Menschen essen Menschen : Die Welt der Kannibalen 3436019526

Erst seit neuerer Zeit ißt der Mensch den Menschen nicht mehr, wenigstens nicht oft. Aber viele Jahrtausende haben Mensc

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Menschen essen Menschen : Die Welt der Kannibalen
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Über dieses Buch Erst seit neuerer Zeit ißt der Mensch den Menschen nicht mehr, wenigstens nicht oft. Aber viele Jahrtausende haben Menschen ihresgleichen verzehrt warum? Aus Liebe, aus Rache, aus Pietät oder Angst, als Medizin, in krank­ hafter Verwirrung. Menschen verspeisten ihre Mitmenschen, um sich Kräfte des andern anzueignen, aus Hunger oder als Leibspeise und immer wieder aus »religiösen« Gründen, um Gottes willen. Wirtschaftliche Gesichtspunkte - ein wesentlicher Anlaß zum Kannibalismus - kamen hinzu, wenn etwa ein Rind so teuer war wie mehrere Sklaven. Manchmal bildeten sich Märkte, Anfänge einer kannibalischen Ökonomie. Menschen wurden gehandelt wie Schafe und Schweine, junge zarte Mädchen erzielten die besten Preise. In vielen Gegenden war der Mensch im Krieg die billigste Marschverpflegung, die sich zudem selbst transportierte. Anderswo konnten sich die Alten im Kochtopf ihren Lieben ein letztesmal nützlich machen. Ein schmackhafter Sprößling oder eine schwierige Ehefrau dienten nicht selten als griffbereiter

Vorrat für die Bewirtung von Gästen. Die Greuel der Kannibalen waren unzählbar. Angeblich. Die Zivilisation hat diese Greuel ausgerottet, mit Stumpf und Stiel und samt zahlreichen Kannibalen. Der Autor Christian Spiel, Dolmetscher und Übersetzer zahlreicher wissen­ schaftlicher und belletristischer Bücher, faßt zusammen, wo, wie, warum und wozu Menschen Menschen aßen (und essen) - oder gegessen haben sol­ len, und erzählt die ruhmvolle und traurige Geschichte der Entkannibalisierung. Wie kam der Mensch darauf, den Mitmenschen plötzlich uneßbar zu

finden? Und: Wird dieses inzwischen als natürlich empfundene Speisever­ bot bleiben, ist der Kannibalismus endgültig tot?

Christian Spiel

Menschen essen Menschen Die Welt der Kannibalen

Fischer Taschenbuch Verlag

Fischer Taschenbuch Verlag August 1974 Überarbeitete Ausgabe Umschlagentwurf: Christoph Laeis Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des C. Bertelsmann Verlages München, Gütersloh, Wien © 1972 Christian Röthlingshöfer-Spiel, München Alle deutschsprachigen Rechte bei Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany ISBN 3 436 01952 6

Inhalt

Ein Sieg der Kultur 7 1 Homo homini Dracula 11 2 Vereinte Nationen 19 3 Der eßbare Mensch 23 4 Gourmands und Gourmiets 30 5 Menschenessende Menschen essen menschenessende Menschen 41 6 Blut und Asche 46 7 Der blutige Kuß 50 8 Langes Schwein und großer Fisch 52 9 Tier und Untier 56 10 Sagen, Mythen, Märchen 59 11 Seid verschlungen, Millionen! 65 12 Menschenmarkt 70 13 Das eigene Fleisch und Blut 78 14 Auf der Suche nach einem Ursprung 84 15 Eingefleischt 93 16 Um Gottes willen 98 17 Die radikale Rache .103 18 Leibgericht 106 19 Fleischkriege 110 20 Lebend oder tot 115 21 Festliches Fleisch 122 22 Überall Numantia 126 23 Entkannibalisierung 132 24 Zeugen der Anklage 141 25 Ausreden und Verteidigung der Menschenesser 150 26 Mildernde Umstände 156 27 Von Barbaren, Wilden und Menschen 159 28 Vom hohen Roß 164 29 Ein ziviles Vokabular 169 30 Weiße bei Kannibalen, Kannibalen in Weiß 172 31 Aus deutschen Landen 178 Bibliographie 183 Register 187

Ein Sieg der Kultur

»Aber dies ist Vergangenheit, nun dahin und vergessen.« (Catull)

Tod der totalen Aggression - dem Menschenessen! Fast vierhun­ dert Jahre hat eine Zivilisation, die westliche, gebraucht, einen der ärgsten Greuel auszurotten. Sie hat es geschafft, ihn als Sitte zu beseitigen. Die gesittete Welt (alle Welt ist heute gesittet) weiß nichts mehr vom Kannibalismus. Aber das Wort ist nicht ver­ gessen. Die Humanität hat eine Schlacht gewonnen, einen ihrer wenigen Siege. Sie hat die Achtung vor dem toten Menschen durchge­ setzt. Der Mensch ist als Leiche tabu, er darf nicht mehr zum Essen getötet werden. Doch der Mensch wird noch immer vom Menschen umgebracht. Die Aggression hatte nicht nur dies eine Haupt, das abgeschlagen wurde. Was bleibt vom Menschenverzehr, da er als Verhaltensmuster von Kollektiven abgeschafft wurde? Ein sporadisches Aufflackern in Gestalt vereinzelter Akte, für die wir nun plötzlich patholo­ gische Ursachen suchen. Es bleibt Neuguinea, der letzte Schlupf­ winkel des Menschenessens und noch immer Lieferant kannibali­ scher Schauermeldungen, was es in alle Ewigkeit bleiben soll, wenn es nach dem Kitzelbedürfnis der Sensationspresse und ihres Publikums geht. Dracula und Genossen und Epigonen, Vampire, Menschensauger und Menschenfresser dienen Film und Buchgeschäft als höchst erwünschte Blutspender, um eine vom moralischen Fortschritt gelangweilte Kundschaft zurückzuholen in ein Reich atavistischer Wünsche. Das einstige Entsetzen ist Spiel geworden, und ganz unbedenklich gründet heutzutage das ehrenwerte emanzipato­ rische Verlangen des schönen Geschlechts gleich eine Society for Cutting up Men, einen Verein zur Zerstückelung der Männer zur Zerstückelung, und was noch ? Der Kannibalismus ist tot, es leben die Leichenfledderer! Der Begriff »Kannibalismus«, ein rundes, handliches, geradezu schmackhaftes Wort, in allen Sprachen mühelos auszusprechen (früher hieß das, holpriger, Anthropophagie), ist natürlich viel jünger als die Erscheinung, die er bezeichnen will. Der unfrei­ willige Erfinder des Wortes ist der uns aus anderen Gründen be7

kannte Christoph Kolumbus. 1993 könnten wir, wenn wir woll­ ten, den 500. Geburtstag dieser »Wortgründung« feiern. Kolumbus, so geht die Rede, fiel einem Hörfehler zum Opfer. Er verstand den Stammesnamen der Karaiben als »Kaniben«. Schon bald wur­ den aus den dem Menschenverzehr obliegenden Karaiben-Kaniben die gottverlassenen Sünder, die seitdem Kannibalen heißen. Anthropophagie oder Kannibalismus bezeichnen den Verzehr von Menschen oder Teilen von solchen durch Menschen - unstatt­ haftes, »widernatürliches« und widergöttliches Artfressen. Sogleich ist eine befremdliche Einschränkung zu konstatieren: Menschen­ essen gilt dem Zivilisierten, natürlich, als verwerflich; »Menschen­ trinken«, der Genuß menschlichen Blutes, wurde und wird durch­ weg nachsichtiger beurteilt. Niemand wird einen Freundschafts­ pakt, bei dem ein Tropfen Bluts des anderen genossen wird, kannibalisch nennen. Und doch gehört das Blut so gut wie das Fleisch zum Körper des Menschen. Nicht nur der Blut-Rummel des Dritten Reichs sollte nachdenklich stimmen. Viel älter sind in der heutigen Zivilisation die Wurzeln der magisch-kultischen Bedeutung, die man dem »besonderen Saft« beigelegt hat. Das »Menschentrinken«, eine Sonderform des Kannibalismus, steht, wie sich zeigen läßt, an Scheußlichkeit manchen Formen des Menschenfleischessens in nichts nach. Über die Anthropophagie ist viel nachgedacht und geschrieben worden. Die zumeist völkerkundlich interessierte Literatur glie­ dert sie nach Erscheinungsformen und denkbaren Ursprüngen und Motiven. Man unterscheidet etwa Leichen-, Alten-, Kinderund Fremdenverzehr, gerichtlichen, magischen, rituellen und pro­ fanen Kannibalismus. Aber die Suche nach den Gründen und Urgründen, das Fragen nach Woher und Wozu des Menschen­ essens geriet hoffnungslos in das Gestrüpp von Spekulation und Hypothesen. Vermutung, als Wissen aufgeputzt, triumphierte. Eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Phänomen des Menschen­ essens muß sich der Vielfalt der Verflechtungen von Entstehungs­ und Beweggründen bewußt sein. Sie kann den Kannibalismus nicht auf die Sitte des Menschenverzehrs reduzieren und schon gar nicht auf die Untat unwissender »Naturvölker«, wie wir die einstigen »Wilden« inzwischen zu nennen geruhen. Warum solche Genauigkeit? »Die europäische Kultur kann sich rühmen, erfolgreich gegen diese entmenschte Sitte angekämpft zu haben« (R. Andree). Aber: Keine Zivilisation, auch nicht die europäische Kultur, kann sich rühmen, daß dieses Phänomen ihr zu allen Zeiten unbekannt gewesen wäre. Spuren aus vorge­ schichtlicher Zeit finden sich, peinlich genug und zur Nachdenk­ lichkeit stimmend, mitten im Siedlungsgebiet des nachmaligen Abendlandes. Man kann natürlich argumentieren: Der Vorwurf geht daneben, wir sind die Nachkommen anderer, aus einem besseren Land. Aber die klassischen Mythen, die europäischen 8

Märchen, Volksüberlieferungen, Wahnideen, ja anthropophage Vorfälle zu allen Zeiten sprechen eine unerfreuliche Sprache. Die »Kinderkrankheit« der »Primitiven« zu kurieren entschloß sich eine gesittete Welt, die sich damals ihrer eigenen Kinderzeit noch nicht bewußt war. Mit Sendungsbewußtsein und missionarischem Eifer, freilich nicht ganz altruistisch, begaben sich die Nachkom­ men vergessener Kannibalen ans Werk. Was motivierte diesen Eifer? War es ein unbewußtes Schuldge­ fühl? »Denn alles Äußerste«, bemerkte E. Volhard, »mag es ehe­ mals noch so schlüssig gewesen sein, verzeiht sich der Mensch einer späteren Epoche schwer ...« - und anderen noch weniger. »Früh schon, in Zeiten und Räumen, denen Grausamkeiten keines­ wegs fremd waren, fielen die Kannibalen als Menschen, die aus einem nicht mehr nachspürbaren Erlebnis alle Konsequenzen ge­ zogen hatten, dem Abscheu der Mit- und Nachwelt anheim.«

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Homo homini Dracula

» Und wenn du nicht einen andern vertilgst, so kannst du den Hunger deines gefräßigen, übelgearteten Bauches nicht dämpfen ?« (Ovid, Metamorphosen)

In der friedlichen Zeit um den Regierungsantritt der Queen Vic­ toria gelangt nach England, wo man mit so humanen Dingen wie der Abschaffung der Sklaverei und der Beschränkung der Kinderarbeit beschäftigt ist, ein erschütternder Hilferuf aus einer andern Welt, in der ganz andere Greuel herrschen. Ein Mitglied der Missionsgesellschaft der Methodisten, die auf den FidschiInseln Stationen gegründet hat, versucht »das Mitgefühl des christlichen Publikums« für die kannibalistischen Insulaner auf­ zurütteln. »Menschen und Brüder in Christo, eurem Mitgefühl gilt dieser Appell, um euren Beistand seid angefleht für ein hochinteres­ santes, doch ganz herabgekommenes Volk, die Bewohner der Fidschi genannten Inselgruppe, der gesitteten Welt kaum be­ kannt der äußersten Gefahr wegen, die dort anlegenden Schif­ fen von den Mordgelüsten der Insulaner droht, und wegen der entsetzlichen Menschenfresserei, der sie sich ergeben haben, einer Scheußlichkeit, in der sie sogar noch die Neuseeländer über­ bieten. Auf Fidschi wird der Kannibalismus nicht gelegentlich, sondern beständig geübt; nicht aus einem abstoßenden Rachedurst, son­ dern weil man Menschenfleisch vor jeglicher anderen Speise ab­ solut den Vorzug gibt. ... die voraufgehenden Mordtaten, die Sitte, Menschen zu ko­ chen, die versammelte Menge jeglichen Standes und Alters, beider Geschlechter, Häuptlinge und Volk, Männer, Frauen und Kinder, die sich des bevorstehenden Schmauses mit gräßlichem Verlangen freuen ... Die Helfer bringen in die Runde gebackene Menschen - nicht einen, nicht zwei, nicht zehn; nein, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig zu einem einzigen Fest! Wir haben aus glaub­ würdiger Quelle erfahren, daß solcherart schon zweihundert Menschen aus solchem Anlaß gefressen worden sind . .. verzehrt ohne den geringsten Widerwillen, ja mit Hochgenuß! Um dieser widernatürlichen Neigung frönen zu können, ziehen sie in den Krieg, morden, entführen sie, ja berauben gar die Grä­ ber ... und so unersättlich ist der Appetit der Leute von Fidschi, h

daß man gelegentlich sogar an seinen eigenen verblichenen Kin­ dern so gehandelt .. Es war ein Hilferuf von der vordersten Front. »Nur wenige Mis­ sionare«, schreibt Gary Hogg in seiner Untersuchung Cannibalism and Human Sacrifice, »können größeren Greueln begegnet sein als die der Methodist Missionary Society.« Jedoch Königin Victoria und das »christliche Publikum« ließen die Glaubensboten in der fernen Südsee zunächst warten, denn einige Jahre später berichtet der Missionar David Cargill noch dringlicher, noch detaillierter nach London: »Wenn ein Mensch geopfert werden soll, wird das Opfer aus den Bewohnern einer fernen Gegend ausgewählt oder auf dem Ver­ handlungswege von einem Stamm beschafft, der nicht mit jenen verwandt ist, welche die Opferung vorhaben. Das Opfer wird noch einige Zeit am Leben gelassen und zur Mästung reichlich mit Nahrung versorgt. Vor der Opferung muß es sich, Füße, Schenkel und Hände nach vom gestreckt, auf die Erde setzen. Dann wird es gefesselt, so daß es kein Glied oder Gelenk rühren kann. In dieser Stellung wird es auf zu diesem Behufe erhitzte Steine gesetzt (welche zum Teil glühendrot sind) und sodann mit Laub und Erde bedeckt und dergestalt bei lebendigem Leibe geröstet. Wenn es gar ist, nimmt man es aus dem Ofen; man bemalt sein Gesicht und andere Teile schwarz, damit es einem Lebenden gleiche, fiir ein Fest oder einen Kriegszug geschmückt. Das Opfer wird zum Tempel der Götter getragen und, noch immer in sitzender Stellung ..., darge­ bracht.« Im Anschluß an diese religiöse Geste, die erst den bevorstehenden Verzehr sanktionierte, brachte man den gebratenen Menschen aus dem heiligen Bezirk, zerstückelte, verteilte und verspeiste ihn. Reverend Cargill war offenbar ein aufgeschlossener Mann, der Menschenessen aus entschuldbareren Motiven - er nennt Not und Racheverlangen - nicht ganz so streng verurteilt hätte. Die FidschiKannibalen aber konnten keinerlei mildernde Gründe vorbrin­ gen. »Der widernatürlichen Neigung, Menschenfleisch zu essen, be­ gegnet man bei ihnen in ihren entmenschtesten Formen. Die Fidschi-Insulaner verzehren Menschenfleisch ... aus bloßer Lust daran. Gefangene und Fremde werden häufig umgebracht und verspeist. Die Bewohner von Thakanndrove rauben Männer, Frauen und Kinder, um ihren Appetit auf menschliches Fleisch zu befriedigen; es geht die Rede, daß sie, Hyänen in Menschen­ gestalt gleich, Leichname ausgraben, selbst wenn diese schon zwei oder drei Tage in der Erde gelegen haben, und daß sie dieselben, nachdem sie sie im Meere gewaschen, rösten und fressen. Das * Wir geben die Berichte der Zeugen grundsätzlich kommentarlos wieder. Eine nähere Beschäftigung mit den Gcwährschaften Endet sich in Kap. 24.

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Fleisch von Frauen wird Männerfleisch vorgezogen, und wenn sie reichlich zu essen haben, verzehren sie den Kopf nicht. Die Gebeine jener, deren Leichname gefressen wurden, werden nicht bestattet; man wirft sie weg wie Tierknochen, und aus den kleine­ ren fertigt man Nadeln. Jüngst wurde eine Bootsbesatzung von dem Schiff' >Active< von den Eingeborenen in der Hoffnung angegriffen, sich ihrer Kleidung und Habe zu bemächtigen. Die vier Unglücklichen wurden gekocht und verzehrt, und auch aus ihren Knochen hat man nun Nadeln zum Segelnähen gemacht.« Die Fidschi-Inseln gaben lange Zeit das Kannibalenland par excellence ab. Nach Jahren hingebungsvoller Bekehrungsarbeit der christlichen Missionen und nachdem im Jahre 1874 Königin Vic­ toria die Inseln erworben und Großbritannien sich der Besserung der »entmenschten« Insulaner angenommen hatte, starb die Un­ sitte dort noch im 19. Jahrhundert aus. Zum Rückgang des Kanni­ balismus trug allerdings auch die »Verdünnung« der kannibali­ schen Insulaner durch massenhaft importierte Arbeitskräfte aus Indien bei, »die an Stelle der für die Feldarbeit unbrauchbaren Eingeborenen die Plantagen bestellen«.

Ähnlich ging es in einer anderen Hochburg des Menschenessens zu, in Neuseeland, wo der letzte amtlich bekanntgewordene Fall von Anthropophagie sich 1843 zugetragen haben soll. Die Be­ mühungen der Missionare um die Seelen der Bewohner fielen bei den Maori auf fruchtbaren Boden und führten zu einer Ab­ nahme der Stammesfehden und des damit eng verbundenen Kan­ nibalismus. Auch hier schwand der Greuel infolge des Rückgangs der Urbevölkerung dahin, was keineswegs nur ihren selbstver­ zehrenden Gewohnheiten und zahlreichen »Fleischkriegen«, son­ dern vor allem weniger segensreichen Mitbringseln aus der zivi­ lisierten Welt zuzuschreiben war: Alkoholismus, eingeschleppten Krankheiten und Übergriffen landgieriger Einwanderer gegen die Maori. Wohl töteten und verzehrten die Maori bei der Ver­ teidigung ihres Rechts auf Heimat immer wieder einzelne Euro­ päer, aber die Anthropophagie erwies sich als ein unzureichendes Kampfmittel. Der barbarische Appetit der Maori vermochte der massierten Einwanderung nicht Herr zu werden. (Heute sind die Maori nur noch eine kleine geduldete Minderheit in ihrer eigenen Heimat.) Andreas Reischek gibt in seinem Neuseeland-Buch Sterbende Welt ein anschauliches Beispiel für den auf den Maori-Inseln vor der Einführung europäischer Gesittung herrschenden Kannibalismus. Ein Häuptling erhielt eines Tages überraschend Besuch von einem Amtskollegen. Da zur Bewirtung kein Fleisch im Haus war, ver­ fiel der auf seine Gastfreundschaft haltende Unmensch auf einen grausigen Ausweg. Er ließ von einer seiner Frauen eine Koch13

grübe, »Hangi« genannt, ausheben und vorbereiten. Reischek, den Maori durchaus wohlgesonnen, berichtet: »Als die Frau den Hangi fertig hatte, befahl ihr der Gatte, ihr zwei Jahre altes Kind zu bringen. Weinend kam sie damit zum Häupt­ ling. Dieser riß es aus ihren Armen, tötete es und befahl der Mutter, es in den Hangi zu geben. Dann ließ er von ihr noch einen zweiten, größeren Hangi her­ stellen. Als sie die Arbeit beendet hatte, gab er ihr mit seiner Nephritkeule einen Schlag aufs Hinterhaupt, der sie tot zu Boden streckte. Darauf stieß er sie mit dem Fuß in den Hangi und ließ diesen mit Erde bedecken. Als die Leichen gebraten waren, wur­ den sie von den Häuptlingen verspeist. Nach diesem fürchter­ lichen Mahle tanzten die Häuptlinge den Kriegstanz.« Reischeks Schilderung wirkt zwar wegen des nachgerade un­ glaublichen Appetits der zwei Männer etwas fragwürdig, aber sie zeigt doch, daß es bei den Maori anscheinend nicht ratsam war, es an Gastfreundschaft fehlen zu lassen. Ein Häuptling Paimara erzählte dem Verfasser der Sterbenden Welt von einem Besuch, den die Leute von Aratupa von einem befreundeten Stamm er­ hielten. »Sogleich wurden die Kochplätze hergerichtet und Speisen berei­ tet. Als aber die Gäste sahen, daß sie kein Menschenfleisch vorge­ setzt bekämen, fielen sie über ihre Gastgeber her, töteten die mei­ sten und verspeisten sie dann.«

Anders entwickelten sich die Dinge im vielberufenen »Bollwerk der Menschenfresserei«, auf Neuguinea. Die zivilisatorische Er­ schließung der großenteils unwegsamen Insel durch die Kolonial­ mächte - und heute durch Australien und Indonesien - ist noch immer nicht abgeschlossen. Entsprechend schwer hatte es die moralische Entwicklungshilfe angesichts einer verwirrenden Viel­ falt religiös-rituell-magischer Vorstellungen, in denen das Men­ schenessen von alters her einen festen Platz hatte. Noch ausjüngster Zeit werden kannibalische Gewohnheiten als Volkssitte gemeldet (oder kolportiert). Die Behörden der Staaten, die Neuguinea unter sich aufgeteilt hatten, bemühten sich auch mit juristischen Mitteln, den Einge­ borenen beizubringen, daß Menschenverzehr ein Verbrechen sei. Wie schwer es war, ihnen diese Einsicht zu vermitteln, schildert J. H. P. Murray, Anfang dieses Jahrhunderts stellvertretender Gouverneur und Chief Judicial Officer in Papua: »Gewisse Stämme hier lieben Menschenfleisch und wollen einfach nicht einsehen, warum sie es nicht essen sollten.« Kleinlaut bekannte der Australier: »Tatsächlich habe ich einem Eingeborenen, der mir sagte: >Warum sollte ich kein Menschenfleisch essen?< nie eine überzeugende Antwort geben können.« In diese Lage kam Murray während seiner richterlichen Amts­ 14

tätigkeit mehr als einmal. Er zitiert die unbefangene Aussage eines Zeugen während eines solchen Kannibalenverfahrens: »Wir kochen die Leichen. Wir zerstückeln sie. Wir essen sie heiß und kalt. Wir essen zuerst die Beine. Wir essen sie, weil sie wie Fische sind. Wir haben Fische in den Bächen und Känguruhs im Gras. Menschen aber sind unsere richtige Nahrung.« Zum erstenmal begegnen wir hier der »Ausrede« der Kannibalen, daß Menschenfleisch das Nonplusultra unter den Lebensmitteln sei, und dazu der Gleichsetzung mit dem Fisch. Im polynesisch­ melanesischen Raum, wo immer wieder Menschen als Fische ge­ opfert wurden, spielte der »große Fisch« eine wichtige Rolle auf dem Speisezettel.

William Mariner, der im Anfang des 19. Jahrhunderts nach einem Überfall auf sein Schiff in die Gefangenschaft der Tonga-Insulaner geriet, schildert betroffen und präzise, wie ein Stamm der Tonganer nach einem Kriegszug die Gefangenen zum Verzehr zube­ reitete. Mariners Bericht verdient, zitiert zu werden, da der Autor zu den wenigen weißen Augenzeugen kannibalischer Schlachtun­ gen gehört. »Die Männer von Hapai kehrten mit etwa fünfzehn Gefangenen zurück. Einige der jüngeren Häuptlinge, welche die Gewohnhei­ ten von Fidschi angenommen hatten, machten den Vorschlag, die Gefangenen umzubringen und dann zu braten und zu essen. Man stimmte ihnen bereitwillig zu; manche, weil sie solcherlei Nahrung schätzten, andere, weil sie sie kosten wollten, da sie solches Tun für männlich und kriegerwürdig hielten. Ein paar von den Gefangenen wurden alsbald getötet. Man teilte ihr Fleisch in kleine Portionen auf, wusch es mit Meerwasser, wickelte es in Bananenblätter und röstete es unter heißen Steinen. Zwei oder drei wurden im ganzen gebraten, ebenso wie ein Schwein. Die Leiche wurde mit dem Saft des Bananenbaumes eingerieben und darauf für einige Minuten aufs Feuer geworfen. Sobald sie warm war, schabte man sie mit Muscheln oder Messern ab und wusch sie anschließend. Darauf wurde sie auf den Rücken gelegt, worauf der Koch den Hals aufschnitt, Luft- und Speiseröhre her­ auszog und dahinter einen Spieß durchschob ... Dann schnitt er aus der Bauchdecke ein kreisrundes Stück und zog die Eingeweide heraus, wobei er alles, was daran hing, abriß oder mit einer Bam­ busklinge ablöste. Nun durchschnitt er das Zwerchfell, und Speiseund Luftröhre, Brustinhalt, Magen und Leber wurden mit den Eingeweiden weggebracht. Die Leber, die man mit dem Rumpf kochen wollte, wurde beiseite gelegt, das übrige gewaschen und über Glutasche gedünstet, dann verteilt und als Vorspeise ver­ zehrt. Als nächstes füllte man den Rumpf mit heißen Steinen, jeder in 15

ein Brotfruchtbaumblatt gewickelt, und verschloß mit Stöpseln aus zusammengedrehten Blättern rasch alle Öffnungen. Sodann wurde die Leiche bäuchlings in ein Loch in der Erde gelegt, das mit erhitzten Steinen ausgekleidet war ... Nun legte man einige Zweige auf den Rücken des Leichnams und streute oder vielmehr häufte über das Ganze eine große Menge Bananenlaub; darüber wurde Erde aufgeschichtet, damit kein Dampf entweichen konnte. Wie schon erwähnt, wurde die Leber neben den Rumpf gelegt und dazu auch einige Yams. Auf diese Weise war die Leiche in etwa einer halben Stunde gar.« Mariners Schilderung des Dampfschnellkochverfahrens der Tonganer weist leider einen kleinen Schönheitsfehler auf: Die Fertig­ keit, mit der die angeblich eben erst vom kannibalischen Vorbild der Fidschi-Insulaner verführten Tonganer ihre Mahlzeit zube­ reiteten, läßt keineswegs auf primitive Menschenfresserei, sondern auf eine »Kochkunst« schließen, die eher alteingebürgerte Übung des Menschenessens verrät.

Afrika galt lange Jahrhunderte als anthropophagenfrei, trotz ver­ einzelter Anklagen, die antike Autoren wie Ptolemäus erhoben. Mit dem Beginn der systematischen Erkundung und Erschließung fiel Licht in dieses Dunkel, und alsbald wurde das Innere des Kon­ tinents zum »darkest Africa«. Dabei waren in Abständen immer wieder Berichte in die zivilisierte Welt gelangt, die eigentlich auf das Entsetzen, das Stanley und andere Forschungsreisende emp­ fanden, hätten vorbereiten sollen. Schon Anno 1597 war zu Frank­ furt am Main Edoardo Lopez’ Warhaffte und Eigentliche Beschrei­ bung des Königreichs Congo ... erschienen, in der es über die »Anziken« am Unterlauf des Kongo heißt: »Sie haben ihre Metzigen oder Fleischhäuser von Menschen Fleisch, wie man bey uns von Ochsen, Schaff und ander Fleisch pflegt zu haben. Denn die Feinde, welche sie im Krieg gefangen, schlachten sie, und verkauffen auch ihre Leibeigene Knecht, wenn sie es können an höher Werth bringen, wo nicht, so geben sie dieselbige den Metzigem, mit dem stück zu braten oder zu sieden, außzuhauwen.« Nicht genug der Barbarei von Menschenfleischereien (die von nun an noch lange durch die Berichte von Afrika-Reisenden gei­ stern), die Opfer selbst stiften zum Kannibalismus an: »Und das noch seltzamer und wunderlicher zu erzehle ist, find man etliche, die ihres Lebens müd, oder sonst für Männlich und Hertzhafftig wollen gehalten seyn, dieweil sie vermeinen, daß es ein rühmliche That sey, wenn einer seins Lebens nicht acht, geben sie sich also frey willig dem Metziger under die Hand, sonderlich der Herren Underthanen, die sich bißweilen ... zur Schlachtbank und Fresserey selbst aufopfferen: wie sie denn auch ihre Leibeigene mesten und die feisten nach einander schlachten und fressen.« 16

Man wird Lopez’ Erzählung cum grano salis nehmen müssen, aber im Kem scheint sie durch eine Fülle späterer Berichte aus dem Kongo und umliegenden Gegenden bestätigt zu werden (siehe Kapitel n). Die Frankfurter Ausgabe des Regnum Congo freilich nimmt Lopez so genau beim Wort, daß sie zu der zitierten Textstelle eine Illustration der Brüder de Bry bietet, die eine veritable Menschenfleischerei zeigt - getreu nach dem Vorbild eines Frankfurter Metzgerladens der damaligen Zeit.

Ein ungleich glaubhafterer Bericht aus dem Kongo wird, Jahr­ hunderte später, von einem deutschen Missionar überliefert. Pater Joseph Fräßle, ein sachlicher und aufgeschlossener Zeuge der Zu­ stände in diesem Teil Afrikas, läßt einen kongolesischen Jungen zu Wort kommen, der zusammen mit seinem Bruder Kannibalen in die Hand gefallen war, aber hatte fliehen können. Das Kind erzählte dem Missionar von seiner Gefangennahme: »Dann banden sie mich an einen Baum und meinen Bruder an einen andern. Nicht weit davon säuberten sie mit ihren Messern einen Platz im Walde, brachten ihre Töpfe und das Feuer aus dem Kahn, sammelten Holz und holten Wasser herbei. Als das Feuer große Flammen schlug, stellten sie die Töpfe auf das Feuer. Dann kamen sie alle zu uns und besahen uns. Sie stritten sich vor uns, wen von beiden sie losbinden sollten. >Diesenden Menschen essen« oder >Speise für den Häuptling«, und vielleicht können wir hier einige Spuren früherer Zeiten beobachten, in denen der Leichnam wirk­ lich verzehrt wurde.« Cook, ein aufmerksamer, aufgeklärter und humaner Beobachter, nimmt in seinem Bericht ganz die Partei des Opfers und zeigt sich von dieser »Besserung« der Tahitianer wenig beeindruckt; dem Opfer der zeremoniellen Geste konnte es im Grunde einerlei sein, ob das Auge verzehrt wurde oder nicht, solange es sein Leben dafür einbüßte. Lakonisch bemerkt der große Entdecker: »Es wäre sehr zu wünschen, daß dieses irregeleitete Volk vor der Ermor­ dung seiner Menschenopfer, mit dem es seinem Gotte einen un­ sichtbaren Schmaus bereiten will, ebensolchen Abscheu hegen lernte, wie es ihn bereits vor wirklicher Menschenfresserei hat.« - Der Missionar James Wilson bemerkt zum Sinngehalt dieses nachkannibalischen Brauchs: »Man erklärte das grausame Opfer auf folgende Art: Der Kopf wird für heilig gehalten und das Auge für den wertvollsten Teil. Dieses wird daher dem Könige, als des Volkes Haupt und Auge, überreicht ... Hierdurch, so glauben sie, erfahre er großen Zuwachs an Weisheit und Klugheit; auch glauben sie, «daß ein Schutzgott bei dieser Zeremonie zugegen sei, das Opfer annehme und durch Mitteilung von mehr Lebenskraft die Seele der Könige stärke.« Gebesserte Kannibalen waren auch die südamerikanischen Coroato-Indianer. Wohl schlachteten, Berichten zufolge, sie ihre Kriegsgefangenen noch ab, doch beschränkten sie sich auf sym­ bolischen Kannibalismus. Bei ihren Festen, so erfahren wir, schnit­ ten sie einem erlegten Feind einen Arm ab und sogen daran. Dazu kam noch die kulinarische Verfeinerung, daß der Arm in Mais­ wein getaucht wurde. Nicht ganz so weit war im letzten Jahr­ hundert die Abschaffung des Menschenessens in Dahomey ge­ diehen, wo wir dem sogenannten gerichtlichen Kannibalismus begegnen. Wenn ein »Verbrecher« hingerichtet wurde, fing ein Gehilfe des Königs etwas vom Blut des Exekutierten auf und bot es der Majestät dar. Der Herrscher benetzte die Spitze seines klei­ nen Fingers mit der Flüssigkeit und leckte sie ab. Der Brauch der Darreichung eines Auges, den Cook aus Tahiti berichtet, soll sich ebenso auf Hawaü und Samoa gefunden haben. Auf Samoa wurde außerdem eine kannibalische Kümmergeste geübt, deren Demut fast rührend zu nennen ist. Der Missionar George Brown berichtet von einem Brauch, der mit einiger Wahr­

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scheinlichkeit auf ehemaliges gerichtliches Menschenessen hin­ deutet. »Wenn eine Gruppe von Samoanern Verzeihung für ein Vergehen erflehen wollte, verbeugte sie sich vor dem Haus des beleidigten Häuptlings, und dabei hielt jeder ein kleines Büschel Brennholz, Laub, Steine und Erdreich in der Hand. Dies waren Symbole der tiefsten Selbsterniedrigung, die ausdrücken sollten: >Hier sind wir, die wir so schwer gefehlt haben.. Und hier sind die Steine, das Brennholz, Laub und Erdreich für den Ofen, in dem du uns braten kannst, und iß uns, wenn es dein Wille ist. < Der Häuptling war gesittet genug, dieses Angebot auszuschlagen. »In den meisten Fällen trat er mit einer schön geflochtenen Matte aus dem Haus, die er den Flehenden gab, >damit sie ihre Schande bedecken konn­ ten \ i : :

es sei kein großer Unterschied zwischen menschlichem und Schweinefleisch. Pork und Beef Englands hatten ihn nicht bekehren können. Ochsenfleisch wiederum fand ein alter Mann aus einem Fan-Stamm »so gut und fett wie Menschenfleisch«. Die kannibalischen Kopfjäger der Kajan-Dajak stellten den Menschen ebenfalls gern dem Schwein an die Seite, und in Neuguinea meinte man, daß beide Fleischarten zwar ähnlich schmeckten, der Mensch aber ungleich verdaulicher sei; er galt - was wir hoffen wollen als zarter von Geschmack, und nach dem Mahl stelle sich weder Völlegefühl noch Brechreiz ein. So verschieden die Kannibalenländer, so verschieden der Geschmack. De gustibus anthropophagorum . .. Affe, Ochse, Hund und Schwein - unbeholfene Vergleiche, um ein Besonderes zu beschreiben. Solche Umstände machten die freimütigsten Menschenesser nicht, für die Menschenfleisch eben nur dem Menschenfleisch vergleichbar war, bestes Fleisch schlechthin. Als unübertrefflich galt es den Batak wie den Bewohnern der Neuen Hebriden. Marco Polo - wir werden auf ihn zurückkommen -, der selbst nie nach Japan gelangte, wußte gleichwohl zu berichten, in »Zipangu« Qapan) betrachte man diese Speise als das Delikateste, was auf Erden zu finden sei. Und niemanden wird es verwundern, daß die Bewohner des Fidschi-Archipels alle tierische Kost am höchsten Luxus maßen. Fand, was anscheinend selten vorkam, anderes Fleisch ihren Beifall, so bemerkten sie anerkennend: »Es ist so gut wie bakolo.«

Die weibliche Emanzipation lag bei den meist patriarchalisch ge­ prägten Kannibalengemeinschaften erwartungsgemäß im argen. Frauen waren häufig von Menschenfleisch-Mahlzeiten ausge­ schlossen; allerdings nur als Esser, nicht als Gericht. Ganz allge­ mein ist zu konstatieren, daß ihr Fleisch als ungleich schmackhafter galt denn das der Männer. Von den Fidschi-Inseln über Neuguinea bis ins anthropophage Afrika verzehrte man mit wenigen Aus­ nahmen das zarte Geschlecht lieber als harte, zähe Männer - vieler­ orts freilich noch lieber Kinderfleisch. Erstaunen wir, daß Menschenesser, wie wir, generell frischem, gesundem Fleisch den Vorzug gaben? Allerdings wurden hin und wieder Kranke gegessen, wenn auch unter primitiven Hygiene­ vorkehrungen. Der deutsche Landsknecht Hans Staden, der im 16. Jahrhundert bei den Tupinamba in Ostbrasilien gefangen war, berichtet in seiner Indianischen Historia von der Verspeisung eines Sklaven, der einäugig und von einer Krankheit befallen war. Die Tupi warfen immerhin aus Ekel den Kopf und die Eingeweide fort. Der Reisende Hermann von Wißmann »hörte« auf einer Afrikareise Ende des 19. Jahrhunderts, daß bei den Kalebue, be­ rüchtigten Kannibalen am Lomami, »auch an Krankheiten ge­ storbene Leute aufgefressen werden. Die Eingeborenen sagten,

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als man sich darüber wunderte ..., man schnitte dem Toten die äußersten Glieder der Finger und Fußzehen ab, wohin nach den, Tode die Krankheit dringe, salze dieselben ein, wickle sie in Blät­ ter und werfe sie ins Wasser; alles übrige könne man unbesorgt verzehren«. Im großen und ganzen darf man den Kranken verzehr getrost eine Inversion des Kannibalismus nennen. Gesundes und zumal junges Fleisch war jedenfalls in der Regel am höchsten geschätzt. Die Hill-Anga in Nigeria verkauften erbeutete Knaben, die sie eigent­ lich lieber gegessen hätten, gewinnbringend in die Sklaverei. Alte Gefangene verspeisten sie nicht; sie waren ihnen zu trocken. Der bereits erwähnte Maori-Häuptling, den man nach England ver-i bracht hatte, nannte neben Frauen zarte Kinder als große Delika-; tesse. In Nigeria huldigten auch die Ibo - die erst vor einigen Jahren durch die Ereignisse in Biafra das Mitgefühl der zivilisierten Welt in solchem Maße erregten - früher der gleichen Kost als Gipfel der Gaumenlust. Der Kinderverzehr als abscheulichste Form des Menschenessens liegt unserem Vorstellungsvermögen besonders fern. Nicht immer war das in Europa so. In der Mitte des 19. Jahrhunderts untere suchte der belgische Professor A. Spring bei Namur die vorge­ schichtlichen Höhlen von Chauvaux und entdeckte dort eine große Zahl menschlicher und tierischer Gebeine. Sämtliche Röh­ renknochen waren entzweigebrochen, »um zum Mark zu gelan­ gen«, und sämtliche menschlichen Knochen stammten von jungen Leuten und Kindern. Ein unerfreuliches Zeichen, daß man auch im Europa der Präzivilisation - in »darkest Europe« - der jugend­ lichen Zartheit in höchst unzarter Weise seinen Tribut zollte. Die Kannibalen schonten, zumeist, das Alter. Immerhin berichtet der portugiesische Afrika-Reisende Serpa Pinto von einer Vor­ liebe für betagtes Fleisch. Er meldet uns von den afrikanischen Bihenos (nebenbei auch Hundeesser): »Anscheinend ziehen sie bejahrte Leute vor, und ein weißhaariger alter Mann scheint ein passendes Geschenk für einen reichen Sowa zu sein, der ein Fest­ mahl geben will.« Die Niam-Niam, denen nach Schweinfurth nichts Menschenfresserisches fremd war, verspeisten »ferner Leute, die eines plötzlichen Todes starben und in dem Distrikt, wo sie lebten, vereinzelt und ohne Anhang einer Familie dastanden«. Nüchtern und nachsichtiger als gewohnt fügt der große deutsche Forscher an: »Es ist dies jene Kategorie von Menschen, die bei uns der Anatomie verfallen ...«

Schmecken Farbige besser als Weiße? Aus dem australischen Queensland wurde lange nach dem Beginn der Kolonisation, aber vor der endgültigen Durchsetzung westlicher Moralbegriffe ge­ meldet, daß die Ureinwohner zwar nicht den Weißen gefährlich würden, aber großen Appetit auf Chinesen entwickelten, die sie 28

als eine andere Art von Schwarzen und dazu schmackhafter be­ trachteten, da die eingefuhrten chinesischen Arbeiter sich vor allem von Reis und anderer pflanzlicher Kost ernährten. (Trotz­ dem wäre der Schluß übereilt, daß gleich und gleich sich immer gerne gegessen hätte.) Als Winwood Reade sich in Afrika bei den Fan erkundigte, warum sie Schwarze zum Essen vorzögen, erhielt er die Auskunft, das Fleisch der Weißen sei »giftig«. * Mit diesem diskriminierenden Vorurteil beginnt eine lange Reihe von herabsetzenden Aussagen über die Bekömmlichkeit von Weißen. Nach Otto Finsch wurden auf Neubritannien in der ersten Zeit nach der Niederlassung weißer Händler, von 1875 bis Ende 1880, bei insgesamt dreizehn Mordtaten nur vier Mis­ sionslehrer verzehrt, und diese waren sämtlich Farbige. Als auf Neuseeland weiße Missionare einem Häuptling ihre Furcht ge­ standen, sie könnten gegessen werden, erhielten sie die herab­ lassende Antwort, seine Leute würden ihren Appetit lieber bei den Nachbarstämmen stillen. Schwarzes Fleisch schmecke viel angenehmer, denn die Weißen seien zu salzig. Der Geschmack der Europäer versalzte in vielen anderen Gegenden Menschen­ essern die Lust auf weißes Fleisch. Schon der arabische Reisende Ibn Batuta notierte über einen zentralafrikanischen Anthropophagenstamm: ». .. das Fleisch der Weißen aber verschmähen sie als unreif.« In einer ethnographischen Untersuchung über den Kanni­ balismus aus dem Jahr 1887 liest man über die Botokuden in Brasilien die geradezu unmutige Feststellung: »Überhaupt hat man bemerkt, daß, sobald sie Negerfleisch haben, sie das Fleisch der Weißen nicht achten.« Nicht immer und nicht überall freilich herrschte solch wohltäti­ ger Rassismus. So mancher Missionar endete trotzdem, etwa als »Märtyrer der Südsee«, im Magen ungebesserter Menschenesser. Dumont d’Urville, der berühmte französische Weltumsegler, mußte erleben, daß die Neukaledonier die nackten Arme und Beine seiner Matrosen mit »Lüsternheit« betrachteten. Und gerade der anderwärts schützende Salzgeschmack ließ den Kannibalen am Lualaba das Wasser im Munde zusammenlaufen, als Stanley mit seinen Begleitern an ihnen vorüberglitt. »Bo-bo-bo-bo!« rie­ fen die schwarzen Gourmets beifällig, »da kommt Fleisch ge­ schwommen! Ah, ah, Fleisch! Wir werden Fleisch die Hülle und Fülle haben!« Übrigens wurden auch Schwarze wegen ihrer Salzigkeit ästimiert. Der Missionar W. H. Bentley, der um die Jahrhundertwende für die Missionsgesellschaft der englischen Baptisten im Kongo wirkte, berichtet, wie die Eingeborenen wiederholt einen seiner * Der Vorwurf der Giftigkeit wurde zuweilen auch gegen Frauenfleisch erhoben. Die Kaschibo am Amazonas, Exzeßkannibalen, die angeblich sogar ihre Alten zum Sterben drängten und verzehrten, verschmähten weibliches Fleisch aus die­ sem Grunde.

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Kollegen baten, ihnen doch einige seiner afrikanischen Gehilfen zu verkaufen, die von der Küste stammten. Da sie vom Rand des großen Salzmeers kamen, müßten sie sehr »süß« sein - Salz wurde wie Zucker als »süß« bezeichnet. Sie boten dem Missionar mehrere ihrer Frauen für einen der Süßen von der Küste und wollten nicht begreifen, warum er ihre Offerte ausschlug. »Du ißt Geflügel und Ziegen, und wir essen Menschen; warum denn nicht? Was ist da der Unterschied?«

4 Gourmands und Gourmets »Alk Dinge sind Giß und nichts ohne Giß allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Giß ist.« (Theophrastus Paracelsus)

Wir dürfen annehmen, daß die ersten Menschen ihre Nahrung verzehrten, wie sie ihnen zwischen die Finger oder Zähne kam. Die Kulturgeschichte der Kochkunst, das heißt der Zubereitung von Nahrung, beginnt mit dem ersten Schritt davon weg: zur »Entstellung« des natürlichen Speiseangebots. Mit der Feinschmekkerei fängt auch ein Teil der allgemeinen Kulturgeschichte an. Die Kannibalen verzehrten ihre Kost nur selten roh. Das Koch­ buch des Menschenessens, aus einer Fülle von Quellen gespeist, enthält Rezepte, die es an Raffinesse mit so manchen Vorschriften der bürgerlichen und feinen Küche leicht aufnehmen. Wenn wir uns der Meinung anschließen, daß sich in der Kochkunst der Völ­ ker ihr Zivilisationsgrad spiegelt, müssen wir aus den Verfeine­ rungen der Menschenkochkunst schließen, daß es auch eine Kultur des Kannibalismus gab. Die Kunst und Kultur des Kochens setzt Hygiene voraus, rein­ liche, reinigende Vorbereitung des Speisematerials. In diesem Punkt ließen die Menschenesser es keineswegs fehlen. Wir haben von Hans Staden erfahren, daß die Tupi Kopf und Gedärme eines einäugigen und dazu kranken Gefangenen verschmähten. Schweinfurth muß anerkennen, daß die Niam-Niam trotz ihrer wahllosen Menschenfleischgier Tote, die an ekelerregenden Krankheiten gestorben waren, vom Speisezettel strichen. Wie stand es mit der Hygiene im Schlaraffenland der Anthropophagie, auf der Fidschi-Gruppe ? Dort wurden die Leichen, die man bei Angriffen oder Streifzügen auf umliegenden Inseln erbeutet hatte, nach der Landung an hei­ mischen Gestade ins Meer geworfen, um sie der Gottheit und dem eigenen Magen gesäubert darzubieten. Selbst die Leichname, 30

welche die Insulaner in - wie Missionar Cargill ihnen vorwirft »hyänenhafter« Gier aus den Gräbern rissen und die oft mehrere Tage im Erdreich gelegen hatten, wurden säuberlich im Meer gewaschen, ehe man sie zubereitete und verschlang. G. Hogg vermerkt, daß der Rumpf stets als erstes verzehrt wurde, aus dem einleuchtenden Grund, daß sich dieser Teil des Leich­ nams im tropischen Klima des Archipels nicht lange halten konnte. Alfred St. Johnston schrieb 1883 : »Einige dieser Häuptlinge waren solch ungewöhnliche Schlemmer, daß sie den ganzen bakolo, wie die zu essende Menschenleiche genannt wurde, sich selbst vorbe­ hielten. Sie ließen das Fleisch immer wieder leicht aufkochen, damit es nicht in Verwesung übergehe.« Verwestes Menschen­ fleisch verzehrte man freilich doch, wenn die Gier übermächtig wurde. »Grundsätzlich rühren die Fidschi-Insulaner nichts Ver­ dorbenes an, aber um sich ja rfichts von einem Menschenbraten entgehen zu lassen, aßen sie ihn noch, wenn das Fleisch kaum mehr zusammenhing.« Die große Mehrzahl der Menschenesser verzehrte ihr Mahl in der einen oder anderen Weise zubereitet (wie ja auch bei unseren Eßgewohnheiten der Rohverzehr von Fleisch sich auf einige Aus­ nahmen wie Tatar beschränkt). Nach einer Legende von der Osterinsel wärmten Menschenesser dort das Fleisch unter den Achseln und zwischen den Beinen an. »Dann verschlingen sie es mit Freuden« (A. Métraux). Die Basoko im Kongo verspeisten jegliches Menschenfleisch mit Ausnahme von Infektionskranken und Häuptlingen, und es wird deshalb nicht überraschen, daß sie es auch roh zu sich nahmen, wenn sie keine Lust hatten, es erst lange zu rösten oder einzupökeln. A. S. Bickmore meldet, bei den Batak (die uns abwechselnd als Justizkannibalen oder aber als kulinarische Menschenesser geschildert werden) sei man so hem­ mungslos gewesen, einem zur Strafe des Gegessen werdens Ver­ urteilten Stücke Fleisch herauszuschneiden und sie mit dem größ­ ten Wohlgefallen »noch warm und dampfend« zu sich zu nehmen. Immerhin ließ man es sich angelegen sein, die Stücke in Lambal zu tauchen, eine Würze aus rotem oder Chilipfeffer und Salzkömem. Ein anderer »Gewährsmann« weiß, man habe sich mit Salzwasser und Zitronensaft begnügt, nachdem die Menge »wie rasend« auf die Opfer losgestürzt sei. Rohkost beschränkte sich jedoch auch beim Menschenessen im allgemeinen auf ausgesuchte, für besonders delikat - oder magisch bedeutungsvoll - geltende Partien. Südafrikanische Stämme prak­ tizierten nicht nur den Rohverzehr des menschlichen Hirns, sie spalteten auch die Röhrenknochen der Länge nach, um das Mark herauszusaugen. Ähnliche Feinschmeckerei wurde, wie wir ge­ sehen haben, bereits im frühgeschichtlichen Europa geübt, wie nicht nur die Funde von Chauvaux bezeugen. 31

1899 entdeckte man in einer Höhle bei Krapina in Kroatien 649 Fragmente von Menschenknochen aus der Zeit des Neanderthalers. Es waren die nichteßbaren der sterblichen Überreste von vierundzwanzig Europäern, die kannibalischer Gier zum Opfer gefallen waren. Aus den zerbrochenen Knochen hatte man das Mark heraüsgeholt, und einige Gebeine ließen auch erkennen, daß sie von Menschen benagt worden waren. Die Höhlen bei Chauvaux und Krapina blieben nicht die einzigen Entdeckungen aus unserer eigenen rohen kannibalischen Vorzeit. Also auch wir? Zubereitung erfordert Vorbereitung - Aufbewahren, Zerteilen und andere Kunstgriffe der Normal- wie Kannibalenküche mehr. Bei Gefangenen mußte zuallererst der Flucht vorgebeugt werden. Auf den Marquesas geschah dies durch Brechung der Schenkel­ knochen. Kinder hängte man lebend auf, bis die Reihe an sie kam. In Afrika, vor allem im Kongo, wurden Gefangene mehrere Tage lebend und nach der Tötung noch einmal ins Wasser gelegt. Dies geschah aus zweierlei Gründen: einmal, um das Fleisch der Schwarzen zu bleichen, zum andern, damit sie sich leichter ab­ häuten ließen. Wißmann weiß aus dem Kongo zu berichten, man habe Erschlagene über Nacht ins Wasser gelegt und ihnen am nächsten Tag Unterschenkel und Hände abgeschnitten. Diese wur­ den auf einen Ameisenhaufen gelegt, sozusagen zum Vorkosten, denn »wenn die Ameisen von dem Fleische essen, so ist es gut«. Auf den Marquesas zog man den Opfern die begehrten Einge­ weide mit Stachelstöcken aus den unteren Körperöffhungen. Die Fidschi-Insulaner tranchierten ihre Speisemenschen, wenn die Öfen vorbereitet waren. Bei der Zerlegung hielt man tellerför­ mige Behältnisse darunter, damit kein Blut verlorenging. Fiel dennoch ein Tropfen auf die Erde, wurde er »mit größter Gier aufgeleckt«. Die einzelnen Fleischstücke wanderten, sorgsam in Bananenblättcr gewickelt, in den Ofen. Jedenfalls wurde das Fleisch der Opfer, entgegen manchen entsetzten Missionarsbe­ richten, nicht roh verschlungen. Die Fidschi-Insulaner, perfekte Menschenesser mit langer anthropophager Tradition, hätten solch eine Roheit als unzivilisiert von sich gewiesen. Hans Staden gibt uns einen sehr anschaulichen Augenzeugenbe­ richt von den Vorbereitungen, die seine Gastgeber für ein Men­ schenmahl trafen. ». . . dann schlägt jener ihm hinten auf den Kopf, daß das Gehirn herausspringt. Sogleich nehmen ihn die Weiber, ziehen ihn auf das Feuer, kratzen ihm alle Haut ab, machen ihn ganz weiß und stopfen ihm den Hintersten mit einem Holze zu, damit ihm nichts abgeht.«

Wir schreien gelegentlich »wie am Spieß« - obwohl unsresglei­ chen, der Mensch, kaum je am Spieß gebraten wurde. Eines der 32

^wenigen Beispiele für diese Zubereitungsart stammt aus Bomeo. Kopfjäger der Dajak-Stämme bereiteten einst ihre erschlagenen ¿Feinde und, bei Nahrungsmangel, auch ihre eigenen kranken eGenossen an Bratspießen zu. Im allgemeinen aber dünsteten die ^Kannibalen, die das Menschenessen als Sitte betrieben, das Opfer £in einem Ofen, den sie in die Erde gruben (siehe unten). um Zerlegen bediente man sich auf Neupommem und Neuecklenburg scharfer Bambusstreifen. Die Maori verwendeten ¡fobsidianscherben. Doch ist es nicht so, daß die »primitiven« MenRschenesser ihre Werkzeuge nicht verfeinert hätten; ein barbari­ sches Zerreißen des Menschenfleisches war keineswegs immer die [Regel, zumal nicht bei Völkerschaften, denen Beobachter aus dem [Westen eine gewisse Kulturhöhe zugestanden. Schon Captain ¡Cook stellte fest, daß es auf Hawaii ein mit Haifischzähnen be­ stücktes Instrument gab, das man zum Zerschneiden von mensch­ lichem Fleisch verwandte. (Ein ähnliches Gerät fand sich auch im fernen Neuseeland.) Der Reisende Turner entdeckte vor über hundert Jahren auf Neukaledonien ein Werkzeug zum Mensehen tranchieren, das den Namen »Grab« trug. Es handelte sich ium eine geschärfte Serpentinscheibe, mit der man dem Opfer den Leib aufriß; mittels eines weiteren Geräts holte man die Einf geweide heraus, bis der ganze Leichnam mit Hilfe dieses chirurgif sehen Bestecks zergliedert war. i Uralt ist die Benutzung eines primitiven Ofens. »Statt das Fleisch I an den Spieß zu stecken«, schreibt, K. Birket-Smith in seiner Ge­ ischichte der Kultur, »kann man es in Blätter einpacken und in der f warmen Asche oder mit heißen Steinen zusammen in einer Erdi grübe vergraben. Solche Erdöfen sind unter primitiven Stämmen 5 aller Erdteile weit verbreitet, haben sich aber sogar bei so fort­ geschrittenen Völkern wie den Polynesiern und den Nordwestindianem im Gebrauch erhalten.« Genauso machten es Kannibalen. Bei den »Öfen« handelte es sich um Löcher, oft bis zu einem Meter tief und mit Steinen ausge­ kleidet. Das Garen der Nahrung geschah zumeist mittels erhitzter • Steine. Am Carpentariagolf wurden sämtliche verstorbenen Anj- verwandten so zubereitet. Man legte die Leiche auf eine Schicht I von Katablättem, bedeckte sie mit einer Lage Rinde und häufte i darüber Erde auf. Im Fidschi-Archipel bestand die Deckschicht ' aus Laub und Asche; außerdem wurde der Leichnam erst sach­ verständig in Stücke zerlegt, die man in Blätter wickelte. Die Torresinsulaner - Kopfjäger - buken nur die erbeuteten Köpfe auf diese Weise. Auf Tonga wiederum dünstete man den ausge­ weideten Rumpf unzerteilt und ausgefullt mit heißen Steinen, jeder mit einem Blatt umhüllt.

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In der Technik des Schnellgarens, die Mariner von Tonga schil­ dert, unterboten die Maori den von den Tonganem gehaltenen

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Rekord von dreißig Minuten. Mit Hilfe eines Europäers gelang es ihnen, menschliches Fleisch in ebenso kurzer Zeit zuzubereitenj wie etwa ein Schweinekotelett benötigt. Der Kapitän eines eng­ lischen Handelsschiffes ließ sich von einem Maori-Häuptling be­ reden, ihn mit seinen Männern zu einer benachbarten Insel zu bringen, die sie überfallen wollten. Der Seemann (der übrigens keinen Finger rührte, um das Vorhaben zu verhindern) beschrieb mit kühlem Interesse das Ende der erbeuteten Gefangenen in einem Erdofen: »Sie graben ein etwa sechzig Zentimeter tiefes Loch, in das sie runde Steine legen, welche sie mit trockenem Holz erhitzen. Da­ nach nehmen sie die Steine bis auf ein paar aus dem Loch und legen abwechselnd mehrere Schichten von Blättern und Fleisch, bis ebensoviel über der Erde wie darunter ist. Sodann sprengen sie ein, zwei Quart Wasser darüber und hindern den Dampf mit­ tels Erdreich und alter Matten so völlig am Entweichen, daß das Fleisch binnen zwanzig (!) Minuten gar ist.« Weniger anspruchsvollen Methoden der anthropophagen Küche begegneten Beobachter sowohl bei den Batak als auch bei übel­ beleumdeten Kannibalen wie den Mangbetu in Afrika. Bewohner von Timorlaut (heute: Tanimbar-Inseln) verzehrten das Fleisch von Personen, die im Streit umgekommen waren, als »DengDeng«, in der Sonne gedörrt. Nun ist getrocknetes Fleisch kaum der Haute Cuisine zuzurech­ nen, und um so mehr erstaunt, daß die Mangbetu - denen euro­ päische Besucher die Aufnahme in den Kreis der relativ kultivier­ ten Primitiven zugestanden - es an kannibalischer Feinheit fehlen ließen und ihre Gefangenen nur abbrühten und dörrten oder, wenn es hoch kam, geröstet zu sich nahmen. Ungleich raffinierter ging es in San Cristóbal zu, einer der Süd­ see-Zitadellen des Menschenverzehrs. Abgesehen davon, daß man als Zukost Pasteten genoß, wurde auch das Hauptgericht aufs leckerste zubereitet. Man wickelte den Kadaver in große Bananen­ blätter und umgab ihn sorglich »mit stets erneuerten Kieseln«, damit das Fleisch auch saftig bleibe. Aus dem dunkelsten Afrika wird uns die Kunde, daß die Bangala »alle« im Kampf getöteten Feinde verzehrten. Sie entfernten die Eingeweide, versahen den Rumpf mit einer Bananenfiille und rösteten ihn bei starkem Feuer. Nachgerade bescheiden nehmen sich dagegen die Kochkünste der ebenfalls afrikanischen Mandja aus, die ihre Opfer, besonders das delikate Frauenfleisch, in Würfel schnitten und brieten oder auch abhäuteten und im Rauch grüner Tabakblätter räucherten.

Diese kleine anthropophage Rezeptsammlung sei beschlossen mit zwei ausgewählten Beispielen der Kochtechnik kannibalischer Gourmets. Die feinschmeckerischen Jawara in Afrika trennten den Kopf vom Körper und umhüllten ihn mit Lehm. Sodann 34

j buken sie ihn und schabten, wenn die Lehmkruste hart gebrannt »war und barst, die Haare ab, ehe sie sich ans Mahl begaben, genau' so, wie Zigeuner seit Urzeiten Igel zubereiten. - Nicht den Igel, i sondern den Frosch nahm man sich auf den Fidschi-Inseln zum * Vorbild. Auf einigen Inseln der Gruppe, so auf Ngau, buk man 'l den Leichnam im ganzen (während man ihn üblicherweise erst ’ zerlegte). Man schob ihn in sitzender Stellung in den Erdofen und schminkte ihn, sobald er verzehrbar war, mit schwarzer Farbe und ' setzte ihm eine Perücke auf. So wurde der Zubereitete den Tafel­ gästen sozusagen lebend aufgetischt. Diese Kannibalenspezialität hieß »Boto-walai« - der verschnürte Frosch. Getrocknet, gedörrt, geräuchert, gekocht, geröstet, gebraten oder im Dampf gargedünstet, im Stück oder in Stücken, roh oder pikant gewürzt, aßen die Menschenesser den Menschen. Allemal aber galt ihre Vorhebe einem bestimmten Körperteil. Die Summe die­ ser mannigfaltigen Leckerbissen jedoch ergibt den ganzen Men­ schen, soweit der menschliche Magen ihn verkraftete. Was hier als ungenießbar verschmäht wurde, war andernorts die himm­ lischste der Delikatessen. Augenfällig an der Liste der Leibspeisen ist wiederum die Bevor­ zugung weiblichen Fleisches. Am Rand des Baluba-Landes in Afrika verzehrte man zwar den Menschen total, ausgenommen der Penis, der, zum Essen zu schade, besonders präpariert und als Zaubermittel verwendet wurde; als Leckerbissen aber galten die weiblichen Geschlechtsteile, wie es heißt, wegen ihres hohen Fett­ gehalts. Am Papuagolf (Neuguinea) bevorzugte man bei Frauen die Arme, Beine und Brüste. Im Osten und Südosten Australiens kaprizierte sich der gute Geschmack auf junge Mädchen, deren Fleisch als Inbegriff des Köstlichen galt. Ohne Bevorzugung eines Geschlechts verfuhren die Botokuden, wie W. C. v. Eschwege aus Brasilien meldete. Bei großem Men­ schenfleischangebot begnügten sie sich mit den Waden und dem »Inwendigen der Hände, welches wahre Leckerbissen sein sollen«. Von den Eingeborenen des nördlichen Queensland berichtete C. Lumholtz, der sich in Australien umsah, sie hätten nichts Köst­ licheres als Menschenfleisch gekannt und vorzugsweise die Len­ den geschätzt, am meisten aber das die Nieren umgebende Fett. Überhaupt schrieb man dort dem menschlichen Fett eine über­ natürliche Kraft zu. Lumholtz meldet: »... sie essen es nicht allein als eine stärkende Delikatesse, son­ dern tragen es auch, in Gras eingewickelt, als Amulett in einem Korbe um den Hals, in dem Glauben, daß ihnen dies ein so großes Jagdglück bringt, daß sie nur gleich auf ihre Beute losgehen kön­ nen. So erzählte mir ein Mann, daß er sofort, nachdem er ein Stückchen Menschenfett zu sich gesteckt, auf die andere Seite des Flusses zu einem Baume gegangen sei, in dem er eine große eßbare Schlange fand.«

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Die Fidschi-Insulaner ihrerseits - um mit den kannibalischsten der Kannibalen zu schließen - schätzten über alles Herz, Leber und Nase. Hatten sie Menschenfleisch in Hülle und Fülle, verschonte ihr Appetit alles übrige; nur noch die Gliedmaßen, namentlich Schenkel und Oberarm, fänden Gnade vor ihren Ken­ nergaumen.

