia /mperii comitia iudicaverint ex usu reipublicae fore, ut imperatore vivo Romanorum rex eligatur, libera sit electoribus eligendi potestas; cum [vero] electionem regis non necessariam 9

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vorschlag einer Verschiebung des Themas Römisches Königswahlrecht auf den künftigen Reichstag zugestimmt 15 • Offensichtlich gehörte diese Frage für sie zur Manövriermasse der Verhandlungen und hatte seine Bedeutung eingebüßt. Infolgedessen enthält das Trauttmansdorff-Projekt für den Vertrag mit Schweden (13. Juni 1647) bereits die Vertagungs-Formel in der Fassung von 1648 16. Hingegen bewahren die entsprechenden Klauseln in Trauttmansdorffs gleichzeitigen Vertragsentwürfen für den Frieden mit Frankreich (12. Juni 1647) noch die frühere kaiserliche Position vom September 1645, die nicht über eine erneute Bindung an strikte Einhaltung der Bestimmungen der Goldenen Bulle von 1356 hinausgehen wollte 17 . Die Franzosen, deren fertige Vertragsentwürfe erst am 19. und 20. Juli 1647 publiziert wurden, haben die Vertagungs-Klausel des Trauttmansdorffianums für Schweden übernommen 18• Daran hat später niemand mehr gerüttelt. Seit Mitte Mai 1647 stand eine friedensvertragliche Änderung (oder Klärung) des Verfassungsrechts für die Römische Königswahl vivente imperatore nicht mehr auf der Tagesordnung des Kongresses. Für Wien war dies kein geringer politischer Erfolg 19• Vor allem hatte Frankreich sein ausdrückliches Ziel, durch vertragliche Reglementierung der Römischen Königswahl eine künftige habsburgische Sukzession im Kaisertum zu verhindern, zurückgenommen. Dies war angesichts des Unwillens der Reichsstände nicht realisierbar. Schon Richelieu hatte mit seinen Sondierungen, die Kaiserwürde dem bayerischen Wittelsbacher zuzufadeln, wenig erreicht20• Der französische Protest duxerint, non eligatur nisi post fata imperatoris successor. Ebenso 1647 IV 1 (Meiern [Anm. 12], Bd. V, 1735, 464) und 1647 IV 24 (UB Gießen, Hs. 209, S. 633). 15 Lamberg, Volmar und Krane an Trauttmansdorff, Osnabrück, 1647 V 18 (demnächst in: APW II A 6 Nr. 107 Beil. E). 16 Meiern (Anm. 12), Bd. IV, 1735,577. 17 Entwurfmit Erwähnung des Papstes (Meiern [Anm. 12], Bd. V, 133): ... conventum est, quod omnes ... consuetudines ..., constitutiones et Ieges fundamentales, et speciatim contenta bullae aureae citra contraventionem . .. faciendam, et ante omnia in eo, quod ad electionem imperatorum seu regum Romanorum spectat, religiose observabuntur . . . Den Entwurf ohne Erwähnung des Papstes nahm der Mediator Contarini entgegen, übersandte den Text aber nicht nach Venedig. Er scheint auch in den kaiserlichen und französischen Akten zu fehlen. Die Überlieferung der abweichenden Präambel in Reichsarchiv Stockholm, DG 6 fol. 980/980'. Die Römische Königswahlsrechts-Klausel des Trauttmansdorffianismus für Frankreich übernimmt die Formel der Entwürfe Volmars vom 27. April1646 (Carl Wilhelm Gärtner; Westratische Friedens-Cantzley, IX, Leipzig 1738, 505-524, hier 513 f.) und vom 6. Dezember 1646 (nach Rom durch Chigi übersandte Kopie: Vat. Geheim-Archiv, Nunz. Paci 19 fol. 783-793', hier 786 f.). 18 Den Text der beiden französischen Entwürfe (mit und ohne Erwähnung des Papstes) haben Nassau, Lamberg, Volmar und Krane am 23. Juli dem Kaiser eingesandt: demnächst in: APW II A 6 Nr. 185, Beilagen [I] und [2]. 19 Er wird aber in der ,,Erfolgbilanz" des Trauttmansdorffschen Rechenschaftsberichts vom 2. Februar 1649 (APW I 1, 453 -457) nicht erwähnt. Vgl. auch das Urteil Rupperts, Die kaiserliche Politik (Anm. 38), 116. 20 Vgl. Dieter Albrecht, Maximilian I. von Bayern, 1573-1651, München 1998, 659 ff., 719-730.

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gegen die Römische Königswahl von 1636 war nicht mit prinzipiellem Widerspruch gegen das Wahlen vivente imperatore begründet worden21 . Ein solches Kriegsziel stand auch nicht in den Instruktionen von Anfang 1637 oder September 1643 22. Daß Frankreich die Römische Königswahl von 1636 selbst in den Harnburger Präliminarverträgen von 1641 nur indirekt anerkannt hatte23 , war doch etwas Anderes, als nunmehr expressis verbis eine Novelle des Römischen Königswahlrechts zu verlangen. Ebendies aber stand im Artikel 9 des französischen Friedensvorschlags vom 11. Juni 164524 . Er forderte nicht allein generell, wie Schweden, daß das Wahlrecht novelliert werden müsse, sondern fügte diesem Postulat eine politische Begründung zu: Ohne eine solche Verfassungsbestimmung könne die Kaiserwürde unter Ausschluß der anderen Fürstenhäuser einem einzigen Geschlecht vorbehalten bleiben, und somit werde das Wahlrecht der Kurfürsten beseitigt25. Das zielte auf die alte Tradition der Wahlen Römischer Könige aus dem Hause Österreich vivente imperatore in den Jahren 1486, 1531, 1562, 1575 und 163626. Diesen französischen Angriff auf die künftige Stellung des Hauses Habsburg im Reich parierte die kaiserliche Responsion vom 25. September 164527 sehr geschickt. Sie unterstrich erstens die ungeteilte Zustimmung des Kaisers zur uneingeschränkten Geltung der geschriebenen wie der ungeschriebenen Teile der Reichsverfassung. Danach aber führte sie zweitens aus, daß die Forderung nach einem Verbot der Römischen Königswahl zu Lebzeiten des Kaisers sehr (magis) im Widerspruch zum bisherigen Reichsrecht stünde und außerdem die (Wahl-)Freiheit der Kurfürsten einschränke, wie diese als die kompetenten Fachleute für dieses 21 Vgl. etwa Anja Victorine Hartmann, Von Regensburg nach Hamburg, Münster 1998, 342-344. 22 Vgl. APW I I, 49, 55, 138. 23 Hartmann, Von Regensburg (wie Anm. 21), 490 ff. 24 Dazu nunmehr Anuschka Tischer, Französische Diplomatie und Diplomaten auf dem Westfälischen Friedenskongreß, Münster 1999, 227 -237; 228, Anm. 58, Nachweis der Billigung des Textes am 30. Mai 1646 durch die Pariser Regierung, die an der Römischen Königswahlrechts-Formulierung nichts auszusetzen fand. 25 Meiern (Anm. 12), Bd. I, 444 (Punkt 9). Der Text hieß im ersten Entwurf: Que toutes les ... coustumes ... , constitutions et loixfondamentales .. . seront religieusement observees, et particulierement . . . Ia bulle d'or . . . Et surtout en ce qui regarde l'election des empereurs, .. .sans qu'on puisse jamais procider ii: l'eslection d'un roy des Romains pendant Ia vie des empereurs. Vom zweiten Entwurf an wurde hinzugefügt: attendu que c'est un moyen de perpetuer Ia dignite impirialle dans une seule famille, en esclurre tous [es autres princes et aneantir le droict des eslecteurs ((Paris, AE, Corr. pol., All. 51 fol. 235/239 und All. 46 fol. 440 /442). Die vier Entstehungstufen der franzöischen Proposition sind nachgewiesen von Franz Bosbach in: APW II B 2, 343, Anm. 15. 26 Die Wahl Maximilians I. im Jahre 1486 erzwangen die Kurfürsten allerdings gegen den Willen des Kaisers, und nur Tod Rudolfs II. verhinderte, daß sich das gleiche 1612 wiederholte. 27 Text des dem Vermittler Chigi übergebenen Exemplars in Vat. Bibi., Chig. Q-III-58 fol. 153/158', hier 157.

