Mensch - Staat - Umwelt [1 ed.] 9783428524419, 9783428124411

Der Band vereint die Beiträge zu einem Symposium aus Anlass des 65. Geburtstages von Professor Rainer Wahl und seine im

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 48

Mensch – Staat – Umwelt Herausgegeben von IVO APPEL GEORG HERMES

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Mensch – Staat – Umwelt

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 48

Mensch – Staat – Umwelt Herausgegeben von

Ivo Appel Georg Hermes

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-12441-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Rainer Wahl zum 65. Geburtstag Von Ivo Appel und Georg Hermes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die demokratische Gesellschaft der Union. Zur Sozialdimension der europäischen Grundfreiheiten und Grundrechte Von Rolf Grawert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Methodische Probleme der juristischen Menschenwürdeinterpretation Von Hasso Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Über die Flexibilisierung staatlichen Handelns Von Michael Kloepfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verteilungsgerechtigkeit im Umweltrecht: Die Verteilung von Luftqualität als Beispiel Von Eckard Rehbinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Verfassungsdenken jenseits des Staates Von Rainer Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Schriftenverzeichnis Rainer Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Rainer Wahl zum 65. Geburtstag Von Ivo Appel, Augsburg, und Georg Hermes, Frankfurt a. M. Der 65. Geburtstag unseres Lehrers Rainer Wahl ist willkommener Anlass, uns gemeinsam mit Schülern und Weggefährten den Herausforderungen des Öffentlichen Rechts zu stellen, den Blick hin- und herwandern zu lassen zwischen Dank für Vergangenes und Glückwünschen für Zukünftiges, zwischen der Person und der Sache, zwischen dem Allgemeinen des Faches und dem Besonderen des Jubilars. Zu diesem Besonderen, das den Umgang von Rainer Wahl mit dem Recht, mit der Politik, der Kunst und der Geschichte, mit seinen Mitarbeitern, Doktoranden und Studierenden, mit Kollegen und Freunden prägt, gehört sicherlich das Abwägen. Seine gewissenhafte Suche nach dem Pro und Contra, sein Bemühen um die vollständige Zusammenstellung des „Abwägungsmaterials“, um Ausgleich und Kompromiss und seine konsequente Distanz zu allen Erscheinungsformen radikaler Lösungen hat jeder seiner Weggefährten mit Bereicherung erfahren. Dieses abwägend-beharrende Element, das in der historischen Perspektive stets einen festen Bezugspunkt sucht, ist in der Person des Jubilars eine anregende und fruchtbare Liaison mit der beständigen Suche nach dem noch Unbekannten eingegangen. Der offene und interessierte Blick auf das Neue und die beständige Bereitschaft, zu neuen Ufern aufzubrechen, hat nicht nur die systemtheoretische Perspektive auf die Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung (1978) zutage gefördert, das Gentechnikrecht als Gegenstand verwaltungsrechtswissenschaftlicher Forschung erschlossen oder die Beschäftigung mit der japanischen Rechtskultur befördert, sondern war auch für Rainer Wahls Engagement in den Zeiten des Umbruchs universitärer Strukturen im Allgemeinen und der Juristenausbildung im Besonderen prägend.

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So war Rainer Wahl während seiner Referendar- und Promotionszeit (1965 – 69) in einigen der vielen Diskussionskreise aktiv, die den Übergang von der alten Universität zur Phase der 68er kennzeichneten. Als damals in Heidelberg die Szenerie von der offenen, stark theoretisch geprägten Diskussion in Aktionismus umschlug, fiel Wahl der Wechsel nach Bielefeld auf eine Assistentenstelle nicht schwer. Der völlige Neuanfang und Aufbau brachte Professoren, Assistenten und Studierende in einen intensiven Arbeits- und Diskussionszusammenhang, in dem Wahl als Vertreter der Assistenten maßgeblich an der Konzeption der Bielefelder Einphasen-Ausbildung mitwirkte. Das sehr bewusste Erleben der durch das gemeinsame Anliegen geprägten Pionierphase einer neu gegründeten Universität war gewiss bestimmend für sein weiteres Verständnis der Bedingungen, unter denen gemeinsames Lehren und Forschen gelingen kann. Studierende, Schüler und Kollegen haben davon profitiert. Die Früchte der Bielefelder Forschungsjahre ließen nicht lange auf sich warten. Nach seiner Habilitation 1976 mit der Venia für Staats- und Verwaltungsrecht, Verwaltungswissenschaft und Neuere Verfassungsgeschichte und einem Vertretungssemester in Marburg befand sich Wahl in der komfortablen Situation, zwischen zwei Rufen wählen zu können. Seine Entscheidung für Bonn führte allerdings nur zu einem einjährigen Aufenthalt dort, bevor er sich nach der Ablehnung von Rufen nach Hannover und Gießen und einer Erstplatzierung in Marburg 1978 dauerhaft für Freiburg entschied – eine Entscheidung, die auch ein weiterer Ruf nach Speyer in den achtziger Jahren nicht zu erschüttern vermochte. Im „Werderring 10“ entwickelte sich fortan der neu geschaffene Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft als Ergebnis der Bemühungen, die Verwaltungswissenschaft und Verwaltungslehre als Gegenstand universitärer Forschung und Lehre auszubauen. Rainer Wahl hat diese Bemühungen mit großem Engagement und Pioniergeist in Vorlesungen und Seminaren mit Inhalt und Leben gefüllt. Wer damals seine Vorlesung zur Verwaltungslehre mit Aufmerksamkeit verfolgte, dem war z. B. die jüngst aus steuerungswissenschaftlicher Perspektive aufgefrischte Erkenntnis längst zur Selbstverständlichkeit geworden, dass der Erfolg des Vollzugs nicht nur umweltrechtlicher Normen weniger von der Qualität der materiellen Programmierung als von Fragen

Rainer Wahl zum 65. Geburtstag

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der Organisation, des Personals und der Finanzen bestimmt wird. Dass im Laufe der neunziger Jahre der Stellenwert der Verwaltungswissenschaft als Wahlfachgruppe dann auf ein Minimum reduziert wurde, war in der Sache schmerzlich, für Wahl angesichts seiner weit gespannten Forschungsinteressen aber leicht zu verkraften. Dieser Spannungsbogen von Forschungsinteressen, die immer auch in der Lehre und vor allem in den mit großem Engagement organisierten Seminaren ihren Niederschlag gefunden haben, kann hier allenfalls in seinen Grundelementen nachgezeichnet werden. Das neugierige Fortschreiten hat vor allem auf den Gebieten des Besonderen Verwaltungsrechts einen Weg beschrieben, der von der Raumordnung über die Fachplanung und Bauleitplanung zum Umweltrecht einschließlich des Gentechnikrechts und schließlich zur Europäisierung und Internationalisierung (auch) des Verwaltungsrechts geführt hat. Dahinter Ziellosigkeit zu vermuten, würde die offensichtlichen Konstanten dieses Weges verkennen. Sie liegen vor allem in dem stetigen Bemühen, die vielfältigen Fragen einzelner Spezialgebiete auf die Grundprobleme zurückzuführen, die insbesondere das Verhältnis von Verfassungsund Verwaltungsrecht, die Grundstrukturen einer aufgabenadäquat agierenden Verwaltung und eines modernen allgemeinen Verwaltungsrechts betreffen. Hinter diesen Grundproblemen wiederum bleibt stets der (staats-)theoretisch und verfassungsgeschichtlich fundierte Orientierungspunkt erkennbar, der im Staat als dem verfassungsrechtlich organisierten Gemeinwesen liegt, dem bis auf weiteres die Funktion der primären Ebene politischer Prozesse, der Gemeinschaftsbildung und Gemeinschaftsbindung zukommt. So erklärt sich nicht nur das kontinuierliche Interesse Wahls für das Verfassungsrecht und die Verfassungsgeschichte. Auch die jüngere Hinwendung zu der Frage, welche Folgen die Europäisierung und Internationalisierung des Rechts für die Zukunft moderner Staatlichkeit haben, erscheint als konsequentes Fortschreiten auf dem seit langem verfolgten Weg. Die Art und Weise, wie Rainer Wahl mit diesen Gegenständen und Fragestellungen umgegangen ist, war seinen Studierenden, Mitarbeitern, Schülern und allen, die seine kontinuierlichen Angebote zum wissenschaftlichen und persönlichen Gespräch ange-

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nommen haben, stets Vorbild und Ansporn. Diese Vorbildlichkeit und Überzeugungskraft speist sich aus Tugenden, zu denen vor allem die Transparenz und Aufrichtigkeit der Argumentation, die Gewissenhaftigkeit des Hörens und Lesens dessen, was andere zum Thema zu sagen haben, sowie die Bereitschaft gehören, sich der Mühe eines Eintauchens in die Sachprobleme zu unterziehen, zu deren Lösung nicht nur das rechtswissenschaftliche Gespräch einen Beitrag leisten soll. Dafür ist Rainer Wahl aus Anlass seines 65. Geburtstages von Seiten seiner Schüler auch an dieser Stelle ganz herzlich zu danken. Wir verbinden diesen Dank mit dem Wunsch und der Hoffnung, dass die bereichernden wissenschaftlichen und persönlichen Gespräche in der für ihn anbrechenden Zeit der Freiheit von den Pflichten des Hochschulalltags an Häufigkeit und Intensität zunehmen mögen. Unser Dank gilt auch und nicht zuletzt seinen Weggefährten Rolf Grawert, Hasso Hofmann, Michael Kloepfer und Eckhard Rehbinder, die mit ihren hier publizierten Beiträgen das wissenschaftliche Gespräch am 7. Juli 2006 in Freiburg initiiert und befördert haben.

Die demokratische Gesellschaft der Union Zur Sozialdimension der europäischen Grundfreiheiten und Grundrechte* Von Rolf Grawert, Bochum I. Von Tocqueville zur Union In einem seiner ersten Briefe aus Amerika lüftete Alexis de Tocqueville das Geheimnis der neuen demokratischen Gesellschaft: „Stellen Sie sich vor, mein lieber Freund, wenn Sie das können,“ schrieb er an Erneste de Chabrol, „eine Gesellschaft, die von allen Nationen der Welt gebildet wird: Engländern, Franzosen, Deutschen . . . Alle haben verschiedene Sprachen, verschiedene Glaubenshaltungen, verschiedene Meinungen: in einem Wort, eine Gesellschaft ohne Wurzeln, ohne Erinnerungen, ohne Nationalcharakter, tausendmal glücklicher als die unsere. Tugendhafter? Ich bezweifle es. Davon ist auszugehen. Was dient als Band dieser verschiedenen Elemente? Was macht aus diesem ein Volk? Das Interesse. Hierin liegt das Geheimnis. Das Sonderinteresse, das in jedem Augenblick durchbricht . . . und trotzdem niemals zu dem Allgemeininteresse im Gegensatz steht, was in Europa sicherlich nicht der Fall ist.“1 Kann man sich dennoch vorstellen, auch Europa berge heute das Geheimnis einer geselligen Zukunft? Immerhin bekennt die Europäische Union sich wie damals die amerikanische zu den Grundsätzen der Freiheit und Demokratie, und sie verbürgt sich dem Unionsbürger als ökonomischer Interessen- und Rechtsverband. Liegt es dann nicht * Der vorstehende Beitrag ist zugleich in Der Staat 46 (2007), S 35 ff., erschienen. 1 Zit. nach J. P. Mayer, Alexis de Tocqueville. Prophet des Massenzeitalters, 2. Aufl., Stuttgart 1955, S. 41.

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nahe, auf den Spuren Tocquevilles der „demokratischen Gesellschaftsordnung“ des neuen Europa, also dessen „état social démocratique“2, nachzuforschen? So zu fragen ist allerdings riskant, gilt „Demokratie“ doch seit Aristoteles als Verfassung der ganzen Polis3, während der zweitausend Jahre später organisierte Staat spätestens seit Hegel von der bürgerlichen Gesellschaft unterschieden wird4, so dass sie nach verbreiteter Auffassung von der „Demokratie“ eigentlich Abstand halten sollte.5 Auch Soziologen, die heute nach Strukturen einer unverfassten „europäischen Gesellschaft“ suchen, um der Union eine gewissermaßen naturwüchsige Identität zu verschaffen6, beobachten diesen Abstand, während Tocqueville die beiden Bereiche zu einem Wirkungszusammenhang verband. Sein Konzept erstaunte schon Zeitgenossen7, fand aber dennoch moderne, in amerikanischer Gesellschafts-, genauer: in der Systemtheorie geschulte Nachfolger.8 Tocquevilles Beobachtungen einer 2 Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique. Avertissement tome second (1840). 3 Aristoteles, Politik, VI. 4 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258. Zur Entwicklung des Gesellschaftsbegriffs vgl. Manfred Riedel, Gesellschaft, bürgerliche, in: Brunner / Conze / Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 719 ff., und ders., Gesellschaft, Gemeinschaft, ebd., S. 801 ff. 5 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1991, S. 209 ff.; ders., Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. II, Heidelberg 2004, § 24 RN 1, 9, 58 ff. (S. 435 ff.); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, (1. Aufl.) 1977, § 18 III 2 (S. 435 ff., 472); die Herrschaft dieser Doktrin kann sich außer auf Argumente vor allem auf das Urteil des BVerfG verlassen: BVerfGE 44, S. 125, 142 f. 6 Vgl. u. a. Wilfried Loth (Hrsg.), Europäische Gesellschaft. Grundlagen und Perspektiven, 2005. 7 Dazu Bernhard Fabian, Alexis de Tocquevilles Amerikabild. Genetische Untersuchungen über Zusammenhänge mit der zeitgenössischen, insbesondere der englischen Amerika-Interpretation, Heidelberg 1957, S. 28 ff., 112 ff., mit Nachweisen. 8 Vor allem Niclas Luhmann, Rechtssoziologie 1, Reinbek 1972, S. 132 ff., und öfter.

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gesellschaftlichen Demokratisierung sind heute deshalb anziehend, weil sie den im nachständischen Europa material aufgeladenen Begriff der Nation9 ebenso beiseite lassen wie das Postulat Gemeinsinn, den Aufklärer seit jeher aus Tugend und Erziehung hervorgehen lassen möchten, um Freiheit und Integration zu vereinbaren.10 Tocqueville unterlief Aristoteles, Montesquieu und Rousseau und beobachtete nur, was ihm als Folge des „sentiment du semblable“ auffiel: eine triebhafte Bewegung der Amerikaner zur „égalité des conditions“. Diese Beobachtung beruhte nicht auf der Anerkennung des Menschen als Menschen, die die klassischen Menschen-, Grund- und Wahlrechtsdoktrinen leitet. Sie ergab sich für Tocqueville vielmehr aus bewusster Vernachlässigung der Unterschiede zwischen Menschen und Interessengruppen. Deshalb hat der französische Soziologe Pierre Manent sich kürzlich in seinen „Réflexions sur la démocratie en Europe“ an dem berühmten Landsmann gerieben, um „La Raison des Nations“ zu rekultivieren11: Europa lebe im Unterschied zu Tocquevilles Amerika aus seinen Wurzeln und Erinnerungen und folglich in den Unterschieden seiner Nationen. So aus der Mitte der heute um ihre Identität kämpfenden „Grande Nation“ gesehen, erledigte sich schon die Frage nach der Gesellschaft der Union, gäbe es nicht Zweierlei zu bedenken: erstens den Zustand des europäischen Nationalstaates und zweitens die Vorgaben einer europäischen Gesellschaftsordnung. Erstens: Die zum Ende des 19. Jahrhunderts erfolgreiche Zusammenführung von Staat, Nation und Kulturkreis in Frankreich, Deutsch9 Nüchtern politisch dagegen Sieyès. Was ist der dritte Stand?, 1789, hrsg. Rolf Hellmut Foerster, Frankfurt a. M. 1968, S. 55, 60: „ . . . unter einem gemeinsamen Gesetz leben . . .“. Nationalstaatlich aufgeladen dagegen Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (1907), hrsg. Hans Herzfeld, München 1969, S. 9 ff. 10 Vgl. statt einer Problemgeschichte nur: Aristoteles, Politik III 4: Tugend; Montesquieu, De l’Esprit des Lois, 1748, III 3, IV 5: Tugend, Erziehung, Vaterlandsliebe; Rousseau, Contrat social, 1762, III 4, IV 8: Tugend, Erziehung, Vaterlandsliebe; dazu Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, 2. Aufl., Neuwied / Berlin 1968, S. 70 ff.; zur neueren Gemeinsinndiskussion Rolf Grawert, Gemeinwohl. Ein Literaturbericht, in: Der Staat 43 (2004), S. 434, 446 ff. 11 Pierre Manent, La Raison des Nations. Réflexions sur la démocratie en Europe, Paris 2006, S. 15 f., 41 ff.

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land und Italien zerfiel nach dem Ersten Weltkrieg in differenzierte, transnationale Beziehungen ideologischer, ökonomischer, kultureller, politischer Provenienzen, so dass Nation und Nationalstaat nur noch Kerne von Netzwerken bilden, Kerne, die Moral12, Recht, Polizei u. a. einschließen, aber die Lebenszusammenhänge ihrer Einwohner nicht mehr ausschließlich erfassen. Die den Nationalstaat einst prägenden Funktionen Macht, Wirtschaft, Religion haben andere Zentren.13 Zweitens: Der Union vermitteln die neuen und alten Nationalstaaten jedenfalls keine gemeinsame Substanz. Wer die Einheit in der Vielheit sucht, wird sich darin verirren: Die beliebte Formel beschreibt ein Problem, aber nicht dessen Lösung. Doch in der Union gibt es Ansätze zu einer Gesellschaftsordnung, über deren Struktur und Substanz freilich derzeit nicht mehr gesagt werden kann als über die institutionelle Zukunft der Union: alles ist im „Prozess“ – und wer dächte dabei nicht an Kafka oder an Mahlers „Fünfte“? Immerhin gibt es im Recht der Union Ansätze zur Bildung einer „égalité des conditions“, die die Bildung einer der Union zugeordneten Gesellschaft mit der Qualität des Demokratischen in Aussicht nehmen, so wie andere Gesellschaftsformationen feudal, höfisch, altständisch, bürgerlich genannt werden. Begriffe wie „feudale“, „höfische“ usw. Gesellschaft gehen davon aus, dass die Gesellschaftsbildung auch, vielleicht sogar wesentlich von der maßgebenden Herrschafts- und Rechtsordnung abhängt, also: die feudale Gesellschaft von der Feudalordnung, die höfische Gesellschaft von der Hofordnung des Fürsten14, die bürgerliche Gesellschaft von Entprivilegierungen, die Nationalgesellschaft vom Nationalstaat, die Weltgesellschaft von der Friedenseinheit der Welt. Dieser Zugang ist nicht nur Kant, sondern auch der Rechtswissenschaft vertraut. 12 Der EGMR erkannte und respektierte, dass das „moralische Ethos der Gesellschaft als ganzes“ ein Grundrechten vorrangiges, „dringendes gesellschaftliches Bedürfnis“ sein kann; vgl. die Nachweise in: Council of Europe, Digest of Strasbourg Case-Law relating to the European Convention of Human Rights, vol. 3, Köln / Berlin / Bonn / München 1984, S. 224 f. 13 Dazu bündig Wolfgang Schmale, Geschichte Frankreichs, Stuttgart 2000, S. 10 ff., 232 ff., 322 ff. 14 Dazu Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft, Neuwied / Berlin 1969.

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Er könnte zur Union führen: Bildet die Union sich – als ihren Unterbau – eine auf sie gerichtete Gesellschaft oder bildet ihre Verfassung15 einen dafür geeigneten Rahmen? Tocquevilles Begriff der „égalité des conditions“ eröffnet dieser Frage ein weites Beobachtungsfeld. Wie Montesquieus „esprit“ zielt er auf die Gesamtheit eines konkreten, geistig-materiellen Lebenszusammenhangs. Darauf spekulierend, unterstellt der Untertitel „Die Sozialdimension der europäischen Grundfreiheiten und Grundrechte“ zum Thema dieser Überlegungen die These, dass eine Unionsgesellschaft dank jener Dimension möglich ist und dass Grundrechte und Grundfreiheiten transindividuelle, soziale Wirkungen erbringen, die eine Mehrzahl von Menschen miteinander verbinden. Sie führen zu „Figurationen“, die „eine relative Unabhängigkeit von bestimmten einzelnen Individuen“ haben, „aber nicht von Individuen überhaupt“.16 Sie formieren also die „Struktur der Interdependenzen“17 der Gesellschaftsglieder. Die normative Verbindung der Union mit dem System einer „demokratischen Gesellschaft“ ist allerdings verborgen. Die Gemeinschaftsverträge meiden diesen Leitbegriff. Sie wollen komplexe „Völker“ („peoples“, „peuples“) verbinden und den „Bürgern“ lediglich einen „Raum“ eröffnen, den begrenzten „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“.18 Soll dieser blasse Begriff des Raums („area“) den des Territoriums („territory“) ausschließen, der seit Art. 1 der Montevideo-Konvention19 zur Definition des Staates dient? Und soll er zugleich den Fortschritt von den „peoples“ zur „population“, dem weiteren Staatskriterium, soll er also jede Staatsnähe der Union ausschließen? Soll der auf Positives eingestellte Jurist, der deutsche zumal, mit Ludwig Wittgenstein also folgern, man müsse darüber schweigen, wovon man Im Sinne der Rechtsprechung des EuGH. Elias, Gesellschaft (Fn. 14), S. 47. 17 Elias, Gesellschaft (Fn. 14), S. 55. 18 Präambel EUV. 19 Interamerikanische Konvention über die Rechte und Pflichten der Staaten vom 26. 12. 1933, in: League of Nations Treaty Series Bd. CLXV, S. 19: „The State as a person of international law should possess the following qualifications: a) a permanent population; b) a defined territory; c) government; and d) capacity to enter into relations with other States.“ 15 16

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nicht sprechen kann, von dem Mystischen also?20 Immerhin erwähnt Art. 11 EUV gemeinsame „Interessen der Union“, und der Vertrag von Nizza anerkannte deren „Gesamtbevölkerung“ („total population of the Union“) als Legitimationseinheit für Ratsbeschlüsse.21 Die „demokratische Gesellschaft“ erscheint als Rechtsbegriff jedoch erst im Medium der Menschenrechtskodifikationen, die die Union zu achten verspricht22: in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, in dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 und in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950. Das Europäische Parlament hat jenen Begriff von dort aus in das institutionelle Gefüge der Union übernommen: durch seine 1989 beschlossene „Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten“.23 Das Parlament erwog damals im Vorfeld von Maastricht, dass es geboten sei, „sich auf der Grundlage der Grundrechte für die Demokratie einzusetzen“ und dass es ihm, dem Parlament, obliege, „zur Entwicklung des Modells einer Gesellschaft beizutragen, die auf der Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten und Toleranz begründet ist“. Die Europäische Justiz hat den Abwägungsbelang der demokratischen Gesellschaft selbstverständlich im Rahmen der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts in Bezug auf Grundrechte 20 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (1921), Einleitung mit 6.522 und 7. 21 Vertrag von Nizza vom 26. 2. 2001 (BGBl. II S. 1667), Protokoll über die Erweiterung der Europäischen Union Art. 3 Abs. 1 ii), aufgehoben durch Art. 12 II der Akte zum Beitrittsvertrag vom 16. 4. 2003 (BGBl. II S. 1410), allerdings eingeführt in Art. 205 IV EGV. 22 Art. 6 I, II EUV i. V. m. Art. 29 AEMR, Art. 21 IPbürgR und Art. 6 I, 9 II, 10 II, 11 II EMRK (ebenso § 12 II der Verfassung Schwedens vom 1. 1. 1975). Auch Art. II 7 (3) des Entwurfs der Unionsverfassung nimmt diesen Bezug auf die Grundrechte der EMRK im Gefolge des EuGH als „allgemeine Grundsätze des Unionsrechts“ auf: EuGH Rs. 4 / 73 (Nold), Slg. 1974, S. 491, 507. 23 Europäisches Parlament, Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten. Entschließung vom 12. 4. 1989, ABl. 1989 Nr. C 120 / 51, Art. 26: „Die in dieser Erklärung aufgeführten Rechte und Freiheiten dürfen innerhalb der in einer demokratischen Gesellschaft vertretbaren und erforderlichen Grenzen nur durch eine Rechtsvorschrift eingeschränkt werden, in der in jedem Fall der Wesensgehalt der Rechte und Freiheiten unangetastet bleibt.“

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beachtet.24 Liefern diese Bezüge der Union ein kohärentes Gesellschaftsbild?