Das »Kultumiveau« kannibalischer Zubereitung zeigt sich auch an den verwendeten Gewürzen, Zutaten und Zuspeisen, mit denen man den »Rohstoff«, die matière première, verbesserte und ergänzte. Roh zwar, aber doch nicht ganz ohne Verfeinerung verschlangen die Justizkannibalen von Sumatra ihre Opfer, wenn sie das Verbrecherfleisch in Zitronensaft und Salzwasser tunkten, und in Cochinchina riß man Hingerichteten Fleischstücke heraus, die man als Einlage in unreifen Melonen verzehrte. In Nicaragua war der Kopf Leckerbissen ; man kochte ihn mit Salz und Pfeffer und nahm dazu Maisbrot und Kakao. Die ebengenannten Batak waren keineswegs immer so genügsam beim Menschenverzehr. Sie kannten verschiedene Arten anspruchsvoller Zubereitung; so häutete man etwa den Leichnam ab und zerstampfte das Fleisch mit Landeskräutem, spanischem Pfeffer und Salz zu einer Art Haschee. Ganz anders erlebte ein anderer Gewährsmann die Küche der Batak, denn er meldet, zuweilen hätten sie das Fleisch sogar dreimal gekocht, »weil es so arg salzig ist«. Dem bereits erwähnten J. P. H. Murray, dem stellvertretenden australischen Gouverneur in Papua, gestand ein des Menschen­ essens überführter Eingeborener: »Wir brachten sie [drei Leich­ name] in unser Dorf und legten sie auf das Gerüst. Dann brühten wir sie ab, zerschnitten sie in kleine Stücke, vermengten diese mit Sago, kochten sie, wickelten sie in Nipapalmenblätter und ver­ teilten sie.« In Südneuguinea, einem noch vor wenigen Jahrzehnten fast ge­ schlossenen Verbreitungsgebiet des Menschenessens, wurden er­ beutete Schädel ebenfalls mit Sago und dazu noch Bananen ge­ kocht. Die Banane war überhaupt in vielen Weltgegenden be­ liebte Zutat bei der Herstellung von Humanspeisen. Die Baluba in Afrika etwa verzichteten nicht auf sie, wenn sie ihre Men­ schenfleischkost mit Maniok zubereiteten. Auch Wurzeln fänden Verwendung; auf Tanna wie den Neuen Hebriden wurden Yams zugekocht, in Brasilien anderes Wurzelwerk und Mandiokamehl. Häufig mußte Menschenfleisch im Kochtopf Tierfleisch verschie­ dener Art neben sich dulden. Der Deukalionischen Flut, die Zeus als Strafe fur kannibalische und andere Greuel geschickt hatte, entgingen unter den wenigen Überlebenden die Bürger der Stadt Pamassos. Die Pamasser zeigten sich ihrem Glück nicht sehr dank­ bar. In Arkadien nahmen sie die anthropophagen Gewohnheiten

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des erwähnten Lykaon wieder auf. Sie opferten dem Zeus Lykaios Knaben, deren Eingeweide sie mit tierischen Innereien zu einer Suppe kochten und verzehrten. - Im Kongo bevorzugte man Jahrhunderte später als Zugaben Ziegenfleisch, Palmöl und Wein; als Getränk gab es einheimisches Bier. Exotischer mutet ein Re­ zept aus Australien an: Ein auf der Insel Yam herrschender Häupt­ ling schilderte, er habe bei seiner'Initiation zur Kräftigung des Mutes feingehacktes Männerfleisch, vermengt mit Krokodil­ fleisch, zu essen bekommen. Eine große Beweglichkeit kulinarischer Phantasie zeigt sich in der Auswahl der Nebengerichte. Im südwestlichen Neuguinea galt die Mittelrippe eines Kokosnußblattes als geeignete Beilage zu geröstetem Menschenfleisch. Die Fidschi-Insulaner verzehrten der besseren Verdaulichkeit halber zu ihrer Humannahrung außer dem genannten Solanum anthropophagorum auch noch zwei andere Kräuter, eine Trophis und eine Omalanthus pedivellatus zubenannte Pflanzenbeilage. Noch 1956 berichtete die Zeitschrift Africa, in Uganda habe ein Kannibale zu gesottenem Menschen­ fleisch ein »Porridge« aus Sesam genossen. In einem völkerkund­ lichen Werk des 19. Jahrhunderts lesen wir über die verschrienen Mangbetu: »Die Verzehrung des Menschenfleisches geschieht un­ ter Zukost des sogenannten Lumagerichtes, einer Mehlspeise, öffentlich in Form eines frohen Gelages.« Als »kultivierte« Ver­ feinerung sind uns bereits die Pasteten von den Salomonen be­ gegnet. Zu ihrer Herstellung raspelte man Taro und Ignamen; außerdem reichte man Kokosnüsse als Beigabe. Freilich wurden solche Genüsse nur bei einem Festschmaus serviert; das tägliche Brot dieser von Missionaren als habituell geschilderten Menschen­ esser dürfte kaum in so aufwendiger. Zubereitung verspeist wor­ den sein (doch davon berichten uns die Glaubensboten nichts). Im großen und ganzen war menschliche Kost für die Kannibalen etwas Besonderes, fast nie etwas Alltägliches. Die Feierlichkeit, die häufig den Menschen verzehr umgab, die rituellen Bindungen, der Umstand, daß man die Speise vielerorts erst den Gottheiten darbot, die Verknüpfung mit Tabu-Vorschriften verweisen häu­ fig auf Herkunft aus den Bereichen des Religiösen oder Quasi­ religiösen. Die Beobachtung wird gestützt von einer nicht ge­ ringen Zahl anthropophager »Tischsitten« und Gerätschaften, die allein dem Menschenessen vorbehalten waren. Im Gebiet von Liberia durfte Menschenfleisch nicht abgebissen werden. Man hielt das Stück mit den Zähnen fest, bleckte das Gebiß und schnitt sodann den Bissen mit dem Messer ab. Frobenius berichtet von einer eisernen Gabel, »subaga-ballan« ge­ nannt, welche die Bammana zu Hilfe nahmen; bei ihnen war es verpönt, das in besonderer Achtung stehende Fleisch von Men­ schen wie gewöhnliche Nahrung mit den Fingern zu essen. Der

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Gebrauch dreizinkiger Gabeln bei kannibalischen Mahlzeiten ist auch aus dem Kongo überliefert. Die Gabel als Eßgerät galt lange Zeit als Zivilisationsmerkmal, als ein Kulturinstrument, das den »Naturvölkern« - natürlich fehlte. Allerdings hat sich auch bei den europäischen Kulturvöl­ kern die Eßgabel erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts durchge­ setzt, zu einer Zeit, da die Bewohner der Fidschi-Gruppe schon lange ihre Menschenfleischmahlzeiten mit ebendiesem Gerät zu sich nahmen. Im Gegensatz zu den Polynesiern verfügten die Fidschi-Bewohner bei der Ankunft der ersten Europäer bereits über irdene Töpfe (und in solchen kochten sie auch ihre Opfer, wenn sie sie nicht ofengedünstet verzehrten). Die Menschengabeln im anthropophagen Archipel wurden in der Familie weiterver­ erbt und trugen besondere, häufig obszöne Namen. Wie Erdöfen und Töpfe, in denen Menschen zubereitet wurden, waren auch die Eßgeräte streng tabu. Freilich, wie weit der Gebrauch dieser Instrumente verbreitet oder ob er gar allgemein war, bleibt ungeklärt. Eine der - höchst widersprüchlichen - Quellen zum Kannibalismus auf den FidschiEilanden will wissen, die Gabel sei nur zum Verzehr von »Men­ schenhaschee« benützt worden, »wie es die alten Leute vorziehen«. Daß die drei- oder vierzinkigen Eßhilfen in hohen Ehren gehalten wurden, geht aus einem Bericht von B. Seemann hervor. Er be­ rührte, wie er schreibt, eine dieser Gabeln, und dies »bereitete ihnen offenbar ebensolchen Kummer, wie es Christen beküm­ mern würde, wenn jemand den Kelch in der Kirche zum Wasser­ trinken benützte«. (Ein höchst prekärer Vergleich, da der Kelch ja zu symbolischem Bluttrinken dient.) Rein »gastronomischer« oder »kulinarischer« Kannibalismus kannte oder machte keinen essentiellen Unterschied zwischen Tier- und Menschenfleisch, und beidem fehlt die magische Bedeutung. Bei solchen Menschenessem war die Gleichheit bei Tisch am vollsten hergestellt; es gab keine Diskriminierung von Geschlecht und Alter, allenfalls soziale Privilegien, was bestimmte besonders deli­ kate Partien betraf. Eine solch egalitäre Einstellung war jedoch keineswegs bei allen anthropophagen Mahlzeiten zu finden, ja die Beispiele von Benachteiligungen dieser oder jener Art sind Legion. Nicht jugendfrei, jedenfalls für Kinder, war der Menschenverzehr bei den Fan und Mandja in Afrika wie auch auf den Marquesas. Im Land der Bassongo durften Knaben erst nach der Beschneidung Menschenkost zu sich nehmen. Als Grund für diesen Ausschluß junger Stammesmitglieder vom Tisch hat man die Ansicht ver­ mutet, daß solche Nahrung unfruchtbar mache. Dieser eigenartige Verdacht war wohl auch bestimmend dafür, daß man in Liberia zu anthropophagen Mahlzeiten wohl alte, doch keine jungen

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Frauen und schon gar nicht nährende Mütter zuließ. Die nigeriani­ schen Tangale, Kopfjäger, die auf das Verzehren der Köpfe von Frauen feindlicher Stämme spezialisiert waren, gestatteten eben­ falls nur unfruchtbaren alten Frauen, an ihrer Kost teilzuhaben. Nicht nur alte, sondern schlechthin alle unfruchtbaren Frauen waren bei den Bassongo bei Tisch gleichberechtigt, die jungen aber strikt ausgeschlossen. Häufiger freilich erstreckte sich die Diskriminierung unterschiedslos auf alle weiblichen Mitglieder der Gemeinschaft. Gänzlich auf Tier- und Pflanzenkost verwiesen war die Frau bei den Bangala im Kongo, und die Wasongola verschmähten sie als Tischnachbarin und obendrein auch als Ge­ richt. Die Mambila im nigerianischen Hinterland duldeten keiner­ lei weiblichen Kannibalismus, und außerdem war verheirateten Männern der Genuß von erbeutetem Frauenfleisch verwehrt. Un­ beweibte Alte hingegen brauchten sich keinerlei Mäßigung auf­ zuerlegen. Ähnlich kannibalinnenfeindlich wie in diesen Gegenden Afrikas gebärdeten sich die patriarchalischen Menschenesser auf den Marquesas und in Neuseeland, wenn auch hin und wieder Ausnahmen geduldet wurden. Dem Mann stand bei Kannibalen immer das Menscheneßrecht zu - allerdings nicht stets ohne Einschränkungen. Benachteiligt sahen sich vielerorts junge Männer. Bei den Rukuba mußten sie ihre Beute zu Hause abliefern, und nur hin und wieder wurden sie mit dem fetten Bodensatz eines Humangerichtes eingeschmiert. Noch mehr Entsagung forderte man den jungen Zumperikriegern ab. Sie hatten den alten Herren des Stammes die erbeuteten Feindesköpfe abzuliefem und begnügten sich damit, das geronnene Blut an ihren Speerspitzen und Keulenschneiden abzulecken. Die besten Bissen von Menschenopfern erhielten auf den Paumotu-Inseln die Alten. Nach einem erfolgreichen Kriegszug brach­ ten die jungen Männer des Stammes Ganawuri das Fleisch ihrer unterlegenen Gegner gehorsam nach Hause und händigten es den Stammespriestem aus, die zuerst die Greise bedachten. Das be­ gehrte Kopffleisch erhielten die angesehensten unter ihnen, die es kochten und zum Essen abseits trugen, um die Mahlzeit nicht teilen zu müssen. Die Ehrung des Alters ging so weit, daß selbst die tapfersten jungen Krieger der Gemeinschaft nicht den klein­ sten Bissen Menschenfleisch erhielten. Solcher Undank des Vaterlandes war indessen nicht überall der Brauch. Die nigerianischen Yergum erlaubten sämtlichen Stammesmitgliedem den Verzehr erbeuteter Feinde. Nur die Köpfe wurden gesondert gekocht und blieben den Kriegern reserviert. Bedingung für dieses Vorrecht war allerdings, daß der Privile­ gierte mindestens einen Gegner im Kampf getötet hatte. Aus­ schließlicher Besitz des Siegers war bei den Wasongola der feind­ liche Leichnam, ja nicht einmal der Häuptling hatte Anspruch auf den geringsten Anteil. 39

Neben dem Kriegerstand waren vor allem die »Geistlichkeit« des Stammes und die Obrigkeit in Person des Stammeschefs bei der Gegnerverspeisung bevorzugt. Auf den Marquesas wurden, wie in vielen Regionen der Südsee, die Opfer zunächst den Gottheiten dargebracht, und in den »Tempeln« gingen oft genug auch die sich anschließenden Mahlzeiten vonstatten. Der Kopf des Ge­ opferten stand als höchstgeschätzter Teil den Priestern zu. Bei den Aschanti nahm das Herz die erste Stelle ein, und die Fetisch­ männer durften es als ihren Zehnten reklamieren. Die Darreichung des Auges eines Geopferten, die, wie erwähnt, aus Tahiti und Hawaii überliefert ist, läßt nicht nur auf eine abge­ legte kannibalische Sitte, sondern auch auf den ehemaligen Rang des Königs als oberster Menschenesser schließen. Noch nicht auf­ gegebene Anthropophagie des Häuptlings erfahren wir von den Salomonen, wo man, wie schon Dumont d’Urville meldet, auf der Insel Santa Isabel die Scham eines erlegten Feindes dem Ober­ haupt der Gemeinschaft als den ihm gebührenden Teil darbrachte. Weniger ausgefallenen Geschmack bewiesen Häuptlinge in West­ afrika, die mit Herz, Leber und Lunge oder Händen und Füßen getöteter Feinde vorliebnahmen. Zuweilen aber, so scheint es, nutzten Häuptlinge rücksichtslos ihre Stellung aus, um ihrer Menschenfleischsucht frönen zu kön­ nen. So war es auf Neukaledonien, dessen Bewohner sich der Anthropophagie in besonders ausschweifendem Maß ergeben hat­ ten. »L’anthropophagie est purement alimentaire chez les NéoCalédoniens«, konstatierte bündig ein französischer Schiffsarzt, der die gefräßigen Insulaner in der Mitte des 19. Jahrhunderts besuchte. Unklar ist allerdings, wie das einfache Volk überhaupt zu Menschenfleisch kam, denn, so die Quellen, die Stammes­ häuptlinge hatten sich das Privileg angemaßt, erbeutete Feindes­ leichen nur mit ihren Lieben zu teilen: ein extremer Fall von Despotie, die sämtliche Untertanen zu Fleischern des Monarchen degradierte. Selten ging es am Tisch der Kannibalen demokratisch zu.



5 Menschenessende Menschen essen menschenessende Menschen »Sy streiten *ntfb miteinander. Sy essen auch einander selbst die erschlagen werden und bencken dasselbig Fleisch in den Rancb.e (Flugblatt aus dem 16. Jahrhundert über südamerikanische Indianer)

Unweit der mexikanischen Hauptstadt, in Azcapotzalco, stieß man bei Ausgrabungsarbeiten auf »Müllgruben«, in welche Teil­ nehmer an Festmählern ihre benützten Teller geworfen hatten. Es handelte sich vermutlich um religiös motivierte Gelage, denn man entdeckte in den Gruben auch aus Lehm geformte Idole. Ein grausiger Fund enthüllte, daß die Tolteken bei solchen Festen indes nicht nur tierisches Fleisch konsumiert hatten. »Einmal entdeckten wir in solch einer Lagerstätte«, schreibt der amerikanische Archäologe G. C. Vaillant, »eine große rotgelbe Schüssel. Sie enthielt die Überreste der pièce de résistance, Ober­ schenkel und Hüften eines Menschen, die saftigsten Teile für einen •Festschmaus.« Wir wissen nicht, wie alt die Sitte des Menschenessens in Amerika war. Die ältesten Funde stammen aus viel früherer Zeit als der Ära der Tolteken. Die ersten Berichte von Europäern über Kanni­ balismus in Amerika trafen fast unmittelbar nach der Entdeckung ein. Amerigo Vespucci, der der Neuen Welt ihren Namen gab, hielt sich 1501 an der Küste Brasiliens auf und schrieb von dort an Lorenzo de Medici einen jener Briefe voll entsetzter Anklagen, wie sie in üppiger Flut nach Europa abgingen und mithalfen, die Indianer schlechthin als vertierte Wilde, als »sprechende Tiere« zu verunglimpfen. »Wenn sie Sieger sind [vermeldet Vespucci], schneiden sie die Besiegten in Stücke, verzehren dieselben und versichern, daß es ein sehr vortreffliches Gericht sei. Sie ernähren sich auch von Menschenfleisch ; der Vater verzehrt den Sohn, und der Sohn den Vater, je nach Umständen und den Zufällen des Kampfes. Ich habe einen abscheulichen Menschen gesehen, der sich rühmte, mehr als dreihundert Leute verzehrt zu haben. Ich habe auch einen Ort gesehen ..., wo Stücke gesalzenen Menschenfleisches an den Balken der Häuser hingen, wie wir bei uns getrocknetes oder geräuchertes Schweinefleisch, Würste oder andere Eßwaren aufhängen. Sie waren höchst erstaunt, daß wir nicht gleich ihnen das Fleisch unserer Feinde verzehrten; sie sagten, daß nichts vor-

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trefflicher schmecke als dieses Fleisch und daß man nichts Safti­ geres und Delikateres haben könne.« Noch genauer konnte der bereits erwähnte Hans Staden den Kannibalismus eines brasilianischen Tupi-Stammes beobach­ ten, als unfreiwilliger und selbst von der Verspeisung bedroh­ ter Zeuge. Staden verzeichnet mit spürbarer Betroffenheit, wie gelassen ein indianischer Mitgefangener seinem Geschick entge­ gensah. »Wie nun die Zeit kam, da sie jenen Sklaven [mit einem Wurzel­ trank] betrinken, ging ich am Vorabend seines Todes zu ihm und fragte ihn: >Bist du gut gerüstet zum Tode?< Da lachte er und sagte: Ja! Es heißt nun die Schnur, mit welcher sie die Gefange­ nen binden, Massurana; sie ist von Baumwolle gemacht und dicker als ein Finger. Ja, meinte er, er wäre wohlgerüstet mit allen Dingen, nur allein die Massurana wäre noch nicht lang ge­ nug ... Und er führte solche Reden, als ob er zur Kirmes gehen sollte!« Bis zur Todesstunde behält der Indianer seine für Staden so be­ fremdliche Fassung. Als ihm sein bevorstehender Tod angekün­ digt wird, antwortet der Indianer seelenruhig: »Wenn ich tot bin, habe ich noch viele Freunde, die werden mich gut rächen!« Staden beobachtete in seiner Gefangenschaft mit geradezu ethno­ logischem Scharfblick, was um ihn vor sich ging. Freilich er­ kannte er nicht, daß das Verlangen seiner Gastgeber nach mensch­ lichen Viktualien nicht nur »boshafter und listiger« Gier entsprang, was schon die ausgeklügelte, ritualisierte Inszenierung des Gefan­ genentotschlags andeutet. Vollends aber zeigt sich dies in Stadens eigener Bemerkung über den Henker: »Am selben Tag muß er in einem Netze stilliegen. Man gibt ihm einen kleinen Schießbogen, womit er sich die Zeit vertreiben soll, und er schießt auf Wachs. Das geschieht deswegen, damit ihm von dem Schreck des Totschlagens die Arme nicht unsicher werden. Das alles habe ich gesehen und bin dabeigewesen.« Gefaßtheit angesichts des Todes überrascht natürlich weniger bei einem Menschen, der vermutlich irgendwann einmal selbst Men­ schen gegessen hat und nun selbst verzehrt werden soll. Über die früher dem Endokannibalismus huldigenden Indianer am oberen Amazonas wird berichtet: »Sobald dem Greis angezeigt wird, daß sein letzter Tag gekommen ist, freut er sich, weil er nun seine Freunde wiedersehen wird. Drei Tage hat er Zeit, sich vorzube­ reiten, dann wird er von den eigenen Kindern mit einer Keule erschlagen.« Verspeist werden wollte man angeblich auch bei den Majo. Als ein zum Christentum bekehrter Angehöriger dieses Stammes krank wurde, bereute er, daß er sich hatte taufen lassen, denn nun müsse er den Würmern zum Fraß werden, statt im Magen seiner Lieben ein Grab zu finden.

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Von Kannibalen-Gemütsruhe schreibt auch Michel de Montaigne, der 1562 in Rouen drei nach Frankreich verbrachte Brasilianer sah und dessen Interesse an den Indianern und ihrer Lebensweise sich erneuerte, als er einige Jahre später von einem Mann, der lange Zeit unter brasilianischen Küstenbewohnem gelebt hatte. Genaueres erfuhr. Montaigne gibt eine geradezu Rousseausche Schilderung indianischen Lebens und bemerkt schließlich zu der kannibalischen »Gier« der edlen Wilden und der Gelassenheit ihrer Opfer: »So weit sind diese Gefangenen davon entfernt, sich durch all das, was man ihnen antut, beugen zu lassen, daß sie im Gegenteil während der zwei oder drei Monate ihrer Gefangenschaft eine frohgemute Haltung zur Schau tragen; sie stacheln ihre Herren dazu an, sie doch rasch dieser Prüfung zu unterwerfen; sie fordern sie heraus, beleidigen sie, werfen ihnen ihre Feigheit und die Zahl der Schlachten vor, die sie gegen die Ihren verloren haben. Ich besitze ein Lied, das ein Gefangener verfaßte und in dem sich diese Spottrede findet: Mögen sie nur kühnlich kommen und sich versammeln, um von ihm zu essen; denn sie werden da­ mit doch nur ihre eigenen Väter und Ahnen verzehren, die sei­ nem Leib zu Speise und Nahrung gedient haben. Diese Mus­ keln, sagt er, dieses Fleisch und diese Adem sind die euren, arme Narren, die ihr seid; ihr merkt nicht, daß Saft und Mark der Glieder eurer Ahnen noch darin wohnen; laßt sie euch mun­ den, ihr werdet darin den Geschmack eures eigenen Fleisches finden.« Gut anderthalb Jahrhunderte nach Montaignes Begegnung mit den brasilianischen Indianern in Rouen hatte ein anderer französi­ scher Moralist ein ähnliches Erlebnis: In Fontainebleau traf Vol­ taire vier »Wilde« vom Mississippi, unter ihnen »eine Dame jenes Landes, die ich fragte, ob sie schon Menschen gegessen habe; sie antwortete mir ganz unbefangen, sie habe welche gegessen. Ich schien ein wenig betroffen; sie entschuldigte sich mit der Bemer­ kung, es sei lohnender, seinen Feind zu verzehren, als ihn den Tieren zum Fräße zu lassen«. Die Unbefangenheit, mit der in Kannibalenlanden Konsumenten wie Opfer dem Menschenverzehr gegenüberstanden, geht aus mehreren Berichten aus dem Kongo hervor. So wurde, heißt es, im Gebiet der Mabinza lebendes Menschenfleisch auf offenem Markt gehandelt. Man führte einen Kriegsgefangenen den Inter­ essenten vor, die mit weißer oder roter Kreide an seinem Körper die Stücke markierten, welche sie zu erstehen wünschten. Der Verkäufer achtete darauf, daß dieselbe Partie nicht zweimal ge­ wählt wurde. Die menschliche Ware ließ sich widerstandslos be­ fühlen pnd hin und her wenden, ganz in ihr Schicksal ergeben. Nach beendeter Vorbestellung schlug der Händler dem Gcfan-

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genen den Kopf ab und zerlegte ihn gemäß den Kundenwün­ schen. * In großer Verbreitung trat der sogenannte gerichtliche Kanniba­ lismus auf, manchmal in reiner, häufiger jedoch in entstellter Form, etwa als rein kulinarischer Menschenverzehr unter dem Deckmantel des Strafvollzugs. 1859 besuchte ein Engländer in amtlicher Eigenschaft Bonny im Nigerdelta und erfuhr dabei zu­ fällig, daß man in der Nähe einen Mann, der seinen Sklaven ermordet hatte, »zur Strafe« schlachten und verspeisen wolle. Der weiße Zufallszeuge versteckte sich und konnte am nächsten Mor­ gen die Hinrichtung beobachten. Als der Henker sein Werk getan hatte, sprangen die Anwesenden mit einem Geheul »wie von wilden Tieren« auf und fielen über den Leichnam her. Der ent­ setzte Bericht schließt: »Ich glaubte mich an das jenseitige Ufer des Styx versetzt, ich sah schwarze Geschöpfe wie gierige Geier in Menschengestalt. Selbst Knaben und Mädchen trugen Fleischstücke, von welchen das Blut herabtropfte und den Weg bezeichnete. Ein Weib riß einer andern Frau zankend und keifend einen Bissen weg, Fleisch von einem Manne, der vor wenigen Minuten noch unter den Lebenden gewesen war ... Bevor ich meinen Schlupfwinkel ver­ ließ, fragte ich mich, ob ich denn meinen eigenen Augen trauen könne. Das alles geschah im Jahre 1859 nach Christi Geburt, bei Leuten, unter welchen der europäische Handel seit länger als einem halben Jahrhundert einen civilisierenden Einfluß übt.« Der »civilisierende« Einfluß Heß damals auch im menschenfleisch­ freundlichen Neuguinea noch auf sich warten - und tut es, wer weiß, vielleicht noch heute. H. H. Romilly, Acting Special Commissioner der Insel, war einer der wenigen Zeugen eines Kanni­ balenmahls. Der Bericht, den er der australischen Regierung über seine Erlebnisse vorlegte, versagt sich jede Übertreibung und Ein­ seitigkeit des »Civilisierten«. »Als ich auf Neuirland eintraf, empfing mich lautes, fröhliches Lachen. An den Ästen eines großen Baumes in der Mitte des freien Platzes hingen sechs Leichen .... die mit den Füßen gerade den Boden berührten. Nach einem langen Zug aus meiner Reise­ flasche setzte ich mich mit dem Rücken an den Baum und beob­ achtete die Frauen. Sie hatten Feuer gemacht und brachten in großen Töpfen Wasser zum Sieden herbei. Sobald das Wasser kochte, wurde es mittels Kokosnußschalen herausgeschöpft und auf die Leichname, einen um den andern, gegossen, wonach diese mit Bambusmessem sauber geschabt wurden. Auf genau die gleiche Weise wird jedes Schwein abgebrüht und -geschabt, wenn es getötet ist. Das Kopf* Die Authentizität dieses Vorfalls ist nicht ganz zweifelsfrei. Die gleiche Kannibalen-Anekdote wird, mit nur geringfügigen Variationen, auch aus einer anderen afrikanischen Gegend berichtet.

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haar wurde sorgsam abgeschnitten und als künftige Zierde eines Kopfschmuckes beiseite gelegt. Die ganze Zeit über lachten und scherzten die Frauen und begutachteten die Vorzüge eines jeden der [toten] Männer. Das Ganze ging auf die denkbar sachlichste Art vor sich. Als die Leichen gründlich abgeschabt waren, blieb nichts mehr zu tun, bis die Männer ins Dorf zurückkehrten. Dann begann das abendliche Geschäft. Man legte eine Matte aus geflochtenen Palmblättem auf den Boden und schnitt einen der Toten vom Baum ab. Ein uralter Mann, offenbar der >Vater des Stammest trat in die Mitte des Platzes, wo man ihm für sein "Handwerk Raum gelassen hatte. Er hielt fünf oder sechs Bambus­ messer in der Hand und streifte mit dem Daumennagel der andern die Fasern von den Schneiden, so daß sie scharf wie Rasierklingen wurden. Nun wurde die Leiche auf die Matte gelegt und >gesäubert< einige leicht verderbliche Teile warf man den Frauen hin, wie man einem Hund einen Brocken zuwirft. Diese wurden über dem Feuer nur schwach angewärmt und sogleich verschlungen. Darauf wurde der Kopf abgeschnitten und auf ein Blatt beiseite gelegt ... Nicht lange, und alle sechs Leichname waren auf ähn­ liche Weise präpariert und in kleine Stücke zerteilt. Jedes einzelne Stück wurde sorgfältig in ein kräftiges Blatt gewickelt und fest verschnürt. Als alle sechs Leichen zerlegt waren, hatte der Stapel der kleinen mit grünen Blättern umwickelten Päckchen eine an­ sehnliche Höhe erreicht. Nun wurden die Öfen geöffnet. Man teilte das Fleisch in ebenso viele Teile, wie es Öfen gab, verteilte diese und bedeckte sie mit erhitzten Steinen.« Romilly wurde Zeuge eines besonderen Festschmauses, was sich schon daran zeigt, daß man das Fleisch volle drei Tage schmoren ließ. So lange nämlich, bis die zähen Blätter, mit denen es um­ hüllt war, beinahe verbraten waren. Endlich wurde der Schmaus aus den Öfen geholt, um auf eine merkwürdige Weise verzehrt zu werden: Der Essende legte den Kopf ganz nach hinten, öffnete das umhüllende Blatt und quetschte sodann den Inhalt - man ist von fern an bayerische Krautwickerl erinnert - in den geöffneten Mund. Wie köstlich die Bewohner von Neuirland ihre offenbar seltene Gasterei fanden, geht aus Romillys Bemerkung hervor, daß die Stammesmitglieder sich noch Tage, nachdem der letzte Bissen verzehrt war, nicht wuschen. Glück der Erinnerung.

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6 Blut und Asche »Es ist eine gefährliche Dreistigkeit, Z» verachten, was wir nicht begreifen.« (Michel de Montaigne, Essais)

Herodot, der, wenig zimperlich, viele Völkerschaften der Anthro­ pophagie beschuldigte, hat das zu seiner Zeit schon ehrwürdige Kulturvolk der Ägypter von der Sitte des Menschenopfems und -essens freigesprochen. Juvenal, Cassius Dio und Diodor haben diesem Freispruch widersprochen. »Menschentrinken« hingegen meldet Herodot selbst aus dem Nilland (und schließt es damit aus dem Kannibalismus aus). Ein Söldner des ägyptischen Königs Amasis floh zum Perserkönig Kambyses, so berichtet der griechische Historiker, und führte dessen Armee nach Ägypten. Zur Rache schleppten Amasis’ Soldaten die in Ägypten zurück­ gebliebenen Söhne des Deserteurs ins Lager und töteten sie über einem Mischkrug, den sie so aufgestellt hatten, daß der unglück­ liche Vater die Untat mit ansehen mußte. »Als alle geschlachtet waren, gossen sie Wein und Wasser hinzu, und alle Söldner tran­ ken von dem blutigen Tranke.« Menschenblut scheint in der Tat ein besonderer Saft zu sein ; häufig wird der Blutverzehr ohne lange Überlegung vom Kanni­ balismus ausgenommen. Herodot machte nicht als einziger diese Einschränkung, für die es schwerlich einen rationalen Grund gibt. Könnte es sein, daß die mystische Bedeutung des Blutes in zahl­ reichen Akten und Ritualien, die auch der modernen Zivilisation und vor allem der christlichen Religion nicht fremd sind, die Erklärung dafür gibt? Aus unschuldigerem Grund als die Soldaten des Amasis tranken nach Herodot die Skythen - die hingegen Strabo der Menschenfleischesserei zieh - Blut mit Wein vermischt. Sie übten damit einen Brauch, der sich in abgeschwächter Form über die Jahrhun­ derte erhalten hat - den Abschluß eines Freundschaftsbundes. Wir haben es mit dem paradoxen Fall der Verwendung einer anthropophagen Rest- und Kümmerform in einer Absicht zu tun, die der totalen Aggression des Menschenessens konträr gegenüber­ steht: eine Geste kannibalischer Herkunft im Dienst nicht der Anthropophagie, sondern der Humanität.

Heiligt der Zweck den partiellen Kannibalismus in Form des Bluttrinkens? Magische Einverleibungsvorstellungen oder ritual­ kannibalische Handlungen, wie wenn die »Hametzen« auf Van­ couver bei ihrer letzten Weihe aus den Adern Lebender Blut sogen, mögen entschuldbarer wirken, namentlich wenn die Opfer 46

mit dem Leben davonkamen. Dies allerdings war selten der Fall. Bei manchen Maori-Stämmen tranken die schlichten Krieger Blut, um den eigenen Mut zu stärken, während die Anführer sich vom Verzehr der Feindesherzen einen Zuwachs an Beherztheit ver­ sprachen. Als sich die neuseeländischen Eingeborenen im 19. Jahr­ hundert in der sogenannten Hau-Hau-Revolution zum letztenmal gegen die ins Land gekommenen Weißen erhoben, ließ ein Häuptling seine Männer zur Kräftigung ihres Kampfeifers das Blut eines weißen Missionars zu sich nehmen, und er selbst be­ malte sich das Gesicht damit. Allerdings sind die Deutungen dieser Trinksitte in hohem Maße widersprüchlich; so wurde interpre­ tiert, der Maori-Brauch, daß jeder Krieger vor einem kanniba­ lischen Schmaus das Blut des von ihm selbst überwundenen Feindes genoß, sei aus dem Wunsch hervorgegangen, sich den Geist des Getöteten zu unterwerfen. Aber da man auch Mus­ keln kaute und von einem angesehenen Häuptling das linke Auge verzehrte, dürften Aneignungswünsche nicht auszuschlie­ ßen sein.

Den Botokuden in Brasilien wurde nachgesagt, ihr Blutdurst sei rein kulinarischer Gier entsprungen. Sie sogen ihren getöteten Feinden das Blut aus, »und dies scheint ihnen das Leckerste zu sein«. Von den Marquesanem heißt es, sie hätten einem bezwun­ genen Feind sogleich ein Loch in den Kopf geschlagen und das Blut herausgeschlürft. Ihnen taten es - wie nachgerade zu erwarten ist - Leute auf Fidschi gleich, wenn sie sogar einzelne Tropfen des begehrten Saftes »mit der äußersten Gier« von der Erde leckten. Ja, ein Fidschi-Häuptling überbot diese Verirrung noch: Er soll eine bei einem Kriegszug erbeutete Frau in einer großen Holz­ schüssel lebend zerstückelt haben, um ja nichts von der hochge­ schätzten Flüssigkeit zu verlieren (was er hätte in Kauf nehmen müssen, wenn er - wie seinen Landsleuten im allgemeinen zuge­ schrieben - sein Opfer in einen Erdofen gesteckt hätte). Ein in jedem Sinne näherliegendes Beispiel solch unseliger Men­ schenblutgier berichtet Pietro Coletta im zweiten Band seiner Geschichte des Königreichs Neapel, in dem er - auch kannibalische Exzesse nach dem Einmarsch der Franzosen in Neapel im Jahr 1799 schildert. »In einer anderen Gegend der nämlichen Provinz, in der von Sora, trieb der Müller Gaetano Mammione, Hauptmann einer starken Guerillabande, sein Wesen, ein Ungeheuer in menschlicher Gestalt, dessen Blutdurst nur dem des Tigers gleichkam und dessen Greueltaten ich nur mit Schaudern erwähnen kann. Er hatte ein wahres Verlangen nach Menschenblut, trank sein eigenes, wenn man ihn zur Ader ließ, und wenn dies bei anderen Leuten der Fall war, ließ er sich das ihrige geben und stürzte es mit wahrer Gier hinunter. Bei seinem Mittagessen mußte ein frisch abgeschnit­

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tener, noch blutiger Menschenkopf auf dem Tische liegen. Blut und anderes Getränk trank er aus einem menschlichen Schädel, wozu er öfters wieder einen neuen gebrauchte. Ich würde diese Scheußlichkeiten nicht nacherzählen noch glauben, wenn ich nicht in einem geschätzten Geschichtswerke des Staatsrats Vin­ cenzo Coco, eines gewissenhaften Beamten und glaubwürdigen Mannes, die Belege dafür angegeben fände.« Was immer man von der Gewissenhaftigkeit des Staatsrats Coco halten mag, es besteht wenig Anlaß, die entsetzten Greuelschilderungen aus der fernen Südsee für glaubwürdiger zu halten als diesen Bericht aus dem Abendland des Jahres 1799.

Der Brauch, »besondere Säfte« des menschlichen Körpers zu sich zu nehmen, beschränkte sich nicht auf das Lieblingsgetränk des Guerillo Mammione, was zwei Beispiele zeigen. Auf der Kopf­ jägerinsel Bomeo, wo, wie bereits erwähnt, Hinterbliebene den Verstorbenen in einer geschmückten Kiste aufbewahrten, um den Leichengeruch »gierig« zu inhalieren, präparierte man erbeutete Köpfe durch Trocknen über einem schwachen Feuer. Dabei wurde sorglich darauf geachtet, daß von der herabtropfenden Flüssigkeit nichts verlorenging. Sie war für die Jungen des Stam­ mes bestimmt, denen man sie bei der Reifefeier mit Arrak ver­ mischt zur Kräftigung ihres Mutes einflößte. Eine sonderbare Form von Pietät war in Neuguinea in Gebrauch, wo man beim Stamm der Noeforezen Leichen nicht beerdigte, sondern auf ein Gerüst zum Trocknen legte, unter dem ein Feuer unterhalten wurde. Die austretende Leichenflüssigkeit wurde ge­ sammelt und sodann von der Witwe getrunken. Ähnlich begruben in Südamerika die kannibalischen Galibi, am Unterlauf des Ori­ noko beheimatet, ihre Verstorbenen nicht sogleich nach dem Exitus, sondern ließen sie eine volle Woche in einer Hängematte liegen. Der im Verlauf der Verwesung herabtropfende Saft wurde aufgefangen und für ein Getränk verwendet, das allerdings nicht Angehörige aus Pietät, sondern angehende Medizinmänner zum Beweis ihrer Nervenstärke zu sich nehmen mußten. In den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts tobte in Kenia der heute schon fast vergessene Aufstand der Mau-Mau, einer der »scheußlichsten Bürgerkriege, die je auf dem afrikanischen Konti­ nent stattfanden« (Rolf Italiaander). Zu den Scheußlichkeiten, die von europäischer Seite den rebellierenden Kikuyu zugeschrieben wurden, gehörte vor allem der sogenannte Batuni-Eid, mit dem die Aufständischen sich ihrer Bewegung verschrieben. Als die Lage der Rebellen infolge der geschickten Taktik der englischen Behörden immer schwieriger wurde, versuchte man die Moral der Guerillatruppe durch kannibalische und andere extreme Prak­ tiken bei der Eidesleistung zu stärken. Ein gefangengenommener



Terroristenfuhrer schilderte seinen britischen Vemehmem aus­ führlich, wie es dabei zugegangen sein soll: »Die Gruppe, die den Schwur geleistet hatte, muß einen Mann und einen Knaben töten. Dann nimmt man den Kopf des Mannes und vermischt das Blut mit dem derer, die den Eid leisten. Das Gehirn des Knaben und des Mannes wird mit einigen Früchten des Mugere-Baums vermengt und siebenmal gegessen ... Dann wird das Herz aus der Leiche des Knaben herausgeschnitten und siebenmal mit einem scharfen Nagel durchbohrt.« Zum Akt des Batuni-Schwurs gehörte auch eine Sonderform des flüssigen Menschenverzehrs. Die Initianten gelobten unter ande­ rem, »... die Köpfe abzuschneiden, die Augäpfel herauszureißen und die Flüssigkeit ganz zu trinken«. *

In flüssiger Form wurden mancherorts ehedem feste Körperteile konsumiert - man mischte Knochenasche oder getrocknetes und pulverisiertes Totenfleisch verschiedenen Getränken bei. Russell Wallace schrieb in der Mitte des vorigen Jahrhunderts über einige Stämme am Amazonas: »Die Tariana und Tucano sowie etliche andere Stämme graben etwa einen Monat nach der Bestattung die inzwischen bereits stark verwesten Leichen aus und lassen sie in einer großen Pfanne über dem Feuer schmoren, bis alle flüchtigen Bestandteile unter dem entsetzlichen Gestank entwichen sind und nur eine schwarze, verkohlte Masse übrigbleibt, die nun zu feinem Pulver zerstampft und in mehreren großen aus ausgehöhlten Baumstammstücken gefertigten Gefäßen mit Caxiri vermischt wird. Die Versammel­ ten trinken dies Getränk bis auf den letzten Tropfen.« Ekel vor Menschenfleisch, das noch als solches erkennbar wäre, Motive der Pietät oder Einverleibungswunsch - die Deutung, die man diesem Brauch gegeben hat, ist höchst widersprüchlich, wie bei so vielen kannibalischen Handlungen.

Während die afrikanischen Tangale am Benue nur die zarteren Teile erbeuteter Feindesleichen trockneten, pulverisierten und ihrem Mehlbrei beimengten, oder die Indianer am Orinokö Her­ zen rösteten und als Pulver in einem Getränk aufgelöst zu sich “ In diesem Fall empfiehlt es sich, die »Quelle« nicht unwidersprochen sprechen zu lassen. Die Angaben im (englischen) Corfieid Report über die Untaten der MauMau wurden von vielen Kikuyu bestritten und als tendenziöse Entstellung be­ zeichnet. Der Kikuyu-Schriftsteller Josiah Mwangi Kariuki bemerkt zu den Greueln, deren man die Mau-Mau anklagte: »... all dies sind Lügenmärchen, oder falls irgend jemand beweisen kann, daß sie zutreflen (was nach meiner An­ sicht bislang noch niemand befriedigend getan hat), so müssen sich derartige Exzesse auf eine verschwindend kleine Zahl von Individuen beschränkt haben, die infolge der Isolierung im Wald zu aberwitzigen Handlungen getrieben wur­ den. Daraus zu folgern, solche Praktiken seien an der Tagesordnung gewesen, wäre das gleiche, als wollte man behaupten, sämtliche Engländer seien Mörder und Kinderschänder, nur weil jedes Jahr ein paar Engländer solche Taten begehen.«

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nahmen, waren die Kaschibo am oberen Amazonas Härteres gewohnt: Sie verzehrten sogar die Gebeine! Mit den zerstampf­ ten Knochen ihrer zum Tode beförderten alten Leute gewürzt, tranken sie ihr Hausgetränk Masato. Ein weniges erhielten auch die Kinder, denen man mit dem Ahnenpulver das Essen be­ streute.

7 Der blutige Kuß »... Küsse, Bisse, das reimt sieb, und wer recht von Herren liebt, kann schon das Eine für das Andre greifen.« (Kleist, Penthesilea)

»Sie aßen«, schreibt A. P. Vajda in seinem Neuseeland-Buch Maori Warjare, »die Frauen, als die Männer gegessen waren, und zwar nachdem sie ihnen beigewohnt hatten.« Sexuelle Gewalttat als Vorspiel zum Verzehr kam, einem anderen Bericht zufolge, auch in Australien vor. Nur wurden dort die älteren Beutefrauen Opfer der doppelten Begierde, die jüngeren blieben wenigstens vom Appetit der Sieger verschont. Sex and Crime, dieses bewährte Sensationsrezept, kannten schon frühe Berichterstatter indianischer Greueltaten. Nicht nur die Karaiben hielten geraubte Mädchen zum Sexualverkehr und spä­ terer Verspeisung in Käfigen gefangen. Die brasilianischen Apiaca, so geht die Rede, benützten solche Bordelle zugleich als Menschen­ farmen; die Institution befriedigte Geschlechtslust und Appetit auf Humankost. Derlei Gruselmeldungen, mit denen auch viele andere Kannibalen bedacht (oder verunglimpft) wurden, waren bestens geeignet, eine angenehm mit Kitzel gemischte Empörung zu wecken. Noch inniger waren Sexualität und Anthropophagie verknüpft, wenn Kannibalen dem Menschenverzehr kräftigende Wirkungen zuschrieben. Menschenfleisch als vermeintliches Stärkungsmittel erscheint vielleicht etwas weniger absurd, wenn man sich ver­ gegenwärtigt, von welch verschiedenen Substanzen Schutz gegen sexuelle Entkräftung und Neubelebung der Sexualkraft erhofft wurde und wird. Gruppen der afrikanischen Baluba wähnten, daß menschliches Fleisch schlechthin geeignet sei, erotischer Abschlaffung vorzu­ beugen. Auf der Nissan-Gruppe (Green-Islands) konsumierten betagte Häuptlinge hingegen nur Geschlechtsorgane. Merkwür­ digerweise erwarteten sie Kräftigung vom Verzehr der weiblichen 5°

Genitalien, die männlichen dienten älteren Damen als Medizin gegen ein Erlöschen des Geschlechtstriebs. Kannibalische Akte ähnlicher Art treten immer wieder, wenn auch sehr vereinzelt, selbst in der Zivilisation auf. Lustmörder werden im Affektsturm gelegentlich dazu hingerissen, sich die Geschlechtsteile ihrer Opfer einzuverleiben. Im Verein mit krank­ hafter Gewalttätigkeit ist die Anthropophagie der kultivierten Welt keineswegs fremd. Sexualpathologische Ursachen brachten wiederholt europäische Fleischhauer dazu, Menschen zu schlach­ ten und ihrer nichtsahnenden Kundschaft feilzubieten (die sich über die Qualität der Fleischwaren keineswegs beklagte, im Ge­ genteil). Befriedigung eines über alles Maß hinausgehenden Aggressions­ triebs, einer derangierten Sexualität, ja von Einverleibungs- und Identifikationswünschen, wie sie uns bei kannibalischen »Wilden« begegnen(siehe Kap. 15), wird erlangt in solchen Einzelakten, die offenbar keine Aufwärtsentwicklung zivilisierter Moral ganz aus­ schließen kann. »Ah ! Du wolltest mich deinen Mund nicht küssen lassen, Jochanaan. Wohl! Ich will ihn jetzt küssen. Ich will mit meinen Zähnen hineinbeißen, wie man in eine reife Frucht beißen mag ...« Und noch deutlicher wird Salomes unbewußtes Verlangen: »Ich dürste nach deiner Schönheit; ich hungre nach deinem Leib; nicht Wein noch Äpfel können mein Verlangen stillen ...« Bis hart an den Rand des Kannibalismus fuhrt Oscar Wilde die junge Prinzessin von Judäa, die den Geschmack von Blut und Liebe noch nicht unterscheiden kann. Und vielleicht bewahrt nur Herodes’ entsetztes »Man töte dieses Weib« Salome vor dem Ver­ zehr der »reifen Frucht«. Anthropophagie, ersehnt oder vollzogen, im Bündnis mit der »Liebe«, mit aggressiver Sexualität, hat immer wieder große Namen der europäischen Literatur fasziniert. Eine ganze schwarze Romantik fühlte sich in enger Affinität zum mystischen Kom­ plex des Menschenverzehrens, von Théophile Gautier und Gustave Flaubert bis zu Gabriele d’Annunzio. Der Begriff des Vamps, der sich bis zu Gautier zurückverfolgen läßt, entwickelte im Laufe seines literarischen Lebens Züge einer menschlichen Gottes­ anbeterin. Sexueller Vorkannibalismus, komprimiert dargestellt im verzehrenden Akt des Kusses, tritt ans Licht, wenn in Flauberts November die Kurtisane Marie dem Liebhaber ihre Lippen auf den Nacken drückt und »mit gierigen Küssen wie ein Raubtier im Leibe seines Opfers« wühlt. In Michel Tourniers Erlkönig fühlt ' sich eine weibliche Figur, im passiven Pendant, nach einer Liebes­ nacht verzehrt »wie ein Beefsteak«. Léon Bloy läßt in seinen Histoires désobligeantes einen Ehemann den Nebenbuhler einladen und morden; die ehebrecherische Gat­ tin verzehrt ahnungslos das Herz des Getöteten. Bloy greift damit

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auf das Vorbild Barbey d’Aurevillys zurück, der in einer Novelle aus Les Diaboliques einen ähnlichen Fall schildert, allerdings be­ wußt anthropophag: Die entdeckte Ehebrecherin will das Herz des Gebebten essend in sich aufhehmen. Der entsetzte Gatte tritt ihrem tollen Kommunikationsverlangen entgegen, und trauernd beichtet die Beraubte: »Ich hätte mit diesem Herzen das heilige Abendmahl genommen wie mit einer Hostie. War Esteban nicht mein Gott?« Dem Leben in der Zivilisation bleibt versagt, was die Religion sublimiert und die Närrin Kunst ungeniert anbieten darf. Verzehrende Wünsche sterben nicht.

8 Langes Schwein und großer Fisch »Und man durchstach sie wie Fische und trug sie %um scheußlichen Fraß bin.« (Homer, Odyssee, io. Gesang)

Auf den Neuen Hebriden im südlichen Melanesien, dem schwar­ zen Inselreich des Menschenverzehrs, wurde das Hauptgericht vierundzwanzig Stunden gesotten, anschließend mit Kräutern, Gemüse und Schweinefleisch vermengt und, zu Frauengesang und Tamtam- und Flötenbegleitung, noch einmal einen vollen Tag gekocht. Daraus scheint (sofern es sich um einen rein kulina­ rischen Schmaus handelte) hervorzugehen, daß Menschenfleisch zum einen zäher als Schweinefleisch und zum andern noch schmackhafter war, andernfalls hätte man sich schwerlich soviel Mühe gegeben und sich mit dem rascher zuzubereitenden Schwei­ nefleisch allein begnügt. Zergliederung und Zubereitung erfolgten im ganzen polynesisch­ melanesischen Raum nach Art von Schweinefleisch. Auf der Pentecost-Insel rächte man sich für den Diebstahl einer Ehefrau mit der Verspeisung des Diebes. Die gleiche Buße stand auf der Entwendung - eines Schweines. Auf Ambrym (Neue Hebriden) hauste einst ein mächtiger Menschenfresser, dem die ihm unter­ tanen Dörfer abwechselnd menschlichen Mundvorrat zu stellen hatten. »Wie Schweine an Stangen gebunden«, wurden ihm kleine Kinder oder wohlgenährte Knaben ins Haus geliefert. Dennoch stellten die Menschenfleischfreunde ihre Lieblingsmahl­ zeit nicht auf dieselbe Stufe wie das Schwein. Fast durchweg betonten sie, dankenswerterweise, daß es sich quasi um Schweine-

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fleisch von überlegener Qualität handle, von zarterem Geschmack, wie man auf Neuguinea fand, und ungleich bekömmlicher. So gaben denn auch die unmäßigen Fidschi-Insulaner ihrer Leibspeise den Ehrennamen puaka balava - langes Schwein. Puaka dina, das gewöhnliche Schwein, kam erst in zweiter Linie, hatte aber dafür später die Ehre, ganz an die Stelle anthropophager Menschen­ opfer zu treten. Auf den nordöstlichen Inseln der Fidschi-Gruppe hingegen hieß ein zum Verzehr bestimmter Mensch »lange Schildkröte«, und die Schildkröte wurde gleichfalls häufig zum Strecken des kostbaren Menschenfleisches verwendet. Nicht überall wählten die Anthropophagen einen so schmäh­ lichen Vergleich wie den mit dem Borstentier, wenn sie unsres­ gleichen verspeisten. Auf Hawaii und in Neuseeland, aber auch auf den Neuen Hebriden erklärten sie bündig, sie äßen ja »Fische«, und auf Neukaledonien rechtfertigte sich ein Menschenesser mit der kühlen Replik: »Willst du uns etwa den Fisch des Meeres verbieten ? Also, das sind unsere Fische!« Auf Fidschi, wo man, wie erwähnt, bakolo über alles stellte und alles andere daran maß, den Menschen aber gleichwohl als ver­ schnürten Frosch und langes Schwein zubereitete und konsu­ mierte, dort ließ man es nicht beim schlichten Fisch bewenden. Der Missionar Jaggar berichtete 1844: »Der Vater des gegenwärti­ gen Königs war einer der größten Kannibalen, die man je kannte. Wenn ihm Gemüse vorgesetzt wurde, pflegte er zu sagen: >Was gibt es dazu?« Sagten sie >SchweinNein, das genügt mir nicht.« Auch Fisch lehnte er ab und fragte: >Habt ihr denn keinen ikalevu?< Das ist das Fidschiwort für >großer Fisch«, aber man meint damit immer einen menschlichen Leich­ * nam. Der Reisende St. Johnston schrieb über die Fidschi-Insulaner voller Sympathie und meinte trotzdem, sie seien auch aus »Leckerei« Menschenesser gewesen. »In manchen Gegenden wurde, wenn ein Boot am Strand scheiterte, die Mannschaft umgebracht und gefressen.« Solch unbarmherzigen Umgang mit Schiffbrüchigen beklagten auch die ersten in den Archipel gelangten Glaubens­ boten. Der Missionar John Watsford rügte 1846 in einem Brief nach Hause die »kriminellen« Insulaner: »Wir können und werden Euch nicht alles berichten, was wir von den Greueln und Verbrechen der Fidschi-Bewohner wis­ sen ... In Bau bewahrt man Menschenfleisch auf und kaut es, wie manche Leute Tabak kauen ... Ich erfuhr unlängst von einer Grausamkeit, die alles in den Schatten stellt, was ich zuvor in dieser Art gehört. Bei Natawar ging ein Kanu unter, und vielen der Insassen gelang es, schwimmend das Ufer zu erreichen ... Die Leute von Natawar ergriffen sie und richteten sogleich die 53

Öfen her, um sie darin zu braten. Die Unseligen wurden brat­ fertig gefesselt, und ihre Feinde konnten es nicht erwarten, sie zu verschlingen. Sie erschlugen sie nicht mit der Keule, damit nichts von ihrem Blute verlorengehe ...« Wenn der entsetzte Missionar hier nur eine einzelne Gemein­ schaft solchen Mangels an Hilfsbereitschaft bezichtigt, so urteilt eine Anthropologie der Naturvölker (Waitz-Gerland) aus dem ver­ gangenen Jahrhundert noch schlimmer und pauschaler: »Ebenso sind alle Schiffbrüchigen dem Gefressenwerden bestimmt.« Im­ merhin : »... das war fester Rechtsgrundsatz bei ihnen, der auch gegen die eigenen Volksgenossen ausgeübt wurde, und wer dem­ selben nicht nachgekommen wäre, der wäre selbst im Meere um­ gekommen - anscheinend ein Rest jenes alten Glaubens, daß vom Meere her eine Gefahr ihnen drohe ...« »Im ganzen polynesischen Raum werden Menschen an Haken geopfert«, schreibt Alfred Schoch und gibt dafür eine mytholo­ gische Begründung. Und über die Marquesaner: »Die alten Opferriten bewegten sich hauptsächlich um den rituellen Ge­ brauch eines Angelhakens aus menschlichen Knochen, der den Opfern in den Mund gesteckt wurde ... Auch hier ist wohl eine Erinnerung an das Angeln des Maui gegeben, der nach der Sage ... Land aus dem Schoße der Wellen gezogen hat . ..« Völlig profaniert tritt uns dieser Angelbrauch im Bericht des bereits zitierten Missionars Jaggar entgegen: »Er [der Häuptling von Bau] Heß sodann Angelhaken in ihre Zungen bohren, die möglichst weit herausgezogen wurden, ehe man sie abschnitt. Diese wurden geröstet und gegessen, während man sie verhöhnte: »Wir essen eure Zungen!< Da in den Opfern das Leben noch nicht erloschen war, wurde an jedem ein Ein­ schnitt in der Seite vorgenommen, und man zog ihm die Ein­ geweide heraus. Dies bereitete ihrem Dulden in dieser Welt ein rasches Ende.« Kehren wir zurück zu der erwähnten »Verpflichtung« der Leute von Fidschi, »alle« Schiffbrüchigen - »Fische« - aufzuessen, auch ihre eigenen »Volksgenossen«. Es stellt sich die naheliegende Frage, warum - wenn dies wirklich zutraf - überhaupt noch Schiffsver­ kehr zwischen den Inseln des Archipels und benachbarten Eilan­ den stattfand; jeder mußte wissen, daß er sich in doppelte Gefahr begab, vom Meer wie von der scheinbar rettenden Küste. Die auf Fidschi wirkenden Missionare erholten sich denn auch nach einiger Zeit vom ersten Entsetzen; sie Heßen die Verallgemeine­ rungen fallen und gestanden Ausnahmen in der Barbarei der Insulaner zu. Missionar J, Waterhouse schränkte ein: »... dem Fremden darf man im Gegenteil helfen. Es gibt [man Hest und staunt] auf den Fidschi-Inseln Nachkömmlinge von Eingeborenen der Tonga-Inseln, die dort Schiffbruch erhtten haben.« Nach diesem Schiffbruch ihrer anfänghehen Erkenntnisse ent­ 54

deckten die Missionare hinter dem merkwürdigen Brauch des gelegentlichen Schiffbrüchigenverzehrs bald religiöse Gründe verständlicherweise. Der Missionar Joseph Chevron vermeldete, er habe erfahren, für die Fidschi-Insulaner sei es nicht nur Recht, sondern Pflicht gewesen, Schiffbrüchige zu töten und aufzuessen, selbst wenn es ihre eigenen Eltern wären, und sie warteten mög­ lichst nicht einmal, bis das Fahrzeug gescheitert war, sondern gingen noch zuvor ans Werk. Von den Salomonen wird berichtet, daß ein Schwimmer, der einem - für heilig gehaltenen - Haifisch entkommen konnte, von den Eingeborenen ins Meer zurückgeworfen wurde, damit er dem über ihn verhängten Schicksal nicht entgehe. Der Unter­ schied ist bemerkenswert: In diesem Fall verzehrte nur der Haifisch-Gott den Unglücklichen; man war (noch) nicht so weit wie auf den Fidschi-Inseln, wo man den eigenen Magen in den Dienst des »Religiösen« stellte. Für stark religiös gestimmte Gemüter mag Kannibalismus aus solcherart Gründen eine Spur verständlicher sein, und ein Verkünder des christlichen Glaubens schrieb alsbald von Fidschi: »Der Totschlag der Schiffbrüchigen ist eine aner­ kannte Einrichtung und rührt nicht von der Grausamkeit der Eingeborenen her. Sobald man im Wasser Leute bemerkt, die ums >Leben Schwimmern, macht man alsbald den Backofen be­ reit, um sie zu braten. Nach meinen Forschungen sind die Opfer dieses barbarischen Brauchs gewöhnlich Eingeborene von den Fidschi-Inseln; nur ihren Unglücksfällen folgt diese grausame Züchtigung. Man sieht die schiffbrüchigen Fidschi-Insulaner als von den Göttern verlassen an; es ist den Gottheiten angenehm, wenn man diese Leute niedermetzelt, es wird sogar für notwendig angesehen ... « Der Schiffbruch war für die Eingeborenen kein Unglücksfall, kein Zufall, sondern von oben gewollt. »Die Erfindung des Zu­ falls hat eine höhere Kulturstufe als die primitive zur Vorbedin­ gung« (L. Lévy-Bruhl). Ob wirklich »religiöse« Gründe - und religiöse Gründe allein die Bewohner der Fidschi-Gruppe bestimmten, Schiffbrüchigen nicht nur ihre Hilfe zu verweigern, sondern ihnen als gottgefällige Speise sogleich zum Tod im Backofen zu verhelfen, sei dahin­ gestellt. Diese Erklärung mußte Missionaren (und sie waren oft die ersten Zeugen an Ort und Stelle, als die Anthropophagie noch halbwegs in Blüte stand) naheliegend erscheinen. Man hätte es dann mit einem der zahlreichen Beispiele zu tun, daß Menschen aus religiösen oder quasireligiösen Beweggründen geopfert und gegessen wurden. Wir werden noch sehen (siehe Kap. 16 und 26), daß im Urteil der Zivilisation dieses Motiv zum Kannibalismus einen der ersten Plätze unter den verzeihlicheren einnimmt. Wenn nicht den ersten.