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Thema noch besser erklären könnten. Der Kaiser interpretierte also das geforderte Verbot einer Römischen Königswahl vivente imperatore nicht als Angriff auf das Kaiserhaus, sondern als Begrenzung der kurfürstlichen Entscheidungsfreiheit, und er spielte die Rechtsfrage nach der Verfassungskonformität der bisherigen, einem solchen Verbot widersprechenden Praxis dem Kurkolleg zu. Es nützte den französischen Unterhändlern wenig, daß ihre Replik vom 7. Januar 1646 die Unterstellung eines absichtsvollen Eingriffs in die kurfürstlichen Privilegien von sich wies28 : Es gehe allein um die rechtliche Verhinderung einer Umgestaltung des Reichs aus einer Wahl- in eine Erbmonarchie. Dieses Ziel müsse nicht unbedingt durch ein Verbot der Königswahl vivente imperatore erzwungen werden, sondern lasse sich auch durch eine Verfassungsänderung erreichen, wonach in Zukunft der Römische König nicht mehr aus dem Geschlecht des jeweils regierenden Kaisers gewählt werden dürfe. Auf diese künstliche Konstruktion29 wollten sich die Kaiserlichen wie die Reichsstände nicht einlassen. Die beiden münsterischen Vertragsentwürfe Volmars vom 27. April und 6. Dezember 1646 formulierten daher ebenso wie das Trauttmansdorffianum vom 12. Juni 1647 für den Frieden mit Frankreich nur die fortdauernde Geltung der Goldenen Bulle von 1356: [inviolabiliter custodientur] omnes consuetudines, ... constitutiones et Ieges fundamentales, et speciatim contenta bullae aureae ... , et ante omnia in eo, quod ad electionem imperatorum seu regum Romanorum spectat30• Politisch gesprochen: Die derzeitigen Verfassungsbestimmungen des Reichs über die Römische Königswahl genügen vollauf, es bedarf keiner Änderung des Neuwahlrechts vivente imperatore. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte, wie erwähnt, die Kaiserlichen am 17. Mai 1647 in Osnabriick mit Schweden die elegantere Lösung einer Vertagung der Problemlösung (wahrscheinlich ad kaiendas graecas) durch Verschiebung des Themas auf den künftigen Reichstag erreicht, wofür schon 1646 Kurbrandenburg durch seinen pommerseben Vertreter im Osnabriicker Fürstenrat votiert hatte31 • Dieser Klausel hat sich nunmehr auch Frankreich angepaßt.

28 Ad art. 9: Declararunt non fuisse eorum intentionem praeiudicare libertati electorum, sed id tantum assequi iuxta lmperii Ieges, ne Imperium ftat haereditarium. Huic (ncommodo obviam iri posse et plenioremfore electorum libertatem, si qui inposterum videbuntur eligendi reges Romanorum, desumi non possint ex familia imperatorum regnantium (Meiern [Anm. 12], Bd. li, 201 f.). 29 Sie stand aber im Kaadener Frieden von 1534: vgl. oben Anm. 6. Von kurbayerischer Seite wurde beim Westfälischen Frieden im April 1647 einmal ins Gespräch gebracht, nach vollzogenem Frieden (gemeint ist wohl nach dem Tode Ferdinands III.) zwischen einem Kaiser aus dem bourbonischen und habsburgischen Hause abzuwechseln. V gl. demnächst in APW li B 5/2 Nr. 227 und 267. 30 Vgl. oben Anm. 17. 31 APW III A 3/3, 142 f. (15. Februar 1646); vgl. auch sein Votum am 9. Februar (ebd., 87 f.).

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III.

Die Verschiebung nicht nur dieses Themas, sondern aller Reichsverfassungsfragen32 vom Friedenskongreß auf den Reichstag war der erste Gedanke des Reichshofrats gewesen, als ihm die Propositionen der Kronen im Juli 1645 vorgelegt wurden; denn die iura Caesaris et statuum Imperii, meinte er, gehörten nicht vor das Forum fremder Kronen. Diesen Gedanken hat die kaiserliche Responsion auch ausführlich formuliert. Sie hat daraus aber nicht die Konsequenz gezogen, eine Stellungnahme zu den Einzelpunkten zu vermeiden, sondern ist auf jeden angesprochenen Reichsverfassungs-Artikel konkret eingegangen. Eine dilatorische antwort, meinte nämlich der Reichshofrat, sei politisch unklug, weil gegen die meisten Reichsverfassungsforderungen der Kronen ohnehin nichts einzuwenden sei. Die Verhandlungstaktik einer sofortigen Zustimmung ziehe am ehesten die Reichsstände auf die kaiserliche Seite33 . Seine Rechnung ist aufgegangen. Bei den Beratungen über ein reichsständisches Gesamtbedenken zu den Friedensvorschlägen der Kronen und des Kaisers rückten alle drei Kollegien hinsichtlich der Reichsverfassung an die Seite Wiens. Im übrigen teilten sie kaum die angeblich uneigennützige Sorge Frankreichs um Bewahrung ihrer Libertät und des Wahlcharakters des Kaisertums. Sie alle widersprachen einem grundsätzlichen Verbot einer Römischen Königswahl zu Lebzeiten des Kaisers, weil dies für die Kurfürsten einen Eingriff in ihre Privilegien bedeutet hätte34, die von der Mehrheit des Fürstenrats ebenfalls abgelehnt wurde35, dessen Minderheit eine Verstärkung der fürstlichen Rechte gegenüber den Kurfürstlichen durch Zwischenschaltung des Reichstags zwar wünschte, aber keineswegs mit aller politischen Kraft verfoche6 , und weil der Städterat in diesem Punkt keine eigene politische Meinung formulierte 37 • Das Reich unterstützte also im Frühjahr 1646 auch in diesem Punkte den Kaiser gegen die fremden Kronen. 32 Es ging neben dem Römischen Königswahlrecht (Art. 9) in Art. 7 um die Kompetenzen der Reichsstände in den Reichskollegien und in Art. 8 um das Territorialrecht der Reichsstände (später ,,Landeshoheit" genannt) sowie um deren Recht, auswärtige Bündnisse zu schließen. Beide Materien wurden später geregelt in IPM § 63 = IPO VIII, 2. 33 Wien, HHStA, Staatenabteilung, Bavarica 2c fol. 59159', 57. 34 Meiern (Anm. 12), Bd. II, 914-931, hier 920. 35 Meiern (Anm. 12), Bd. Il, 509-520, hier 519 f. 36 Magdeburg, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg, Sachsen-Weimar, Pfalz-Lautem, Pfalz-Simmern, Pfalz-Zweibrücken, Braunschweig-Lüneburg, Baden-Dur1ach, Hessen-Kassel, Mecklenburg, Sachsen-Lauenburg und Anhalt, also der größere Teil des Corpus Evangelicorum, hatten dafür votiert, eine Römische Königswahl vivente imperatore inskünftig an eine vorhergehende Zustimmung des Reichstag zur Notwendigkeit der jeweiligen Königswahl zu binden. Politisch hätte dies die Nicht-Kurfürsten in die Römische Königswahl institutionell einbezogen; begründet wurde es in Osnabrück mit der angeblich unvermeidlichen Rücksichtnahme auf Frankreich, dem man entgegenkommen müsse. 37 Meiern (Anm. 12), Bd. Il, 947-965, hier 955. - Im Fürstenrat Münster stimmten am 21. Februar 1646 alle katholischen Stimmen für den kaiserlichen Vorschlag. Bei der Abstimmung der protestantischen Vertreter, am 22. Februar, votierte allein Hessen-Kassel wie die