II. Der Rechtswert der „demokratischen Gesellschaft“ In den völkerrechtlichen Bezugssystemen der Menschenrechtskonventionen bezeichnet der Begriff „demokratische Gesellschaft“ weder einen Zustand noch ein Konzept, sondern einen Abwägungsbelang im Rahmen von Grundrechtseinschränkungen.25 Auf welche Kriterien soll es dabei ankommen? Der deutsche Blick auf den europarechtlichen Begriff der Demokratie wird zunächst von der Höhe der nationalen Verfassungsordnung beherrscht. Denn deren in ihrem „Grundgefüge“, in ihren „wesentlichen Strukturen“ beschlossene „Identität“26 definiert laut Bundesverfassungsgericht die konstitutionelle Zulässigkeitsgrenze für Deutschlands supranationale Integration. Neben dem Wesensgehalt der Grundrechte rechnet das Bundesverfassungsgericht auch die Demokratie zu jenen Essentialia, und zwar als die durch Volkssouveränität, Volkslegitimation und Mehrheitsprinzip geprägte Staatsform27, deren Legitimationslinien allerdings im Gefüge der Union zerfasern dürfen.28 Doch 24 EuGH, Rs. C-159 / 90 (Unborn Children), Urt. vom 4. 10. 1991, Schlussanträge des Generalanwalts van Gerven vom 11. 6. 1991, Slg. 1991, S. I-4703, 4725 Nr. 34. 25 Dazu Regina Weiß, Das Gesetz im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin 1996, S. 37 f. – Die Verfassung Schwedens vom 1. 1. 1975 setzt die Abwägungsbelange als Zwecke: Nach ihrem Art. 12 II sind Grundrechtseinschränkungen zu „Zwecken“ zulässig, die „in einer demokratischen Gesellschaft annehmbar sind“. 26 BVerfGE 73, S. 339, 375 f. – Solange II-Beschluss –; der Herrschaftsanspruch entspricht der These des BVerfG, dass „Deutschland . . . einer der ,Herren der Verträge‘“ ist: BVerfGE 89, S. 155, 190. Zum strengeren Verfassungsvorrang, um polnische Staatsbürger vor einer Auslieferung zu schützen: Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. vom 27. 4. 2005 – P 1 / 05 – , in: EuR 2005, S. 494, 497. 27 BVerfGE 44, S. 125, 138 : Volkssouveränität; 83, S. 60, 72: Legitimationszusammenhang; 44, 125, 141: Mehrheitsprinzip. 28 BVerfGE 89, S. 150, 183 ff.

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die Demokratie wird vom Bundesverfassungsgericht nicht nur als Staatsform, sondern auch als supranationales Strukturprinzip der Union anerkannt, ja gefordert und darüber hinaus in den so genannten „vorrechtlichen“ Bereich der politischen Willensbildung und Interessenauseinandersetzung hin ausgezogen.29 Indem das Gericht erwartet, dass sich diese „vorrechtlichen“ Strukturen als „Bedingungen“ und „Voraussetzungen“ einer unionseigenen Demokratie „im institutionellen Rahmen der Europäischen Union“ entwickeln und so die Demokratie als Unionsform hervorbringen werden30, trifft es sich mit Tocquevilles Konzept. Tocqueville meinte zwar, die amerikanische Gesellschaft sei bereits vor ihrer Verfassung durch eine ursprüngliche Gleichheit geprägt und deshalb demokratisch gewesen.31 Aber er verfolgte dann doch die Wechselwirkungen von Verfassung und Gesellschaft, also von realen und normativen Sachverhalten, und verzeichnete die das zivile und das politische Leben umfassende „égalité des conditions“. Man kann demnach die Union und deren Bevölkerung in ein dialogisches Verhältnis setzen. In diesem Verhältnis führt die Redeweise von einem vorrechtlichen oder natürlichen Zustand allerdings in die Fragwürdigkeiten des Naturbegriffs, der Ansichtssache war und ist. Die in den Menschenrechtskonventionen im Begriff der „demokratischen Gesellschaft“ völkerrechtlich begründete Verbindung von „Demokratie“ und „Gesellschaft“ übergeht schon von vornherein genetische Theorien von Ursprünglichkeit und Naturwüchsigkeit. Sie unterstellt vielmehr das Vorhandensein der normativ geformten und strukturierten Gesellschaft eines organisierten und maßgebenden Gemeinwesens. Der Begriff „demokratische Gesellschaft“ taucht im Zusammenhang mit der Gewährleistung von Kommunikationsfreiheiten auf. Die Konvention stellt diese Freiheiten unter den Vorbehalt des Gesetzes und macht dessen Freiheitseingriffe von der Notwendigkeit „in einer demokratischen Gesellschaft“ abhängig. Der dogmatisch versierte Rechtsanwender kann sich mit dieser triadischen Konstruktion begnügen: Rechtstatbestand, Rechtsschranke, Schranken-Schranke. 29 30 31

BVerfGE 89, S. 150, 184 f. BVerfGE 89, S. 150, 185. Tocqueville, De la démocratie, (Fn. 2).

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Aber hinter der Konstruktion verbergen sich ein Menschen- und ein Gesellschaftsbild. Man kann das Ideal des selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Menschen erkennen. Doch im Augenblick dieser Erkenntnis erscheint die Wolfsstruktur des Individualismus, die es im Gefüge des demos zu zähmen gilt. So stehen sich das liberale Menschenrechtsprinzip und das sozial-politische Demokratieprinzip einander zugleich bedingend und beschränkend gegenüber: der Einzelne versus die Volksmehrheit, Individualfreiheit versus Kollektivfreiheit, Status versus Struktur, Wettbewerbsfreiheit versus Gemeinschaftsgüter. Unschwer erkennt man daran die Dialektik von gesellschaftlicher Freiheit und Abhängigkeit im Raum der wechselseitigen Bewegung, die die so genannte Postmoderne mit der Moderne verbindet: Das herrschende Volk muss sich den Grundrechtspositionen seiner Mitglieder zwar beugen, aber nur solange die Demokratiefähigkeit seines Sozialkörpers nicht gefährdet ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in dieser Hinsicht die Bedeutung einer offenen und freien Debatte und eines freien Informationsflusses32, der liberalen Grundrechte überhaupt, des Pluralismus sowie der Toleranz33 hervorgehoben. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg stimmt in dieser Hinsicht mit dem in Straßburg überein.34 Beide Gerichtshöfe haben dabei nicht nur die nationalen Gesellschaften, sondern auch deren Gemeinschaft im Blick. Damit werden objektive Grundrechtswerte, die auch der Volksherrschaft unvorgreiflich sind – sein sollen – auch transnational gegen Grundrechtssubjekte aktiviert. Strukturell unterscheidet die Konvention also den Sozial- und Kulturzusammenhang einer verfassten Gesellschaft von der sie steuernden Rechtsordnung, verbindet jedoch beide 32 EGMR, Beschwerde Nr. 38743 / 97 (Demuth / Schweiz), Urt. vom 5. 11. 2002, EuGRZ 2003, S. 488, 490 f. Nrn. 40 ff. 33 EGMR, Urt. vom 29. 6. 2004 / Sahin / Türkei), EuGRZ 2005, S. 31; ebenso das Kopftuchverbot betr. EGMR, Urt. vom 15. 2. 2001, EuGRZ 2001, S. 595; betr. Toleranz und Pluralismus EGMR, Urt. vom 24. 6. 2004 (Caroline), EuGRZ 2004, S. 404 Nr. 58, 65; grundlegend Urt. vom 7. 12. 1976 (Handyside), EuGRZ 1977, S. 38. 34 EuGH, Rs. C-112 / 00 (Schmidberger / Östrreich), Urt. vom 12. 6. 2003, EuGRZ 2003, S. 492, 498 Nr. 79: Die Freiheiten der Meinungsäußerung und der Versammlung werden ausdrücklich als Essentialia einer demokratischen Gesellschaft anerkannt.

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Systeme durch deren demokratische Qualität. Auf diese Verbindung kommt es an. Durch sie setzt die Konvention die „demokratische politische Ordnung“, die laut ihrer Präambel jene Freiheiten sichern soll, in ein Funktionsverhältnis zur „demokratischen Gesellschaft“, die jene „politischen Ordnung“ begründet und begrenzt. Weil politische Ordnung und Gesellschaft wegen der Menschenrechte miteinander verbunden sind, kann man folgern, dass es diese Rechte, insbesondere die Gleichheiten und Freiheiten, sind, die die zivilen und politischen Aktionssysteme der Vertragspartner der Konvention in eine Wesensgleichheit versetzen und deren demokratische Qualitäten ausmachen. In einem ähnlichen Sinne wird das Prinzip der Demokratie auch im Prozess kollektiver Selbstbestimmung erkannt.35 Als Sozial- und als Herrschaftsform zeichnet es sich außerdem traditionsgemäß durch eine privilegienfeindliche Chancengleichheit aus. Die Konvention normiert dies, indem sie die weltweite Wesensgleichheit der Menschen axiomatisch unterstellt und sie durch Diskriminierungsverbote konstituiert. So ergibt sich die These: Das Demokratische kommt in den Freiheits- und Gleichheitsstrukturen zum Ausdruck, die den Sozial- und den Politikbereich verbinden. Lässt sich dieser Komplex, in dem Privat-, Sozial- und Politikbereiche durch Freiheits- und Gleichheitsstrukturen aufeinander bezogen sind, in der Union nachvollziehen?

35 Vgl. Etwa Roland Bieber in: Beutler / Bieber / Pipkorn / Streil, Die Europäische Union, 5. Aufl., Baden-Baden 2001, § 36.3, RN 1305 ff.; Paul Craig / Gráinne de Burca, EU Law. Text, Cases, and Materials, 3rd ed., Oxford 2003, S. 167 ff., 171 ff. Tobias Jaag, Die europäischen Institutionen aus schweizerischer Sicht, Basel / Genf 2003, RN 3861 ff., vermerkt nur „verschiedene Grundsätze zur Arbeitsweise“ der Unionsorgane; so auch Ingolf Pernice in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. II, Tübingen 1998, Art. 23 RN 51.

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III. Unionsrechtliche Demokratieund Gesellschaftskonzepte Die Frage stößt von Anfang an auf das Problem, dass das Demokratische in der Union keinen eindeutigen Sitz hat. Aus der Sicht der Mitgliedstaaten, die als „Herren der Verträge“ ihr Wesen in der Union wiederfinden sollen36, kommt der unionsrechtlichen Ausformung des Demokratieprinzips eine strukturbestimmende, in Art. 23 Abs. 1 GG besonders, ja einzigartig betonte Bedeutung zu.37 Doch im Unterschied zu den nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten weist der Unionsvertrag das Prinzip einer die „Völker“ verschmelzenden Volkssouveränität wohlweislich nicht aus. Er präsentiert „Demokratie“ nur mit gespaltener Zunge: zunächst als einen von mehreren „Grundsätzen“, die einerseits als Bekenntnisgegenstände der Vertragsparteien und andererseits als Wertgrundlagen der Union benannt werden; sodann bezieht der Vertrag „Demokratie“ speziell auf die „Arbeit der Organe“38 und erst im weitesten Sinne auf die durch die Menschenrechtskonvention vermittelte „demokratische Gesellschaft“. So wirkt die einstige Polisbezeichnung „Demokratie“ zwar umfassend wie die „Bezeichnung für eine Zivilisation“.39 Aber die dreifache Unterscheidung ihrer Begriffsbezüge – erstens auf die Union, zweitens auf deren Organe und drittens auf deren Gesellschaft – erschwert eine ziel- und sinnsetzende Definition.40 Am verständlichsten ist noch der in der Präambel bekundete Wunsch der Vertragsparteien, „Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Vertragsparteien weiter zu stärken“, lässt er sich doch in bekannte, nationalstaatlich orientierte LegitimationsanfordeBVerfGE 89, S. 150, 183 ff., 190. Dazu Pernice (Fn. 35), Art. 23 RN 51 ff. 38 Speziell zur parlamentarischen Repräsentanz der „Völker“ EuGH, Rs. 138 / 79 (Roquette Frères-Isoglucose), Urt. vom 29. 10. 1980, Slg. 1980, S. 333 Leitsatz 4; Rs. C-300 / 89 (Titandioxid), Urt. vom 11. 6. 1991, Slg. 1991, S. I-2867 RN 20. 39 Giovanni Sartori, Demokratietheorie (1987), Darmstadt 1992, S. 11. 40 Sartori, Demokratietheorie (Fn. 39), S. 254 ff., hält die Präferenzentscheidung zugunsten eines Definitionszieles für wegweisend. 36 37

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rungen an Organe übersetzen, wie sie namentlich das Bundesverfassungsgericht betont hat.41 Allerdings resultieren diese Anforderungen aus der dualistischen Entgegensetzung von Organisation und Gesellschaft. Dagegen greifen das in der Präambel bestätigte Bekenntnis zum Grundsatz der Demokratie und die normativ verbindliche Feststellung in Art. 6 EUV, dass „die Union“ auf diesem Grundsatz „beruht“, über deren institutionelle Organstruktur hinaus. Denn die „Union“ wird durch Art. 1 EUV mehrsinnig erstens auf die „Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten“, zweitens auf die Beziehungen „zwischen“ deren „Völkern“ und drittens, föderativ, auf die Gemeinschaften und Politiken bezogen. Was bedeutet eine sich zwischen „Völkern“ entfaltende Demokratie? Betrifft sie die durch Staatsangehörigkeit definierten Staatsvölker der Mitgliedstaaten? Oder betrifft sie deren Sozialsubstrat, also die Bevölkerungen, die der Vertrag von Nizza zur „Gesamtbevölkerung“ der Union zusammenfasst? Riskieren die Völker-Beziehungen eine Völker-Verbindung? Der Unionsvertrag lässt das vorsichtig offen, schließt extensive Interpretationen aber auch nicht aus. Für Vertragsauslegungen, die eine Unionsgesellschaft erkennen lassen, sprechen vor allem die erwähnten Menschenrechtsbezüge des Unionsvertrages. Aufgrund des unionsrechtlichen Achtungsgebotes hat inzwischen der Begriff der demokratischen Gesellschaft expressis verbis Eingang in die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gefunden. Demnach unterliegen die aus der Konvention stammenden Grundrechte auch im Rahmen des Gemeinschaftsrechts und dessen Grundfreiheiten den Notwendigkeiten „in einer demokratischen Gesellschaft“ und dürfen beschränkt werden, sofern dies „durch ein zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt“ werden kann; sie können also „keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Folglich kann die Ausübung dieser Rechte Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen“ und nicht unverhältnismäßig wirken.42 Das Zitat belegt, dass und 41 Vgl. dazu etwa die Bemerkungen und Nachweise von Pernice (Fn. 35), Art. 23 RN 52.

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wie der Europäische Gerichtshof den konventsrechtlichen Begriff „demokratische Gesellschaft“ achtet und zugleich in gemeinschaftsrechtliche, auf Grundfreiheiten zugeschnittene Begriffe wie „gesellschaftliches Bedürfnis“, „Gemeinwohl“, „öffentliche Ordnung“43 übersetzt. Dabei überlässt er die Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe primär der Beurteilung der Mitgliedstaaten, behält sich aber die Definition des Rahmen- und Kontrollmaßstabes vor. Pointiert gesagt: Der Gerichtshof beansprucht, die grundrechtlichen Rahmenbedingungen einer unionsweiten Gesellschaftsentwicklung über die Mitgliedstaaten hinweg bestimmen zu dürfen. Grundsätzlich entspricht dieser Ansatz dem Kompetenzverhältnis der Mitgliedstaaten zur Union, und er spiegelt, wie vermutet, deren funktionsspezifische Gesellschaftsstruktur wider. Allerdings verwirrt das zu dieser Rechtsprechung führende Gebot, die Menschenrechte zu achten, zunächst, weil es auf unterschiedliche Gesellschaftsstrukturen Bezug zu nehmen scheint. Art. 16 Abs. 3 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung erklärt nämlich – ähnlich wie Art. 23 Abs. 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966 – die Familie zur „natürlichen und grundlegenden Einheit der Gesellschaft“.44 Damit steigt Rousseau wieder aus der Vergangenheit auf. Er hielt die Familie für „das erste Muster der politischen Gesellschaften“.45 Dieser Ansatz ergäbe eine körperschaftlich und hierarchisch gegliederte Gesellschaft, eine Familien-, Clan- und Stammesgesellschaft. Doch der Unionsvertrag folgt diesem atavistischen Ansatz offenbar nicht. Er lässt Gesellschaft, Volk und Staat beim Individuum beginnen, beim Menschen, bei den Unionseinwohnern und Unionsbürgern. Sie sind die Elemente jeder kollektiven Ordnung. Auch die Erklärung des Europäischen Rates zur Demokratie vom 42 EuGH, Rs. C-112 / 00 (Schmidberger / Österreich), Urt. vom 12. 6. 2003, EuGRZ 2003, S. 492, 498 Nr. 79. 43 Dazu u. a. EuGH, Rs. C-54 / 99 (Église de scientologie), Urt. vom 14. 3. 200, Slg. 2000, S. I-1335 RN 17; zuvor Rs. 41 / 74 (Van Duyn), Urt. vom 4. 12. 1974, Slg. 1974, S. 1337 RN 18. 44 Art. 23 I IPbürgR vom 19. 12. 1966 (BGBl. 1973 II S. 1534): „Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft . . .“. Ebenso die Verfassungen von Irland (Art. 41), Portugal (Art. 67) und von Rheinland-Pfalz (Art. 23). 45 J. J. Rousseau, Du contrat social / Der Gesellschaftsvertrag (1762), I 2.