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9 Tier und Untier »Ein unvernünftiges Tier frißt kaum das andere, sollte dann ein Mensch den andern fressen fa (Hans Staden, die wahrhaftige Beschreibung eines Landes mit wilden, nackten, grimmigen Menschenfressern, welches in der Neuen Welt Amerika gelegen ist)

»Sprechende Tiere«, so nannten manche der frühen Konquistado­ ren die unseligen, menschenessenden Bewohner Südamerikas voll Entsetzen (und unbewußter Genugtuung über das moralische Alibi, in einer so verkommenen Gegend Ordnung schaffen zu können). Demgemäß war die Behandlung des sprechenden Ge­ tiers. Schon wenige Jahrzehnte später schrieb Las Casas in seiner berühmten Brevísima relación: »Sie achteten und schonten sie weit weniger - und ich sage die Wahrheit, denn ich habe es die ganze Zeit über mitangesehen nicht etwa bloß als ihr Vieh - wollte Gott, sie hätten sie nicht grausamer als ihr Vieh behandelt -, sondern sie achteten sie nicht höher, ja noch weit geringer als den Kot auf den Straßen.« »Vertiert« - wir kennen kaum ein stärkeres Wort für das Ent­ menschte, das zutiefst Inhumane. Als tierisch hat sprachliches Un­ vermögen von jeher gern den Mitmenschen bezeichnet, als Schaf und Schlange, Schwein und Schakal, Nattemgezücht und Vipern­ blut, die gefürchteten Chinesen als gelbe Ameisen, Tiere, immer wieder Tiere - und welches Tier nicht? - müssen dazu herhalten, menschlicher Unvollkommenheit, Bosheit, Schwäche, Laster­ haftigkeit und Dummheit ihren Namen zu leihen. Und Tiermen­ schen, Raubtiermenschen gar, sahen sich ausgeschlossen, ent­ menscht, ins Tierreich verwiesen. »Von allen tierischen Zügen in der sittlichen Physiognomie des Menschen ist sie [die Anthropophagie] die tierischste ...«, er­ fahren wir aus einer gelehrten Untersuchung des Kannibalismus (R. Andree). Der hochangesehene Afrikaforscher Schweinfurth schilderte den Mangbetu-Häuptling Munsa: »In seinen Augen brannte ein wildes Feuer tierischer Sinnlichkeit, und um den Mund ging ein Zug, darin lagen Habsucht und Gewalttätigkeit höhnend auf der Lauer und die Freude am Grausamen.« Schwein­ furth erkannte: »Aus diesen Zügen sprach kein Herz.« Der For­ scher muß einen höchst unvorteilhaften Eindruck von dem »Primi­ tiven« gewonnen haben, denn er bringt in den drei Zeilen dieses Steckbriefs einen ganzen Katalog wahrhaft starker Worte unter; wildes Feuer - Habsucht - Gewalttätigkeit - höhnend - auf der Lauer - Freude am Grausamen. Und natürlich: tierische Sinnlich­ keit. Wenn die Worte fehlen, greift man nach Vergleichen, ver­ greift man sich an Vergleichen. 56

In einem anderen Werk lesen wir über einen südafrikanischen Stammeschef: »Was das Aussehen dieses Häuptlings betrifit, so entspricht es ganz solcher Möglichkeit; ich habe nirgends eine Physiognomie beobachtet, welche so sehr der tierischen sich nähert: breite aufgeworfene Lippen mit ungemein stark ausgebildeten Fre/lwerkzeugen, die Lider bedeckten zur Hälfte die kleinen blut­ rünstigen Augen; eine sehr niedrige Stirn, rohes Geschwätz bei krei­ schender Stimme; roh gebaut und äußerst schmutzig; eine treffliche Kreatur, einen Kannibalen darzustellen, wie ich in meinem Jour­ nal sagte.« * (Diese Darstellung eines Kannibalen korrigiert Carl Lumholtz, der viel in anthropophagen Ländern reiste: »Man irrt sich, wenn man annimmt, daß Kannibalen widerwärtiger aus­ sehen als andere Wilde.«) Ist der Kannibalismus also tierisch'? Die Gegenmeinung zum Menschenessen: »Es zeigt sich darin eine Roheit, die bei Tieren nicht ihresgleichen hat.« Derselbe Verfasser, P. Bergemann, fügt die bündige Bemerkung an: »Nur ausnahms­ weise kommt es vor, daß ein Tier ein anderes seiner Gattung frißt.« Und der römische Satiriker Juvenal schreibt in seiner fünfzehnten Satire zu den anthropophagen Greueln, die ihn in Ägypten ent­ setzten : »Es schont die ähnlich gefleckte Verwandtschaft das Raubtier; und wann hat denn je ein stärkerer Löwe geraubt einem Löwen das Leben? In welchem Walde starb jemals ein Eber vom Zahn eines größeren Ebers? Indiens Tigerin hält mit der Tigerin ewig Frieden, die grimmigen Bären vertragen sich gut miteinander.« Ist der Kannibalismus mithin den Tieren fremd - unnatürlich, wider die Natur?

Kannibalismus, so unser Sprachgebrauch, ist Menschenverzehr, Menschenfresserei durch Menschen. Menschenfresser sind be­ kanntlich auch Tiere hin und wieder und unter bestimmten Um­ ständen, so wie wir, allerdings gewohnheitsmäßig, Tieresser sind. Entgegen der oben zitierten Feststellung aber ist die Übung, An­ gehörige derselben Spezies zu verspeisen, unter niedrigen Tieren durchaus weit verbreitet. Es bedarf dafür nur der Voraussetzung, daß ein bestimmtes Lebensstadium des Artgenossen in den Nah­ rungsrahmen des »Konsumenten« paßt. Befruchtete Eier etwa oder frei umherschwimmende Larven oder Jungfische können ihren eigenen Eltern zum Fraß werden. Das Krokodil, einer der gefürchtetsten tierischen Menschenfresser, frißt auch seinesglei­ chen, solange es in verzehrbarer Größe auftritt. Die Krokodilmut­ ter hütet zwar mit großer Wachsamkeit ihre Eier und beaufsichtigt auch die ausgeschlüpften Kleinen eine Zeitlang im Wasser, um * Hervorhebungen durch den Verfasser.

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sie gegen Feinde - auch den Vater - zu verteidigen. Nach einiger Zeit jedoch erlahmt diese mütterliche Obsorge, die Brut bleibt sich selbst überlassen und muß nun sogar die Gebärerin als Feindin furchten. So werden an die neunzig Prozent des Krokodilnach­ wuchses alsbald gefressen, nicht zuletzt von den unbewußt endokannibalischen Eltern und deren Artgenossen. Wohlbekannt ist der Brauch der Gottesanbeterin, bei der Paarung das Männchen zu verschlingen (die »Vagina dentata« ist nicht fern). Katzenmütter fressen gelegentlich mißgestaltete Junge. Artver­ zehr kommt bei Hühnern, Mäusen, in Gefangenschaft gehaltenen Säugetieren und manchen Insekten (Stabheuschrecken und Skor­ pionen) vor. Bei Hühnern vermutet man als Ursache Störungen im Mineral- und Eiweißstoffwechsel. Tierversuche aus jüngster Zeit scheinen zudem darauf hinzudeuten, daß anhaltende Einwir­ kung von Lärm, Raummangel und daraus resultierende Übervöl­ kerung sowie andere extreme Umweltbedingungen Artfressen auslösen können. Kannibalisches Potential ist zumindest hin und wieder vorhanden. In einer 1970 in Württemberg durchgefiihrten Versuchsreihe, die der Untersuchung der Bodenstrahlungen diente, wurden zwei mit Mäusen besetzte Käfige über einer Reiz­ beziehungsweise einer reizfreien Fläche aufgestellt. Die Tiere in dem Käfig auf dem Reizfeld zeigten sich weniger fruchtbar als ihre Nachbarn. Zudem entwickelten sie kannibalische Neigungen, die man bei Mäusen selten antrifft. Experimente mit Guppys, die auf engem Raum leben mußten, ergaben sogar, daß diese Zierfische per Kannibalismus die Über­ völkerung bis zum »natürlichen« Zahlenverhältnis der Geschlech­ ter reduzierten. Makaber schiene es, wollte man von derartigem Tierverhalten unter extremen Umweltbedingungen eine der heute so nahe­ hegenden Parallelen zu denkbarem menschlichem Verhalten in Situationen drohender Übervölkerung denken. Und doch hat man nicht nur den einst auf der Fidschi-Gruppe herrschenden Kannibalismus mit ebendiesem Bedürfnis zu erklären versucht. (Dem steht nicht entgegen, daß man für die Anthropophagie der zunächst als »menschenfleischlüstem« geschmähten Insulaner spä­ ter religiöse Gründe entdeckt hat; göttliche Vorschriften als Ver­ brämungen, höchst irdisch-praktischer Handlungen finden sich schließlich in großer Zahl auch auf anderen Gebieten.) Schon vorJahrzehnten kam Sir A. Carr-Saunders zu dem Schluß, daß ein bei zahlreichen Tierpopulationen geltendes »Gesetz der optimalen Zahl« (die Hungersnöte verhinderte und zugleich die Umwelt optimal nutzte) auch für »primitive« Völker gelte. R. Ardrey meint in seinem Buch Der Gesellschaftsvertrag, Kindes­ tötung, erzwungene Abtreibung, Kopfjagd, Menschenopfer, Ri­ tualmord, Inzesttabus und periodische Verbote des Sexualverkehrs hätten vorrangig dem Ziel gegolten, die »optimale Zahl« herzu-



stellen. Einer der wichtigsten dieser Regulationsmechanismen zur Bevölkerungskontrolle sei die Anthropophagie gewesen. Wenn diese Ansicht zutrifft, dann läßt sich zum Lobe des Men­ schenessens als Verhütungsmittel gegen Übervölkerung immer­ hin konstatieren, daß es seine Funktion in nachgerade idealer Weise erfüllte - es dezimierte die Esser und schuf den Übrigblei­ benden obendrein zusätzliche Nahrung.

Nach diesen wenigen Beispielen kannibalischer Verhaltensformen bei Tieren läßt sich die Definition des Kannibalismus - Menschen­ verzehr durch Menschen - nicht halten. Kannibalismus ist, im umfassenden Sinn, der totale oder partielle Verzehr von Ange­ hörigen der eigenen Spezies. Er kommt in der Natur vor - Tiere können Kannibalen sein. Das sogenannte Natürliche verweigert sich als Argument gegen die Anthropophagie. Künftige Ergebnisse der Verhaltensforschung, die tierischen Kan­ nibalismus betreffen, werden auf die menschliche Anthropophagie nur in beschränktem Maße übertragbar sein. Die »Chance«, den Human-Kannibalismus in relativer Blüte zu studieren, wie er noch im vergangenen Jahrhundert in manchen Gegenden anzu­ treffen war, ist durch den Fortschritt der Menschheitsmoral und einen radikalen Moralexport beseitigt worden und wird niemals wiederkehren. Vermutlich.

10 Sagen, Mythen, Märchen »Niehl Zentauren suche ich hier, Gorgonen und Harpyien. Die Rede ist vom Menschen.« (Martial)

Der Ursprung des Menschenessens, die Geburt des »abscheulichen Lasters« als Sitte in so zahlreichen Weltgegenden, liegt im mysti­ schen Dunkel. Mythen und Märchen, ätiologisch und apologe­ tisch, abschreckend und zur Besserung bestimmt, berichten von einer untergegangenen Tradition, so wie Homer von Troja berichtet. Homer hat recht behalten; sind die Fabeln der Mythen­ schätze nur Ammenmärchen? - »Wie die vergleichende Mytho­ logie in den Volksmärchen und Sagen reichen Stoff zum Wieder­ aufbau der alten Götterwelt gefunden hat, so können, und mit noch größerem Rechte, die Anklänge, welche Märchen und Sagen verschiedener, heute auf einer hohen Kulturstufe stehender Völker 59

an Menschenfresserei zeigen, als Überbleibsel aufgefaßt werden und dazu dienen, das ehemalige Vorhandensein der Anthropo­ phagie bei solchen Völkern dazutun« (R. Andree). Die beste Entschuldigung, die zudem den Vorteil bot, die Ent­ stehung in eine graue Vorzeit zu verlegen, war stets ein kannibali­ scher Gott, der mit seinem Vorbild die Menschen zum Menschen­ essen anleitete. Die Samoaner, und nicht sie allein, rechtfertigten ihre Lust am Menschenfleisch mit dem Hinweis auf eine Gottheit, Maniloa mit Namen, die sich am Menschenverzehr delektierte. Maniloa fing vorzeiten in einer tiefen Schlucht arglose Reisende mittels einer Brücke aus geflochtenen Lianen. Jedesmal, wenn ein Wanderer die Brückenmitte erreicht hatte, riß der göttliche Men­ schenfresser an den Lianen, so daß ihm die armen Opfer direkt in den Schlund flogen. Schließlich gelang es den Samoanern, Maniloa im Schlaf zu überwältigen und zu töten. Indessen, mit dem Menschenfresser hatte nicht auch die Men­ schenfresserei ein Ende. Der Geist des unmenschlichen Kannibalen nistete sich in seinen Besiegern ein, und so übernahmen sie contre cceur den scheußlichen Brauch. Auf Aitutaki (Cook-Inseln) trug die Gottheit Terongo den Bei­ namen Menschenfresser, Kaitamgata. Und Tangaroa auf Hawaii galt als Seelenfischer; er fing die Seelen Abgeschiedener in einem Netz und verzehrte sie. »Damit waren die Menschenopfer und in weiterem Verfolge bei der Undeutlichkeit der Grenze zwischen Menschlichem und Göttlichem die Menschenfresser mit göttlicher Berechtigung ausgestattet« (F. Ratzel). Einen »religiösen« Erklä­ rungsgrund bietet auch eine Legende der neuseeländischen Waikato. Das Menschenessen bei ihnen habe mit einem frevlerischen Akt begonnen. Einer der Ihren habe von einem gestrandeten und für heilig gehaltenen - Walfisch, in dem sich der Geist einer Gottheit aufhielt, ein Stück zu sich genommen. Der Walfleisch­ esser hatte sich mithin Gottesverzehr zuschulden kommen lassen. Einigermaßen unlogisch strafte die Gemeinschaft den Frevler mit dem Tod durch Verspeisung, und irgendwie wurde sie vom bösen Beispiel des Sünders angesteckt und blieb fortan kannibalisch. Auf Vanua Levu, der zweitgrößten Insel der Fidschi-Gruppe, machte die Sage einen .überaus grausamen König für das Auf­ kommen der Anthropophagie verantwortlich. Als er im Kampf gefallen war, beschlossen die erleichterten Untertanen, ihn ein für allemal zu vertilgen. Damit wollte man seiner Auferstehung vorbeugen, die einer seiner Vorgänger, ebenfalls von brutaler Wesensart, gefeiert hatte, nachdem er begraben worden war. Man verzehrte also den getöteten Despoten, und daraus sei der Brauch entstanden, ganz allgemein im Kampf Gefallene zu essen. Den »gerichtlichen« Kannibalismus der Batak von Sumatra will eine Legende - von mehreren - folgendermaßen erklären: Ein Radscha beging ein schweres Verbrechen, das trotz seiner hohen 60

Stellung die strengste Buße verlangte. Da niemand es übernehmen wollte, die Strafe an dem Fürsten zu vollziehen, beschloß die Gemeinschaft, ihn hinrichten zu lassen, und anschließend sollten alle ein Stück von seiner Leiche verzehren. Bei diesem Strafvoll­ zug stellten die Batak zu ihrer Überraschung fest, daß Menschen­ fleisch höchst schmackhaft sei. Daraus entstand - nicht unver­ ständlich - die Sitte, Verbrecher künftig zu verspeisen. Gegen Götter und Fürsten antretend, traten auch bescheidenere Verursacher des Menschenessens auf. Bei den südamerikanischen Umaüa war es, einer Stammesiegende zufolge, der Hunger. Ein feindlicher Trupp fand einen schlafenden Umaüa und miß­ brauchte sein Fleisch zur Sättigung. Da zu jener Zeit die Tiere noch sprechen konnten, meldete ein Vogel den Genossen des Verzehrten den schauerlichen Vorfall. Zur Vergeltung verspeisten hinfort die Umaüa jedes Mitglied des gegnerischen Stammes, dessen sie habhaft werden konnten. Antonio Pigafetta, Gefährte des Magalhäes bei der ersten Weltumseglung, fuhrt in seiner Reisebeschreibung die kannibalischen Gewohnheiten der uns schon durch Hans Staden bekannten TupiVölker gleichfalls auf Racheverlangen zurück. Eine Frau, die um ihren einzigen Sohn gebracht worden war, verlor den Verstand, stürzte sich auf einen der gefangenen Mörder und biß ihm ein Stück aus der Schulter. Dies brachte die Stammesgenossen des Verstümmelten dazu, das Fleisch ihrer Feinde zu verspeisen. Frauen waren auch in Neuguinea am Ausbruch des Menschen­ essens schuld. Frauen verführten die Männer zum Kannibalismus - die auffallende Parallele zum Sündenfall erklärt sich vielleicht auch daher, daß der Vermittler der Legende ein Missionar war. Sündige Frauen also brachten ihre arglosen Männer dazu, ihre Mitmenschen zu töten, damit sie gegessen werden konnten, wie Reverend James Chalmers in Erfahrung bringen konnte. Als die Männer von einem Jagdzug zurückkehrten und stolz die erbeu­ teten Känguruhs, Kasuare und Wildschweine vorwiesen, reagier­ ten die Damen mit ungewohntem Abscheu vor der gewohnten Kost. »Was, nur dieses elende Zeug? Nennt ihr das vielleicht einen erfolgreichen Jagdzug?« Die enttäuschten Jäger berieten lange, warum sie mit einemmal so verächtlich behandelt wurden. Schließlich kam dem klügsten unter ihnen die Erleuchtung: »Ich weiß, sie wollen Menschenfleisch!« Die Männer warfen die erbeu­ teten Tiere aus den Kanus und machten sich gehorsam davon, um das nächstgelegene Dorf zu überfallen. Freudlos kehrten sie mit zehn getöteten Menschen zurück. Die Frauen aber empfingen sie voll Entzücken, kochten das Menschenfleisch und fanden es vortrefflich. Die Herren des Stammes sträubten sich zuerst gegen das neue Gericht, kamen aber mit der Zeit ebenfalls auf den Ge­ schmack, »und bis auf den heutigen Tag haben die Männer und

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Frauen dieser Stämme immer gesagt, daß das Fleisch von Men­ schen besser sei als das jedes anderen Tieres«. Auf der berüchtigten Kannibaleninscl San Cristóbal erklärte eine Sage, deren Grundgedanke sich auch in europäischen Märchen findet, die Entstehung des Menschenessens aus einem Bruder­ zwist : Kannibalismus als Vergeltung für kannibalischen Vorsatz. Es waren einmal auf dem Eiland zwei Brüder, die ein Haus für ihr Kanu bauen wollten. Während sie bei der Arbeit waren, wurde ihnen ein Brüderchen geboren. Der Kleine wurde sofort groß und zog aus, die Nabelschnur um den Hals gewickelt, um seine Brüder kennenzulernen. Den beiden Älteren gefiel es nicht, daß sie nun noch einen Bruder hatten, der obendrein, wie sich bald zeigte, viel schlauer war als sie. Sie sannen darauf, ihn loszuwerden. Zuerst gruben sie ein tiefes Loch und hießen ihn hineinspringen und nachsehen, was sich auf dem Grund befinde. Geschwind rammten sie einen schweren Pfosten in das Loch und füllten es mit Erdreich und Steinen aus. Als die böse Tat getan war, ertönte von der Pfostenspitze herab ein Lachen - dort saß der ungeliebte Jüngste. Später sprang er auf ihr Zureden auf einen menschenfressenden Fisch, der ihn verschlang. Aber beherzt schnitt sich der Verzehrte mittels eines Messers aus dem Magen des Untiers den Weg in die Freiheit. Nun konnte nur noch Zauberei helfen. Die älteren Brüder for­ derten den Überlebenskünstler auf, einen hohen Baum zu erstei­ gen, den sie gen Himmel wachsen ließen, während der Kleine herabzuklettem versuchte. Schon schien er verloren, da konnte er den längsten Ast packen. Er drückte ihn erdwärts, bis er mit einem gewaltigen Sprung wieder in Sicherheit war. Verzweifelt beschlossen nun die bösen Brüder, ihn zu braten und zu essen, um ihm endgültig den Garaus zu machen. Als der Ofen gebaut und erhitzt war, forderten sie ihn auf, die glühenden Steine auf dem Grund mit Laub zu bedecken. Plötzlich packten sie den Nichtsahnenden, warfen ihn auf die bereits brennenden Blätter und häuften heiße Steine über ihn. Erleichtert und erwartungsvoll ließen sie sich neben dem Ofen nieder, als sie ein Knacken ver­ nahmen. »Das ist das eine Auge«, meinte einer der Bruderköche. Auf ein abermaliges Knacken der andere: »Und das ist das zweite. Er muß jetzt fast gar sein.« Mit böser Freude sahen sie den Dampf zwischen den Steinen herausquellen. »Aber warten wir lieber noch«, riet der eine. »Erst wenn die Steine ganz erkaltet sind, wissen wir, daß unser Bruder gar ist und wir ihn verspeisen können.« Endlich war die Zeit gekommen, die kalt gewordenen Steine wegzuräumen. Doch als sie den Ofen bis zum Grund ausgeräumt hatten, hörten sie hinter sich wieder die Stimme ihres jüngsten Bruders. »Bin ich ganz durchgebraten, liebe Brüder?« Da saß er

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auf einem Baumstamm, der Un vertilgbare, noch immer die Na­ belschnur um den Hals geschlungen. Nun aber hatte er genug von den Anschlägen. Er kam herbei und sagte zum Ältesten: »Du hast nichts andres im Sinn, als mir Schaden zu tun, Bruder, ob­ wohl ich dir nichts getan habe. Jetzt kommst du an die Reihe.« Nach diesen Worten baute er einen kleinen Ofen, den er nur mit ganz wenig Brennholz leicht erwärmte. Dann hieß er den Ältesten sich hineinlegen, was dieser zum Hohn auch tat. Im Nu häufte der Jüngste die heißen Steine über den Leichtsinnigen und band sie mittels seiner Nabelschnur, die er geschwind entrollte, unlös­ bar zusammen. Ruhig setzte er sich zu seinem anderen Bruder, und sie warteten drei Tage. Schließlich war der Älteste gar, und die beiden Jüngeren verspeisten ihn, bis nicht mehr das geringste von ihm übrig war. Von Südsee-Kannibalen zu griechischen Anthropophagen. Odys­ seus’ Abenteuer mit Polyphem und bei den Lästrygonen lassen ahnen, daß das Phänomen des Menschenverzehrs der griechischen Welt nicht völlig fremd war, und diese Vermutung wird unter­ stützt durch eine Fülle kannibalischer Erzählungen in der griechi­ schen Mythologie - allerdings erzieherischer, abschreckender Fabeln, in denen es mit den Menschenessem allemal ein böses Ende nimmt. Zeus’ Vater, der Vatermörder Kronos, tritt uns als erster himm­ lischer Kannibale entgegen. Ihm war geweissagt, einer seiner Söhne werde ihn vom Thron stoßen. Es half Kronos nichts, daß er all seine Kinder verschlang. Zeus, den er unwissend ausgelassen hatte, erfüllte die Prophezeiung (und schritt dann mit unnach­ sichtiger Strenge gegen irdische Kannibalen ein). Tatsächlich scheinen die Interventionen des Gottes nicht ohne Anlaß gewesen zu sein; noch in christlicher Zeit sollen in abgelegenen Gebieten Arkadiens Hirten dem Menschenverzehr gefrönt haben. Sein eigenes Fleisch und Blut verzehrte auch der Arkadier Klymenes. Er mißbrauchte seine Tochter Harpalyke und suchte ihr dann einen Ehemann, dem er sie aber, noch immer von blut­ schänderischer Gier entflammt, wieder wegnahm. Harpalyke mor­ dete aus Rache den Sohn-Bruder und setzte ihn dem Vater vor. Die Götter verwandelten sie in einen Raubvogel. In Vögel verwandelte Hermes auch die drei Töchter des Minyas, Alkithoe, Leukippe und Arsippe. Sie sträubten sich, an den Zügel­ losigkeiten Dionysos’ und der Mänaden teilzunehmen. Dionysos nahte sich den Mädchen als Löwe, Stier und Panther, um sie zu verlocken. Die Schwestern wurden wahnsinnig und zerrissen Hippasos, Leukippes Sohn, in Stücke. Sie verschlangen den Leich­ nam und schlossen sich in wildem Taumel dem Zug der Mänaden und Satyrn an, bis Hermes ihre Metamorphose vorhahm.

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Als Kapitän Cook zum erstenmal nach Tahiti kam, traf er dort keine Kannibalen. Cook gibt allerdings eine Legende der Tahitianer wieder, die darauf schließen läßt, daß die Sitte früher dort be­ standen hatte. In den Bergen von Tahiti lebten vorzeiten zwei Menschenfresser, die die Inselbevölkerung grausam dezimierten. Ein Brüderpaar faßte sich schließlich ein Herz und lud die beiden Vielfraße zu einem Mahl, bei dem es ihnen glühende, mit Brotfruchtteig pa­ nierte Steine vorsetzte, die harmlos und appetitlich aussahen. Der eine Menschenfresser verschluckte die todbringende Speise und starb daran. Durch das Zischen im Hals seines Gefährten gewarnt, wurde der andere argwöhnisch. Er ließ sich aber von den Brüdern überzeugen, die tödliche Wirkung sei nur scheinbar und werde bald vorübergehen. Alsbald war es auch mit ihm zu Ende. Die mutigen Brüder zerschnitten die Leichname und begruben sie, ohne dem bösen Beispiel ihrer Gäste zu folgen, in der Erde. Machten den tahitianischen Kannibalen heiße Steine in Brot­ fruchtteig den Garaus, so genügten bei einer berüchtigten Men­ schenfresserin auf den Gesellschaftsinseln Nüsse, in denen erhitzte Kiesel verborgen waren. Roh verschlang Naumea, so ihr Name, ihre Lieblingskost Menschenfleisch, während sie es für ihren zarter besaiteten Sohn Tuture immerhin erst schmorte. Tuture jedoch schätzte die mütterliche Leibspeise nicht und fürchtete, zuletzt selbst verschlungen zu werden, denn Naumeas Menschenfleisch­ gier wurde immer unheimlicher. Zusammen mit seiner Frau ent­ floh er der Lebensgefährlichen, die ihm aber schwimmend nach­ setzte und erst dank der erwähnten Nüsse in den Fluten versank.

Vom bösen Ende eines Menschenessers, der sich in süchtigem Wahn buchstäblich selbst verzehrte, erzählt eine Legende aus Nigeria: Einst flog ein Falke über die Hütte eines Häuptlings und verlor dabei ein Stück Menschenfleisch, das er in den Klauen hielt. Es fiel in die kochende Suppe des Häuptlings, ohne daß jemand es bemerkte. An diesem Tage mundete dem Stammeshaupt sein Essen wie nie vorher. Er lobte seine Köche und forderte sie auf, die Suppe fürderhin immer so schmackhaft zuzubereiten. Als die Köche aber den Geschmack nicht wieder trafen, ließ ihr ergrimm­ ter Herr sie verprügeln und durch andere ersetzen, die jedoch ebensowenig Erfolg hatten. Alle Tiere von nah und fern, von Himmelshöhen und Waldestiefe, probierten sie aus, dazu Fische und Insekten. Doch nichts half, der Häuptling war nicht zufrieden­ zustellen. Schließlich verlor er den letzten Rest seiner Geduld und schlug seinen obersten Koch tot. »Schneidet ihn mit euem Messern in Stücke«, befahl er den anderen Köchen, »und werft ihn in die Suppe, die er nicht machen kann!« Die verängstigten Köche taten wie geheißen und setzten schließ­ lich ihrem Häuptling das Strafgericht vor. Wenn sie aber gefürch64

tet hatten, daß nun sie selbst ebenfalls totgeschlagen würden, sahen sie sich angenehm enttäuscht. Der Gourmet war voll des Lobes über die Suppe, die endlich seinen Wünschen entsprach. »Tötet mir von nun an täglich einen Sklaven«, befahl er seinem Küchenpersonal, »und schneidet ihn in kleine Stücke und werft ihn in meine Suppe!« Die Suppengier hatte ihn mit solcher Macht ergriffen, daß er nicht eher ruhte, bis der ganze Stamm erschlagen und gekocht war. Zuletzt mußten die Köche einander zubereiten, und so kam unvermeidlich der Tag, da der Häuptling weit und breit allein übriggeblieben war. Aber seine Fleischsucht war unheilbar ge­ worden. Er begann sich Fetzen vom eigenen Leib zu reißen und in den Kochtopf zu werfen, bis ihm nur noch die Knochen blieben und ein wenig Fleisch dort, wo er es nicht erreichen konnte. Und dann war es soweit: Die letzte Suppe wurde kalt und blieb ungegessen.

11 Seid verschlungen, Millionen! »Mich und meine Freunde nur als schönen Braten an^usehen ? Fleisch ! Wir ? Himmel, welch ein Gedanke !« (H. M. Stanley)

Speisen - Essen - Fressen. Nicht alle Menschenesser haben es an Feinheiten bei Zubereitung und bei Tisch fehlenlassen. Solche Menschenspeiser fanden sich, wie man erwarten darf, vornehm­ lich in Landen, wo Menschenfleisch von altersher den Appetit stillte und eine lange Tradition des Humanverzehrs die Entwick­ lung einer kannibalischen Kochkunst, einer cuisine anthropophage, begünstigte. Nicht alle Menschenesser haben beim Essen maßgehalten. Sie waren Exzeßkannibaleh, Menschen/resser mithin, deren Gourman­ dise in etlichen überlieferten Fällen schließlich nur noch Men­ schenfleisch goutierte oder, im legendären Beispiel, zu schlimmer Letzt zum Selbstkonsum sich verirrte. Menschenfresser haben ganze Schiffsbesatzungen, Volksstämme, Festungsbesatzungen ausgetilgt. Menschenfresser waren, wenn wir den Quellen glauben wollen, ganze Völkerschaften (FidschiInsulaner, Neukaledonier etc. etc.). Menschenfresser sandten einander als Geschenk natürlich Men­ schenfleisch und scheuten sich nicht, wenn Not am Mann oder an der Frau war, liebe Angehörige auf den Tisch zu bringen. 6.S

die Menschenfresser waren der Abschaum der Menschenesser, unentschuldbare Übertreiber. Auf den ruchlosen Fidschi-Inseln kam es dahin, daß man in teuren Anverwandten primär Lebensmittel sah. Ein Insulaner namens Loti arbeitete mit seiner Frau in einer Taropflanzung. Nach ge­ endigtem Tagewerk verspürte er verständlicherweise Hunger. Weniger verständlich aber war, wie er ihn zu stillen gedachte. Da keine andere Nahrung zur Hand war, hieß er die Gattin Brennholz sammeln und einen Erdofen ausheben und heizen. Die Nichts­ ahnende bereitete alles vor, Wurde erschlagen und verzehrt. »Nie­ mals«, so weiß der Gewährsmann dieser Untat, »hatte der Un­ mensch mit dem Weibe, mit dem er ruhig lebte. Streit gehabt«. (Als wäre ein Ehezank mehr Entschuldigung für den Verzehr der Gattin gewesen!) Menschenfleisch zu Einladungen oder als artiges Geschenk war auf den Fidschi-Inseln überhaupt gern gesehen. In der NatevaBucht soll folgender bemerkenswerter Brauch geherrscht haben: Wenn man einem vornehmen Herrn einen Haufen Yams zum Präsent machte, verlangte der gute Ton, dem Wurzelgemüse die übliche Fleischbeilage hinzuzufugen. Ein europäischer Besucher beobachtete, wie eine solche Aufmerksamkeit zu ihrem Emp­ fänger transportiert wurde. Auf den Yamswurzeln saß ein junges Mädchen, bemalt, geschmückt und mit Blumen besteckt. Der Zeuge griff" ein und bewahrte das zur Speise bestimmte Kind vor seinem Schicksal. - Auf Viti-Levu, der Hauptinsel der FidschiGruppe, beschenkten Häuptlinge einander mit Feindesleichen wie mit erlegtem Wild, ja, manche Stämme mußten alljährlich den kannibalischen Nimmersatten eine genau festgesetzte Anzahl von Eßmenschen stellen.

Tabula rasa machte man mit Schiffbrüchigen nicht nur im FidschiArchipel. Eine anthropophage Massenspeisung gestatteten sich in der Mitte des letzten Jahrhunderts die einschlägig berüchtigten Bewohner der Louisiade-Gruppe im Korallenmeer. Im Sommer 1858 strandete an der östlichen Insel Rossel ein Schiff', das chine­ sische Kulis in Hongkong an Bord genommen hatte und nach Australien bringen sollte. Die Schiffbrüchigen konnten sich auf ein kleines Eiland bei Rossel retten, und der Kapitän machte sich in der Schaluppe auf den langen Weg, um Hilfe zu holen. Seine Irrfahrt wurde für die menschliche Schiffsfracht verhängnisvoll. Die französische Verwaltung aufNeukaledonien, wohin er endlich gelangte, setzte zwar sogleich ein Kriegsschiffin Marsch, das die ret­ tende Insel im Januar 1859 erreichte. Das inzwischen vergangene halbe Jahr aber hatten die Gestrandeten den Bewohnern der Louisiade als Fleischreservoir gedient, und der Kapitän sah von den mehr als dreihundert Chinesen nur vier Unverzehrte wieder. 66

Taro, die beliebte Zukost zu anthropophagen Mahlzeiten in Poly­ nesien, wurde auf den Fidschi-Inseln einem Stamm zum verhäng­ nisvollen Hauptgericht, zu dem er selbst die Zukost abgab. B. See­ mann, der den gefräßigen Archipel 1860/61 besuchte, schrieb: Mm Innern von Viti-Levu, etwa drei Meilen nordnordwestlich [von Namosi, wohnte ein Stamm Kai-na-loca, der vor langer Zeit ¡dem in Namosi herrschenden Häuptling Verdruß bereitet hatte; ¡als Strafe für seine Missetaten wurde der ganze Stamm zum Tode verurteilt. Jedes Jahr wurden die Bewohner eines Hauses gebraten und gegessen, die leere Wohnstatt wurde niedergebrannt und das Grundstück mit Kurilagi bepflanzt. Im nächsten Jahr war die Reife des Taros das Zeichen für die Vernichtung des nächsten Hauses und seiner Bewohner und für die Anlage eines neuen Tarofeldes. So verschwand Haus nach Haus, Familie um Familie, bis Ratuibuna, der Vater des jetzigen Häuptlings Kruduadua, die wenigen Überlebenden begnadigte und ihnen erlaubte, eines natürlichen Todes zu sterben. 1860 war eine alte Frau, die in Cagina wohnte, die einzige Überlebende des Na-loca-Volkes. - Man denke sich die Gefühle der armen Wichte, wie sie das Wachstum des ver­ hängnisvollen Taros beobachteten! Im ganzen Gebiet des mäch­ tigen Häuptlings, gegen dessen Autorität sie verstoßen hatten, war ihr Leben verwirkt, und eine Flucht in andere Gebiete, in denen sie Fremde gewesen wären, hätte in jenen Zeiten nur eine Beschleunigung des schrecklichen Schicksals bedeutet, das sie im eigenen Lande erwartete ... Und wenn schließlich die Blätter gelb wurden und der Taro reifte, welche Todesängste müssen sie ausgestanden haben! Welche Folter könnte dieser gleichen!« Um den Preis der Kannibalenhochburg par excellence konnte lange Zeit Neuguinea mit den Fidschi-Inseln wetteifern. Die menschenessenden Archipel-Bewohner sind noch im 19. Jahrhun­ dert nach dem Einzug gesitteter Verhältnisse unter dem englischen Kolonialregiment zur Humanität und Menschenfleischfeindlich­ keit bekehrt worden. In Neuguinea hingegen wurde der Kanni­ balismus bis gestern ganz allgemein geübt. »Ja, man kann sagen, dies ist eine der ganz wenigen Gegenden, von der niemand selbst heute zu sagen wagt, daß das Essen von Menschenfleisch in der Mitte des 20. Jahrhunderts nur der Erinnerung angehört. Noch immer sind große Teile Neuguineas praktisch unerforscht und sicher nicht kartographiert« (G. Hogg). Und noch am 29. Juli 1971 berichtete die Süddeutsche Zeitung: , »Wegen Kannibalismus stehen in Daru (West-Papua) sieben Ein­ geborene vor Gericht. Das wurde in Fort Moresby, dem Verwal­ tungssitz des australischen Treuhandgebiets Papua auf der Insel Neuguinea, bekannt. Die Anklage lautet auf >ungebührliche Ein­ griffe in einen Körpere Nach den in Fort Moresby vorliegenden Informationen kommen die Männer aus dem Gebiet der Biama, das einst wegen des Kannibalismus berüchtigt war. Verwaltungs67

beamte nahmen jedoch in den letzten Jahren an, die Eingeborenen hätten die Menschenfresserei aufgegeben.« Auf dem renitent anthropophagen Neuguinea war auch das zarte Geschlecht, so häufig wegen seiner Zartheit bevorzugtes Men-; schenfleisch, selbst extrem menschenfleischlich gesinnt. H. Detzner (einer der wenigen Verfasser der vielen Bücher ä la »Unter den Kannibalen von .. .«, die tatsächlich Kannibalismus erlebt haben) berichtet von einem Kampf zwischen zwei Nachbardör- fern, in dem sich die Frauen noch schlimmer gebärdeten als dieMänner: »Hinter den Reihen, oft einen der bogenspannenden Krieger nach f vorne stoßend und zum Angriff drängend, gellte das Geschrei! und Geheul der fleischlüstemen Weiber, die ja beim Baiumfest' leer ausgehen, nur selten etwas von der Jagd auf Beuteltiere und. Vögel abkriegen und die heute eine Gelegenheit sahen, ihren i Fleischhunger einmal ordentlich zu stillen ... Nicht selten kommt" es vor, daß diese Teufelinnen auch jene jungen Mädchen, die; von den Kriegern als Beute eines erfolgreichen Feldzuges gefan-| gen in ihr Dorf zurückgebracht und ausdrücklich zum Leben-’ bleiben bestimmt worden sind, in einem unbewachten Augen-i blick hinter dem Rücken der Männer niedermetzeln, zerteilen ’ und halb roh aufzuzehren beginnen.« 5 Zentralafrika, und namentlich der Kongo, konnte es lange Zeit ; mit dem kannibalischen Ruf der Südsee aufnehmen. Noch um? die Jahrhundertwende stand, nach den Berichten von Reisenden-; tmd Missionaren, der Menschenverzehr in Afrika in voller Blüte. ’ Die damalige belgische Verwaltung des Kongo, bestrebt, das Land ] zu erschließen und wirtschaftlich zu nutzen, erwarb sich im dop- ; pelten Kampf gegen Sklavenhändler und Menschenesser hohe] Verdienste. Hauptmann Sidney Langford Hinde berichtet einErlebnis aus seiner Zeit im Kongo: i »Ein junger Bassongo-Häuptling kam zu unserem Kommandeur,j während dieser im Zelt beim Essen saß, und bat ihn, ihm sein] Messer zu leihen, das ihm der Kommissar unbedenklich überließ. | Der Häuptling verschwand sofort hinter dem Zelt und schnitt] einem kleinen Sklavenmädchen, das ihm gehörte, die Kehle durch.! Er war gerade damit beschäftigt, es zu kochen, als einer unserer^ Soldaten ihn beobachtete. Der Kannibale wurde auf der Stelle ins Ketten gelegt, aber sogleich nach seiner Freilassung brachten ihn | einige unserer Soldaten, die angaben, er fresse in unserem Bezirk! Kinder. Er hatte eine Tasche um den Hals hängen, in der sich, j wie wir bei der Durchsuchung feststellten, Arm und Bein eines j kleinen Kindes befanden.« 2 Hinde liefert auch eine Erklärung, wie kannibalische Vielfraße * oft solch gewaltige Zahlen an Opfern bewältigen konnten, näm-1 lieh durch feinschmeckerische Selektion: ? »Was mir bei meinen Streifzügen durch das Land am meisten; 68

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auffiel, waren die zahlreichen teilweise verstümmelten Leichen. Manchen fehlten die Füße und Hände, anderen waren aus den Schenkeln oder anderen Körperpartien Fleischstücke herausge­ schnitten; bei anderen fehlten die Eingeweide oder der Kopf. Weder alt noch jung, Kinder noch Frauen sind davon ausgenom­ men, ihren Siegern oder Nachbarn zur Nahrung zu dienen.« 1846 berichtete der Missionar J. Watsford nach Hause, ein FidschiHäuptling aus Rakeraki habe Menschenarme und -beine einge­ salzen in einer Kiste aufbewahrt. Der Gourmand aß täglich sein gerüttelt Maß Menschenfleisch. Selbst seine Freunde mußten ihm aus dem Weg gehen, denn wenn er einen wohlgenährten Men­ schen erblickte, ließ er ihn unverzüglich schlachten. Ein Teil wurde gebraten, der Rest wanderte in die Pökelkiste. Die Zahl der von diesem Unmenschen Verzehrten hat der em­ pörte Missionar leider nicht festgehalten. Hin und wieder aber zeigten Kannibalen gegenüber ihren Mahlzeiten die Einstellung des Trophäensammlers-zu seiner Beute. Ihnen verdanken wir unser »Wissen«, wie viele Menschen ein Mensch essen kann. Von mehr als siebzig Männern, Frauen und Kindern, so bekannte ein selbst­ bewußter Menschenesser auf Bomeo, habe er Fleisch und Blut gekostet. Ein europäischer Reisender lernte aufOstmalekula (Neue Hebriden) einen Häuptling kennen, der sich rühmte, 120 Men­ schenmahlzeiten vertilgt zu haben. Auf den Fidschi-Inseln lebte ein Stammeschef von besonders ge­ winnendem Wesen, durchaus nicht blutrünstig und zu Fremden überaus gastfreundlich. Ausgerechnet dieser gute Mensch von Fidschi tat sich viel darauf zugute, neunhundert Menschen ver­ zehrt zu haben. Es kann gar nicht anders sein, als daß dieser ärgste der Humangourmands ausgemacht wählerisch war und nur die leckersten Teile seiner Schlachtopfer akzeptierte, sonst hätte er schwerlich diese enorme Fleischmasse vertilgen können. Seinen Konsum kontrollierte er mittels aufgestellter Steine, von denen jeder einen Gegessenen markierte. Neunhundert - wir sind der magischen Zahl Tausend ganz nahe. Und tatsächlich wurde dieses traurige Ziel erreicht. Den Rekord im Menschenverzehr errang, merkwürdigerweise, kein FidschiInsulaner, Neuguineaner oder Neuseeländer. Auf einem kleinen Eiland, Fotuna, nördlich des Fidschi-Archipels, entdeckte ein euro­ päischer Forschungsreisender den Exzeßkannibalen schlechthin. Ein Häuptling der Insel wollte nicht weniger als exakt tausend Menschen gegessen haben. Diese runde Summe (die der Mann auf Fotuna vermutlich überhaupt nicht begriff) ist seither nirgend­ wo auf der Welt Überboten worden - und mit Sicherheit die Er­ findung des Besuchers aus der Zivilisation.

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12 Menschenmarkt »Der Wert des Kannibalismus als Quelle hochwertiger Nährstoffe ist nach unseren Untersuchungen sehr gering. Deshalb ist es zweifel­ haft, ob regelmäßige Menschenfresserei jemals für die menschliche Ernährung von Bedeutung war.« (Dr. Stanley, M. Garn und Dr. Walter B. Block, Anthropologen der University of Michigan)

Um die Jahrhundertwende berichtete der Baptisten-Missionar W. H. Bentley in seinem Buch Pioneering on the Congo über den massierten Kannibalismus am Mobangi: »Die dortigen Stämme hielten und mästeten Sklaven zum Schlach­ ten wie wir Vieh und Geflügel .... Sie verteilten ihre menschliche Beute und bewahrten sie, gefesselt und hungernd, auf, bis sie das Glück hatten, noch weitere zu fangen und eine Fracht zusam­ menzubringen, die den Transport zum Mobangi lohnte. Wenn die Zeiten schlecht waren, konnte man oft diese armen Ausge­ zehrten in ihren Fesseln sehen, die mit einem Minimum an Nah­ rung gerade noch am Leben erhalten wurden. Man bildete einen Trupp und belud einige Kanus mit diesem menschlichen Vieh. Sie paddelten den Lulongo hinab, überquerten den Hauptstrom, wenn der Wind nicht wehte, fuhren den Mobangi hinauf und verkauften ihre Ladung in den Ortschaften gegen Elfenbein. Die Käufer futterten dann ihre Hungergerippe auf, bis sie fett genug für den Markt waren. Dann schlachteten sie sie und verkauften das Fleisch in kleinen Partien. Was bei großem Angebot auf dem Markt übrigblieb, wurde auf einem Gestell über Feuer gedörrt oder auf einen Spieß gesteckt und neben einen kleinen Feuer ge­ räuchert, so daß es sich wochenlang hielt und nach Beheben ver­ kauft werden konnte.« Bentleys Schilderung aus dem schwärzesten Afrika zeigt ein be­ reits ziemlich weit entwickeltes ökonomisches System mit Be­ schaffung, Warentransport, Lager- und Vorrathaltung, Groß- und Einzelhandel, Anfängen einer Marktregulierung und Rationali­ sierung, Kreditierung und, nicht zuletzt, einer Art Währung. Ein solcher Organisationsgrad setzte zunächst die Anthropophagie als allgemein akzeptierte Eßsitte voraus, sodann eine Unbefangen­ heit gegenüber Humankost, die auf lange Gewöhnung schließen läßt. Natürlich lagen die Verhältnisse häufig viel »primitiver« als in Bentleys Beispiel aus dem Kongo (wo Angebot und Nachfrage bereits die Rudimente eines geordneten Systems aufwiesen). Ge­ legentlich aber zeigte das Absatzsystem menschlicher »Lebensmit­ tel« Verfeinerungen, die den Bericht des Missionars noch weit übertreffen. Die Beschaffung von Menschenfleisch spielte sich im einfachsten Fall so ab, daß ein hungriger Kannibale ein Opfer ergriff und



verzehrte. Die Entwicklung solchen Appetits einzelner zur Sitte, zum Kollektiv-Verhalten, führte zu organisiertem Menschenraub und Fleischbeschaffungskriegen, zumal wenn man nicht mehr nur den gegenwärtigen Eigenbedarf, sondern Vorratspolitik oder Han­ delsabsichten im Sinn hatte. Der Krieg war nicht nur Ursache des Kannibalismus und Anlaß dazu, auch die Umkehrung gilt. Schweinfurth berichtet von den Raubzügen, welche die Mangbetu in das Gebiet umwohnender Stämme unternahmen, nur um »sich mit hinreichend großen Vorräten von dem über alles geschätzten Menschenfleisch zu versorgen«. Und über die Behandlung der Beute schreibt er: »Das Fleisch der im Kampfe Gefallenen wird ... in gedörrtem Zustand zum Transport nach Hause hergerichtet. Die lebendig Eingefangenen trieben die Sieger erbarmungslos vor sich her, gleich einer erbeuteten Hammelherde, um sie später einen nach dem anderen als Opfer ihrer wilden Gier fallen zu lassen.« Ähnliches erlebte Hans Staden in Brasilien bei den Tupi, die Ver­ wundete umbrachten und deren Fleisch gebraten mit nach Hause nahmen. Die nigerianischen Ibo fingen Fremde und Sklaven, um sie zu Nahrung zu verarbeiten, denn Menschenfleisch war ein gebräuchliches Lebensmittel und wurde, einigen Berichten zu­ folge, im Ibo-Land sogar gehandelt. Auf Bougainville (Salomo­ nen) unternahm man regelmäßig Menschenjagden, nicht nur um den Eigenbedarf zu decken, sondern auch um die Beute zu ver­ kaufen, zum Teil in weit entfernte Gegenden. Die gewöhnlichen Formen der Versorgung mit Humannahrung auf friedlichem Wege waren Tausch oder Verkauf lebender oder toter »Eßmenschen«. Der Tausch Fleisch gegen Fleisch - als öko­ nomisch primitivere Form war weit verbreitet. Auf den FidschiInseln beschaffte man sich die Opfer für den Erdofen auf dem Verhandlungswege von einem anderen Stamm, um das Verzeh­ ren von Verwandten tunlichst zu umgehen. Überhaupt wird man­ chen enragierten Menschenessem bestätigt, daß sie es immerhin vermieden, Angehörige zu essen. Die berüchtigten Fan, die Men­ schenfleisch sogar in veritablen Metzgerläden feilgeboten haben sollen, tauschten doch wenigstens ihre Toten untereinander aus, statt sie am Tresen zu verkaufen; freilich scharrten sie auch bereits Begrabene aus, wenn sich aus ihnen Gewinn schlagen ließ. Du Chaillu, der sich gründlich bei den Fan umsah, berichtet gelegent­ lich der Zerteilung eines zum Verzehr bestimmten Verstorbe­ nen : »Sie sprechen offen und frei über die ganze Sache, und man sagte mir, daß sie regelmäßig die Toten der Osheba kaufen, die umge­ kehrt wieder die ihrigen kaufen. Sie kaufen auch die Toten an­ derer Familien ihres eigenen Stammes und erhandeln die Leichen vieler Sklaven von den Nbichos und Mbondemos, wofür sie gern Elfenbein geben, einen kleinen Stoßzahn für einen Leichnam.« 7i

Austausch verewigter Angehöriger war auch bei den Mangbetu üblich, deren Gebiet geradezu ein »Land ohne Gräber« genannt wurde. Ebenso kompromißlos zeigten sich die Kalebue am Lomami. »Um nicht gerade seine nächsten Angehörigen zu verzeh­ ren«, informiert Wißmann, »gibt man dieselben nach ihrem Tode den benachbarten Dörfern, in der Erwartung, daß bei dem näch­ sten Todesfälle von dort die Schuld zurückgezahlt wird.« Der deutsche Afrika-Reisende Herzog Adolf Friedrich von Mecklen­ burg schilderte die heitere Lebensart des Kunabembe-Volkes, be­ zichtigte es aber der Sitte, ihre Toten auf dem Tauschwege in den Mägen anderer zu bestatten. Dazu kam noch, daß sie den Tod ihrer Alten nicht abwarteten, sondern nachhalfen. Bei den kannibalischen Dajakstämmen im Innern Borneos soll es sogar vorgekommen sein, daß man sich, wenn man Gäste zu einem Schmaus geladen hatte, vom Nachbarn mit einem dicken Kind aushelfen ließ und später die Gabe mit einem eigenen Sprößling vergalt. Der Handel mit Menschen(fleisch) entstand natürlich aus über­ großem Angebot, das einerseits den Eigenbedarf überstieg und andererseits die Möglichkeit eröffnete, mit dem Erlös andere be­ gehrte Dinge zu kaufen. Verkauft wurden mit diesem Ziel nicht nur Tote, sondern auch Gefangene, wie auf den Salomonen, und eigens Getötete. Barthema von Bologna meldet schon um ijoo aus Java: »Man findet Länder auf dieser Insel, wo die Bewohner gar Menschenfleisch essen. Sie haben folgenden abscheulichen und unmenschlichen Brauch: Wenn ein Vater alt wird und zu keiner Arbeit mehr taugt, so nehmen ihn seine Söhne und näch­ sten Freunde und verkaufen ihn ... Wenn ein junger Mensch schwer erkrankt, so wird er von seinen eigenen Angehörigen ge­ tötet und zum Essen an andere verkauft.«

Nicht alle Menschenesser lebten von der Hand in den Mund. Vorratshaltung als Aufbewahrung und Erhaltung von Ge- und Verbrauchsgütem für eine nähere oder fernere Zukunft war bei den »kulinarischen« Kannibalen davon bestimmt, ob sie das »Fleisch« frisch oder in verarbeitetem Zustand genießen woll­ ten. Den höchsten Investitionsaufwand erforderten »Eßmenschen«, die erst nach geraumer Zeit, oft nach etlichen Jahren, verzehrt wur­ den: Instandhaltung, Wachstumsforderung und dergleichen. Den geringsten Aufwand verlangten gefangene und gekaufte Opfer, die zum »alsbaldigen Verzehr« bestimmt waren. Wenn auf Neupommem und Neumecklenburg Raubzüge überreiche Beute er­ brachten, fesselte man die Gefangenen an Bäume, brach ihnen die Beine, um einer Flucht vorzubeugen, und hielt sie mit der geringstmöglichen Investition an Nahrung die wenigen Tage am Leben, bis sie verzehrt wurden. Die dritte Möglichkeit einer Be-

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vorratung bestand in der Verarbeitung von Menschenfleisch, die ebenfalls geringe Mittel erforderte: Salz, Brennmaterial, Ver­ packung und ähnliches. All diese Möglichkeiten anthropophager Vorratspolitik wurden irgendwann und irgendwo genutzt, wenn Kannibalen nicht nur heute Menschen essen wollten oder sich mit einem Angebotsüberschuß konfrontiert sahen. Die private Vorrathaltung bei Kannibalen mußte, da die Anthro­ pophagie als Sitte ja namentlich in warmen bis heißen Gegenden verbreitet war, notwendig Methoden der Konservierung anwen­ den oder erfinden, welche der Haltbarmachung von tierischem Fleisch nachgeahmt oder dieser zum Vorbild wurden. In zahl­ reichen weit voneinander entfernten Landen zeigt das Haltbar­ machen von Tier- und Menschenfleisch erstaunliche Überein­ stimmung in den Grund methoden. Ak schlichteste Art der Konservierung erscheint das Trocknen. Hans Staden erzählt in seiner Indianischen Historia von einer Form des Dörrens, die sich bereits einer Konservierungsart annähert, wie sie bei Partien vom Schwein allgemein üblich ist. »Aber das Fleisch des andern ... hing in der Hütte, in welcher ich war, in einem Korbe über dem Feuer im Rauch wohl drei Wochen, so daß es trocken wurde wie ein Stück Holz.« Dörren fand sich auch in Verbindung mit einer anderen weitverbreiteten Methode der Haltbarmachung: Einpökeln. In Mexiko, wo man die des Her­ zens beraubten Kadaver der Opfer den Gläubigen vorwarf, wur­ den, wenn Überfluß herrschte, die nicht sogleich verzehrten Fleischstücke getrocknet und eingesalzen - so zumindest infor­ miert uns Bemal Diaz. Der südamerikanische Stamm der Cobeu pflegte gefallene Feinde zu verzehren, ja führte sogar Kriege, um sich die begehrten Mahl­ zeiten zu verschaffen. Ergab sich ein Überfluß eßbarer Gegner, räucherten die Cobeu deren Fleisch und konservierten es so auf lange Zeit. Die verrufenen Fan in Afrika schließlich kannten als die Kannibalenmetzger ebenfalls die Räuchermethode. Und Hauptmann Langford Hinde schreibt über seine Erlebnisse be­ dauernd, daß die Gewohnheit der Eingeborenen, Fleisch zu räu­ chern, ihm und seinen Kameraden gut hätte zustatten kommen können, denn sie hätten oft wochenlang auf Fleisch verzichten müssen. Aber: »Wir konnten jedoch nie auf den Märkten Ge­ räuchertes kaufen, denn man vermochte nie mit Sicherheit zu sagen, daß es nicht Menschenfleisch war.« Auf Borneo machte ein englischer Kolonialbeamter, der Gerüch­ ten von anthropophagen Praktiken nachging, eine grausige Ent­ deckung. Mit seiner Begleitung stieß er im Kapuas-Distrikt auf Bambusstücke, offenbar von Eingeborenen versteckt, die sich zur Flucht gewandt hatten, ak die Weißen sich näherten. Bei genauerer Untersuchung stellte sich heraus, daß die Bambusstücke ausge­ höhlt und mit Menschenfleisch vollgestopft waren. Entsetzt be73

merkte der Entdecker: »Eiserne Rationen von der grausigsten Art.« Auf ähnliche Weise wurde in mehreren Fällen menschliches Blut zum späteren Verzehr konserviert. Zwar trafen während der letz­ ten Jahrhunderte vom asiatischen Festland nur selten Berichte über kannibalische Vorfälle ein, aber in Nordburma sollen in abgelegenen Gegenden wilde Bergstämme gelebt haben, die viel auf das Blut ihrer Feinde hielten. Der den Leichnamen abgezapfte Saft wurde in Bambusrohre gegossen, die man hernach verkorkte und unters Dach der Hütte hängte. Das Blut gerann nach einiger Zeit, und wenn den Hausbesitzer der Appetit anwandelte, zer­ brach er ein Rohr und verzehrte das menschliche Gelee - natür­ lich, so der zweifelhafte Bericht, »mit großem Behagen«. Menschenfleisch als Marschproviant fand sich erwartungsgemäß bei besonders kriegerischen Kannibalen, zumal bei den Maori auf Neuseeland. Das erbeutete Feindesfleisch wurde an Ort und Stelle verzehrt oder, wenn im Übermaß anfallend, auf den Rückmarsch als Verpflegung mitgenommen - teils lebend, teils getötet. In diesem Fall wurde es zuerst von den Knochen abgelöst, sodann entweder getrocknet und in Körbe verpackt oder in ausgehöhlten Kürbissen in Fett eingelegt. Der lebende »Proviant« wurde mit Flachsfesseln gebunden; in manchen Fällen mußten die Kriegs­ gefangenen das Fleisch ihrer bereits getöteten Stammesgenossen transportieren. Beobachter aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts wollen sogar festgestellt haben, daß Maori-Überfalltrupps sich bei Kriegszügen in feindliches Land praktisch nur mit dem Fleisch ihrer Gegner verköstigt hätten. Die Behandlung lebender Menschenvorräte, die langfristig ange­ legt wurden, erfolgte zunächst in der Form des Mästens, wozu gelegentlich Kastration und auch Blendung traten. (Die Motive für diese scheinbaren Grausamkeiten konnten nicht völlig geklärt werden, scheinen aber eher kulinarischer Art zu sein.) Vornehmlich wurden Kriegsgefangene und Kinder, vor allem in vielen Gegenden junge Knaben, gemästet. In Mexiko machte man keinen Unterschied des Alters oder Geschlechts, hatte aber die Entschuldigung, Mästung wie Verzehr dienten einem götter­ gefälligen Ziel. Weiter südlich in Amerika wollen die ersten euro­ päischen Entdecker regelrechten »Menschenställen« begegnet sein. Sebastian Müller schreibt in seiner Cosmographia Universa, die Be­ wohner der Insel Guanahani hätten die Karaiben bezichtigt, auf Guanahani Menschenjagden zur Nahrungsbeschaflung zu unter­ nehmen. »... und sie gingen nicht anders mit diesen um wie Tiger und Löwen mit einem zahmen Tier. Die Knaben kastrierten sie und mästeten dieselben alsdann, bis sie fett würden, wie man mit Ka­ paunen verfährt. Die Betagten schlachteten sie, weideten sie aus, 74

warfen die Gedärme hinweg und aßen die andern inneren GEeder, desgleichen die äußeren, wie Hände und Füße; das übrige salzten sie ein und behielten es.« Über die Kost, mit der Kannibalen noch in diesem Jahrhundert ihre Opfer aufmästeten, erfahren wir Näheres aus dem Bericht eines Korrespondenten der engbschen Zeitung The Saturday Re­ view über anthropophage Vorratswirtschaft in Nigeria. »Junge Knaben werden aus dem dunklen Landesinnem beschafft, in Stäl­ len gehalten, mit Bananen gemästet und schließüch umgebracht und gebraten.« In Afrika sollen Stämme am oberen Awumwimi dem grausigen Brauch gehuldigt haben, Kinder, die mißgestaltet zur Welt ka­ men, vier bis fünf Jahre reichlich zu nähren. Dann wurden die armen Würmer von ihren Angehörigen verspeist, und zwar selt­ samerweise öffendich. Und Ulrich Schmidel tadelt die unzivili­ sierte Behandlung von Kriegsgefangenen in Südamerika: »... ob weib oder man, wie man in teutschland Schwein mäst, desgleichen mästen sie die Gefangenen.« Zwölf bis vierzehnJahre gönnte das brasilianische Tupi-Volk der Apiaca erbeuteten Feindeskindem, deren Eltern sie sogleich nach der Gefangennahme dem Verzehr zugeführt hatten. Die Kleinen erhielten sogar Pflegeeltem, und diese waren es, die sie dann tot­ schlugen, wenn ihre Stunde geschlagen hatte. Eine Gnadenfrist erhielten auch junge Frauen und Mädchen, die ihren Kerker­ meistern anthropophage »Vorräte« gebären mußten. Wurden sie unfruchtbar, kam auch für sie der verzehrende Tag. In Hans Sta­ dens unerschöpflicher Historia wird von einem Gefangenen be­ richtet, dem die Tupi sogar eine Frau für seine leibbchen Bedürf­ nisse zur Verfügung stellten. »Wenn die schwanger wird, ziehen sie das Kind auf, bis es groß wird; wenn es ihnen in den Sinn kommt, schlagen sie es tot und essen es.« Von den Ureinwohnern Perus weiß der spanisch-peruanische Geschichtsschreiber Garcilaso de la Vega, daß sie in ihrer unmenschhchen Menschenfleischgier ebenfalls die mit gefangenen Frauen gezeugten eigenen Sprößlinge nicht verschonten, denn sie hatten eine makabre Vorbebe für Kinderfleisch. Um das Fleischangebot noch weiter zu erhöhen, mußten männliche Kriegsgefangene mit Frauen des siegreichen Stammes Kinder zeu­ gen, die zu gegebener Zeit, mit zwölf oder dreizehn Jahren, eben­ falls verspeist wurden. Solch überreiche Vorsorge ließ gleichsam von selbst einen Menschenmarkt entstehen. Die peruanischen Kannibalen hatten, so Garcilaso, öffenfliche Fleischbänke, wo man Humanfleisch als »Gehacktes« oder gar als menschüche Wurst in Därmen abgefüllt feilbot. Man mag die Meldung von den peruanischen Fleischbänken für übertrieben halten - vorausgesetzt, man nimmt Garcilasos Infor­ 75

mationen überhaupt ernst aber Ähnliches wird aus zahlreichen Gegenden berichtet. Tatsächlich ist geradezu zu erwarten, daß bei Völkerschaften und in Landen, wo man sich unbefangen dem Menschenessen hingab, in menschlichem Fleisch ein Fleisch unter anderem, nur vielleicht noch schmackhafter, sah, ein reiches An­ gebot zu einer rudimentären Organisation von Kauf und Verkauf führte, zu Märkten primitiver Form also. Menschenfleischverkauf auf solchen Märkten, in »Fleischerläden« oder auf »hölzernen Schrägen« wird aus vielen Epochen, aus zahl­ reichen Himmelsstrichen gemeldet. In Mexiko sollen, schon in voraztekischer Zeit, die Otomi Menschen in Stücken auf offener Straße verkauft haben. Auf San Salvador (zu den Bahamas ge­ hörig) wurde jeder Gefangene, den die Avumbo machten, an­ geblich »pfundweise zum Verkauf ausgeschnitten«. Mehrere Quel­ len berichten nicht nur von öffentlichem Verkauf von Menschen im Kongo, wir erfahren sogar Näheres über Preise. Der deutsche Kongo-Missionar Pater Fräßle erwähnt in seinem sachlichen Re­ port aus dem Anfang des Jahrhunderts regelmäßige Menschen­ fleischlieferungen. (Hauptmann Langford Hinde sprach sogar von »Großhandel«.) Die Opfer wurden mit ausgerenkten Fußgelenken an Pfähle gebunden, bis zum Kopf im Wasser stehend. Nach vier Tagen war ihr Fleisch im gewünschten Grad weich, und man schlachtete sie zum Vermarkten. »Den Hauptlieferanten .... der wöchentlich zweimal einen riesenlangen Einbaum voller Sklaven, Frauen und Gefangenen auf den Markt brachte, haben wir 1906 der Gerechtigkeit überliefert.« Genaueres über die Art der Feilhaltung humaner Fleischwaren wissen wir aus den Landen der Mangbetu. Dort legte man die Ware auf den Märkten sogar unter Beachtung hygienischer Re­ geln, »sauber in frische Blätter verpackt«, wie es in einem Bericht heißt, zum Verkauf aus. Am Niger wurde Menschenfleisch an­ geblich noch 1859 auf öffentlichem Markt ausgestellt, »gerade wie Ochsenfleisch auch«. Indessen, es hat nicht an Stimmen gefehlt, die derartige Erzäh­ lungen, wie du Chaillus entsetzte Meldungen von Fleischerläden bei den Fan, in das Reich böswilliger Fabeln verwiesen. So wird einerseits aus Dahomey berichtet, dort sei früher Menschenfleisch auf Märkten angeboten worden, andere Forscher aber bestreiten rundweg, daß es zu jener Zeit in Dahomey überhaupt noch Kanni­ balismus gegeben habe. Menschenfleischläden fanden sich zwar nur bei den Barbaren, nicht immer aber ohne Zutun von Zivilisierten. Las Casas, der große Verteidiger der Indianer, berichtet von einer der Segnun­ gen der europäischen Kultur, deren die Bewohner der Neuen Welt teilhaftig wurden, dem Konquistador Pedro de Alvaredo. Dieser Kriegsmann pflegte auf seine Feldzüge zur Unterstützung eine Indianertruppe mitzunehmen. Da er sich um ihre Verpfle- •

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gung wenig kümmerte, gestattete er den Indios unbedenklich den Genuß von heidnischem Feindesfleisch. »In seinem Lager hielt er sogar eine öffentliche Schlachtbank, wo Menschenfleisch feil war und wo in seiner Gegenwart kleine Kin­ der geschlachtet und gebraten wurden. Erwachsene Leute wurden oft nur der Hände und Füße wegen, welche für Leckerbissen galten, ermordet. Als die Bewohner andrer Länder von diesem unmenschlichen Verfahren hörten, wußten sie sich vor Furcht und Entsetzen nicht zu bergen.« Der Preis als Gegenwert, der für die Erlangung eines wirtschaft­ lichen Gutes hingegeben werden muß, wirkt als Regulator von Angebot und Nachfrage und beeinflußt damit Produktion und Absatz. Von diesen Funktionen des Preises konnte in kannibali­ schen Primitivwirtschaften im vollen Sinne natürlich nicht die Rede sein. Und beinahe nie wurde der Preis für Menschenfleisch in »Geld« ausgedrückt. Kannibalisches Geld für den Ankauf eines menschlichen Körpers, ganz oder in Teilen, lebend und tot, hatte vielmehr fast immer einen Gebrauchswert an sich. Das »Geld« der Menschenesser und -käufer war beinahe in jedem Fall prak­ tisch verwertbar, ohne daß man es weitertauschen mußte: Fleisch, Holz, Elfenbein. Die Ausnahme bildeten Schmuckgegenstände, deren Funktion sich der der Edelmetalle annäherte, die ja zugleich Geld- und Schmuckcharakter besitzen. In der einfachsten Form des Handels, dem Tausch, war wiederum der Tausch Mensch gegen Mensch das Einfachste und zugleich Nächstliegende. Es handelte sich sozusagen um ein Naturalkredit­ geschäft auf Vertrauensbasis, wenn man sich zum festlichen Mahle ein Nachbarskind ausborgte und später mit einem eigenen Sprößling den Saldo ausglich. Die höheren Formen des Menschen­ fleischhandels begannen mit »nichtmenschlichen« Preisen. Auf Eromanga (Neue Hebriden) zahlte man mit Sandelholz, wobei das genaue Quantum nicht überliefert ist. In Afrika herrschte als Zahlungsmittel weitgehend Elfenbein vor, aus dem man von jeher, und nicht nur in Afrika, Schmuck hergestellt hat. Hauptmann Hinde berichtete, die Kapitäne der Dampfschiffe auf dem M’Zumba-See hätten ihm erzählt, daß häufig Eingeborene an Bord ge­ kommen seien, um Stoßzähne gegen Sklaven einzuhandeln, und auch auf den wohlorganisierten Märkten an den Nebenflüssen des Kongo bezahlte man Menschenfleisch mit Elfenbein. Genauer informiert uns du Chaillu über die Preise bei den Fan: »Ein Leich­ nam wurde mit einem kleinen Stoßzahn bezahlt.« Mit schmückenden oder zur Schmuckherstellung geeigneten Ge­ genständen ließ sich nicht nur in Afrika ein »Mannsbraten« auf dem Markt erstehen. Von der New-Georgia-Gruppe erfahren wir, daß man dort ehedem für eine zum Essen bestimmte Frau exakt drei Armringe auf den Tisch legen mußte. Die Schmuck77

sucht trug in vielen Gegenden nicht wenig dazu bei, daß die Menschenmärkte reichlich beliefert wurden. Im putzwütigen Kongo ließen sich die Verkäufer ihre Ware mit Eisenglöckchen bezahlen. Dort stellte eine Frau den Gegenwert von genau fünf­ zehn aneinandergebundenen Glöckchen dar. Die Entstehung einer »Humanindustrie«, die organisierte Ferti­ gung von Produkten aus menschlichen Rohstoffen, kann gottlob nicht verzeichnet werden. Immerhin, Ansätze gab es. Kapitän Cook berichtet, daß Bewohner der Vancouver-Insel, die zu seinem Schiff hinauspaddelten, ihm gerne Erzeugnisse ihrer speziellen Fremdenverkehrsindustrie verkauft hätten. »Das Absonderlichste von allen Gegenständen, welche sie heranbrachten«, notierte der Weltumsegler betroffen, »um mit uns zu tauschen, waren mensch­ liche Schädel und Hände, die noch nicht ganz vom Fleisch entblößt waren. Die fehlenden Partien hatten sie, wie sie uns zu verstehen gaben, gegessen.« Die Fidschi-Insulaner machten Humanreste nautisch verwertbar; wie erwähnt, stellten sie aus den Knochen Verzehrter Nadeln zum Segelnähcn her. Von den Niam-Niam, diesen berüchtigten Menschenvielfraßen, heißt es, daß sie namentlich das Fett ge­ schätzt hätten. Sie ästimierten es nicht nur als Delikatesse, sondern betrieben seine Gewinnung als - Brennmaterial. Das Fett gegessener Menschen als Brennstoff, solche Verirrung scheint kaum Überboten werden zu können. Doch man sollte nicht vergessen, daß in größerer Nähe vor nicht langer Zeit die Haut ungegessener Menschen zu Lampenschirmen verarbeitet wurde.