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Dieses ereignisgeschichtliche Ergebnis der Friedensverhandlungen läßt sich durchaus ohne längeren Rückgriff auf die Verfassungs- und Rechtstheorien der Zeitgenossen und Akteure des Westfälischen Friedens verstehen und also pragmatisch erklären. Diesen Weg ist die kaiserliche Responsion gegangen, indem sie am 25. September 1645 nicht ausdrücklich auf die theoretischen Begrundungen Bezug nimmt, die demjeweiligen Ja und Nein zu den Einzelforderungen der Propositionen vorauslägen. Auch hinsichtlich des geforderten Verbots einer Römischen Königswahl vivente imperatore durch die Friedensverträge beließ es der Kaiser bei der geschilderten Pragmatik. Der Reichshofrat hingegen hatte im Juli 164538 bei seinen Beratungen über die Verbotsforderung auch ausführlich die historischen und juristischen Argumente erörtert, die für oder gegen das Verbot geltend zu machen wären. Das Protokoll dieser Überlegungen39 ist daher eine gute Quelle für die geschichtlichen und rechtlichen Vorstellungen Wiens über einen zentralen Punkt des kaiserlichen Selbstverständnisses während der Westfälischen Friedensverhandlungen. IV. Wie üblich wurden die Beratungen mit der Verlesung des Textes eröffnet, und man begann mit der französischen Proposition. Deren erster Absatz des Punktes 9 machte dem Reichshofrat wenig Probleme: der Kaiser war mit einer erneuten Verbriefung des geltenden Reichsrechts durchaus einverstanden. Noch schneller war man sich darüber einig, daß das Verbot einer Römischen Königswahl pendente vita imperatorum inakzeptabel sei; die Probleme begannen beim modus respondendi. Deshalb wurde diese Frage in einen theoretischen und einen praktischen Teil aufgegliedert; zuerst erörterte man die Grundsatzfrage, quid de iure statuendum sit ex parte Caesareae Maiestatis, vnd wie wait ein Römischer kaiser neben den churfiirsten hierbei. interessiert vnd berechtigt sei. An den Anfang stellte der Reichshofrat nach scholastischer Tradition die Gegengrunde, in diesem Falle also die Argumente, die für ein Verbot vorgebracht werden könnten. Es waren zwei: zunächst der Bezug auf die Einwände, die nach 1530 gegen die Römische Königswahl Ferdinands I. vorgetragen worden waren, sodann ein Schlüsseldokument aus dem hochmittelalterlichen Kirchenrecht, die Dekretale Venerabilem vom Jahre 1202. genannten Osnabrücker für institutionelle Einbindung des Reichstags in das Wahlverfahren, Brandenburg-Kulrnbach, Pommem-Stettin, Württemberg und Fränkische Grafen aber nicht (StA Bamberg, Rep. B 33, II Bd. 4 fol. 233/239' und 242/244 '). 38 Er beriet am 7. und 13. Juli über die französische, am 17. bis 21. Juli über die schwedische Proposition: vgl. Karsten Ruppert, Die kaiserliche Politik auf dem Westfälischen Friedenskongreß (1643 -1645), Münster 1979, 102-119 (hier 103 f.), auch zum folgenden. Die Beratungen des Geheimrats in Anwesenheit des Kaisers erfolgten in der ersten Augusthälfte. 39 Es liegt in Wien, HHStA, Staatenabteilung, Bavarica 2c fol. 15 -116'; der Anfang und fol. 90-96' fehlen. Benutzt ist es durch Ruppert, Die kaiserliche Politik (wie Anm. 38), der unser Thema ebd., 115 f., behandelt. Zur Verwendung des Begriffs Souveränität in diesem Protokoll vgl. Helmut Quaritsch; Souveränität, Berlin 1986, 81-84.

Wiener Argumente gegen ein Verbot der Römischen Königswahl

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Die kursächsischen Argumente gegen die Wahl Ferdinands I. sind in sieben Punkten zusammengefaßt: Erstens erlaube auch das Kirchenrecht den Bischöfen und Domkapiteln nicht, die Nachfolge unter sich zu regeln, also fehle es dem Kaiser und den Kurfürsten an der erforderlichen Kompetenz; zweitens sprächen die genauen Wahlverfahrensvorschriften der Goldenen Bulle ausdrücklich nur vom Procedere nach dem Eintritt einer Vakanz; drittens habe daher Kurmainz kein Recht, die Kurfürsten zu Lebzeiten des Kaisers zur Wahl zu berufen; viertens habe es vor 1530 nur zwei Präzedenzfälle einer Königswahl vivente imperatore gegeben, Wenzel (1376) und Maximilian I. (1486); und beide Wahlen seien für das Reich ein nicht nachahmenswertes Verderben gewesen40; fünftens habe, als Kaiser Maximilian I. für die Wahl seines Enkels Karl habe sondieren lassen, der sächsische Kurfürst Friedrich (der Weise) unter Berufung auf die Goldene Bulle schroff widersprochen; sechstens hätten die Kurfürsten, wenn sie denn über die Wahl zu Lebzeiten Maximilians einig gewesen wären, zuvor noch in Frankfurt I Main über die Nützlichkeit der Wahl und die ldoneität des Wahlkandidaten beraten müssen, was 1530 unterblieben war; und siebtens bedeute eine Römische Königswahl unter den Umständen von 1530 die ewige Sukzession des Hauses Österreich im Kaisertum, wofür noch einmal drei Gründe entwickelt werden, die wir übergehen. Wenn dies vor über hundert Jahren, meinte der Reichshofrat, die kursächsischen Hauptargumente gegen die Wahl Ferdinands I. gewesen seien - wie möchten die Gegner des Hauses Österreich dann heute urteilen, da von 1531 bis zur Stunde tatsächlich doch nur Habsburger zum Kaiser gewählt worden seien? Könne dann nicht jedermann mit der Dekretale Venerabilem sagen: "Wenn der vorgenannte Herzog (Philipp von Schwaben) das Imperium erhielte, dann ginge die Wahlfreiheit der (Reichs)fürsten zugrunde; und im übrigen würde für alle übrigen die Chance, das Imperium erhalten zu können, beseitigt. Denn wie einstmals der Bruder des Herzogs dem Vater nachfolgte, so folgte jetzt dieser selbst dem Bruder41 • Dann würde also das Imperium sich nicht einer Wahl, sondern einer (Erb)folge verdanken, und es würde zum sehr großen Rechts-Nachteil für die (übrigen Reichs)fürsten werden, wenn niemand, es sei denn aus dem Hause des vorgenannten Herzogs, für das Imperium in Frage kommen könnte42.

40 pemiciosum Imperio, proinde minus imitandum- offensichtliche Anspielung auf die Absetzung Wenzels durch die Kurfürsten im Jahre 1400 und die gegen den Willen Friedrichs Ill. erzwungene Wahl Maximilians I. im Jahre 1486. 41 Gemeint ist die staufisehe Sukzessionsfolge: Friedrich I. Barbarossa - Heinrich VI. Philipp von Schwaben. 42 c. 34 X 1,6 (ed. Aemilius Friedberg): si praedictus dux Imperium obtineret, libertas principum in electione periret, et Imperium obtinendi de caetero caeteris fiducia tolleretur. Nam si prout olim frater dicti ducis patri eorum, [sie] dux ipse fratri suo succederet, videretur Imperium non ex electione, sed successione deberi et in praeiudicium principum redundaret, si non nisi de domo ducis praedicti videretur aliquis ad Imperium assumendus; bei Friedrich Kempf SJ (ed.), Regestum lnnocentii Ill papae super negotio Romano imperii, Rom 1947, Nr. 62, 174, 10- 175, 2.

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Konrad Repgen

Was der Referent wörtlich zitiert, ist eine Passage aus der Dekretale Venerabilem, mit der Innozenz III. (1198-1216) im Jahre 1202 den deutschen Thronstreit zugunsten Ottos IV. und gegen den Staufer Philipp von Schwaben entschieden hatte43 . Sie war in die Dekretalensammlung Gregors IX. (1227 -1241) eingegangen44 und wurde, weit über ihre tagespolitische Bedeutung von 1202 hinaus, ein Schlüsseltext der hochmittelalterlichen Kaisertheorie der Päpste von dauerhafter Geltung. Obgleich sie im Reich seit dem Rhenser Weistum der Kurfürsten von 1338 und der Goldenen Bulle von 1356 durch eine vom Papst unabhängige Sukzessionstheorie verdrängt worden war, blieb die papale Theorie, wie Schimmelpfennig richtig festgehalten hat45 , im Grunde bis zum Codex Juris Canonici von 1917 in Kraft, und sie wurde, über das 16. Jahrhundert hinaus, auch noch im 17. Jahrhundert beachtet, wie unser Protokoll lehrt. Eine solche Tatsache mag zwar wenig in das Geschichtsbild eines Neuhistorikers von heute passen, dessen Horizont allein auf den Zeitraum diesseits des Historismus bezogen sein möchte, war aber damals, für die Fachleute am Kaiserhof im Jahre 1645, eine Selbstverständlichkeit, die keiner besonderen Aufmerksamkeit bedurfte. Wenn Wien der französischen Forderung auf Verbot der Römischen Königswahl zu Lebzeiten des Kaisers argumentativ begegnen wollte, mußte es sich auch darauf einrichten, daß ihm tagespolitisch Innozenz III. und der deutsche Thronstreit von damals entgegengehalten würde. Denn was damals der Papst gegen den Staufer verkündet habe, sei nichts Anderes als das, quod hodie Galli contra Austriam contendunt. Das 17. Jahrhundert hatte in dieser Hinsicht die gleichen Probleme wie das 13. Jahrhundert. Diesem wirkungsvoll zu begegnen, hielt der Reichshofrat für ebenso nötig wie möglich. Denn es gebe genügend Rechtsgründe (rationes), warum der Kaiser auch heute noch zu seinen Lebzeiten im Einverständnis mit den Kurfürsten durchaus eine Person für die künftige Thron-Nachfolge nominieren könne, stets unter Vorbehalt des freien Wahlrechtes der Kurfürsten. Die einschlägigen Argumente faßte man in sieben Punkten zusammen: l. Der Kaiser von heute besitze alle Kompetenzen (ius) der antiken Römischen Kaiser, sofern und soweit ihm solche nicht durch schriftliches Gesetz oder Herkommen entzogen worden seien. Das Recht, dem Senat einen Nachfolger nominieren zu können, hätten die römischen Kaiser, ehe das Imperium erblich wurde, durchaus besessen. Da nun dieses Imperium von den Griechen auf die Germanen transferiert worden sei, habe Karl der Große Ludwig den Frommen zum König gekrönt, und ebenso hätten es die Nachfolger gehalten. Als dann, nach dem Aussterben des Karolingerhauses, der Kaiserthron durch Fürstenwahl besetzt worden wäre, seien die Wähler46 oft vom regierenden Kaiser berufen wor43 Vgl. Friedrich Kempf, Innozenz III. und der deutsche Thronstreit, in: Archivum Historilie Pontificae 27 ( 1985), 63- 91. 44 c. 34 X 1,6. 45 Bernhard Schimmelpfennig, Das Papsttum. Grundzüge seiner Geschichte von der Antike bis zur Renaissance, Darmstadt 1984, 198 f.