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8. April 197846 und die Kopenhagener Erklärung vom 21. / 22. Juni 199347 gehen so vor. Sie sehen die „parlamentarische Demokratie“ aus der menschenrechtlich gesicherten Meinungsvielfalt einer „pluralistischen Demokratie“ hervorgehen, die offenbar die Gesellschaft charakterisiert. Auch der Europäische Gerichtshof setzt die Interessen des Individuums und der dieses einschließenden Gesellschaft ins Verhältnis.48 Unionsrechtlich nimmt demnach die „demokratische Gesellschaft“ der Union die Position eines Basiskollektivs für die Institutionenordnung der Union und deren Gemeinschaften ein. Ihre Entwicklungspotentiale – um ein Modewort werbend aufzugreifen – hängen davon ab, ob und wie die Grundrechte und Grundfreiheiten im Beziehungsgefüge der Einen mit den Vielen raumgreifend verwirklicht werden. Die Frage weist zurück auf die nach Ursachen und Anlässen. Aus den Verträgen lassen sich dreierlei Theorieansätze verfolgen: Die Gesellschaftsbildung kann erstens aus Initiativen von hoher Hand, zweitens aus Initiativen privater Individuen und drittens aus anonymen Kollektivprozessen hervorgehen. Im erstgenannten Sinne formten Richelieu und Ludwig XIV. ihre höfische Gesellschaft und wollte Ludwig Erhard seine „formierte Gesellschaft“ ins Werk setzen49; im zweitgenannten Sinne argumentieren voluntaristische und utilitaristische Vertragstheorien bis hin zu Talcott Parsons50; im letztgenannten Sinne kommt es nicht auf individuelles Wollen, sondern auf Prozesse der Einbindung, Abhängigkeit und Verflechtung von kollektiven Einstellungen, Interessen und Verhalten an, wie Parsons sie als interdependentes System der Gesellschaft konzipiert51 oder der polnische Dichter Witold Gombrowicz sie als Bull. EG 3 / 78, S. 5. Bull. EG Nr. 6 / 1993, Ziff. I.13.: Erklärung gegenüber beitretenden Staaten gem. Art. 49 EUV. 48 Vgl. EuGH, Rs. C-112 / 00 (Schmidberger / Österreich), Urt. vom 12. 6. 2003, EuGRZ 2003, S. 492, 498 Nr. 79. 49 Dazu bündig Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1999, S. 413 ff. 50 Talcott Parsons, The Structure of Social Actions, New York 1937 / 1968. 51 Talcott Parsons, The Social System, Glencoe 1951. 46 47

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System der Zwischenmenschlichkeit erfunden hat.52 Der Unionsund der Gemeinschaftsvertrag nehmen die Unionsgesellschaft, wie sich zeigen wird, sowohl von „unten“ als auch von „oben“ in den Blick, das heißt: ebenso als Projekt von Grundrechts- und Freiheitssubjekten und -verwirklichungen wie von Maßnahmen der Staatengemeinschaft. In jeder Hinsicht stehen die gesellschaftsbildenden Kräfte der Union vor einer ungleich günstigeren Situation als einst Hobbes oder Kant. Sie brauchen nämlich keine Traditionsgesellschaft oder ständische Gesellschaft oder Nationalgesellschaft zu überwinden und zu ersetzen. Denn die Unionsgesellschaft ist alles andere als in festen Strukturen erstarrt, sondern sucht noch ihre Ideale, Werte und Systeme; die ihr angemessene Gesellschaft soll und kann die „Völker“ nur verflechten und allenfalls überwölben; sie ist als eine säkulare Gesellschaft konzipiert. Dabei kann man sich das, was die Gesellschaft zusammenfügen, ausmachen und zusammenhalten kann oder soll, lediglich als Fragment vorstellen. Denn die Ziele und Kompetenzen der Union, ihrer Gemeinschaften und Politiken sind streng begrenzt, also, verglichen mit der Fülle des Lebens, fragmentarisch. Doch kann dieser Umstand kein Einwand gegen die Annahme einer Gesellschaft sein. Wie die Perspektive des modernen Stadtmenschen fragmentarisch geworden ist – Merciers „Tableau de Paris“ lässt das bereits Ende des 18. Jahrhunderts einsichtig werden53 – so zeichnet auch die moderne Gesellschaft sich stärker durch ihre Unterschiede als durch ihre Übereinstimmungen aus. Wir Heutigen leben in Pluralismen und Parallelgesellschaften. Jedenfalls müssen wir uns darauf immer mehr einrichten, je mehr die Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung Sozial- und Kulturunterschiede hervorrufen. Wie der integrierte Staat so lebt auch die moderne Gesellschaft nicht mehr im Rahmen strenger Inklusion 52 Witold Gombrowicz, Tagebuch 1953 – 1969, deutsch: München 1988 / Frankfurt a.M. 2004, S. 37 f., 75 ff. 53 Louis Sébastian Mercier, Tableau de Paris, Nouvelle édition corrigée et augmentée, 12 Bde., Amsterdam 1783 – 1788, auszugsweise übersetzt und herausgegeben von Jean Villain: Mercier, Mein Bild von Paris, BadenBaden 1979 (it 374); dazu aufschlussreich Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München / Wien 1993, S. 105 ff.

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und Exklusion, sondern in funktionellen Überschneidungen. So gesehen, stört die Fragmentierung der Unionsziele eine Gesellschaftsbildung nicht prinzipiell. Jene Ziele richten die Aufmerksamkeit des Beobachters von Gesellschaftsbildung vornehmlich auf die Bereiche Kommunikation, Wirtschaft, Arbeit und Politik: In der Kommunikationsgesellschaft kann das Demokratische, in der Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft das Soziale und in der Bürgergesellschaft das Politische seinen Ausdruck finden. Während die Bürgergesellschaft von den politisch relevanten Rechten der Unionsbürger abhängt, wird die Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft in erster Linie durch Grundfreiheiten und grundrechtsgleiche Rechte, die Kommunikationsgesellschaft aber vorwiegend durch Grundrechte geprägt.

IV. Gesellschaft der Gleichen und Anzugleichenden In allen Bereichen ist „natürlich“ das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit von maßgebender Bedeutung, „natürlich“, weil die Protagonisten des einen wie des anderen Prinzips sich auch auf eine entsprechende „Natur“ des Menschen und der Gesellschaft berufen. Wie dem auch sei: Das Begriffspaar spiegelt prinzipiell unterschiedliche, letztlich unvereinbare Gesellschaftsbilder wider, die die Formelverbindung von „Freiheit und Gleichheit“ zu harmonisieren aufgibt statt löst. Manche meinen, dass die Freiheit der Gleichheit sachlogisch und entwicklungsgeschichtlich vorausgehe, da erst die Freiheit jene Ungleichheiten hervorrufe, die es auszugleichen gelte54, und zwar ungeachtet dessen, ob Gleichheit als Gleichartigkeit oder als Gerechtigkeit verstanden wird. Der Unionsvertrag greift die beiden konträren Prinzipien nicht in der Form der revolutionären Grundrechtsüberlieferung auf, sondern durch sein Bekenntnis zu den ranggleich zitierten „Grundsätzen“ der Freiheit und der Demokratie, und der Gemeinschaftsvertrag verbindet das neoliberale Konzept des sich selbst durch Freiheiten qualifizierenden Gemeinsamen Marktes 54 Dazu ausführlich Sartori, Demokratietheorie (Fn. 39), S. 327 ff., 350 ff.

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mit einem neosozialen Konzept interventionistischer Sozialpolitik. Im Rahmen dieser Antagonismen trifft die Suche nach der demokratischen Qualität der Unionsgesellschaft dann ganz im Sinne Tocquevilles zunächst auf das Problem der Gleichheit, wenn man jenen Demokratietheorien folgt, die die demokratische Gesellschaft nicht schon als eine eo ipso freiheitliche, sondern eher als eine Gesellschaft der Gleichen denn als eine der Freien begreifen will. Der Niedergang des Liberalismus und die Probleme der Industriegesellschaft haben im 19. Jahrhundert zu dieser Sicht geführt. Man braucht jedoch gar nicht einmal den Sozialismus zu bemühen, um zu erkennen, dass schon das Nebeneinander von Freiheit und Demokratie den Weg zur Gestaltung der Gesellschaft unumgänglich macht. Wer dabei vorrangig auf die Freiheit setzt, wird es bei der Gewährleistung von Rechtsgleichheiten im Sinne der Chancengleichheit belassen, um eine Gesellschaft der gleichermaßen Freien zu formieren. Doch eine Demokratie, die jedermann gleiche Wahlrechte einräumt und die Mehrheit entscheiden lässt, muss auch, und wenn nur in gewisser Weise, für reale Gleichheit, also für eine die Freiheitsausübung ermöglichende Ausgleichung der „conditions“ von Freiheit sowie für Gleichstellungen sorgen. Dieser Demokratie stellt sich die Aufgabe, die aufgrund der Lage der Dinge oder infolge der Freiheitsentfaltung entstehenden Ungleichheiten abzubauen und im Sinne eines Axioms von Gerechtigkeit auszubalancieren, sei es durch Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen, sei es durch Herstellung von Ergebnisangleichungen. Welche Gleichheit oder Gleichartigkeit sich aus dem Abbau von Diskriminierungen ergeben und auf welche normativen und realen „conditions“ sie sich beziehen soll, kann hier nicht ausgeführt werden. Nur so viel lässt sich festhalten: Die Zielsetzung ist supranational, also weder nur national noch global, ausgerichtet. Sei nun Gerechtigkeit oder Gleichstellung das Ziel: In jeder Hinsicht sind Interventionen und Freiheitsbegrenzungen erforderlich, wobei der Interventionismus sich von legislativen zu administrativen Gestaltungsmaßnahmen steigern kann. Das lehrt nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis: Die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika wie die des nachnapoleonischen Preußens und die des Deutschen Reiches zeigt, dass eine politisch-institutionelle Einigung die Vereinheitlichung der Ge-

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sellschaft durch Gesetzgebung und Administration zur Folge hat und dass umgekehrt die Gesellschaft der Organisation entgegenlebt.55 Was in der Union zu geschehen hat, richtet sich hauptsächlich nach den der Europäischen Gemeinschaft gestellten, limitierten Aufgaben. Zur Erfüllung dieser Aufgaben schreibt Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c) EGV unter anderem vor, dass ein Binnenmarkt geschaffen werden soll, der durch Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist. Im Hinblick auf diesen Markt konzentriert der Gemeinschaftsvertrag seine Politiken vornehmlich auf Strukturprobleme der Marktgestaltung. Dabei wird der einzelne Marktteilnehmer zunächst als Funktionsteil und erst in zweiter Linie als Handlungssubjekt angesprochen. Zwar haben der Gemeinschafts- und der Unionsvertrag seit Maastricht den Blickwinkel über die Ökonomie hinaus auf andere Lebensbereiche ausgedehnt. Doch nach wie vor dominiert in der Union das Marktgeschehen. Das passt durchaus zu der erst im Unionsvertrag vorgegebenen Demokratie, die nur im „Grundsatz“ anerkannt wird, sei es als Herrschafts-, sei es als korrespondierendes Gesellschaftssystem. Von einem allgemeinen Menschen- oder Grundrecht auf Gleichheit, das um des Individuums willen gewährleistet oder bewirkt wird, ist deshalb in diesem Zusammenhang noch keine Rede. Es würde ohnehin eine Gemeinschaft überfordern, deren Kompetenzen begrenzt sind. Der Vertrag gibt vielmehr ausgewählte hoheitliche Maßnahmen auf, die, formelhaft gesagt, Freiheit durch Gleichheit herstellen sollen. Dieser Ansatz durchzieht fast das ganze Vertragswerk. Wie diese dienende Gleichheit hergestellt werden soll, dazu bietet der Gemeinschaftsvertrag verschiedenartige Ermächtigungen. Im Vordergrund stehen Maßnahmen, die auf die Angleichung marktrelevanter Ausgangsbedingungen zielen: normative Rechtsangleichungen und Rechtsvereinheitlichungen zur Beseitigung störender Rechtsunterschiede, insbesondere von Wettbewerbsver55 Vgl. zur Reichsgründung nur Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 85 ff.

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zerrungen (Artikel 94 ff. EGV), Diskriminierungsverbote und Gebote der Inländergleichbehandlung (Artikel 39 ff. EGV), normative Gleichberechtigungen und Rechtsgleichstellungen, insbesondere durch die Gleichstellungseffekte der Grundfreiheiten und Grundrechte und, ganz prononciert, durch die Gleichstellung von Männern und Frauen (Artikel 2 EGV). Während derartige Ermächtigungen sich noch dem neoliberalen Konzept einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Artikel 4 Absatz 2 EGV) in einem Gemeinsamen Markt einfügen lassen, folgen andere dem im 19. Jahrhundert entstandenen Zweifel am individualistischen Gesellschafts- und Politikmodell. Sie wollen vielmehr die Lage verbessern, konkreter: Sozialunterschiede ausgleichen und die Durchsetzung einer interventionistischen Sozialpolitik ermöglichen. Dazu sieht der Gemeinschaftsvertrag ein Bukett von Maßnahmen vor, insbesondere zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme sowie zur Angleichung der Strukturen und des Leistungsniveaus der sozialen Sicherung, nicht zuletzt aber auch durch Bildungsprogramme. Sein XI. Titel skizziert dazu die Grundzüge der „Sozialpolitik, allgemeine und berufliche Bildung und Jugend“56, und seine Grundfreiheiten ermächtigen und verpflichten zu Leistungsmaßnahmen und Leistungsansprüchen. Zahlreiche Verordnungen und Richtlinien führen das Sozialprogramm aus und fangen die Unionsbürger samt Angehörigen in einem Netzwerk von Berechtigungen und Leistungen ein, das „soziales Netz“ zu nennen, nur die Marktpräferenz des Gemeinschaftsvertrages hindern könnte. Jedenfalls geht es der Union in diesem Politikbereich darum, ihre Bürgerschaft und Gesamtbevölkerung zu einer trotz prägender Unterschiede homogenen Sozialgemeinschaft zu verbinden. Unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit ist dabei bemerkenswert, dass die relevanten Strukturen und Positionen mehr hergestellt als anerkannt werden. Gleichheit oder, vorsichtiger gesagt, Angleichung zu einer Tocqueville’schen „ressemblance“ der nationalen Volkswirtschaften und Marktteilnehmer ist in der Gemeinschaft und in der Union vornehmlich eine Angelegenheit gestaltender Politik. Wenn das Demokratische einer Gesellschaft die 56 Vgl. dazu nur Astrid Epinay in: Beutler / Bieber / Pipkorn / Streil (Fn. 35), Kap. 22, S. 576 ff.

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grundständige Annäherung und Angleichung der Rechtsstellungen und des Lebensniveaus der Mitglieder voraussetzt, dann hängt die demokratische Gesellschaft in der Union vom Erfolg des Prinzips herzustellender Gleichheit ab.

V. Kommunikationsgesellschaft Unter dem Gesichtspunkt der Freiheit zeichnet eine demokratische Gesellschaft sich dagegen wesentlich durch die Offenheit ihrer Kommunikationsstrukturen aus, wie in den Staaten so in der Union. Der Europäische Gerichtshof hat deshalb wiederholt die Bedeutung der Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt als Kennzeichen der Demokratie in der Union hervorgehoben. Allerdings weist der Unionsvertrag die für eine Kommunikationsgesellschaft wesentlichen Kommunikationsgrundrechte nicht ausdrücklich aus. Sie sind erst durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes entwickelt worden, entwickelt, wie die mittlerweile formelhaft wiederholte Begründung lautet, aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und aus den so genannten Hinweisen, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben und an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, wobei der Europäischen Konvention für Menschenrechte eine besondere Bedeutung zuerkannt worden ist.57 Erkenntnisleitende Rechtswerte liefert mittlerweile noch die in Nizza nachgeschobene, unverbindlich gebliebene Grundrechte-Charta.58 Schon die Präambel der Charta weist über das Integrationsniveau des geltenden Unionsvertrages hinaus. In ihr verstehen die Völker Europas sich als „eine“ immer enger werdende Union, deren Kernelemente die Person und die Unionsbürgerschaft sein sollen, und sie verpflichten sich dazu, den Grundrechtsschutz „angesichts der Weiterentwicklung der Gesellschaft“ zu verstärken. Der Text sagt: „der“ Gesellschaft, die in dieser Perspektive nicht mehr in Völker aufgegliedert wird. 57 Vgl. beispielhaft EuGH, Rs. C-260 / 89 (Elliniki Radiophona Tileorassi AE), Urt. vom 18. 6. 1991, Slg. 1991, S. I-2925, 2951 RN 41. 58 Feierliche Proklamation des Europäischen Rates am 7. 12. 2000 in Nizza, ABl. Nr. C 364 / 01 vom 18. 12. 2000.

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Im Kommunikationsbereich decken die in der Union und Gemeinschaft anerkannten Grundrechte die einschlägigen Verhalten im Wesentlichen ab, und zwar durch die Allgemeine Handlungsfreiheit59 sowie die Religions-60, Informations-, Meinungs-61, Versammlungs-62, Vereinigungs-63 und Berufsfreiheit64, so dass nicht nur die sozial-ökonomischen, sondern auch die sozial-kulturellen Beziehungen der Grundrechtsträger geschützt sind. Grundrechtsträger sind nicht nur die Unionsbürger, sondern alle der Hoheitsgewalt der Union und deren Gemeinschaften unterliegenden Menschen, also die Angehörigen der bereits zitierten „Gesamtbevölkerung“ der Union. Schutz bedeutet dabei im Sinne der herrschenden liberalen Grundrechtsauffassung: Schutz individueller Verhalten gegen hoheitliche Reglementierungen und Einwirkungen. Dieser Auffassung, die der Europäische Gerichtshof der Union mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Vertragspartnern der Grundrechte-Charta65 teilt, liegt das neuzeitliche, seit der Entstehung des Staates politisierte Theorem von der Gleichwertigkeit der Individualität jedes Menschen zugrunde, verbrieft in Individualrechten, die garantieren, dass der Einzelne einerseits bei sich bleiben kann, die ihm andererseits aber den öffentlichen Raum diskursiven Lebens eröffnen und in dessen Sozialbezüge einbinden. EuGH, Rs. 133 / 85 (Rau), Slg. 1987, S. 2289. EuGH, Rs. 130 / 75 (Prais), Urt. vom 21. 10. 1976, Slg. 1976, S. 1589. 61 Im Sinne der EMRK: EuGH verb. Rs. 43 und 63 / 82 (VBVB und VBVB / Kommission), Urt. vom 17. 1. 1984, Slg. 1984, S. 19 f. RN 34; Rs. 60 und 61 / 84 / Cinétique), Urt. vom 11. 7. 1985, Slg. 1985, S. 2605; Rs. C-159 / 90 (Unborn Children / Ireland) / Grogan), Urt. vom 4. 10. 1991, S. I-4685, Leitsatz 3 und RN 31. Den Rundfunk anerkannte der EuGH im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit als Medium für kommerzielle Werbung: EuGH, Rs. C-288 / 89 (Gouda), Urt. vom 25. 7. 1991, Slg. 1991, S. I-4007, I-4035 RN 29. 62 EuGH, Rs. 112 / 00, Slg. 2003, S. I-5659 RN 79. 63 EuGH, Rs. C-415 / 93 (Bosman), Urt. vom 15. 12. 1995, Slg. 1995, S. I-4921. 64 EuGH, verb. Rs. 133 bis 136 / 85 (Rau), Urt. vom 21. 5. 1987, Slg. 1987, S. 2289 RN 15. 65 Dazu rechtsdogmatisch Hans D. Jarass, EU-Grundrechte, München 2005. 59 60

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Liberal verstandene Grundrechte zielen an und für sich weder auf ein soziales System noch auf ein Gemeinwohl. Sie riskieren im Gegenteil Konkurrenzen und schwer kalkulierbare Widersprüche zwischen privaten und öffentlichen Interessen. Sie riskieren eine Anarchie, der nur durch die Annahme einer prästabilisierten Sozialordnung oder deren Harmonie kraft einer „invisible hand“ oder durch die Regie wirkungsvoller Politiken von hoher Hand begegnet werden kann. So gesehen vermitteln sie der Union keine das fehlende Unionsvolk ersetzende, demokratisch-konstitutive Substanz. Pierre Manent kann deshalb behaupten: „la communication par elle-meˆme ne produit pas la communauté“.66 Genau betrachtet rechnet die liberale Grundrechtstheorie aber eigentlich nicht mit einer Anarchie in Gestalt eines selbstzerstörerischen Meinungskampfes. Sie unterstellt vielmehr, dass die Gesellschaft der Individuen sich gemeinhin toleriert und verträgt, dass sie das Gemeinwohl generiert und Gerechtigkeit hervorbringt. Der Bürgergesellschaft wird eine eigene Rationalität und Entwicklungsfähigkeit zugetraut. Sind das harte Erfahrungs- oder weiche Glaubenssätze oder Leitsätze für Politik? In der Union wird jene Unterstellung praktiziert, wenn die Grundrechte wie Grundfreiheiten weit und zugunsten des Einzelnen, die Beschränkungen aber eng ausgelegt werden.67 Aus liberal-demokratischer Sicht kann, ja muss man sich also prinzipiell darauf verlassen, dass die Gesellschaft ihre so genannte vorrechtliche Ausgewogenheit aus sich selbst findet und erhält. Aber eine Gesellschaft der Union steht erst im Warteraum der Möglichkeiten. Ihr fehlen treibende und haltende Wurzeln. Ihr fehlt, was das Bundesverfassungsgericht in der deutschen Gesellschaft vermutet: eine grundständige Homogenität.68 Ihr fehlt ein Grund, mit Montesquieu und Rousseau unionsweit dieselbe basale Sozialtugend als gleichstellende „condition“ anzunehmen.69 Wenn die Verträge von Gesellschaft spreManent, La Raison des Nations (Fn. 11), S. 43 mit S. 27 f. So für Grundfreiheiten EuGH, verb. Rs. C-482 / 01 und C-493 / 01 (Orfanopoulos und Oliveri), Urt. vom 29. 4. 2004, EuGRZ 2004, S. 422 RN 64 f. 68 BVerfGE 89, S. 155, 186. 69 Montesquieu, De l’Esprit des Lois (1748), III 3; Rousseau, Contrat (Fn. 10). 66 67

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chen, können sie wie einst die Rechteerklärung von 1789 nur eine „société nouvelle“70 meinen. Andererseits können die Ziele der Union und Gemeinschaft ihren einzelnen Mitgliedern nicht als Grundrechtsziele aufgegeben oder aufgenötigt werden. Allerdings haben die Unionsorgane es aufgrund ihrer Politikkompetenzen in der Hand, zu steuern und zu intervenieren und so der Kommunikation eine formal leitende Infrastruktur zu im „Raum der Freiheit“ verschaffen. Die relevanten Stichwörter lauten: Medien-, Rundfunk-, Telekommunikations-, Bildungs- und Sprachenpolitik. Interventionen finden insbesondere in den institutionalisierten Grundfreiheiten ihre Legitimation. Dabei können Grundrechte und Grundfreiheiten in Kollision geraten – ein weites Feld für Rechtsdogmatiker, das zu betreten, hier nicht unternommen werden kann. Nur so viel: Seitens der Generalanwaltschaft wurde dem Europäischen Gerichtshof die These offeriert, dass Grundfreiheiten gegen Grundrechte nicht „als solche“, sondern nur fallbezogen „im Rahmen des Beschränkungstatbestands der einschlägigen Grundrechte“ und mit der Maßgabe abzuwägen seien, die Freiheiten möglichst im Einklang mit den Grundrechten auszulegen.71 Rechtssystematisch bedeutet diese These, dass die Grundrechte nicht mehr wie bisher im Medium der die Grundfreiheiten limitierenden Schrankenklauseln – wie der der öffentlichen Ordnung – zur Geltung gebracht zu werden brauchen. Sie gelten vielmehr gleichrangig mit den Freiheiten und unmittelbar als deren vertragsimmanente Schranken. Von dieser Grundrechtsposition aus gibt aber letztlich das Grundrechtsregime die gesellschaftliche Entwicklung an, auch wenn man berücksichtigt, dass der, der abwägt, herrscht. Die Union hat jedenfalls dank ihrer Jugend und Offenheit die Legitimationschance, in 70 Begriff und Begründung bei Romuald Szramkiewicz / Jacques Bouineau, Histoire des Institutions, 2. Aufl., Paris 1992, S. 173 ff., 218 f. (Nr. 297 ff., 373 ff.). 71 Zu Rechtsprechungsübersichten vgl. Thomas Jürgensen / Irene Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Mitgliedstaaten, in: AöR 121 (1996), S. 200, 213 ff.; Alexander Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV, Berlin 2005; Schlussanträge des Generalanwalts Stix-Hackl vom 18. 3. 2004, in: EuGH, Rs. C-36 / 02 (Omega), Urt. vom 14. 10. 2004, EuGRZ 2004, S. 639.