13 Das eigene Fleisch und Blut »Es seind zvar andere Barbarische Nationen mehr, die Menschen­ fleisch zu Speise wandten, als in Orientalischen Inseln, Bresilien und anderen Orten, aber dasselbige thun sie an ihren Feinden, an Freunden aber, Verwandten und Lebenleuten ist kein Exempel als bey diesen Anziquem allein.« (Edoardo Lopez, Regnum Congo)

Nicht nur von den Anziquem allein, wie es im Motto zu diesem Kapitel heißt, haben wir inzwischen Exempel, auch von orienta­ lischen Inseln, aus Brasilien und einer Vielzahl von anderen Orten. Und nicht nur Lopez allein war über die Verwandtenverspeisung noch einen Grad mehr empört als über das gewöhnliche Men­ schenessen. Der Verzehr von Feinden, Fremden oder gar Ver­ brechern erweckt nicht ganz die gleiche Betroffenheit; Regungen,

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ja Exzesse von Xenophobie sind auch Kulturgegenden noch nicht fremd, und gerade die zivilisierten Staaten haben ja in der Ab­ strafung von Verbrechern - oder was man jeweils dafür hielt einen ansehnlichen Rigorismus entwickelt (der freilich nicht den Verzehr einschloß). Aber Verwandte essen, das eigene Fleisch und Blut? Kinder, Kranke, Greise, verstorben oder zum Tode befördert? Noch vor Gesunden, Alten und Kranken wendet sich das Mit­ gefühl den Kindern zu. Und von ihnen zuvörderst den aus »Fein­ schmeckerei« verzehrten. Missionare, die auf den Fidschi-Inseln stationiert waren, klagten in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Gier nach Menschenfleisch treibe die verblendeten Insulaner sogar dazu, die eigenen verstorbenen Sprößlinge zu verspeisen. Aus Südaustralien wurde schlichtweg die Ermordung von Kindern durch die Eltern behauptet; Motiv: »Leckerei«. In Neukaledonien soll Nachwuchs, der mißgestaltet zur Welt kam oder überzählig, also unerwünscht war oder infolge einer Krankheit des Vaters nur schwer zu ernähren gewesen wäre, kurzerhand zur Verbesse­ rung des Speisezettels als Nahrung aufgetischt worden sein. In der Not aß der Mensch Kinder, waren sie doch die wehrlosesten Glieder der Gemeinschaft. Bei manchen Australnegerstämmen kam es, so wird berichtet, in Zeiten der Dürre dazu, daß man die Neugeborenen sogleich verspeiste. Derselben Ressourcen be­ diente man sich auf Tautain, wo man auch hin und wieder auf Ehefrauen zurückgriff. Beim australischen Stamm der Wotjobaluk gar diente ein zweitgeborenes Kind als Kraftnahrung für das ältere. Die Eltern (so der haarsträubende und einigermaßen unglaubhafte Bericht) schlugen den Kopf des Säuglings gegen die Schulter des Erstgeborenen, bis er tot war, und futterten darauf mit dem Muskelfleisch den älteren Sohn in der Überzeugung, ihm dadurch die notwendige Lebenskraft zuzuführen. Über Eingeborene in Queensland liest man die immerhin nicht ganz so verallgemei­ nernde Darstellung, nicht selten habe eine Mutter ihr eigenes Kind in dem »dunklen Wahn« verspeist, sie könne so die Kräfte zurück­ gewinnen, welche die Geburt ihr entzogen hatte. Vermutlich waren solche unfaßlichen Greuelberichte, die schon im 18. Jahrhundert nach Europa gelangten, für den großen eng­ lischen Satiriker Jonathan Swift der Anlaß, seinen Bescheidenen Vorschlag, wie Kinder armer Leute in Irland davor bewahrt werden sollen, ihren Eltern oder dem Staate zur Last zu fallen, und wie sie dem Gemeinwesen zum Nutzen gereichen können der Öffentlichkeit zu präsentieren. Swift regte an, die ohnedies am Leben verkürzten Sprößlinge darbender Eltern dem wirtschaftlichen Nutzen des Landes darzubringen. Ein Jahr lang, so ein bescheidener Vor­ schlag, seien die Kleinen zu nähren, im letzten Monat besonders reichlich, um dann dem Markt zugeführt zu werden. »Mir ist von einem sehr kundigen Amerikaner aus meiner Be­ 79

kanntschaft in London versichert worden, daß ein kleines, gesun­ des, wohlgenährtes Kind eine sehr wohlschmeckende, nahrhafte und bekömmliche Speise ist, einerlei, ob man es dämpft, brät, bäckt oder kocht, und ich zweifle nicht, daß es auch in einem Frikassee oder einem Ragout in gleicher Weise seinen Dienst tun wird .. . Ein Kind wird bei einer Freundesgesellschaft zwei Schüsseln ergeben, und wenn die Familie allein speist, so wird das Vorder- oder Hinterviertel ganz ausreichen; mit ein wenig Pfeffer oder Salz gewürzt, wird es gekocht noch am vierten Tage ganz ausgezeichnet schmecken, besonders im Winter.« Swift rechnete seiner Leserschaft vor, daß durch die Einführung dieser neuen Kost dem Königreich (Irland) jährlich 50000 Pfund Einnahmen zusätzlich zufließen würden. »Ich gebe zu«, räumte der Planer mit ätzender Ironie ein, »daß diese Kinder als Nahrungs­ mittel etwas teuer kommen werden, aber eben deshalb werden sie sich sehr für den Großgrundbesitzer eignen; da die Gutsherren bereits die meisten Eltern gefressen haben, so haben sie naheliegen­ derweise auch den ersten Anspruch auf die Kinder.« »Es ist bekannt, daß bei einigen Völkern noch heute ein Brauch befolgt wird, nach welchem die Verwandten ihre Verstorbenen aufessen müssen, so daß den Kranken oft der Vorwurf gemacht wird, daß sie ihr Fleisch entwerten.« Mag sein, Petronius hat in seinem Satyrikon dem Eumolp (siehe Kapitel 2) leicht verändert in den Mund gelegt, was Herodot im dritten Buch seiner Historien über den Brauch der Padaief im fernen Indien, Kranke oder vermeintlich Leidende umzubringen, vermeldet: »Ihre Gebräuche, sagt man, sind folgende: Wer von ihren Mitbürgern krank wird, sei’s Mann oder Weib, da töten immer den Mann die Männer von seiner nächsten Umgebung, mit der Behauptung, die Krankheit zehre ihn ab und verderbe ihnen sein Fleisch; wogegen er leugnet, er sei nicht krank, sie ihn ohne Rücksicht umbringen und verschmausen. Und wenn ein Weib krank wird, machen es die Weiber von ihrer nächsten Um­ gebung ebenso wie die Männer. Es wird nämlich auch wer ins Alter kommt als Opfer von ihnen verschmaust. Aber in diesen Fall kommen ihrer nicht viele, weil sie jeden, der in eine Krank­ heit fällt, vorher töten.« Bis zum Alter brachte man es auch auf Borneo nicht so leicht. Ein englischer Kolonialbeamter in Sarawak, dem Gerüchte von kanni­ balischen Praktiken in seinem Verwaltungsbezirk zu Ohren ge­ kommen waren, ließ zur Klärung dieser Behauptungen drei ein­ heimische Männer, »intelligente Dajak aus dem Landesinnern«, in seine Residenz bringen, die er bei guter Behandlung ausführlich befragte. Einer seiner Gäste, die sich sehr freimütig äußerten, be­ schuldigte den Stamm der Jangkang, er töte seine Kranken, wenn sie vor dem Ableben stünden, und verleibe sich ihr Fleisch ein. 80

Er habe von vertrauenswürdigen Freunden gehört, daß ein Trupp der Jangkang einen der Seinen gefressen habe, nur weil er sich beim Sturz von einem Mangobaum den Arm gebrochen habe. Trotz dieser geringfügigen Blessur schnitten ihm seine Gefährten sogleich die Kehle durch und verspeisten ihn mit Haut und Haar. Marco Polo schrieb bereits im 13. Jahrhundert, daß auch die Be­ wohner des Königreichs Dragojan (Sumatra) Menschen, die sie für lebensunwert hielten, gewaltsam vom Leben zum Tode be­ förderten : »Sie haben folgenden schauderhaften Gebrauch, wenn eines der Glieder der Familie von einer Krankheit befallen ist. Die Ver­ wandten des Kranken schicken zu den Zauberern, von denen sie verlangen, wenn er die Symptome untersucht hat, daß er die Erklärung gebe, ob der Kranke wieder genesen werde. Diese ant­ worten nach der Meinung, die ihnen der böse Geist eingibt, entweder er werde gesund werden oder sterben. Wenn die Ent­ scheidung dahin lautet, daß er nicht wieder gesunden wird, so rufen die Verwandten gewisse Leute, deren Amt es ist ... dem Leidenden den Mund zu verschließen, bis er erstickt ist. Ist dieses geschehen, so schneiden sie den Leichnam in Stücke, richten ihn zum Mahle her, und wenn er so zubereitet ist, versammeln sich die Verwandten und essen ihn in festlichem Zusammensein ganz auf und lassen nicht einmal das Mark der Knochen übrig.«

Mitten aus dem Leben heraus, nicht krank, nicht Kind oder Greis, wurden aus Fleischgier oder Jähzorn in kannibalischer Selbstjustiz Angehörige in der Blüte ihrer Jahre gegessen. Und wie man es von den zumeist patriarchalisch beherrschten Gemeinschaften primitiver Anthropophagen nicht anders erwartet, waren zumeist Frauen die Opfer - namentlich »Ehefrauen«. Der amerikanische Anthropologe A. P. Rice schilderte die verzehrende Gattenliebe, wie manche Fidschi-Herren sie ihren Lebensgefährtinnen bekun­ deten, und stellte sie vor den gesellschaftlichen Hintergrund, der dem Menschenessen auf dem Archipel seine »Normalität« gab. »Auf der Fidschi-Gruppe ist der Kannibalismus eine alteingewur­ zelte Institution; er ist ein Element der Gesellschaftsstruktur und gilt als eine Verfeinerung, die man kultivieren soll, ja muß, um ein >Gentleman< zu werden. Das Essen von Menschenfleisch ge­ hört zwar zur Religion der Fidschi-Insulaner, aber sie haben eine Vorliebe für Menschenfleisch um seiner selbst willen. So wird zum Beispiel von einem Mann berichtet ..., der seine Frau um­ brachte, mit der er glücklich und zufrieden zusammen gelebt hatte. Er gab zu, seine Untat sei auf seine extreme Vorliebe für Menschenfleisch zurückzuführen.« Wenn man auch nicht sagen kann, daß die Männer auf der FidschiGruppe ihre Frauen geradezu als Nahrungsquelle betrachteten, 81

so reagierten manche auf häuslichen Zank offenbar recht extrem. »Wie tapfer mein Sohn war«, klagte ein Fidschi-Häuptling dem verstorbenen Sproß nach, »er tötete seine Weiber, wenn sie ihn erzürnten, und aß sie auf.« Geradezu glimpflich verfuhren im Vergleich dazu in Afrika die Männer des Mtamba-Stammes am Lualaba, von denen Livingstone meldet, daß sie häufig bei ehe­ lichen Zwistigkeiten ihre Frauen erschlugen, dann aber nur das Herz verzehrten. Eine herzlose Frau war ihnen genug, von weite­ rer Leichenschändung sahen sie ab. Dem griechischen Kosmographen Strabo und Herodot, dem großen Historiker, verdanken wir die klassischen Darstellungen der Verwertung unwerten Lebens in Gestalt alter Leute. Herodot schreibt von den Derbikem, einer Völkerschaft, die im heutigen Nordiran beheimatet war, sie hätten die Verspeisungsgrenze der Greise auf siebzig Jahre festgelegt. Alte Frauen jedoch wurden, als des Verzehrs unwürdig, nur aufgehängt und begraben. Be­ graben wurden auch Männer, welche vor Erreichung des Schlacht­ alters starben. Von den Issedonen hingegen weiß Herodot, daß sie ihre Alten eines friedlichen Todes sterben ließen. Zum Leichen­ schmaus wurden die Leichen selbst aufgetragen, vermengt mit dem Fleisch von Schlachtvieh. Der Franziskanermönch Wilhelm von Rubruk, der 1253/54 Auftrag Ludwigs IX. von Frankreich zum mongolischen Groß­ khan reiste, um ihn zu einem Bündnis gegen die Muselmanen zu bewegen, brachte auf der Durchreise in Tibet in Erfahrung, daß dort ebenfalls verstorbene Eltern von ihren Kindern verzehrt würden. Die gleiche Kunde gibt Piano Carpini, der wenige Jahre vorher als päpstlicher Botschafter mit dem gleichen Ziel nach Ostasien entsandt worden war. Piano Carpini notierte entsetzt über die Tibetaner: »Diese Heiden haben eine sehr sonderbare oder vielmehr schreckliche Gewohnheit; wenn in einer Familie der Vater im Begriff ist, den Geist aufzugeben, kommen alle An­ gehörigen zusammen und verzehren den Toten, wie man mir. als Tatsache erzählt hat.« Sebastian Münster nahm in seine 1541 erschienene Weltbeschrei— bung eine ähnliche Schauermeldung über Java auf: »In etlichen Städten dieser Insel frißt man Menschenfleisch, besonders wenn der Mensch alt ist und nicht mehr arbeiten kann.« Die Tötung und anschließende Verspeisung »nutzloser Esser« war Berichten zufolge in zahlreichen Weltgegenden der Brauch, selbst bei Kanni-' balen, die sonst im Fleisch von alten Leuten kein Labsal sahen.' Derart pietätlose Akte haben immer wieder den Abscheu - und die Phantasie - der Gewährsleute in Sachen Kannibalismus erregt. Beschließen wir die Beispiele von Verwandtenverspeisung mit einigen Meldungen (oder Fabeln) aus drei höchst verschiedenen Gegenden.

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1a. P. Rice informiert über Neuguinea:

►Einer der Papua-Stämme übt den Brauch, die Großeltern, wenn sie alt geworden und dem Stamm nicht mehr nütze sind . . . locker an Äste zu binden. Die Bevölkerung bildet sodann einen Kreis um den Baum und beginnt einen komplizierten Tanz, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Reigen um den Maibaum hat. Beim Tanzen rufen sie im Chor den Refrain: >Die Frucht ist reif! Die Frucht ist reif!< Sobald sie diesen Ruf wiederholt haben, gehen sie auf den Baum zu und schütteln die Äste mit aller Kraft, so daß die alten Leute zur Erde stürzen, wo sie von den jüngeren Mit­ gliedern des Stammes ergriffen und verschlungen werden.« Diese Gruselgeschichte verdient nicht nur Empörung, sondern Aufmerksamkeit. Solch menschliches Fallobst fiel auch im mehr als dreitausend Kilometer entfernten Sumatra und gar im fernen Afrika von den Bäumen. Den unseligen Batak wird nachgesagt, sie hätten ebenfalls überständige alte und kranke Angehörige einen Baum erklimmen lassen, von dem man sie herunterschüt­ telte, um sie sich einzuverleiben. Indessen, von eben diesen Batak Jieißt es in einem anderen Tatsachenbericht auch, ihre Alten hätten sich freiwillig an die Bäume gehängt, bis die Kraft ihrer Arme erlahmte und sie gewissermaßen ihren Lieben in den Rachen fielen. Dies geschah zur Zeit der Zitronenemte, und die um den Baum versammelten Angehörigen sangen - wie zu Neuguinea - im Chor das begehrliche Benedictas: »Die Zeit ist gekommen, die Frucht ist reif, sie muß herab!« Horrorgeschichten reisen schnell. Als nutzlose Esserin bestieg im kannibalischen Kongo die Brautmutter einen Baum, von dem sie als Hochzeitsbraten herniederfiel. Zuerst wurde sie auf den höchsten Ast eines Baumes gezogen und zwar, wie die Großeltern bei den Batak, »mit den Zeichen der höchsten Ehrfurcht«, und mußte sich daran festklammern, bis die Leibeskraft sie verließ. Inzwischen begannen die Hochzeitsgäste einen Reigen und stimm­ ten den nun schon allzu bekannten Gesang an: »Halte dich gut, Alte! Halte dich gut! Sobald die Frucht reif ist, fällt sie zur Erde!« Die endlich abgefallene Schwiegermama bildete dann als Fallobst die Hauptmahlzeit des frohen Schmauses. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Die »Zeugen«.

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14 Auf der Suche nach einem Ursprung »Uber den Sinn und die fcntsiehungsgründi1 des Kannibalismus auf Neuseeland liegen wie überall die verschiedensten Meinungen vor.« (E. Volhard)

In den guten alten Zeiten, da das Menschenessen schlicht als Ver-’ brechen galt, das drakonische Ahndung verlangte, schaffte man; mit Zwang Remedur - notfalls Ausrottung des Verbrechens durch Ausrottung der Verbrecher. Die Frage oder gar eine Suche nach der Herkunft des dämonisierten »scheußlichen Lasters« drängte sich nicht auf. Dabei ist sie schon vor 2300 Jahren gestellt und seither von Neu­ gierigen, die sich mit Ahndung allein nicht begnügen wollten, immer wieder gestellt worden. Aristoteles beantwortete sie mit der Erklärung, die Anthropophagie entspringe »tierischer Wild­ heit«, und meinte damit Krankhaftigkeit, »gleich dem Gelüst der Schwangeren nach Kohlen, Erde und dergleichen«. Der Verfasser der Naturgeschichte, Plinius der Ältere, diagnostizierte religiösen »Wahn« als Ursache, und noch heute herrscht weitgehend die' Vermutung, mit dem Menschenverzehr sei ein »kultisches« Be­ dürfnis gestillt worden. Die Frage nach dem letzten Grund für das der Zivilisation so fremde wie befremdende Phänomen der Mitmenschenverspeisung ist dann mit dem Beginn der Welterkundung durch die europäischen Entdecker immer häufiger gestellt und oft genug auch beantwortet worden, meistens jedoch allzu bündig. Einmal war es der Hunger, dann, ohne nähere Präzision, »Aberglaube«; pathologische Zustände sollen Geburtshelfer der Sitte und Un­ sitte gewesen sein, und manche Erklärungsversuche verstiegen sich bis zu der abstrusen Vermutung, es könnte Erblichkeit im, Spiel sein. Wo bei einer bestimmten Kannibalengemeinschaft die einen Nahrungsmangel als eindeutige Ursache diagnostizierten,: widersprachen andere heftig und führten das Menschenessen mit ebensolcher Bestimmtheit auf »Kriegswut« zurück. Man ver­ mengte Ursprung und Sinn, Entstehungsgründe und Motivatio­ nen wurden bunt durcheinandergeworfen, was sie in der Wirk­ lichkeit schon genug waren. Lange hat man, aus der Sicht der »gesunden« Zivilisation, das Menschenessen schlechthin als eine Entwicklungsstörung der Na­ turvölker betrachten wollen, die sich mit ihrer Sittigung von selbst geben werde. Andere sprachen von einer ursprünglichen Anlage des Menschen; wieder andere meinten, das Auftreten des Kannibalismus sei rein umweltbedingt gewesen.

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Die beschwerliche Suche nach dem Ursprung beziehungsweise nach den Ursprüngen des Menschenessens zeigt immerhin das Bestreben, eine Terra incognita nicht nur mit Gewalt zu bessern, sondern zu verstehen, durch Erkundung der Voraussetzungen eine »Barbarei« aus der Welt zu schaffen. Und Anfang dieses Jahrhun­ derts konnte der deutsche Missionar Pater Fräßle, in ganz anderem Ton als eifernde Glaubensboten und selbstgerechte Kolonisatoren früherer Zeiten, über den Kannibalismus schreiben: »Wir haben ihn bekämpft und fast vollständig überwunden durch die christ­ liche Religion und durch Schaffung neuer Nahrungsquellen.« * Von den vermuteten Ursachen des Menschenessens genießt die »Not« - vor allem Hunger mangels vegetabilischer Nahrung allgemein die mildeste Beurteilung. Weniger milde Beurteilung fand Kannibalismus aus Fleischmangel, wenn pflanzliche Nahrung reichlich vorhanden war. P. Bergemann nennt es »eine offene Frage, warum Menschen, denen die Heimat Pflanzennahrung die Fülle bietet und die unter einem tropischen Himmel wohnen, überhaupt zur Tierkost greifen«. Denn das menschliche Gebiß sei »ursprünglich gar nicht für Fleischnahrung eingerichtet«. (Diese Behauptung ist allerdings wiederholt bestritten worden. Manche Anthropologen nennen den Menschen einen Allesesser, vielleicht mit einer schwachen Bevorzugung pflanzlicher Nahrung; andere reihen ihn ungescheut unter die Fleischesser ein.) Für die Verfechter der Not-Theorie spielt naturgemäß die Frage der Umweltbedingungen eine bedeutende Rolle. Nach dieser These liefert die Landesnatur mehr oder weniger »günstige« Vor­ aussetzungen für das Auftreten der Anthropophagie als Sitte; geographische Lage, Klima und Bodenbeschaffenheit beeinflussen das Angebot an vegetabilischer und, mittelbar, animalischer Nah­ rung. In extremen Fällen führte der Mangel an Pflanzennahrung bei gleichzeitig karger Tierkost zum Menschenessen, wie uns etwa Charles Darwin von seinem Aufenthalt bei den notleidenden Feuerländern berichtet. Was Gegenden mit einem ausreichenden Angebot eßbarer Pflanzen (Südsee, Südamerika) betrifft, so wurde das Auftreten der Anthropophagie mit einer drastischen Abnahme jag- und eßbarer Tiere erklärt, was dazu geführt habe, daß man auf das einzige genügend vorhandene »Fleisch« auswich. Diese Erklärung steht natürlich im Widerspruch zu der Theorie von der »Kinderkrankheit«, der zufolge Primitive in einem vorüber­ gehenden Stadium den Menschen eben nur als Fleisch sahen. Die Schwierigkeit, die Genesis des Kannibalismus aus Zuständen der Not zu beweisen, zeigt besonders klar der Fall Neuseeland. Der deutsche Naturforscher Georg Forster, der mit seinem Vater Johann Reinhold 1772-1775 James Cook auf dessen zweiter Welt­ umsegelung begleitete, befand, die Maori litten keineswegs an * Hervorhebungen durch den Verfasser.

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Tierkost Mangel; Vögel und Fische gebe es im Überfluß, und zudem würden Hunde zu'Speisezwecken gezüchtet - keine Recht­ fertigung also, Mitmenschen zu essen. Anderthalb Jahrhunderte später kam der Reisende A. Reischek zu einem entgegengesetzten Befund. Nach Ausrottung der Rie­ senstrauße habe es für die reichliche Fleischnahrung gewohnten Bewohner Neuseelands nur noch kleine Vögel und Ratten zum Verzehren gegeben. Dadurch seien die Maori auf den Gedanken gekommen, erlegte Feinde zu verspeisen, was wiederum die stän­ digen Kriege zur Fleischbeschaffung heraufgeführt habe. Im all­ gemeinen aber herrscht gerade die umgekehrte Ansicht vor: Die Kriegssucht der Maori habe zur Vernachlässigung der Jagd und der Pflanzungen geführt und so die Anthropophagie erzeugt. Aus zunächst vereinzelten Fällen von Kannibalismus sei dann per Ge­ wöhnung eine Sitte entstanden. So viele Stimmen, so viele Meinungen. Ein ähnliches Beispiel für allgemeines Menschenessen, durch Hun­ ger ausgelöst und durch Gewöhnung zeitweise eingebürgert, gibt das Ägypten des beginnenden 13. Jahrhunderts. Ein arabischer Reisender, der Arzt Abd-Allatif aus Bagdad, berichtete über die Folgen einer Hungersnot, die infolge des Ausbleibens der Nil­ überschwemmung eintrat: »Als die Armen Menschenfleisch zu essen begannen, waren Ab­ scheu und Erstaunen darüber so außerordentlich, daß die fürchter­ lichen Berichte nicht aufhörten, das Tagesgespräch zu bilden. Endlich gewöhnte sich aber das Volk daran und erlangte solchen Geschmack an der schrecklichen Nahrung, daß sogar reiche und geachtete Leute sie als gewöhnliche Speise zu sich nahmen - und selbst Vorräte von Menschenfleisch anlegten.« Diese ägyptische Plage verschwand jedoch wieder, ehe sie zur Dauersitte wurde. Hunger als unzweifelhafter Anlaß war denn auch selten, wenn überhaupt als Ursache zu konstatieren und führte meist nur vorübergehend zu Ausbrüchen von Kannibalis­ mus. K. Birket-Smith lernte auf einer Thule-Expedition eine Eskimofrau der Iglulik kennen, die mit ihrer Familie vom Ver­ hungern bedroht gewesen war und sich durch den Verzehr der Leichen ihrer Angehörigen am Leben erhalten hatte. »Solche ver­ einzelten Fälle haben jedoch nie die Menschenfresserei zu einer Sitte gemacht.« Anders als mit dem Hunger schlechthin steht es mit dem Hunger nach Fleisch, wie er auch die Fidschi-Insulaner zur Anthropophagie verleitet haben soll. James Cook war einer der vielen, die ihnen vorwarfen, daß sie nicht als Vegetarier lebten, und fragte: »Da ich gerade wieder darauf geführt bin, von Kannibalen zu spre­ chen, möchte ich diejenigen, die da behaupten, daß Nahrungs­ mangel die Menschen zuerst zur Menschenfresserei verführe, fragen: Was bringt die Fidschi-Insulaner dazu, sie mitten im Übeifluß 86

beizubehalten ?« Aber es hat den fleischliisternen Insulanern nicht völlig an Verteidigern gefehlt. Der amerikanische Anthropologe A. P. Rice nennt ihr kannibalisches Verlangen »einen höchst natür­ lichen Appetit auf frisches rohes Fleisch«. Und er meint, im Ge­ gensatz zu anderen: »Der Naturmensch ist ein Fleischesser. Die Kannibalen, vor denen es uns bei Erzählungen in unserer Jugend so geschaudert hat, hätten uns - jedenfalls in vielen Fällen - besser dargestellt werden sollen als die unglücklichen Bewohner einer unglücklich gelege­ nen und jedenfalls unzureichend versorgten Gegend und nicht nur als Wilde, die willentlich ihr Äußerstes getan hätten, den Ge­ setzen der sogenannten zivilisierten Nationen zuwiderzuhan­ deln.« Sind die Ansichten über Hunger als Ursache der Sitte des Men­ schenessens geteilt, so herrscht über krankhafte Auslösungsfak­ toren eher ein allgemeiner Konsensus, ja man hat die Anthropo­ phagie gelegentlich als die »Masern« der menschlichen Kulturent­ wicklung gedeutet. Psychische Störungen, die zu kannibalischen Akten führten, traten und treten noch heute auch in Gegenden auf, denen allgemeine Anthropophagie seit langem unbekannt ist. Im 18. Jahrhundert wurde im Bayreuthischen ein Kannibale ergriffen und hingerichtet, der in dem Wahn lebte, er werde fliegen können, wenn er die Herzen von neun ungeborenen Kin­ dern verzehre. (Er kam nicht zur Erkenntnis seiner Verblendung; nachdem er acht schwangere Frauen getötet hatte, ereilte ihn der Arm der Gerechtigkeit.)

»Der Spiritus, der aus dem Gehirn eines Menschen gezogen wird, stärkt sehr das Gehirn, öl von Menschenhänden dient wider die Gicht an Händen, öl von den Füßen wider die Gicht an den Füßen.« Nicht der Aberglaube primitiver Menschenesser gab solche Eisenbart-Ratschläge, nein, das deutsche Publikum konnte sie noch im 16. Jahrhundert einem Volksbuch entnehmen. Die Vorstellung, von Teilen des menschlichen Körpers gingen heil­ kräftige Wirkungen aus, findet sich in allen möglichen Himmels­ richtungen, überrascht aber bei gelernten Kannibalen vielleicht weniger. Auf den Marquesas, so heißt es, wurden bei der Er­ krankung eines Priesters Menschen geopfert und verzehrt, weil man annahm, dies befördere die Genesung des Kranken. (Starb er dennoch, brachte man bei seiner Bestattung weitere Opfer dar.) »Humanmedizin« als Mittel gegen Schwächezustände und Krank­ heiten stand nicht nur im fernen Asien, sondern auch in unseren Breiten vorzeiten in hohem Ansehen. Besonders das menschliche Blut, mit dem man schon im alten Ägypten (die Therapie ver­ ordnete Bäder in Blut) den Aussatz oder anderwärts die Epilepsie zu kurieren hoffte, galt als heilkräftig und wundertätig. Bei der 87

öffentlichen Hinrichtung einer Kindsmörderin in Pommern drängte das schaulustige Publikum herbei, um in einem Lappen einen Tropfen Blut der Exekutierten aufzufangen und nach Hause zu tragen. Solche blutgetränkten Lappen wurden dann von Bäkkem in den Brotteig und von Brauern ins Bier getaucht, um ihre Ware der Kundschaft besonders begehrenswert zu machen. Noch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam es in Norddeutschland zu Grabschändungen, veranlaßt von derartigen Vorstellungen; die Täter entnahmen den Leichen Fleischstücke oder Blut, um damit Kranke zu kräftigen. Auch galten die Herzen ungeborener Kinder als probate Mittel gegen Räuber und Diebe und wurden in diesem Glauben sogleich nach dem Abortus roh verzehrt. Über einen ähnlichen Fall, der sich noch 1879 in Berlin zutrug, schrieb R. Andree den entmutigten Satz: »Man sieht also, wie die düsteren Anschauungen, die mit ehemaliger Anthropo­ phagie Zusammenhängen, bis auf unsere Tage in der Hauptstadt des Deutschen Reiches in den niederen Volksschichten fortbe­ stehen .. .« Ein seltenes »Motiv« für Menschenverzehr entdeckte Schweinfurth bei den Niam-Niam in Afrika. Sie erzählten ihm, der Genuß von Menschenfleisch, namentlich aber des Fettes, versetzte sie in einen rauschähnlichen Zustand. Der Gelehrte konnte sogar das Quan­ tum in Erfahrung bringen, das man für einen Rausch brauchte, der einen ganzen Tag vorhielt - etwa anderthalb Quart -, und sah Töpfe, in denen die Fettsüchtigen ihr Stimulans aufbewahrten. Zu den »sekundären« Ursachen des Menschenessens zählte man eine Gruppe einigermaßen seltsamer Anlässe. So wurde allen Ernstes erwogen, das »Laster der Barbaren« sei möglicherweise auf dem Erbwege weitergegeben worden. Ein ungenannter fran­ zösischer Missionar berichtete A. Rice von einem bekehrtenjungen Maori, der ein besonders gewinnendes Wesen besaß und ein musterhafter Christ zu werden versprach. Doch eines Tages be­ gegnete er zufällig einem Mädchen, das seiner Familie davonge­ laufen war, und sein kannibalisches Erbgut brach durch: »Der junge Maori wurde plötzlich von einem ungewohnten Dä­ mon ergriffen ... Er packte das Mädchen, zerrte es in seine Hütte und brachte es kaltblütig um; er zerschnitt die Leiche auf die her­ gebrachte Weise und lud dann seine Freunde ein, sein Mahl mit ihm zu teilen, dessen Haupt- und meistgeschätztes Gericht aus dem jungen Maorimädchen bestand.« Wie der von seinem Eleven enttäuschte Missionar zu der Erkennt­ nis gelangte, die Untat sei erblich bedingt (und obendrein von einem Dämon eingegeben), bleibt sein Geheimnis. Vielleicht gab ihm ein unbewußter Rechtfertigungsversuch seiner gescheiterten Bekehrungskunst eine solche sonderbare Deutung ein. William Mariner verteidigte die Gruppe von Tonganem, die sich in seinem Beisein an Feinden güdich taten, mit der Erklärung, sie

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seien mit dieser Unsitte vom üblen Vorbild der Fidschi-Insulaner »angesteckt« worden. Jedoch, wie schon erwähnt, er beschreibt die hochentwickelte Fleischerkunst, die dabei geübt wurde, und schwächt damit unbewußt sein eigenes Argument. Auch die anthropophagen Gepflogenheiten der weit im Süden Afrikas woh­ nenden Betschuanen hat man mit Ansteckung erklären wollen. Aber da schon die räumliche Distanz vom Wohngebiet der Bet­ schuanen zu dem der nächsten verbürgten Anthropophagen nicht eben gering war, dürfte ihr Kannibalismus mangels Infektions­ quelle doch auf andere Ursachen zurückzufuhren gewesen sein. Stanley, der nicht kleinlich war, wenn es um die Ernennung von Menschenfressern ging, schrieb vom Kongo erstaunt, daß manche Stämme gegen solche Ansteckung gefeit waren: »Hier hatte ich eine günstige Gelegenheit zu bemerken, welch niedere und schwache Schranken die roheste Wildheit von einem liebreichen Betragen trennte. Nur ein paar Stunden stromauf­ wärts wohnten die Kannibalen der Amu-Njam, welche mit den bösesten Absichten gegen uns angerückt waren; aber dicht neben ihnen lebte ein Stamm, welcher die unnatürliche Gewohnheit, Fleisch seiner eigenen Gattung zu essen, verabscheute ...« Als eine Erklärung zwar nicht für das Auftreten, aber doch für den Fortbestand kannibalischer Praktiken wurde wiederholt »Ge­ wöhnung« entdeckt. So wie die Ägypter im 13. Jahrhundert nach dem arabischen Bericht eine Zeitlang aus der Not eine Gewohn­ heit machten, so ging, wie man festgestellt haben will, bei ver­ schiedenen anderen Menschenessem der kulinarische Kannibalis­ mus ursprünglich aus einem anderen Anlaß hervor, wurde zuerst mit Widerwillen und nur zögernd geübt, bis sich schließlich Ge­ schmack am Menschenfleisch einstellte. Die Batak auf Sumatra etwa sollen auf dem Umweg über die juridische Anthropophagie zu passionierten Konsumenten von Humankost geworden sein. Um Gewöhnung im weiteren Sinn handelt es sich bei der Er­ ziehung zum Menschenessen in Gemeinschaften, die ihm insge­ samt oder mehrheitlich ergeben waren und deren Nachwuchs Menschenfleisch sozusagen mit der Muttermilch als »normale« von der Gemeinschaft akzeptierte und geschätzte - Kost zu sich nahm. Diesen sozialbedingten Kannibalismus ererbte in menschen­ essenden Gesellschaften jedes Kind von seinen Vätern. Und viel­ leicht noch härter war der soziale Zwang auf der Fidschi-Gruppe, wo die Anthropophagie zudem in das religiöse System integriert war. Ein gewisser moralischer Universalismus, der seit dem Beginn der Entdeckungsgeschichte sittliche Maßstäbe aus Europa expor­ tierte, hinging und alle Völker lehrte, hat die »Zwänge«, mit dem anthropophage Kollektive die Menscheneßsitte aufrechterhielten, weitgehend übersehen. An einem wohlbekannten Beispiel läßt sich leicht darlegen, wie zähe sich die ärgsten Greuel halten, wenn 89

sie vom Kollektiv praktiziert oder auch nur hingenommen wer­ den, zumal bei Beteiligung »religiöser« Vorstellungen. Der gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Europa um sich greifende Hexen­ wahn - der Bestialitäten mit sich brachte, die es mit Exzessen der »Wilden« mühelos aufnehmen - behauptete sich jahrhundertelang. Die ersten Berichte von den anthropophagen Schändlichkeiten auf Fidschi und Neuseeland gelangten in ein Europa, wo noch immer Hexenprozesse geführt wurden. (Die letzte Hexenver­ brennung im deutschen Sprachraum fand 1782 im schweizeri­ schen Glarus statt!) Wie in allen Kollektiven war die Moral auch in kannibalischen ein eminent gesellschaftliches Produkt und stand, solange sie un­ angefochten war, auf Seiten der ehrwürdigen, weit von der Mehr­ heit geübten Sitte (oder Unsitte). In Kannibalenlanden war das Menschenessen »moralisch«. Eine Abkehr von diesem Brauch mußte die Individuen, die ihr Gewissen, spontan oder von außen angeregt, von der allgemeinen, normalen Moral absetzte, gegen die Gemeinschaft stellen, als sozialfeindliche outcasts - und solche Individuen waren in »wilden« Ländern so rar, wie sie es in zivili­ sierten sind. Es verwundert einigermaßen, wenn der erwähnte Missionar auf Neuseeland, die Abschaffung eines althergebrachten Un-Brauchs von heute auf morgen erwartend, mit Enttäuschung den Rückfall seines Zöglings registrierte. Über die Raubzüge der kannibalischen Matabele in Ostafrika schrieb nüchterner der deutsche Ethnologe Ratzel: »... was kann man anderes erwarten von einem Volke, welches von Jugend an zu den rücksichtslosesten und leichtsinnigsten Schlächtereien erzogen wird?« Hundert Jahre früher als Ratzel hatte Johann Reinhold Forster die Anthropophagie von Südsee-Insulanem ebenfalls mit Gewöh­ nung und (schlechter) Erziehung erklärt. Forsters Deutung der Entstehungsursache mutet unerwartet zeitgemäß an, denn er führt uns (nach »einem Blick«, wie er schreibt) vor Augen, wohin es mit einer Jugend kommen mußte, die der falschverstandene Liberalis­ mus einer »permissive society« quasi zwangsläufig zu Ungeheuern heranwachsen Heß: »Ein BHck auf die ganze Verfassung ihres gemeinen Wesens zeigt, daß der Grund dieser und anderer Abscheulichkeiten, denen sie sich überlassen, in ihrer frühesten Erziehung liege. Die Freiheit, worin die Knaben heranwachsen, wird zuletzt zu einer unbändi­ gen Ausgelassenheit, der unabhängige Geist, der in diesen Jungen herrscht, muß ihrem Bedünken nach auf keinerlei Weise ge­ dämpft werden; er ist die Seele ihrer Gesellschaft. Daher darf die Mutter ihr Kind nicht schlagen, so boshaft und unlenksam es immer sein mag. Bald erwächst aus dieser Zügellosigkeit ein zorniges Gemüt, das keinen Widerspruch erduldet und kein Wort anhören will, sobald es, nach ihrer Art zu denken, übel ausgelegt werden kann. Die Leidenschaft erhitzt sich dergestalt, daß sie 90

ungeduldig sind, bis sie Rache üben können, und die Einbildungs­ kraft, die sowenig als ihre übrigen Kräfte Ziel und Maß leidet, macht aus jeder Beleidigung ein Hauptverbrechen, das nur mit dem Blut des Täters wiedergutgemacht werden kann. Jetzt wissen sie sich selbst keine Schranken mehr zu setzen; sie ziehen zur Schlacht mit lautem, wildem Feldgeschrei; alle Gesichtszüge, alle Glieder am Leibe werden nach dem Takte verzückt. Sie schwen­ ken ihre Waffen, stampfen mit dem Fuß auf die Erde und stöhnen fürchterlich alle zusammen. Hierauf geht das Kriegslied wieder an; der ganze Trupp ist voll Wut und Raserei und stürzt, wie von Furien angefeuert, ins Handgemenge. Die siegende Partei macht alles ohne Gnade nieder, und ...« Der furchtbare Augenblick der Geburt des Menschenessens ist gekommen: »... und in der Wut verschlingt sie nun die Leichname der Er­ schlagenen. Es ist schwer, den Rückzug zu finden, wenn man ein­ mal über die Schranken der Menschlichkeit hinausgeht. Endlich wird diese übereilte Tat zur Gewohnheit, und bald darauf gehört es zu der Siegesfeier des Überwinders, daß er von dem Über­ bleibsel seiner Feinde Schmaus halte.« Forsters schneidige Philippika gegen die antiautoritäre Erziehung in der Südsee steht in einem nur als kraß zu bezeichnenden Ge­ gensatz zu den Beobachtungen seines liberalen Kapitäns Cook, der es nie bei »einem Blick« bewenden ließ und eine nicht so leicht zu befriedigende Neugier nach den Motiven der Anthro­ pophagie zeigte. Mit seinem aufgebrachten Erklärungsversuch steht der Naturforscher freilich, trotz Cook und der ansehn­ lichen Schar geistesverwandter, aufgeschlossener Beobachter, kei­ neswegs allein; ja, bündige Urteile dieser Art haben vorwiegend das Image der Menschenesser in nicht-kannibalischen Gegenden geprägt.

»Überall, wo der Kannibalismus auftritt, ist das Motiv in der Rachgier oder in religiösen Verirrungen, teilweise auch in beiden Ursachen, zu suchen«, so klärte vor einem Jahrhundert eine RealEnzyklopädie ihre Leserschaft auf. »Religiöse Verirrungen« im Zu­ sammenhang mit Menschenverzehr, auch kultische Anthropo­ phagie genannt oder zur rituellen Spielart gerechnet, trieben die Azteken, die doch allgemein zum Kreis der Kulturvölker gerech­ net werden, zu ihren Massenopfem, für deren Beschaffung sie fast ständig Krieg führten und in deren Gefolge auch kanniba­ lische Akte begangen wurden. Nach der Opferung warfen die Priester die ihres Herzens beraubte Leiche die Stufen des Tempels hinab, und die Krieger, die den Getöteten gefangen hatten, und deren engste Gefährten zerstückelten den herzlosen Rumpf und verzehrten ihn - »aber das Festmahl, bei dem die Leiche verschlun­ gen wurde, war ein feierlicher Akt, eine zeremonielle Handlung,

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ganz anders als die kannibalischen Orgien der weniger zivilisier­ tem Fidschi-Insulaner ...« (G. Hogg).

Wie erwähnt, huldigten auch die Anthropophagen des geschmäh­ ten Archipels einem »religiösen« Kannibalismus insofern, als sie den zum Verzehr bestimmten Leichnam zuerst ihren Göttern darbrachten, aber dieser Akt war im Vergleich zum erhabenen Ritus der Azteken nicht viel mehr als eine beiläufige Geste, nicht mehr ernst gemeint, entleert. Und doch ist beiden Arten der Menschenverspeisung gemeinsam, daß die religiöse Komponente nicht die allein bestimmende war. Bei den Azteken waren auch »magische« Vorstellungen im Spiel, und das Verhalten der FidschiKannibalen läßt es als fraglich erscheinen, ob das halbherzige An­ erbieten an die Gottheiten jemals mehr war als, wie in zahlreichen anderen Fällen, eine rituell-religiöse Verbrämung. Ähnlich unklar liegt der Fall Osterinsel. Anthropophage Knochenreste, die man in der Nähe der berühmten Bildwerke fand, wurden als Reste von Gottheiten geweihten Menschenmahlzeiten gedeutet, aber ebensogut wäre es denkbar, daß rein »emährungsmäßige Ge­ sichtspunkte«, Knappheit und Einförmigkeit der den Insulanern zur Verfügung stehenden Nahrung, Ursache des Menschenessens auf dem Eiland waren. (»Bevölkerungspolitische Haushaltsgedan­ ken«, nennt A. Schoch diesen denkbaren Fall von Kannibalismus als Instrument einer barbarischen Bevölkerungskontrolle.) Vermutungen über Herkunft oder Motive des Menschenessens werden nicht nur durch zahlreiche Altemativmöglichkeiten, son­ dern noch mehr durch das gleichzeitige Auftreten mehrerer denk­ barer Entstehungs- und Beweggründe erschwert. Angst mischte sich mit extremer Rachsucht, kulinarische Gründe traten zu ab­ sonderlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, Religion einte sich mit Magie. Wurden die Maori zuerst infolge Nahrungsmangels oder aus Rachedurst/Kriegswut zu Kannibalen, war die Verzehijustiz der Batak von Sumatra nicht in Wahrheit getarnte Menschen­ fleischgier? Wollten sie vielleicht durch Einverleibung des feind­ lichen Fleisches die eigenen Kräfte stärken oder sahen sie darin, von Angst verfolgt, die sichernde Vertilgung? All diese und ähn­ liche Fragen sind, wie wir gesehen haben, oft mit Entschiedenheit, aber so gut wie niemals schlüssig beantwortet worden. Und ebenso steht es mit jener anderen Grundfrage, ob das Men­ schenessen eine ursprüngliche Anlage, eine Mit-Gift, sei, deren die Menschheit sich durch Kulturentwicklung entledigt habe, oder aber eine Kinderkrankheit der Primitiven, eine pathologische Phase, wie Bergemann meint, endend mit Selbst- oder Zwangs­ heilung. »Vielmehr ist der Kannibalismus eine Entartung, eine Verwilderung, eben als das Symptom einer Krankheit anzusehen, welche das Menschengeschlecht befällt, solange es noch im Stadium der Kindheit sich befindet.« Nach dieser Deutung hätte sich das 92

hochstehende Kulturvolk der Azteken, hätten sich die Batak, Er­ finder einer eigenen Schrift, und sämtliche Kannibalen-Gemeinschaften, die ihre Nachbarn an Kultur überragten, in einer infan­ tilen Phase befunden. Die Azteken als kindliche, kranke Kanni­ balen ? Die Entstehung des Kannibalismus liegt im dunkeln. Der Mensch begann den Menschen zu essen, als er entdeckte, daß der Mensch eßbar ist. Der Mensch aß den Menschen, als er ihn noch jur ein Tier hielt, bevor der Begriff »Mensch« entstand. Welche Ursachen und Beweggründe ihn daneben noch antrieben, läßt sich - abgesehen von pathologischen Ursachen - mit Bestimmtheit nicht feststel­ len. Wir wissen nur, daß es eine der Aufgaben und Leistungen der Kultur war, den Menschen dem Menschen ungenießbar zu machen. Anthropologisch gesehen ist überdies eine andere Frage viel inter­ essanter: Wie kam der Mensch darauf, seinesgleichen nicht zu essen?

15 Eingefleischt »Daß icb's aus deinen Adern trinken könnt' wie Vein, Vie Honigseim die Brüste essen dein ! Daß ich den Leib dir ganz vertilgte und genösse, Mein Fleisch das deine wie das Grab umschlösse!« (A. Ch. Swinburne, Anactoria)

Das so »natürliche« Gefühl, daß der Mensch mehr ist als Fleisch, war auch vielen Menschenessem nicht fremd. Ebensowenig waren sie von einem Bedürfnis nach dem Irrationalen frei, von Glauben und »Aberglauben«; sie übten die Anthropophagie als Götterdienst so gut wie in der Gewißheit, sich begehrte Kräfte und Eigen­ schaften einverleiben oder in den Besitz übernatürlicher Gaben gelangen zu können - Schutz- und Schadenszauber. Diese Gruppe kannibalischer Motive, »magischer Kannibalismus« genannt, »ist zugleich dem europäischen Denken am leichtesten verständlich, da sie den Kannibalen ein zweckmäßiges und zielgerichtetes Ver­ halten zuerkennt . ..« (E. Volhard). Der Gedanke der partiellen oder totalen Einverleibung - der auch die Patrophagie und die kannibalischen Kommunionswünsche bestimmt - ist hier frei von der Vorstellung einer Identifikation. Die Absicht war, ganz selbstsüchtig, allein auf die Aneignung geistiger oder körperlicher Kräfte eines andern gerichtet: Persön-

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lichkeitsbereicherung durch die Einnahme von Menschenfleisch. Wenn der alte deutsche Volksaberglaube meinte, das Blut eines Hingerichteten vermöge Krankheiten zu heilen oder sein Fett bringe Glück, so lebten darin magisch-kannibalische Vorstellun­ gen aus längst vergangenen Zeiten fort, die keine Kulturentwick­ lung hatte völlig beseitigen können. Umgekehrt war in früheren Jahrhunderten der Genuß bestimmter Tiere deswegen untersagt, weil man fürchtete, durch den Verzehr würde die Mahlzeit ihre Eigenschaften dem Essenden mitteilen, könnte dieser »vertie­ ren«. Der »magische« Kannibalismus sah Kräfte und Fertigkeiten eines Menschen an bestimmte Körperteile gebunden. Das Herz barg den Mut, das Gehirn die Verstandesschärfe, in den Füßen war die Schnelligkeit beheimatet. Solch animistisch bestimmte Vorstel­ lungen brachten manche Kopfjäger-Gemeinschaften dazu, sich das Gehirn des erbeuteten Gegners einzuverleiben. Allerdings waren keineswegs alle Kopfjäger ipso facto Kannibalen. Diese Verbindung stellt ein 1971 erschienenes Buch (»Der An­ fang war das Ende«) her und ernennt obendrein unsere - damals noch nicht menschlichen - Vorfahren sämtlich zu Kannibalen. Dem Artverzehr allein habe der Vormensch seinen Aufstieg zum intelligenteren Homo sapiens verdankt. Diese schlicht animi­ stische These geht zudem von der nicht weniger einfachen Vor­ stellung aus, die Stärkung der eigenen Gehimsubstanz sei auf rein materiellen, Wege, eben durch Verzehr von Gehirnen anderer Artgenossen, möglich. Auf diese Weise also seien unsere Altvor­ deren zu »veri homines« geworden (mit der Erbsünde des Kanni­ balismus, die sich entsprechend an uns Kindern rächt). Nur stellt sich dieser unterhaltsamen Theorie die geringfügige Inkonsequenz in den Weg, daß sie ausdrücklich auf die geringere Gehimsub­ stanz von »Wilden« außerhalb der europäischen oder asiatischen Kulturen verweist. Leider waren gerade diese Gehirnärmeren er­ wiesenermaßen viel länger Kannibalen als wir Zivilisierten. Über derlei »magische« Ideen schrieb schon vor sechzig Jahren der An­ thropologe W. Wundt dürr: »Die primitivsten Vorstellungen sind zugleich die beharrlichsten.« Die Bindung erstrebenswerter Eigenschaften an bestimmte Teile der menschlichen Physis war freilich nicht immer so direkt konzi­ piert. Der Sitz des Mutes, der Beherztheit, mußte nicht durchweg das Herz sein. Einem Reisebericht aus China kann man entneh­ men: »Es ist nicht ungewöhnlich, daß der Henker berüchtigten Räubern die Gallenblase herausschneidet und sie verkauft, denn ihr Verzehr soll den Mut stärken.« Die Zuordnung bestimmter geistiger oder körperlicher Vorzüge - der Mut kommt aus dem Herzen, die Klugheit aus dem Gehirn -, mit der viele europäische Beobachter rasch bei der Hand waren, mußte notwendig zu Un­ klarheiten und Widersprüchen führen, da man ohne viel Feder94

lesens voraussetzte, die Vorstellungen der Kannibalen seien in diesem Betracht die gleichen. So überrascht es nicht, daß sich in Ober-Sarawak (Borneo) Ange­ hörige von Dajak- und Milano-Stämmen mehr Beherztheit er­ warteten, wenn sie das Herz eines tapferen feindlichen Kriegers roh verzehrten. In manchen Gegenden Australiens, so heißt es, aß man zur Stärkung des eigenen Mutes auch noch das Nierenfett der Gefallenen, das überhaupt vielen Ureinwohnern Australiens als das Zentrum übernatürlicher Kräfte galt. Die Bevorzugung bestimmter Körperteile - oder auch des Blutes - hat viele Kannibalen in den Ruch gebracht, sie kaprizierten sich aus Feinschmeckerei auf diese Partien. Aber wenn etwa die In­ dianer im Orinoko-Gebiet die Herzen ihrer Feinde rösteten, so geschah dies nicht, weil sie Gourmets gewesen wären; sie mengten die zu Pulver zerstampften Röstherzen unter ihren Trunk, um so für den nächsten Kampf die eigene Tapferkeit durch die Ein­ verleibung der gegnerischen zu mehren. Die gleiche Absicht be­ wegte in Afrika die Brafo und Dunfo, wenn sie Feindesherzen dörrten und pulverisierten. Sie verwendeten diese Substanz als Arznei, um Angst oder Schwäche zu kurieren. Ein Herz faßten sich die Italones auf den Philippinen, wenn sie von getöteten Feinden Teile der Eingeweide verzehrten oder von ihrem Blut tranken. Bei den Meer-Dajak auf Bomeo suchte man den Sitz der Tapferkeit an höherer Stelle. Sie räucherten die er­ beuteten Köpfe und rissen, wenn sie das Verlangen nach mehr Mannhaftigkeit bewegte, von Kinn oder Wange ein Stück Haut ab, das sie mit dem daran hängenden Fleisch zu diesem Zweck verzehrten. Die gleiche Kraft wurde in Nordaustralien dem Wan­ genfleisch zugeschrieben, und um die Wirkung zu verstärken, verleibte man sich auch die Augen ein. E. O. James berichtet über australische Ureinwohner: »Unter den Eingeborenenstämmen Australiens werden die Lei­ chen von Gefallenen, angesehene Häuptlinge und neugeborene Kinder häufig verzehrt, um sich ihre Eigenschaften anzueignen, genauso wie man auf den Torres-Inseln Zunge und Schweiß eines erschlagenen Feindes zu sich nimmt, um seiner Tapferkeit teil­ haftig zu werden.« Kraft und Mut glaubten die Kukukuku auf Neuguinea ihren Knaben auf kannibalische Weise zufuhren zu können. War ihnen die Leiche eines jungen, starken Kriegers in die Hand gefallen, so blieben die Muskelpartien der Jugend der Gemeinschaft Vor­ behalten. Klugheit, Wissen und Verstandesschärfe waren auch Menschen­ essern erstrebenswerte geistige Eigenschaften. In Polynesien ver­ mutete man den Sitz dieser Gaben ganz präzise im Unken Auge. VerständUcher wiU europäischen Vorstellungen scheinen, daß die Australneger am Liverpool River den Sitz von Wissen und In95

telligenz im Gehirn suchten. Auf Sumatra hingegen aß man alle Körperteile, von denen man sich einen Zuwachs an Kräften er­ wartete, nicht aber das Gehirn; da man ihm Zauberwirkungen zuschrieb, nahm man es vom Verzehr aus und bewahrte es als Talisman in einem ausgehöhlten Kürbis auf. Zauberkräfte durch Menschenfleischgenuß zu erlangen versprach man sich vor allem durch den Verzehr von Herz und Leber. Wenn bei Grönland-Eskimos Mordtaten in Erfüllung der Blut­ rache vorkamen, verleibte sich der Täter gelegentlich ein Stück von diesen Organen des Opfers ein. Auf diese Weise glaubte man die Herzen der Anverwandten des Ermordeten krank ma­ chen zu können. Am Lake Alexandra in Australien schnitt man das als zauberkräftig geltende Nierenfett sogar Lebenden heraus und nahm es als probates Mittel gegen böse Geister zu sich.