Wiener Argumente gegen ein Verbot der Römischen Königswahl

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den, und so, sage die Literatur47 , seien dreimal ein Otto, fünfmal ein Heinrich und einmal ein Friedrich zur Sukzession bestimmt worden48. Dieses "Recht (ius)", schließt Abschnitt 1, "ist niemals durch ein entgegenstehendes Gesetz oder durch Reichsherkommen (per Iegern... per consuetudinern) aufgehoben worden. Folglich verfügt der Kaiser auch heute über dieses Recht". 2. Die fortexistierende Bedeutung des alten Kaiserrechts wird sodann durch einige Allegationen aus dem ius cornrnune und eine weitere aus dem Kirchenrecht abgestützt, wobei nicht allein Rechtsquellen anzuführen49 , sondern auch Kommentare heranzuziehen waren50. Das entspricht dem rechtsgelehrten Argumentationsstil der Zeit. 3. Im Abschnitt 3 beruft der Reichshofrat sich mit Bartoto da Sassoferrato (13131357) auf die größte Autorität unter den Postglossatoren, um den Leitsatz zu begründen, daß dort, wo kein ausdrückliches Gesetzes-Verbot vorliegt, die Praxis zählt51 : Das exernplurn subsecuturn erklärt den Sinn des vorher ergangenen Gesetzes. Die Tatsache der Römischen Königswahlen von 1376, 1486, 1531, 1562, 1576 und 1636 hat also den Wert eines formellen Gesetzes-Ersatzes: haec exernpla valent instar legis et declarant bullarn Caroli N., quod vivente et valente Caesare, consensu tarnen electorurn, possit eligi successor in Irnperio. 4. Vermutlich hätten sich die Kaiserlichen bei der Auseinandersetzung über die Königswahl Ferdinands I. sogar auf eine eigene Urkunde Karls IV. berufen, die ausdrücklich die Römische Königswahl zu Lebzeiten des Kaisers regele; doch habe sich dieser Text (noch) nicht im Wiener Archiv finden lassen. Es sei aber davon auszugehen, daß sie existiere, da die Kursachsen damals die Existenz nicht bestritten hätten. Es lohne sich daher, wenn im Mainzer Erzkanzlerarchiv und in Bayern entsprechende Archivrecherchen angestellt würden.

5. Unwahrscheinlich sei es, daß die Kurfürsten 1530/31 zur Wahl Ferdinands I. geschritten seien, ohne die Rechtslage zuvor sorgfältig zu prüfen, denn sie hätten sich in diesem Sinne bei den Schweinfurter Ausgleichsverhandlungen mit Kursachsen im Jahre 1532 geäußert52• 46

kann.

Das Protokoll spricht von electores, was natürlich sowohl *ihler wie Kurforsten heißen

Zitiert wird: Petrus Heigius, Quaestiones iuris ed. L. Person Bd. I. Wittenberg 1601, 88. Otto I. (936), Otto ß. (961), Otto III. (983), Heinrich II. (1002), Heinrich III. ((1039), Heinrich IV. (1056), Heinrich V. (ll06), Heinrich VI. (ll69), Friedrich II. (1196). 49 Allegiert wird aus dem Zivilrecht: D. 31. 1. 70; D. 31. l. 28 cum patronus de legatis 2; vielleicht Inst. 2. 14. 12 oder C. 6. 24. 14, wahrscheinlicher aber D. 28. 5. 93; D. 31. l. 64; D. 31. l. 70; aus dem Kirchenrecht D. 63 c. 2 (oder 22?). 50 Im Falle von Alexander de lmola zu D. 31. I. 70; außerdem Ludwig Gomez, Commentaria in regulas cancellariae iudiciales, Lyon 1545, fol. 39 I 39'. SI Hingewiesen wird auf Bartbolus de Saxoferrato, Commentaria, s.v. Nemo iudex (in der Commentaria-Edition durch G. Polara, Tom. VIII., Rom 1996, fol. 69'). 52 Dazu, außer Kohler, Antihabsburgische Politik (Anm. 6), hier 265 - 278, Rosemarie Aulinger, in: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 10, Teil 1, Göttingen 1992, 190-202. 47

48

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6. Über die Römische Königswahl vivente imperatore sei dann in Kaaden 1534 abgemacht worden, wie sich die Kurfürsten vorkommenden Falls zu verhalten hätten. 53 Dies sei seither beachtet worden. 7. Schließlich ergebe sich das Recht zur Römischen Königswahl zur Lebzeiten des Kaisers ausdrücklich aus den Wahlkapitulationen Ferdinands 11.54 und Ferdinands III. 55, wo es Art. 38 wörtlich heiße56: Wir sollen vnd wollen auch die churfürsten, ihre nachkommen und erben, zu ieglicher zeit bei ihrer freien wahl eines Römischen kaisers, dieselbe so offt es ainem kaiser zu behuef, oder sonst dem Hey: Röm. Reich nothwendig vnnd nüztlichen befinden, auch bei Lebzeiten eines Römischen kaisers mit oder (wan derselbige auf angelegte pitt der churfürsten ohne genugsameerhebliche vrsachen verweigert werden sollte) ohne eines regierenden kaisers consens vorzunehmen, geruhiglich pleiben lassen etc. Das vereinbarte Reichsrecht hatte längst aus den Erfahrungen von 1530/34 Konsequenzen gezogen und ausdrückliche Vorsorge für eventuelle Römische Königswahlen zu Lebzeiten des Kaisers gezogen. Alle Argumente, die seineneit gegen Ferdinands I. Wahl von Kursachsen ins Feld geführt worden waren, galten damit als widerlegt. Aus dem ius commune et canonicum ergebe sich unbestreitbar, daß (für ein Kirchenamt) aus gerechten und vernünftigen Gründen mit Zustimmung des Kapitels ein Koadjutor bestellt werden könne. Das gleiche gelte für das Kaiseramt Aus dem Text der Goldenen Bulle von 1356 herauszulesen, daß nur nach dem Todesfall eines Kaisers eine Neuwahl möglich sei, führe in unauflösbare innere Widersprüche57 • Hingegen hätten die Kurfürsten auch 1550, gegenüber Karls V. Wünschen auf .,spanische Sukzession" 58, Ferdinands Rechte und damit auch das Römische Reich bei der deutschen Nation bewahrt. Was schließlich die Gültigkeit und Konsequenzen der Dekretale Venerabilem betreffe, so könne dem Kommentar des Kurfürstenrechtes bei Paul Windeck gefolgt werden59: entweder sei dies ein dispositiver Satz- aber dann stehe er im Widerspruch zum ius divinum60 und noch mehr zum mos gentium, weil überall in Wahlkönigreichen die Söhne und geeignete Agnaten vorgezogen würden. Wenn es Vgl. oben Anm. 6. Capitulationes Imperatorum et Regum Romano-Germanorum, cum annotamentis Johannis Lirnnaei, Straßburg: Friedrich Spoor 1651,584-595 (Text) und 596-664 (Kommentar). 55 Ebd., 665-679 (Text) und 680-781 (Kommentar). 56 Im folgenden zitiere ich nicht nach einem Druck, sondern nach dem Text des Protokolls. 57 Denn sonst könne kein Kaiser abdanken, was aber geschehen sei, und es könne kein König abgesetzt werden, was ebenso erfolgt sei. 58 Knapp und klar dazu: Heinrich Lutz, Reformation und Gegenreformation, München 1979, 56 f.; ausführlicher: Ders., Christianitas afflicta, Göttingen 1964, 81-87, 133-138; vgl. auch Horst Rabe, Deutsche Geschichte 1500-1600, München 1991,427-430. 59 Commentarius de principum electorum, Köln 1616, 26-31; zu Johann Paul Windeck (' 1620) vgl. ADB XLill, 387 f. 60 Das das Königreich Juda für ewig an die Familie Davids binde. 53