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die Zukunft zu gestalten und die belastenden Phasen der europäischen Geschichte den verantwortlichen Nationalstaaten zu überlassen. Doch die Grundrechtsordnung der Union verlässt sich nicht nur auf die Schöpferkraft einer Gesellschaft von Individuen. Wenn der Europäische Gerichtshof – wie der für Menschenrechte – die Bedeutung der Meinungsvielfalt und der Toleranz72 für die Demokratie hervorhebt, könnte er dem Grundrechtstatbestand der Meinungsfreiheit eine Richtung oder eine immanente Schranke vorgeben wollen. Denn Toleranz heißt ein Verhalten der Rücksichtnahme des Meinungsführers selbst. Soweit ersichtlich, werden jene Gesellschaftsgüter oder -werte jedoch zur konstitutiven Grundrechtsbeschränkung im Rahmen positiver Gesetzesvorbehalte veranschlagt, ganz im Sinne der klassischen liberalen Grundrechtsdoktrin: Demnach „sind die Grundrechte, um die es im Ausgangsstreit geht, zwar ausdrücklich durch die EMRK anerkannt und stellen wesentliche Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft dar, doch können, wie sich aus dem Wortlaut des jeweiligen Absatzes 2 der Artikel 10 und 11 EMRK ergibt, auch die Meinungsäußerungs- und die Versammlungsfreiheit bestimmten, durch Ziele des Allgemeininteresses gerechtfertigten Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Ausnahmen gesetzlich vorgesehen, von einem oder mehreren nach diesen Bestimmungen berechtigten Zielen getragen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind, d. h. durch ein zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt sind und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten berechtigten Ziele stehen. . . . So können auch das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht, sich friedlich zu versammeln, . . . keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden.“73 Art. 52 Abs. 1 der Grundrechte-Charta hat diese Konstruktion übernommen. Letztlich kommt es auch hier wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf den Verhältnisausgleich an. 72 Vgl. dazu auch Council of Europe, Digest of Strasbourg Case Law, vol. 3 (Fn. 12), S. 225, 442, 558. 73 EuGH, Rs. C-112 / 00 (Schmidberger), Urt. vom 12. 6. 2003, EuGRZ 2003, S. 492, 498 RN 79 f.

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VI. Wirtschaftsgemeinschaft Intensiver als die Kommunikationsrechte bestimmen die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten den Status des Unionsbürgers und der auf ihm beruhenden Gesellschaft. Der Gemeinschaftsvertrag normiert die Grundfreiheiten in seinem Dritten Teil, der insbesondere die Freiheiten des Warenverkehrs, des Wettbewerbs, des Dienstleistungsverkehrs, der Niederlassung und die Freizügigkeit der Personen regelt. Diese Regelungen definieren allerdings „Die Politiken der Gemeinschaft“. Sie sind deshalb in erster Linie auf die Struktur der Gemeinschaft gerichtet. Die durch sie beeinflusste Gesellschaftsbildung ist also auf die Politiken der die Gemeinschaft und Union beherrschenden Institutionen, das heißt: auf die Mitgliedstaaten und Unionsorgane, und die jeweils dahinter stehenden politischen Kräfte angewiesen. Adressaten der Grundfreiheiten sind in erster Linie die Mitgliedstaaten. Sie werden zur Herstellung und Aufrechterhaltung der erstrebten Marktfreiheit verpflichtet, und zwar durch Unterlassungs-, Handlungs- und Schutzpflichten, deren Erfüllung die Binnenöffnung des Gemeinsamen Marktes ergeben und erhalten soll. Aber das eigentliche Sachziel dieser abgestimmten Veranstaltungen ist das gemeinsame, kollektive Wirtschaftswohl, das im Mittelpunkt der in Art. 11 EUV genannten gemeinsamen „Interessen der Union“ steht. Die Präambel des Gemeinschaftsvertrages stellt noch die diversen „Volkswirtschaften“ in den Vordergrund der politischen Absichten: Die Gründer wollten „die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker“ und strebten dafür die Einigung und harmonische Förderung ihrer „Volkswirtschaften“ an.74 Der reformierte Art. 2 EGV verzichtet auf derartige nationale Bezüge. Er nimmt vielmehr die „ganze Gemeinschaft“ in den Blick: „in der ganzen Gemeinschaft“ soll das binnengrenzenlose „Wirtschaftsleben“ harmonisch, ausgewogen und nachhaltig entwickelt werden. Von dieser Entwicklung profitieren – so die Erwartung – die Volkswirtschaften tatsächlich und mit ihnen, also mittelbar, die einzelnen Marktteilnehmer. Aber die rechtliche Politikkompetenz liegt bei den Mitgliedstaaten, aus deren Sicht das zitierte „Wirtschaftsleben“, 74

Der Begriff korrespondiert dem der „Völker“.

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anders gesagt: die unionsweite Wirtschaftsgesellschaft, ein Ziel und Ereignis, aber kein Handlungselement ist. Aus dieser Perspektive nimmt der Gemeinschaftsvertrag unionsweite Gesellschaftsbeziehungen in den Blick: der Sache nach die Markt-, Arbeits- und Verbraucherbeziehungen, ausdrücklich die „landwirtschaftliche Bevölkerung“ (Art. 33 EGV) sowie den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt . . . der Gemeinschaft als Ganzes“. Diesem „Zusammenhalt“ dient das „Ziel, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete oder Inseln, einschließlich der ländlichen Gebiete, zu verringern“ (Art. 158 EGV). In der Sprache Tocquevilles heißt das: Egalisierung der „conditions“. Als Politikbereichen kommt den gemeinschaftsrechtlichen Freiheiten an und für sich keine Drittwirkung derart zu, dass die Freiheitsrechte der Marktteilnehmer unmittelbar aufeinander wirken und miteinander in ein kommunikatives und kompetitives Verhältnis gesetzt werden dürften. Die deutschen Spediteure konnten deshalb die italienische Bürgerinitiative nicht direkt wegen der Blockierung der Brenner-Autobahn zur Verantwortung ziehen75, und britische Landwirte konnten ihre Marktfreiheiten deshalb nicht direkt den Einfuhrboykotts französischer Obstbauern entgegensetzen, sondern mussten die Schutzpflicht des französischen Staates in Anspruch nehmen, der seine eigenen Angehörigen zur Gemeinschaftsräson zu bringen hatte. Wenn deutsche, italienische, französische und britische Marktteilnehmer auf diese Weise in einen engeren Lebenszusammenhang geraten, ist das vordergründig zwar die Folge eines die Mitgliedstaaten betreffenden Verbots der Eingrenzung nationaler Märkte, eigentlich aber eine Folge des von hoher Hand aufgrund der Grundfreiheiten frei gegebenen freien und unverfälschten Wettbewerbs. Die relevanten Grundfreiheiten sorgen also für eine Wettbewerbsgesellschaft, die von ihrem ökonomischen Kern aus in soziale und kulturelle Gesellschaftsbeziehungen ausstrahlt.

75 EuGH, Rs. C-112 / 00 (Schmidberger), Urt. vom 12. 6. 2003, EuGRZ 2003, S. 492.

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VII. Die Gesellschaft des Arbeitsmarktes In der auf Wettbewerb eingestellten Wirtschaftsgesellschaft kommt den Gewährleistungen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Niederlassungsfreiheit Selbständiger eine zentrale Bedeutung zu. Denn der einschlägige Art. 39 EGV gewährleistet nicht nur eine institutionalisierte Politik. Er gibt den politischen Kräften nicht nur einen objektiven Rechtswert vor. Vielmehr begründet er zudem, und zwar in Verbindung mit Art. 18 EGV, Individualrechte der Unionsbürger und stellt deren Tätigkeiten in den Zusammenhang der „Grundinteresse(n) der Gesellschaft“.76 Dieser Zusammenhang korrespondiert der vom Europäischen Gerichtshof wiederholt betonten „gesellschaftlichen Funktion“ der Grundrechte.77 Art. 18 EGV konstituiert dabei die Unionsbürgerschaft als den „grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten“.78 Auch den Erbringern und Abnehmern von Dienstleistungen im Sinn von 59 EGV werden inzwischen eigene Rechte aufgrund ihrer Unionsbürgerschaft zuerkannt.79 Das Schicksal der Wanderarbeiter vertraut Art. 39 EGV nicht nur Adam Smith oder irgendeiner unsichtbaren Hand an, sondern schreibt Sozialstandards und Verfahren vor, um die Mitgliedstaaten zu veranlassen, die Individualentscheidungen der Arbeitnehmer nicht nur zu akzeptieren und in ein transnationales System zu integrieren, sondern um einen so genannten natürlichen Prozess („natural process“) zu unterstützen.80 Die Formulierung „na76 Zur Grundrechtsähnlichkeit des Art. 39 I EGV und zum Gesellschaftsbezug, den der Gerichtshof über die Schrankenklausel des Art. 39 III EGV „Störung der öffentlichen Ordnung“ herstellt: EuGH, verb Rs. C-482 / 01 und C-493 / 01 (Orfanopoulos und Oliveri), Urt. vom 29. 4. 2004, EuGRZ 2004, S. 422; ferner EuGH, Rs. 30 / 77 (Bouchereau), Urt. vom 27. 10. 1977, Slg. 1977, S. 1999. 77 EuGH, Rs. C-491 / 01 (British American Tobacco Inverstments), Urt. vom 10. 12. 2002, Slg. 2003, S. I-11453 Nr. 149; Rs. C-112 / 00 (Schmidberger), Urt. vom 12. 6. 2003 Nr. 80, EuGRZ 2003, S. 42. 78 Seit EuGH, Rs. C-143 / 99 (Baumbast), Urt. vom 17. 9. 2002, Slg. 2002, S. I-7091 Nr. 82 = EuGRZ 2002, S. 596; ebenso EuGH, Rs. 148 / 02 (Avello), Urt. vom 2. 10. 2003, EuGRZ 2004, S. 156. 79 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven vom 11. 6. 1991, in: EuGH, Rs. C-159 / 90 (Unborn Children), Urt. vom 4. 10. 1991, Slg. 1991, S. I-4733 Nr. 17 f.

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tural process“ lässt natürlich tief blicken, tief hinein in Naturrechts- und Gesellschaftstheorien, aber vor allem auf die wechselseitigen Abhängigkeiten von Politik und Zivilgesellschaft, die sich in einer Demokratie ergeben. Den Blick auf eine die Mehrzahl der Unionsbürger betreffende Arbeiter- und Angestelltengesellschaft vermittelt der weite Begriff des Arbeitnehmers („worker“). Der Europäische Gerichtshof hat dessen Interpretation – im Unterschied zu der der Staatsangehörigkeit – aus strategischen Gründen an sich gezogen, um ihn nationalen Engführungen zu entziehen und auf das gemeinschaftliche Konzept auszurichten.81 Er urteilt im Wesentlichen nach den Gesichtspunkten: Dienst für eine andere Person, Abhängigkeit und Weisungsgebundenheit, Entgeltlichkeit der Tätigkeit. Das Merkmal der Unterordnung markiert den Unterschied zwischen Abhängigkeit und Selbständigkeit, ändert aber nichts am Wettbewerb. Der Gerichtshof hat den Arbeitsmarkt in jeder Hinsicht weit geöffnet, so dass zwischen den Berufssportlern82 und Berufsdamen83 weite Tätigkeitsfelder liegen. Ohne Ironie kann man daraus inzwischen folgern, dass der Gerichtshof die Arbei80 Vgl. Commission of the European Community, Communications from the Commission: Free movement of workers – achieving the full benefits and potentials, vom 11. 12. 2002, COM (2002), S. 694 (am Ende). 81 EuGH, Rs. 75 / 63 (Hoekstra, geb. Unger / Bestuur der Bedrijfsvereniging vorr Detailhandel en Ambachten), Urt. vom 19. 3. 1964, Slg. 1964, S. 379: „Wäre die Bestimmung dieses Begriffes dem innerstaatlichen Recht überlassen worden, so wäre jeder Staat in der Lage, den Inhalt des Begriffes ,Wanderarbeitnehmer‘ Veränderungen zu unterwerfen und bestimmten Personengruppen nach Belieben den Schutz des Vertrages zu entziehen. . . . Nach alledem wären . . . die vorerwähnten Ziele des Vertrages ernsthaft gefährdet, wenn es dem nationalen Recht freistünde, den Inhalt des fraglichen Ausdrucks einseitig festzulegen und zu verändern. Daher ist festzustellen, dass der Begriff ,Arbeitnehmer‘ in den genannten Artikeln sich nicht nach innerstaatlichem, sondern nach Gemeinschaftsrecht bestimmt„ 82 EuGH, Rs. . . . (Walrave und Koch / Union Cycliste International), Urt. vom 12. 12. 1974, Slg. 1974, S. 1404; Rs. C-41 / 93 (Union Royale de Belge des Sociétés de Football Association u. a. / Bosman), Urt. vom 15. 12. 1995, Slg. 1995, S. I-4921, 5040 Nr. 73 ff. 83 EuGH, Rs. C-268 / 99 (Aldona Malgorzata Jany u. A / Staatssecretaris van Justtii), Urt. vom 20. 11. 2001, Slg. 2001, S. 2001 I-8615, 8657 ff. Weniger großzügig BVerwGE 60, S. 284: hier wurde Prostituierten die Anerkennung als Arbeiterinnen versagt.

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terklasse von einer nur ökonomischen in eine sozio-kulturelle Sphäre gehoben hat. Auch Studenten finden sich in dieser Klasse gut aufgehoben, wenn nicht auf Grund Art. 39 EGV, dann zumindest auf Grund des allgemeinen Diskriminierungsverbots gemäß Art. 12 EGV und des darauf gestützten Sekundärrechts.84 Art. 39 EGV nimmt sie jedenfalls nach ihrem Studienabschluss als Arbeit Suchende in Schutz. Nach liberalem Grundrechtsverständnis richtet das in Art. 39 EG eingeschlossene grundrechtsgleiche Individualgrundrecht sich gegen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft. Doch der Europäische Gerichtshof hat erkannt, dass es auch Privaten verboten ist, Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten zu diskriminieren. In dieser Hinsicht wirkt Art. 39 EGV horizontal innerhalb der Gesellschaft, also mit Drittwirkung.85 Anders gesagt: Er schützt den einzelnen Arbeitnehmer nicht nur vor staatlicher, sondern auch vor gesellschaftlicher Macht jener intermediären Gewalten, denen zuerst die Rechteerklärung von 1789 ihre Proklamation von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entgegengesetzt hatte. Heute nehmen Verbände und Unternehmen die Positionen jener Sozialmächte ein. Art. 39 EGV organisiert also unionsweite, transnationale Wettbewerbsbeziehungen. Er verbindet dabei die Grundsätze und Leitwerte von Freiheit, Gleichheit, soziale Sicherheit und Familieneinheit. Die Freiheit umfasst zunächst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Sodann gibt sie den Arbeitnehmern das Recht, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen und auszuüben und sich dazu in jedem Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, auch nach Beendigung einer Arbeit.86 In den anderen Mitgliedstaaten nimmt er seine bisher erworbenen Beschäfti84 Richtlinie 93 / 96 / EWG des Rates über das Aufenthaltsrecht der Studenten vom 29. 10. 1993, ABl.1993, Nr. L 317, S. 59, aufgehoben und ersetzt durch die Richtlinie 2004 / 38 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004, ABl. 2004, S. L 158 / 77. 85 Vgl. die Urteile in Sachen Walrave und Bosman (Fn. 82). 86 Art. 39 III EGV i.V. m. der Richtlinie 2004 / 38 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004, Abl. 2004, L 158, S. 77.

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gungszeiten, also einen Teil seines Rechtsstatus, unter Umständen mit.87 Das allgemeine Bewegungs- und Aufenthaltsrecht des Art. 18 EGV kommt Unionsbürgern unabhängig von ökonomischen Zwecken zugute. Überdies sehen die Art. 40 und 42 EGV gewisse, das Diskriminierungsverbot ergänzende Regelharmonisierungen vor. Die Garantie der Freizügigkeit ergibt also in erster Linie eine auf Perfektion angelegte Inländergleichbehandlung der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft und zudem eine gewisse unionseinheitliche Statusangleichung. Sie bleibt aber nicht bei dem einzelnen Arbeitnehmer stehen, sondern bezieht dessen Angehörige und Familie in die positive Ordnung der Marktgesellschaft ein. Die Einzelheiten dieser individuellen und korporativen Freizügigkeit waren zunächst in der wegweisenden Richtlinie des Rates 1612 / 68 / EWG88 geregelt worden und haben jetzt eine fast perfekte Kodifikation in der Richtlinie 2004 / 38 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 „über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“ gefunden.89 Diese Richtlinie regelt das Recht von Familienmitgliedern eines Arbeitnehmers, mit diesem in einem anderen Mitgliedstaat zusammen zu leben, selbst wenn sie einem Drittstaat angehören. Auch solche Familienangehörigen dürfen in der Gemeinschaft Arbeit suchen. Ihre Kinder haben das Recht auf Bildung und Erziehung. Dieses Recht behalten sie zusammen mit ihrer Mutter über den Tod des Arbeitnehmers hinaus, wie schon der Europäische Gerichtshof erkannt hatte.90 In diesen Regeln kommt die Rousseausche These von der Familie als Grundlage der Gesellschaft zum Durchbruch. 87 EuGH, Rs. C-195 / 98 (Österreichischer Gewerkschaftsbund), Urt. vom 30. 11. 2000, EuGRZ 2001, S. 36. 88 Vgl. Art. 10 ff. der Verordnung (EWG) Nr. 1612 / 68 des Rates vom 15. 10. 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. 1968, L 257 / 2; dazu Richtlinie des Rates 68 / 360 / EWG vom 15. 10. 1968, zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft, ABl. 1968, L 257 / 13. 89 ABl. 2004, L 158 / 77. 90 EuGH, Rs. C-413 / 99 (Baumbast), Urt. vom 17. 9. 2002, Slg. 2002, S. I-7091.

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Man kann aufgrund dieses Regelzusammenhangs folgende Hochrechnung wagen: Seitdem der Maastricht-Vertrag die Freizügigkeitsgarantie mit der Unionsbürgerschaft verbunden hat, haben die Begriffe „Arbeit“ und „Arbeitnehmer“ einen die Rechtsordnung übergreifenden, gesellschaftsordnenden Mehrwert gewonnen. Die Freizügigkeitsgarantie erfasst die Arbeit des Arbeitnehmers nicht nur als dessen isoliertes Individualinteresse, sondern als Wirkkraft des Gemeinwohls; nicht nur als persönliches Überlebensinstrument, sondern als sozialen Lebensmittelpunkt; nicht nur als abwehrkräftige Freiheitsposition, sondern als Kern eines status socialis; nicht nur als isolierten Rechtsstatus, sondern als Zentrum eines Rechtskreises; nicht nur als Tatbestand einer Spezialfreiheit, deren Grenzen es einzuhalten und zu schärfen gilt, sondern als Basis eines sozio-kulturell entwicklungsoffenen Rechtsbereichs. Der Gerichtshof und, in dessen Gefolge, die Kommission scheinen jedenfalls in diese Richtung zu denken. Deshalb hat das Freizügigkeitsrecht sich zu einem auf dem Arbeitsplatz beruhenden Recht auf Sozialleben und soziale Sicherheit entwickelt, und der Arbeitnehmer wird statt nur als Produktionsfaktor als ein Sozialwesen anerkannt, das Teil einer Familie, einer örtlichen und politischen Gemeinschaft (Art. 28 GG) und der Union (Art. 18 EGV) ist und diese Gemeinschaften initiativ und aktiv verbindet. Während Art. 39 EGV an wirtschaftliche Verkehrs- und Marktvorgänge anknüpft, eröffnet das seit Maastricht in Art. 18 EGV verbriefte allgemeine subjektiv-öffentliche (Grund-)Recht91 der Unionsbürger auf Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit innerhalb der Union einen weiteren, funktional unbeschränkten Raum der 91 EuGH, Rs. C-20 / 02 (Chen u. a. / Secretary of State for the Home Department), Urt. vom 19. 10. 2004, Nr. 26, in: EuR 2005, S. 658, 663. – Die Rechtsqualität – Grundrecht oder Grundfreiheit – ist im Schrifttum umstritten: vgl. dazu zuletzt Sibylle Seyr / Hans-Christian Rümke, Das grenzüberschreitende Element in der Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft, in: EuR 2005, S. 666, 672 ff.; eigenartig Marcel Haag, in: Hans von der Groeben / Jürgen Schwarze, Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bd. I, 6. Aufl., Baden-Baden 2003, Art. 18 RN 6 (S. 775): „vertraglich garantierte politische Grundfreiheit“ = unmittelbar anwendbares subjektiv-öffentliches Recht.

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Freiheit, in dem, pointiert gesagt, die Marktbeziehungen zum Unterfall allgemeiner Sozialkontakte degradiert werden. Art. 18 EGV öffnet, verstärkt durch das Petitionsrecht, die Markt- zur Zivilgesellschaft als eine sich selbst befriedigende und stabilisierende Gesellschaft. Der Tatbestand des Art. 18 EGV lädt zu einer solchen gesellschaftspolitischen Auslegung und Ausdehnung ein, die die Kompetenzgrenzen der Union und der Gemeinschaft unterlaufen. Das Laufpensum richtet sich allerdings nicht nach Hegels „List der Vernunft“, sondern nach der Attraktivität der Gemeinden und Regionen, aus denen oder in die es Unionsbürger zieht. Tatsächlich macht die Migrationsrate der Unionsbürger bescheidene 2% der Durchschnittsbevölkerung aus. Die Migrationsentwicklung lässt sogar annehmen, dass die erstrebte Angleichung der Lebensverhältnisse in den Mitgliedstaaten ebenso wie die Verlagerung von Arbeitsplätzen eine Binnenwanderung als Massenvorgang überflüssig macht, trotz aller französischen oder deutschen Ängste vor dem polnischen Klempner bzw. Maurer. Doch die Vorstellung einer Unionsgesellschaft ist eigentlich nicht als Migrationsanreiz, sondern als politischer Orientierungsrahmen interessant.