Der Glaube, man könne bestimmte Eigenschaften eines anderen Menschen auf sich übertragen, führte nicht nur zur Verspeisung bestimmter Körperpartien. Manche Kannibalen sahen erwünschte Vorzüge nicht an einzelne Regionen des menschlichen Leibes ge­ bunden; Menschenfleisch schlechthin gab Kraft in allen mög­ lichen Dingen, es stärkte den Mut, brachte Glück und vieles an­ dere mehr. Wenn die Tariana- und Tucano-Indianer die Leichen ihrer Toten ausgruben und zu einer verkohlten Masse rösteten, die sie ihrem Trunk beimengten, so glaubten sie ganz allgemein, damit die Tugenden der Abgeschiedenen dingfest machen und sich zufuh­ ren zu können. Frobenius berichtet von den afrikanischen Ife ein ähnlich kompliziertes Verfahren. Sie kochten geröstetes Men­ schenfleisch mit Antilope zusammen und nahmen dieses Ragout als kraft- und mutstärkende Medizin zu sich. Die Sura, gleichfalls in Afrika beheimatet, ließen ihre Frauen solches Beutefleisch nicht einmal sehen, zwangen aber Knaben und junge Männer, die sich davor ekelten, mit Gewalt zum Verzehr, um sie auf diese Weise kampflustig und mutvoller zu machen. A. Battell meldet schon im 17. Jahrhundert, diejagga, »jenseits von Angola«, verspeisten Menschenfleisch, »weil nur dieses den größten Mut und die größte Stärke gebe«. Weltweit war der Glaube an diese herzstärkende Nahrung; die Aete auf den Philippinen verzehrten ebenfalls aus diesem Grund ihre Feinde, wenn sie tapfer gewesen waren. Und der Missionar G. Basden berichtete im letzten Jahrhundert aus Nigeria, ein Ibo, der seinen kleinen Jungen der Mission anver­ traute, habe den weißen Lehrern ans Herz gelegt, dem Kleinen auch hin und wieder menschliches Fleisch zukommen zu lassen, damit ein richtiger Mann aus ihm werde. In Australien erhoffte man sich Jagdglück vom Genuß mensch­ lichen Fleisches schlechthin. Einerlei, welchen Teil eines Getöte96

ten man verspeiste, man erlegte mehr Känguruhs, unfehlbar ent­ deckte man wilden Honig und eßbare Wurzeln. Geschlechtliche Kraft suchten die alten Häuptlinge auf den Salo­ monen, wenn sie sich Fleisch von »jungen Weibern« zu Gemüte führten, während anderes Menschenfleisch, so ihr Glaube, allge­ mein Körperkraft und Intelligenz mehrte. Wenn die Priester der Azteken ein Opfer getötet hatten, legte der Anführer der Gruppe, die den Geopferten gefangen hatte, dessen sorgsam abgezogene Haut an, indes seine Männer das Fleisch vertilgten. Nicht mehr die Verspeisung des Toten, schon das bloße Anlegen seiner Haut sollte dem Träger seelische Substanz und Fruchtbarkeit des Ent­ häuteten zubringen. So hatte der »religiöse« Kannibalismus im aztekischen Mexiko auch eine Wurzel in der Überzeugung, der Essende könne sich die Tugenden des Gegessenen einverleiben, aber, so meint G. C. Vaillant, »dieser Brauch kann nicht als Laster angesehen werden«. Noch viel weniger wird man als Laster empfinden, was Pater Fräßle über den verzweifelten Abwehrkampf der kongolesischen Mobango gegen die vordringenden Weißen berichtet. Die Män­ ner der Mobango hatten, ihr Heimatrecht verteidigend, keine Zeit mehr, auf die Jagd zu gehen. Sie mußten ihr Leben mit Menschenfleisch fristen, das in ihren eigenen Reihen reichlich an­ fiel, da die Mittel der Zauberer gegen die Kugeln der Weißen wenig fruchteten. Doch nicht nur Kampf und Hunger trieben die Mobango zur Anthropophagie. Mit großer Ein- und Nach­ sicht bemerkt der Jesuiten-Missionar: »Während dieses Krieges wurden die Toten nicht begraben, sondern verzehrt, damit die Tapferkeit und Vaterlandsliebe der Gefallenen auf die Brüder übergehe und in ihnen weiterlebe.« Dieses eher rührende Motiv zum Kannibalismus verband den Einverleibungsglauben »magischer« Anthropophagie mit dem Identifikationsverlangen, wie es uns etwa im Verwandtenessen begegnet. Die primitive Vorstellung, man könne sich begehrte Eigenschaften eines anderen durch dessen Verzehr einverleiben, inkamieren, war in ihren höchstentwickelten Formen mit dem Wunsch nach dem Einswerden verbunden, wie er zu Kommunio­ nen aus Liebe zu Toten und Lebenden führte. Und zuletzt zu dem Gedanken einer »unio mystica« zwischen Mensch und Gott­ heit, wenn ein Mensch sich zum Gott emporaß.

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16 Um Gottes willen A

» Tantum religio potuii suadere malorum.« (Lukrez)

Ist das Menschenessen aus dem Menschenopfer hervorgegangen ? Oder ist der Opferglaube Erbe, Nachklang des Kannibalismus? Die Sitte, Menschen zu opfern, faktisch oder sublimiert, ist ein gemeinsames Erbe der Menschheit - von Nordamerika bis zur fernsten Südsee, aus frühen Ackerbaukulturen wie hochentwickel­ ten Zivilisationen, im primitiven Fetischglauben nicht anders als in ihrer erhabensten, spirituellsten Form, der christlichen Religion. »Solche Beispiele von Menschenopferungen«, schreibt G. C. Vaillant, »kehren in den Religionssystemen der Welt immer wieder, und wir bewahren in unserer eigenen Kultur den Gedanken des Opfertodes, freiwillig oder unfreiwillig erlitten, als einen Akt der Hochherzigkeit. Ja, das erhabene Beispiel des Erlösers versetzt diesen Gedanken von der Aufopferung zum Wohle der Mensch­ heit auf die höchste geistige Ebene.« Bei zahlreichen Menschenopferungen war die Annahme beteiligt, die Gottheiten verzehrten wenigstens zum Teil die Dargebrach­ ten. Die Priester der Azteken offerierten das herausgerissene Men­ schenherz ihrem Gott. Das Kostbarste war Götterspeise, im Ver­ zehr des Minderen einte sich das Volk in einer bescheidenen Kom­ munion den Himmlischen. Götter aßen Menschen. Götter bekamen Menschen zu essen, um an Kraft zu gewinnen durch die beste Nahrung, die der Mensch zu geben hatte: seines­ gleichen. Durch die Hinopferung menschlichen Lebens, den para­ doxen Akt, darzubringen, was die Gottheiten mit ihrem Segen bedenken, erhalten sollen - das menschliche Leben -, ist das Men­ schenopfer mit dem Menschenessen verbunden. Durch Tötung Leben zu erhalten, dieses Motiv lag auch vielen Formen des Heben­ den Verwandten Verzehrs zugrunde. Anders aber als die Patrophagie, der allgemeiner Abscheu gilt, trug die Vorstellung, der Mensch müsse und könne die Götter durch seinesgleichen kräftigen, mit dazu bei, trotz aller Greuel dem reUgiösen System der Azteken und damit ihrer Kultur Re­ spekt zu erringen. Sie behaupten sich unangefochten im Kreis der Hochkulturvölker. C. K. Meek berichtet von Stämmen in Nordnigeria, die aus dem gleichen Motiv Menschenopfer dar­ brachten, und stellt sie deshalb ausdrücklich auf eine höhere Zivilisationsstufe als andere nigerianische Kannibalen, denen solche Rechtfertigung fehlte. Menschenfleisch bot man Gottheiten auch dar, um sie den Opfern­ den gnädig zu stimmen, damit sie ihnen den Verzehr von ihres­ gleichen nicht verargten. Eine Ahnung von Unrecht, ein Ton

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von Furcht klingt in dem beiläufigen Angebot getöteter und zum Verzehr bestimmter Feinde an, welche man auf der FidschiGruppe zuerst in die Kultstätten brachte. Alfred St. Johnston schreibt: »Nach einem Kampf pflegten die Sieger viele der Erschlagenen sofort zu kochen und zu essen, im allgemeinen aber wurden die Leichen in das Heimatdorf der Sieger geschafft, wo man sie an einem Strick um den Hals über den freien Platz zum Tempel schleifte. Dort wurden sie den Göttern dargebracht, um anschlie­ ßend zubereitet und unter die Männer verteilt zu werden, wobei für die Priester immer ein großer Anteil abfiel ... « Und ähnlich war es, wenn die Maori nach der Schlacht die ge­ fallenen Feinde zusammentrugen und das Beutefleisch in zwei Reihen von Erdöfen dünsteten, wovon die eine streng tabu und nur für den göttlichen Menschenfleischgenuß bestimmt war. So verband sich der Akt der Darbringung des Opfers, Tier oder Mensch, mit der Teilhabe des Opfernden am Menschenmahl der Himmlischen; die Götter wurden zu Tischgenossen und Kom­ plicen der Kannibalen. »Von hier aus«, bemerkt K. Birket-Smith, »wird dann zugleich die große Verbreitung verständlich, die ge­ rade in den ursprünglichen Tabugebieten, in Polynesien und Me­ lanesien, die Anthropophagie gewonnen hatte.«

Sollte der Brauch der Menschenopferung aus der Anthropophagie hervorgegangen, »fortgeschritten« sein - wofür nur Vermutungen sprechen -, so gab es doch immer verstockte Moralisten, denen solcher humaner Fortschritt nicht einleuchten wollte. Voltaire über die Opfergreuel: »Es gibt kein Volk, das Gott nicht Men­ schen zum Opfer dargebracht hätte, kein Volk, das sich nicht durch das entsetzliche Blendwerk der Magie [sprich: Religion] verführen ließ.« James Cook, der große Weltumsegler, zeigte sich über den Kannibalismus der Maori, dessen Zeuge er wurde, ebenso bestürzt wie über Menschenopferungen ohne Anthropophagie. Er hatte während seiner dritten Reise auf Tahiti Gelegenheit, einer Opferzeremonie beizuwohnen, mit der man göttlichen Beistand für einen geplanten Kriegszug erlangen wollte. Dennoch ließ sich der stets genau beobachtende Seemann dadurch nicht - wie manche anderen - zu dem Schluß inspirieren, die Tahitianer seien ipso facto Menschenesser. Cook beschränkte sich auf das, »was wir ohne jeden Zweifel beweisen können«. Daß die Sitte der Menschenopferung aus primitiverer Anthropo­ phagie hervorgegangen sei, läßt sich in der Tat nicht »ohne jeden Zweifel«, nämlich gar nicht beweisen. Einiges aber spricht dafür, daß in manchen Fällen das Vorbild - oder die Konstruktion menschenverschlingender Gottheiten eine vermeintliche Recht­ fertigung für Kannibalen abgab und sich häufig dazu anbot, eine nur noch profane, kulinarische Anthropophagie zu bemänteln. 99

»Betrachten wir die Verbreitung menschenfressender Götter, so finden wir uns vor allem auf fortgeschrittenere, ja Hochkulturen verwiesen, in denen der Kannibalismus ein traditionell bewahrtes, doch nicht mehr wesenbestimmendes Kulturelement bedeutet« (E. Volhard). Liest man richtig? Kannibalische Vergangenheiten der Hochkul­ turen ? Für die griechische Götterwelt jedenfalls kann diese Fest­ stellung schwerlich gelten. Zwar verzehrte Demeter die Pelopsschulter, aber sie tat es unwissend, und Zeus strafte den vermesse­ nen Tantalos mit grausamer Buße. Die griechischen Mythen, die vom Kannibalismus handeln, sind überwiegend moralische Fa­ beln, liefern keine Entschuldigung der Anthropophagie. Wohl fraß Kronos seine Kinder, zwar verschlang Zeus selbst, nach Hesiod, seine erste Gattin Metis (weshalb dann die gemeinsame Tochter Athene aus dem Kopf des Vaters geboren werden mußte). Immer aber verspeisten die olympischen Götter ihresgleichen, Götter, nicht Menschen. Die Anthropophagen Griechenlands sahen sich durchweg von der Strafe ihres Himmels bedroht. Die Gottheiten der Azteken freilich - einer anderen »fortgeschrit­ tenen« Kultur - rechtfertigten das Menschenessen, erzwangen das Menschen töten. Und da sie besonders zahlreich waren und die kultischen Feste zu ihren Ehren infolge der Einteilung des Jahres in achtzehn zwanzigtägige Perioden immer mehr Überhandnah­ men, wuchs auch der Bedarf an Opfern, von Göttern und Men­ schen verzehrt, zu gewaltigen Ausmaßen. Wir sind über die Massenopfer der Azteken durch spanische Schriftsteller recht ge­ nau unterrichtet, wenn auch die Zahlenangaben der verschiedenen Quellen ganz erheblich voneinander abweichen. Trotz des be­ rechtigten Entsetzens von Kolonisatoren und Kirche hielten sich jedoch solche Opferpraktiken, wenn auch in abgewandelter Form, noch Jahrhunderte, und mit ihnen das kannibalische Element. Bei den Pawnee-Indianem kam noch im Jahr 1838 der Fall eines Menschenopfers vor, und zwar am 22-/23. April (dem Beginn der fünften aztekischen Jahrperiode), der starke Anklänge an die Opferungen zeigt, die in Mexiko bis zur Durchsetzung christ­ licher Gesittung an der Tagesordnung gewesen waren. Zur Opferung hatte man ein junges Mädchen ausersehen, das ge­ schmückt durchs Dorf geführt wurde. In Begleitung der Häupt­ linge und Krieger empfing es an jedem Wigwam ein Geschenk. Am Ziel angekommen, bemalte man es mit roter und schwarzer Farbe - was an die bei den Azteken übliche Bemalung erinnert, welche die Maisfarben darstellen sollte. Darauf wurde das Opfer auf einem Feuer langsam zu Tode ge­ braten und zugleich von den Kriegern mit Pfeilen beschossen, damit das Blut reichlich fließe. Schließlich ging der Opferpriester an sein Werk. Er riß der Toten das Herz heraus und verzehrte es. Der Rest des Leichnams wurde dann feierlich in kleine Stücke 100

zerlegt, die man in Körbe sammelte und hinaus auf die Mais­ felder trug. Das Blut der Fleischstücke spritzte man auf die Saaten, und das nun fast trockene Fleisch wurde zu einer Paste verarbeitet, mit der man Knollengewächse wie Kartoffeln einrieb, um sie sicher zur Reife gelangen zu lassen. Die menschenessenden Götter verzehrten ihre Opfer natürlich als »unsichtbaren Schmaus« (Cook) und bedienten sich stellvertreten­ der Esser - namentlich ihrer Priester. Die Priesterschaft trat damit in den Kreis bevorzugter . Menschenesser, vielfach sogar an die erste Stelle; ja, in einzelnen Fällen war sie alleinige Inhaberin des anthropophagen Privilegs. Besonders in Polynesien und Mela­ nesien, wo der Glaube herrschte, die Götter fräßen die Seelen, war der priesterliche Menschenverzehr ursprünglich vielleicht ein rein sakraler Akt, den dann Häuptlinge und soziale Oberschicht übernahmen und »schließlich, mit zunehmender Profanierung der Sitte, die Krieger, die Männer und endlich das ganze Volk« (E. Volhard). Diese These von der Verbreitung des Kannibalismus durch Entweihung und Sozialisierung ist allerdings nicht unwider­ sprochen geblieben. Als Erklärung wird ebenso die genau um­ gekehrte Entwicklung angeboten: Ursprünglich Gemeingut des Kollektivs, sei das Menschenessen zunehmend entdemokratisiert und zunächst zum Vorrecht von Häuptlingen geworden. Schließ­ lich habe die Menschenverspeisung nur noch der Priesterschaft als der Mittlerin zu den Gottheiten zugestanden. Es blieb nicht aus, daß sich am vermittelnden Verzehr der Götter­ diener Zweifel erhoben. Schon Dumont d’Urville berichtet von den Marquesas, dort seien Menschenjagden abgehalten worden, angestiftet von den Priestern, denen bei den zahlreichen Menschen­ opferungen das Beste, der Kopf, zustand. Ein anderer Gewährs­ mann beschuldigte die marquesanische »Geistlichkeit« geradezu der Menschenfleischgier unter dem Deckmantel religiöser Pflicht­ erfüllung : »Die Taua-Priester lassen sich öfter bloß aus Leckerhaftigkeit an­ reizen, nach Menschenfleisch zu lüsten. In dieser Absicht stellen sie sich an, als wenn sie von einem Geist überfallen würden, und scheinen, unter mancherlei Gaukeleien und verstellten Zuckun­ gen, auf kurze Zeit in tiefen Schlaf versunken zu sein; dann wachen sie plötzlich wieder auf und erzählen den Umstehenden, was ihnen die Geister im Traum eingegeben und anbefohlen haben. Ein bezeichneter Mensch wird gefangen und auf dem Morai in Gesellschaft der Tabufreunde verzehrt.« Die Kommunion, in der Menschen sich mit Göttern zum Men­ schenmahl vereinigen, wird zum mystischen Einswerden, wenn der Mensch den Gott selbst ißt. Wieder spielt ein anderer Mensch, diesmal nicht als Essender, sondern zu seinem Ungemach als Ge-

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gessener den Mittler - der Gott wird stellvertretend verzehrt. Nach der Überzeugung des Essenden aber verleibt er sich nicht einen Mitmenschen ein, begeht er keinen kannibalischen, sondern einen gottverzehrenden Akt - »nicht die Kraft des andern Men­ schen, sondern des Gottes, den jener vertritt, will der Opfernde sich aneignen« (W. Wundt). Im Mexiko der Azteken opferte man diesem verstiegenen Vereinigungswunsch alljährlich einen jungen Mann von ausgesuchter Schönheit als Stellvertreter des Gottes Tezcatlipoca. Ein Jahr lang durfte der Glückliche, umgeben von vier jungen Gespielinnen, die Göttinnen vertraten, alle göttlichen Ehren genießen. Dann aber schlug ihm die Stunde; mit einem Obsidianmesser schlitzte ihm der Priester die Brust auf, riß das zuckende Herz heraus und hielt es der Sonne entgegen; der Rest des Leichnams wurde, wie beschrieben, in dem Glauben verzehrt, sich dadurch einen Teil vom Wesen des Gottes einzuverleiben. Menschen aßen Götter. Menschen aßen auch Kinder als Götter. Priester der Azteken opferten Kinder und kneteten ihr Blut mit einem Mais-Teig zu einem Ebenbild des Gottes Huitzilopochtli. Diesem eßbaren Idol wurde das Herz herausgeschnitten und dem aztekischen König zum feierlichen Verzehr dargereicht, während die Vornehmen sich jeder mit einem Stückchen der Figur aus Kinderblutteig be­ gnügen mußten. Der Brauch der Verarbeitung von Kinderblut zu Götterbildern verbreitete sich auch auf andere mexikanische Stämme. Nach Geronimo de Mendieta brachten die im Gebiet des heutigen Vera­ cruz beheimateten Toltonaken alle drei Jahre einige Kinder um und ihrem Opferbedürfnis dar. Sie vermengten das Opferblut mit Ullisaft (von Cassidea elástica) und etlichen Kräutern zu einem »heiligen« Teig, der den Namen Toyolliaytlaqual trug. Es hat den aztekischen - um mit Voltaire zu sprechen - »Magiern« und der »barbarischen Schönheit« ihrer nach Hekatomben zählen­ den Menschenopfer nicht an Verteidigern gefehlt, an Fürsprache, wie sie selbst Menschen, die in äußerster Not zum letzten Mittel des Kannibalismus griffen, selten zuteil wurde. Die Greuel der tausendfachen Schlächtereien schienen durch die bewegende Suche nach einem Band mit dem Göttlichen manchen um einen Grad entschuldbarer als die verschiedenen areligiösen Kannibalismen. Um einen ihrer Fürsprecher, G. C. Vaillant, zu zitieren: »Die Religion hat, solange die menschliche Gesellschaft die Religion als wesentlich für ihren Fortbestand ansah, immer das Beste im Denken und Tun des Menschen geweckt.« Diesem Besten haben die Azteken, die Religionskannibalen par excellence, nach einer bescheidenen Schätzung jährlich zwanzig­ tausend Opfer dargebracht.

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17 Die radikale Rache »Daß doch Zorn und W'ut mich erbitterten, Roh Zu verschlingen dein zerschnittenes Fleisch Für das Unheil, das du mir brachtest!« (Homer, Ilias)

Die Zuschreibung bestimmter Motive aus einer westlichen Be­ griffswelt für Handlungen »primitiver« Menschenesser hat ihre Tücken. Dieselben Kannibalen aßen - je nach Bericht - Menschen aus Rache, aus Kriegswut, zur Einschüchterung, zur Vertilgung. Die Beobachter, die mit soviel Bestimmtheit Beweggründe und Absichten konstatierten, haben nicht immer berücksichtigt, daß solche Begriffe für die Psyche von »Wilden« einen anderen Inhalt hatten und anders miteinander verknüpft sein konnten. Und: die Verwirrung der Begriffe begann oft schon bei unseren eigenen. Rache etwa ist zunächst die reaktive Aggressionshandlung eines einzelnen, Kriegswut aber Affekt einer Gemeinschaft, der zudem bestimmte sozialpsychische Bedingungen verlangt. Diese beiden Motive sind häutig bedenkenlos nebeneinander, ja synonym ver­ wendet worden. Kannibalische Akte, scheinbar äußerster Rach­ sucht entsprungen, entpuppen sich oft genug als unverkennbare Angsthandlungen, ebenso wie Einschüchterung und Vertilgung präventive, von Furcht bestimmte Taten sein können. So ist die Anthropophagie als Racheakt mit der Kollektiv-Aggression kan­ nibalischer Kriege und dem gerichtlichen Menschenessen (in reiner Form) so eng verknüpft, wie es eben die Affektkomplexe Rache, Strafe und Angst auch sind. Die Verwirrung der Begriffe wird vollkommen, wenn noch in einer Völkerkunde aus dem Jahr 1968 zu lesen steht, die vertriebe­ nen Söhne aus der Freudschen (richtiger: Darwinschen) »Urhorde« hätten ihren Vater aus Rache aufgefressen. Kein Wort davon bei Freud selbst, der gerade die Ambivalenz Furcht-Liebe hervorhebt und den Vaterverzehr als Akt zur Befriedigung des Hasses der Söhne und zur Erfüllung des Identifikationswunsches mit dem übermächtigen Vater deutet. Rachedurst (für Landesverrat) trieb die Söldner des Ägypter­ königs Amasis dazu, die schuldlosen Söhne des Verräters Phanes zu schlachten. Rache aber war sicher nicht das Motiv, wenn manche nigerianischen Stämme glaubten, sie könnten den Lebens­ geist des Opfers nur dadurch hindern, aus der anderen Welt zu­ rückzukommen und sich an ihnen zu rächen, indem sie den Feind mit Haut und Haar verzehrten. Angst trieb sie dazu. Ein ähnlicher Glaube bestimmte Bewohner Neubritanniens, die solchen Kanni­ balismus aus fehlgedeuteter »Rachsucht« beibehielten. Es wird be­ richtet, sie hätten die Anthropophagie schon früher aufgegeben, wären sie nicht der Überzeugung gewesen, sie zur Einschüchte­

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rung ihrer Feinde beibehalten zu müssen. Vertilgungswünsche aus Furcht standen übrigens auch hinter dem aus Birma über­ lieferten Brauch, Blut zu konservieren. Man glaubte, in den Bam­ busstöcken den Feind gefangenhalten zu können und ihn durch den Verzehr seines eingesperrten Bluts gänzlich aus der Welt zu schaffen. Es sind die gleichen Angstvorstellungen, die dazu führ­ ten, daß man Toten die Augen verband oder sie gefesselt begrub. Rache in reiner Form ist, wie erwähnt, in der Fülle der Berichte über anthropophage Vergeltungsakte nicht oft zu isolieren. Die Verspeisung des getöteten Feindes führte wohl zu vollkommener Ahndung im Sinne der Blutrache, aber damit auch zur Schwä­ chung der gegnerischen Partei, was vielleicht nicht unwillkom­ men war. In Neuseeland, so meinen manche Beobachter, verband sich das Rachebedürfhis schon bald mit der Lust am Menschen­ fleischgenuß und diente schließlich nur noch als Verbrämung. Bei den nigerianischen Stämmen der Yergum und Tangale er­ zeugten, schreibt Gary Hogg, »Fleischgier im Verein mit dem kaum weniger bestialischen Motiv äußerster Rachsucht« den Kan­ nibalismus. Die Tangale hatten sogar einen Kriegsgesang, in dem sich Haß und Feinschmeckerei verbanden: »Hier ist mein Feind. Er haßt mich und ich hasse ihn. Er tötet mich, wenn er mich erwischt. Mein Gott hat ihn mir jetzt ausge­ liefert. Gib, daß meine Feinde ihre Kraft verlieren! Mach ihre Augen blind. Wenn die Krieger meines Stammes in Feindesland ziehen, laß alle Feinde rasch von ihrer Hand sterben. Wenn vom Geist dieses Feindes etwas übrigbleibt, laß ihn zurückkommen und seine Eltern und alle seine Angehörigen ergreifen!« »Die meisten, wenn nicht alle Beweggründe zum Kannibalismus, denen man bisher begegnet ist«, schreibt Hogg über Neuguinea, »scheinen hier wirksam zu sein - oder bis vor kurzem wirksam gewesen zu sein.« Das Kemgebiet des Menschenessens, schwer zugänglich, bis heute nicht vollständig erschlossen, lange ohne eine zentrale Autorität, welche die anthropophagen Bräuche der in zahllose Stämme und Kulturgemeinschaften zersplitterten Be­ völkerung hätte unterdrücken können, bot als dominierendes Motiv Rachsucht. Fast immer aber war es unauflöslich verquickt mit dem Wunsch nach Aufnahme erstrebenswerter Eigenschaften von Feinden, nach ihrer Vertilgung oder mit »schierer Gier nach Menschenfleisch«. Und diese anderen Anlässe zum Menschenmor­ den und -essen zeugten neues Racheverlangen, weckten neue Ver­ tilgungswünsche, erneute Fleischgier ... Noch niemand hat das auslösende Moment des neuguineanischen Kannibalismus zu iso­ lieren vermocht. Die Blutrache ist den Bewohnern zivilisierter Gegenden schwer verständlich. Zu lange schon bestehen politische und juridische

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Zentralgewalten, die den Vergeltungsanspruch einzelner in den Strafanspruch der Gemeinschaft einschmolzen. Die Rache ist so­ zialisiert zur sittlicheren Form der Buße. Eher verständlich ist dem westlichen Menschen eine Exekution des rächenden Impulses, wie sie auf vollendeten Kannibalismus verzichtende Kannibalen durchfuhrten : eine wohltätige Verkümmerung der ursprüng­ lichen Sitte. Die südamerikanischen Mesaya, schon Ende des ver­ gangenen Jahrhunderts durch Kriegsgier und Anthropophagie auf kaum tausend Stammesangehörige zusammengeschmolzen, mästeten ihre Gefangenen ein volles Vierteljahr bis zur vermuteten Essenszeit. Dann erschlugen sie sie und schnitten ihnen den Kopf ab. Der Rumpf wurde zu den Kochkesseln geschleppt, die Kno­ chen zerbrach man, damit das Mark bloßliege. Alles war zum Menschenmahl vorbereitet. Und tatsächlich, die Mesaya nahmen alles bis auf den Kopf des Toten zu sich. Aber: kaum waren die Bissen verschlungen, bemühte sich jeder der Esser, den Racheschmaus möglichst rasch wieder auszuspeien. Die Mesaya waren keine echten Kannibalen mehr. Sie mußten sich überwinden, den alten Gerichtsbrauch hochzuhalten, und, so berichtet ein Gewährsmann, »ekelten sich selber vor der ab­ scheulichen Speise, und das ist Beweis, daß sie nicht aus Gier nach Menschenfleisch, sondern nur der Rache und Vergeltung wegen so gehandelt«. Ähnlich verfallen präsentierte sich die rächende Anthropophagie hin und wieder auf der Fidschi-Gruppe, zu Zeiten, als das allge­ meine Menschenessen dort noch in voller Blüte gestanden haben soll. Hatte eine Feindschaft zwischen zwei Gemeinschaften den höchsten Gipfel erreicht, so bestand die größte Schmach, die man dem Erlegten - und damit seinem Stamm - antun konnte, darin, ihn nicht zu essen. Man zerstückelte die Leiche nach allen Regeln kannibalischer Kunst und bereitete sie sorgfältig für den Erdofen zu. Doch sobald alles zum Rachemahl hergerichtet war, warf man den Toten beiseite. Er war es nicht wert, von seinen Besiegern gegessen zu werden. Die Rache tötete nur noch, sie aß nicht mehr. Ein zivilisatorischer Fortschritt? Doch das Opfer war gleichwohl tot.

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18 Leibgericht Timon: »Ihr wäret lieber bei einem Frühstück von Feinden als bei einem Mittagessen von Freunden.« Alkibiades : » Wenn sie frischblutend sind, so kommt kein Schmaus ihnen gleich, und ich möchte meinem besten Freund ein solches Fest wünschen.« (Shakespeare, Timon von Athen)

War der zum Menschenessen führende Racheimpuls zunächst die Sache von Individuen (und dann von Gruppen), so erfüllte der strafende Kannibalismus (Vertilgung als Vergeltung) ein Sühne­ bedürfnis der Gemeinschaft, war er zur gesellschaftlichen Insti"tution geworden, mag er sich auch ursprünglich aus einem Spon­ tanakt entwickelt haben. Sobald sich die Kameraden des essenden Rächers, seinen Haß tei­ lend, am anthropophagen Rachevollzug beteiligten, wurde aus dem Individualakt eine Gruppentat, veredelte sich Vergeltung zur Ahndung. »Alle Strafe«, schreibt Th. Waitz, »geht ursprüng­ lich aus dem Rachegefühl hervor, das Vergeltung fordert.« Das ursprüngliche und primitivste Motiv der Strafe, Ahndung, Ver­ geltung, ist rückwärts gewandt, dazu bestimmt, ein Kapitel ab­ zuschließen, nicht ein neues aufzuschlagen. Wer will es den »pri­ mitiven« Kannibalen verdenken, wenn ihr nahrhafter Strafvollzug ebenso der Vergangenheit zugewandt war und andere Überle­ gungen wie eine Besserung des Täters außer acht ließ. Freilich, Grundsätze, wie sie eine zivilisierte Justiz noch heute hochhält, etwa Prävention oder Sicherung der Gesellschaft, waren auch durch die gerichtliche Anthropophagie zu verwirklichen, denn sie schloß ja das Töten ein. Der wahrhaft »peinliche Prozeß« des juridischen Menschenessens (die Kannibalen-Gesellschaft sagt: Die Strafe ist mein) ist mithin von der Primitivstrafe, die nur der Befriedigung persönlichen Racheverlangens diente, ein Stück fortgerückt - kaum fortge­ schritten - zum Strafanspruch der Gemeinschaft, aber noch immer nur im Sinne der Ahndung. Dieser »Fortschritt« hat vielleicht dazu beigetragen, daß man Völ­ ker, die die gerichtliche Anthropophagie übten oder gar, wie die Batak, institutionalisierten, gern zu den kulturell höherstehenden gerechnet hat. Die Existenz einer geregelten Rechtsprechung, und sei es einer kannibalischen, war ein bestechendes Indiz für zivili­ siertes Niveau. Übersehen wurde dabei, daß das Rechtsinstitut des strafenden Aufessens oft genug Vorwand für die Befriedigung ganz anderer Motive bot, zum Beispiel pure Menschenfleisch­ gier. Besonders deutlich zeigt sich die Entwicklung des gerichtlichen Menschenessens aus Rachebedürfhissen dort, wo neben »Verbre-

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ehern« gefangene Feinde oder auch Auswärtige schlechthin dem Verzehr verfielen. So soll es auf den Neuen Hebriden etwa üblich gewesen sein, generell die Kriegsgefangenen und ebenso Bewoh­ ner anderer Inseln zu verspeisen. Auf der Pentecost-Insel hielt sich solcher »Straf«-Vollzug noch lange, als man dem Menschen­ essen vom rein kulinarischen Standpunkt nicht mehr viel Ge­ schmack abgewann; wer aus juristischen Gründen gegessen wurde, verlor völlig seine Individualität, was als die tiefste Schande galt, und so behielt man dieses Strafmaß noch einige Zeit bei. Auf der Vancouver-Insel wie auf Borneo schrieben sogar »Rechts­ satzungen« den Verzehr gefangener Feinde und einheimischer Delinquenten vor. Dagegen bedeutet es einen entschiedenen Schritt vorwärts, wenn man auf Leper’s Island aufhörte, tapfere Kriegsgefangene zu essen, und sich nur noch auf Mörder und andere Schwerverbrecher beschränkte. Solche Rechtsbrecher wur­ den, als Ausdruck tiefster Verachtung, wie ein Schwein zubereitet und von Männern, Frauen und den älteren Knaben verzehrt, aber zuletzt war auch dies nur noch Geste, nicht mehr Befriedigung der Gaumenlust. Daß der gerichtliche Kannibalismus im Zeitalter der Entdeckun­ gen bereits im Schwinden war, zeigt das weiter oben erwähnte Unterwerfungsritual, das von Samoa berichtet wird, wo Übel­ täter symbohsch zum Verzehr durch ihren HäuptUng, den anthropophagen Gerichtsherm, antraten und ungegessen amnestiert wur­ den. Die Vergehen, welche Delinquenten dem Leibgericht ausbeferten, zeigen eine beträchtliche Spannweite, sind aber - abgesehen von Kriegsgefangenen und Fremden - von einer zivilisierten Vor­ stellung von Verbrechen gar nicht sehr weit entfernt. Ehebruch (bis vor kurzem auch in unseren Landen ein strafbarer Akt) war vielerorts bei Kannibalen Grund genug, namenthch die Schuldige zu verspeisen. Bei den Maori neigten die gehörnten Ehemänner dazu, bei den nigerianischen Anga besorgte der HäuptEng den Strafverzehr untreuer Gattinnen. Pater Fräßle berichtet aus dem Kongo, daß im Gebiet seiner Mission vor dem Einzug der Euro­ päer beide Ehebrecher gelyncht und verspeist worden seien, falls der Täter nicht eine unberührte Frau zur .Wiedergutmachung bieten konnte. Ein Eingeborener klagte dem Missionar: »Jetzt sind die Weißen im Lande, die verstehen nichts vom Recht, wir können nur noch eine Zahlung vom Verbrecher verlangen, das Unrecht aber bleibt.« Auf der Pentecost-Insel verfiel jeder einfache Mann, der einem angesehenen MitgEed der Gesellschaft eine Frau entfuhrt hatte, dem gerichtlichen Verzehr. Ebenso ungerecht ging es im Gebiet des Tschadsees her. Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg, der diese Kannibalengebiete durchreiste, kommentierte: 107

»Die Menschenfresserei fordert jährlich unzählige Opfer, da die meisten Vergehen, selbst sehr geringfügig, mit dem Tode, das heißt Geschlachtet- und Aufgefressenwerden bestraft werden. Da für vermögende Leute der Ausweg besteht, sich vom Tod freizu­ kaufen, so fallen dieser barbarischen Sitte meist Vermögenslose, Sklaven und Weiber zum Opfer.« Die gestrengen Rechtsbegriffe auf der Pentecost-Insel ahndeten den Ehebruch mit dem gleichen Strafmaß wie den Schweinedieb­ stahl, mit Tod und Verzehr, aber dieser Buße verfiel eben nur, wer das Borstentier eines angesehenen Mitglieds der Gesellschaft entwendet hatte. Albert Bickmore zitiert in seinem Reisebericht einen europäischen Missionar, der ihm schilderte, wie die Batak mit Dieben verfuhren. In diesem Fall hatte es sich sogar nur um ein Bagatelldelikt gehandelt. Trotzdem wurde der Dieb »ergriffen, seine Arme in voller Länge ausgestreckt und an einem Bambus befestigt, eine Stütze mit scharfer Spitze ihm unters Kinn gestellt, so daß er den Kopf nicht bewegen konnte, und in diesem Zu­ stande wurde er an einen Baum gefesselt. Dann händigte man dem Eingeborenen, der bestohlen worden war, ein Messer ein und befahl ihm, vorzutreten und dem lebenden Mann das Stück aus dem Leibe zu schneiden, welches dem Bestohlenen das Liebste war. Dies tat er sofort: Der Radscha nahm das zweite Stück, und das Volk beendigte dann die kaltblütige Metzelei; dabei starb ihr Opfer.« Wenn der Missionar präzise beobachtet hat, verrät zumindest diese gerichtskannibalische Exekution, daß das Element der (pri­ vaten) Rache aus der Strafjustiz der Batak noch nicht völlig ge­ schwunden war: Der Geschädigte hatte das Recht auf den ersten Bissen. Ebenso war noch ein kulinarisches Moment vorhanden, da er sein Lieblingsstück wählen durfte. Und zum dritten, die - oder vielmehr: diese - Batak waren keine demokratischen Anthropophagen, wenn ihr Fürst sich den zweit­ besten Teil wählen durfte und das gemeine Volk sich mit dem Rest zufriedenzugeben hatte. Wir treffen bei den Batak noch andere soziale Unterschiede im Zusammenhang mit dem abstra­ fenden Menschenessen. Landesverräter, Spione und Deserteure konnten ihrer Verspeisung durch die Zahlung einer Geldbuße entgehen: Dieses Lösegeld betrug, so weiß es eine Quelle ganz genau, sechzig Piaster und einen Büffel. Was alles war nach der kannibalischen »Gesetzgebung« dieses Beinahe-Kulturvolkes strafwürdig? Sämtliche der nicht wenigen Kommentatoren der Batak-Jurisdiktion verzeichnen Ehebruch (vor allem eines Niedrigen mit einer Radscha-Frau), die meisten dazu noch »Landesverrat« und »Spionage« als ausreichende Hin­ richtungsgründe. Manche nennen außerdem heimtückischen Überfall auf ein Haus, nächtlichen Raub und Desertation, und seltener - auch Heiraten innerhalb des eigenen Stammes (vermut108

lieh ist damit Sexualverkehr gemeint), und Diebstahl wurden mit dem Eßtod geahndet. Dieser Kodex traf mit voller Wucht männliche Delinquenten; Frauen und Kinder wurden zwar umgebracht, aber immer­ hin nicht gegessen. Bei der Hinrichtung mußte die Verwandt­ schaft des Verbrechers Salz und Zitronen zum Verzehr stellen und, im Fall von Ehebruch, selbst anwesend sein. Der Betroffene (Mann oder Frau) hatte das Recht, die Ohren der Verurteilten zu behalten. Gerichtlicher Kannibalismus wurde auch aus Angola und aus Ni­ geria von den Waijawa gemeldet, die angeblich jeden verzehrten, der sich gegen die Sittennormen des Stammes verging. Die HillAnga verspeisten ebenfalls verbrecherische Volksgenossen allge­ mein, während die Sura sich anscheinend auf Frauen beschränkten, die des Ehebruchs überfuhrt worden waren. Die Übertretung des Inzestverbots konnte auf dem BismarckArchipel zu gerichtlichem Verzehr fuhren. Ein solcher Fall, dessen Scheußlichkeit Kannibalentaten aus schnöderen Motiven nicht nachsteht, wurde in der Blanchebucht registriert. Ein Mann, der sich der Blutschande schuldig gemacht hatte, wurde festgenom­ men. Man fesselte ihn und band ihm glühende Steine in die Ge­ lenke. Von diesen Martern erlöste ihn der Tod, als man ihn zwang, einen erhitzten Stein zu schlucken, der ihm den Magen verbrannte. Außen und innen geröstet, wurde der Übeltäter zur Vollendung der Buße zerteilt und vertilgt. Die Kissama in Angola vollzogen noch vor hundert Jahren - und nach Jahrhunderten zivilisierender Kolonialherrschaft - anthropophage Exekutionen. Ihr Verbrechenskatalog ist uns leider nicht überliefert, aber sie müssen strenge Richter gewesen sein. Ver­ urteilte wurden ausnahmslos als Gerichte hingerichtet. Es war nicht einmal ratsam, mit Zahlungen im Rückstand zu bleiben. In einem Bericht über die Justizkannibalen heißt es lapidar: »Wer unter den Kissama seine Schulden nicht bezahlen kann .... wird ohne weiteres getötet und verzehrt.«

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19 Fleischkriege 4» Diese Gewohnheit, ihre im Kampfe getöteten Feinde aufyufressen, ist ihnen seit den frühesten Zeiten überliefert, und wir wissen, daß es ein alles andere als leichtes Unterfangen ist, ein Volk seiner alten Gebräuche %u entwöhnen, und seien sie noch so unmenschlich und grausig .. .« (James Cook)

»Eines Tages durchwanderten wir ein Tal, in dem früher viele Schwarze gewohnt haben sollen, von denen jetzt keine Spur mehr vorhanden war, da sie alle nach und nach von fremden Stämmen getötet und verspeist worden waren, was ja häufig geschieht, da der Haß zwischen den verschiedenen Stämmen ein sehr großer ist. Bei Herbert River kommt es sogar vor, daß geradezu Expeditio­ nen zur Erlangung von Menschenfleisch veranstaltet werden. Zu solchen Zwecken versammelt sich dann eine kleine Gruppe der dreistesten Männer, die wegen ihres Mutes großes Ansehen ge­ nießen. Es sind ihrer nicht viele, denn es gelten diese Überfälle meistens nur kleinen, aus vier bis sechs Individuen bestehenden Familienstämmen. Die Reise geht langsam vor sich, und für Pro­ viant muß unterwegs gesorgt werden. Haben sie eine geeignete Familie gefunden, so gehen sie sehr behutsam an ihr Werk, lagern sich abends heimlich in einiger Entfernung und beginnen den Angriff vor Sonnenaufgang, wo dann die Überrumpelten aus dem Schlafe geschreckt werden und in ihrer Angst an gar keine Verteidigung zu denken vermögen. Die Männer verteidigen nicht einmal ihre schutzlosen Weiber und Kinder. Ein jeder muß sich seiner eigenen Haut wehren, so gut es geht, und den Alten ergeht es gewöhnlich am schlimmsten; sie werden meistens gleich getötet und verspeist. Als ausgezeichnete Beute gilt selbstver­ ständlich eine Frau. Sie wird, wenn noch jung, nicht getötet; ist sie dagegen alt, wird sie erst genotzüchtigt, dann getötet und ge­ gessen.« Carl Lumholtz läßt in diesem Bericht aus Australien das Motiv der »Kriegslust« nicht gelten und nennt als auslösendes Moment des geschilderten Überfalls Rache und Haß. Der recht unbe­ stimmte Affektkomplex »Haß« fuhrt allerdings, der Beispiele gibt es genug, häufig zum Krieg. Kriege, zumal verlorene, erzeugen ebenso oft das Verlangen nach Rache, das neuen Krieg gebiert. Führte Kannibalismus zum Krieg, oder hatte der Krieg Kanniba­ lismus zur Absicht oder im Gefolge? Diese Frage, besonders häu­ fig im Zusammenhang mit den Fleischkriegen der Maori gestellt, ist müßig, weil nicht zu entscheiden. Ebenso ungelöst ist das Pro­ blem, ob »Not« Anthropophagie als Notlösung auslöste oder ob Kannibalenkriege notwendig zu Not, zu Nahrungsmangel, fuhrIIO

ten und so das Menschenessen als übliche Verköstigung fest eta­ blierten. Nur so viel scheint sicher: Menschenverzehr stillte Ver­ geltungsbedürfnis wie Hunger und schuf neuen Rachedurst. Die­ ser Teufelskreis fand auf Neuseeland tatsächlich erst ein Ende, als die Herrschaft der Weißen sich durchsetzte. Die meisten Besucher Neuseelands in früheren Zeiten stimmten in dem Urteil überein, daß die Maori extrem kriegslüstern seien, und manche bestritten gar, daß von Nahrungsmangel überhaupt die Rede sein könne. Als Hauptargument dafür diente, daß die Maori-Frauen im allgemeinen vom Menschenfleischgenuß aus­ geschlossen waren - obgleich sie offenbar doch nicht samt und sonders zugrunde gingen. Zunächst eine Präzisierung: Die MaoriFrauen durften zwar kein Feindesfleisch verzehren, sehr wohl aber das Fleisch von Sklaven, die nicht im Kampf getötet worden waren. Dieser Umstand scheint dafür zu sprechen, daß im Krieg gewonnenes Menschenfleisch besondere Bedeutung hatte. Zu­ dem ist dieses auf Frauen begrenzte Verbot kein Beweis, daß die Maori bei ihren Kriegszügen nicht Nahrungsmangel gelitten hät­ ten (was wiederum für Not als Ursache des militärischen Men­ schenessens der Maori spräche). Bei Kriegszügen in entfernte Gegenden wurde kannibalische Verpflegung für die Angreifer wichtig, als »notwendiges Rettungsmittel«, wie William Mariner den Kriegs-Kannibalismus der Tonganer verteidigt. Nach der Eroberung einer feindlichen Festung (Pah) konnten die Sieger sich zunächst aus den Vorräten der Besiegten verpflegen, aber im Siegestaumel und vor allem auf dem Rückmarsch griffen sie gern auf die Unterlegenen als Proviant zurück. Ein Beobachter, der einen großen Teil seiner Kindheit in der Gegend von Bay of Islands verbrachte, berichtete, er habe einmal einen Zug von mehr als zwanzig weiblichen Gefangenen gesehen, die mit Menschenfleisch gefüllte Körbe für ihre Besieger dahin­ schleppten. A. P. Vajda schreibt in seinem Buch Maori Warfare über solche ausgedehnten Kriegszüge auf Neuseeland: »Im Verlauf solcher Expeditionen stillte Wer gewohnte Kanniba­ lismus nach einem erfolgreichen Angriffund auch vor der Attacke, wenn man feindliche Nachzügler fing, den Hunger der Krieger und versorgte sie bis zur Heimkehr. Gleichgültig, ob die Maori glaubten, durch den Verzehr ihre Rache zu befriedigen, matia, Stärkung oder Genuß zu erlangen, Tatsache war, daß Menschen­ fleisch als Proviant diente. Dies war in Kriegszeiten ein nützlicher Brauch.«' Schon Cook konstatierte, daß für die Maori Menschenfleisch nicht gleich Menschenfleisch war. Sklaven und Feinde verschlangen sie »mit einer aller Beschreibung spottenden Scheußlichkeit«, aber Freunde oder gar Verwandte zu verzehren, dieser abwegige Ge­ danke erfüllte sie mit ebensolchem Schauder wie jeden normalen Zivilisierten. James Cook unternahm es, herauszufinden, ob die in

Maori sich einen Kannibalismus aus Pietät denken könnten, wie er in anderen Weltgegenden ebenso »moralisch«, das heißt vom Kollektiv, geübt wurde wie der neuseeländische Feindesverzehr. »Ich fragte, ob sie auch das Fleisch ihrer Freunde verzehrten, die im Kriege gefallen, deren Leichname aber davor bewahrt wurden, dem Feind in die Hand zu fallen. Sie schienen über diese Frage erstaunt und antworteten verneinend mit einem Ausdruck des Abscheus über einen solchen Gedanken.« Menschenjagden und Kriegszüge, die nicht oder nicht nur zur Stillung des Racheverlangens, sondern der Fleischbeschaffung wegen unternommen wurden, werden nicht nur von den Mar­ quesas berichtet, wo Dumont d’Urville, der zwischen 1826 und 1840 zwei wissenschaftliche Weltreisen leitete, Zeuge solcher Un­ ternehmungen war. Auch auf den Salomonen soll das Motiv der Kriegslust vor allem der Wunsch nach Speisemenschen gewesen sein, »welche«, wie F. Bergemann schreibt, »diese leidenschaft­ lichen Anthropophagen aus reiner Genußsucht verzehren«. Noch ärger trieben es Bewohner der Ost- und Nordküste von Bougain­ ville; ihre Kommandountemehmen dienten nicht nur der Selbst­ versorgung, sondern schnöden kommerziellen Absichten: Sie verkauften ihren »Fang« in weit entfernte Gebiete. Noch im Jahr 1845 offerierten Eingeborene der übrigens besonders fruchtbaren Insel Missionaren ein kleines Kind mit den ermunternden Wor­ ten, daß es »gut zu essen« sei. Zu den zahlreichen Kriegen, welche die Azteken zur Herbei­ schaffung von Opfermaterial für ihre hungrigen Götter führten, gaben, wie auf den Marquesas, die Priester die Veranlassung. Freilich nicht aus »Leckerhaftigkeit«, sondern in dem Glauben, die ungezählten Schlächtereien samt folgendem Verzehr der Entherzten seien »notwendig, sollte die Sonne in ihrem beständigen, wohltätigen Lauf über den Himmel der Azteken erhalten werden, damit sie Saaten wie Menschen gleichermaßen Fruchtbarkeit bringe« (G. Hogg). Die Kriegslust des mexikanischen Herrenvol­ kes erklärt sich - wenn sie auch indirekt zur Anthropophagie führte - nicht aus kannibalischer Gier, sondern aus Götterfurcht und Lebensan^st.

Trotz der zahlreichen Beschreibungen, in denen von entmensch­ ten, sozusagen leergegessenen Landstrichen die Rede ist, »wo früher viele Schwarze gewohnt haben sollen«, trotz der Klagen über Kindermord und Neugeborenenverzehr als Sitte, trotz der massenhaften Zubereitung von Fremden und Mitbewohnern, wie etwa vom Fidschi-Archipel gemeldet, waren die Kannibalen zu klug, sich selbst auszurotten wie der legendäre Häuptling in Ni­ geria (siehe Kap. 10). Anscheinend übten sie unbewußt eine gewisse »Bevölkerungskontrolle« und sorgten so dafür, daß das kollektive Menschenessen sich in Grenzen hielt und nicht den Fortbestand 112

der Gemeinschaft in Gefahr brachte. Als der Besserungseifer der zivilisierten Welt in die barbarische Südsee eilte, fand er kein Volk von sich selber aufgegessen. Ungleich erfolgreicher sorgten westliche Mitbringsel fur die Dezimierung der Menschenesser und anderer »Wilder«. Und wo dies nicht genügte, half gewalt­ same Besserung nach : 1803 legte Großbritannien auf Tasmanien eine Kolonie von Straffälligen an, mit der Folge, daß die Urbevöl­ kerung binnen siebzig Jahren bis auf den letzten Mann ver­ schwand. Alfred Métraux schreibt in seinem Buch über die Osterinsel von einer ununterbrochenen Folge von Kriegen zwischen den ein­ zelnen Stämmen des kargen Eilands. Die Kriegslust der Bewohner wurde »noch durch die Aussicht auf Festessen gesteigert, zu denen die Leichname der Gegner das Material lieferten«. Zu diesem Motiv trat noch der Fleischmangel. »Der Mensch bildete ja das einzige große Säugetier, dessen Fleisch auf der Insel zur Verfü­ gung stand.« Die Vergeltung, zu der solche kannibalischen Akte wiederum führten, das Racheverlangen der Hinterbliebenen, schloß den Teufelskreis, und so nahm der Brauch des Menschen­ essens unaufhörlich seinen Fortgang. Métraux, der die Osterinsel 1934 besuchte, nützte seinen Aufent­ halt, um nach Mythen über die Vergangenheit des Eilands zu forschen, und erzielte dabei eine reiche Ausbeute an anthropophagem Material. Eine Legende schildert einen Ausrottungskrieg zwischen den Lang- und Kurzohren. Die unteijochten Kurzohren lehnten sich gegen ihre Unterdrücker auf, und diese beschlossen, sie ein für allemal zu vertilgen. »Am Fuß der Halbinsel Poike hoben sie daher einen Graben aus, der sich von der Nordküste bis an die Südküste hinzog. Sie füllten ihn mit Zweigen und Gras aus, denn sie hatten die Absicht, hier die Kurz-Ohren zu dünsten. Nun lebte jedoch eine Kurz-OhrenFrau in Potu-te-rangi, wo sie mit einem Manne der Lang-Ohren verheiratet war. Ihre Verwandten und Freunde vom Stamme der Kurz-Ohren wußten nicht, warum man einen so gewaltigen Gra­ ben ausgehoben hatte, und fragten sich, wozu das Holz und Gras wohl dienen sollte, das man hineingefüllt hatte. Die Kurz-OhrFrau setzte ihrem Manne so lange mit Fragen zu, bis er ihr sagte, der Graben sei ein Ofen, in dem die Kurz-Ohren gedünstet werden sollten. In der gleichen Nacht noch ging die Frau zu ihren Ver­ wandten, um es ihnen zu berichten: >Ihr seht mein Hauswenn die Lang-Ohren das Feuer in ihrem Ofen angezündet haben werden, geht in ihren Rücken und greift sie von hinten her an! Stoßt sie dann in das Feuer! Und statt eines Festmahles aus Kurz-Ohren wird es ein Mahl aus Lang-Ohren geben !< Die Frau kehrte in ihr Haus zurück, indem sie sagte: >Ihr müßt jetzt schnell handeln !< Sie setzte sich dann vor die Tür ihrer Hütte mit einem Korb hin und tat so, als flechte sie. In Wahrheit wollte 113

sie jedoch ihre Leute bei Gefahr warnen. Als sie sah, daß die LangOhren sich zum Angriff rüsteten, gab sie ein Zeichen. Die KurzOhren zogen zu deren Haus und warfen sich auf die Lang-Ohren, die gerade das Holz und Gras auf dem Boden des Grabens ange­ zündet hatten. Von dem plötzlichen Angriff überrascht, leisteten diese nicht den geringsten Widerstand, sondern flohen vor ihnen. Doch wohin konnten sie sich wenden ? Sie stürzten in das Feuer, in dem alle von ihnen - Männer, Frauen und Kinder - um­ kamen.« Trotz solcher Kriegsgreuel aber war die Bevölkerung der Oster­ insel keineswegs ausgestorben, als der Holländer Roggeveen sie 1722 entdeckte. Ihre Zahl soll damals noch mehrere Tausend be­ tragen haben. Das Ende ihrer Kultur kam erst im 19. Jahrhundert. Am 12. Dezember 1862 lief eine kleine Sklavenfängerflotte in eine Bucht der Isla de Pascua ein, die Arbeitskräfte für den Abbau von Guano-Lagem an der peruanischen Küste beschaffen wollte. Von den an die tausend Verschleppten verstarben bei der Sklaven­ arbeit in der Fremde binnen weniger Monate alle bis auf hundert. Nach der Intervention eines katholischen Bischofs und der fran­ zösischen und englischen Regierung sahen schließlich fünfzehn Osterinsulaner ihre Heimat wieder - und brachten aus der Zivili­ sation die Pocken mit. In diesen Jahren sank die Bevölkerungszahl auf etwa sechshundert Seelen. Spät entsann sich die Zivilisation im Fall der Osterinsel ihrer kul­ turellen Mission. A. Métraux bemerkt zu dem Werk, das die bald darauf eintreffenden Missionare erwartete: »Diese physisch wie moralisch gebrochene Bevölkerung ohne Vergangenheit und ohne Zukunft dem Christentum zu gewinnen, ließ sich - wenn auch mit gewissen Anstrengungen - in verhältnismäßig kurzer Zeit erreichen.« Die Kannibalen waren dezimiert, der Kannibalismus war ver­ schwunden und die Osterinsel in die gesittete Welt aufgenommen.

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20 Lebend oder tot » Was kümmert uns, wenn wir einmal getötet sind, ob uns ein Soldat, ein Rabe oder ein Hund verspeist l« (Voltaire, aus dem Philosophischen Wörterbuch)

Der Kannibalismus scheint in die tiefste Niederung der Depravation zu sinken, wenn die Bereitschaft zum Menschenverzehr sich mit Grausamkeit eint, wenn Untaten sich zu Greueln steigern Anthropophagie als totale Aggression. Auf der Insel Ambitle im Bismarck-Archipel begann diese Roheit schon bei der Vorberei­ tung zum Mahl: Dort sollen Sklaven bei lebendigem Leibe in heißen Quellen gebrüht worden sein. Hans Staden meldet von einem Indianerstamm Waygannä, dessen Angehörige hätten »aus großem Hasse« gefangenen Feinden Arme und Beine abgeschnit­ ten, ehe sie sie totschlugen. Auf den Marquesas kam es vor, daß die Kannibalenhenker, wenn ihnen der »Priester« das Zeichen zum Anfängen gab, ihre Opfer noch lebend zerlegten. Die gleiche Fühllosigkeit wurde den Bewohnern der Fidschi-Insel Bau zu­ geschrieben. Nach einem Bericht konnten es dort einige Heiß­ hungrige nicht erwarten, daß die Öfen die richtige Hitze erreich­ ten ; sie rissen den Unglücklichen die Ohren ab und verschlangen sie im Angesicht der Opfer. Aus der gleichen Gegend berichtete der Methodistenmissionar Jaggar 1844 nach London: »Die Todgeweihten mußten ein Loch ausheben . . . und sodann Brennholz schlagen, mit dem ihre eigenen Leichen gebraten werden sollten. Darauf wies man sie an, sich zu waschen und anschließend aus einem Bananenblatt einen Pokal zu formen. Jedem Mann wurde eine Ader aufgeschnitten, und der Pokal war bald mit Blut gefüllt. Dieses Blut wurde nun - in Gegenwart der Dulder - von den Leuten aus Kamba getrunken.« Geradezu unglaublich klingt eine noch ärgere Steigerung, die man sich ebenfalls auf Fidschi ausgedacht haben soll: Den noch lebenden Opfern wurden Arme und Beine abgetrennt, die man am Feuer briet und vor den Augen der Verstümmelten verzehrte »oder [wie in einer Völkerkunde geschrieben steht] gar den Un­ glücklichen selbst zur Speise anbot!« Diese ausgeklügelte Tortur trug den Namen »vakototoga«. Von schlechthin unüberbietbarer Brutalität aber scheint ein Brauch des Dobodura-Stammes auf Neuguinea. Diese Papua waren bestrebt, Feinde möglichst nur leicht verwundet in ihre Gewalt zu bringen. Sie schafften ihre Beute nach Hause und brachten sie in gefesseltem Zustand in eigenen Hütten oder viel­ mehr Ställen unter. Jedesmal wenn einem Dobodura der Sinn 115

nach Menschenfleisch stand, suchte er eine der Speisekammern auf und schnitt sich ein Stück ab. Mit großer Fertigkeit wußten die Unmenschen zu verhindern, daß ihre Opfer vorzeitig ver­ bluteten; zuweilen brachten sie es zuwege, einen Gefangenen partienweise zu verspeisen und ihn dabei eine volle Woche am Leben zu erhalten. Gerade dieses Extrembeispiel zeigt jedoch, daß nicht die Marter­ lust im Vordergrund stand. Hauptmotiv für die Bestialität der Dobodura war der Wunsch, sich auf längere Zeit frisches Fleisch zu sichern. Der Grund, der die Batom und andere Stämme be­ wegte, ihre Gefangenen durch Eingießen von heißem Öl so grau­ sam zu töten, war der Glaube, auf diese Weise würde das Fleisch saftiger; sie verzehrten die Leichname erst, wenn das Palmöl sie ganz durchdrungen hatte. Ähnlich behaupteten Papua-Kanniba­ len, ein lebend Gebratener sei schmackhafter. Häufig aber standen nicht solche Motive »gastronomischer Lüsternheit« im Vorder­ grund. Wahrscheinlicher entsprangen derart »brutale« Akte dem Wunsch, »das Opfer gleichsam »mitten aus dem Leben heraus< zu essen« (E. Volhard). Ganz deutlich wird diese Absicht, wenn die geschmähten Fidschi-Insulaner Menschen brieten und dann »zum Hohn« als Lebende zurechtschminkten und so verspeisten. Nicht besinnungslose Rachsucht mithin, sondern vor allem Einverleibungs- und Identifikationsvorstellungen bestimmten diese Verirrungen - der Gedanke, sich nicht nur das Fleisch des so gräßlich Gemarterten einzufleischen, sondern auch etwas von seinem »Leben«.

Der geschilderte Teilverzehr lebender Menschen war jedoch selbst auf den Fidschi-Inseln die Ausnahme. Im allgemeinen töteten die Kannibalen ihre Opfer vor Tisch. Viel weiter verbreitet als das Essen Lebender in partibus scheint der Leichenkonsum gewesen zu sein. Und neben (nicht nächst!) den - wirklichen oder vermeint­ lichen - Formen sadistischer Anthropophagie ist es vielleicht die Gewohnheit des Totenessens, die in der zivilisierten Welt den höchsten Abscheu hervorruft. Sie blickt mit einem aus gekränkten Pietätsbegriffen und Ekel gemischten Entsetzen auf die Unsitte der Menschenbestattung in Menschen. So war es allerdings nicht immer. Gefaßter und duldsamer schrieb vor etwa 1800 Jahren Lukian: »Verschiedene Völker haben ver­ schiedene Begräbnissitten: Die Griechen verbrannten ihre Toten, die Perser begruben sie, die Inder salbten sie mit Gummi, die Skythen aßen sie, und die Ägypter balsamierten sie ein.« Von den Neuen Hebriden bis Nordamerika verzeichnen die Quellen Vorkommnisse des Leichenessens, als Sitte oder Einzel­ akte. Bei den Fidschi-Insulanern war, so heißt es, das Ausgraben von Leichen derart verbreitet, daß die Hinterbliebenen das Grab eines Anverwandten, der - was selten vorkam - nicht durch Ver116

zehr verstorben war, so lange bewachten, bis die Leiche in einen Zustand der Verwesung übergegangen war, der selbst den rück­ sichtslosen Appetit ihrer Mitbewohner dämpfte. Bei den Kwakiutl in Nordamerika, auf der Vancouver-Insel und dem gegenüber­ liegenden Festland, gab es eine eigene Menschenesserkaste, die Hametzen, die nur Söhne von Häutlingen und andere angesehene Mitglieder der Gemeinschaft aufnahm. Die Hametzen, deren Kannibalismus von ausgeklügelt ritueller Art war, verzehrten sogar Leichen, die bereits ein Jahr oder noch länger in der Erde gelegen hatten. - Den gleichfalls nekrophagen Bewohnern der Insel Efate (Neue Hebriden) attestierten Besucher aus zivilisierten Gegenden ebenso wie den Fidschi-Insulanern einen relativ hohen Kulturstand, an den leichenverzehrenden Kwakiutl lobt man die künstlerische Begabung. Indes, eine gewisse Kulturhöhe schließt Inhumanität nicht not­ wendig aus. Die Geschichte »zivilisierter« Greueltaten ist noch nicht an ihrem Ende angelangt. Das letzte Autodafé wurde vor gut hundert Jahren zelebriert. »Ich bin nicht ungehalten darüber, daß wir die barbarischen Greuel in solch einer Handlung brandmarken«, schreibt Michel de Mont­ aigne über die Untaten von Kannibalen, »wohl aber sehr, daß wir, die wir so gut über ihre Fehler urteilen, für die unseren so blind sind. Ich finde es eine ärgere Barbarei, einen Menschen lebend zu fressen, als ihn tot zu fressen, einen noch von Gefühlen be­ lebten Körper mit Foltern und Qualert zu zerreißen, ihn bei klei­ nem Feuer langsam zu rösten, ihn von Hunderi und Schweinen zerbeißen und zerfleischen zu lassen (wie wir es nicht nur gelesen, sondern in jüngster Zeit gesehen haben, und dies nicht unter alten Feinden, sondern unter Nachbarn und Mitbürgern und, was noch schlimmer ist, unter dem Vorwand der Frömmigkeit und der Rechtgläubigkeit), als ihn zu braten und zu verspeisen, nachdem er verendet ist.« Die authentische Stimme der moralischen Vernunft: Montaigne spricht die Menschenesser nicht frei, noch viel weniger verzeiht er den Kannibalen Exzesse der Grausamkeit, aber er verzeiht sie auch uns nicht, den stolzen Nicht-Kannibalen.