54

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sich in der Dekretale aber nur um eine opinative Meinung handele, also lediglich um eine Vermutung, wofür auch spreche, daß die Aussage im Text mit videretur eingeschränkt werde, dann drücke der Satz nur die damalige Furcht des Papst vor der Macht des staufiseben Hauses aus, der er die Unterstützung des politisch Schwächeren, Ottos IV., vorgezogen habe. Infolgedessen lasse sich das Dekretalen-Zitat nicht zur Unterstützung der französischen Artikel-9-Klausel heranziehen. Was Frankreich vorschlage, betreffe allein die Reservatrechte des Kaisers und der Kurfürsten, nicht aber das Reich insgesamt.

V. Bei diesem Beratungsergebnis konnte sich der Reichshofrat leicht und einstimmig auf den Vorschlag einigen, als Antwort auf die Proposition der Kronen allein den ersten Absatz zu bestätigen, welcher die fortdauernde Geltung des Verfassungsrechtes unterstrich. Auf den zweiten Absatz hingegen, welcher doch den Anlaß zu der uns heute etwas schulmeisterlich anmutenden Grundsatz-Erörterung geboten hatte, die stundenlang gedauert haben dürfte, empfahl der Reichshofrat, in der Responsion überhaupt nicht einzugehen. Diesem Vorschlag ist der Kaiser mit seinem Geheimrat im August nicht ganz gefolgt. Die Responsion sagt zum zweiten Teil der französischen Proposition: Reliqua quae sunt in propositione Gallicana huic articulo adiecta, de non eligendo rege Rarnanorum pendente vita imperatorum, magis adversantur iuribus lmperii et libertati electorum, magis adversantur iuribus lmperii et libertati electorum, nec non aureae bullae, et capitulationibus Caesareis, quam quod eisdem sint consentanea, prout hoc procul dubio ipsimet electores pro ea, qua in hoc pollent auctoritate, cum opus fuerit, melius declarabunt61. Da nun die rechtlichen und geschichtlichen Überlegungen, welche die Wiener Gremien zu dieser Sache angestellt hatten, nicht nur nicht in die Responsion einflossen, sondern auch den Gesandten in Münster und Osnabrück nicht mitgeteilt worden sind, stellt sich zum Schluß die Frage, warum eigentlich die Räte am Kaiserhof sich mit den Argumenten zur Römischen Königswahl vivente imperatore so viel Mühe gemacht haben - Reichshofrat und vor allem Geheimrat mußten dem Kaiser nicht mehr oder minder gelehrte opuscula liefern, sondern politische Beschlußvorlagen. Das erforderte, gelegentlich, auch elementaren staatswissenschaftliehen Unterricht zu erteilen. Aber in unserem Falle ist doch des Guten in dieser Hinsicht sehr viel, um nicht zu sagen: zu viel getan worden. Welchem Zweck also dienten diese Beratungen am Kaiserhof eigentlich? Die Antwort kann nicht aus den Akten abgelesen werden, es ließen sich höchstens zwei Vermutungen formulieren:

61

Meiern (Anm. 12), Bd. I, 631.

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• Zunächst: die Umständlichkeit der Beweisführung mag sich erst im Verlaufe der Beratungen ergeben haben, oder es mag die Berichterstattung einem Reichshofrat übertragen worden sein, der an diesem Thema speziell interessiert war. Eine solche Annahme würde erklären, warum das Beratungsprotokoll vom Juli I August 1645 dem Manuskript einer Untersuchung mit wissenschaftlichem Anspruch ähnelt. • Zweitens möchte dem Obersthofmeister Graf Trauttmansdor-tfi2 an einer so "gründlichen" Bearbeitung des Themas gelegen haben. Er war zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht formell zum Chefunterhändler für Münster und Osnabrück ernannt, dürfte aber damit bereits gerechnet haben und möchte also an einer prophylaktischen Sammlung der Argumente für diesen zentralen Punkt habsburgischer Kaiserpolitik interessiert gewesen sein. Wie dem auch sei: Das Ergebnis gibt klare Auskunft über das Selbstverständnis des Kaiserhofs zur Theorie des Sukzessionsproblems. Dieses Selbstverständnis fand seinen Ausdruck in Fragestellungen und Argumenten, die uns heute sehr altertümlich anmuten. So, wie hier argumentiert wird, hätte man auch im 15. Jahrhundert oder noch früher "Beweise" liefern und "Begründungen" finden können, zumal hier nicht politische Konzeptionen und Visionen thematisiert werden, sondern eher Hausbackenes: Ereignisgeschichte von vor hundert Jahren, und juristisches Spezialwissen. Aber so und nicht anders waren und dachten die Menschen, die den Westfälischen Frieden aushandelten und abschlossen. Deshalb läßt sich 1648 nicht nur von seinen Folgen her aufrollen, sondern kann nicht ohne seine Vorgeschichte verstanden werden, und diese muß gelegentlich, wie hier, ziemlich weit zurückgreifen. Nicht anders erging es den Zeitgenossen. Der Kaiser des Westfälischen Friedens mußte sich im Sommer 1645 vergewissern, warum und wie er ein päpstliches obiter dictum aus dem Frühjahr 1202 parieren könne. Für ihn gab es keine Epochengrenze um 1500- eine Grundeinsicht, welcher der Adressat dieser Studien als Herausgeber der Zeitschrift für historische Forschung nun schon seit über einem Vierteljahrhundert verpflichtet ist.

62 Vgl. Konrad Repgen, Maximilien comte de Trauttmansdorff, negociateur en chef de l'empereur aux traires de paix de Prage et de Westphalie, in: Lucien Belyllsabelle Rickefort (Hrsg.), L'Europe des traites de Westphalie, Paris 2000,347-361.

Der Westfälische Friede im "öffentlichen Bewußtsein" der Vormoderne: lateinische metrische Merkverse Von Heinz Duchhardt, Mainz Johannes Kunisch hat in seiner Strukturanalyse des Zeitalters des Absolutismus 1 an der Schlüsselrolle des Westfälischen Friedens für die letzten eineinhalb Jahrhunderte des Alten Reiches und der europäischen Staatengeschichte keinen Zweifel gelassen. Es nimmt deswegen auch nicht Wunder, daß bei allen vereinzelten Versuchen, das gesamte 17. Jahrhundert als eine Einheit zu fassen- zu denken ist hier etwa an die Darstellungen von Volker Press und Paul Münch2 -, nach wie vor die meisten Darstellungen der deutschen Geschichte und der der zwischenstaatlichen Beziehungen ihn, den Westfälischen Frieden, zum Ausgangspunkt nehmen oder als tiefe Zäsur verstehen. Diese Schlüsselrolle des Ereignisses von 1648 war den aktiv am Prozeß der Friedensherstellung Beteiligten - den Fürsten, den Ministern, den Diplomaten bewußt, aber sie wurde rasch auch dem breiteren Publikum vermittelt. Das zurückliegende Gedenkjahr hat u. a. neue Einblicke in die gewaltige Masse an Publikationen mit den Texten der Verträge (und ihrer Vorstufen) ermöglicht3 , hat demonstriert, wie der Westfälische Friede im Schulunterricht des mittleren 17. Jahrhunderts behandelt und aufgearbeitet wurde4 , hat nicht zuletzt durch eine Fülle von Lokal- und Regionalstudien veranschaulicht, wie über Dankfeiern ein sehr breites, zu einem guten Teil illiterates Publikum mit dem Kriegsende - und damit direkt und indirekt mit dem Frieden- vertraut gemacht wurde5 . Weniger gut aufgearbeiI Johannes Kunisch, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Regime, Göttingen 1986. 2 Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600-1715, München 1991; Paul Münch, Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutschland 1600-1700, Stuttgart/Berlin/Köln 1999. 3 Konrad Repgen, Der Westfälische Friede und die zeitgenössische Öffentlichkeit, in: Historisches Jahrbuch 117 (1997), 38 - 83; vgl. auch, teilweise ergänzend, Konrad Repgen, Der Westfälische Friede. Ereignis, Fest und Erinnerung, Opladen/Wiesbaden 1999, Abschn. 3. 4 Konrad Repgen, Ein Schulaufsatz zum Thema ,,Frieden" (1648/49), in: Politik - Bildung- Religion. Hans Maier zum 65. Geburtstag, hrsg. von Theo Stammen [u. a.], Faderborn [u. a.] 1996, 109-115. 5 Ich nenne hier nur eine Auswahl an neuerer Literatur: Konrad Repgen, Die Feier des Westfälischen Friedens in Kulmbach (2. Januar 1649), in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 94 (1995), 261-275; Bernd Roeck, Die Feier des Friedens, in: Der Westfälische