VIII. Aussichten Welche Aussichten eröffnet diese Vorstellung für die Union der Völker und Staaten, wenn der Arbeitnehmer und Unionsbürger sich auf den Weg in den entgrenzten Raum der demokratischen Freiheiten begibt? Sofern Gesellschaft ein Interessen-, Kommunikations- und Lebenszusammenhang von Menschen ist, dann führt dieser Weg aus der Mitte eines Mitgliedstaates und Mitgliedsvolkes über die Unionsbürgerschaft zur sub- und supranationalen Verdichtung grenzüberschreitender Sozialbeziehungen bis zu kohärenten Bereichen einer Zivilgesellschaft. Der Prozess – der Begriff „Prozess“ markiert ein Charakteristikum der Union – beginnt im Nationalstaat. Dieser Staat definiert seine Staatsangehörigkeit als das Entrebillet des Individuums in die Union – „entrebillet“ zur Erinnerung an den 1856 gestorbenen Heinrich Heine und weil die Staatsangehörigkeit die Unionsbürgerschaft vermittelt. Diese Bür-

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gerschaft ist nicht lediglich eine Zusatzqualität der Staatsangehörigkeit92, aber doch deren Derivat, das in Abhängigkeit von ihr eine supranationale Zuordnung begründet, die ihrerseits transnationale und supranationale Rechte zur Folge hat: transnational durch Grundfreiheiten und Indigenate, supranational durch Grundrechte und andere Direktstellungen zur Union. Weil die Unionsbürgerschaft für und gegen andere Unionsmitglieder wirkt, hat die Angehörigkeitspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten Rücksichten auf die Interessen der Gemeinschaft und der anderen Unionsmitglieder zu nehmen und deshalb auch ihre demographischen und demokratischen Folgen zu bedenken.93 Das Angehörigkeitsverhältnis des Unionsbürgers zur Union ist an sich ein Institut staats-, unions- und völkerrechtlicher Ordnung. Es hängt weder von einem Erfahrungsschatz noch von einem Bewusstsein im Sinne Renans94 noch einem Gemeinsinn im Sinne Webers95 ab. Aber es könnte durch mentale Einstimmungen und Einstellungen politisiert und durch sozial-ökonomische Interessen intensiviert werden. Für den Überbau sorgen die von der Union anerkannten Kommunikationsrechte. Sie ermöglichen eine auf gemeinsame Interessen ausgerichtete Kommunikations- und Wissensgesellschaft. Den Eintritt in transnationale Wirtschafts-, Sozial- und Kulturbeziehungen der Unionsbürger eröffnet vor allem die Freizügigkeit. 92 So der polnische Verfassungsgerichtshof, Urt. vom 27. 4. 2005 – P 1 / 05 – , in: EuR 2005, S. 494,500; derart könnte auch Haag, in: von der Groeben / Schwarze, Kommentar (Fn. 87), Art. 17 EG RN 5 (S. 769), (miss)verstanden werden; klarer zugunsten unmittelbarer Rechtsbeziehungen des Unionsbürgers zur Union Stephan Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht, in: DER STAAT 32 (1993), S. 245, 254 ff.; Christoph Schönberger, Unionsbürger, Tübingen 2005, S. 272 ff., anerkennt ein begrenztes „föderales Angehörigkeitsverhältnis“ zur Union. 93 EuGH, Rs. C-200 / 02 (Chen u. a. / Secretary of Stae for the Home Department), Urt. vom 19. 10. 2004, Nr. 37, in: EuR 2005 S. 658, 665: „unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts“. 94 Ernest Renan, Qu’est-ce-qu’une nation? Conference faite en Sorbonne: Œuvres complètes de Erneste Renan, Bd. I, hrsg. von Henriette Psichiari, Paris 1982. 95 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (1922), Ausgabe Frankfurt a.M. 2005, 1. Halbbd. Teil I § 9 (S. 29).

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Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht übertrifft diese Wirkungen durch ein reflexives Konzept der Integration mittels Naturalisation: Es gibt, vereinfacht gesagt, dem Unionsbürger sowie dessen Ehefrau und minderjährigen Kindern nach acht Jahren gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland das Recht auf Einbürgerung, falls er seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgibt.96 Das Konzept sollte dem wandernden Arbeitnehmer die Konzentration seiner verschiedenen Status und Rollen ermöglichen. Es wirkt allerdings zweideutig. Im Kontext der geltenden Nationalitätssysteme der Mitgliedstaaten wirkt es retrospektiv als Konservierung des autonomen Nationalstaates, da die Staatsangehörigkeit zu dem einen Mitgliedstaat nur durch die zu einem anderen ausgetauscht statt in der Unionsbürgerschaft aufgehoben wird. Im Kontext des Zieles, die Unionsbürgerschaft zu entwickeln, könnte es den europäischen Einstieg in das staatsangehörigkeitsrechtliche Wohnsitzprinzip indizieren, demnach die Begründung eines Lebensmittelpunktes den „genuine link“ zum Staatskörper legitimiert. Die Union soll dagegen nach Art. 2 EUV eine binnengrenzenlose Entwicklung nehmen. Zwar verharrt sie derzeit im Zustand einer „organisation“, ohne schon eine „entité politique“ geworden zu sein – die Begriffe zitieren den Vater der Unionsverfasung Giscard d’Estaing.97 Doch ihre „Marktgemeinschaft“ – der Begriff findet sich schon bei Max Weber98 – richtet sich bereits nach Vorgaben, die eine gesamtgesellschaftliche Demokratie prägen und dabei, im Bereich der Gesellschaft, keine Rücksicht auf die Kompetenzgrenzen der Union nehmen. In der Europäischen Gemeinschaft können nämlich die Teilnehmer an den Arbeits-, Dienstleistungs-, Produzenten- und Verbrauchermärkten unter den Bedingungen korrespondierender Freiheiten mit ihren vielfältigen, nicht nur ökonomischen Interessen zusammentreffen – im Gegeneinander der Wettbewerbsgesellschaft und im Miteinander 96 Vgl. § 10 StAG vom 22 7. 1913 i. d. F. Vom 30. 7. 2004 (BGBl. I S. 721). 97 Valéry Giscard d’Estaing, La Constitution pour l’Europe, Paris 2003, Introduction, S. 26. 98 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 95), Halbbd. Teil I 2. Kap. 6 (S. 489).

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der Wohn-, Sozial-, Kulturgemeinschaft. Diese Kollektivbeziehungen sind im Unterschied zu der Politikgesellschaft auch offen für Fremde. Denn die in der Union anerkannten Menschenrechte dehnen die Zivilgesellschaft auf alle Unionseinwohner aus; das Prinzip der Familieneinheit bezieht auch Unionsausländer in die Geltungsbereiche von Grundfreiheiten ein. Rechte und Freiheiten formieren mithin die so genannte „Gesamtbevölkerung“ der Union zu einem sozialen Gefüge. Zur Entwicklung gelangt eine auf Individualfreiheiten aufgebaute Gesellschaft allerdings allein durch private Initiativen, die längerfristig kollektive Beziehungsnetze ergeben. Andererseits sollen die Grundfreiheiten von hoher Hand zur Gesellschaftsbildung anregen. So soll die Arbeitsgesellschaft hauptsächlich aus dem Abbau von Diskriminierungen und aus der Herstellung eines „Systems“ von Gleichstellungen und Freiheitsgewährleistungen hervorgehen. Der Schlüsselbegriff „Herstellung“ grenzt die positive Freiheit von natürlichen Ursprüngen ebenso ab wie die konstruierte Gesellschaft. Frei kann diese Gesellschaft also nur im zivilisatorischen Sinne genannt werden. Ungeachtet dessen werden die sich ergebenden Sozialbeziehungen vermutlich nur in Lebenssegmenten und schichtenspezifisch gegliedert erwartet werden können. Dennoch sind die Aussichten erfahrungsgemäß nicht schlecht, wenn soziale und politische Interessen oder Abhängigkeiten zur grenzüberschreitenden Sozialisierung drängen und Vorteile aus ihr winken. Man kann heute vermuten, dass Wanderbewegungen vor allem aus den Unterschichten der strukturärmeren Regionen in unterwertige Arbeitsplätze der wirtschaftsstärkeren Regionen stattfinden und dort Integrationsprobleme hervorrufen werden, während die integrationsfähigen Angehörigen der Mittelschichten sich an den Wanderungen spärlicher beteiligen, aber grenzüberschreitende Beziehungen ideologisch tragen werden. So beziehungsreich und rollendifferenziert handelnd, kann der Europäer zum Element eines neuen sozial-kulturellen Subsystems der Union werden, das nationale Bindungen lockert. Je intensiver dieses System, dieses Beziehungsgeflecht, sich entfaltet und verdichtet, umso mehr wird es die ohnehin gelockerten nationalen Rückbindungen überlagern. Allerdings bleibt ein erhebliches Aber: die Sprachenvielfalt. Wer die Nation an der Spra-

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che ausrichtet, wird Tocquevilles Amerikabild Europa nicht andienen können; er wird der Nationalgesellschaft die Zukunft reservieren. Aber welcher Mitgliedstaat kann sich heute noch auf seine Spracheinheit verlassen? Bei aller Fragwürdigkeit von Gesellschaftsprognosen lässt sich jedoch dies vermuten: Die Gesellschaft der Union wird die der Mitgliedstaaten zwar nicht ersetzen, aber ergänzen – wenn der prognostizierte „natural process“ sich ereignet und die europäischen Rechtsangleichungen jenes „sentiment du semblable“ hervorrufen, das Tocqueville einst beobachtet hatte. Und nicht nur Tocqueville. Kurz nach dem Erscheinen der „Démocratie en Amérique“ schrieb Heinrich Heine, und zwar „zu Paris im Karneval 1837“99: „Die Gesellschaft ist eine Republik. Wenn der Einzelne emporstrebt, drängt ihn die Gesamtheit zurück, . . . Ja, die Gesellschaft ist ihrem Wesen nach republikanisch. . . . Gelangten wir doch selber zu dieser Einsicht bald nach der Julirevolution, als der Geist des Republikanismus in allen gesellschaftlichen Verhältnissen sich kundgab.“ Das Mitglied dieser Gesellschaft nannte Heine „Demokrat“.100

99 Heinrich Heine, Einleitung zu „Don Quixote“, in: ders., Lyrik und Prosa, ausgewählt und herausgegeben von Martin Greiner, 2. Bd., Frankfurt a. M. / Wien / Zürich 1962, S. 635. Der erste Band von Tocquevilles „Démocratie“ kam im Jahre 1835 heraus; die ersten deutschen Übersetzungen erschienen ein Jahr später; Heine konnte beides gekannt haben; die Formulierung „wir doch selber“ könnte darauf hindeuten. 100 Erweiterte Fassung des aus Anlass der Emeritierung von Professor Dr. Rainer Wahl am 6. Juli 2006 in Freiburg gehaltenen Vortrags: Stand 31. August 2006.

Methodische Probleme der juristischen Menschenwürdeinterpretation Von Hasso Hofmann, Berlin Die Vorstellung einer den Menschen auszeichnenden Würde ist zentraler Bestandteil mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen1. Philosophische Anthropologie, Ethik, christliche Theologie und die europäisch geprägte Jurisprudenz stimmen darin überein, dass dem Menschen als Menschen und d. h.: jedem Menschen ganz unabhängig von individuellen Eigenschaften, Fähigkeiten, Herkunft und sozialer Stellung als Person ein besonderer Wert wie ein daraus folgender Achtungsanspruch zukommt. Jeder öffentliche Disput über Gehalt und Konsequenzen dieses Grundsatzes findet daher mehrere Resonanzräume. Gelegentlich hat das merkbare akustische Wirkungen. Eine andere Folge dieser inneren Mehrstimmigkeit des Ausdrucks ist das hermeneutische Problem, Bedeutungen aus den verschiedenen Disziplinen nicht unkontrolliert ineinander fließen zu lassen. Methodischen Fragen, die sich hier stellen, gelten die nachfolgenden Überlegungen. Sie sind mit Rainer Wahl einem ungemein anregenden Gesprächspartner gewidmet, dem ich viel verdanke. Bloß akademisch-abstrakte methodologische Überlegungen würden ihm und seinem Sinn für die politischen Implikationen juristischer Probleme jedoch schwerlich gerecht. Da muss schon ein substanzieller Konflikt inmitten liegen. 1 Der nachfolgende, Rainer Wahl zum 65. Geburtstag gewidmete Text geht auf einen Vortrag zurück, den der Verf. auf Einladung der Professoren Dres. Oliver Lepsius und Matthias Jestaedt in deren Veranstaltungsreihe „Theorie und Praxis des innerjuristischen Diskurses“ am 17. 11. 2005 in der Universität Bayreuth gehalten hat. Teile davon waren dann Grundlage eines Referats in der Universität Passau am 2. Februar 2006, zu dem Prof. Dr. Ulrike Müßig (geb. Seif) eingeladen hatte. Die Neufassung für den Vortrag in Freiburg am 7. Juli 2006 ist zum Druck etwas erweitert und mit den wichtigsten Nachweisen versehen worden.

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Und wie man unschwer sieht, ist das hier der Fall. Denn angesichts der gegenwärtigen bioethischen Auseinandersetzungen steht im Hintergrund der einschlägigen Reflexionen allemal die moderne Gretchen-Frage: Wie hältst Du es mit der Menschenwürde bei Embryonen?

I. „Die Würde des Menschen“ – worin besteht sie, die Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG für „unantastbar“ erklärt? Der lexikalische Befund spiegelt lediglich die an Art. 1 GG sich entzündende und allmählich intensivierende verfassungsrechtliche Diskussion. Noch 1955 haben weder der „Große Brockhaus“ noch der „Große Herder“ das Stichwort „Menschenwürde“ (von älteren Werken und Auflagen zu schweigen). In der 18. Aufl. von 1979 zitiert der „Große Brockhaus“ Art. 1 GG und verweist zugleich auf die größere praktische Bedeutung der spezielleren Grundrechte. Die 20. Auflage von 1996 dagegen enthält eine verhältnismäßig ausführliche verfassungsrechtliche Darlegung der eigenständigen Bedeutung des Art. 1 GG. Ein spezifisch juristisch-verfassungsrechtlicher Wortsinn lässt sich den bis 1949 spärlichen rechtlichen Verwendungen nicht entnehmen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, unter deren Eindruck der Parlamentarische Rat am Text des Grundgesetzes arbeitete, nennt in Art. 1 alle Menschen „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ und spricht in Art. 22 über die sozialen Voraussetzungen eines Lebens in Würde und Freiheit. Mit diesem Kontext von Freiheit, Gleichheit und sozialer Wohlfahrt mögen Anhaltspunkte für eine systematische Interpretation gegeben sein, ist aber über die Menschenwürde als solche nichts gesagt. Dasselbe gilt für die Verheißung von Würde und Freiheit in der Präambel der irischen Verfassung von 1937 wie für die aus der Arbeiterbewegung stammende Kombination von sozioökonomischer Gerechtigkeit und eines „menschenwürdigen Daseins für alle“ in Art. 151 Abs. 1 Satz 1 WRV. Auffällig oft sprechen in Spanien die Verfassungsdokumente des Franco-Regimes von der Würde des Menschen2. Das zugrunde liegende Programm der Falange von 1934

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beschwört das „katholische Bewusstsein“ Spaniens (Nr. 25) und nennt „Würde, Unverletzlichkeit und Freiheit des Menschen . . . ewig und unantastbare Werte“ (Nr. 7), schärft freilich zugleich ein, dass Freiheit strenger vaterländischer Disziplin unterliegen muss (Nr. 7). Auch wird die „Würde des Staates“ betont (Nr. 25). Als nicht näher erläuterte Leitbegriffe erscheinen „Freiheit und Würde“ nach 1945 in der Präambel der Rheinland-Pfälzischen Verfassung (1947), während die Hessische Verfassung (1946) „Ehre und Würde“ zusammenspannt. Stärkeres Relief gewinnt der Terminus in der Bayerischen Verfassung von 1946 und der Bremer Verfassung von 1947. Dort korrespondiert die Garantie der Achtung der „Würde der menschlichen Persönlichkeit“ in Art. 100 bzw. Art. 5 mit der Erinnerung an die Missachtung der Menschenwürde durch das NS-Regime in den Präambeln – Bremen hat dort zusätzlich die Weimarer Formulierung aufgenommen, indem es „allen Arbeitswilligen ein menschenwürdiges Dasein“ verhieß.

II. 1. Der geringe Ertrag dieser Erhebung des verfassungsrechtlichen Sprachgebrauchs legt den Versuch einer systematischen Auslegung nahe. Art. 1 Abs. 1 steht im Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Folglich müsste er den maßgeblichen Rahmen für die systematische Interpretation aus dem Bedeutungszusammenhang des Rechtstextes abgeben. Jedoch passt Art. 1 nach Inhalt, Wortlaut und Struktur gar nicht in den mit „Die Grundrechte“ überschriebenen Abschnitt des Grundgesetzes3. Nach seinem Inhalt nicht, weil die Menschen2 Zit. nach Bernd Nellessen (Hrsg.), José Antonio Primo de Rivera – Der Troubadour der Spanischen Falange, 1965, S. 113 ff., und Walter Wefers, Grundlagen und Ideen des spanischen Staates der Gegenwart, 2. Aufl. 1967, S. 119 ff.; vgl. auch ebd. S. 50 ff. 3 Zur Sonderstellung des Art. 1 GG zuletzt Rolf Gröschner, Menschenwürde als Konstitutionsprinzip, in: Menschenwürde im interkulturellen Dialog, hg. v. Anne Siegetsleitner und Nikolaus Knoepffler, 2005, S. 17 ff.,

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würde kein Bestandteil der traditionellen Grundrechtskataloge ist; nach Wortlaut und Struktur nicht, weil er vom Geltungsgrund und der Geltungskraft der „nachfolgenden Grundrechte“ handelt, aber selbst weder einen Schutzbereich definiert oder ein subjektives Recht ausspricht noch Schranken nennt, was doch, wo das Prinzip der Freiheit herrscht, de facto die Hauptaufgabe der Positivierung von Grundrechten ist. Anfänglich war man sich der Problematik dieser Differenz wohl bewusst. Einer der späteren Groß-Kommentatoren des Grundgesetzes schrieb in seinem Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts (1. Auflage 1951), Art. 1 – „wahrscheinlich dem Ideengut des christlichen Naturrechts entnommen“ – sei „wohl als der ideelle Ausgangspunkt anderer Grundrechte gedacht“. Die folgenden Artikel führten diesen Ansatz jedoch nicht weiter, sondern kehrten „zum Individualismus der liberalen Bewegung und . . . des Aufklärungsdenkens zurück“4. Indessen könne der Grundsatz des Art. 1, fuhr Maunz fort, „für die weitere Entwicklung der Verfassung von größter Bedeutung werden“. Denn insbesondere die Verfassungsgerichte hätten es damit in der Hand, „aus der ,Würde des Menschen‘ heraus ein Wertsystem der menschlichen Güter zu entwickeln . . . , das die übrigen Grundrechte ergänzen oder auch unabhängig neben sie treten kann“5. Ähnlich hat Fritz Münch in seiner Bonner Antrittsvorlesung von 1951 über die Menschenwürde von der Notwendigkeit eines „Entschlusses“ gesprochen, den Würdesatz durch staatliche Aktivitäten zu entwickeln, und zwar im Sinne eines allgemeinen Wertes der Menschheit, nicht als ein Rechtsgut des Einzelnen, damit er nicht „ein leeres Wort oder oberes Korrektiv“ bleibe6. Aber wie sich alsbald zeigte, gab es noch eine andere Möglichkeit, den Menschenwürdesatz zu implementieren. Josef Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, in: AöR 131 (2006), S. 173 ff. (174 ff., 209 ff.); aus rechtssoziologischer Sicht Ralf Poscher, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, in: JZ 2004, S. 756 ff. 4 Theodor Maunz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 1951, S. 84. 5 Ebd. S. 85. Hervorh. i. O. 6 Fritz Münch, Die Menschenwürde als Grundforderung unserer Verfassung, 1951, S. 8, 12 f.

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Da der rechtliche Kontext für eine weiterführende systematische Interpretation nicht zu taugen schien, konnte man versuchen, einen transpositiven Kontext zu substituieren. Zu diesem Zweck war vor dem Hintergrund unserer geistigen Überlieferungen ein bestimmter religiöser oder philosophischer Sinnzusammenhang von Menschenwürde zu entwerfen und – um zu einer integralen Interpretation zu gelangen – dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes im Ganzen zu unterstellen. Als Anknüpfungspunkte dienen in solchen Fällen subjektive Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Individuen. Insoweit geben die Materialien jedoch nicht viel her. Fest steht allerdings, dass man sich nicht einigen konnte, auf Gott oder das Naturrecht als Quelle zu verweisen7. Also musste sich dann eben der Interpret „entschließen“, einen solchen Sinnzusammenhang zu postulieren. Und genau das tat Günter Dürig mit seinem „Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I in Verbindung mit Art. 19 Abs. II des Grundgesetzes“ – dies der Untertitel seines berühmten Aufsatzes von 19568. Der gesuchte Kontext des in Frage stehenden Rechtssatzes wird nicht in der rechtlichen Einbettung gefunden, sondern aus dem zu interpretierenden Satz selbst erst „entworfen“, d. h. im Klartext: aus einer Bedeutungsunterstellung entwickelt. In einer eigentümlichen Mischung aus Wertphilosophie und essentialistischem katholischen Naturrecht9 behauptet Dürig, der Verfassungsgeber habe den „sittlichen Wert der Menschenwürde“ durch Übernahme in den Anfang des Verfassungstextes „gleichzeitig“ zum „Rechtswert“ und damit zur „Basis für ein ganzes Wertsystem“, nämlich das der folgenden 7 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, hg. v. Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv, 1975 ff. Bd. 5, 1993, S. 64 f., 66. Dazu Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 404 ff. 8 Günter Dürig, Der Grundsatz von der Menschenwürde – Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I in Verbindung mit Art. 19 Abs. II des Grundgesetzes, in: AöR 81 (1956), S. 117 ff. Dieser Aufsatz bildet die Grundlage von Dürigs Kommentierung des Art. 1 im „Maunz-Dürig“ (1958). Die nachfolgenden Zitate sind dieser Kommentierung entnommen. 9 Typisch hierfür Josef Fuchs S.J., Lex Naturae – Zur Theologie des Naturrechts, 1955, S. 60 ff., mit der Betonung der „seinshaften“ Gottesebenbildlichkeit als Grundlage für „echtes Naturrecht“.