Menschentöten, Menschenessen, Leichenverzehr - welchem gilt der höchste Abscheu? In Meyer1s Konversationslexikon von 1869 stehen über die anthropophagen Fan zwei bedenkenswerte, auf­ schlußreiche Sätze: »... und zwar verzehren sie... auch ihre eigenen Verstorbenen,ja sie scharren die Leichen aus den Gräbern, um sie zu verspeisen. Weniger scheußlich war es, wenn die Karaiben ... in der Verspeisung ihrer Feinde die höchste Befriedigung ihrer Rachsucht fanden.« * * Hervorhebungen durch den Verfasser. II7

Europäische Reisende haben bei den Mangbetu betroffen konsta­ tiert, daß in ihrem Land die Gräber fehlten. Die gleiche Klage fuhrt Livingstone über andere afrikanische Stämme. Das Wohn­ gebiet der Bageschu nördlich des Viktoriasees galt ebenfalls als grablos. Und so weiter. Die reisenden Forscher hätten sich ihre Betroffenheit sparen können, denn die Beerdigung ist ja bekannt­ lich nur eine von etlichen Formen der Totenbestattung. Bei den Parsen hätte man ebenso vergeblich Gräber gesucht wie bei vielen »primitiven« Stämmen, welche die Leichen ihrer Verstorbenen aussetzten oder, wie in Neuguinea, in freier Luft, auf einer Baum­ plattform, verwesen ließen. Die fehlenden Gräber der Mangbetu sind mithin schwerlich Be­ weis genug, daß sie ihre verewigten Angehörigen gierig zu ver­ schlingen pflegten, sondern allenfalls Hinweis auf eine andere, dem heutigen Zivilisierten ungewohnte Bestattungsart. Und: Auch in Europa war das Erdgrab nicht immer der einzige Toten­ aufenthalt. Der Abscheu vor dem Gedanken, daß man Tote verzehren könne, hat viele Beobachter und auch die Völkerkunde in ihren Anfängen davon abgehalten, dieser Gruppe von Gebräuchen auf den Grund zu gehen. Das Leichenessen war und ist für uns schandbar, ein Greuel. Punktum. Der Mord an Angehörigen, nicht nur bei »Pri­ mitiven« vorkommend, wird verurteilt. Die Verspeisung ver­ storbener Anverwandter, die nur bei »Primitiven« vorkam, wird nicht verstanden. Es ist nicht leicht, bei konkurrierenden Greueln zu entscheiden, welchem man den größeren Abscheu zuwenden soll. Aber viel­ leicht folgt die Patrophagie (Verwandtenverspeisung), eine Son­ derform des Leichenessens, dicht hinter dem Kinderverzehr (und vor dem Kindsmord?). »Es kann uns kaum verwundern«, schreibt K. Birket-Smith in seiner Geschichte der Kultur, »daß gerade diese Art des Kannibalismus als ganz primitiver Zug gedeutet worden ist, als Folge eines noch fast tierischen Gedankenganges, dem »Fleisch Fleisch ist«, um so mehr, als man bisweilen den natür­ lichen Tod alter Verwandter nicht abwartet, sondern selber nach­ hilft, indem man sie in eine andere Welt befördert.« Natürlich käme es der Entrüstungsbereitschaft zustatten, wenn solche Leichenschmäuse aus purer Menschenfleischgier abgehalten worden wären. Doch genauere Beobachtung hat gezeigt, daß rein kulinarische Wünsche in den allerseltensten Fällen Triebfeder der Nekrophagie waren. Soweit die Motive überhaupt geklärt sind, zeichnen sich zwei Gruppen von Beweggründen patrophagen Menschenessens ab: Motive, die sich primär entweder auf den Toten oder auf seinen Esser beziehen. Zuneigung oder der selt­ same Wunsch, den Abgelebten zu ehren, sind Beispiele der ersten Art, Trauer, Einverleibungsvorstellungen und Identifikations­ wünsche, ja Angst solche der zweiten.

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Der Verzehr teurer - oder auch nicht ganz so teurer - Dahinge­ schiedener durch die Hinterbliebenen entsprang, wie manche For­ men des Leichenessens aus extremer »Rachsucht« oder unauslösch­ licher Feindschaft, in vielen Fällen dem Wunsch, die Wiederkehr zu verhindern durch »Vertilgung« im doppelten Wortsinn. Nur der eigene Leib schien dem Essenden der wahrhaft sichere Ge­ wahrsam. Dem »primitiven« Menschen war ja die Vorstellung von einem Weiterleben Gestorbener (etwa, schlicht beobachtet, als Geist) nicht fremd. Furcht vor dem Tod und dem Toten, dem lebenden Leichnam, prägte sich aus in vielerlei Gesten und Hand­ lungen. Dem Toten die Augen zuzudriicken, bei uns - heute! eine höchst pietätvolle Sitte, wurde bei »Wilden« als Vorsichts­ maßnahme gedeutet, um dem Abgeschiedenen eine Rückkehr in die Welt zu verwehren. Derselben Absicht dienten Fesselung oder Verstümmelung von Leichnamen vor ihrer Bestattung. Die Bagesu im ehemaligen englischen Protektorat Uganda be­ trauerten den Verstorbenen drei oder vier Tage im Totenhaus. Darauf kochten sie das Fleisch und verzehrten es. Wenn der Leich­ nam in der Erde verwese, so erläuterten sie ihren Brauch, mache der Geist die Gegend um das Grab unsicher und würde zur Strafe, weil man die Leiche nicht gegessen hatte, die Kinder mit Krank­ heiten schlagen. Die Einstellung »Primitiver« zu Toten scheint »in ungewöhn­ lichem Maße von einer Zwiespältigkeit geprägt, die mit sich bringt, daß man einerseits vor ihnen als vor etwas Lebensfeind­ lichem und Grauenerweckendem instinktiv zurückweicht, zu­ gleich aber sich weiterhin mit ihnen verbunden fühlt, außerstande, die Bande völlig zu zerreißen, die im pulsenden Leben Bruder mit Bruder und Mutter mit Kind verbanden« (K. Birket-Smith). Und ähnlich vermischten sich Angst und Pietät auch im Leichen­ kannibalismus. Magisch-medizinische Vorstellungen vereinten sich mit Trauer, wenn die australischen Ureinwohner am Peak River ihre verstor­ benen Kinder verzehrten. Sie müßten dies tun, so rechtfertigten sich die Kinderesser, weil sonst ihr Kummer kein Ende fände. Bei vielen australischen Stämmen war die Sitte des Leichenver­ zehrs, die so viel zum barbarischen Ruf - und zur entsprechenden Behandlung - der Eingeborenen beitrug, Akt und Ausdruck des Respekts vor dem Verstorbenen. Wenn ein Dieri begraben wurde, aßen die Hinterbliebenen, in streng geregelter Reihenfolge, eine kleine Menge des Körperfetts. »Wir essen ihn«, so erklärte ein Mitglied des Stammes den Brauch, »weil wir ihn kannten und weil wir ihn gern hatten.« Ein Liebesschmaus wurde bei Stämmen in Queensland geübt. War ein Mädchen oder eine junge Frau verschieden, bemalten sich die männlichen Verwandten und Freunde der Toten mit weißer Paste und verzehrten bestimmte

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Teile des Leichnams. Die »Bestialität« der Dien ging, wie schon frühen Beobachtern auffiel, nach einem strengen Reglement vor sich. Keine Spur von wahllosem Kannibalismus, gierigem Lei­ chenverschlingen. Nur die Mütter, nicht die Väter, durften (muß­ ten?) von verstorbenen Kindern essen, Söhnen war der Verzehr ihrer toten Eltern verwehrt. Daß die wegen ihrer anthropophagen Sitten verrufenen Neuguineaner auch getötete Anverwandte verzehrten, fugt ihrer Repu­ tation nur eine weitere Facette vermeintlicher Barbarei hinzu. J. H. P. Murray, stellvertretender Gouverneur und oberster Rich­ ter in Papua, berichtet ein besonders krasses Beispiel, das sich in der Nähe von Fort Moresby zutrug. Ein junger Mann war in einen Fluß gefallen und von einem Krokodil ergriffen worden. Da der tierische Menschenfresser jedoch nur einen Teil der Beute verschlang, konnte man den Rest der Leiche bergen. Die junge Frau des Opfers, seine Kinder, Eltern und einige nahestehende Freunde versammelten sich am Ufer und verzehrten, krokodil­ gleich, was das Reptil übriggelassen hatte. Als man sie befragte, warum sie diesen scheinbar so herzlosen Akt begangen hätten, antworteten sie erstaunt und unbefangen: »Aus Liebe.« Mitmenschenverzehr aus zarter Fürsorge erfahren wir aus Afrika, einige Meilen westlich vom Lomami. Der Gründer des betreffen­ den Stammes, Kongoie mit Namen, verspeiste, so geht die Sage, seine eigene Mutter. Er argumentierte, es sei möglich, daß er im Kampf falle, und er wolle die Mutter nicht ohne Ernährer zurück­ lassen. Später dachte er ähnlich vorsorglich für sämtliche Mütter seines Stammes. Eines Tages hieß er sie, mit ihren Säuglingen sich auf dem Dorfplatz einzufinden. Die Mütter mußten sich am Rand des Platzes versammeln, die Kinder wurden in die Mitte gebracht. Jedes Baby, das seine Mutter erkannte und auf sie zu krabbelte, durfte am Leben bleiben. Die übrigen wurden auf Geheiß des Häuptlings als lebensuntüchtig umgebracht und verspeist. Trauer, Liebe und aus beidem entspringendes Einverleibungsverlangen - andere Motive sind schwer denkbar für ein Verhalten von Eltern, von dem uns G. F. Angas aus der Gegend der Moreton Bay in Australien berichtet. Man schlug einem gestorbenen Jun­ gen den Kopf ab und entledigte ihn seiner Haut, die an einem kleinen Feuer geröstet wurde. Anschließend briet man die Len­ den, welche die Eltern aßen. Leber, Herz und Eingeweide erhielten die Krieger. Die Ritualisierung dieses kannibalischen Brauchs widerlegt die Vermutung, die Beteiligten hätten ihren uns ab­ stoßenden Akt aus niedrigen Beweggründen vollbracht. Angas schildert die Eltern beim Verzehr ihres Kindes als »laut klagend und weinend«. »Für den Philosophen Hegt das Verbrechen nicht darin, den Men­ schen zu essen, sondern vielmehr ihn zu töten« (Paul Broca).

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Größere Empörung mithin als den Leichenessem müßte den Kan­ nibalen gelten, die um des Essens willen töteten. Bei den Hill-Anga in Nigeria herrschte eine Gepflogenheit »von fast liebenswerter Art«. Sie ließen die alten Männer des Stammes von einem »Henker« aus einem entlegenen Teil der Siedlung (ge­ gen Bezahlung) umbringen und verzehrten dann das Fleisch in feierlicher Form. Dahinter stand die Absicht, den alten Leuten ein Leben zu ersparen, das sich nicht mehr lohnte; sie sollten die Erde verlassen, solange sie noch bei Kräften waren. Allein der Kopf der Getöteten wurde nicht gegessen, sondern in einem Topf aufbewahrt, vor dem die Hinterbliebenen in regelmäßigen Ab­ ständen Opfer darbrachten und Gebete sprachen. Ähnlich hielten es, nach Herodot, schon die Massageten am Kas­ pischen Meer. Bei ihnen galt das Erdbegräbnis sogar als Schmach, die ungenießbaren Kranken Vorbehalten blieb. Über das Lebens­ ende der alten Leute, die noch gesund waren, und ihre Einstellung dazu schreibt der griechische Historiker: »Die Lebensgrenze setzen sie sonst nicht fest; wenn aber einer gar alt geworden ist, kommen alle seine Angehörigen zusammen, um ihn zu schlachten und sonst noch Vieh dazu; dann kochen sie das Fleisch und schmausen es auf. Das gilt ihnen für das größte Glück. Endigt einer an Krankheit, den essen sie nicht auf, sondern bergen ihn in der Erde, mit großem Leid, daß er nicht bis zur Schlachtung gekommen ist.«

Leichenessen wurde vielerorts mit dem zusätzlichen Motiv geübt, dem Toten durch Identifikation verbunden zu bleiben. Gerade der urtümliche Brauch innerhalb des Verwandtenessens, dem natürlichen Tod zuvorzukommen, und die Lieben noch in ihrer letzten Lebensblüte zu ent- und sich selbst einzuverleiben, zeigt dieses Bestreben deutlich. In abgeschwächter Form drückt sich der Identifikationswunsch aus, wenn man den Toten Menschen­ opfer auf dem Grab darbrachte, deren Fleisch zur Hälfte den Verstorbenen als Wegzehrung mitgegeben und zur anderen von den Trauernden verzehrt wurde - ein letztes gemeinsames Band mit den Entfernten. Dazu bemerkte E. Volhard; »Durch die Teil­ nahme an der Speise der Toten vollzieht der Lebende eine Kom­ munion oder Identifikation mit dem Gestorbenen, die der Groß­ artigkeit nicht entbehrt ...« Kann es sein, daß Menschen sich Menschen zum Essen anboten ? Wir haben bereits von dem Majo-Indio gehört, der seine christ­ liche Taufe bereute, weil er nun den Würmern zum Fraß werden müsse. Nach den vorliegenden Berichten gab es viele, die sich selbst zum Leichenschmaus offerierten, freilich wünschten sie zu­ meist in der Familie zu bleiben. Auf Sumatra luden angeblich lebensüberdrüssige alte Leute ihre Kinder ein, sie zu verzehren. 121

Die Greise der südamerikanischen Kaschibo, heißt es, hatten nichts dagegen einzuwenden und freuten sich angeblich schon lange vor­ her auf die Todesstunde. Der große Kosmograph Strabo bestätigt Herodots Angaben über die Altentötungen bei den fernen Massageten und präzisiert noch, sie seien zusammen mit Hammelfleisch gehackt und verspeist worden. Über eine andere nach seinen Begriffen »primitive«, weil ferne und fremdartige Gegend weiß Strabo zwar »nichts Gewisses zu berichten«, schreibt aber bündig: »... daß ihre Bewohner noch roher sind als die Britannier, indem sie sowohl Menschen- als Vielfresser sind und es für rühmlich halten, ihre verstorbenen Eltern zu verzehren.« Strabo spricht von »Hibernien«, also Irland. Noch vor zweitausend Jahren mithin Verwandten verzehr als Sitte am Rande Europas? Waren die Kannibalen näher, als wir dachten?

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Festliches Fleisch »Ihre Begründung liegt im Bedürfnis des Menschen nach zeitweiliger Erholung, innerer Besinnung und seelischer Erhebung.« (Der Große Brockhaus 1950 über Feste)

»Ritueller« Kannibalismus ist ein doppeldeutiger Ausdruck: Man kann darunter ebenso die Rituale um den Kannibalismus wie eine zeremonielle Spielart der Anthropophagie verstehen, vielleicht klarer: festliches Menschenessen. Auch wenn man dem Menschenverzehr aus religiös bestimmtem Anlaß einen eigenen Platz einräumt, bleibt eine große Anzahl privater wie öffentlicher Handlungen, die mit kannibalischer Um­ rahmung begangen, eben gefeiert wurden. Vom Erhabenen (Tem­ pelbau) bis zum eher Läppischen (Stapellauf eines Kanus, Abga­ benablieferung), von der Wiege bis zum Grabe begleitete festlicher Kannibalismus das Leben anthropophager Individuen und Ge­ meinschaften, und immer als eine jedes Glied verpflichtende Sitte. An der Beachtung gemeinsamer Feste hat ja von jeher und aller­ orten der Gemeinschaft mehr gelegen als an mancherlei Wichti­ gerem. Kannibalisches Ritual verrieten schon die Eßbestecke der FidschiInsulaner. Sie zeigen, daß das Fleisch des Menschen als etwas Be­ sonderes, ja Heiliges galt. Unmöglich, verboten war es, sich ihm mit den bloßen Fingern zu nahen. Feierlicher Trommelschlag nach einem ganz bestimmten Rhythmus lud auf dem Archipel 122

zu Menschentafeleien ein. Doch nicht nur darin zeigt sich, daß die Anthropophagie auf der Inselgruppe - entgegen so vielen Berichten - nichts Alltägliches war. Die Erzählungen der Missio­ nare verschwiegen, verständlicherweise, daß man die Leichname, die zum Essen bestimmt waren, mit Liedgesang und obszönen Tanzdarbietungen zum Tempel brachte. »Weiber und junge Mäd­ chen führten sie auf, indem sie singend mit Stäben die Scham­ glieder der Leichen berührten«, bemerkte Th. Waitz. »Derartige obszöne Gebräuche finden wir mehrfach, wobei man abgesehen von den obszönen Namen der Gabeln daran denkt, daß im übrigen Melanesien die Scham dem Könige, dem Besieger zugehörte; man legte ihr also besonderes Gewicht bei. Ursprünglich sind gewiß diese Gebräuche nicht obszön gewesen, und sie hängen wohl damit zusammen, daß die Scham als das lebenspendende ursprünglich das den Göttern geweihte Glied war ...« Den Tanz als kultische Umrahmung des Menschenessens und dies selbst als festliches Ornament zeigt ein Beispiel von der Elfenbein­ küste, das aus dem 19. Jahrhundert berichtet wird: »Wollen sie ein neues Dorf gründen, so wählen sie einen Gefan­ genen oder kaufen einen solchen aus einem Nachbardorf. Das Opfer berauschen sie mit Palmwein und fuhren es dann zum Opferplatz. Dann tanzen die Männer unter dem Gesang der Wei­ ber um den an einen Baum gebundenen Gefangenen herum und bringen ihm Wunden bei. Darauf schneidet ihm der Beherrscher des neuen Dorfes den Kopf ab. Der Leib wird aufgeschnitten, Eingeweide, Herz und Leber nebst einer dem Fetisch geweihten Henne und einem Fisch in eine große Bratpfanne gelegt. Der Körper wird in den Busch geworfen. Alle Anwesenden müssen bei Androhung des Todes im Verlauf eines Jahres an diesem ent­ setzlichen Mahl teilnehmen« (H. Hecquard). Feste begleiten das Leben der Kannibalen so gut wie das Leben von Nicht-Kannibalen. Doch ihr auch uns begreifliches Bedürf­ nis nach Feiern als Ausgleich für die Monotonie des Alltäglichen verlangte das stärkste, das unbegreifliche Stimulans - Menschenschmäuse. Auf Neuseeland opferte und verzehrte man bei Ge­ legenheit einer Geburt einen Menschen. Gebräuchlich waren solche Zeremonialmahlzeiten auch beim Tätowieren eines jungen Mannes, der eine angesehene Stellung in der Gemeinschaft inne­ hatte. E. Tregear, der für sein Buch The Maori Race eingehende Studien betrieb, berichtet, daß die neuseeländischen Uenuku sogar das Herz eines Geopferten verzehrten, wenn - offenbar ein hoch­ bedeutsamer Akt - die Lippen einer Häuptlingstochter tätowiert wurden. Ein wichtiger Markstein im Leben eines jungen »Primitiven« war die Initiation verschiedenster Art (auch Jünglingsweihe etc. ge­ nannt) und nicht unvergleichbar unseren christlichen Riten der 123

Firmung oder Konfirmation. Wie schon erwähnt, begannen auf der Yam-Insel die Jünglinge ihr neues Lebensstadium mit dem feierlichen Genuß von Gehacktem aus Krokodil- und Menschen­ fleisch. (Der Sinngehalt dieses Aktes - dem Initianten ein starkes Herz zu verleihen - scheint gar nicht so weit von der ursprüng­ lichen Bedeutung des Backenstreiches bei der katholischen Fir­ mung entfernt, mit dem der Firmling zum Krieger Christi ernannt wurde.)

Als feierliches Zubehör begegnen wir anthropophagen oder nachanthropophagen Akten beim Abschluß von Pakten. Blut und Fleisch eines Menschen besiegelten und heiligten Bündnisse mit besonderer magischer Kraft. Herodot informiert uns über das Ritual beim Abschluß eines Freundschaftsbundes bei den - für griechische Begriffe damals »wilden« - Skythen: »Sie gießen Wein in einen großen irdenen Humpen und mischen darein das Blut derer, die den Bund schließen, durch einen Stich mit einem Pfriem oder einen leichten Einschnitt mit einem Messer in die Haut, worauf sie in den Humpen einen Säbel, Pfeile, eine Streitaxt und einen Wurfspieß eintauchen. Haben sie das getan, so erheben sie große Beteuerungen, und dann trinken es die den Bund beschwören wie auch die Achtbarsten aus ihrem Gefolge.« Mit solcher Kümmerform begnügte man sich nicht allenthalben. Auf Timorlaut glaubte man Bündnisse nur mit kannibalischem Nachdruck abschließen zu können. Man verspeiste einen Sklaven und das getrocknete Fleisch eines im Kampf Gefallenen in feier­ licher Form. Auf Malekula (Neue Hebriden) verlangte die Bei­ legung einer Blutfehde zwischen zwei Dörfern den Austausch zweier kleiner Knaben, welche dann die Kontrahenten zum Zei­ chen ihrer künftigen Friedfertigkeit verzehrten. Nicht nur Friedensschlüsse und Dorfgründungen machten den Verzehr eines Menschen notwendig. Er war auch unerläßlich bei geringfügigeren Anlässen wie der »Einweihung« eines Hauses oder dem Stapellauf eines Schiffleins, als eine die Götter oder das Glück beschwörende Geste. Regelmäßig opferte man auf dem FidschiArchipel Menschen, wenn ein neugebautes Kanu ins Wasser glitt. Alfred St. Johnston berichtet mit großer Liebe zum Detail über die Blutbäder, die den Stapellauf eines Kanus begleiteten. Zu­ nächst mußte ein Opfer das Leben lassen, wenn das Gefährt auf Kiel gelegt wurde, falls der Besitzer ein angesehener Häuptling war. Dann wurde für jedes Brett, das hinzugefügt wurde, ein Mensch dargebracht. Nicht genug damit, man benutzte Menschen als Walzen, wenn das fertige Kanu zu Wasser gelassen wurde. Sodann waren weitere Opfer vonnöten, um das Deck mit Blut abzuwaschen und Material für das Festmahl zu liefern, mit dem der Stapellauf gefeiert wurde. Ferner wurden Opfer geschlachtet,

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sobald man den Mast zum erstenmal einholte. St. Johnstons Schil­ derung, so maßlos sie scheinen mag, wird auch von anderen Gewährsleuten bestätigt. (Dennoch ist sie mit Vorbehalt aufzu­ nehmen, denn er war ein Zeuge von merkwürdiger seelischer Disposition, der kannibalische Greuel eher übertrieb.) In bescheidenerer Menge aß man auf Neuseeland aus rituellem Anlaß Menschen. Dort ebenfalls, um die glückliche Fahrt eines Schiffes zu sichern, wenn ein Baum gefällt wurde, der für das Kanu eines angesehenen Häuptlings bestimmt war. Und, noch trivialer, man feierte kannibalisch die Vollendung eines Hausbaus. Menschenfleisch zum Richtfest.

Der Zeremonialverzehr von Menschen zog in Kannibalenlanden schließlich auch ins öffentliche Leben ein, als bedeutungsvolles Dekor von »Staatsaktionen«. Keine Amtshandlung ohne Anthro­ pophagie, warf man den Fidschi-Bewohnern vor. »Kam ein vor­ nehmer Fürst von einer Reise an«, so weiß Th. Waitz’ Anthropo­ logie der Naturvölker, zur Ablieferung der Abgaben, die mit einem Fest begangen wurde, »bei all diesen Gelegenheiten war es ge­ bräuchlich, Menschen zu töten und zu essen«. Die Ausschmückung des Regierungsantritts eines Häuptlings mit­ tels Menschenverspeisung wird, merkwürdig genug, nicht von der Fidschi-Gruppe gemeldet, sondern aus verschiedenen Gegen­ den Afrikas. Bei Stämmen im Kamerun soll ein neuer Häuptling die volle Sanktionierung seiner Gewalt erst erlangt haben, wenn er einen - oder auch mehr - Menschen »sei es offen oder meuch­ lings umgebracht« und den Leichnam samt Eingeweiden an seine Verwandtschaft und die Häuptlinge in der Umgebung als feier­ liches Geschenk verteilt hatte. Festbedürfhis vereinte sich bei den Kimbunda im portugiesischen Westafrika mit Zauber- und Einverleibungsvorstellungen. Unter Opfergebräuchen, bei denen der Kannibalismus eine wichtige Rolle spielte, brachte man beim Amtsantritt eines neuen Häupt­ lings den tapfersten der auf Lager gehaltenen Kriegsgefangenen dar, um eine glückliche Regierung zu gewährleisten und des »Fürsten« Kraft und Mut zu stärken. Ein Augenzeuge, L. Magyar, berichtet über einen solchen Fall: »Der Wahrsager zerlegt den Rumpf, reißt die Eingeweide heraus und weissagt daraus. Dann werfen seine Gehilfen die Eingeweide weg, mit Ausnahme des Herzens. Endlich wird der Kadaver in kleine Stücke zerschnitten und unter die anwesenden Hokafuhrer verteilt, wobei der Wahrsager Sorge trägt, daß jeder außer dem Stück Fleisch auch etwas vom Herzen bekomme. Der Fürst und die Häuptlinge mischen das erhaltene Menschenfleisch mit Hundeund Rindfleisch, kochen es an den vielen Feuern und essen es. Sie glauben, nun infolgedessen eine solche Kraft zu erlangen, daß sie immer mit Erfolg gegen ihre Feinde kämpfen werden.«

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Nicht weiter auf den Grund gegangen, was den Sinngehalt be­ trifft, ist man einer ganz ähnlichen Meldung aus Angola, wo nach portugiesischer Darstellung zum Regierungsantritt eines neuen Soba ein alter fetter Mann geschlachtet wurde. Das Fleisch des Opfers vermengte man mit Kuh- oder Schweinefleisch. Dieses Gericht verzehrte der Oberhäuptling mit seinen Vasallen, und nach diesem Ritualakt besaß er Gewalt über Leben, Tod und Fleisch seiner Untertanen, »die Macht eines unumschränkten Des­ poten, der die gleiche Prozedur mit allen seinen Untertanen vor­ nehmen könnte«. Kannibalische Handlungen in Verbindung mit Bestattungen »funeraler Kannibalismus« - wurden, wie erwähnt, auf den Mar­ quesas geübt. Drei Menschen opferte man beim Tode eines Prie­ sters (dem schon der Verzehr anderer Menschenopfer nicht zur Genesung verholfen hatte). Der Missionar G. Brown, der sich eingehend mit den Motiven des melanesischen Kannibalismus beschäftigte, kam zu dem Ergebnis, die Anthropophagie in dem Inselreich sei »im allgemeinen ein quasireligiöser Ritus und [wird] in den meisten Fällen geübt, um eine Pflicht gegenüber den Gei­ stern der Toten zu erfüllen«. »Funerales« Menschenessen, häufig mit anderen Motiven wie Racheverlangen verknüpft, galt dem Abgeschiedenen - die Kannibalen aßen stellvertretend die ihm bestimmte Wegzehrung. Rituell stilisiert erscheint diese Sorge um den Verstorbenen, wenn das Blut von Menschenopfern über seinem Grab vergossen wurde. Noch wurden zwar Menschenopfer geschlachtet, aber weder von Hinterbliebenen noch von Verstorbenen »verzehrt«. Der Sinn der Sitte sank ins Unbewußte, der Anfang vom Ende eines Brauchs war gekommen. Und schließlich mußte einmal auch das Schlach­ ten aufhören. Die Toten blieben hungrig.

22 Überall Numantia » Wie viele Künste bat uns nicht schon der Hunger gelehrt le (François Nodot, Ergänzungen zum Satyrikon des Petronius)

Am 13. August 1521 eroberte Hemän Cortez Tenochtitlan, das heutige Mexiko City, und zerschlug damit das Aztekenreich. Cortez erkaufte die Beseitigung der abstoßenden Menschenop­ ferungen mit Hekatomben von Menschenopfern: Man hat die 126

i Zahl der bei der Belagerung von Tenochtitlän Umgekomme!nen auf 120000 bis 240000 geschätzt. Ein unverdächtiger Zeuge, ICortez selbst, berichtet über seinen Triumph: »Man konnte den ¡Fuß nicht niedersetzen, ohne auf den Leichnam eines Indianers zu I treten!« ¡Die heldenmütige Verteidigung der Stadt durch Guatemozin, : den letzten Herrscher, die Unbarmherzigkeit der spanischen Be­ lagerer und die Behandlung, die sie Montezuma und Guatemozin angedeihen ließen, haben bis heute das Bild der zum Untergang verurteilten Azteken mehr geprägt als die Greuel ihrer Religion. Welche Leiden die Eingeschlossenen in ihrem letzten Verzweif­ lungskampf auf sich nahmen, schildert bewegend W. Prescott in seiner Eroberung von Mexiko. »Einige erzwangen eine dürftige Nahrung aus einem schleimigen Stoffe, den man in geringer Menge auf der Oberfläche des Sees und der Gräben sammelte. Andere stillten den wütenden Hunger durch den Verzehr von Ratten, Eidechsen und ähnlichen ekel­ haften kriechenden Tieren, welche die verhungernde Stadt noch nicht verlassen hatten ... Von allem diesem überzeugten sich die Spanier, als sie tiefer in das Innere der Stadt vordrangen und sich dem Bezirke von Tlatelolco näherten, den die Belagerten jetzt besetzt hielten. Sie fanden den Boden nach Unkraut und Wurzeln aufgewühlt, die Bäume von ihren grünen Schößlingen, ihrem Laube und ihrer Rinde entblößt ... Zu ihrem Lobe er­ zählen die spanischen Schriftsteller, daß sie in ihrer Not nicht zur Verletzung der Naturgesetze, einander aufzuessen, getrieben wur­ den. Aber leider widersprechen dem die indianischen Gewährschaften, welche behaupten, daß manche Mutter in ihren Qualen das Kind verzehrte, das sie nicht mehr zu erhalten imstande war. Dies wird in der Geschichte von mehr als einer Belagerung berichtet; und hier ist es um so wahrscheinlicher, wo das Gefühl durch die Teil­ nahme an den Gebräuchen des volkstümlichen Aberglaubens ab­ gestumpft gewesen sein muß.« . Prescott irrt zwar, wenn er meint, die religiös bestimmte Anthro­ pophagie habe der Bevölkerung von Tenochtitlän die Verspei. sung der eigenen Kinder leicht gemacht; die Patrophagie war den Azteken ebenso ungewohnt und ein Greuel wie jedem Zivi­ lisierten. Aber er bemerkt zutreffend, daß solche extremen Selbst­ entäußerungen wiederholt bei Belagerungen vorkamen, wenn die Bedrängten nicht zuletzt durch die Brutalität ihrer Feinde an den Rand des Wahnsinns gebracht wurden. ; Cortez, den die Anthropophagie der Azteken in ihrer höchsten Not mit unnachgiebiger Empörung erfüllte, mußte sogar erleben und dulden, daß seine eigenen indianischen Hilfstruppen »ihre mäßige Kost gelegentlich durch einen Schmaus von Menschen­ fleisch verstärkten, wozu ihnen das Schlachtfeld unglücklicher-

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weise nur zu oft verhalf« (W. Prescott). Die Entschlossenheit, die Belagerten gänzlich zu vernichten, nötigte ihn, ein unchristliches Auge zuzudrücken. »Not kennt kein Gebot« — Not kannte auch kein Verbot des Men­ schenessens, zwar nicht immer, aber häufig. So zweifelhaft Nahrungs- und Fleischmangel als Ursache kannibalischer Sitte scheint, so unzweifelhaft haben Umstände äußerster Drangsal nicht nur bei Belagerungen, sondern auch bei Kriegszügen, Schiffbrüchen und in ähnlichen Grenzsituationen zu anthropophagen Akten ge­ führt und die sogenannten Naturgesetze durchbrochen - in »wil­ den« so gut wie in zivilisierten Gegenden. Für die Völker- und Kulturkunde mögen solche vorübergehen­ den Erscheinungen des Menschenessens Phänomene wie Vulkan­ ausbrüche sein, oder auch ein physiologisches oder psychopatho­ logisches Problem. Für die Kenntnis vom Menschen (und wie weit er gebracht werden kann) sind sie gleichwohl von allgemei­ nem Interesse. Als ein Beispiel für endemisches Menschenessen aus Hunger könnte (wenn nicht andere Beobachter zu anderen Ergebnissen gelangt wären) das Verhalten der Bewohner Feuerlands gelten, mit denen Charles Darwin während seiner Weltreise 1831-1836 Bekannt­ schaft machte. Sie waren »die jämmerlichsten, kläglichsten Ge­ schöpfe, die ichje gesehen«! Oft zogen die Feuerländer Tagesreisen über Land, um einen Walkadaver auszuweiden, ein Glück, das ihnen nicht häufig beschieden war. Unter solchen Lebensum­ ständen, meint der Ethnologe F. Ratzel, sei, was potentiellen Kannibalismus betrifft, »das Gewicht der apriorischen Wahr­ scheinlichkeit sehr groß. Sind doch selbst im Schoße der höchst­ zivilisierten Völker Fälle von Menschenfresserei als Folge großer Notstände vorgekommen!« Das »Gewicht der apriorischen Wahrscheinlichkeit« brachte den präzisen Natur- und nicht ganz so präzisen Menschenbeobachter Darwin zu der bündigen - und vielfach bestrittenen - Behauptung: »Im Kriege sind die Stämme Kannibalen.« Er erfuhr von zwei Feuerländern, wovon sich ihre Stammesgenossen im Winter an­ geblich ernährten: nicht von Hunden, sondern alten Frauen. »Als [Kapitän] Low den Knaben nach der Ursache fragte, ant­ wortete dieser: >Hunde fangen Ottern, alte Weiber nicht.< Nach der Beschreibung dieses Knaben werden sie über Rauch gehalten und so erstickt; er ahmte ihr Geschrei zum Scherz nach und be­ schrieb die Körperteile, die am besten zu essen seien. So schreck­ lich man sich auch solch einen Tod von der Hand der Freunde und Verwandten vorstellen muß, so ist der Gedanke an die Qualen der alten Frauen, wenn der Hunger zu drücken beginnt, doch noch viel entsetzlicher. Es wurde uns erzählt, daß sie dann oft in die Berge Hefen, von den Männern aber verfolgt und in das

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Schlachthaus zu ihrer eigenen Feuerstätte zurückgebracht wür­ den.«

I |Der Vater des Kannibalismus war in zahlreichen Fällen der Krieg. ¡Als der spanische Konquistador Diego de Almagro einen Zug ¡nach Chile unternahm, um sich dort eine eigene Statthalterschaft ' zu erobern, kam es unterwegs zu einer Hungerkatastrophe in i seiner Schar. Die überlebenden Indios verzehrten die Leichen ihrer gestorbenen Kameraden, und die Spanier wurden vor solcher Selbstschändung nur dadurch bewahrt, daß sie sich an die Pferde halten konnten, die in den verschneiten Bergpässen erfroren waren. Daß den Indios gestattet worden wäre, ebenfalls mit Pferdefleisch ihr Leben zu fristen, davon ist nichts bekannt. Anderwärts in Südamerika blieben auch die Spanier, trotz Roß­ verzehrs, nicht von der Anthropophagie verschont. Über die Nahrungsmittelknappheit bei der Gründung der Stadt Buenos Aires schreibt Ulrich Schmidel: »Es begab sich, daß drei Spanier ein Ross empfurten und dasselb heimlich assen und als mans von yhnen gewar wurt, wurden sie gefangen unnd mit schwerer pein gefragt, das sie solliches be­ kennten, wurden alsdann geurteilt zum galgen, das mans al drei hieng. Auff die nacht sind anndere Spanier zu diesen dreien gehenckten zum galgen khumen unnd yhnen die schenkl abgehautt unnd stückh fleisch aus inen geschnieten zur ersettigung ires hungers. Item, ein Spanier ässe seinen prüder, der da gestorben war in der stat bonas Ayres.«

Der »notgedrungene« Kannibalismus hat sich Europa bedenklich genähert: Noch im 16. Jahrhundert aßen Spanier andere Spanier, ja gar das eigene Fleisch und Blut. Es ist an der Zeit, wieder ins wüste Altertum zurückzukehren. - Herodot berichtet von Massen-Anthropophagie in Ägypten. Im dritten Buch der Historien beschreibt er den Feldzug des Perserkönigs Kambyses gegen die Äthiopier, bei dem die notwendigste Vorsorge für die Verprovian­ tierung der Tnippen außer acht gelassen wurde. Kambyses * Kriegs­ zug ging schließlich im Grauen des Kameradenessens unter: »Ehe nun der Heereszug den fünften Teil des Weges gemacht hatte, war ihnen schon alles, was sie an Speisevorrat hatten, aus­ gegangen, und nach dem Vorrat ging ihnen auch das Zugvieh aus, das sie verzehrten. Hätte nun Kambyses dieses eingesehen und sich eines andern besonnen und sein Heer wieder zurückge­ führt, so wäre er nach dem einmal gemachten Fehler ein kluger Mann gewesen; so aber nahm er keine Rücksicht und ging immer vorwärts. Die Soldaten fristeten erst, solange sie noch etwas in der Erde fanden, ihr Leben mit Grasessen. Als sie in den Sand kamen, da begingen ihrer etliche die arge Tat, daß sie aus zehn Mann einen Kameraden auslosten und ihn aufaßen. Als das Kam129

byses erfuhr, ward ihm bang vor dem Aufessen untereinander, und so ließ er die Unternehmung gegen Äthiopien fahren und begab sich auf den Rückweg ...« Ähnlich grauenhaft erging es den karthagischen Söldnern, die durch ihren Aufstand 241-238 v. Chr. nach dem Ersten Punischen Krieg Karthago an den Rand des Abgrunds brachten. Nach lan­ gen, wechselvollen Kämpfen gelang es Hamilkar, sie in die Enge zu treiben und durch die Aushungerung in die Knie zu zwingen, »nachdem sie«, wie Polybios schreibt, »gezwungen waren, ein­ ander zu schlachten und zu verzehren«, zuerst die Gefangenen, dann ihre Sklaven und zuletzt die eigenen Kampfgenossen.

Wir kehren zu »zivilisiertem« Kriegs-Kannibalismus zurück. Als der Erste Kreuzzug sich zum Heiligen Land in Marsch setzte, eilte der große Propagandist des verdienstlichen Unternehmens, der Prediger Peter von Amiens, mit einer besonders verwegenen Schar dem eigentlichen Kreuzfahrerheer nach Konstantinopel voraus. Dort angelangt, unternahmen die zügellosen Rotten des Gottes­ mannes Raubzüge in das umliegende Land und drangen sogar auf türkisches Gebiet vor. Schließlich wagten sich einige tausend Fran­ zosen bis nach Nikäa, der Hauptstadt des Seldschuken-Sultans. »Sie plünderten und verwüsteten die Vororte«, meldet St. Runciman in seiner Geschichte der Kreuzzüge, »trieben das Vieh und die Herden weg und mißhandelten und massakrierten die christlichen Einwohner auf grausamste und fürchterlichste Weise. Man sagte ihnen nach, sie hätten kleine Kinder am Spieß gebraten.« Nach mancherlei Mißgeschicken und bösen Schlappen schloß sich Peter von Amiens dem mittlerweile eingetroffenen Haupt­ heer des Kreuzzuges an und zog mit ihm gen Jerusalem. Seine bunt zusammengewürfelte Anhängerschar, Bettler, Marodeure und anderes Gelichter, tat sich bei der Belagerung von Antiochia 1097/98 besonders unrühmlich hervor. Angeführt von »König Tafur«, dem sogenannten Bettlerkönig, soll sie in der Hungersnot, in die das christliche Heer bald geriet, einen höchst unchristlichen Ausweg gefunden haben. Ein französisches Lied aus der Zeit..der Belagerung Antiochiens, von Emanuel Geibel übertragen, besingt in munterem Ton den Einfallsreichtum des frommen Peter von Amiens: »Nun will ich euch erzählen von unserm Christenheer, Das draußen ist im Lager. Die Teurung drückt es schwer, Sein Vorrat ging zur Neige, gar schlimm ist es bestellt. Herr Peter, der Ermite, er saß vor seinem Zelt, Da kommt zu ihm der König Tafur mit großem Schwall, Es waren an die tausend, der Hunger nagt sie all. >O Herr, nun ratet uns und sehet unsre Not. Wir müssen Hungers sterben, erbarmet euch um Gott!< Entgegnet Herr Peter: >Ihr Tröpfe, fort, ihr Trägen! 130

Seht ihr die toten Türken nicht liegen allerwegen ? Sie sind ein trefflich Essen, wenn man sie salzt und brät.« Da sprach Tafur, der König: >Ihr habt gar klug geredt.«

Herrn Peters Zelt verläßt er und schickt die Seinen fort. Mehr sind es denn zehntausend, sind sie an einem Ort. Sie häuten ab die Türken und weiden gut sie aus, Gesotten und gebraten wird dann das Fleisch zum Schmaus. Gar weidlich mundet’s ihnen: sie essen’s ungesalzen Noch auch des Brots dazu. Ein mancher spricht mit Schnalzen Zu seinem Nebenmann: >Die Fasten sind vergangen, Mich wird mein Lebtag nicht nach beßrer Kost verlangen, Dem Schweinefleisch zieh ich’s vor und ölgesottnem Schinken, Laß uns dran gütlich tun, bis wir zu Boden sinken.«« Während von Menschen verzehr auf Seiten der Eingeschlossenen bei der Belagerung Antiochias nichts berichtet wird, sind solche Akte im allgemeinen und naheliegenderweise nicht bei den Be­ lagerern, sondern in den bedrängten Städten vorgekommen. Und wiederum vor allem in solchen, deren Gegner, wie Cäsar oder Scipio der Jüngere, die »humane« Technik der Einschließung und Aushungerung anwandten. Diese Humanisierung der Kriegsfuhrung bekam vor allem die Zivilbevölkerung zu spüren. Beispiele sind das von Hannibal belagerte Petelia, Sagunt und Numantia, von dem bei Petronius steht, beim Einzug der Römer hätten Müt­ ter die halb verzehrten Leichen ihrer Kinder auf dem Schoß ge­ halten. Als während des Gallischen Krieges, 52 v. Chr., die Not in dem von Cäsar bedrängten Alesia aufs höchste stieg, hielt ein gewisser Critognatus an seine Gefährten eine Durchhalterede, in der er sie an das Vorbild ihrer Ahnen in den Kriegen mit den Kimbern und Teutonen gemahnte: »Zusammengepfercht in ihre Städte und von ähnlicher Not be­ drängt, haben sie ihr Leben mit dem Fleische der durch ihr Alter zum Kriege Untauglichen gefristet und sich dem Feinde nicht ergeben. Und hätten wir nicht schon ein Beispiel für diesen Schritt vor Augen, so würde ich es für die schönste Tat halten, um der Freiheit willen ein solches aufzustellen und der Nachwelt zu über­ liefern.« Cäsar sah in des Critignatus’ patriotischem Appell zur Anthropo­ phagie begreiflicherweise keine »schönste Tat«, sondern nennt den Rat des Avemers ganz im Ton des siegreichen Zivilisierten eine »besondere und ruchlose Grausamkeit«. Die Verzweiflungstaten der Numantiner sechzig Jahre früher, bei denen es tatsächlich zu den Opfern kam, wie in Alesia Critognatus sie seinen verzagenden Genossen vorschlug, haben dagegen stets Bewunderung gefunden. Der Kannibalismus ist der spanischen Ui

Stadt verziehen worden - ja, Nutnantias Untergang wurde zu einem der großen Heldenepen der iberischen Geschichte. Der große Cervantes hat ihm seine Tragödie Cerco da Numancia ge­ widmet. Neun Monate, vom September 134 bis in den Sommer 133 v. Chr., trotzte das kleine Häuflein der Verteidiger Scipios gewaltiger Übermacht, selbst dann noch, als alle Hoffnung auf Hilfe oder Entsatz geschwunden war, denn der römische Feldherr verlangte die bedingungslose Kapitulation. Als schließlich der Hunger nicht mehr zu ertragen, als alles Vieh samt Fell verzehrt war, »griff"man«, schreibt A. Schulten in seiner Geschichte der tapferen Stadt, »zu dem letzten entsetzlichen Mittel, dem wir so oft bei der Belage­ rung iberischer Städte begegnen: zum Kannibalismus. Man schlachtete zuerst die Toten und Sterbenden, dann die Kranken, schließlich die Schwachen - eine fürchterliche Stufenfolge der Not und der Bestialität.« Miguel de Cervantes schrieb den kannibalischen Verteidigern Numantias das Epitaph:

»Dem Heldenmut, dem jammervollen Ende Numantias, dieser unbesiegten Stadt, Gebührt es, daß man ewig sich erinnre.« Ein Kranz für Kannibalen.

23 Entkannibalisierung »Freilich verschwand an manchen Stellen auch die Anthropophagie mit dem Volke selbst ...« (R. Andree)

Die reinste, wohltätigste Frucht der von Europa ausgehenden Kolonisation war vielleicht die Beseitigung der Sitte des Men­ schenessens. Dieses Verdienst wird auch durch weniger positive Früchte des Kolonialismus nicht geschmälert; »Entkannibalisie­ rung« durch friedliches Mühen, notfalls mit einigem Nachdruck, hat immer den Beifall der Philanthropen gefunden. Allerdings ist es nicht so, daß allein die mit dem Beginn der Ent­ deckungsgeschichte um die Wende des 15. und 16. Jahrhunderts einsetzenden Anstrengungen, eine barbarische Welt zu zivilisie­ ren, dem Kannibalismus ein Ende gesetzt hätten. In Peru etwa kam das europäische Bekehrungswerk zu spät, die Inka hatten 132

bereits den Menschenverzehr unterdrückt. »Nicht immer«, schreibt R. Andree, »war es die Entwicklung weißer Ansiedler oder der Eifer der Glaubensboten, welche die Ausrottung des Übels be­ wirkten; auch von selbst, ohne fremde Dazwischenkunft, sind Völker zum Aufgeben ihrer kannibalischen Gewohnheiten ge­ langt.« In weiten Gegenden Polynesiens war der anthropophage Opfer­ verzehr fast ausnahmslos verschwunden, als die ersten europä­ ischen Entdecker dorthin gelangten und - nicht ohne Staunen nur noch Spuren eines verlassenen Brauchs konstatierten. Ebenso muß es auf Hawaii gewesen sein. Die Einwohner standen zur Zeit von Cooks dritter Reise dem Kannibalismus mit geradezu zivilisiertem Abscheu gegenüber. Nach Cooks Ermordung schrieb Captain James King, der das offizielle Logbuch fortfuhrte: »Als wir ohne Umschweife fragten, ob sie nichts von Cooks Fleische gegessen hätten, bezeigten sie sogleich einen ebenso leb­ haften Abscheu bei diesem Gedanken, wie ihn nur ein Europäer hätte fühlen können, und erkundigten sich treuherzig, ob das unsere Sitte sei.«

Am längsten behauptete sich die Anthropophagie in Melanesien. Eindeutige Gründe dafür sind schwer zu finden, abgesehen davon, daß beispielsweise eine Hochburg des Menschenessens wie Neu­ guinea der bessernden Einwirkung von außen schon geographisch schwer zu überwindende Hindernisse entgegenstellte. In küstenfemen Schlupfwinkeln, im abgelegenen Bergland hielt sich die Sitte begreiflicherweise am längsten. Solche Weltabgeschieden­ heit machte Cook auch für die Menschenfleischgier der Maori verantwortlich. Handel und Wandel mit der großen Welt, so bemerkte der weitgereiste Kapitän, habe den größten Teil des Menschengeschlechtes zivilisiert (ohne uns freilich zu erklären, von wo der Anstoß zu solch moralischer »Ansteckung« ausging). Den gleichen Gedanken fuhrt A. I. Hopkins in seinem Buch In the Isles of King Solomon weiter aus: »Es ist merkwürdig ... wie rasch sie [die Anthropophagie] ver­ schwindet, wenn ein Kannibalenstamm in Kontakt mit einer wei­ teren Welt kommt, als sie die seiner eigenen Nachbarn im Busch darstellt. Das helle Tageslicht fällt auf den Brauch, und er welkt dahin. Dies ist erstaunlich, wenn wir bedenken, welche Heiligkeit er in den Augen des Primitiven besitzt. Der Kannibale ist nicht unbedingt ein hoffnungslos entartetes Untier, sondern ein Mensch, der noch nicht außerhalb der Düsternis des Busch-Tribalismus gelebt hat und deshalb blind einem Brauch gefolgt ist, der in allen Bewohnern der Welt seit frühesten Zeiten gewohnten Opfervor­ stellungen tief eingewurzelt ist.« Zur Weltferne trat eine ganze Reihe weiterer Gründe, die Selbstentkannibalisierung verzögerten. Das Ensemble solch bremsender 133

Faktoren schließt auch recht triviale ein. Ein Beispiel dafür wurde aus Bomeo überliefert, wo Eingeborene holländischen Besuchern erklärten, warum sie an ihren anthropophagen Opfern festhielten. Es komme billiger, so rechneten die Sparsamen vor, bei einem Tiwa-Fest zu Ehren eines Verstorbenen die gebräuchlichen sechs Sklaven statt ebenso vieler Büffel zu schlachten. Der Büffelpreis lag bei 250 Gulden, für einen Eßmenschen hingegen genügten schon hundert. Mit der Weltabgeschiedenheit von kannibalischen wie nichtkan­ nibalischen »Wilden« hatte es für immer ein Ende, als, vor allem im 19. Jahrhundert, nach den Entdeckern Kolonisatoren und Ver­ künder einer höheren Religion bei ihnen eintrafen. Und nun gelangten in großer Zahl Berichte über die anthropophagen Un­ geheuerlichkeiten in die Zivilisation, aufgebauscht und gelegent­ lich auch zutreffend, die einen kurzsichtigen Reflex auslösten: ausrotten. Ein typisches Beispiel für solche Reaktion eines empör­ ten Kulturmenschen gibt G. Schweinfurth, der im Land der NiamNiam die Vorbereitungen zur Verspeisung eines Säuglings mit ansehen mußte: »Ich muß gestehen, daß mich bei diesem Anblick ein Wutanfall beschlich und daß ich die Frau, die dabeisaß, sofort hätte tot­ schießen mögen, ein Entschluß, den ich auch rücksichtslos ausge­ führt haben würde, wenn mir nicht in demselben Moment das Wort der Nubier eingefallen wäre, sie seien nicht ins Land ge­ kommen, um die Sittenrichter der Niam-Niam zu werden.« Nach dieser ersten Aufwallung bedachte der Naturforscher seine Situation und trat das Amt des Kannibalen-Bekehrers an Berufenere ab. Er erkannte, daß mit Gewalt wenig auszurichten war. »Das schien für mich, der ich von der Macht und dem Schutze anderer abhängig war, wohl noch mehr anwendbar, und welchen Einfluß hätte überhaupt mein einmaliges Einschreiten auf die Volkssitten haben können? Da fänden Missionare ein fruchtbares Feld, den Acker des Herrn zu bestellen, aber entsagungsvolle, selbstverleugnungsfähige müßten es sein.« Der Impuls zum »Einschreiten«, zum »Totschießen«, dem Schwein­ furth so gern nachgegeben hätte und klugerweise nicht nachgab, hätte zur Abschaffung einer Gemeinsitte allerdings schwerlich ge­ taugt. An den Voraussetzungen des Menschenessens wäre damit so wenig geändert worden, wie repressive Maßnahmen und dra­ konische Strafandrohungen dem Kannibalismus den Boden ent­ ziehen konnten. Natürlich hat man diesen Weg häufig beschritten, und für eine gewisse Übergangs- oder Entwöhnungszeit hatte er sicher seine Berechtigung. Die Behörden im Kongo-Freistaat wählten diese Methode, indem sie anthropophage Delikte mit der Todesstrafe bedrohten. Jedoch in dem großen, schwer zu kontrollierenden 134

Gebiet kam es immer wieder zu kannibalischen Akten. Henry Morton Stanley, der 1876 in die Region Maniema kam, bemerkte nicht grundlos: »Diese Wilden würden eine ganze Versammlung von Bischöfen und Missionaren nur unter einem einzigen Ge­ sichtspunkt betrachten - Roastbeef!« Roastbeef wollte zuallerletzt Stanley selbst werden. Und so be­ trieb er auf eigene Faust die - natürlich bessernde - Züchtigung menschenfleischlüstemer »W ilder«, die, während er aufdem Kongo dahinfuhr, respektlos ihre Vorfreude auf sein Fleisch kundgaben. Stolz und vom Zorn des Gerechten erfüllt, schreibt er in Durch den dunklen Erdteil: »Mein Blut kochte, wilder Haß gegen jene menschlichen Aasgeier übermannte mich. Ich verfolgte sie stromauf bis zu ihren Dörfern, trieb sie in die Wälder, verwüstete ihre Elfenbeintempel und legte Feuer an ihre Hütten. Ihre Kanus versenkte ich in der Mitte des Stroms.« Mit der Verwüstung der Eingeborenen-Tempel, mit der Ein­ äscherung ihrer armseligen Hütten, der Versenkung ihrer Kanus waren Kannibalen wohl zu erschrecken, aber kaum vom Kanni­ balismus abzubringen. Daß solche Strafmaßnahmen ihren anthropophagen Gebräuchen galten, haben zumindest die von Stanley gezüchtigten Menschenesser wohl kaum verstanden. So gab es im Kongo bis gestern Kannibalen. Der im damals noch belgischen Kolonialgebiet als Ethnologe und Agronom tätige Bel­ gier J. P. Hallet entdeckte um 1950, wie einst Stanley, in Maniema Anthropophagie ritueller Art. Er stieß im Dschungel auf eine Gruppe junger Burschen, die sich dort in der Isolierung auf die Beschneidungszeremonien vorbereiteten. Der Belgier legte, ange­ lockt von köstlichem Fleischduft, einen Aufenthalt ein und wurde eingeladen, an einer »Stachelschweinmahlzeit« teilzunehmen. »Nungu gilt in ganz Afrika als Delikatesse, und so griff ich unge­ scheut zu, als die Alte ein paar Stücke herausholte und vor mir auf ein Bananenblatt plumpsen ließ. Es waren große, unregel­ mäßige Klumpen feinfaserigen, rötlichgrauen Fleischs ohne Kno­ chen, das ein bißchen nach Kalb und auch ein wenig wie Span­ ferkel, nur entschieden besser schmeckte.« Als später einer der Jungen dem Europäer versehentlich verriet, daß das wohlschmeckende Gericht Menschenfleisch gewesen war, reagierte Hallet gelassen: »Um ehrlich zu sein, ich empfand keinerlei Widerwillen. Ich war entsetzt und zornig, als ich mir vorstellte, wie die verwirrte Frau ermordet worden war, genauso gedankenlos, wie die Eingebore­ nen einen Vogel oder eine Antilope töten. Das war viel wichtiger ah das Schicksal ihres Leichnams.« Der Belgier dachte nicht daran, die jungen Menschenesser bei den Behörden zu melden, sondern hielt ihnen eine Strafpredigt, die sie zerknirscht und mit der Beteuerung aufnahmen, sie wollten 135

niemals wieder Menschenfleisch essen. Hallet skeptisch: »Viel­ leicht haben sie ihr Versprechen sogar gehalten - wenigstens eine Weile.« Die Notwendigkeit des Einschreitens gegen Kannibalen ergab sich schon für das alte Rom. Plinius der Jüngere berichtet in seiner Naturgeschichte von anthropophagen Menschenopfern in den bei­ den Gallien, die unter der Regierung des Kaisers Tiberius verboten wurden. »Man kann es daher nicht hoch genug anschlagen, wie­ viel Dank man den Römern schuldig ist, daß sie Mißbräuche aufgehoben haben, nach denen es für eine der Gottheit wohlge­ fällige Haltung galt, einen Menschen zu morden, und für beson­ ders heilsam gar, von ihm zu essen.« i Es blieb nicht immer bei Verbot und Strafandrohung. Die Greueltaten von Kannibalen boten auch den Anlaß, Exempel zu statuie­ ren, und zugleich eine handliche Ausrede für imperialistische Ge­ lüste. Gregorio Lopez, Mitglied des spanischen »Consejo de las Indias« vertrat die Ansicht, die (auch anthropophagen) Sünden der Indianer wider die Gesetze Gottes und der Natur rechtfertig­ ten, daß die Christen Amerika eroberten, und schuf so die ideolo­ gische Basis für die Conquista: »... sie entbehren nicht nur der Kultur, sondern sie leben wie wilde Tiere, treiben absurden Göt­ zendienst, bringen ihren Göttern Menschenopfer dar und fressen Menschenfleisch. Sie kennen nicht Sittsamkeit noch Scham und sind der Trunksucht und der Sodomie zugetan.« Nachdem aus so berufenem Munde die Schandtaten der Indios kundgetan und daraus das Recht auf ihre Mißhandlung abgeleitet war, konnten die Konquistadoren gelassen alle Humanität gegen­ über den »wilden Tieren« fahren lassen (obwohl Papst Paul III. 1537, zu höchst unpassender Zeit, in einer Bulle verkündet hatte, die Indianer müsse man als »veros homines« - als echte Menschen - betrachten). A. Federmann verteidigt in seinem Buch Deutsche Konquistadoren in Südamerika das brutale Durchgreifen der Er­ oberer: »Denn die Sitte der Indianer, ihre Kriegsgefangenen zu >metzigen< und zu verspeisen, war in Südamerika damals weit verbreitet, von allen Quellen immer wieder und wieder belegt, und hat nicht wenig dazu beigetragen, das Herz vieler Konquistadoren zu em­ pören und gegen Sklavenraub und Sklavenhandel, dem die Ein­ geborenen selber oblagen, und schließlich auch manchmal gegen ein menschliches Mitgefühl mit den Indianern abzustumpfen.« Ein typischer Vertreter jener Konquistadoren-Denkart, die in den Indios bestenfalls menschenähnliche Menschenesser sah, war der Ulmer Feldhauptmann Nikolaus Federmann, der in Venezuela wirkte und kühl argumentierte: »Ist golds vil nit inn, essen all menschenfleisch und je einer den anderen, wo sie einander be­ 136

kommen oder iahen künden ... Was ist nott, inen lang zu pre­ digen und zeit mit inen zu verlieren.« Federmann, der 1530 vierundzwanzigjährig im Dienst der Welser (die Karl V mit Venezuela belehnt hatte) nach Südamerika ging, hat den Indios wahrhaftig nicht »lange gepredigt«, wie er selbst in seinem Rechenschaftsbericht zugibt. So befahl er etwa bei einem Zug ins Landesinnere den Angriff auf ein indianisches Dorf, bei dem an die fünfhundert »Wilde« umkamen. Federmann schildert genüßlich: »... stachen vil zu Boden, bis wir sie in Flucht brach­ ten ; denn die zu Roß allein in Haufen unt sie ritten, was sie faßten, zu Boden stießen, und die zu Fuß wie die Säu erstachen ...« Solche Säu-Erstecher, Federmann und Genossen, meinte der mu­ tige Las Casas, als er anklagend schrieb: »Ich denke aber, sie wüteten weit grausamer unter ihnen als alle bereits erwähnten Barbaren; ja noch viehischer und rasender als die blutgierigsten Tiger und wütigsten Wölfe und Löwen ... Und wodurch kann wohl der Verlust jener unzählbaren Seelen ersetzt werden, die der Geiz und die Unmenschlichkeit jener viehischen Tyrannen, der Deutschen, in die Flamme der Hölle stürzte?« Bartolomé de Las Casas blieb nicht ganz ohne Erfolg. Er konnte die spanische Regierung aufrütteln, und 1545 wurde die Belehnung des Bankhauses Welser mit Venezuela rückgängig gemacht. Doch bald übernahmen andere das Geschäft der Federmänner. Die Anthropophagie südamerikanischer Eingeborener, die einer gewaltsüchtigen Conquista als moralische Rechtfertigung bestens zupaß kam, behauptete sich indes trotz aller Besserungsmaßnah­ men noch Jahrhunderte. So langsame Fortschritte machte die Säuberung (in spanischen wie in portugiesischen Kolonien), daß noch Alexander von Humboldt am Cassiquiare auf Kannibalen stieß. Ja, bis zum Ende des letzten Jahrhunderts trafen zuhauf Berichte über kräftig fortlebendes Menschenessen ein, und ein anderer Reisender aus jener Zeit behauptete rundweg, »daß die Brasilianer noch Menschenfresser sind«. Nicht nur das Christentum, vor allem auch der Islam machte sich um die Entkannibalisierung verdient, in Afrika so gut wie in der Inselwelt Asiens. Die weiten Gebiete auf dem Schwarzen Erdteil, denen Ptolemäus im zweiten nachchristlichen Jahrhundert men­ schenessende Gebräuche zuschrieb, wurden mit der Ausbreitung der Religion Mohammeds kannibalenfrei. Der Islam bewirkte unzweifelhaft eine Hebung der Kultur; er brachte die Kenntnis der Schrift, er schaffte neben der Anthropophagie auch die Men­ schenopfer ab. Indessen brachte er auch, zumal nach Ostafrika, die systematischen Sklavenjagden, eines der düstersten Kapitel in der Geschichte der Inhumanität. Sklavenjagd und -handel waren ja vom islamischen Recht ausdrücklich gestattet. 137