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Heinz Duchhardt

tet wurde aus diesem aktuellen Anlaß die gelehrte Beschäftigung mit dem Westfälischen Frieden, die der vielen Lösungen alter Streitfragen und der nicht wenigen Lücken und Defizite der Instrumenta Pacis wegen unmittelbar nach seinem Abschluß einsetzte und vor allem die juristischen und theologischen Fakultäten bewegte. Die zum Gedenkjahr publizierte Bibliographie zum Westfälischen Frieden6 erlaßt zwar einen guten Teil des gelehrten Schrifttums, aber es ist völlig klar, daß sie in dieser Hinsicht Lücken aufweist. Jüngeren Datums ist allein eine rechtsgeschichtliche Untersuchung des Diskurses der Aufklärungszeit über die Instrumenta Pacis7 , die u. a. aufzeigt, wie bestimmte konfessionspolitische Regelungen des Westfälischen Friedens zunehmend als Widerspruch zum Naturrecht und zur Vernunft eingeschätzt wurden. Daß der Westfälische Friede europaweit selbstverständliches Bildungsgut für Absolventen von Lateinschulen und Hohen Schulen war, steht völlig außer Frage. Aber wer konnte dieses riesengroße Textkorpus so im Kopf haben, um es jederzeit "abrufen" zu können? Schüler und Studenten haben sich zu allen Zeiten "Briicken" zu bauen verstanden, um das in den Augen ihrer Lehrer unverzichtbare Bildungsgut wie auf Knopfdruck "abspulen" zu können: durch gereimte oder freie oder durch ihren Rhythmus besonders einprägsame Merkverse. Auch die Generation, der der Empfänger dieser Festschrift angehört, hat auf dem Gymnasium das "Drei Drei Drei - Issos' Keilerei" oder auch vielleicht den Merkvers der sogenannten ,,kleinen" Propheten verinnerlicht: Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jonas' Fehl, Micha, welchem Nahumfolget Habakuk, Zephanja, Nebst Haggai, Sacharja, und zuletzt Malachia.

* Es liegt somit auf der Hand, daß auch jene Menschen, die auf die Instrumenta Pacis von 1648 unmittelbar zurückblickten und in ihnen eine Art Reichsgrundgesetz und völkerrechtliche Schlüsseldokumente sahen, Merkverse gebildet haben, Friede. Diplomatie -politische Zäsur- kulturelles Umfeld - Rezeptionsgeschichte, hrsg. von Heinz Duchhardt, München 1998, 633- 659; Katrin Keller, Das "eigentliche wahre und große Friedensfest ... im ganzen Sachsenlande", ebd., 661-677; Claire Gantet, L'amitie politique par Ia paix: !es fetes de Ia paix de Nuremberg, Weimar et Strasbourg, in: 1648 Paix de Westphalie. L'art entre Ia guerre et Ia paixiWestfälischer Friede. Die Kunst zwischen Krieg und Frieden, hrsg. von Jacques Tuillier I Klaus Bußmann, Paris I Münster 1999, 371 -392. 6 Bibliographie zum Westfälischen Frieden, hrsg. von Heinz Duchhardt, bearb. von Eva Ortlieb I Matthias Schnettger, Münster 1996. In Betracht kommt hier bes. Abschnitt III 13. 7 Bemd Mathias Kremer, Der Westfälische Friede in der Deutung der Aufklärung, Tübingen 1989.

Der Westfälische Friede im Bewußtsein der Vormoderne

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die helfen sollten, auf den Schulen zu bestehen und in Disputationen eine gute Figur zu machen. Angesichts der Dominanz des Lateinischen im akademischen Betrieb, die erst um 1700 - stellvertretend mag Thomasius genannt sein - allmählich von der deutschen Sprache abgelöst zu werden begann, kann es allerdings nicht überraschen, daß es sich um lateinische Merkverse handelte. Zwei von ihnen sollen im folgenden etwas näher betrachtet werden, wobei man davon ausgehen kann, daß sie nicht die einzigen waren. Der längere von beiden hat das Instrumenturn Pacis Osnabrugense, also den kaiserlich-reichisch-schwedischen Vertrag, zum Gegenstand: Articulis Septern & Denis pax Svecica constat Primus amicitiae conjungit foedere partes. Praeteriti immemores laesos vult esse Secundus. Pristina restituit Ternus sua Jura cuique. Enumerat Quartus speciales restituendos. In Sacris, Quintus, conjlata gravamina solvit. Helvetiis Sextus dat libertatis honorem. Septimus infoedus Calvinum pacis adoptat. Jura Politiae Statibus Bis Quartus adumbrat. Flori restituit veteri Commercia Nonus. Bellorum Decimus partitur praemia Suecis. Brandenburgiaco Undecimus Pomerana resarcit. Mechlenburgiacis Bis Senus adempta rependit. Brunsvigum Decimi demulcent munera terni. Dat Confessori Decimus solatia quartus. Hassum Ter Quinta placant & Clerus & Hassus. Arma Bis Octonus sistit, pacemque reducit. Septimus hanc firmat Decimus, redditque perennem.

Eine freie Übersetzung könnte in etwa lauten: Aus siebzehn Artikeln setzt sich der schwedische Friede zusammen. Der erste bringt die Parteien durch einen Freundschaftspakt zusammen. Die zurliekliegenden Verletzungen will der zweite vergessen machen. Der dritte stellt die friiheren Rechte eines jeden Einzelnen wieder her. Der vierte listet auf, was im einzelnen restituiert werden muß. Der fünfte löst im geistlichen Bereich die Gravamina, die den Konflikt angefacht haben. Den Schweizern verleiht der sechste das Geschenk der Freiheit. Der siebte nimmt Calvin in den Friedensbund auf. Der achte entwirft den Ständen die Rechte eines Staates. Der neunte stellt den guten alten Handel wieder her. Den Kriegslohn Schwedens behandelt der zehnte. Der elfte ersetzt dem Brandenburger den pommerseben Verlust. Der zwölfte entschädigt die Mecklenburger für das Entzogene.

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Der Inhalt des dreizehnten schmeichelt Braunschweig. Dem Beichtkind verleiht der vierzehnte Trost. Durch den fünfzehnten versöhnen sowohl der Klerus als der Fürst Hessen. Der sechzehnte bringt die Waffen zum Schweigen und führt den Frieden herauf. Der siebzehnte bestätigt ihn und macht ihn immerwährend. Der Merkvers ist in Hexametern abgefaßt und bleibt im allgemeinen eng am Text des IPO, nimmt sich aber auch die Freiheit, "harte" Fakten in eine gefällige Sprache zu transponieren. Besonders schön erhellt das, wie mir scheint, aus der vierHetzten Zeile (dat confessori . . .). Es geht in dem dort in Rede stehenden Art. XIV darum, daß geistlicher Besitz einem weltlichen Fürsten - dem Markgrafen Christian Wilhelm von Brandenburg- überantwortet wird, aber dies nun nicht etwa auf Dauer, sondern nur auf Lebenszeit (und weitere fünf Jahre). Die Säkularisierung von Kirchengut war ja seit Jahrzehnten eins der Reizthemen der Reichs (-verfassungs)geschichte. Über die Autorschaft läßt sich selbstverständlich überhaupt nichts sagen; der Urheber gibt sich nicht ausdriicklich zu erkennen - das stiinde auch dem Genre diametral entgegen -, und es finden sich auch keine unbeabsichtigten Hinweise, die auch nur in seine Nähe führten. Auch seine Eigenheit, Zahlen eher ungewöhnlich zu formulieren (bis quartus statt octavus, ter quintus statt decimus quintus), hilft bei der Identifikation nicht weiter.