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Grundrechte gemacht (Rn. 1, 3, 5), wobei der Eigenwert des Menschen „als etwas immer Seiendes, als etwas unverlierbar und unverzichtbar Vorhandenes gedacht“ werde (Rn. 2). Er bestehe darin, dass „jeder Mensch . . . Mensch (sei) kraft seines Geistes“, der ihn von der unpersönlichen Natur abhebe und ihn zu Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Gestaltungsfreiheit befähige (Rn. 18). Beim Geisteskranken, dem all das offenkundig fehlt, sei der „allgemein menschliche Eigenwert der Würde“ „als vorhanden zu denken“ (Rn. 20). Diese wertphilosophische Grundrechtsinterpretation verselbständigt so in einer revolutionären Weise die Schutzgüter gegenüber den Trägern. Da der Würde-Wert, heißt es weiter (Rn. 23), „unabhängig von der Realisierung beim konkret existierenden Menschen ist, kann ein Angriff die Menschenwürde als solche auch verletzen, wenn der konkrete Mensch noch nicht geboren oder bereits tot ist“. Auch die Voraussetzung konkreter „‘Fähigkeit zum geistig-seelischen Werterlebnis‘ . . . verkenn(e) die existentielle Geworfenheit des Menschen in den irrationalen Strom des Menschengeschlechts“ (Rn. 23). Man kann allen diesen Sentenzen und ihrem enormen Erfolg wohl nur gerecht werden, wenn man sie als zeitgemäßen verfassungspolitischen Beitrag zur rechtlich dominierten Integration und Stabilisierung der jungen Bundesrepublik versteht. Mangels einer starken demokratischen Tradition versprach wieder nur das Recht Halt und Schutz. Nicht zum ersten Mal in der politischen Entwicklung Deutschlands spielte das Recht nach den Worten Wahls gewissermaßen eine „kompensatorische Rolle“10. Dafür schien es allerdings einer überpositiven Verankerung zu bedürfen. So ist der Zusammenhang mit jener Strömung offensichtlich, die man vornehmlich im Hinblick auf die frühe Strafrechtsrechtsprechung des Bundesgerichtshofs als Renaissance des Naturrechts nach 1945 bezeichnet hat. Freilich kann von Renaissance im eigentlichen Sinn mangels ideengeschichtlicher Vermittlung ebenso wenig die Rede sein wie von „dem“ Naturrecht; denn hauptsächlich handelte es sich um katholische Naturrechtsideen11. Auch Dürigs 10 Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten. Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 19. 11 Dazu Ulfried Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland seit 1945, in: Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, hg. v. Dieter Simon,

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substantialistische, den eher relationistischen Theorien des Protestantismus fremde Vorstellung vom Eigenwert des Menschen „als etwas immer Seiende(m)“ (Rn. 2) weist darauf zurück12. Er selbst sieht allerdings eine Rezeption des „Naturrecht(s) neuzeitlicher Prägung“, merkt aber an, dass hier „keine Diskrepanz zwischen ,christlichem‘ und ,profanem‘ Naturrecht erkennbar“ sei. Folglich wäre es, meint er, niemals „unjuristisch, wenn man zur Interpretation des von der Verfassung rezipierten, ihr vorausliegenden Rechts spezifisch christliche Lehren verwendet“. Denn: „Die christliche Naturrechtsauffassung umspannt stets auch die gültige profane Lehre . . .“ Und: „überhaupt lässt sich kaum eine moderne laizistische Wertauffassung nachweisen, die nicht an ihren (sic) Ursprung in das christliche Wertdenken einmündet. Sollte irgendwo das profane Naturrecht zu Abweichungen vom christlichen führen, so ist im Zweifel nichts anderes als die Überprüfung auf historische Abfälschungen nötig, um wieder auf die gemeinsame christliche Wurzel zu stoßen“ (Rn. 15 N 2). Ich gestehe, dass ich die Dürig’sche Kommentierung des Art. 1 GG schon als junger Mann für revisionsbedürftig gehalten habe13. Heute illustriert sie besonders eindrucksvoll das, was Rainer Wahl angesichts der neuartigen internationalrechtlichen Herausforderung für unser Rechtssystem die Unumgänglichkeit einer „Historisierung“ der Bonner Gründerzeit und ihrer Rechtsentwicklung genannt hat14. 2. Lässt man das fragwürdige wertphilosophische Konzept15 (zu schweigen von der existenzialistischen „Geworfenheit“ der 1994, S. 145 ff. (148 ff., 154 ff.). Damit ist über den sachlichen Gehalt jener Bemühungen nichts gesagt. Einige kritische Hinweise zur gängigen Abwertung dieser „Renaissance“ bei Kristian Kühl, Rückblick auf die Renaissance des Naturrechts nach dem 2. Weltkrieg, in: FS f. Alfred Söllner, 1990, S. 332 ff. (356 f.). 12 Ebenso Isensee, Menschenwürde (Fn. 3), S. 185. Vgl. auch Fn. 9. 13 Für einen seriösen und differenzierten Überblick über das teilweise intrikate Verhältnis von christlichem und profanem Naturrechtsdenken siehe Alexander Hollerbach, Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, in: Naturrecht in der Kritik, hg. v. Franz Böckle / Ernst-Wolfgang Böckenförde, 1973, S. 9 ff. 14 So Wahl (Fn. 10), S. 12 ff. 15 Durchdringende Kritik an der wertphilosophischen Rechtsbegründung bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung

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50er Jahre) beiseite, bleibt die Frage nach dem genuin christlichen als dem angeblich maßgebenden Kontext der Menschenwürde. „Die dignitas humana“, heißt es, habe „keine andere Begründung als den christlichen Glauben“; sie sei „unmittelbares Derivat des Christentums, von jeher Lehre der Kirche“16. Im Hinblick darauf, dass die dignitas hominis eine aus der stoischen Tradition mit ihrer Lehre vom göttlichen Geist in jedem Menschen geschöpfte Begriffsprägung Ciceros ist (De officiis I 105 f.)17, muss man diese Reklamation wohl als eine Art Begriffsimperialismus verstehen. Denn: „Wer diesen Begriff besetzt, beherrscht das rechtliche und politische Terrain“18. Nach der theologiegeschichtlichen Forschung verbanden christliche Autoren den philosophischen Begriff der Menschenwürde mit der biblischen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen nach Genesis 1, 27 und 9, 1 – 319. Auch das machte insofern noch keine spezifisch christliche Version der Menschenwürde aus, als der Vorrang des Menschen vor der übrigen Schöpfung eine ganz geläufige Vorstellung der klassischen Antike war20. Das eigentlich Jüdische und dann Christliche ist die Ähnlichkeitsbeziehung zu einem der Welt transzendenten persönlichen Schöpfergott21. Aber indem dieser des Rechts, in: FS für Robert Spaemann, 1987, S. 1 ff., s. auch ders., Grundsrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, zuletzt in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 115 ff. (129 ff.). 16 Josef Isensee, Die katholische Kritik an den Menschenrechten. Der liberale Freiheitsentwurf in der Sicht der Päpste des 19. Jahrhunderts, in: Menschenrechte und Menschenwürde, hg. v. Ernst-Wolfgang Böckenförde und Robert Spaemann, 1987, S. 138 f. (165); ebenso ders. jetzt in: Menschenwürde (Fn. 3), S. 199 ff. 17 Dazu detailliert Viktor Pöschl, Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, 1989, S. 37 ff.; Wolfhart Pannenberg, Christliche Wurzel des Gedankens der Menschenwürde, in: Menschenrechte und kulturelle Identität, hg. v. Walter Kerber, 1991, S. 61 ff. (63 f.); s. auch Ulrich Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts, in: ders., Religion in der Moderne, 2003, S. 345 ff. (354 f.). 18 Isensee, Menschenwürde (Fn. 3), S. 194. 19 Dazu Richard Bruch, Die Würde des Menschen in der patristischen und scholastischen Tradition, in: FS f. Paul Asveld, Graz 1981, S. 139 ff. (140). 20 Pöschl (Fn. 17), S. 46.

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eigentümliche Gottesbezug durch Sprache als Vernunftäußerung vermittelt erscheint, öffnet sich zugleich die Möglichkeit einer Verbindung mit der griechischen Philosophie des Logos und des Nous, der Weltvernunft. Der Tiefe des Gedankens einer personalen Gottesbeziehung entspricht eine gewisse religiöse Exklusivität dieser Perspektive. Der für die Neuzeit charakteristische Bedeutungsraum der Stellung des Menschen im Gemeinwesen und gegenüber der Obrigkeit, wie er aus der Behandlung des Menschen als eines Naturwesens und der Würde als sittlicher Qualität sich öffnet22, erscheint in ihr nicht. So hat die Kirche trotz ihrer Lehre von der gleichen Gottesebenbildlichkeit aller die Menschen über Jahrhunderte durchaus folgenreich nach Christen, Häretikern und Nichtchristen sowie nach Männern und Frauen unterschieden. Und die Sklaverei (vom dunklen Kapitel inquisitorischer Folter zu schweigen) haben die Päpste nach partikulären Vorstößen (keine Versklavung von Christen, kein Sklavenhandel, Anmahnung menschlicher Behandlung der Sklaven) erst im 19. Jahrhundert definitiv verworfen23. 21 Diesen Punkt hebt mit Recht auch Isensee, Menschenwürde (Fn. 3), S. 200, besonders hervor. Dazu Pannenberg (Fn. 17), S. 65 ff.; Klaus Koch, Imago Dei – Die Würde des Menschen im biblischen Text, 2000, S. 54, 63 u. passim. Zum Folgenden ebd. S. 8, 30 ff., 35 ff. 22 Dazu Panajotis Kondylis, Art. Würde (II – VII), in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner u. a., Bd. 7, 1992, S. 645 ff. (663 ff.). Typischerweise bezogen Laien die imago-dei-Lehre unbefangen schon früher gegen die Kirche auf die soziale Sphäre. Siehe den „Sachsenspiegel“ (um 1230) des Eike von Repgow (hg. v. Clausdieter Schott, 1984) III 42 (S. 189 ff.). „1. Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und hat ihn durch sein Martyrium erlöst, den einen wie den anderen. Ihm steht der Arme so nah wie der Reiche. . . . 3. Als man zum ersten Mal Recht setzte, da gab es keinen Dienstmann und da waren alle Leute frei. Mit meinem Verstand kann ich es auch nicht für Wahrheit halten, dass jemand des anderen Eigentum sein sollte. . . . 6. Nach rechter Wahrheit hat Unfreiheit ihren Ursprung in Zwang und Gefangenschaft und unrechter Gewalt, die man seit alters zu unrechter Gewohnheit hat werden lassen und die man nun als Recht haben möchte.“ 23 Dazu Joseph Höffner, Kolonialismus und Evangelium, 3. Aufl. 1972, S. 74 ff., 216 ff.; John Francis Maxwell, Slavery and the Catholic Church, Chichester and London, 1975; L. Hurbon, The Church and Afro-American Slavery, in: The Church in Latin America 1492 – 1992, hg. v. Enrique Dussel, Turnbridge Wells 1992, S. 372 ff.; John T. Noonan, Jr., Development in Moral Doctrine, in: Theological Studies 54

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Überdies bleibt daran zu erinnern, dass die Theologie der Menschenwürde sich nur in einem „äußerst schmalen Traditionsstrang“ hielt24. Ihn bildeten die altkirchlichen Platoniker, dazu Ambrosius und Leo der Große, und dann wieder die RenaissanceHumanisten der platonischen Akademie in Florenz, von denen Giovanni Pico della Mirandola mit seiner Oratio de hominis dignitate von 1486 am bekanntesten geworden ist. Im Mittelpunkt steht der Gedanke gottgegebener Freiheit des Menschen der zur gottähnlichen Schöpferkraft gesteigert wird. Nicht das Wesen des Menschen definiere seine Freiheit, lehrte Gregor von Nyssa, sondern seine Freiheit bestimme sein Wesen. Wir seien gewissermaßen die Väter unserer selbst, indem wir uns nach unserer Vorstellung von uns bilden25. Ebenso leitet Pico elfhundert Jahre später die Würde des Menschen nicht aus der im göttlichen Schöpfungsplan fixierten Stellung des Menschen im Kosmos her, sondern aus dessen gottgegebener Freiheit und Schöpferkraft, sich und seine Stellung im Kosmos ohne Bindung an ein Urbild selbst zu bestimmen26. Es war dieser Geist des Neuplatonismus, der den Kardinal (1993), S. 662 ff. (664 ff.).; John S. Panzer, The Popes an Slavery, New York 1996. 24 U. Barth (Fn. 17), S. 352 ff.; Pannenberg (Fn. 17), S. 65 ff. (mit Nachweisen). 25 Ganz ähnlich Johannes Chrysostomus; Belege bei Theo Kobusch, Die philosophische Bedeutung des Kirchenvaters Origenes, in: Theologische Quartalschrift 165 (1985), S. 94 f. (103 f.). Umfassend ders.: Die Würde des Menschen – ein Erbe der christlichen Philosophie, demnächst in einem Sonderheft des ARSP. Zu Gregor siehe auch Pöschl (Fn. 17), S. 43 f. 26 Giovanni Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate, lat.- dt. Ausg., hg. v. A. Buck, 1990. Gegen die gängige Deutung Picos als eines Eklektikers und Synkretisten (mit „existenzialistischem Timbre“) hat sich Heinrich Reinhardt (Freiheit zu Gott – Der Grundgedanke des Systematikers Giovanni Pico della Mirandola (1463 – 1494), 1989) außerordentlich stark darum bemüht, ihn in die orthodoxe christliche Tradition zu stellen. Das etwas vage Ergebnis: Picos Schöpfungskonzept sei „wahrscheinlich und im großen Ganzen orthodox“ (S. 143; Hervorh i. O.). Siehe auch Paul Richard Blum, Philosophieren in der Renaissance, 2004, S. 148 ff., 173 ff., 178 ff., 194 f.; ferner Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person, 2. Aufl. 1997, S. 257; sowie Asa A. Schillinger-Kind, Die Affirmation des Unvermeidlichen in Widerstand und Würde – Ein philosophisch-literarischer Vergleich existentieller Grundbegriffe bei Pico della Mirandola und Albert

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Nikolaus von Cues in seiner Erkenntnistheorie zu der Bezeichnung des Menschen als eines „zweiten Gottes“ geführt hatte: Wie Gott der Schöpfer des wirklichen Seienden und der natürlichen Formen, so sei der Mensch Urheber des gedanklichen Seienden und der künstlichen Formen27. Mit den Vorstellungen von der Würde des Menschen als einem intuitiv erkennbaren „objektiven Wert“, als etwas „immer Seiendem“ oder einer substanziellen Qualität der „Wesensnatur des Menschen“ hat das alles nichts zu tun. Übrigens dachte in dieser Frage auch Thomas von Aquin nicht so substanzhaft, wie ihm das gerne unterstellt wird, sondern viel biblischer. Mehr als das zugrunde liegende Vermögen seien es die auf Gott bezogenen geistigen Akte der Vernunftseele, in denen die Gottähnlichkeit sich verwirklicht28. Der das christliche Mittelalter hauptsächlich bestimmende Traditionsstrom folgte indes, wie schon angedeutet, überhaupt einer prinzipiell anderen Bahn. Vom Bewusstsein menschlicher Sündhaftigkeit geprägt, verweist er im Kontrast zum Glanz der Gottesebenbildlichkeit auf Niedrigkeit, Erbärmlichkeit und Elend des sündigen Menschen. In seinem epochalen Werk über den Gottesstaat lehrt der einflussreichste der lateinischen Kirchenväter, dass der nach Gottes Bild geschaffene, durch Seele, Geist und Einsicht vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnete Mensch seine Würde durch Sündenfall und Erbsünde verloren habe, wenn er nicht durch die Gnade Gottes erlöst werde29. Damit wird die christliche Lehre von der Menschenwürde in sich widersprüchlich, es ergibt sich eine „Unstimmigkeit“, die nur Camus, 1998. Jetzt eindringlich und abgewogen Oliver Lembcke, Die Würde des Menschen, frei zu sein: Zum Vermächtnis der „Oratio de hominis dignitate“ Pico della Mirandolas (1463 – 1494) demnächst in einem Sonderheft des APSP. Der Verf. dankt für die Möglichkeit, den Umbruch einzusehen. 27 Dazu mit Nachweisen Hasso Hofmann, Natur und Naturschutz im Spiegel des Verfassungsrechts (1988), in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 406 ff. (412). 28 Dazu Ludwig Berg, Die Gottesebenbildlichkeit im Moralsubjekt nach Thomas von Aquin, 1948, S. 57 f., 77, 85, 89 ff., 99. 29 Aurelius Augustinus, De civitate dei, lib. XII c. 24, lib. XIII c. 14 Zit. nach der dt. Ausg. v. Wilhelm Thimme u. Carl Andresen, 3. Aufl. 1991, Bd. 2, S. 100, 124. Dazu U. Barth (Fn. 17), S. 351 f.

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durch die Annahme zweier Würdebegriffe zu beheben ist30. Die Reformatoren Luther und Calvin folgten Augustin31: Die sündigen Menschen haben ihre Gottesebenbildlichkeit eingebüßt. Sie wiederzuerlangen sei eine bloße Hoffnung, die sich auf die Güte und Gnade Gottes richte und aus unserer Gotteskindschaft nähre. Da wir aber über Gottes Gnadenwahl nichts wissen, müssen wir alle Menschen als unsere Brüder achten und an ihnen die gnadenweise wiedergewinnbare Gottähnlichkeit ehren. Der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit wird von dem der Gotteskindschaft überlagert. Damit deutet sich ein Gemeinschaftsbezug des Gedankens an und verschiebt sich der Akzent von der Freiheit auf die Gleichheit der Menschen. So legt Luther die Schöpfungsgeschichte dahin aus, dass die Menschen ihre Würde vor Gott durch den Sündenfall verloren haben, im gegenseitigen Verhältnis (inter se) aber aequali dignitate et conditione sint32. Die neuzeitliche politische Entwicklung der Idee von Freiheit, Gleichheit und Würde des Menschen vollzieht sich im Wesentlichen außerhalb der kirchlichen Lehren, teilweise entschieden gegen sie33. Theologiegeschichtlich tut sich hier mit anderen Worten eine große Lücke auf. Erst angesichts des proletarischen Elends infolge der Industrialisierung und nach dem Protest gegen die bourgeoise Zerstörung der „persönlichen Würde“ im „Kommunistischen Manifest“34 belebt sich die theologische Diskussion wieder durch den sog. „Sozialprotestantismus“. Er gehört mit zu dem Hintergrund des späteren (eingangs zitierten) Art. 151 Abs. 1 Dazu Bruch (Fn. 19), S. 141 ff. (148). Siehe Luthers Kommentare zu Gen. 1, 26 und 9, 6: Heinrich Assel, Person bei Luther und Kant, in: Kant, Luther und die Würde des Menschen, hg. v. Friedrich-Otto Scharbau, 2005, S. 55 ff. (66 ff.); Svend Andersen, Kann eine evangelische Ethik „Menschenrechte“ unterstützen?, ebd. S. 81 ff. (84 ff.). Vgl. Johannes Calvin, Institutio christianae religionis I 15, 4 u. III 20, 38, zit. nach der Übers. von Otto Weber, 1955. 32 Martin Luther, Disputatio de homine, zit. nach Andersen (Fn. 31). Dazu auch Assel (Fn. 31), S. 66. 33 U. Barth (Fn. 17), S. 346, auch Isensee, Menschenwürde (Fn. 3), S. 203. 34 Zur Menschenwürde als „Kampfbegriff der Arbeiterbewegung“ Adalbert Podlech, in: GG-Alternativ-Kommentar, 3. Aufl. 2001, Art. 1 Abs. 1 Rn. 4. 30 31

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WRV. In seinem Referat über Christentum und Wirtschaftsordnung auf dem 4. evangelisch-sozialen Kongress von 1893 wandte sich der Berliner Theologieprofessor Julius Kaftan gegen die Missstände bei der Arbeitszeit, den Wohnungsverhältnissen der Arbeiter und der Lohnregulierung, „die den Grundsatz von der Menschenwürde verletz(en)“. Denn mit Markus 2, 27 gesprochen sei die Wirtschaftsordnung um der Menschen willen gemacht und nicht umgekehrt. „Der Mensch darf nie und in keinem Fall zum bloßen Mittel herabgewürdigt werden, darf es selbst dann nicht, wenn er sich selbst dazu erbietet“35. Andere Theologen sprachen in diesem Kontext lieber vom „ewigen Wert“ der einzelnen Personen, da ihnen der Terminus Menschenwürde sozialistisch imprägniert schien. Wo also dokumentiert sich „(d)as christliche Verständnis der Würde . . . , aus der die Verfassungstheorie“ heute angeblich „schöpfen muss, wenn sie dem Prinzip“ im Sinne einer „Eigenschaft“ der „Wesensnatur“ des Menschen „gerecht werden will“36? In der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments? In der spätantiken Weihnachtsliturgie? In einigen Texten der altkirchlichen Platoniker und der Renaissance-Humanisten mit ihrer Philosophie der das eigene Wesen bestimmenden schöpferischen Freiheit des Menschen? Bei Thomas von Aquin im Gebrauch der Fähigkeit, Gott zu erkennen und zu lieben? In dem das christliche Mittelalter dominierenden und die Reformatoren prägenden Sündenbewusstsein verlorener Würde und der Hoffnung auf gnadenweise Wiedergewinnung? Im Opfergebet der tridentinischen Messe? Im Glauben an die Gotteskindschaft aller oder in den Postulaten des Sozialprotestantismus? Zu schweigen von dem Diktum Karl Barths, dass der „Mensch als solcher“ nach der Bibel „keinen Selbstwert (hat)“37. Kurzum: Die eine christliche Lehre von der Menschenwürde gibt es nicht. 35 Julius Kaftan, Christenthum und Wirthschaftsordnung, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 3 (1893), S. 248 ff. (275). Hierzu und zum Folgenden Arnulf von Scheliha, „Menschenwürde“ – Konkurrent oder Realisator der christlichen Freiheit? Theologiegeschichtliche Perspektiven, in: Freiheit und Menschenwürde – Studien zum Beitrag des Protestantismus, hg. v. Jörg Dierken u. Arnulf von Scheliha, 2005, S. 241 ff. (246 ff.). 36 Isensee, Menschenwürde (Fn. 3), S. 209, 210. 37 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I / 2, 4. Aufl. 1948, S. 445.