Der deutsche Afrikareisende Hermann von Wißmann erlebte, wie Mohammedaner - ähnlich wie seinerzeit Cortez - vor dem Kannibalismus ihrer afrikanischen Gehilfen die Augen verschlos­ sen: »Einige meiner Leute .. . meldeten, daß Said, der scheinbar un­ entschlossene Knabe, mit einem Revolver sich lange Zeit an den Gefangenen geübt habe, bis dieselben nach vielen Schüssen nieder­ gesunken seien. Er habe dann seinen Hilfstruppen die Ermordeten übergeben, und in wenigen Sekunden seien die Körper derselben in Stücke zerschnitten, von denselben nach ihren Feuern ge­ schleppt worden, um als Abendmahlzeit zu dienen. Dies war der Kriegshaufe eines Arabers, der Eingeborene strafen wollte für Kannibalismus!« Die Entkannibalisierung der menschenfleischlüstemen Maori ge­ schah, wie manche meinen, durch die Einführung ergiebigerer Nahrungsquellen - Schweine, Kartoffeln und Getreide -, zuerst durch die Seefahrer am Ende des 18. Jahrhunderts. Dank solch friedlicher Methoden, durch Kleintierzucht und ausgedehnte An­ pflanzungen, konnte ja auch Pater Fräßle mit seinen Missions­ kollegen dem Menschenessen das Wasser abgraben, und dies trotz des Widerstandes der einheimischen Bevölkerung, die anfangs der Feldarbeit abgeneigt war und im Menschenverzehr eine be­ quemere Versorgungsmöglichkeit sah. Schon siebzig Jahre nach Cooks Besuch war bei den Maori die Anthropophagie erloschen, auch durch »die wohltätigen Einflüsse des Christentums, das die wilden Sitten milderte« (R. Andree); 1843 wurde dort vermutlich zum letztenmal ein Mensch gegessen. Ebenso geschah es dank missionarischer Bemühung auf dem ver­ rufenen Neukaledonien und schließlich in der ganzen menschen­ essenden Südsee. Freilich wurden nicht wenige der mutigen Mis­ sionare bei der friedlichen Entkannibalisierung zu Märtyrern und endeten im Kochtopf von Menschenessem, deren Bekehrung ihnen nicht rechtzeitig gelungen war. »Im Juli 1867 verließ der zu Mbau angesiedclte Missionar T. Baker nebst mehreren Ge­ fährten, trotz verschiedener wohlgemeinter Warnungen, seine Station, um im Innern von Viti Levu bei dem Stamme der Navosa das Christentum zu predigen: Er wurde erschlagen und verzehrt« (Globus XLLL, 25). Erstaunliche Bekehrungen gelangen beherzten und ausdauernden Glaubenskündem mitten im damals, Ende des neunzehnten Jahr­ hunderts, noch weitgehend dem Menschenessen zugeneigten IboLand in Nigeria. Der Missionar und Amateur-Anthropologe G. Basden teilt ein Erlebnis aus Biafra mit: »Ich wurde mit vielen ehemaligen Kannibalen bekannt, und viele von-ihnen waren durchaus gutartige Leute. An einem Wochenende hielt ich mich irgendwo einige Meilen außerhalb von Onitsha 138

auf ... Meine Boys und Träger teilten das enge Quartier und schliefen nachts neben dem Feldbett. Nach dem Abendbrot legten wir uns, lange vor der üblichen Zeit, zur Nachtruhe nieder; so ergab es sich, daß die Männer zwanglos miteinander plauderten. Plötzlich wurde mir ihre Unterhaltung interessant, und ich ent­ nahm ihr ..., daß sie alle an kannibalischen Mahlzeiten teilge­ nommen hatten. Zuerst wollten sie nicht mit der Sprache heraus, aber allmählich wurden sie zugänglich und erklärten, was sie für die schmackhaf­ testen Bissen hielten. Nämlich, wie sie angaben, die Fingerknöchel. Es waren muntere junge Burschen, mit denen ich so gut bekannt geworden war, daß ich sie bewegen konnte, mit mir durchs Land zu reisen. Seitdem sind sie alle Christen geworden; einer sogar ein hochangesehener Evangelist.« Zuweilen aber kamen die Missionare zu spät, um den Kannibalis­ mus abzuschaffen. Er hatte, wie in vielen Gegenden Polynesiens, bereits das Zeitliche gesegnet. Doch blieb natürlich immer noch die Bekehrung der Heiden nebst der Beseitigung weiterer Un­ schicklichkeiten. Auf Tahiti brach 1802 ein langer, blutiger Bru­ derkrieg aus, und 1805 setzte König Pomare II. den summarischen Übertritt zum Christentum durch. Die ansässige protestantische Mission war an diesem heiligen Krieg nicht ganz ohne Anteil. Ihr Chef rechtfertigte sich mit naivem Stolz, die Polynesier seien ja ohnedies ihrer alten Götter und Kulte von Herzen überdrüssig gewesen und hätten auch den Kannibalismus (von dem, notabene, schon lange vorher viele Besucher nichts mehr bemerkt hatten) bereits aufgegeben. Dank des missionarischen Wirkens sei ihnen nun auch noch die Lust an so heidnischen Unsitten wie dem Nacktbaden, ja am Baden überhaupt vergangen. Auch die Lust am Bluttrinken verging Kannibalen in Australien dank missionarischen Eifers. Der Anthropologe A. P. Elkin be­ richtet, daß bei zahlreichen Stämmen der australischen Urbevöl­ kerung die Initianten mit Blut aus dem Arm älterer Männer gesalbt wurden oder daß sie davon trinken mußten. Dieses Blut galt als heilig. Solchen gar nicht so zivilisationsfemen Brauch geißelte, wie Elkin schreibt, ein Missionar mit scharfen Worten. Elkin vermochte die Entrüstung nicht recht zu verstehen und meint, sie sei für einen Christen einigermaßen unvernünftig. Zumindest müsse er doch den Symbolgehalt der Handlung erkennen und könne den Eingeborenen ja Vorschlägen, das menschliche Blut durch irgendeine Flüssigkeit zu ersetzen - »was schließlich unser eigener Brauch ist«. (Die Substitution des Christusblutes durch Wein genügte allerdings nicht einmal allen Christen. Der heilige Johannes Chrysostomus suggerierte sich beim Abendmahl, das wirkliche Blut aus der heiligen Seitenwunde zu trinken.) Ein kritisches Auge richtete sich auf das entsagungsvolle Wirken von Missionaren, als Herman Melville 1842 persönliche Erfah­ 139

rungen bei den »Wilden« in der Südsee sammelte. Er schrieb bei der Schilderung eines Kalebassenfestes auf den Marquesas: »... besonders aber unterschied es sich von den Berichten, über die christianisierten Inseln, mit denen uns die Missionare beglückt haben. Wenn nicht der geistliche Charakter dieser Personen die Reinheit ihrer Absichten außer Frage stellte, läge zweifellos die Vermutung nahe, daß sie die Sünden des Heidentums übertreiben, um das Verdienst ihrer eigenen selbstlosen Arbeit zu vergrößern.« Melville war einer der schärfsten Kritiker europäischer Entkannibalisierungsmethoden in der Südsee (und es ist kein Wunder, daß die zweite Auflage seines Berichts gesäubert publiziert wurde, um die Missionsarbeit nicht in Mißkredit zu bringen). Er, der als unfreiwilliger Gast auf den Marquesas selbst Anschauungsunter­ richt genommen hatte, ergriff, mit dem Vorteil des Augenzeugen, vehement für die anthropophagen »Wilden« Partei: »Kaum sind auf den polynesischen Inseln die Götzenbilder um­ gestürzt, die Tempel zerstört und die Götzenanbeter dem Namen nach zum Christentum bekehrt, erscheinen auch schon Krankheit, Laster und vorzeitiger Tod. Das entvölkerte Land wird dann von den räuberischen Horden Aufgeklärter neu besiedelt, die lärmend den Sieg der Wahrheit verkünden ... Man hat die Eingeborenen buchstäblich zu Zugpferden zivilisiert und zu Lasttieren christiani­ siert.« Mag sein, Melville schoß übers Ziel hinaus, obwohl er selbst den Marquesanem nur mit knapper Not entronnen war und deshalb wenig Grund hatte, die »edlen Wilden« in Schutz zu nehmen. Aber zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangten Forscher in Neu­ seeland. Unerwünschte Begleiterscheinungen der Zivilisation bra­ chen in kurzer Zeit die Lebenskraft der Maori: Alkohol, Ge­ schlechtskrankheiten und die Raubzüge landgieriger Ausländer. A. Reischek resümierte, als er 1889 nach zwölfjährigem Aufent­ halt Neuseeland verließ, mit Resignation: »Was der Kannibalismus in Jahrhunderten nicht hatte vernichten können, das gelang der europäischen Zivilisation fast in einem Menschenalter.«

Die ruhmvolle - und traurige - Kulturleistung der Entkannibalisierung hat dem Menschenessen als Sitte ein Ende bereitet. Sie hat auch etliche, ob zu Recht oder Unrecht so genannte Kanni­ balen um Heimat und Leben gebracht, »und da, wo ... im Gebiete der großen nordamerikanischen Seen noch anthropophage Rot­ häute der Jagd oblagen und rachsüchtig den an den Kriegspfahl gebundenen Feind zerstückelten und verzehrten, da breitet sich nun, mächtig das Land überflutend, die angelsächsische Rasse aus« (R. Andree). James Cook sah eine Hauptursache für den Fortbestand des Bru-r deressens in der Isolation kannibalischer Gemeinschaften. Diese Ansicht gründet logisch auf der Vorstellung, daß der Impuls, den 140

Menschen uneßbar zu finden, von einem bestimmten Punkt aus­ ging und eine sich stetig verbreitende Wirkung hatte. Unbekannt bleibt, wem - Individuum oder Kollektiv - diese Ehre gebührt. Der erste Kannibale und der erste Nichtkannibale liegen in unbe­ kannten Gräbern.

24 Zeugen der Anklage »Sie sind noch heute Kannibalen.« (Eine englische Enzyklopädie 1951 über die Melanesier) >rDocb auch dieses erzählen wir nur so, ohne glaubwürdige Zeugen %u haben . . .« (Strabo)

Wir haben uns bisher im allgemeinen an den Vorsatz gehalten, die »Zeugen« unwidersprochen zu Wort kommen zu lassen. Doch die Stimmen, die sich zum Thema Kannibalismus erhoben haben, bilden einen oft allzu dissonanten Chor, die Widersprüche, ja blanke Verleumdungen, sind nicht zu übersehen. So scheint es an der Zeit, sich von den Kannibalen ab- und den Gewährschaften zuzuwenden. Wenn die Fidschi-Insulaner ein Opfer brieten und wie lebend präpariert auf den Tisch brachten, so geschah dies nach dem Urteil des einen Beobachters aus purem »Hohn«, nach der Ansicht des anderen, weil man ein Stück seiner Lebensessenz verspeisend be­ wahren wollte. Beide Meinungen werden mit großer Entschie­ denheit vorgetragen. Welche Beobachtung ist zutreffend, wo liegt die Wahrheit? Die Anthropophagie australischer Ureinwohner, oft von der ab­ stoßendsten Art, »belegen« ganze Bibliotheken. Die angebliche Anthropophagie der Australneger bestreiten aufs entschiedenste etliche Beobachter, deren Argumente nicht so leicht von der Hand zu weisen sind. »Der australische Kontinent zählt heute noch höchstens 50000 eingeborene Schwarze, und diese sind, wo sie sich dem Einflüsse der Weißen entziehen, Anthropophagen, wo­ für die bündigsten Beweise vorliegen«, konstatierte R. Andree 1887 mit wünschenswerter Deutlichkeit. Allerdings, nicht weni­ ger bestimmt meint R. Travers in seinem Buch The Tasmanians (1968), die Ureinwohner Australiens seien niemals Menschenesser gewesen, »trotz einer Fülle von Altweibermärchen«. Wer hat recht, und was brachte die Beobachter zu ihren entgegen­ gesetzten Einsichten ? 141

Vermutungen, Übertreibungen, Erfindungen, Verallgemeinerun­ gen, oberflächliche Auslegungen kannibalischer Motive und »Spuren«, ja deutliche Voreingenommenheit, kennzeichnen einen großen Teil des Anklagematerials gegen die Menschenesser, wie sich in folgendem zeigen wird. Die erloschene Sitte des Men­ schenessens, fürchterlich, widernatürlich, gottlos, entmenscht, hat die Reisenden und Forscher aus der Zivilisation, wo sie sie an­ trafen oder anzutreffen glaubten, begreiflicherweise schockhaft getroffen. Aus Landen kommend, denen Menschentötung durch­ aus geläufig, extreme Grausamkeit keineswegs unbekannt war, standen sie vor dem Unbekannten. Dieses fremd-befremdende, außerhalb aller mitgebrachten Be­ griffe stehenden Menschenessen wurde schreckhaft zum Menschen/ressen vertiert. Nur für wenige Zeugen war der Kannibalis­ mus keine Sensation im Sinn einer Gefühlserregung. Und Sensationen in einen anderen Verstand heimzubringen, fühlten viele sich verpflichtet. Sensation von erstrangigem news value ist noch heute jeder Zeitungsredaktion ein kannibalischer Vorfall entsetzlich-willkommenes Lesefutter. Das Menschenessen war mithin für alle Besucher solcherart ver­ seuchter Gegenden unübersehbar, und jeder fühlte sich verpflich­ tet, es zu erwähnen. Auf diese Weise konnte der Kannibalismus weltweit kartographiert werden. Jeder, der etwas gesehen oder ungleich häufiger - gehört hatte, trug sein Teil bei. Die Wissen­ schaft, die sich von Amts wegen mit der Anthropophagie befaßt, glaubte noch vor kurzem, anhand dieser Flut von Aussagen das Verbreitungsgebiet des Menschen Verzehrs »so gut wie vollständig und lückenlos« (E. Volhard) abgesteckt zu haben. Was taugt diese Karte des Kannibalismus? Es hat zwar nicht gefehlt an gründlichen Untersuchungen durch Ethnologen, gerade noch rechtzeitig, ehe die Zerstörung der be­ treffenden Kulturen die Tür zu emstzunehmenden Studien für immer zuschlug. Aber im großen und ganzen sind wir auf »Zeu­ genaussagen« ungeschulter, zuweilen höchst voreingenommener, nur selten um Verständnis bemühter Laien angewiesen. Die Cooks waren die Ausnahme. Den toleranten Beobachtern des Zeitalters der Vernunft folgte im 19. Jahrhundert eine unbarmherzigere Generation; zudem verlangte das Zeitalter des Imperialismus nach handfesten Grün­ den, um unentwickelte Völkerschaften unter Kuratel zu stellen. Ganz allgemein bricht nun in den Berichten ein Ton von Un­ duldsamkeit, die Selbstgerechtigkeit des Kulturmenschen durch. Um so strahlender heben sich die Ausnahmen ab. Der erste Europäer, der Java beschrieb, war Ludovico Barthema. Er berichtet, dort hätten Eltern ihre Kinder als Lebensmittel ver­ kauft. Wie verbreitet diese Gepflogenheit war, konnte Barthema 142

freilich nicht feststellen, denn er suchte bereits nach zwei Wochen das Weite, aus Angst, er könnte selbst im Magen der Javaner enden. Der Abscheu der Zivilisierten vor dem Phänomen des Menschen­ essens hat leider dazu geführt, daß man sich ganz überwiegend darauf beschränkte, die »Tatsachen« schlicht zu konstatieren. Ent­ setzt wandten sich die Zeugen ab; nähere Beschäftigung mit dem Greuel fand nicht statt. So viele Reisende, die bei ihrer Reise durch ein anthropophages - oder als solches verschrienes - Gebiet etwa von kannibalischen Vorkommnissen hörten, oft genug mit minimalen Sprachkenntnissen und so gut wie gar keinen Kennt­ nissen der Eingeborenenpsyche ausgestattet, »wußten« nun und eilten weiter, nunmehr als Gewährsleute. Zum Sprachproblem bekannte der deutsche Afrika-Reisende Adolf Friedrich Herzog von Mecklenburg (der es selbst nicht an verallgemeinernden Behauptungen fehlen läßt): »Man ist keines­ wegs sicher, daß die Frage immer richtig verstanden worden ist und daß die Antwort wirklich das bedeutet, was man erwartet.« Erwartet hatte man das Schlimmste. Und wieder war ein Kanni­ balenvolk entdeckt.

Und natürlich ließ man sich seinen Abscheu anmerken, was die Eingeborenen kaum ermutigte, präzise Auskünfte zu geben. Sie spürten die Einstellung der Fragesteller und bezichtigten lieber ihre Nachbarn, Feinde, ferne Stämme dieser Unsitte. Auch so wuchs die Karte des Kannibalismus. »Mit wenigen Ausnahmen«, schreibt E. Volhard, »beruhen alle Äußerungen über die Gründe des Kannibalismus entweder auf Aussagen der Eingeborenen oder auf der Phantasie der Reisen­ den.« Oft wirkten die oberflächlich erteilten oder nicht richtig verstandenen Auskünfte von Kannibalen so, daß der »Zeuge« zu dem Schluß gelangte, sie machten keinen Unterschied zwischen Fleisch und Menschenfleisch. Auf diese Weise kam es zur Erzeu­ gung eines großen Teils des »kulinarischen« Menschen Verzehrs. Oder Eingeborene gaben, mit mehr oder weniger Einsicht und Artikulationsvermögen, Motive an, die man unbesehen hinnahm, zumal wenn sie den eigenen Erwartungen entsprachen. So entstand zum erheblichen Teil die Karte der Kannibalen­ motive. Neben der Schar dieser fragwürdigen Gewährsleute steht das Häuflein derer, die sich nicht mit Hörensagen und Informationen aus zweiter Hand begnügten, und jener, die durch Zufall in die meist höchst unerwünschte - Lage versetzt wurden, später aus eigener Anschauung berichten zu können. Den seltenen Augen­ zeugen vor allem verdanken wir, was wir über die Anthropo­ phagie als Sitte wissen - mit einiger Sicherheit wissen. 143

Am raschesten vergrößerte sich die Karte des Menschenessens naturgemäß durch summarische Kannibalen-Emennungen. Eine Kostprobe (aus Waitz-Gerlands Anthropologie der Naturvölker): »Durch ganz Polynesien herrscht der Kannibalismus in sehr aus­ gedehnter Weise.« Überraschenderweise heißt es im gleichen Werk wenig später: »Übrigens ist nicht zu verkennen ..., daß der Kanni­ balismus in ganz Polynesien zur Zeit der Entdeckung schon im Absterben war.« Derlei Unaufmerksamkeiten unterliefen häufig gerade »Zeugen«, die durch die Eindeutigkeit ihrer Feststellungen zunächst für sich einnehmen. Carl Lumholtz erklärt in seinem Bericht (Unter Men­ schenfressern): »Der Australneger ist nicht allein Menschenfres­ ser ...« Und nachdem der Leser nach langen Seiten mit kanni­ balischen Details tatsächlich den Eindruck gewonnen hat, der, ergo jeder, Australneger nähre sich bei allen Gelegenheiten von seinen Mitmenschen, überrascht Lumholtz ihn mit der neuen Erkenntnis: »Menschenfleisch ist übrigens keine tägliche Kost für den Australneger, vielmehr eine seltene Delikatesse.«

Die australischen Ureinwohner waren Menschenesser, »die India­ ner Südamerikas waren und sind noch zum Teil Anthropophagen«, »die brasilianischen Völker essen ihre eigenen gestorbenen Kinder auf«, »die Skythen«, weiß Strabo, »schlachteten die Fremden«, und so summarisch fort und fort. Die heißt nach schlichter Logik: alle, oder zumindest die über­ wiegende Mehrheit. Man darf getrost behaupten, daß derlei groß­ zügige Behauptungen immer unkorrekt, weil nicht begründbar waren. Solche Denunziationen werden noch offenkundiger, wenn sie sprachlich verstärkt angeboten werden. »Die ganze braune Ein­ wohnerschaft der d’Entrecasteaux-Inseln ... sind alle Menschen­ * fresser« (P. Bergemann). Niemand kennt aus eigener Anschauung die ganze Einwohnerschaft der d’Entrecasteaux-Inseln, niemand kann die Brasilianer kennen. Selbst Forscher, die Jahrzehnte bei­ spielsweise auf Neuseeland zubrachten, vermochten keine so schwerwiegende Aussagen über die Maori zu wagen, wenn sie auf ihre Seriosität hielten. Viele haben sie trotzdem gewagt. Ihre so unbedingt vorgetragenen Erkenntnisse machen einen beträchtlichen Teil des Anklagema­ terials gegen die Menschenesser aus. Die großzügigen »Zeugen« konkurrieren mitjenen, die beitrugen, was sie gehört hatten (»soll«), um die Ehre, die erfolgreichsten Kartographen des Kannibalismus zu sein. Werfen wir einen Blick auf zwei erlauchte Namen aus ihren Reihen.

Herodot, dem Vater der Geschichte, verdanken wir Anklagen wie Freisprüche von Anthropophagen. Der Leser wird sich er* Hervorhebungen durch den Verfasser.

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innem, daß Herodots Behauptung, die Ägypter hätten den Kanni­ balismus nicht gekannt, schon im Altertum vehement bestritten wurde. Ähnlich umstritten ist die Beschuldigung, die er gegen die Massageten am Kaspischen Meer vorbringt, die nach seinem Zeugnis ihre alten Leute verspeisten. Die gleiche Bezichtigung erhebt er nämlich beinahe wortwörtlich gegen die östlich des Aralsees beheimateten Issedonen. Ein vergleichbarer Fall der Übertragung kannibalischer Anklagen, freilich durch weniger an­ gesehene Gewährsleute, begegnete uns schon in der weitgereisten Fabel vom menschlichen »Fallobst«. »Mit großer Treue«, so glaubt F. Bergemann, erzählte Marco Polo von »der blutigen Sitte des Menschenfressens«. Aber die Zuverlässigkeit des Venezianers ist dennoch angezweifelt worden. Marco Polo, der als erster Euro­ päer im Mittelalter ausgiebig den Femen Osten bereiste, hat die damalige Kenntnis von Zentral-, Ost- und -Südasien entschei­ dend bereichert. Er bereicherte sie auch um manche Ungenauig­ keit. Bei einem Aufenthalt auf Sumatra kam er zu der Erkenntnis, die Bewohner des Königreichs Samara seien - natürlich allesamt »sehr wild, sie essen das Fleisch des Menschen mit großem Appe­ tite«. Verfährt der durchreisende Venezianer mit den Samaranem noch unbestimmt-pauschal, so wird er präziser, wenn er die Insel Angaman (vermutlich die Andamanen) und ihre fremdenessen­ den Bewohner schildert, nämlich als »Götzendiener und ein sehr viehisches Geschlecht«. Kein Wunder, daß diese Kannibalen ihm viehisch vorkamen, denn »sie haben Kopf, Augen und Zähne ganz wie die Hunde«. Adalbert von Chamisso, der selbst die Welt umreiste und leiden­ schaftlich gegen die Verleumdung der »Wilden« vom Leder zog, nennt Marco Polos Bemerkungen »im Bereich seiner eigenen Erfahrungen immer treu«. Nun, die Hundemenschen auf den Andamanen will der Venezianer mit eigenen Augen erschaut haben. Was er über »Zipangu«, Japan, fabelt, hatte er hingegen aus zweiter Hand; er selbst hat das Inselreich nie gesehen. Trotz­ dem weiß er: »Die verschiedenen Zeremonien, welche vor diesen Götzen vor­ genommen werden, sind so gräßlich und teuflisch, daß es gottlos wäre, davon in unserem Buche zu berichten. Der Leser möge jedoch wissen, daß die abgöttischen Einwohner dieser Inseln, so­ bald sie einen Feind ergreifen, der nicht die Mittel hat, ein Lösegeld aufzubringen, alle ihre Verwandten und Freunde in ihr Haus laden und den Gefangenen schlachten, seinen Leib zurichten und beim Gastmahl verzehren.« »Mit großer Treue« gibt Marco Polo mit dieser Information von japanischen Kidnapping-Methoden aus kannibalischer Gier ein Ammenmärchen wieder, das ihm andere aufgebunden haben, vermutlich Chinesen. Die Japaner waren keine Menschenesser, die grauenhaften Zeremonien sind erdichtet. MS

Dem Kannibalismus anhand seiner »Spuren« auf die Spur zu kom­ men, gelang ebensowenig überzeugend, wie aus Angst vor Menschenessem das Indiz dafür zu konstruieren, der Ängstliche selber praktiziere Anthropophagie. Diese Methode, ehemaliges Vorhan­ densein der Sitte zu bestimmen, von früheren Ethnologen wieder­ holt angewandt, hat ein ehrwürdiges Vorbild. Als Kapitän Cook, der unverdächtige Kannibalenbeob .chter, während seiner ersten Reise die Nordinsel Neuseelands erkundend umschiffte, kamen einmal zwei Eingeborene in Kanus seinem Schiff entgegen, wahr­ ten aber respektvollen Abstand. Einige Maori, die Cook an Bord hatte, beruhigten die Ängstlichen, die Weißen seien keine Men­ schenesser, »woraus hervorgehen dürfte, daß sie selbst diesem Brauche huldigten«. Immerhin hatte James Cook auf Neuseeland eindeutig Anthropophagie festgestellt und somit einigen Grund zu seiner Vermutung. Der Versuch, Eingeborenenangst als Indiz kannibalischer Ge­ pflogenheiten zu betrachten, konnte aber im allgemeinen den Be­ weis nicht liefern; man ließ, ironischerweise, dabei außer acht, daß auch die ankommenden Europäer vermutlich des öfteren Furcht empfanden, sie könnten verzehrt werden. Die beliebtesten »Beweise« für die anthropophage Anklage waren mit Händen zu greifen. Auf den Hervey-Inseln (Cook-Gruppe) entdeckten Beobachter menschliche Hirnschalen, die als Trink­ becher dienten. Obwohl den Insulanern, zumindest damals, das Menschenessen fremd war, dienten die Gefäße - vermutlich aus Pietät benützt - zu der Bezichtigung, »daß einst andere Gewohn­ heiten geherrscht hatten« (F. Ratzel). Der Reisende R. Parkinson erklärt in seinem Buch Dreißig Jahre in der Südsee die Vermutung für abwegig, Schädel oder menschliche Unterkiefer, die in den Hütten der Eingeborenen aufbewahrt wurden, seien unzweifel­ haft Reste kannibalischer Mahlzeiten. Viele Papua begruben ihre Toten in der Hütte und exhumierten die Gebeine nach mehreren Monaten. An der Astrolabe Bai besaß besonderen Erinnerungs­ wert der Unterkiefer eines teuren Verstorbenen, aus dem man ein Armband fertigte. Auf Neubritannien wieder bewahrte man den Schädel auf, der einen Ehrenplatz erhielt.

Der auf der Fidschi-Gruppe zum »Hohn« bemalte Menschenbraten ist nur eines der vielen Beispiele für die trügerische Sicherheit, mit der man in manchen »Quellen« Menschenesscm bestimmte Motive zugewiesen hat. Entrüstung bekundet sich offen, wenn festgestellt wird: »An der Ostküste der Geelrinkbai verzehren die Tarungares ihre eigenen Toten« - eine Erklärung des Brauchs wird nicht versucht. Nur zu deutlich wird suggeriert, die Kanni­ balen hätten ihre Lieben aus Fleischgier verschlungen, dem nied­ rigsten aller Motive. Die Zuverlässigkeit von »Zeugen« des Kannibalismus festzustel­ 146

len, fällt vor allem deshalb schwer, weil in der Mehrzahl der Fälle ein zweiter Beobachter, der sich zur selben Zeit in der gleichen Gegend aufhielt, nicht zur Verfügung steht. Die meisten Ent­ decker des Greuels waren einzelne. Darwin registrierte in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhun­ derts bei den Feuerländern den Brauch, in Notzeiten die alten Frauen zu verzehren. Einige Zeit später leugnet ein zweiter Beob­ achter jegliche Anthropophagie, und ein dritter verweist Darwins Befund kurzweg ins Reich der Fabel. Nicht anders erging es den Menschenfleischläden, welche du Chaillu im Gebiet der afrikani­ schen Fan gesehen haben wollte: seine Behauptungen wurden von anderen schlicht als Lügen abgetan. Etwas einfacher liegt der Fall, wenn Feststellungen zu Kannibalismus oder Nicht-Kanni­ balismus etwa gleichzeitig über ein Kollektiv getroffen wurden. Sie stimmen gelegentlich überein, differieren häufiger, wider­ sprechen einander vielfach diametral. Ein Beispiel für zahlreiche andere geben die Kaschibo in Südamerika ab. Drei verschieden­ artige Meldungen über diese »Kannibalen« erreichten Europa nach der Mitte des vergangenen Jahrhunderts: Erstens: »Die Kaschibo sollen Kannibalen sein«; zweitens: Sie verzehren nur ihre Alten, und dies aus religiösen Gründen; zum dritten: Sie führen Kriege, nur um sich Gefangene zur Gaumen­ lust zu verschaffen.

Groß ist die Versuchung, aufgrund solcher Widersprüche zu zwei­ feln, ob es bei den Kaschibo überhaupt Anthropophagie gab. Jedenfalls lassen die offenkundigen Übertreibungen erkennen, daß es weniger Kannibalen gab, als die Flut von »Quellen« behaup­ * tet. Nicht oder nicht voll verläßlich wirken Aussagen, die eine Vor­ eingenommenheit schon im Ton erkennen lassen. So werden von Reisenden im 19. Jahrhundert die Frauen »Primitiver«, und natür­ lich besonders von Kannibalen, fast durchweg als »Weiber« be­ zeichnet. G. Schweinfurth, der hochangesehene Afrikaforscher, hat eine besondere Vorliebe für diese herabsetzende Bezeichnung. Auch der Begriff des »Menschenmaterials« begegnet uns schon in dieser Umgebung. Typisch für eine ganze, und nicht kleine, Gruppe von Afrikareisenden jener Zeit und ihr Urteil, das so genau ihren Vorurteilen entsprach, ist die Einstellung gegenüber den Eingeborenen, wie sie sich kundgibt in den Sätzen: »Der Neger bleibt ein Kind, das regiert sein will. Er weiß dies und fühlt auch, daß er sich der weißen Rasse unterzuordnen hat.« Solche Töne ließen sich bereits 1874 vernehmen. Und wenig prophetisch heißt es weiter: »Nie wird er Gleichstellung mit dem Weißen beanspruchen, außer wenn es ihm von letzteren selbst * Kein Zweifel: Zu einem erheblichen Teil ist der augenblickliche Kannibalismus »Wilder« Produkt einer empörungssüchtigen Zivilisation.

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gelehrt worden ist. In Whyda an der Goldküste bemerkten die französischen Missionare, daß ihre Schüler stets >Weiß< und >Schwarz< durch >Herr< und >Sklave< übersetzten.« Sehen wir, wie H. M. Stanley zu der »Überzeugung« gelangte, die Basani müßten Menschenesser sein. Mit starken Worten tarnt er eine höchst schwache Beweisführung: »Es schien, als ob sie beim Anblick des Fleisches [einer geschlach­ teten Ziege] von einer Art Wahnsinn ergriffen würden, wie man ihn etwa bei einem hungrigen Raubtier erwarten könnte. Mit wilden Augen flehten sie um das kleinste Stückchen Fleisch und kämpften miteinander, als einer meiner Leute etwas unter sie warf. Eifrig sammelten sie die von der Ziege herrührenden Blutgerinsel vom Boden auf und blickten mit heißhungriger Gier jeden Bissen Fleisch an, den einer meiner Leute aß ...« Und schon ist Stanley, ganz folgerichtig, »überzeugt, daß die Batansi Kannibalen sind«. * Das penetrante Kulturmenschen-Bewußtsein, das aus solchen Zeugnissen spricht, die unverkennbare Voreingenommenheit, die bis zum Rassismus geht, hatte schon etliche der Konquistadoren beseelt. Ulrich Schmidels »Festpankett«, bei dem ein Charrua seine ihm lästig gewordene Frau auftafelt, gehört genauso wie Federmanns großzügige Anklage gegen ganze Indio-Stämme, an denen er nur eben so vorbeigezogen war (»Die vorgenannten Nationen oder Völker essen alle Menschenfleisch«), in die lange Reihe von Bezichtigungen, die im Grunde ein eigenes Rechtferti­ gungsbedürfnis stillten. Je übler die Greuel der »Primitiven«, je mehr verbreitet, von allen, ausnahmslos begangen, um so heller strahlten die edlen Besserungsbemühungen solcher Botschafter einer zivilisierten Gesittung.

Ohne derartige Voraussetzungen ging eine ganze Reihe von Män­ nern daran, sich mit den Kannibalen und den Ursachen und Be­ weggründen, die sie zum Menschenverzehr veranlaßten, intensiver zu beschäftigen. Unter diesen Zeugen kannibalischer Phänomene befindet sich immerhin eine ganze Reihe echter Augenzeugen. Die Berichte Livingstones aus Afrika heben sich wohltuend sach­ lich vom eifernden Ton Stanleys ab. H. H. Romilly (siehe Kapi­ tel 4) gibt eine der genauesten Darstellungen anthropophager Zubereitung und wirkt überzeugend durch die kühle, wenn auch nicht kalte Präzision seiner Schilderung. William Mariner, der Tonganer beim Menschenmahl beobachtete, ließ sich durch sein Entsetzen nicht zu Verallgemeinerungen fortreißen, sondern nennt die Insulaner ausdrücklich - freilich nicht ganz überzeugend »Notkannibalen«. Beobachter wie James Cook, Adalbert von Chamisso und Her' Hervorhebungen durch den Verfasser.



man Melville machen aus ihrem selbstverständlichen Abscheu vor dem Menschenessen kein Hehl, weisen aber die Unbedenklichkeit ab, mit der viele - namentlich auf das Argument der Anthropo­ phagie gestützt - die »Wilden« in Bausch und Bogen aus dem Menschengeschlecht ausschlossen. »Wie oft«, schreibt Melville, »wird die Bezeichnung >Wilde< zu Unrecht angewandt! Niemand, der sie wirklich verdient, ist bislang jemals von Reisenden zu Lande oder zu Wasser entdeckt worden.« * Von solchen Zeugen, die, durchaus nicht ohne emotionales En­ gagement, den Kannibalen mit dem Bemühen um Verständnis begegneten, waren allerdings Ratschläge zum »Ausrotten« nicht zu erwarten. Zahlreiche Missionare gehörten ebenfalls zu dieser Gruppe, denen die »Kartographierung« des Menschenessens und seiner Hintergründe in Wahrheit mehr verdankt als der Mehrzahl der »Quellen«, die, genau besehen, bis auf die westliche Zivilisation fast alle Welt zu Vereinten Nationen des Menschenverzehrs er­ nannt haben. Einer der Augenzeugen, der viele Indizien der Glaubwürdigkeit auf sich vereint, war Hans Staden. Er lebte als Gefangener - lange genug bei den Tupi, um Sprache und Mentalität seiner Gastgeber verstehen zu lernen. Ihr Kannibalis­ mus empörte ihn zutiefst, trübte ihm aber nicht den Blick. Er sah immer genau hin und bemerkte sogar Einzelheiten, die er selbst nicht recht verstand, die aber für die anthropophage Motivfor­ schung wertvoll sind. Er versuchte keine Auslegungen, sondern beschränkte sich auf präzise Beobachtung. Hans Staden, ein schlichter Ethnologe in seiner Art, dichtete (vermutete, behaup­ tete, kolportierte) nicht, sondern schrieb nur nieder, was er erlebt hatte. Seine Indianische Historia ist die Geschichte eines guten Zeugen.

Nicht ganz zuverlässige Anklagen wegen kannibalischer Bräuche wurden übrigens nicht nur gegen »Wilde« erhoben. Der kurze Blick auf die »Zeugen« sollte nicht ohne eine aparte Note schlie­ ßen. Höchst detailliert erzählten afrikanische Fuhla einem französischen Gewährsmann, wie die Menschenmahlzeiten bei den Europäern vor sich gingen. Kannibalischen Verdacht erregten auch die schon früh in Afrika einsetzenden Transporte, mit denen Europäer schwarze Sklaven aus dem Land schafften. Als Aloisius de Cadamosta 1455 Gambia anlief, teilten ihm Eingeborene mit, die Chri­ sten seien Kannibalen. Beweis waren ihnen die Sklaveneinkäufe; sie konnten sich keinen anderen Verwendungszweck der Ge­ kauften denken. Ganz präzise wurde ein anderer Europäer, Freiherr von Wrede, im Wadi Schura in Hadramaut (Südarabien) über europäisches * Melvilles Erlebnisbericht von den Marquesas erschien, empfohlen durch seine überzeugende Darstellung, auch in einer völkerkundlichen Ausgabe.

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Menschenessen informiert: Der Kaiser von Rußland, so erfuhr der erstaunte Baron, unterhalte eine Leibgarde von siebentausend Menschenfressern! »Überhaupt«, stellt der Kannibalenverfolger Stanley schockiert fest, »haben die Wilden uns oft als Menschenfresser angesehen.«

25 Ausreden und Verteidigung der Menschenesser »Es ist besser, in einem warmen Freund als in der kalten Erde begraben ^u liegen.« (Redensart der südamerikanischen Ucayali)

Die Menschenesser haben, als sie sich vor der Zivilisation recht­ fertigen mußten, vielerlei Entschuldigungen vorgebracht. Natür­ lich vergebens, aber diese Einlassungen lassen so klar wie nichts anderes ihre Beweggründe erkennen; vom Nichtbegreifen des Unterschieds zwischen Mensch und Tier bis zu Motiven, die nur als »religiös« zu bezeichnen sind, so grausige Opfer sie auch for­ derten. Offensichtlich war vielen Menschenessem der Mensch nicht Mit­ mensch, sondern etwas anderes: Tier, Toter oder Fremder. Sie entmenschten unbewußt den Artgenossen und gliederten ihn da­ durch in das Angebot des Eßbaren ein, das ihnen zur Verfügung stand. E. Evans-Pritchard meldete noch vor wenigen Jahren, daß die afrikanischen Zande Fremdenfleisch äßen, einfach weil es für sie gutes, wohlschmeckendes Fleisch war. »Was bedeutet mir ein Unbekannter« - so die Rechtfertigung. Und noch eine andere Ausrede findet man hier wie so oft für unbedachte Greuel: Der Azande, der einen Fremden aß, verzehrte ihn auch deshalb, weil seine Vorfahren es so gehalten hatten. Man habe ja nur getan, was man von seinen Vätern ererbt, war eine der verbreitetsten Exkulpationen von Menschenessem. Kon­ servativ bis auf die Knochen, aßen nach Haiti verpflanzte Neger noch vor hundert Jahren, wie amtlich festgestellt, ein kleines Kind zur Zukost von Kongobohnen und Yams. Als den Übeltätern der Prozeß gemacht wurde, belehrte eine der Angeklagten das Gericht, schließlich habe sie nur so gehandelt, wie ihre Mutter es sie als Religion ihrer Ahnen gelehrt habe. Und eine andere Kannibalin auf Haiti, die ihr eigenes Kind verzehrt hatte, führte gar ein merkwürdiges Naturrecht zur Entschuldigung ihres Appe15°

tits auf das eigene Fleisch an: »Und wer hätte ein größeres Recht dazu?« argumentierte sie. »Bin ich es nicht, die sie gemacht hat?« Wir erfahren leider nichts über das Motiv dieser lebensgefähr­ lichen Mama. Genauer informiert Martin Behaim schon 1492 über eine im Königreich Drageram aufJava herrschende Sitte der Krankentötung. Die Freunde des Erstickten entschuldigten ihr Tun mit dem Wunsch, den Leidenden vor den Würmern zu be­ wahren. Den gleichen Pietätsakt schreibt auch Marco Polo Be­ wohnern von Sumatra zu, nur weiß der Venezianer den Grund der »abscheulichen Gepflogenheit« noch präziser: Das Fleisch würde, wenn man es verwesen ließe, von Würmern verzehrt, und diese wiederum würden, wenn alles Fleisch gefressen sei, Hungers sterben, weswegen die Seele des Abgeschiedenen in einer anderen Welt unerträglich dulden müßte. Noch im letzten Jahr­ hundert gaben Batak - Bewohner derselben Insel - die Auskunft, sie übten ihren merkwürdigen Brauch (der bewußte Fall mensch­ lichen »Fallobstes«) aus reiner Pietät; die alten Leute sollten nicht den gefürchteten Würmern im Erdreich zum Fräße werden. Die Batak scheinen die Notwendigkeit erkannt zu haben, ihre kannibalischen Gebräuche Vertretern einer zivilisierten Welt ent­ schuldigend zu erklären. Neben einer bereits erwähnten Legende (siehe Kapitel 9) gab es die Überlieferung, daß in den guten alten Zeiten das Menschenessen bei ihnen völlig unbekannt gewesen sei. Während eines Bruderkriegs habe dann der Geist des Bösen die Menschen derart gegeneinander ergrimmt, daß sie aus über­ großem Haß und hemmungsloser Wut die Eßbarkeit von Feinden entdeckten. So sei bei ihnen das anthropophage Gerichtswesen gewissermaßen wider ihren Willen entstanden. Auf dem wegen der kannibalischen Exzesse notorischen Neu­ kaledonien (wo nach Ansicht mehrerer Beobachter auch die Nah­ rungsmittelknappheit Grund zum Menschenverzehr lieferte) ver­ teidigten sich Anthropophagen mit einer Rechtfertigung aus dem mythisch-religiösen Bereich: sie verwiesen auf den angeblichen Fischcharakter des Menschen. Mit ähnlichen Argumenten war­ tete man in Neuseeland auf, wozu noch der Hinweis auf das vermeintlich Natürliche der Anthropophagie kam. »Obwohl die Maori«, schreibt F. Maynard, »aus ihrer Unsitte kein Geheimnis machten, ließen sich zuweilen einzelne Häuptlinge herbei, einen Grund für ihr Tun anzugeben.« Beispiel einer solchen »natürli­ chen« Einlassung: »Die Fische des Meeres essen einander; die großen Fische essen die kleinen, die kleinen essen Insekten; die Vögel in der Luft machen ebenfalls Jagd aufeinander; und schließ­ lich verschlingen die Götter andere Götter. Warum sollten wir, von Feinden umgeben, einander nicht essen ?« Cook überlieferte eine ähnliche Ausrede: »Kann es denn böse sein, unsere Feinde zu essen; hätten nicht ebendiese Feinde mit uns dasselbe getan?« Und in Südamerika nahm ein Häuptling der Ui

Miranha den Feindesverzehr mit geradezu rationaler Argumen­ tation in Schutz: »Ihr Weißen wollt weder Krokodile noch Affen essen ... Dies alles ist nur Gewohnheit. Wenn ich den Feind erschlagen habe, ist es wohl besser, ihn zu essen als verderben zu lassen. Das Schlimmste ist nicht das Gefressenwerden, sondern der Tod!« Montaigne und Voltaire hätten ihm applaudiert. »Nur Kinder trinken Milch, Batak trinken Blut«, erklärte ein Batak stolz, als ihm Europäer Tee mit Milch anboten. Ertappte Kannibalen verteidigten sich gerne mit Argumenten, die auf »ma­ gische« Motive deuten. Im letzten Jahrhundert berichtete ein Reisender in Ober-Sarawak einem Regierungsbeamten, Mitglie­ der eines Dajak-Stammes hätten ihm ihre kannibalischen Ge­ bräuche so erklärt: »Wenn wir kein Kriegerfleisch essen, wie können wir hoffen, auch so furchtlos zu werden wie sie?« Ganz ähnlich argumentierte eine kannibalische Beihelferin am anderen Ende der Welt. J. Long, ein englischer Holzhändler, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch Kanada und das Gebiet der großen Seen zog, ließ sich von einem Jesuitenmissionar eine Geschichte erzählen, »die niemand ohne Schaudern anhören wird«. Eine Indianerin in der Mission wurde überrascht, als sie ihre Kin­ derschar mit einem gefangenen Engländer futterte, den ihr Mann nach Hause gebracht hatte. Sie schlug ihm als erstes einen Arm ab und gab den Kleinen das warme Blut zu trinken. Dem Missionar, der ihr die Grausamkeit ihres Tuns vorhielt, erklärte sie verständ­ nislos : »Ich will Krieger aus ihnen machen, und darum futtere ich sie mit Speise von Menschen.«

Man sollte noch einmal daran erinnern, daß die »profanen« Men­ schenesser sich in zwei deutlich verschiedene Gruppen gliedern, in solche, denen der Mensch ein Tier unter anderen war, und jene, die kulinarisch zu unterscheiden wußten und im Menschen das beste Gericht sahen, nicht einen anderen Affen, einen besseren Hund. Unbekümmert bekannte sich ein Tupi, bei denen Hans Staden in der Gefangenschaft weilte, als Tier, das Menschen als Tiere frißt. Auf die kühne - und nicht ganz korrekte - Vorhaltung des Deutschen: »Ein unvernünftiges Tier frißt kaum das andere, sollte dann ein Mensch den andern fressen ?« biß der Kannibale in einen saftigen Menschenschenkel und replizierte kühl: »Jauára iché (Ich bin ein Tiger), es schmeckt mir.« Die Frage, wie man in Melanesien überhaupt auf das Menschen­ essen verfallen sei, beantwortete der Forschungsreisende J. Garnier mit der Wiedergabe einer Unterhaltung, die er darüber mit einem Neukaledonier geführt hatte. Der »Primitive« gab ihm zu beden­ ken, daß die Europäer über bessere Speisen verfugten; für die 152

armen Neukaledonier hingegen sei Menschenfleisch das Schmack­ hafteste. Das Verlangen nach dem relativ besten Fleisch führten auch andere Kannibalen an, wenn sie ihren Brauch rechtfertigten. Der bereits erwähnte Missionar W. H. Bentley berichtet von solch einer Menschenesser-Befragung. Der betreffende Eingeborene erteilte die schlichte Auskunft: »Für euch Weiße ist Schweinefleisch das Leckerste, aber Schweinefleisch läßt sich mit Menschenfleisch nicht vergleichen.« Die Antwort darauf mußte dem mit Menschen­ fleisch unbekannten Missionar allerdings schwerfallen. Es blieb nicht bei solch vergleichsweise duldsamen Bemerkungen befragter Anthropophagen zur Verschiedenheit des Geschmacks von ihresgleichen und Nicht-Kannibalen. Manche zeigten sich sogar betroffen, daß man dem Menschen geringeres Fleisch vor­ ziehen möge. Der Scharfrichter eines Häuptlings in Kamerun gestand einem Europäer ungescheut, daß er Menschenfleisch schätze. Nach die­ sem Bekenntnis drehte er den Spieß um und nannte den Ge­ schmack seines Gesprächspartners schlicht bestialisch. Er warf ihm vor, rohe Eier zu trinken und rohes Tierfleisch zu essen - solches täten weit und breit nur wilde Tiere! Noch schärfer drückten sich Angehörige des afrikanischen Bangwa-Volkes gegenüber einem auf ihre Besserung bedachten Zivi­ lisierten aus: »Ihr eßt Tiere von viel niedrigerer Ordnung, wäh­ rend wir den Menschen essen, der doch das Höchste von allem ist.« Und im stolzen Bewußtsein ihrer überlegenen Eßkultur schlossen sie: »Ihr seid heruntergekommen, nicht wir!« Man sieht, in welche Verlegenheiten Bekehrer geraten konnten, welche die »Wilden« zur Abkehr von inhumanen Bräuchen an­ hielten. Wenig Erfolg hatte schon Hemän Cortez, der Eroberer Mexikos, gehabt. Er führte mit Montezuma ein Gespräch über die blutigen Religionssitten der Azteken und versuchte den ge­ fangenen Herrscher von der Abscheulichkeit der Menschenopfer und den Wohltaten des Christentums zu überzeugen. »Aber«, schreibt der Historiker Prescott sarkastisch, »die Lehren waren zu dunkel an sich selbst, um vom rohen Verstände eines Wilden begriffen zu werden. Und Montezuma dachte vielleicht, es sei nicht gräßlicher, sich vom Fleische eines Mitgeschöpfes zu nähren als von dem des Schöpfers selbst.« Es läßt sich denken, wie schwierig Missionaren erst die Bekehrung von Kannibalen fallen mußte, die im Menschenverzehr eine Art sakramentaler Handlung sahen. Um so höher einzuschätzen ist, daß es den Dienern des Glaubens schließlich doch so oft gelang, den Begriff vom Menschen als dem höchsten und gleichwohl nicht eßbaren Lebewesen durchzusetzen.

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An Fürsprechern hat es den Kannibalen überraschenderweise nicht gefehlt. Wer konnte es wagen, die Mitmenschenesser in Schutz zu nehmen ? Die Verteidiger der Kannibalen haben es gewagt, obwohl sie den Kannibalismus uneingeschränkt verurteilten. Sie haben nicht nur diesen einen, auffallendsten Aspekt des Anthropophagenlebens sehen wollen, sondern darauf bestanden, daß die Irregeleiteten menschlicher Regungen fähig, ja sogar achtens- und liebenswert sein konnten. Chrysipp und Zeno, die beiden berühmten Vertreter der Stoa, nahmen zwar nicht den Menschenverzehr als solchen, aber doch das Leichenessen in Schutz und fanden, nach Montaigne, nichts dabei, »sich unserer Kadaver auf welche Weise auch immer zu unserer Notdurft zu bedienen«. Michel de Montaigne selbst hat sich wortgewaltig für die Kanni­ balen eingesetzt und ihre Motive mit den Beweggründen für zivilisierte Untaten seiner Zeit verglichen. Dieser Vergleich des großen Moralisten fiel nicht gerade zugunsten einer Welt aus, die sich angeschickt hatte, jenseits der Meere eine fremde Welt fremde Gesittung - und fremde Greuel - zu lehren. Herman Melville, ein anderer Fürsprecher der Menschenesser, nahm zwei Jahrhunderte später diesen Faden auf und wählte eben­ falls zivilisierte Gebräuche, um den Untaten der Menschenfleisch­ freunde kaum mindere, vielleicht ärgere Greuel gegenüberzu­ stellen : »Ich möchte die Frage stellen, ob der bloße Genuß von Men­ schenfleisch soviel barbarischer ist als jene Sitte, die noch vor ein paar Jahren im zivilisierten England herrschte: Dem Hochver­ räter-vielleicht einem Menschen, den man der Ehrlichkeit, Vater­ landsliebe und anderer Verbrechen für schuldig befunden hatte hieb man dort den Kopf mit einem riesigen Beil ab, riß ihm die Eingeweide heraus und warf sie ins Feuer, spießte den gevierteilten Leichnam samt dem Kopf auf Pfähle und ließ ihn auf öffentlichen Plätzen verfaulen und verwesen!« So grauenhaft die Sitte des Menschenessens auch sei, urteilte Melville, »behaupte ich dennoch, daß diejenigen, die ihr frönen, in anderer Hinsicht menschlich und tugendhaft sind«. Natürlich entschuldigten zivilisierte Übergriffe nicht die Schand­ taten »Primitiver«. Was Montaigne und Melville ins Licht rücken wollten, war die Selbstgerechtigkeit einer Welt, die, von eigenen Lastern kompromittiert, sich in der Rolle des Sittenrichters höchst merkwürdig ausnahm. Melvilles freundliche Einstellung zu den Kannibalen hat mehrere Nachfolger gefunden. Der Maler H. Ward, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den durch europäischen Einfluß keineswegs vom Menschenessen befreiten Kongo bereiste, schildert in seinem Be­ richt A Voice front the Congo die Naivität, mit der Kannibalen, 154

denen er begegnete, der fatalen Vätersitte anhingen. »Aber ihr eßt doch tote Menschen?« fragte er Bewohner eines Dorfes, wo er Menschenfleischstücke bemerkt hatte, die an Feuern geräuchert wurden. »Io; io te?« antworteten sie ihm verblüfft. - »Ja, du denn nicht?« Ward kam aus persönlicher Anschauung zu der wohl allzu kannibalenfreundlichen Erkenntnis, die Menschenesser des Dschungels seien »unendlich sympathischer als die Bewohner des freien Landes« mit ihrem angeborenen Instinkt zum Übervortei­ len. Die Anthropophagen im finsteren Wald, so meint er, kennten weder Tücke noch Hinterhältigkeit. »In direktem Widerspruch zu allen natürlichen Annahmen gehören sie zu den besten Men­ schen, die es gibt.« Nach diesen Plädoyers für die Menschenesser ein gutes Wort für den Kannibalismus selbst. Beginnen wir mit der Aussage eines ganz unverdächtigen Zeugen - eines Missionars. Pater Fräßle, der natürlich den Menschenverzehr verurteilt, schildert doch be­ wundernd die erstaunlichen Kenntnisse der kongolesischen Primitiv-Ärzte bei der Behandlung von Verstauchungen, Knochen­ brüchen und Lungenentzündungen. Sie verstanden sich genau auf die Lage von Sehnen und Muskeln, ein Wissen, das sie ihrem kulinarischem Interesse am menschlichen Körper verdankten. »Die alten Kannibalen«, bemerkt der Missionar trocken, »sind ja Meister in der Anatomie.« Die gleiche Beobachtung machten andere Zeugen bei den Maori. Der amerikanische Anthropologe A. Rice hebt hervor, daß der Kannibalismus der neuseeländischen Ureinwohner auch seine guten Seiten hatte. Er schreibt: »Daher kommt es, daß ein Maori sich oft so vortrefflich auf die Chirurgie versteht - eine Chirurgie, die wohl grob, trotzdem aber höchst wirkungsvoll ist. Er kann leidlich gut mit ausgerenk­ ten Gelenken und Knochenbrüchen umgehen, wenn auch mangels geeigneter Instrumente . .. jeder Patient, der sich der Amputation etwa eines Armes oder Beines unterzieht, eine Schmerzunemp­ findlichkeit zeigen muß, die den Amateur-Chirurgen bei der Operation nicht nervös macht.« Natürlich hat der Kannibalismus, wie Mord und Totschlag, immer die von ihm befallenen Gemeinschaften bedroht. Darum mag es eine Ursache des freiwilligen Verzichts auf das Menschenessen gewesen sein, daß es schließlich sozial gefährlich, also für alle be­ drohlich wurde. Die Abkehr von solch ehrwürdigem Brauch wurde zur Kulturleistung, die Sitte selbst zur Schandtat, zur Un­ sitte. Diese Überlegung gab Georg Forster, dem deutschen Be­ gleiter Cooks, die für einen Zivilisierten höchst kühle Apologie des Menschenessens ein: »Sosehr es auch unserer Erziehung zuwider sein mag, so ist es doch an sich weder unnatürlich noch strafbar, Menschenfleisch US

zu essen. Nur um dessentwillen ist es zu verbannen, weil die ge­ selligen Empfindungen der Menschenliebe und des Mitleids so leicht dabei verlorengehen können.« Kein Kannibale hätte sich und den Kannibalismus besser verteidi­ gen können.

26 Mildernde Umstände »Ja, man durfte sie töten, doch nie die Getöteten essen.« (Ovid, Metamorphosen)

Vor dem Gericht der zivilisierten Moral hat der Kannibalismus verloren. Er Heß sich vertreten durch die Kannibalen, die, nach dem allgemeinen Urteil, trotz mancher Verteidiger, schuldig be­ funden wurden, sich gegen die göttlichen Gesetze, gegen Natur und Humanität vergangen zu haben. Die heute weltbestimmende Zivilisation, die sich antikannibalisch entwickelt hat (sie hätte auch eine andere Richtung nehmen können, wie die Kulturentwick­ lung anthropophager Gemeinschaften zeigt), war Ankläger und Richter zugleich. Diese Universalmoral, die hier Urteil sprach, war in hohem Grade missionarisch gesinnt, also intervenierend und aggressiv. Fast alle Kulturen anthropophager »Wilder« sind heute mit Zwang ver­ ändert, die meisten vernichtet, keine mehr so wie vor der Ankunft der »Welt«. Und dabei besteht diese Moral, die, so überzeugt von ihrem höheren Auftrag, bei den »Primitiven« eine neue Ethik durchsetzte, noch nicht so lange; aus zaghaften Anfängen nur sehr allmählich gedeihend, oft in der Orientierung unschlüssig, vergaß sie schließlich die eigene inhumanere Vergangenheit oder verdrängte sie geflissentlich. Es ist noch nicht lange her, daß die Erinnerung an eine immer gegenwärtige Vergangenheit, das Be­ wußtsein latenter, nur dünn überdeckter »Primitivität« erwachte. Und mit einemmal hat jedermann das Wort Aggression auf den Lippen. Diese exportierte Moralität war in hohem Grade selektiv. Sie verdammte den Mord, sie verurteilte schließlich den Krieg, zu­ mindest im Lippenbekenntnis. Aber der ärgste Stein des Anstoßes war ihr das Menschenessen (das, es fugte sich gut, in den Ländern der Zivilisation nicht, beziehungsweise nicht mehr, existierte). Sie hat den Kannibalismus - als Sitte - ausgerottet, mit Stumpf und Stiel und etlichen Kannibalen dazu. Die Menschenesser wur­ den angepaßt oder beseitigt. Sie waren unerträglich geworden.

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Es läßt sich schwer entscheiden, ob der antikannibalische Affekt, der unstreitig zu einem guten Ende führte, sich gegen das Töten schlechthin oder gegen das Töten zwecks Verspeisung richtete. Da sich aber im Bereich der Zivilisation Menschenopferungen (mit welcher Rechtfertigung auch immer) so lange halten konnten, da gewaltsamer Tod und Grausamkeit noch immer nicht ausge­ rottet sind, bleibt die Vermutung, daß es der Horror vor dem Menschen verzehr war, der in Wahrheit so sehr gegen die Kanni­ balen aufbrachte. Bestimmte vielleicht nicht Erbarmen mit den Opfern (oder gar ihren unwissenden »Mördern«), sondern Entrüstung die Kultur zum Kampf gegen den Kannibalismus? Oder, überspitzt ausgedrückt, ging es der Empörung über das Menschenessen um den unerträglichen Verstoß gegen eigene, höchst subjektive Wertvorstellungen - und war das Schicksal der Gegessenen sekundär? Die Opfer der Anthropophagie, das Speisematerial, hatten es so­ gar bei manchen Fürsprechern der Menschenesser nicht leicht. Zuweilen, und gar nicht selten, heißt es in den »Quellen«, sie hätten sich aus freien Stücken, ja eifrig zur Schlachtbank fuhren lassen. Es mag, soviel sei zugegeben, hin und wieder vorgekom­ men sein, daß das Gefühl des Lebensüberdrusses, daß die Einflüsse einer kannibalisch prägenden Umwelt und Erziehung solche Art von Selbstmord möglich machten. Indes, die Geschichten, die Herodot von mehreren Völkerschaften erzählt, deren alte Gene­ ration sich nachgerade unters Messer gedrängt habe, das Schauer­ märchen von den Betagten, die von Bäumen oder Dächern sich in den geöffneten Rachen der Verwandtschaft fallen ließen solche Behauptungen dürften Märchen sein, die Aufsehen erregen sollten und schon damals Sensationswert hatten. Im allgemeinen drängten sich die Opfer schwerlich zum Sterben. Und ebenso hat ihre Angst wohl vor allem dem Umgebracht­ werden gegolten. Viele Beispiele zeigen, daß es den Opfern gleichgültig war, ob sie nach ihrem natürlichen Tod verspeist wur­ den. Aber sie wollten nicht getötet werden, damit man sie ver­ speisen konnte. Mag sein, man fand es besser, »in einem warmen Freund als in der kalten Erde begraben zu liegen«, doch das hatte Zeit. Gewiß zogen es viele vor, an einem Mitmenschenmahl teil­ zunehmen, als dabei serviert zu werden.

Ein präziser Gradmesser des Abscheus vor anthropophagen Akten läßt sich schwerlich aufstellen; fast jeder Beobachter empfindet in mehr oder minder starken Nuancen anders. Einhellig aber ist die Verurteilung des sogenannten kulinarischen Kannibalismus als der abstoßendsten Spielart und weit verbreitet eine gewisse Nachsicht, die man zeremoniellen und »religiösen« Formen des Menschenessens entgegenbrachte. Ebenso hat Anthropophagie als 157

ungewollter letzter Ausweg in Situationen am Rande der Existenz eher Milde gefunden - Pardon für alle Numantiner des Menschen­ essens. Zwischen diesen Polen spannt sich die Breite zivilisierter Reak­ tionen auf den »äußersten Greuel« und die Motive, welche die Menschenesser tatsächlich oder angeblich dazu brachten. Vergleichsweise gelinde verfuhren europäische Zeugen des öfte­ ren mit Kannibalenakten, welche die Einverleibung der begehrten Tugenden eines gefällten Feindes bezweckten; erkannte man dar­ in doch immerhin eine zweckgerichtete Handlung. F. Maynard schildert, daß Maori-Krieger nach einem erfolgreichen Kampf zuerst die Leichen der ältesten und tapfersten Gegner verzehrten und diejungen beiseite legten, obwohl sie fleischiger und schmack­ hafter waren. Maynard bemerkt dazu, von diesem Gesichtspunkt betrachtet sei der Kannibalismus unter Barbaren beinahe »ent­ schuldbar«. G. Vaillant geht noch weiter in der Nachsicht, wenn er ähnliche »magische« Anthropophagie bei den Azteken »nichts Böses« nennt. Das Verlangen nach Vergeltung, besonders die Blutrache, ent­ standen aus einer tiefen persönlichen Erschütterung, hat - nicht unverständlich - ebenfalls relativ milde Beurteilung gefunden. Die Samoaner verzehrten, nach A. Rice, Menschenfleisch über­ haupt nur aus diesem Beweggrund, und der amerikanische An­ thropologe betont mit Emphase, daß die Anthropophagie der Samoaner niemals den Tiefstand der fleischlüstemen Fidschi-In­ sulaner erreicht habe. Sogar der Totalverzehr eines Menschen in Vertilgungsabsicht fand noch eine gewisse Entschuldigung. »Ein Element, etwas weniger schändlich als schiere Gier nach Men­ schenfleisch«, entdeckte G. Hogg bei nigerianischen Menschenessem, die per Kannibalismus die Rückkehr des Geistes eines Ver­ storbenen aus einer anderen Welt verhindern sollten. Solch nachsichtigere Beurteilung bestimmter Gruppen von Anthropophagenakten gibt aufschlußreiche Hinweise auf die psy­ chische Verfassung der betreffenden Kannibalen-Beobachter, auf das psychische Milieu, aus dem sie ihr Verständnis für Angst (Wurzel von Vertilgungswünschen), Rachsucht und Sehnsucht nach Selbstverbesserung mittels Einverleibung fremder Kräfte mitbrachten. Am deutlichsten aber bekundet sich die zivilisierte Mentalität an der Einstellung so vieler »Zeugen« zum sogenannten religiösen Kannibalismus. Dem Menschenessen um der Götter willen wurde wahrhaft »mildernde Umstände« zugebilligt. Die kultische Moti­ vation solcher Untaten hat vielleicht unbewußt die Erinnerung geweckt, daß auch anderwärts, in anthropophagiefreien Gegen­ den eine irregeleitete Religiosität sich in Extreme verirrte und Opfer verlangte, die einer später erwachten Humanität Verlegen­ heit bereiteten. US

Wer weiß, vielleicht hätten die Azteken - deren Menschenver­ zehr ein »feierlicher, ein zeremonieller Akt« (G. Hogg) war ihren Glauben, dessen metaphysische Tiefe immer Bewunderung gefunden hat, zu einer menschenfreundlichen Religion geläutert? Anzeichen einer beginnenden Sublimation gab es, stellenweise waren die menschlichen Opfer bereits durch Symbole ersetzt. Es ist denkbar, daß die entkannibalisierenden Konquistadoren, wenn sie hundert Jahre später nach Mexiko gekommen wären, auf eine der humanen Begründungen ihrer Mission hätten ver­ zichten müssen.