* Der zweite Merkvers ist kürzer - er umfaßt nur elf Zeilen, ganz entsprechend der Tatsache, daß das Instrumenturn Pacis Monasteriense, also der kaiserlich-reichisch-französische Friedensvertrag, auch quantitativ hinter dem IPO zuriicksteht. Der lateinische Text lautet folgendermaßen:

Articulis quatuor minor est Pax Gallica Sveca. Non nihil in rebus varians, ut & ordine rerum. In Quatuor primis (nisi quod removetur Iberus) Vu est dispariras in re, neque discrepat Ordo. Quintus in est Quinta, Gallorum & Septimus Uni. In Sexto Sociis Gallus dat praemia Cattis. Helveticis quod Sextus ibi, dat Septimus isthic. Nonus & Octavus similes sunt prorsus utrisque. At Decimus Gallum plumis aquilaribus ornat. Undecimo in partis Galli Pax Itala transit. Ultimus his illisque fere & penultimus idem est.

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Seine Übersetzung könnte so lauten: Um vier Artikel ist der französische Friede kürzer als der schwedische. Nicht nur in der Sache ist er different, sondern auch in der Anordnung der Materien. In den ersten vier Artikeln (außer daß der Spanier vom Reich zurückgehalten wird) gibt es kaum Unterschiede in der Sache, noch weicht die Reihenfolge voneinander ab. Der fünfte entspricht dem fünften des französischen Vertrags, der siebte eben demselben. Im sechsten gibt der Franzose den verbündeten Hessen Kriegslohn. Was der sechste den Schweizern hier gibt, tut dort der siebte. Der neunte und der achte sind ganz ähnlich in jedem der beiden. Der zehnte schmückt den Franzosen mit Adlerfedern. Im elften überführt der Friede Italienisches in den französischen Herrschaftsbereich. Der letzte stimmt mit dem entsprechenden fast und der vorletzte gänzlich überein. Dieser Merkvers, der im übrigen ohne den zuerst vorgestellten nicht verständlich ist, weil er sich ständig auf ihn bezieht, verdient aus mindestens zwei Gründen einen etwas eingehenderen Kommentar. Schlägt man heute eine moderne Edition des IPM auf- etwa die von Müller8, die von Buschmann9 oder natürlich die jüngste von Oschmann 10 -, so findet sich dort eine Unterteilung in 120 Paragraphen. Der obige Merkvers geht aber von dreizehn Artikeln aus. Konsultiert man die seit kurzem als Faksimile vorliegende französische Unterhändler-Ausfertigung 11 , muß man zur Kenntnis nehmen, daß dort überhaupt keine Zählung vorgenommen worden ist. Offenbar, darauf hat Antje Oschmann aufmerksam gemacht 12, war aber bereits während der Verhandlungen in Münster daran gedacht, dem IPM eine ähnliche Ordnung zu geben wie dem IPO, wo die 17 Artikel ja in den Vertragstext selbst Eingang fanden. Aus irgendwelchen, bisher unklaren Gründen unterblieb diese Gliederung aber, fand indes in zwei unmittelbar nach Vertragsabschluß publizierte offiziöse Editionen des Wiener Hotbuchdruckers Cosmerovius Eingang. Nach als Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfalischen Friedensverträge 1648, bearb. von Konrad Müller; Bern 19662 . 9 Amo Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich. Klassische Texte zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806, Teil 11, Baden-Baden 19942 , 106-128. 10 Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden, bearb. von Antje Oschmann, Münster 1998, 3-36. 11 Der Westfälische Friede. Das Münstersehe Exemplar des Vertrags zwischen Kaiser I Reich und Frankreich vom 24. Oktober 1648, hrsg. von Heinz Duchhardtl Franz-Josef Jakobi, 2 Teile, Wiesbaden 1996. 12 Oschmann, Friedensverträge (Anm. 10), CI.

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lern, was bisher bekannt ist, ging man erst im 18. Jahrhundert dazu über, die Absätze des IPM als Paragraphen zu bezeichnen und entsprechend durchzunumerieren. Da unser Merkvers wie selbstverständlich von den dreizehn Artikeln ausgeht, kann auch von daher eine - zunächst noch grobe - Zuordnung zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vorgenommen werden, die sich in Anbetracht der besonders hohen Bedeutung der beiden Instrumenta Pacis in jenem Zeitraum aber ohnehin aufdrängt. Zum zweiten ist in Zeile 9 die Formulierung auffällig, daß Artikel 10 IPM den Gallier, also den französischen König, mit Adlerfedern geschmückt sehen will. Dem Kontext nach muß es sich bei "Artikel 10" um die §§ 69-91 des IPM handeln, die die elsässischen Abtretungen der Habsburger und des Reiches (sowie die Restitutionen der vier "Waldstädte") zum Gegenstand haben. Es verdient festgehalten zu werden, daß die Zeitgenossen diese Zessionen als so gravierend einschätzten, daß sie die Metapher von den "Adlerfedern" für berechtigt hielten, die dem Rex Christianissimus zugewachsen seien. Die Frage muß allerdings unbeantwortet bleiben, ob sie dabei - im Sinn der "Schwanzfedern" der Hauses Habsburg13- nur an das dynastische Wappentier dachten oder auch an das kaiserliche. Von Ambitionen der französischen Könige auf die Kaiserkrone war ja seit Jahrhunderten die Rede - und nicht nur das.

* Die hier behandelten lateinischen Merkverse finden sich im Anhang eines Kommentars des Instrumenturn Pacis Osnabrugense aus der Feder des bedeutenden Straßburger Staatsrechtiers Ulrich Ohrecht (1646-1701), seiner Brevis et succincta expositio pacis Caesario-Sueciae, die erstmals in Straßburg 1680 erschien, hier aber in der 2. Auflage 1701 benutzt wurde 14. Einer redaktionellen Zwischenbemerkung des Herausgebers zufolge wurden die Merkverse aus einem Werk von "Burgoldensis" übernommen, also jenes Jurisconsultus Philipp Andreas Oldenburger, der gelegentlich unter dem Pseudonym "Burgoldensis" publizierte und seine wichtigsten einschlägigen Werke um 1670 vorlegte. Damit ergibt sich ein Terminus ante quem: Die Merkverse, die sich gelegentlich auch noch in Anhängen von Editionen der Instrumenta Pacis aus dem späten 17. Jahrhundert finden, müssen in den Jahren unmittelbar nach dem Friedensschluß, spätestens aber um 1670 entstanden sein. Man wird mit der Vermutung wohl nicht falsch liegen, daß sie eher in den frühen 1650er als in den ausgehenden 1660er Jahren verfaßt worden sind.

13 So der Titel einer Vorderösterreich gewidmeten Ausstellung des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart: Vorderösterreich - nur die Schwanzfeder des Kaiseradlers? Die Habsburger im deutschen Südwesten (1999). 14 215 f. der im Text genannten Edition.

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Über ihre Verbreitung liegt selbstverständlich keine Nachricht vor, aber es ist davon auszugehen, daß sie auf den Lateinschulen, in den juristischen Fakultäten der (zumindest) mitteleuropäischen Universitäten und bei einem Personenkreis, der - insbesondere Regierungsbeamte und Diplomaten - tagtäglich direkt oder indirekt mit dem Westfälischen Frieden zu tun hatte, zum normalen Bildungsgut zählten. Freilich stoßen wir damit in Schichten der Analyse vergangener Lebenswelten vor, die sich dem raschen Zugriff entziehen.