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Angesichts dieses Befundes und der erwähnten großen Traditionslücke nimmt es nicht Wunder, wenn die Theologen in der heutigen Konjunktur eher zu einer Neuinterpretation der biblischen Geschichte vom gegenwärtigen Verständnis her neigen oder Zuflucht bei Kant suchen38. Es mag sein, dass sie Kants elaboriertes Konzept der sittlichen Autonomie des Menschen nach Jürgen Habermas als eine „Übersetzung“ religiöser Erfahrung der Gottesnähe in eine gänzlich säkularisierte Umwelt verstehen39, auch wenn Würde aus absoluter Selbstzweckhaftigkeit vor dem biblischen Hintergrund eher als Blasphemie erscheinen könnte. Aber auch wenn man für das Jahr 1949 von einem katholischen Naturrechtssatz der Menschenwürde als Teil der Menschennatur ausginge, wäre das eine fragwürdige Quelle. Denn ein so definierter Menschenwürdesatz schlösse ja im Gegensatz zu Art. 1 GG die Menschenrechtsidee nicht ein und namentlich die Glaubensfreiheit aus. Bekanntlich war es „ein langsamer und schwieriger Prozess . . . , bis die Kirche lernte, sich mit den Freiheitsrechten abzufinden . . . Das letzte der klassischen Menschenrechte, mit dem die Kirche ihren Frieden machte, war die Religionsfreiheit“40. Das geschah offiziell gegen einen nicht unerheblichen konservativen Widerstand im Namen der Würde des Menschen auf dem II. Vatikanischen Konzil 196541 – 16 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes. Selbstverständlich ändert alles das jedoch nichts daran, dass die von Europa ausgehende Hochschätzung des Individuums Frucht einer Kultur ist, die in hohem Maße kontinuitätswahrend und schöpferisch vom Christentum geprägt wurde. Schon Hegel hat den europäischen Freiheitsgedanken auf die christliche Idee, dass „das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat“, zurückgeführt42. Hegel kannte aber auch wie wenige die komplizierte Dazu v. Scheliha (Fn. 35), S. 243. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, 2000, S. 28 f. 40 Isensee, Die katholische Kritik an den Menschenrechten (N 16), S. 140. Dazu Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht – Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789 – 1965), 2005. 41 Dazu Uertz (Fn. 40), S. 446 ff. 42 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 482, zit. nach: Werke (stw) 10, S. 301 f. 38 39

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und verwickelte Geschichte ihrer Ausformung und Verwirklichung. Was berechtigt uns, dem Verfassungsgeber über das allgemeine Bekenntnis zu dieser Geschichte und ihren Ursprüngen hinaus eine selektive Präferenz für ganz bestimmte Traditionselemente mit entschiedener Verneinung anderer zu unterstellen? Auch müsste vorab die Frage beantwortet werden, welche Aussagen des Verfassungstextes gerade die theologische Bedeutungsebene zu dessen maßgeblichem Kontext machten. Solche Aussagen gibt es aber eben nicht, nachdem die Mehrheit im Parlamentarischen Rat den Vorschlag einer direkten Bezugnahme auf den christlichen Schöpfergott oder das Naturrecht abgelehnt hatte43. Dass der Verfassungsgeber sich in der Präambel des Grundgesetzes im Bewusstsein der Grenzen aller irdischen Macht mit einer Wendung der Demut ausdrücklich zu einer über jene Grenzen hinausreichenden Verantwortung „vor Gott“ bekennt, vermag jene konkrete, einen besonderen Punkt betreffende Absage nicht zu überspielen. 3. Wenn man es daraufhin unternimmt, die theologischen Lehren von der Menschenwürde als Rahmen für eine systematische Interpretation des Art. 1 GG durch einschlägige philosophische Theorien, speziell durch Kants Konzept der sittlichen Autonomie des Menschen zu ersetzen, bleibt das methodologische Problem dasselbe. Wo ist die Klammer, die den verfassungsrechtlichen Text der Menschenwürdegarantie mit Kants Menschenwürdephilosophie als maßgeblichem (oder gar einzigem) Kontext verbindet, da die hoch differenzierte Begrifflichkeit Kants dem fraglichen Verfassungssatz ja schwerlich als umgangssprachliche Wortbedeutung unterlegt werden kann?44 Gewiss: Der Grundrechtsteil des Grundgesetzes verweist im Ganzen genommen zurück auf die Freiheitsphilosophie der Aufklärung. Und Angelpunkt der prakNachweis in Fn. 7. Zwar begegnet die Behauptung unmittelbarer und ausschließlicher Relevanz der Philosophie Kants für die Auslegung des Art. 1 I GG nur sehr selten, die Heranziehung von Begriffen, Theoriestücken und Begründungselementen daraus dagegen außerordentlich häufig. Hier nur ein Beispiel: Christian Starck, Verfassungsrechtliche Grenzen der Biowissenschaft und Fortpflanzungsmedizin, in: JZ 2002, S. 1065 ff. (1069 f.). Zum Folgenden Horst Dreiers Kritik in: Grundgesetz-Kommentar, hg. v. dems., Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I Rn. 11 ff. 43 44

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tischen Philosophie Kants – der eine Katalogisierung von einzelnen Menschenrechten allerdings ganz fern liegt – ist das Prinzip der Freiheit, das jede Einschränkung begründungsbedürftig macht45. Aber was hat Kants transzendentalphilosophische („metaphysische“) Tugendlehre von der Würde eines jeden Vernunftwesens mit dem Rechtsverhältnis von Mensch und Staat zu tun? Würde steht bei Kant für den „absoluten inneren Wert“, der aus der moralischen Selbstzweckhaftigkeit der sittlichen Autonomie einer jeden Person kommt46. Sie nötigt zur Selbstachtung, die einen jeden jedem anderen moralisch gleichstellt, so dass er Achtung von ihm verlangen darf, wie er dann umgekehrt dessen Würde anerkennen muss. Noch einmal: Auf welchem Wege könnte die moralische Pflicht des moralischen Subjekts zur Selbstachtung – zur Erinnerung: der maßgebliche Text zur Menschenwürde steht bei Kant im Kontext der Pflicht des Menschen gegen sich selbst unter der Überschrift „Von der Kriecherei“47 – das „oberste Konstitutionsprinzip“ eines Staates informieren? Unmittelbar wohl nicht, aber vielleicht durch Interpolation des Postulats eines bürgerlichen Selbstbewusstseins in der Republik48? Zweifel betreffen auch die zweite (praktische) Version des kategorischen Imperativs49, die gerne als „Instrumentalisierungsverbot“ apostrophiert und zitiert oder mit der sog. Objekt-For45 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Einteilung der Rechtslehre B, in: Werke (Ed. Weischedel), Bd. 7, S. 345: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht.“ – Dazu Ralph Alexander Lorz, Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis und die Philosophie der Freiheit Kants, 1993, S. 127 f., 138. 46 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschnitt, in: Werke (Ed. Weischedel), Bd. 6, S. 69: „Autonomie ist . . . der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“ 47 Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, in: Werke (Fn. 45), S. 568 ff. 48 Zum Problem des Brückenschlages Christoph Enders, Kants Recht auf Freiheit als Wegweiser im Konflikt um den Embryonenschutz, in: Kants Lehre vom richtigen Recht, hg. v. Diethelm Klesczewski u. a., 2005, S. 59 ff. (65 ff.) 49 Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten (Fn. 46), S. 61.

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mel50 angesprochen wird und die doch in erster Linie verbietet, das eigene Vernunftvermögen gänzlich in den Dienst der eigenen Triebhaftigkeit zu stellen. Aber davon abgesehen: Die Konnotationen des Kantischen Würdebegriffs: Selbstbewusstsein, Freiheit, Vernunft und Selbstbestimmung taugen wenig, das zu begründen, was doch sicher zu sein scheint: dass die Garantie des Art. 1 GG auch Geisteskranke, Kinder, Verwirrte und Bewusstlose umfasst. Und wie soll man sich die Selbstbestimmung eines Embryos vorstellen? Manche meinen, über diese Schwierigkeit könne folgende Stelle in der Metaphysik der Sitten hinweghelfen: „. . . da das Erzeugte (sc. das nicht von selbst, sondern durch den elterlichen Zeugungsakt ins Leben gerufene Kind) eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen: so ist es in praktischer Hinsicht eine richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben . . .“51.

Indessen ist das Problem, um das es hier geht, ein ganz anderes, nämlich: Wie ist es denkbar, dass zwischen den Eltern und dem Kind ein Rechtsverhältnis besteht, das die Eltern zum Unterhalt verpflichtet? Zwar sind die Eltern einerseits und das Kind ande50 Sie hat – offenkundig ohne den sozialprotestantischen Vorläufer zu kennen (s. bei Fn. 35) – Günter Dürig in: Komm. z. GG, Art. 1 Rn. 28, entwickelt. Dazu Peter Häberle, Menschenwürde als Grundlage der menschlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts, hg. v. Josef Isensee u. Paul Kirchhof, Bd. II, 3. Aufl. 2004, S. 317 ff. (Rn. 38, 43). Kritisch Eric Hilgendorf, Die missbrauchte Menschenwürde, in: Jahrb. f. Recht und Ethik 7 (1999), S. 137 ff. (142 ff., 150 ff.); Horst Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar, hg. v. dems, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I Rn. 53; auch Isensee, Menschenwürde (Fn. 3), S. 184 f.; s. ebd. S. 191 ff. die Kritik an der Verwendung der Objektformel durch das BVerfG im Fall des § 14 Abs. 3 LuftsicherheitsG v. 11. 1. 2005 in seiner Entscheidung vom 15. 2. 2006 (NJW 2006, 751 / 753 ff.): ,Geradezu einfältige Handhabung‘. Zum Problem im Ganzen Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 2004, § 12 Rn. 5. 51 Kant, Metaphysik der Sitten. Recht der häuslichen Gesellschaft: Das Elternrecht § 28, in: Werke (Fn. 45), S. 393 f. Dazu Enders, Kants Recht auf Freiheit (Fn. 48), S. 77 Anm. 70.

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rerseits Rechtssubjekte, aber es gibt – anders als bei den nach Kant untereinander durch Vertrag verbundenen Eltern – keinen Rechtsakt, der zwischen Eltern und Kind eine Rechtsbeziehung gestiftet hätte. Und da es nicht vorstellbar ist, dass die Eltern auf rein physische Weise ein moralisches Rechtssubjekt hervorgebracht haben, bleibt nach Kant aus praktischen Gründen nur die Möglichkeit, den Akt der Zeugung so anzusehen als ob er eine solche Rechtswirkung gehabt hätte mit der Konsequenz, dass die Eltern für ihre eigenmächtige Behandlung einer Person dieser für die Folgen haften. Ein in den gegenwärtigen bioethischen Auseinandersetzungen verwertbares Argument wird aus dieser Passage nur, wenn man Kants Postulat der praktischen Vernunft bezüglich des geborenen Kindes in eine ontologische Aussage über den Embryo verkehrt52. Im Übrigen soll nicht bestritten werden, dass auf der Basis der Kantischen Philosophie ein geschlossenes und überzeugendes philosophisches Konzept der Menschenwürde als Grundlage einer Kantischen Republik entwickelt werden kann. Nur: Wer erlaubt uns, die verfassungsrechtlichen Fragen der Auslegung des Art. 1 GG in philosophische Fragen einer philosophischen Konzeption zu transportieren? Ein solcher Rückgriff mag näher liegen und im Detail mehr Ertrag bringen als der Rückgang auf die spätantike Weihnachtsliturgie – methodologisch ist er nicht von vornherein überlegen. 4. Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Diese Ausführungen zu den theologischen, wert- und moralphilosophischen Erklärungen der Menschenwürde wollen nicht, was aberwitzig wäre, deren Belanglosigkeit für das Verständnis des Art. 1 GG erweisen. Es geht nur um den Stellenwert ihrer Bedeutung. Alle jene nichtjuristischen Deutungen sind längst zu der allgemeinen, Art. 1 GG sozusagen „grundierenden“ sozialethischen Vorstellung vom gleich unschätzbaren Wert aller menschlichen Individuen, als einem „humanistischen Leitbegriff“ zusammengeflossen53. Eben deswegen – und das ist der springende Punkt – kann keines der integrierten Elemente dieses durch Überlappen von 52 So aber Isensee, Würde (Fn. 3), S. 197. Dazu auch Assel (Fn. 31), S. 65 f. 53 Hans-Georg Gadamer, Die Menschenwürde auf ihrem Weg von der Antike bis heute, in: Humanistische Bildung 12 (1988), S. 95 ff. (96, 102).

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Konsequenzen entstehenden Konsenses den Status des allein maßgeblichen Kontextes für die Interpretation des Ergebnisses beanspruchen54. Sie bieten Interpretationsmöglichkeiten – mehr nicht. Die Versuchung zu exklusiver Reklamation ist freilich groß, wenn neuartige Anwendungsprobleme auftauchen. Könnte die erfolgreiche Rückprojektion der eigenen Meinung auf den Anfang doch den demokratischen Willensbildungsprozess unterlaufen und der richterlichen Rechtsfindung vorgreifen55. Rechtstechnisch geschieht das – wie zu sehen war – in Form einer Art von Begriffsjurisprudenz im Rahmen eines nichtjuristischen Begriffssystems oder – worüber jetzt zu sprechen ist – im Wege subjektivhistorischer Auslegung.

III. 1. Wenden wir uns also entsprechend dem klassischen Katalog juristischer Auslegungsregeln nun dem zu, was man „historische“, „genetische“, „subjektiv-teleologische“ oder „entwicklungsgeschichtliche“ Auslegung nennt56. Also: Welche Vorstellungen verbanden die Mitglieder des Parlamentarischen Rats mit ihrem Text? Sicher darf man annehmen, dass sie alle die sozialethische Überzeugung vom unschätzbaren Wert des Individuums teilten, sei es in einer religiösen, konfessionell-theologischen Version, in christlich vermitteltem Kulturbewusstsein, sei es entsprechend ihrer Prägung durch die idealistisch-humanistische Tradition. Aber das ergibt keinen tiefenscharfen Grundsatz, aus dem man munter deduzieren könnte. Das um so weniger, als man sich, wie 54 Dazu John Rawls, Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, und: Der Bereich des Politischen und der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, hg. v. W. Hinsch, 1992, S. 293 ff. bzw. 333 ff. Weiterführend jetzt Rainer Wahl, Die Rolle des Verfassungsrechts angesichts von Dissens in der Gesellschaft und in der Rechtspolitik, demnächst in: Der Status des extrakorporalen Embryos, hg. v. Giovanni Mayo, MS S. 9, 24 ff. Der Verf. dankt für die Möglichkeit, Einsicht zu nehmen. 55 Dazu Hasso Hofmann, Recht, Politik und Religion, in: JZ 2003, S. 377 ff. (384 ff.). 56 Dazu Karl Larenz / Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 149 ff.

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schon erwähnt, gerade nicht einigen konnte, auf Gott oder das Naturrecht als Quelle des Menschenwürdesatzes zu verweisen, der doch Geltung für alle beansprucht57. So blieb es bei dem, was der Abgeordnete Theodor Heuss seinerzeit ganz präzise „eine nicht kommentierte These“ genannt hat58. Damit erübrigen sich alle historisch-subjektiven Deutungsversuche, die ja nicht in einer relevanten Weise Erklärungen nachliefern können, welche der Verfassungsgeber selbst ausdrücklich verworfen hat. Das Ganze ist ein Beleg mehr für die prinzipielle Fragwürdigkeit und praktisch geringe Tauglichkeit subjektiv-historischer Auslegung parlamentarischer Entscheidungen59. 2. Festeren Boden dürften wir erreichen, wenn wir die Fixierung auf die allzu enge Frage nach subjektiven Sinnvorstellungen der Abgeordneten aufgeben und im Sinne einer erweiterten, objektiv-teleologischen Interpretationsabsicht60 nach dem Zweck fragen, den es nach Lage der Dinge im Jahre 1949 hatte, die Menschenwürdegarantie an der Spitze des Verfassungswerks zu platzieren, also dort, wo man seinerzeit in Weimar mit der Festlegung der republikanischen Staatsform den revolutionären Sturz der Monarchie besiegelt hatte. Aber 1949 war kein Jahr des Umsturzes. Was politisch stürzen musste, war längst gefallen. Die Auflistung der Menschenrechte nach altem, amerikanisch-französischem Vorbild war nicht erforderlich, um eine Sezession oder Revolution zu rechtfertigen, bezweckte selbstredend auch nicht, wie ehedem, universelle politische AufkläAkten des Parl. Rates (Fn. 7), S. 64 f. u. 915. Akten des Parl. Rates (Fn. 7), S. 72. Dazu treffend Rolf Gröschner, Des Menschen Würde: Humanistische Tradition eines Verfassungsprinzips, demnächst in einem Sonderheft des ARSP, S. 2 f. Der Verf. dankt für die Möglichkeit, den Umbruch einzusehen. 59 So hat sich das BVerfG von Anfang an (E 1, 299 / 312) in st. Rspr. gegen die subjektive und für eine objektive Auslegung entschieden. Dazu Friedrich Müller / Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 9. Aufl. 2004, Rn. 25 f., 361d f. Eingehende Kritik neuerer Ansätze subjektiver Interpretation in der Freiburger Diss. von Ulrich Vosgerau, Freiheit von Glauben und Systematik des Grundgesetzes, die demnächst bei Duncker & Humblot erscheinen wird (MS S. 166 – 177). Der Verf. dankt für die Möglichkeit, das MS einzusehen. 60 Dazu Larenz / Canaris (Fn. 56), S. 153 ff. 57 58

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rung. Es war ein Zeichen der Abkehr von einem verbrecherischen Regime und seiner totalitären Missachtung des Individuums, ein Zeichen der Rückkehr zur individualistischen Freiheitskultur des Westens und zugleich das in diesem Sinn richtungweisende Manifest der buchstäblich von Grund auf zu erneuernden deutschen Staatlichkeit. Art. 1 Abs. 1 GG ist so, wie Konrad Hesse formuliert hat, die „normative Grundlegung dieses geschichtlich-konkreten Gemeinwesens“61. Das alles ist an sich unbestritten. Doch fällt es manchen offenbar schwer, daraus die naheliegende Schlussfolgerung zu ziehen, dass Art. 1 GG, der den Menschen vor den Staat und den Staat in dessen Dienst stellt62, aus dieser Staatsgründungsfunktion heraus als ein Grundsatz, als eine „Grundnorm“ auszulegen ist. Und zwar als ein Grundsatz für ein säkulares, pluralistisches freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen, was notwendigerweise den common sense zum Maßstab macht. „Soll Achtung vor der Würde die Grundnorm sein, muss der Anwendungsbereich der sich unmittelbar aus ihr für jeden ergibt, eng gehalten werden. Jede Ausweitung, mag sie in noch so guter Absicht geschehen, würde durch die mit ihr verbundene inhaltliche Interpretation gerade das einschränken, was dem Prinzip 61 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 116. Damit ist auch die Differenz zwischen der abstrakten und universalen Menschenwürdeidee und der konkreten und begrenzten Bedeutung der Menschenwürdegarantie eines bestimmten Staates bezeichnet. Manche haben offenbar Schwierigkeiten, diesen Unterschied zu begreifen. Klare Unterscheidung zwischen Menschenwürde und Menschenwürdeschutz bei Oliver Lembcke, Menschenwürde, Subjektivität als objektives Prinzip, in: Menschenwürde, hg. v. Wilfried Härle u. Reiner Preul, 2005, S. 49 ff. (50 ff., 69 f.). 62 Bekanntlich sollte Art. 1 Abs. 1 nach dem Entwurf des Herrenchiemseer Verfassungskonvents (wohl in Anlehnung an Markus 2, 27: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, nicht der Mensch um des Sabbats willen.“) lauten: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Dass am Ende der vorgeschlagene Absatz 2 mit geringfügigen Änderungen den Vorzug bekam, änderte an der Funktionalisierung der Staatsgewalt im Dienste der Menschen nichts. Unergiebig Rolf-Ulrich Kunze, Reconsidered: „Der Mensch ist nicht für den Staat, sondern der Staat für den Menschen da“, in: Der Staat 40 (2001), S. 383 ff. (394 f.).

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seine unverwechselbare Funktion gibt, nämlich Geltungsgrund diesseits des Streits der Interpretationen zu sein63. In der Logik des Pluralismus stärkt die theologisch-metaphysische Aufladung des Art. 1 GG unsere Verfassungsordnung nicht, sondern schwächt deren Fundament. „Als ,Grundnorm‘ personaler Autonomie, individueller Selbstwerthaftigkeit und Subjektqualität der Menschen in seiner wechselseitigen Anerkennung mit anderen markiert Art. 1 Abs. 1 GG“ nicht mehr und nicht weniger als „den fundamentalen Anspruch auf gleiche Würde aller.“64 Damit taucht unter einem anderen Gesichtspunkt noch einmal der Grundgedanke der Republik auf65. Das mag im Hinblick auf die Vielfalt der aktuellen sozio-politischen Konflikte wenig scheinen und ist doch in der Perspektive dauerhafter Grundlegung eines humanen Gemeinwesens so außerordentlich viel. Die Welt führt es uns täglich vor Augen. Jedenfalls ist es ein Zeichen geschwundenen historischen Bewusstseins, wenn die Berufung auf die Menschenwürde beliebig wird, zur „kleinen Münze“ verkommt oder gerichtlich dazu missbraucht wird, ohne Not Abwägungsentscheidungen damit zu sanktionieren. Andererseits taugt die Staatsgründungsnorm des Jahres 1949 nicht dazu, uns durch eine Art juristischer Wesensschau des Menschen von den schwierigen Entscheidungen über hochkomplexe Probleme neuartiger Entwicklungen zu entlasten, vor denen wir stehen. Art. 1 Abs. 1 GG ist kein „geistige(r) Zauberstab für die humane Bewältigung aller Zukunftsprobleme“, wie Rainer Wahl schon vor fast 20 Jahren gesagt hat66.