27 Von Barbaren, Wilden und Menschen »Daß alle Völker ihre Lebensart für die beste anseben, dessen gibt es viele Exempel.« (Herodot, Historien, 3. Buch)

Wir sind in jedem Fall Gesittete, Kulturmenschen, der Maßstab des Wertes der andern. Die andern sind Fremde, Barbaren, Wilde. Im Grunde erregt es Erstaunen, daß es sie überhaupt gibt - dem Staunen folgt die Aggression. Wir, das waren und sind beileibe nicht nur die Bewohner des westlichen Zivilisationskreises. Auch andere hielten sich allein für Menschen, für richtige Menschen. »Innuit« nannten sich die Es­ kimo - »Menschen«. Die andern, die Fremden waren für die Griechen, zumindest einige Zeit, »barbaroi«, Stammler, weil sie keine vernünftige Sprache, die griechische nämlich, sprachen. Oder es konnte von einer Sprache überhaupt nicht die Rede sein, wie bei den »nemtsy«, den Stummen, wie man in Rußland ger­ manische Völker nannte. Solche barbarischen Brandmarkungen fanden sich noch mitten in unseremjahrhundert. 1933 belehrte, im Taumel eines xenophoben Aufbruchs, ein gewisser Hermann Gauch seine deutschen Volks­ genossen : »Die nordische Rasse allein kann Laute von ungetrübter Klarheit hervorbringen, während bei den nichtnordischen Men­ schen und Rassen die Aussprache unrein, die einzelnen Laute verwischt und tierischen Lauten ähnlich sind.« In hysterischer Formulierung wird hier der Kem bloßgelegt: Die andern Spra­ chen sind Tiersprachen. Die »sprechenden Tiere« kehren zurück. Wir, in diesem Fall ein Schweizer Kindervers, singen über Aus­ wärtige : 159

Zu leben in eurem Land ist a gottlose Schänd. In unserem Land ist gut leben, die Schelmen wohnen daneben.

Nicht ganz zutreffend scheint es, wenn der Ethnologe BirketSmith schreibt: »Es ist ein Merkmal der primitiven Kultur, daß sie sich selbst genügt.« Dies gilt auch für »höherstehende« Zivilisa­ tionen. Offenbar dauert es Jahrhunderte, bis Fremdenfeindlichkeit - und Fremdenangst - sich so weit abschleifen, daß sie ihre Viru­ lenz verlieren. Lind selbst dann gibt es keine Garantien gegen jähe Ausbrüche des gezähmten Affekts, wie sich nicht nur an Kriegen, sondern an tausend Alltagssituationen zeigt. Woher stammt diese »Selbstgenügsamkeit«, dieses Wir-Gefühl, uralter Vorgänger des Nationalgefühls, woher dies Verlangen nach Einteilung in Menschen und Quasi-Menschen, das soviel Sehnsucht nach Geborgenheit in der überschaubaren Gruppe ver­ rät? Woher kommt dieses Stammgefühl, das ein Kollektiv in Notzeiten und bei Bedrohung, von außen »wie ein Mann« eint und sich, in merkwürdiger Ambivalenz, in gefahrlosen Zeitläuften nach innen kehrt, xenophob gegen andere Gruppen der eigenen Gemeinschaft wirkt, sie einteilt in bessere Leute und das einfache Volk und etliche andere diskriminierende Kategorien mehr? Wir wissen heute, daß dieses Phänomen in allen Kulturen und zu allen Zeiten auftrat. Und wir wissen auch, daß Tierkollektive ein ähnliches Wir-Gefuhl entwickeln. Viel spricht dafür, daß es sich nicht um eine erlernte, sondern um eine angeborene Disposition handelt. I. Eibl-Eibesfeldt meint: »Wir neigen dazu, Mitglieder der fremden Gruppe in ein Feindschema zu pressen, und es erhebt sich die Frage, ob wir dabei zwanghaft gewisse Gedankenver­ knüpfungen vornehmen.« Pavian- und Dohlengruppen - um nur diese Beispiele zu nennen - stehen »wie ein Mann« zusammen, auch wenn nur ein einziger von ihnen angegriffen wird. Unstreitig hatte das zwiespältige Bedürfnis nach Abgrenzung gegen andere und Geborgenheit unter Gleichartigen, im Lande zu bleiben und sich redlich zu nähren, auch sein Gutes: Es führte zur Bildung unserer heutigen Kulturkreise. »Diese Differenzie­ rung«, kommentiert Eibl-Eibesfeldt, »ist sicher ein Wert, und keiner möchte auf die kulturelle Buntheit der Menschheit ver­ zichten.« Diese Buntheit in allen Ehren, aber mancher hätte gerne verzich­ tet auf die weniger positiven Folgen des Urphänomens, der an­ scheinend angestammten Xenophobie: Unterdrückung, Unter­ werfung, Krieg, Rassenhaß, Haß auf den andern. Die Abneigung gegen das Fremde, gegen die Fremden führte unzweifelhaft zur Erzeugung zahlreicher Kannibalen; nicht nur

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in den Weltbeschreibungen früher »Zeugen« der Anthropophagie. Immer wieder erlebten europäische Entdecker, daß Eingeborene ferne Völkerschaften oder ihre Feinde der Sitte des Menschen­ essens bezichtigen. Melville bemerkt, daß man auf der MarquesasGruppe die Bewohner der Insel, auf die er desertiert war, »Taipi« Menschenfresser - nannte, während doch die anderen Insulaner ebenso »unverbesserliche Kannibalen« waren. Herodots »Andro­ phagen« sind nur eine aus einer langeh Reihe von Gemeinschaften, deren Name schlicht »Menschenesser« bedeuten soll. In Liberia nannte man einen Stamm Kumbas Manez, in Nigeria die Be­ wohner der Landschaft Jacoba Yemyem, und die berüchtigten Niam-Niam sind uns bereits geläufig-all diese Namen bedeuteten nichts anderes als Kannibalen.

Barbar, ein Wort, das bei den Griechen ursprünglich jedem galt, der ihrer Sprache nicht mächtig war, erhielt erst später seine her­ absetzende Nebenbedeutung. Noch bei Aischylos (in den »Per­ sern«) hat es diese nicht. Plato und andere griechische Denker wandten sich mit Nachdruck gegen die Einteilung der Menschen in Hellenen und Barbaren, die dann später von dem christlichen Begriffspaar populi und gentes aufgenommen wurde und sich noch lange fortsetzte, in »welsch«, »undeutsch«, »un-American« etc. etc. Schließlich wurde »Barbar« zur Bezeichnung für alle, die außer­ halb des eigenen Kulturkreises wohnten - und diesen bedrohten. Die Römer waren für die Griechen zuerst Barbaren und nahmen ihnen die Freiheit. Die Römer wiederum nannten die bedroh­ lichen Germanen nicht anders. Als die Heere und Horden des Ersten Kreuzzuges sich in Richtung Byzanz in Marsch setzten, schrieb in der oströmischen Hauptstadt, die sich ganz als Mittel­ punkt der damaligen Kulturwelt empfand, die Prinzessin Anne Komnene, daß »das ganze Abendland und alle barbarischen Völ­ ker von jenseits der Adria und hinaus bis zu den Säulen des Herku­ les sich samt und sonders in Bewegung gesetzt haben«. Tatsächlich führten sich dann auch etliche dieser Barbaren-Rotten höchst bar­ barisch im andern Wortsinn auf, roh, wild, zügellos und grausam.

Ungleich jünger als der »Barbar« ist der »Wilde«, eine ganz bewußt und von Anfang an geringschätzige Benennung. Lange Zeit trugen dieses Etikett jene »primitiven« außereuropäischen Ge­ meinschaften, die man später, wohl auch unter dem Eindruck des Rousseauismus, schamhaft in »Naturvölker« umtaufte. Doch wilde, im Urzustand primitive Völker gibt es schon seit vielen tausend Jahren nicht mehr. »Jeder Stamm«, bemerkt Birket-Smith, »auf wie tiefer Stufe er sich auch befindet, hat die Entwicklung und Erfahrung unzähliger Generationen hinter sich.« Welche Eigenschaften hat man dem »Wilden« - den es nicht gab 161

- zugeschrieben? Was machte ihn wild? Der Völkerkundler F. Ratzel Heß sich 1885 über den Charakter des Wilden - hier des Negers - so vernehmen: »... und was im Ernstfall vielleicht am wichtigsten ist, er hat einen angeboren niedrigeren Begriff vom Wert eines Menschenlebens als der weiße oder der gelbe Mensch.« Mit einem Wort, er war unmenschlich. Dazu, natürlich, war er nie auf Kulturerfindungen wie Geld oder Schrift gekommen, er trieb keine organisierte Landwirtschaft, begrub seine Toten nicht, wie es schicklich war. Der Wilde stand am Fuße der Kulturleiter und hatte keine Chance, diese jemals zu besteigen. Gegen dieses hoffnungslose Porträt schrieb einer der Freunde der »Primitiven«, Adalbert von Chamisso, das heute Selbstverständ­ liche: »Die verschiedenen Erfindungen .... welche die verschie­ denen Stufen der Gesittung abzumessen geeignet sind, auf denen Völker unseres Kontinents sich befinden, hören unter so verän­ derten Bedingungen auf, einen Maßstab abzugeben für diese insularisch abgesonderten Menschenfamilien, die unter diesem won­ nigen Himmel ohne Gestern und Morgen dem Momente leben und dem Genüsse.«

Doch schon lange vor Chamisso hatte die Reaktion eingesetzt auf das Zerrbild vom »Wilden« samt den bekannten inhumanen Konsequenzen. Montaigne und Voltaire malten das Leben anthropophager Indianer vielleicht eine Spur zu idyllisch. In der Literatur schlug Aphra Behn mit ihren Oroonoko zum erstenmal den Ton an, den später Rousseau mit dem »edlen Wilden« aufnahm. Die Gestalt des unverdorbenen, unschuldigen Naturmenschen wurde zum Vehikel des romantischen, antizivilisatorischen Affekts. Die europäischen Entdecker, die im 18. Jahrhundert in die Südsee kamen, brachten vermutlich diese verklärte Auffassung vom glücklicheren, sorg- und sündelosen Naturkind mit. Sie mußten mit Betroffenheit erkennen, daß die »edle Wildnis« anders aussah. Um so höher ist vielen von ihnen die Gelassenheit anzurechnen, die sie dennoch bewahrten. Krasse Säuberet ä la Schweinfurth und Stanley, Totschläger und Durchgreifer waren dem folgen­ den, weniger duldsamen Jahrhundert vorbehalten, als es galt, die Entmündigung von »Halbmenschen« mit moralischen Rechtfer­ tigungen auszustatten.

Der »angeboren niedrigere« Begriff vom Wert eines Menschen­ lebens war natürlich den Erzwilden unter den »Wilden« noch an­ geborener: den Menschenessem. Vor hundert Jahren noch defi­ nierte ein Konversationslexikon Menschenesser als »gemeine, rohe und wilde, auf der untersten Kulturstufe stehende Völker ...« Jedoch dieser apodiktischen Meinung war bereits lange vorher widersprochen worden. James Cook hatte die Bewohner der Ge­ sellschaftsinseln für ihre künstlerische Begabung gelobt. Talbot 62

und andere bestritten rundweg einen Zusammenhang zwischen Entwicklungs- und Moralniveau und anthropophager Sitte. Der Kannibalismus, bemerkt Talbot, sei sogar unter Stämmen in Übung gewesen, die sonst die aufgeklärteste Denkart zeigten. Wißmann attestierte den Bassongo, denen er Anthropophagie nachsagte, sie seien »hochstehend«, und A. Reischek, der viele Jahre auf Neuseeland verbrachte, hat das Maorivolk als »trotz seiner kannibalischen Grausamkeiten sittlich und geistig hoch­ stehend« erlebt. Diese Erkenntnis, Kannibalismus bedeute nicht notwendig den tiefsten Kulturstand, hat sich schließlich durchgesetzt. 1871 stellte auf dem Internationalen Anthropologenkongreß ein Wissen­ schaftler sogar die provozierende These auf, je ärger ein Kollektiv sich dem Menschenessen ergebe, um so rascher entwickle es seine Fähigkeiten in Landwirtschaft, Gewerbe, Kunst und Gesetzge­ bung. Kulturfördemder Kannibalismus? Nun gewann die Überzeugung die Oberhand, »daß es sich bei den Kannibalen um vergleichsweise kultivierte Völkerstämme handelt, jedenfalls aber nicht um Leute, die aus halb tierischer Roheit nicht in der Lage wären, einen gefühlsmäßigen Unter­ schied zu machen zwischen Mensch und Tier« (E. Volhard). Dieses Zugeständnis war nicht in jedem Fall positiv gemeint. Nur zu oft enthielt es den unausgesprochenen Vorwurf, daß solch kultivierte Wilde noch sündhafter handelten als Primitiv-Kannibalen mit geschmälerter Einsicht und - damit - Verantwortung. Den Batak beispielsweise mit ihrem Strafkodex, der sie einem westlichen Kulturbegriff so angenehm empfahl, hätte die Erkennt­ nis kommen müssen, daß der Kannibalismus einen Exzeß der Rechtspflege darstellte. Wie Richter, welche die besonders hohe Intelligenz eines Übeltäters im Strafmaß erschwerend berücksich­ tigen, wies man anklagend auf die zivilisatorischen Ansätze bei so vielen Menschenessem hin. R. Zöllner entdeckt in seinem Werk Der schwarze Erdteil und seine Erforscher gar bürgerliche Tugenden an notorischen Anthropophagen, Tüchtigkeit, Anstand, Fleiß, die vielleicht nicht gerade die Kultur ausmachen, aber zu den schönsten Hoffnungen berech­ tigen. »Die Fan sind tüchtige Jäger; sie verstehen die Eisenberei­ tung, fertigen treffliche Waffen, und wenn auch ihre ganze Klei­ dung nur in einem Lendenschurz besteht, so halten sie doch auch auf Keuschheit der Frauen und der Jugend.« Und, was vielleicht noch mehr für sie einnahm, »ihre Dörfer bilden eine lange, reinlich gehaltene Straße«. Dabei konnten es diese sauberen Menschenesser noch nicht mit den Mangbetu aufnehmen, jenen anderen Superkannibalen des Kontinents. Sie erstaunten Schweinfurth als »Menschen, mit denen sich vernünftig reden läßt«. Und nicht nur als ein Volk beginnen­ der Vemunftwesen trat diese »edlere Rasse« dem Forscher entge­ 163

gen; sie zeigte sogar eines der vornehmsten Merkmale der Zivilisierung - »einen gewissen Nationalstolz«. Kannibalen, die ihre Besucher mit Tugenden wie Anstand, Sau­ berkeit und Nationalstolz erfreuten, konnten nicht unverbesser­ lich sein. Solche Menschenesser waren schon fast menschenähnlich.

28 Vom hohen Roß »Niemals fühlen wir uns untadeliger, als wenn wir unsere eigenen Fehler in anderen entdecken.« (Goethe)

»In den seltenen Fällen, wo der Kannibalismus unter zivilisierten Völkern bei einzelnen auftritt, scheint er meist eine wirkliche Krankheit zu sein, welche sich an andere Abweichungen des Appetits anschließt«, klärt uns eine Real-Enzyklopädie aus dem Jahre 1867 auf. Zwei Jahre später informierte Meyers Konversationslexikon die gebildeten Stände: »Einzelne Anthropophagen fanden sich alle­ zeit auch in zivilisierten Staaten; es sind Menschenfleischfresser aus unbezwinglichem, krankhaftem, oft erblichem Gelüste. Das mehr oder minder starke Auftreten eines solchen ist nicht selten bei schwängern Weibern der Fall.« Kranke, erblich Belastete, Schwangere, doch stets vereinzelt waren sie die einzigen Kannibalen, seitdem Europa zivilisiert ist? Im Jahre des Herrn 1799 rückte nach dem Abzug der Franzosen die »Armee des christlichen Glaubens« in Neapel ein und gewann den neapolitanischen Bourbonen ihre Hauptstadt zurück. Die patriotisch gesinnten Lazzaroni gerieten darüber außer Rand und Band und übten an den einheimischen Kollaborateuren gräßliche Rache. Der Historiker P. Coletta beschreibt die - weder von Kranken noch von Schwangeren begangenen - Exzesse: »So geschah es, daß am 8. Juli sogar auf dem Residenzplatze fünf Menschen lebend in ein dort angemachtes Feuer geworfen wur­ den und, als sie fast gebraten waren - ich eile über diese schauer­ liche Szene hinweg -, der Pöbel von ihrem Fleisch kostete.« Ein vereinzelter Vorfall, von unzurechnungsfähigem Volk in vaterländischem Überschwang begangen. Einmalig.

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Einmalig? - »In Paris hat der aufgebrachte, von blinder Wut er­ füllte Pöbel im Jahre 1617 Leber und Lunge des Marschalls d’Ancre, im Haage 1672 das Herz des de Witt gefressen, der bei einem Aufstande als Feind der Oranier ermordet wurde« (P. Ber­ gemann). Ebenfalls isolierte Schandtaten, im Rachetaumel verübt. Unter der Regierung des Kapetingers Robert II. kam es in Frank­ reich zu einer so furchtbaren Hungersnot, daß sich nach dem Bericht des Historikers A. Thiers Darbende am Fleisch verstor­ bener Mitchristen vergriffen. (Wie es während des Zweiten Welt­ krieges auch im belagerten Leningrad geschah.) Handlungen Ver­ zweifelter, am Rande der Unzurechnungsfähigkeit. Doch auch dies: Im 17. Jahrhundert wirkten zu Rom zwei Selcher, die ihre Kunden mit besonders delikaten Würsten versorgten und enormen Zulauf erhielten. Erst nach Jahren kam an den Tag, wie die Wurstmacher sich ihr Arbeitsmaterial verschafft hatten. Sie hatten Passanten in ihren Keller gelockt, erschlagen und verarbei­ tet. Am 8. Februar 1638 ließ Papst Urban VIII. sie zum Tode befördern. Die Selcher von Rom waren vielleicht die ersten abendländischen Fleischer, die ihre Kundschaft zu unwissenden Kannibalen machten - erwiesenermaßen aber nicht die letzten. Ja, es waren vereinzelte Geschehnisse, die den Kannibalismus in der Zivilisation - bis in unsere Zeit - am Leben erhielten. Der Sitte der Anthropophagie hat sich Europa längst entledigt. Strabo berichtet als einer der letzten von solchen Gemeinbräuchen, und zwar von einem Randvolk, den Iren. Einige Quellen beschuldigen nordeuropäische Völkerschaften, noch beträchtliche Zeit danach dem Menschenessen angehangen zu haben. Verleumdungen pro­ duzierten außerdem einige Kannibalenkollektive in längst zivili­ sierter Zeit. »Wild« im Sinne des Menschen der Frühzeit, von der Natur be­ drängt und keineswegs schon Beherrscher seiner Umwelt, Samm­ ler und Jäger mit dürftigem Werkzeug, für den in Notzeiten der Mitmenschenverzehr einen erwünschten Ausweg bieten mochte, war natürlich der Vorfahr des Kultur- so gut wie der des soge­ nannten Naturmenschen - nur eben zu verschiedenen Zeiten. Im 19. Jahrhundert entdeckte man im Wohngebiet der Matabele (Ostafrika) mehrere Höhlen, deren größte eine Fülle menschlicher Gebeine enthielt, zumeist von Kindern und jungen Leuten. Die Knochen waren zerschlagen, die Markknochen in kleine Stücke zertrümmert. Diese Entdeckung erregte weithin Aufsehen und Entrüstung über die »Wilden«. Jedoch schon zwanzig Jahre vorher hatte man in den Höhlen von Chauvaux, im Herzen Europas, ähnlich grausige Funde ge-

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macht. Bald schlossen sich zahlreiche Entdeckungen dieser Art in Südfrankreich an, wo man menschliche Gebeine, »casses par des instruments tranchants«, fand. Kroatien, Italien und auch das heutige deutsche Siedlungsgebiet liefern Beispiele genug, daß Matabele-Sitten einst auch auf dem Boden der heutigen Zivili­ sation gediehen. Freilich, Greuel in einer auch nur einigermaßen grauen Vorzeit lassen kalt. Entrüstung verlangt Gegenwart. Alle Empörung über die - nicht nur anthropophagen - Lebensgewohnheiten von so­ genannten Wilden, Barbaren oder Naturvölkern läuft im Grunde auf den Vorwurf hinaus, daß sie so lange in der »Steinzeit« ver­ harrten und nicht synchron mit der Führungsgruppe der zivili­ sierten Nationen eine vergleichbare Gesittung erreichten. Nach den Gründen wird nicht lange gefragt. Selbstverständlich sind Beschuldigungen gegen die heutigen Be­ wohner Europas, die anthropophagen Höhlenfunde kompromit­ tierten ihre Vergangenheit, absurd und gedankenlos. Die Kanni­ balen von Chauvaux und Krapina waren nicht die Ahnen der heutigen Belgier und Jugoslawen. Aber: Volksbräuche und Über­ lieferungen in Mythen und Märchen, die, wie R. Andree meint, »in ihrer Gesamtheit den Beweis herstellen«, wurden von den Vor­ fahren der heutigen europäischen Bevölkerung mitgebracht und entwickelt. Wenn bei "Naturvölkern« kannibalische Sagen auf das einstige Vorhandensein solcher Sitten schließen lassen, dann muß dieses Indiz auch gelten für die »Kultivierten«. Auf »magisch-religiöse« Anthropophagie deuten die griechischen Mythen im Zusammenhang mit dem ekstatischen Dionysos-Kult, der sich in frühgeschichtlicher Zeit geradezu epidemisch von Thrakien ins heutige Griechenland verbreitete. In heiliger Raserei zerrissen und verschlangen die Mänaden aus dem Gefolge des Gottes Tiere, in denen sie Dionysos inkarniert glaubten, um durch solche Kommunion seine Kraft auf sich zu übertragen. In einer nicht genau erklärten Verbindung steht der ursprünglich höchst »wilde« Dionysoskult mit dem orphisch-mystischen. Und eine Sage orphischer Herkunft erklärt sogar die Entstehung des Menschen aus einem kannibalischen Akt. Zeus entbrannte in Liebe zu seiner Tochter Persephone und wohnte ihr in Gestalt einer Schlange oder eines Drachen bei. Dieser inzestuösen Ver­ einigung entsprang Zagreus, was Hera verständlicherweise höchst mißfiel. Sie wandte sich an die Titanen, um das Kind aus der Welt schaffen zu lassen. Mit Spielzeug und einem Spiegel lockten diese den Kleinen in die Falle, töteten und verspeisten ihn. Der er­ grimmte Zeus vernichtete die mörderischen Riesen mit seinen Donnerkeilen, und aus ihrer Asche entstanden die Menschen: Erben gottessender Frevler und deswegen zum Teil verrucht, doch zugleich auch göttlicher Natur, da die Titanen das Götter­ kind Zagreus verschlungen hatten. 166

Die mittelbare Vereinigung mit Dionysos ging noch in dem pri­ mitiven Glauben an die Möglichkeit materieller Übertragung begehrter Kräfte vor sich. Die Gemeinschaft mit (einem) Gott, ja Teilhabe an ihm mittels substituierender Substanzen zu erlangen, diese Hoffnung war noch fern, einer höheren Gesittungsstufe Vor­ behalten - dem Christentum. »Und indem sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach es, und gab es ihnen und sprach: >Nehmet, esset; das ist mein Leib und daran, meine Feinde mit der Keule niederzuschlagen. Und - . ich bin mir gewiß, es wäre mir eine Lust gewesen, sie hinterher zu} essen.« f Keine Lust ist es, diese Selbstentblößung eines verhinderten Men-j schenessers aus der Zivilisation zu lesen. St. Johnstons Enthusias-' mus war seine eigene Sache, eine andere Frage ist, ob er im Bann i seiner »schauerlichen Faszination« die Kannibalentaten auf Fidschi; nicht übertrieben hat. Vielleicht haben seine oft zitierten Behaup­ tungen ebensoviel wie die entrüsteten Missionars-Berichte dazu beigetragen, die Insulaner zu den Hauptfiguren des kannibalischen' Gruselkabinetts zu machen. St. Johnston blieb versagt, was anderen Weißen in Qualen des Hungers nicht erspart blieb. Doch zunächst soll noch die Rede sein von Sendboten der Zivilisation, die zu unserem Beifall vor' dem Genuß von Menschenfleisch zurückschreckten - und es lieber ihren Hunden gaben. Las Casas klagt einen spanischen Konquistador, Francisco Montejo, dieser elenden Handlung an. Montejo, der sein Unwesen in Yucatán trieb, gab sich gern der Kaninchenhatz hin. Als er ein­ mal, schreibt Las Casas, kein Jagdglück hatte und bemerkte, daß : seine Hunde hungrig waren, entriß er kurzerhand einer Indiofrau ! ihren kleinen Jungen, den sie auf den Armen trug. Kaltblütig! schnitt er dem Kind Fleischstücke aus Armen und Beinen und gab sie den Tieren zu fressen. Zuletzt warf er der Meute den zuckenden Rumpf vor. Wäre diese Untat zu übertreffen, dann von Greueln, wie sie der bischöfliche Ankläger aus dem Innern Kolumbiens berichtet. Dort führten die Spanier Bluthunde mit sich und, zu deren Verpflegung bestimmt, Indianer, »die in Ketten gehen und wie eine Herde Schweine einhergetrieben werden«. Wenn die Zeit der Fütterung 174

kam, wurden einige von den Armen geschlachtet, und ihr Fleisch, so Las Casas, wurde »öffentlich feilgeboten«. »Dann sagt einer zum andern: Borge mir doch einmal ein Vierteil von einem dieser Schurken. Ich werde nächster Tage auch einen schlachten; dann gebe ich dir’s wieder. Nicht anders, als wenn sie einander ein Vierteil von einem Schwein oder Schöpse liehen!«

Sadistischen Neigungen Einzelner wie bedrängendem Hunger standen in einer Umgebung, in der es angeblich von indianischen Menschenessem wimmelte, geringere Hemmungen entgegen; die Kontrolle der Zivilisation war ja fern. Es mag sein, daß Barto­ lome de Las Casas in seiner leidenschaftlichen Parteinahme für die Indios die Übergriffe mancher Europäer allzu düster malte. Wenig Zweifel dagegen bleiben, wenn einer der Konquistadoren selbst mit allem Freimut schildert, wie weit auch Weiße unter dem Zwang der Verhältnisse »vertieren« konnten. Philipp von Hutten zog 1535 für das Handelshaus Welser nach Südamerika, wo er es schließlich zum Generalkapitän in Vene­ zuela brachte. Gemeinsam mit seinem Vorgesetzten, dem Statt­ halter Georg Hohermut von Speyer, und später auch allein, führte er mehrere Expeditionen, um die Goldschätze des sagenhaften Dorado zu finden. Vom ersten dieser unglaublich strapaziösen Züge kehrten nur einhundertsechzig von den vierhundert Män­ nern zurück, die ausgezogen waren, das Goldland zu suchen. Hutten gibt ein drastisches Bild, dank welcher Hilfsmittel manche seiner Untergebenen sich in die Ausgangsbasis Coro zurückrette­ ten: »Gott allein und die, so es versucht haben, wissen, was Not und Elend, Hunger und Durst, Mühe und Arbeit die armen Christen ... erlitten haben; ist zu verwundern, daß es menschliche Körper so lang haben ertragen mögen. Ist es ein Graus, was Ungeziefers als Schlangen, Kröten, Eidechsen, Ottern, Lacerten, Wurm, Kraut und Wurzeln . .. die armen Christen auf diesem Zug gessen haben, auch etlich wider die Natur Menschenfleisch gessen ha­ ben . ..« Not und Elend, aber auch wohlüberlegter Vorsatz führten in einem andern fernen Land zu weißem Kannibalismus. Tasmanien könnte ein eindrucksvolles Beispiel für die Ausmerzung der An­ thropophagie abgeben, hätte es dort Menschenesser in der Urbe­ völkerung gegeben. Trotzdem hat es nicht an Anklägern gefehlt, die den Autochthonen vorwarfen, Menschenesser zu sein und noch anderen Greueln zu obliegen. Damit war die moralische Rechtfertigung für Ausrottungsmaßnahmen erfunden. Die Tas­ manier hatten das Unglück, dem Landhunger weißer Siedler im Wege zu stehen, und 1831 heischte die Zeitung The Colonial Times: »Die Regierung muß die Eingeborenen beseitigen - wenn 175

nicht, wird man sie jagen wie wilde Tiere und vernichten.« Man hat sie gejagt und vernichtet. Binnen einer Generation wurden die Tasmanier vertilgt, auch ohne daß es Anthropophagie auszu­ merzen gab. Im Gegenteil, die Kannibalen auf Tasmanien trafen erst mit der Zivilisation ein. Auf Anregung des großen Naturforschers und Reisenden Sir Joseph Banks (der James Cook auf dessen erster Fahrt um die Welt begleitete) hatte die englische Regierung beschlossen, die überbelegten Haftanstalten Großbritanniens in den Pazifik zu ent­ leeren. Empfänger dieser Gäste waren Australien und Tasmanien. Elemente, die sich besonders schwer bändigen ließen, schoben die Behörden in Australien auf die südlich gelegene Insel ab. Doch auch dort entzogen sich viele jeglicher Zucht, setzten sich in den Busch ab und drangsalierten Eingeborene wie weiße Ansiedler. Die Verwaltung auf Tasmanien sah sich genötigt, Gefängnisse für die exportierten Kriminellen einzurichten, und die verrufenste dieser Besserungsanstalten war Macquarie Harbor an der West­ küste der Insel, so abgelegen, daß man es damals nur zur See erreichen konnte. In Macquarie Harbor unterzog man die Häft­ linge einer derart rigorosen Behandlung, daß das Zuchthaus bald »Pforten der Hölle« genannt wurde. Aus diesen Höllenpforten entwich 1822 der berüchtigtste aller tasmanischen Ausbrecher, ein Weißer namens Alexander Pierce. Zusammen mit sieben anderen Häftlingen schlug er, da die Küste scharf überwacht wurde, den Weg durch das unerforschte Innere ein. Mühselig arbeiteten sich die Ausbrecher durch die unweg­ same Wildnis vorwärts. Zunächst konnten sie sich recht und schlecht von Beeren und Schößlingen ernähren, aber als schließ­ lich keine eßbaren Manzen mehr zu finden waren, verließ drei der Männer der Mut, und sie kehrten um. Die übrigen vier genügten, um Pierce in die Freiheit zu bringen. Ermattet, doch entschlossen setzte die kleine Gruppe den Marsch fort; schließlich verzehrten die Männer ihre Jacken aus Känguruh­ fell. Dann brach der erste vor Entkräftung zusammen, und wie auf Verabredung fielen die anderen über ihn her. Sie schlugen ihn tot und verschlangen sein Fleisch. Blieben außer Pierce noch drei Kameraden, dann zwei, schließlich einer, und zuletzt war der Stärkste allein. Er hatte nacheinander alle seine Kameraden gefressen. Das Fleisch des letzten Gefährten hielt tatsächlich vor, bis Pierce nahe der Hütte eines Siedlers zu­ sammenbrach. Als er wieder zu Kräften gekommen war, schloß er sich einer Gruppe von »bushrangers« an und glaubte sich end­ lich in der ersehnten Freiheit. Doch kurz darauf wurden sie von einem Trupp Militär umzingelt; Pierce stand alsbald in Hobart Town vor Gericht und wurde zur Strafhaft verurteilt - abzu­ büßen in Macquarie Harbor, von wo er ausgebrochen war. Aber der Unerschütterliche ließ sich durch dieses Mißgeschick 176

nicht entmutigen. Sein erster Versuch hatte ihn gelehrt, wie not­ wendig die Mitnahme von Proviant war - Proviant mit eigenen Beinen. Pierce überredete wieder einen Mithäftling zur Flucht. Sein Gefährte endete, wie zu erwarten, im Magen des Kannibalen, als der Hunger übermächtig wurde. Doch diesmal hatte Pierce zuwenig Verpflegung mitgenommen. Als er erkannte, daß sein Fehler ihn ins Verderben stürzen werde, kehrte er um. In Mac­ quarie Harbor verließ ihn in der Strafzelle sein eiserner Wille, und er gestand. Noch im selben Jahr trat in Hobart Town der weiße Menschen­ esser den Gang zum Galgen an. Ein halbes Jahrhundert später starb fern ihrer Heimat eine Tas­ manierin als letzte eines Volkes, das niemals Menschen gegessen hatte und doch verschwand wie Alexander Pierce.

1961 verschwand in der Wildnis Neuguineas der junge Michael Rockefeiler. Noch einmal geisterte das letzte Bollwerk des Kanni­ balismus durch die Gazetten der Welt. Jahre hindurch wurde die Gruselstory immer wieder aufgewärmt, bis schließlich feststand, daß der Milliardärserbe tatsächlich von den Wilden verspeist wor­ den war. Vermutlich wäre das Aufsehen geringer gewesen, wenn es sich bei dem verzehrten Opfer nur um - etwa - einen Entwicklungs­ helfer gehandelt hätte oder um einen namenlosen Missionar, doch der prominente Name sorgte noch einmal für Abscheu und Em­ pörung. Davon war nichts zu spüren, als zum Jahresbeginn 1973 eine ganze Kannibalenmannschaft ins Scheinwerferlicht der Medienneugier geriet, weiße Menschenesser obendrein. In einer hochgelegenen Region der Anden hatten neunzehn junge Uruguayaner, Mitglieder eines Rugby-Teams, nach einem Flug­ zeugabsturz siebzig Tage ohne Proviant ausgeharrt, bis sie gebor­ gen werden konnten. Als die Rettungsmannschaften die Leichen der beim Absturz und später Umgekommenen zusammentrugen, machten sie eine schockierende Feststellung: den meisten Toten fehlten ganze Fleischpartien an Armen und Beinen; Schädel waren geöffnet und des Gehirns beraubt. Die Überlebenden »gestanden«, daß sie, als der Hunger übermächtig wurde, sich von den Leichen ernährt hatten. Die Boulevardpresse in aller Welt tat, was sie konnte. Sie rührte in atavistischen Emotionen, um die vermutete Gruselgier ihrer Leserschaft anzustacheln. Photos zeigten die Geretteten bezie­ hungsvoll beim Schlemmermahl in Nobelrestaurants. »Tatsachen­ berichte« verbrieten Schauder mit Gefühl und ließen einen der beiden jungen Männer, die schließlich ins Tal zogen, um Hilfe zu holen, von seinen Kameraden Abschied nehmen mit der Bitte: »Eßt meine Mutter zuletzt!« 77

Doch die Rechnung ging nicht auf. Hatte sich die Einsicht in die Gewalt der menschlichen Triebstruktur, die, wenn es ums Über­ leben geht, keine Kulturschranke achtet, Bahn gebrochen? Nie­ mand mochte einen Stein auf die Leichenesser werfen, die in ihrer Extremsituation das Unvorstellbare und doch Menschen Mög­ liche getan hatten. Selbst aus dem Vatikan verlautete, die Tat sei »moralisch zu rechtfertigen«. Und kein Priester sprach von Blas­ phemie, als die Geretteten »als gläubige Christen« ihr Tun als eine Art Kommunion rechtfertigten und sich auf Christi Abendmahls­ gebot beriefen: »Nehmet und esset. Dies ist mein Leib ...«

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Aus deutschen Landen »Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.« (G. Büchner, Woyzeck)

Lange nachdem die Römer den Galliern das Menschenessen ver­ boten hatten, Jahrhunderte nach Strabos Bericht von kannibali­ schen Iren ergibt sich in Deutschland, bei den salischen Franken, die Notwendigkeit gesetzlichen Einschreitens. Die »Lex Salica« untersagt, sicher nicht ohne Anlaß, »magische« Anthropophagie. Gibt es ein aufschlußreicheres Indiz für kannibalische Praktiken als eine Gesetzesvorschrift, die sie verbietet? Daß Menschenverzehr im heutigen deutschen Siedlungsraum schon in der Frühgeschichte geübt wurde, beweisen Höhlenfunde so gut wie in anderen Gegenden Europas. Material für diese Er­ kenntnis lieferten etwa die Einhomhöhle bei Scharzfeld am Harz oder eine andere Fundstätte in der Nähe von Eschershausen. Dort entdeckte man neben Feuerstellen aufgehäufte menschliche Ge­ beine. Sämtliche Markknochen befanden sich in zertrümmertem und angebranntem Zustand. Sie sprachen die gleiche Sprache wie die erwähnten Funde in anderen Teilen Europas - und können ebensowenig »beweisen«, daß die Altvorderen der heutigen Be­ wohner des Kontinents Kannibalen gewesen seien. Darauf deuten mit viel größerer Überzeugungskraft Volksüber­ lieferungen mit anthropophagen Anklängen. Allein das deutsche Sagen- und Märchengut läßt die Zahl der bekanntgewordenen Legenden, mit denen »Naturvölker« das Menschenessen erklären oder verteidigen wollten, als geradezu dürftig erscheinen. Ein großer Teil der möglichen Motive zur Anthropophagie findet 178

sich hier: Rache- und Vertilgungswünsche, »religiöse« Vorstellun­ gen, vor allem aber »magische« Beweggründe in reicher Fülle. Eine altpommersche Sage läßt den Wilden Jäger seine Gehilfen mit dem Bein einer erlegten Frau belohnen. In einem wendischen Märchen fordert ein Bauer vom nächtlichen Jäger die Hälfte seiner Jagdbeute - und erhält einen halben Menschen. Ein Mär­ chen aus dem Braunschweigischen erklärt sogar, wie sich das Menschenessen verbreitet habe. Jeder, der Menschenfleisch ißt, muß für immer Menschenesser bleiben. So sei es Raben und Wöl­ fen ergangen. Als nämlich einmal ein Mädchen durch den Wald ging, bot eine Kannibalin ihm eine Wurst an. Da kam eine weiße Katze daher und warnte die Kleine vor der Menschenwurst. Die Katze hängte zum Beweis das Hexengeschenk an einen Busch. Raben und Wölfe fraßen die Wurst und waren von nun an Men­ schenfleischesser. Schon in diesen alten Erzählungen findet sich vielfach vorgebildet die Gestalt der kannibalischen Waldfrau, die einem so häufig in der Sammlung der Brüder Grimm begegnet. In einer norddeut­ schen Sage fordert eine hungrige Hexe ihre Kollegin auf: »Drüben unsere Nachbarin hegt in den Wochen, da wollen wir ihr Kind holen und es schlachten.« »Schneewittchen« erzählt von der Königin, die sich für eine Kanni­ balin hält, weil sie wähnt, Lunge und Leber der Stieftochter ver­ zehrt zu haben. Hänsel und Gretel entkommen mit knapper Not der fleischlüstemen Hexe. In dem alten Märchen vom »Machan­ delboom«, das wohl auf das 9. oder 10. Jahrhundert zurückgeht, treibt es eine böse Stiefmutter noch ärger als im »Schneewittchen«. Sie schlachtet das verhaßte Kind und setzt es dem nichtsahnenden Vater als Mahlzeit vor. Moralische Fabeln wie die erwähnten griechischen Mythen: Die kannibalischen Frauen dieser deutschen Märchen nehmen alle ein schlimmes Ende. Die böse Königin muß in rotglühenden Schuhen tanzen, bis sie tot zu Boden sinkt. Gretel stößt die Hexe in ihren eigenen Backofen. Im »Machandelboom« wirft der Vogel, der aus den Knochen des gemordeten Stiefkinds aufsteigt, der verbrecherischen Menschenköchin einen Mühlstein an den Kopf, und sie bricht tot zusammen. Das Fortleben sogenannter magischer Vorstellungen, die in anthropophagen oder quasianthropophagen Handlungen Ausdruck fanden, belegt eine Fülle von Volksbräuchen, die sich zum Teil noch bis ins 19. Jahrhundert behaupteten. Anthropophages Ge­ dankengut spricht aus dem Glauben, ein Trunk vom Blut eines Hingerichteten vermöge Krankheiten zu heilen oder ihr Fett bringe Glück. Das ungute Spektakel, das sich bei öffentlichen Hinrichtungen bot, sadistische Schaulust im Verein mit unbewuß­ ten kannibalischen Wünschen, die hier ein Ventil fanden, ist nun aus der Zivilisation verschwunden und vergessen. Menschenfett als Glückbringcr ist aus der Mode gekommen - aber wir er179

schauem, wenn wir die Fotografie eines »Heidenkindes« aus Neu­ guinea sehen, das eine geräucherte Menschenhand als Amulett am Hals trägt. Ahnungen nicht ganz so ferner Vergangenheiten? Prähistorie, alte Sagen, barbarisches Brauchtum - »dat is nu all lang her«. Das Salische Gesetz galt für das frühe Mittelalter eines Kulturvolkes, mit Hexen und Hexenglauben ist es schon lange vorbei. Der deutsche Kannibalismus ist nicht mehr. Ein Rest anthropophagen Potentials aber blieb in allen kultivier­ ten Landen. Er verband sich mit »Krankheit« und »Verbrechen«. !533 - das Mittelalter war vorüber - soll zu Brettenburg eine Schwangere ihren Ehemann umgebracht und verzehrt haben, während sie Drillingen das Leben schenkte. 1562 wird eine ähnliche Tat aus Droissig gemeldet. Das Bemerkenswerte an der These, krankhafte Zustände könnten gelegentlich Kannibalismus auslösen, besteht darin, daß diese halb­ wegs entschuldigende Erklärung der Anthropophagie bei »Natur­ völkern« nicht zugebilligt wurde. Die »Wilden« waren zwar wild, doch immer gesund, sozusagen kannibalisch wohl. Was beim ein­ zelnen als krankhafte Untat galt, wurde zur gesunden Handlung, wenn erst das Kollektiv sie übernahm - böse, aber gesund. Die schwankende, ständig revidierte Grenze zwischen Krankheit und Verbrechen erschwert die Feststellung einer Schuld bei weißen Menschenessem. War jener Gottfried Dallian aus Neukirch bei Elbing kriminell oder derangiert, der vor gut hundert Jahren eine Frau ermordete, beraubte und anschließend einen Teil ihres an­ gebratenen Bauchfleisches verzehrte, um, wie er sich vor Gericht verteidigte, »Ruhe in seinem Gewissen zu finden«? Lenkten »ma­ gische« Wahnvorstellungen oder verbrecherisch entartete Gier den unbekannten Täter, der 1879 zu Berlin einen Sarg ausgrub und die darin ruhende Kindesleiche des Herzens, der Leber und der Lunge beraubte?

Eindeutig verbrecherisch scheinen jene Fälle von Kannibalen­ machern wie der des berüchtigten Massenmörders Haarmann, der in Deutschland die unerfreuliche europäische Tradition des Menschenmetzgems fortsetzte. Haarmann war vielleicht der verru­ fenste, aber keineswegs der erste Humanfleischer im Deutschen Reich, deren Gewerbe vor allem in Notzeiten blühte. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg entdeckte in Schlesien die Polizei bei einer Haussuchung mehrere Steintöpfe mit verdächtigem In­ halt. Bei näherer Prüfung stellte sich heraus, daß es sich um einge­ pökeltes Menschenfleisch handelte. Der Hausbesitzer, ein schon betagter Mann, hatte sich die herrschende Fleischknappheit zu­ nutze gemacht und auf dem schwarzen Markt viel Geld mit »Kalbfleisch« verdient (was, nebenbei, andere Berichte über die 180

Geschmacksqualität von Menschenfleisch unterstützt). Die Kälber des schlesischen Haarmann waren Handwerksburschen, die er unter einem Vorwand in sein abgelegenes Haus lockte und mit einem Beil tötete. Nicht ratsam war es Anfang der zwanziger Jahre für ein junges wohlgenährtes Mädchen vom Lande, das in der Stadt Arbeit suchte, auf einem bestimmten Berliner Bahnhof auszusteigen. Es lief Gefahr, anderntags anderen Reisenden in Form heißer Würst­ chen angeboten zu werden. Ein ehemaliger Fleischer namens Großmann betrieb Ein- und Verkauf auf dem Bahnsteig, die Verarbeitung in seiner Wohnung. Er sprach seine Opfer an, offe­ rierte ihnen eine Anstellung als Dienstmädchen in seinem Jung­ gesellenhaushalt und schlug nach einigen Tagen mit dem Beil zu. Ehe die Nachbarschaft Verdacht schöpfte, waren etliche von Großmanns Opfern in Wurstform auf den Bahnsteig zurückge­ kehrt. Die Not der Nachkriegszeit erleichterte Leuten wie Großmann ihr grausiges Handwerk und trieb ihnen unwissende Kannibalen als Kunden zu. Ebenso schuldlos wie diese waren Menschenesser, die durchaus bewußt handelten, doch genötigt von Drangsalen und von Verbrechen, im Vergleich zu welchen die Exzesse Haar­ manns und ähnlicher, häufig mit sexualpathologischem Hinter­ grund, geradezu mildernde Umstände zu verdienen scheinen. Die aus Gefangenenlagern des letzten Weltkrieges berichteten kannibalischen Akte wurden nicht von Verbrechern begangen, sondern von Bedauernswerten. Ähnliche Vorfälle, in der Form des Leichenessens, wie sie in Konzentrationslagern auftraten, wur­ den von verbrecherischen Kannibalenmachem erzwungen. Im KZ Belsen ließ das Regime des Dritten Reichs Tausende und aber Tausende von Häftlingen an Krankheiten und Nahrungs­ mittelmangel zugrunde gehen. Im Prozeß gegen den Lagerkom­ mandanten schilderte ein englischer Zeuge, der beim Fortschaffen der Leichen hatte helfen müssen, welche Ausmaße die Entwürdi­ gung der Opfer des Regimes erreichte: »Ich stellte bei vielen Ge­ legenheiten am hinteren Oberschenkel vieler Toten eine äußerst merkwürdige Wunde fest. Zuerst hielt ich es für eine Nahschuß­ wunde, aber nachdem ich das noch mehrmals beobachtet hatte, fragte ich einen Freund danach, und der sagte mir, daß viele Ge­ fangene Fleischklumpen aus den Leichen herausschnitten, um sie zu essen. Bei meinem nächsten Besuch in der Leichenhalle sah ich tatsächlich, wie ein Gefangener ein Messer hervorholte, ein Stück Fleisch aus dem Bein eines Toten herausschnitt und es schnell in den Mund steckte, natürlich voller Angst, dabei gesehen zu werden. Ich überlasse es Ihrer Phantasie, sich auszumalen, in welche Verfassung die Gefangenen gebracht worden sein müssen, um von schwarzen Leichen Fleischstücke abzuschneiden und zu essen.« 181

Die Kannibalenmacher von Belsen behielten saubere Hände; sie hielten sich selbst von Untaten fern, wie die Menschenmetzger sie verübten. Aber: Die Menschenschänder von Belsen haben die Menschenfleischer in den Schatten gestellt. Nicht Kannibalismus der Art, wie Mißhandelte ihn verzweifelnd begingen, war das äußerste Verbrechen. Es gab Schlimmeres als solche Anthropo­ phagie. Es gab Entsetzlicheres als das Menschenessen. Shakespeares »Ungeheuer der Tiefe« lebten noch gestern. Mitten unter uns.

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Register

Abd-Allatif 86 Abendmahl Adolf Friedrich, Herzog von Mecklenburg 72, 107, 143 Ägypten 46, 86 f, 89, 103, 129, 14; Äthiopier 129 Affenfleisch 26 Afrika 16, 27ff, 83, 95, 109, 121, 125, 147 Aggression 7,46, 103, 115, 156, ¡59 Almagro, D. de 129 Altenkannibalismus 8 Alvaredo, P. de 76 Amazonas 42, 49 f Amerigo Vespucci 41 Anatomiekenntnisse 15 5 Andamanen 14; Andree, R. 8, 23, 56, 60, 88, 132f, 138, I4of, 166 Angas, G. F. 120 Annunzio, G. d* 51 Anthropophagie 7 ff -Juridische 106 -.magische 158 -.sadistische 116 -, zufällige 22 Antikannibalismus, zivilisatorischer HI Ardrey, R. 58 Aristoteles 84 Asien 145 Atreus 25 Aurevilly, B. d’ 52 Australien 28, 50, 95, 141, 176 Azteken 92fr, 102, 112, 127, ijSff

Bahamas 76 Baker, St. B. 169 Baker, T. 138 Banks, Sir J. 176 Barbaren i6iff Barthema (von Bologna), L. Basden, G. 96,138 Batak 27, 151 f Battell, A. 96 Bavent, M. 168 Bayreuth 87 Begräbnissitten 116 Behaim, M. 151 Behn, A. 162

72,142

Bentley, W. H. 29, 70, 153 Bergemann, P. 57,85,92, 112, 144, '45. 165 Berlin 88 Bevölkerungskontrolle 5 9 Bibel 24 Bickmore, A. S. 31, 108 Birket-Smith, K. 33, 86, 99, 119, i6of Bismarck-Archipel 115 Block, Dr. W. B. 70 Bloy, L. 51 Blutrache 104, 158 Blutsaugen 168 Bluttrinken 139 Blutverzehr 46 Bomeo 20, 33, 48, 69, 72 f, 80, 95 Botokuden 47 Boto-walai 35 Brasilien 18, 27, 29, 47, 50, 71 Broca, P. 120 Brown, G. 21, 126 Brutalität 115 Bry, Brüder de 17 Burton 24

Cadamosta, A. de 149 Cäsar 131 Cargill, D. 12,31 Carpini, P. 82 Carr-Saunders, A. 58 Cassius Dio 46 Chalmers, J. 61 Chamisso, A. von 145, 162 Charricre, H. 167 Chauvaux 31 Chevron, J. 55 Chile 129 China 23, 94 Chirurgie 155 Christentum 24 Chrysipp 154 Coco, V. 48 Coletta, P. 47, 164 Cook, J. 2of, 33, 64, 78, 85 f, 91, 99, 101, iio, 133, 138, 140, 145, 151, 168, 176 Cortez, H. i2Öf, 153

Dallian, G.

180

187

Darwin, Ch. 128, 147p Demeter 2 5 Deng-Deng 34 Detzner, H. 68 Deutschland I70f Diodor 46 Dionysos 63, i66f Dracula 7, 11, 168 Eat-art 167 Eibl-Eibesfeldt, I. 160 Einverleibungsverlangen 116, 120 Eisenbart, Dr. 87 Elkin, A. P. 139 Embryo 18 Endokannibalismus 42 Entkannibalisierung 132, 157 Entwicklungsniveau 163 Erlkönig 51 Eschwege, W. C. von 35 Eskimo 86 Eßgeräte (Eßbesteck) 37f, 122 Eucharistie 167 Europa 23, 31,90, 118,122, i64f, 170, 178 Euthanasie 82 Evans-Pritchard, E. 150 Exekution 108 Fabeln 179 Federmann, A. 136 Federmann, N. i3Öf Feuerland 128, 147 Fidschi ii, 15f, 27fr, 47, 53ff, 60, 65, 78, 81 ff, 89, 105, 115 ff, 146, 158, 174 Finsch, O. 29 Flaubert, G. 51 Fleischbeschaffung (Fleischkriege) 71, i iof Forster, G. 85,155 Forster, J. R. 85, 90 Fräßle, Pater J. 17, 76, 85, 97, 107,

Fremdenangst 160 Fremdenfeindlichkeit 160 Fremdenverzehr 8, 160 Frobenius, L. 19, 37, 96 Gallischer Krieg 131 Gam, M. 70 Garnier, J. 152 Gastfreundschaft 14 Gauch, H. 159 Gautier, Th. 51 Gehirn 94 Geistlichkeit 40 Gerland, G. 54 Germanen 161 Geschmack von Menschenfleisch Görres, J. von 168

188

Goldküste 148 Gottesverzehr 167 Gourmands 3off Gourmets 3off Goya, F. de 168 Gräber 11 Green-Islands 50 Grimm, Brüder 179 Grönland 96 »Großer Fisch« 53 Gruselgier 177

Haarmann, F. 25, 180f Hänsel und Gretel 179 »hakolo« 53 Hallet, J. P. 135 Handel 77 Hangi 14 Hawaii 21, 53, 133 Hecquard, H. 123 Herodes 51 Herodot 46, 82, i2iff, 144^ Ij7ff Hervey-Inseln 146 Hesiod 100 Hinde, S. L. 68 Hirnschalen 146 Hochkulturen 100 Hogg, G. 12, 31, 67, 92, 104, i j8f Homer 52, 59, 103 Humanität 7 Humanmedizin 87 Humboldt, A. von 137 Hundeesser 28 Hutten, Ph. von 172, 175 Huysmans, J. K. 168, 171 Hygiene 30 Ilias 103 Inka 132 Irland 122 Islam 24, 137 Issedonen 145 Jaggar 54,115 James, E. O. 95 Japan 27, 145 Java 72, 82, 142, 151 Johnston, A. St. 24, 31, 53, 9 I, iMf, »74 Justizkannibalen 36 Juvenal 46, 57

2 5 ff

Kambyses 129 Kameradenessen 129 »Kaniben« 8 Kannibalenwitze 169 Kannibalismus 7ff -, funeraler 126 gastronomischer 38

-, juridischer (gerichtlicher, strafender) 8, 60, 106 -, kollektiver 23 -, Kriegs- 130 -, kulinarischer 157 -.magischer 8, 93F -, profaner 8 -, religiöser 91, 98 -, ritueller 8 -, sozialbedingter 89 -, symbolischer 21 -.zufälliger 23 Kannibalismus im Tierreich 58 - in der Zivilisation 165 Karaiben 8 Karthago 130 Kaschibo 147 Kikuyu 48 Kinderkannibalismus 8 K>ng. J- BS Kleist, H. v. 168, 172 Klymenes 63 Kochgrube 14 " Kochkunst 30 Kolumbus, Ch. 8 Kommunion 101, 178 Kongo 68, 78, 83, 89, 107 Konquistadoren 56, 148, 159, 175 Konservierung 73 F Konzentrationslager 181 f Kopfjäger 33,94 Krankenverzehr 28 Krapina 32 Kreuzzug 130 Kronos 63, 100 Kuß 51

Maori 13, 14, 33, 34, 47, 74, 85, 88, 99, IO7, 133. >39. ’4Ä, 151. 155, i5> Marco Polo 27, 81, 145 Mariner, W. 15, 24, 25, 33, 88, 148 Marquesas 32, 40, 47, 54, 87, 101, 115, 126, 140 Massageten 143 Mau-Mau 48 Maynard, F. 151,158 Medici, L. de 41 Meek, C. K. 98 Melanesien 52,101,133 Melville, H. 139, 140, 149, 154, 168 Mendieta, G. de 10'2 Menschenessen 7F, 12, 22 ff Menschenfresser 7, 65 f Menschenjagd 112 Menschenmarkt 70 Menschenmetzger 75F, 169, i8of Menschenopferungen 20,99 Menschenraub 71 Menschensauger yff Menschentrinken 8 ff Messen, Schwarze 168 Methodisten 11 Métraux, A. 31,113F Mexiko 20, 41, 76, 97, 159 Mikronesien 19 Missionare 29, 47, 53ff, 70, 76, 85, 96F, 107, 112, 126, 140, 148, 155 Montaigne, M. de 43, 117, 154 Montejo, F. 174 Müller, S. 74 Münster, S. 82 Murray, J. H. P. 14, 36, 120 Mythen 59

»Lange Schildkröte« 53 »Langes Schwein« 5 3 Las Casas, B. de 56, 76, 137, 174F Leichenessen (s. a. Krankenverzehr) Nekrophagie Leon, C. de 18 Lévy-Bruhl, L. 55 Lex Salica 178 Livingstone, D. 24, 118, 148 . Lopez, E. 16, 17, 78 Lopez, G. 136 Long, J. 152 Lukian 116 Lukrez 98 Lumholtz, C. 35, 57, 110, 144, 173 Luther, M. 167

Nahrungsangebot 85 Neandertaler 32 Nekrophagie 116 ff Neue Hebriden 27, 52F Neuguinea 7, 14, 27, 35,48, 53,61, 67F, 95. IO4» IJ5» l20> Neukaledonien 18, 29, 40, 65 F, 138, 151 Neuseeland 13, 29, 53, 85, 123, 125, 146, 151 Nigeria 64 Nodot, F. 126 Notkannibalismus (Not-Theorie) 85, 148

Märchen 9, 59 Mästen 74 Magalhäes 61 Magyar, L. 125 Mammione 48 Manson, Ch. 169

Odysseus 63 Öfen 3 3 f Orinoko 48, 95 Osterinsel 31,92, 113F Ovid 156 Papua 24, 83, 115 Parkinson, R. 146

189

Pasteten 37 Patrophagie 20,98, 118, 127 Pelops 25 Penis 3J Pentecoste-Insel 108 Peru 75, 132 Petronius 26,80,126,131,168 Pierce, A. 176 Pigafetta, A. 61 Pinto, S. 28 Plato 161 *linius der Ältere 84 F Plinius der Jüngere 136 Polo, Marco s. Marco Polo Polynesien 52, 101, 133, 139 Polyphem 63 Prescott, W. 127^153 Ptolemäus 16 Rachedurst 103 Rassismus 148 Ratzel, F. 23, 60, 90, 146, 1'62 Reade, W. 29 Reischek, A. 13, 14, 86 Rice, A. P. 81, 83, 87f, 155, 158 Rockefeller, M. 177 Römer 161 Rogge veen 114 Romilly, H. H. 44f, 148 Rousseau 43 Rubruk, W. von 82

Sagen 59 Salome 51 Salomonen 55, 97, 112 Samoa 2if, 60, 158 San Cristóbal 34, 62 Satanismus 168 Saturn 168 Schmidel, U. 18, 75,129, 148 Schneewittchen 179 Schoch, A. 54, 92 Schweinfurth, G. 17, 24, 28, 30, 56, 71, 88, 134, 147, 173 Scipio der Jüngere 131 Seemann, B. 38, 67 Selbstverzehr 171 Sex and Crime 5of Sexualität 50 Sexualpathologie 51 Shakespeare, W. 168 Sinanthrophus pekinensis 23 Sklaverei 11 Skythen 46, 124, 144 Sprachindizien 170 fr Spring, A. 28 Staden, H. 27, 30, 32, 42, 71, 75, 115, 149. ’52. 173 Stanley, H. M. 70, 89, 135, 148

190

Strabo 20, 46, 82, 122, 141, 144, 165, 178 ‘ Strafvollzug 44 Südamerika 48, 56, 129, 144, 149 Sumatra 81,83,89,92,96,145,151 Swift, J. 79, 89, 168 Swinburne 93

tabu 7 fr, 99 f Tahiti 2of, 64, 139 Tantalos 25 Tausch 77 Thier, A. 165 Thule-Expedition 86 Thyestes 2 5 Tibet 82 Tierfleisch 36 Tötungsverbot 24 Tolteken 41 Tonga 15 f, 22, 24f, 54, 88 Totenessen s. Nekrophagie Tournier, T. 51 Travers, R. 141 Tregear, W. 123 Turner 33 Tupi 42, 71, 75, 149, 152, 173 Überbevölkerung 58 Überlebenskannibalismus 177 Umweltbedingungen 85 Untier 56 Urville, D. d* 29, 40, 101, 112 Vaillant, G. C. 97f, 102, 158 Vamp 51, 172 Vampirismus 7fr, i68f Vancouver-Insel 78 Vega, G. de la 75 Venezuela 136 Verguet, L. 18 Verhaltensforschung 160 Verspeisung von Angehörigen (Verwandtenverspeisung) 3. Patrophagie Verzehrjustiz 92 Völkerkunde 19 ff Volhard, E. 9,93, 100, 116, 121, 142, 143.163 Volksbräuche 179 Volksüberlieferung 9 Voltaire 43, 102 Vorkannibalismus 51 Vorratshaltung 7off

Wahnidee 9 Waitz, Th. 19, 54, 106, 123, 125 Wallace, R. 49 Ward, H. 154 Waterhouse, J. 54 Watsford, J. 53,69

Wilde, O. 51 »Wilder Jäger« 179 Williams, F. E. 24 Wilson, j. 21 Wißmann, H. von 27, 32, 138 Wundt, W. 94, 102

Zeno 154 Zeremonial verkehr 12 5 Zeus 166 Zöllner, R. 163 Zubereitung 15, 34, 36, 43, 49, 52 Zwingli, U. 167

Fischer Taschenbuch Verlag

»Ich rieche, ich rieche Menschenfleisch, da muß ich ein­ mal nachsehen.« (»Der Teufel mit den drei goldenen Haaren«) Nicht alles gehört ins Reich der Märchen, was Sie von Kannibalen gehört haben. Was wissen Sie über den Überlebens-Kannibalismus, den pathologischen Kannibalismus, den kulinarischen Kannibalismus? Welche Menschen aßen welche Menschen? Nach wie vor essen Menschen Menschen. Ein Tabu-Thema als Gegenstand kulturhistorischer Betrachtung.

DM 4.80