Die "innoxia utilitas" oder das "Recht des unschädlichen Nutzens" als Rechtsprinzip im Zeitalter des Absolutismus Von Klaus Luig, Köln

I. Vorbemerkung In der Mehrzahl der Fälle gehen dogmengeschichtliche Untersuchungen auf dem Gebiete des Privatrechts vom gegenwärtigen Rechtszustand aus und untersuchen die Entwicklung, die zum heutigen Recht gefuhrt hat. Dabei bleiben aber, wie Coing 1 beobachtet hat, Rechtsinstitute, die heute keine Bedeutung mehr haben, zu Unrecht unbeachtet. Deswegen hat sich eine Rechtsgeschichte, die nicht nur der Dogmatik des geltenden Rechts zuarbeitet, sondern im historischen Sinne das Gesamtbild vergangener Rechtsordnungen darstellen will, darum zu bemühen, auch Rechtsmaterien in die Betrachtung einzubeziehen, die inzwischen abgestorben sind. Als Beispiel dafür soll hier eine im 17. und 18. Jahrhundert, dem Hauptarbeitsgebiet des Jubilars, oft erörterte Rechtsregel geschildert werden, die im 19. Jahrhundert aus dem Blickfeld der Juristen verschwunden ist. Vieldiskutierter Gegenstand der Rechtswissenschaft und des Naturrechts des 17. und 18. Jahrhunderts war die Frage nach der "innoxia utilitas", dem einem anderen gewährten Nutzen ohne eigenes Opfer, d. h. der Hilfe, die man anderen schuldete, soweit man sie ohne eigene Einbuße leisten konnte. In deutschsprachigen Texten wird dieser Begriff höchst unterschiedlich übersetzt. Beispiele sind: "Dinge einer unschädlichen oder uns unoachtheiligen Nutzbarkeit"2, "unschädliche Benutzung"3, "schadlose Gestattung"4 und "unschädliche Nützlichkeit"5 . Nach dem VorI Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Band 1, Älteres Gerneines Recht (15001800), München 1985, 1-2. 2 Immanuel Weber in der deutschen Ausgabe von Samuel Pufendorf, De officio norninis et civis, o.O. 1691, bei 1.8.4. 3 Schätze/ in der Übersetzung von Hugo Grotius, Deiure belli ac pacis, Paris 1625, 2. 2. 11. Reinhardt Brandt, Eigenturnstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, 46. 4 Horst Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Sarnuel Pufendorf, München 1972, 150. 5 Johann Gottlieb Heineccius, Eiementa iuris naturae et gentiurn, Halae 1738; deutsch als: Grundlagen des Natur- und Volkerrechts, übersetzt von Peter Mortzfeld, hrsg. von Christoph Bergfeld, Frankfurt/Main 1994, Buch 1, Kap. 8, 161, § 214.

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bild von Christian Wolff wird hier dem Begriff "unschädlicher Nutzen" der Vorzug gegeben6 . In fremdsprachigen Texten findet man "services d'une utilite innocente"7, "le droit d'usage innocent" 8, "mere favors" 9 , "innocent use" 10 und die Umschreibung "such things are normally recognized as beneficial and harmless" 11 • Die Diskussion über diesen speziellen Begriff aus dem Bereich der zwischenmenschlichen HUfspflichten ist bisher von der Forschung fast unbeachtet geblieben 12• Eine nähere Untersuchung wäre aber durchaus sinnvoll. Denn das Studium der Einstellung der einzelnen Rechtslehrer zu dieser ganz speziellen Hilfspflicht ist in der Lage, die Erkenntnisse über die Privatrechtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts zu bereichern. Im Kapitel "De iustitia et iure" seiner 1790 erschienenen "Ausführlichen Erläuterung der Pandecten" 13 riigt Christian Friedrich Glück beim Versuch der Abgrenzung zwischen Liebespflichten und Rechtspflichten den Mißbrauch, den man mit der Regel "quod tibi non nocet, alteri vero prodest, ad id poteris compelli" (Was dir nicht schadet, aber einem anderen nützt, dazu kannst du gezwungen werden, K. L.) treibe. Glück meint, diese Regel würde zwar oft in Urteilen als die der Entscheidung zugrundeliegende Norm zitiert, folge aber keineswegs aus der meist als gesetzliche Grundlage zitierten Stelle D. 39.3.2.5 mit den Worten "qui factus mihi quidem prodesse potest ipsi vero nihil nociturus est" ( . . .indem er das tut, kann er mir nützen, wird sich selbst aber nicht schaden, K.L.) 14• Daher würden durch die Regel "quod tibi ..." lediglich "Missbräuche und Eingriffe in die Freyheit und Rechte des Privateigenthums der Bürger unter dem Deckmantel der Gesetze beschönigt, welche die Gesetze selbst doch gar nicht gestatten" 15 . Das ist Ausdruck einer auf ein liberales Naturrecht gegriindeten Privatrechtstheorie, wie sie am Ende 6 Christian Wolf!, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, Halle 1754, § 311. Samuel Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, übersetzt und hrsg. von Klaus Luig, Frankfurt/Main 1994, 83, zu 1.8.4. 7 Samuel Pufendorf, Les devoirs de l'homme et du citoyen, traduit par Jean Barbeyrac, Amsterdam 1707, 132, zu 1.8.4. s Hugo Grotius, Le droit de Ia guerre et de Ia paix, traduit par P. Pradier-Fodere, Paris 1999, 187, zu 2. 2. 11. 9 Samuel Pufendorf, De officio, übersetzt von Frank Gardner Moore (Classics of Intemationallaw),Oxford 1927,46, zu 1.8.4. 10 Stephen Buckle, Natural Law and the Theory ofProperty, Oxford 1991,47. II Samuel Pufendorf, On the Duty of Man and Citizen, ed. James Tully, translated Michael Silverthome, Cambridge 1991, 65, zu 1.8.4. 12 Ausnahmen bilden Denzer, Moralphilosophie (Anm. 4), 150, und Buckle, Natural Law (Anm. 10), 47. 13 Christian Friedrich Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandecten, Band I, Erlangen 2 1797,37. 14 Max Kaser, Römisches Privatrecht I, München 1971, 221 n. 2, zitiert die Stelle als Beleg für eine Maßnahme gegen Rechtsmißbrauch. 15 Glück, Ausführliche Erläuterung (Anm. 13), 38. Glück verweist für die Auslegung dieser Stelle auch auf Adolph Dietrich Weber, Die natürliche Verbindlichkeit, 105.

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des 18. Jahrhunderts zur Herrschaft kam. Doch zu Beginn der Naturrechtsepoche waren auch durchaus andere Stimmen zu hören. Glück selbst führt kein konkretes Urteil an, in dem die Maxime die Entscheidungsgrundlage gebildet hätte. In unseren Zusammenhang gehört aber jedenfalls eine Entscheidung des Senats von Piemont aus dem Jahre 1683, in der unter Berufung auf D. 39.3.2.5 in Bezug auf ein Wasserüberleitungsrecht ausgeführt worden war "ut qui eas possident ultra eorum necessitatem compelli possent eas agentibus concedere, et potest mandari, ut detur transitus aquae, dummodo fiat ad bonum finem, et sine aliorum iniuria" ( ... solange es zu einem guten Zweck geschieht, ohne daß andere Unrecht erleiden, K.L.) 16• Ein früher Anklang an die Maxime findet sich in dem 1529 erschienenen Traktat "Was billig und recht ist" von Johann Oldendorp (ca. 1488-1567) 17 • Oldendorps "Vierte Regel der Billigkeit" lautet: "Wann immer man jemand so helfen und fördern mag, daß solche Förderung andem nicht schädlich sei, das geschieht billig. Wie wenn dein Nachbar in seinem angrenzenden Eigentum etwas gestatten oder geschehen lassen möchte, das ihm ohne Schaden und deinem Gut zum Frommen und Vorteil wäre. Wiewohl du einen mit scharfem Recht dazu nicht drängen könntest, vermag doch die Billigkeit, daß er dich daran nicht hindert. Und wiederum: was einem andem zum Nachteil gereichen kann, das soll von niemand begehrt werden." Nicht auszuschließen ist, daß Oldendorp außer der von ihm zitierten Stelle D. 39.3.2.5 auch einen Text aus dem Edictum Rothari vor Augen hatte (Cap. 289), wonach das Betreten eines fremden Gartens im eigenen Interesse und ohne Schaden für den Eigentümer, keine Buße nach sich ziehe 18 • Unter Bezugnahme auf diese Stelle hat Jakob Grimm gesagt, daß man sich im älteren deutschen Rechts "gar nichts aus dem unschädlichen Betreten eines fremden Gartens machte" 19. Wahrend des 18. Jahrhunderts war das Prinzip der ,,innoxia utilitas" in zahlreichen Schriften zum Naturrecht vertreten. Ein Beispiel unter vielen sind die 1765 in Köln von Michael Dumont verteidigten "Theses ex universa philosophia rationali, naturali, morali", in denen das Prinzip als "officium ex iure minus proprie" erscheint20.

16 Zitiert bei: Laura Moscati, In materia di acque - tra diritto comune e codificazione albertina, Roma 1993,43. 17 Johann Oldendorp, Wat byllick unn recht ys, Rostock 1529, Nachdruck Frankfurt/ Main 1969; Deutsches Rechtsdenken Heft 2, hrsg. v. Erik Wolf, Frankfurt/Main 1948. 18 Zum Text des E