63 Ludger Honnefelder, Humangenetik und Menschenwürde, in: Umstrittene Menschenwürde, hg. v. Thomas Brose / Matthias Lutz-Bachmann, 1994, S. 157 ff. (164). Zum Folgenden Ulfried Neumann, Die Tyrannei der Würde, in: ARSP 1998, S. 153 ff. (164). 64 Horst Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar (Fn. 50), Rn. 40. 65 Rolf Gröschner / Oliver Lembcke, Ethik und Recht, in: Einführung in die Angewandte Ethik, hg. v. Nikolaus Knoepffer u. a., 2006, S. 47 ff. (60): „Das Republikprinzip fundiert die Freiheit aller, das Würdeprinzip die Freiheit aller Einzelnen.“ 66 Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, in: Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), S. 19 ff. (28 f.).

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IV. Ganz besonders sollte dies bei den komplizierten Sachverhalten der modernen Biotechnik beherzigt werden. Es genügt hier, die Stichworte Präimplantationsdiagnostik, Forschung an sog. überzähligen Embryonen aus der assistierten Reproduktion, Stammzellforschung, Gentherapie und therapeutisches Klonen zu nennen. Nun wären alle diese Probleme nach den Regeln juristischer Fallbehandlung gar nicht der Menschenwürdegarantie zu unterstellen, sondern müssten unter dem speziellen Gesichtspunkt des Lebensschutzes nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geprüft werden67, wenn nicht das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch die beiden verfassungsrechtlichen Garantien in einer methodologisch äußerst fragwürdigen Aktion miteinander kombiniert hätte. An diesen Vorgang ist zunächst zu erinnern, bevor abschließend die aktuellen Konsequenzen erörtert werden können. 1. Mit seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch von 1975 verwarf das Bundesverfassungsgericht die sog. Fristenlösung unter Berufung auf „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG“68. Was da genau, wie und zu welchem Zweck „verbunden“ wurde, blieb offen. Ein gewisses Vorbild hatte diese Kombinationstechnik in vergleichbaren Wendungen der Zivilgerichte, die damit das sog. allgemeine Persönlichkeitsrecht begründet hatten. Dabei war es um die Anerkennung eines vom Urheberrecht unabhängigen Persönlichkeitsschutzes gegangen, wie er in der Literatur längst gefordert war. Der BGH gab diesen Anspruch – so seine Diktion – „aus Art 1, 2 GG“69, d. h. wegen des verfassungsrechtlich gleich doppelt und damit besonders nachdrücklich gebotenen Schutzes der Persönlichkeit und damit auch ihrer Privatsphäre70. Im Fall des Schwanger67 So noch ganz selbstverständlich lapidar Andreas Hamann, Das Grundgesetz, 1. Aufl. 1956, Erl. 2 C zu Art. 1: Für den Schutz des nasciturus komme nicht Art. 1, sondern nur Art. 2 Abs. 2 in Betracht. 68 BVerfGE 39, 1 (51). 69 BGHZ 13, 334 / 334, 338. 70 Grundlegend Heinrich Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht (1955), 2. Aufl. 1967.

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schaftsabbruchs stand nicht die Schließung einer von der Wissenschaft monierten Lücke des Persönlichkeitsschutzes zur Diskussion, sondern die Grenzziehung zwischen Persönlichkeitsrecht und Lebensschutz – genauer: die Ausdehnung des Lebensschutzes zu Lasten des Persönlichkeitsschutzes. Mit dem Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GG sollte dem sozusagen natürlichen Übergewicht der Grundrechtsposition der Frau über das ungeborene Leben in seiner unfertigen Entwicklung begegnet werden. Anders gesagt: Es ging um eine Aufwertung des Lebens des nasciturus. Die Rechtssubjektivität eines geborenen Menschen konnte man ihm nicht zusprechen, ohne ein juristisches Chaos anzurichten. Also versuchte das Gericht, die juristische Frage der Rechtssubjektivität durch die Beschwörung der Heiligkeit des menschlichen Lebens zu überspielen: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“71. Unausgesprochene Schlussfolgerung: Wo Menschenwürde, da Lebensschutz. In seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch von 1993 wurde das Bundesverfassungsgericht dann auch deutlicher. Es kehrte die Reihenfolge der Grundrechte-Kombination einfach um. Nun wurde nicht mehr Art. 2 Abs. 2 Satz 1 mit Art. 1 Abs. 1 GG, sondern Art. 1 Abs. 1 mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbunden. D. h.: Für die vorrangige und unbedingte Pflicht des Staates, die Menschenwürde als solche zu schützen, folgten Gegenstand und Maß des Schutzes angeblich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG72. Das Lebensrecht wird hier also ausdrücklich aus der Würdeschutzpflicht abgeleitet73, was nichts anderes bedeutet, als dass das Subjekt der Würde: „der Mensch“ in einem merkwürdigen Biologismus unter der Hand durch das Subjekt: „das menschliche Leben“ ersetzt wird. Das Ergebnis war – Logik hin oder her – die Erfindung eines weiteren, zweiten „Höchstwertes“ der Verfassung, nämlich des menschlichen Lebens, ohne Rücksicht auf dessen Person- oder Subjektqualität und ohne Rücksicht auf den Ge71 BVerfGE 39, 1 (39). Kritik des species-Arguments bei Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 2002, S. 131 ff.; Werner Heun, Gattungszugehörigkeit oder Personsein als Anknüpfungspunkt der Menschenrechte, in: Menschenrechte und Bioethik, 2004, S. 24 ff. 72 BVerfGE 88, 203 (251). 73 Ebd. S. 252.

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setzesvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG74. Damit kam man – und das war eine politische Notwendigkeit – allen Gegnern der Abtreibung durch Grundsatzerklärungen wenigstens symbolisch entgegen: Abtreibung ist Unrecht, wenn auch nicht notwendig strafbar; jedenfalls gibt es keine Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Politisch war die Operation denn auch erfolgreich, dogmatisch freilich eher eine Katastrophe. Denn danach hätte die Abtreibung nur bei medizinischer Indikation (d. h. bei Gefahr für das Leben der Mutter) zugelassen werden dürfen, während der Schwangerschaftsabbruch gemäß dem Beratungskonzept sowie bei eugenischer, ethischer und sozialer Indikation zu verbieten gewesen wäre. So aber darf der Embryo bis zur zwölften Schwangerschaftswoche nach Beratung abgetrieben werden, die Zygote hingegen absoluten, uneingeschränkten Würdeschutz beanspruchen, der sie andererseits jedoch nicht davor bewahrt, nidationshemmenden Mitteln zum Opfer zu fallen, die ihrerseits jedoch rechtmäßig hergestellt, vertrieben und angewendet werden dürfen (§ 219 StGB). Angelpunkt der verfassungsrechtlichen Judikatur zum Schwangerschaftsabbruch ist ein naturalistischer Fehlschluss vom Sein auf Sollen75: von der Existenz menschlichen Lebens auf den Achtungsanspruch und das bei gleichzeitiger Eliminierung des individuellen grundrechtlichen Subjekts des Achtungsanspruchs und des Rechts auf Leben. Außerdem droht der Schutzbereich der fraglichen Grundrechtskombination ins Absurde zu wachsen. Zwar hat das Gericht leicht einschränkend hinzugesetzt, seine Sentenz gelte „jedenfalls“ für die Zeit nach der Nidation, d. h. nach der Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutterschleimhaut spätestens 14 Tage nach der Befruchtung76. Aber sind nicht auch all die (diploiden) menschlichen Gewebsproben, die in Kliniken und Labors zu diagnostischen Zwecken in Nährlösungen schwimmen und selbst die unbefruchteten Eizellen und die Spermien artspezifisches „menschliches Leben“? Was sollten sie 74 Dazu Helmuth Schulze-Fielitz, in: Grundgesetz-Kommentar, hg. v. Horst Dreier, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 2 II Rn. 21, 27. 75 Dazu Neumann, Tyrannei der Würde (Fn. 63), S. 158 f.; Merkel (Fn. 71), S. 131 ff. 76 BVerfGE 39, 1 (37).

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denn sonst sein: Etwas Tierisches, etwas Pflanzliches oder tote Materie? In der zweiten der zitierten Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht jene kleine Einschränkung wiederholt, zugleich aber den allgemeineren Satz aufgestellt, dass das menschliche Leben sich von seiner individuellen genetischen Bestimmung an nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickle77. 2. Diesem bedeutungsschweren Satz möchte ich meine methodologische Schlussbemerkung widmen. Denn ohne die mindeste Problematisierung ergreift das Bundesverfassungsgericht damit in einem naturphilosophischen Streit Partei, der das Abendland in verschiedenen Versionen seit der Antike beschäftigt. Dabei übergehe ich die Frage, wie das Gericht diese Entwicklung als Mensch sieht, wenn genetisch individuell bestimmtes menschliches Leben infolge von Entwicklungsstörungen als nicht lebensfähige Missgeburt endet. Degeneration als Mensch? Oder doch eher: fehlgeschlagene Entwicklung zum Menschen? Weder die Antike noch das mittelalterliche weltliche Recht kennen ein allgemeines Abtreibungsverbot78. Folglich kam dem Fetus keine eigene Rechtsstellung zu. Rechtsfolgen hatte die Abtreibung nur, wenn sie zum Tod der Schwangeren führte, gegen den Willen des Vaters erfolgte und damit die väterliche Gewalt verletzte oder mit Giftmischerei verbunden war79. Eine grundsätzliche Änderung dieser Einstellung rührt von der Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische her. Das Werk der angeblich 70 Übersetzer, daher Septuaginta genannt, war nicht nur eine philologische Übertragung, sondern bewirkte darüber hinaus eine Hellenisierung des Textes im Ganzen80. Vielleicht war es so die Lehre des Aristoteles, des führenden Wissenschaftlers dieser Zeit und dieser Welt, die neben der Schöpfungsgeschichte von der Gottesebenbildlichkeit Anlass gegeben hat, die überlieferte Fassung von 2. Mose 21, 22 – 23 zu verändern. In Luthers Übersetzung lautet die ursprüngliche Fassung: BVerfGE 88, 203 (251 f.). Dazu Günter Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn – Kulturgeschichte des Abtreibungsverbots, 1988, S. 20 ff., 62 ff. 79 Dazu Robert Jütte, Griechenland und Rom, in: ders. (Hrsg.), Geschichte der Abtreibung, 1993, S. 27 ff. (29 ff., 35 ff.). 80 Dazu Martin Rösel, Übersetzung als Vollendung der Auslegung – Studien zur Genesis-Septuaginta, 1994. 77 78

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„Wenn Männer hadern und verletzen ein schwangeres Weib, dass ihr die Frucht abgeht, und ihr kein Schade widerfährt, so soll man ihn um Geld strafen, wie viel des Weibes Mann ihm auferlegt, und er soll’s geben nach der Schiedsrichter Erkennen. Kommt ihr aber ein Schade daraus, so soll er lassen Seele um Seele.“

Nach der Septuaginta aber greift das ius talionis nicht nur, wenn die Schwangere zu Tode kommt, sondern bereits dann, wenn der abgetriebene Fetus menschliche Züge aufweist (paidion exeikonismenon), während es sonst (für das paidion mä exeikonismenon) beim Schadensersatz bleibt81. Damit wird der Embryo selbst zum ersten Mal Schutzgut, und zugleich das Urmuster aller im Einzelnen sehr unterschiedlichen „Fristenlösungen“ inauguriert. Das entspricht der Aristotelischen Lehre von der „Sukzessivbeseelung“. Sie besagt, dass gemäß dem langsamen Aufbau aller organischen Komplexe auch das Wesen des Menschen, seine Seele, d. i. die Form des Leibes, sich nicht sofort bei der Befruchtung auspräge. Vielmehr erfolge die Formung oder Beseelung des Embryos 40 oder 90 Tage später, je nachdem, ob es sich um einen männlichen oder weiblichen Fetus handelt. Und dieser Vorgang ist als sozusagen stufenweise Ausbildung von vegetativer, animalischer und geistiger Struktur der einen Seele gedacht82 – verkürzt und vergröbernd „Drei-Seelen-Lehre“ genannt. Die Auffassung, dass der Embryo erst im Verlauf seiner Entwicklung zum Menschen heranreife, bestimmte auch die von Augustin und Thomas von Aquin geprägte mittelalterliche Tradition. Aristoteles folgend lehrt Thomas von Aquin: embrio antequam habeat animam rationalem non est ens perfectum83. Jerouschek, Lebensschutz (Fn. 78), S. 28 ff. Dazu Erna Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken, 1950, S. 1358 ff., 1365 ff.; Fernando Inciarte, Der Begriff der Seele in der Philosophie des Aristoteles, in: Seele, hg. v. Klaus Kremer, 1984, S. 46 ff. (48, 53 ff.). 83 Thomas von Aquin, Quaestiones Disputatae de potentia qu. 3 a. 3. Dazu Heinrich Cassirer, Aristoteles’ Schrift „Von der Seele“ und ihre Stellung innerhalb der aristotelischen Philosophie, 1932, S. 26 ff., 57 ff., 192 f.; Albert Mitterer, Die Zeugung der Organismen, insbesondere des Menschen, nach dem Weltbild des Hl. Thomas von Aquin und dem der Gegenwart, 1947, S. 169 f.; Johannes Hirschberger, Seele und Leib in der Spätantike, 1969, S. 9 f.; Johannes Mundhenk, Die Seele im System des 81 82

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Hier gründet die kanonische Rechtstradition84 und ihr folgt mit maßgeblicher Wirkung nun auch für das weltliche Recht Kaiser Karls V. peinliche Gerichtsordnung von 1532. Deren Art. 133 stellt alle Abtreibungen unter Strafe, unterscheidet aber im Sinne der Tradition, ob „eyn lebendig kindt“ oder „eyn kind, das noch nit lebendig wer“, abgetrieben wurde, und bedroht nur den erstgenannten Fall mit der Todesstrafe85. Es gab allerdings von Anfang an einen geistigen Kontrapunkt. Für ihn steht der älteste lateinische Kirchenschriftsteller: Tertullian. Gegen die Gnostiker betonte er die Bedeutung des Körperlichen. Daher behauptet er in seiner Schrift De anima auch die Körperlichkeit der Seele in der Gestalt des Leibes. Die Seele, heißt es, werde zusammen mit dem Leib „empfangen, ausgebildet, vollendet“86. Diese keineswegs spezifisch christliche Vorstellung, dass der Organismus aus seiner im Keim bereits fertigen verkleinerten Form erwächst, geht nach dem Zeugnis des Aristoteles auf Anaxagoras zurück87. Mikroskopische Entdeckungen und mechanistisches Denken brachten sie im 17. Jahrhundert zur Blüte. Leibniz prägte dafür den Begriff der Präformation und unterstrich deren Bedeutung für die mechanische Deutung der organischen Entwicklungen88. Dabei gingen die Animalkulisten von einem kleiThomas von Aquin, 1980, S. 68 ff., 76 ff.; Wolfgang Kluxen, Seele und Unsterblichkeit bei Thomas von Aquin, in: Seele (Fn. 82), S. 66 ff. (76 ff.); Jerouschek, Lebensschutz (Fn. 78), S. 14 ff. 84 Dazu Günter Jerouschek, Mittelalter – Antikes Erbe, weltliche Gesetzgebung und kanonisches Recht, in: Geschichte der Abtreibung, hg. v. Robert Jütte, 1993, S. 44 f. (58 ff.). Hierzu und zum Folgenden mit reichem Material auch schon Eduard Ritter von Liszt, Die kriminelle Fruchtabtreibung, II. Bd., Zürich 1911, S. 354 ff. S. 385 kam der k.u.k. Bezirksrichter zu dem Schluss: „Jedenfalls ist ernstlich der Embryo nicht als Mensch anzusehen bis zu einem gewissen Grade seiner Entwicklung.“ 85 Vor Gericht sind wohl nur wenige Abtreibungsfälle verhandelt worden; Todesurteile gab es offenbar nicht. Die größten Schwierigkeiten bereitete die Fristbestimmung für die Annahme eines „lebendigen Kindes“. Dazu Jerouschek, Lebensschutz (Fn. 78), S. 7 ff., 141 f.; ders., Mittelalter (Fn. 84), S. 58 ff. 86 Tertullian, De anima 27, 1. Zit. nach der Ausg. v. J. H. Waszink, Amsterdam 1947, S. 38. Dazu Gerhard Esser, Die Seelenlehre Tertullians, 1893, S. 65 ff., 219 ff. 87 Dazu Lesky (Fn. 82), S. 1275 ff.

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nen Menschlein im Spermium, die Ovulisten von einem solchen in der Eizelle aus. Verbesserte Beobachtungsmöglichkeiten führten ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Ablösung durch die Theorie der Epigenesis, wonach sich ein Organismus allmählich durch Neubildungen aus Ungeformtem entwickelt. Bahnbrechend wirkte ein Buch des von Goethe hochgeschätzten Mediziners Caspar Friedrich Wolff: Theorie von Generation, 176489. Das bedeutete allerdings keine Rückkehr zur Lehre von der Sukzessivbeseelung im Sinne der „Drei-Seelen-Lehre“, die damals längst als widerlegt galt. Wohl aber verhalfen die Epigenetiker der aristotelischen Grundidee der Unterscheidung vom ungeformten und dem daraus erwachsenden geformten Leben, dieser generalissima Aristotelis veritas, wie Wolff in seiner Dissertation geschrieben hatte90, neuerlich zur Geltung. Dafür waren die wissenschaftlich in Rückstand geratenen Präformisten nun im kirchlichen Strafrecht erfolgreich. Hatte die Verschärfung des Abtreibungsverbots durch Nichtberücksichtigung des Beseeltheitszustands des Embryos 1588 durch Sixtus V. unter dem Druck der uralten und mächtigen Tradition schon drei Jahre später wieder der Fristenlösung weichen müssen, so war Pius IX. mit der Rückkehr zur Position Sixtus’ V. 1869 dauerhaft erfolgreich91. Seiner Lehre folgte ohne erkennbare Reflexion 1993 auch das Bundesverfassungsgericht, jedenfalls in seinen theoretischen Grundsätzen92. 88 Siehe Hermann Schlüter, Art. Präformation, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter (y) u. Karlfried Gründer, Bd. 7, 1989, Sp. 1233 f. 89 Zusammen mit Wolffs Dissertation: Theoria generationis, Halle 1759, nachgedr. mit einer Einführung von Robert Herrlinger, 1966. Dazu Tadeusz Bilikiewicz, Die Embryologie im Zeitalter des Barock und des Rokoko, 1932, S. 149 ff. 90 C. F. Wolff, Diss. § 232, Nachdr. (Fn. 89), S. 106. 91 Dazu Jerouschek, Lebensschutz (Fn. 78), S. 200 ff., 202 ff. Zeitgenössische wissenschaftliche Verteidigung der Epigenese gegen den Versuch der Erneuerung der Präformation bei Oscar Hertwig, Zeit- und Streitfragen der Biologie, Heft 1. Präformation oder Epigenese?, 1894. 92 Darauf hat schon Richard Schröder aufmerksam gemacht: Der Status menschlicher Embryonen vor Beginn der Schwangerschaft, in: Menschliches Leben – was ist das?, hg. v. Adolf Arndt–Kreis, 2004, S. 33 ff. (35).

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Selbstverständlich argumentieren die modernen Präformisten heute molekularbiologisch. Die These, dass Menschenwürde und Lebensrecht bereits der befruchteten Eizelle zukämen, wird im Wesentlichen auf vier Gründe gestützt93. 1. Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle liege die genetische Identität des Individuums unveränderlich fest (Identitätsargument). 2. In der befruchteten Eizelle sei die Möglichkeit der Fortentwicklung zum lebensfähigen Menschen angelegt (Potentialitätsargument). 3. Zwischen Befruchtung der Eizelle und Geburt des Menschen finde ein kontinuierliches Wachstum statt (Kontinuitätsargument). 4. Es gebe in der vorgeburtlichen Entwicklung des menschlichen Lebens keinen zweiten vergleichbar markanten Punkt (Zäsurargument). Wissenschaftlich ist diese Argumentation schwerlich haltbar94. Das Identitätsargument ist falsch, weil die Naturwissenschaftler sagen, dass die individuelle genetische Identität erst mit dem 16-Zellen-Stadium („Morula“) festliege und die Mehrlingsbildung erst mit der Ausbildung des Primitivstreifens etwa am 13. und 14. Tag nach der Befruchtung ausgeschlossen ist. Erst jetzt handelt es sich um ein genetisch einzigartiges Leben. Außerdem ist genetische Identität nicht gleichbedeutend mit Identität. Anderenfalls 93 Die Lit. zu der nachfolgend angesprochenen Problematik ist mittlerweile unübersehbar. Statt detaillierter Nachweise im Einzelnen sei hier auf die zusammenfassende, reich belegte Übersicht bei Horst Dreier verwiesen, in: Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl., hg. v. dems., Bd. I, 2004 Rn. 83 – 85 zu Art. 1 I. Siehe auch ders., Grenzen des Tötungsverbots, in: Die Zehn Gebote, hg. v. Hans Joas, 2006, S. 65 ff. (79 ff.). Aus der neuesten Lit. treffend Karsten Klopfer, Verfassungsrechtliche Probleme der Forschung an humanen pluripotenten embryonalen Stammzellen und ihre Würdigung im Stammzellgesetz, 2006, S. 66 f., 73 ff. 94 Detaillierte Widerlegung bei Merkel (Fn. 71), S. 157 ff. u. Werner Heun, Menschenwürde und Lebensrecht als Maßstäbe für PID?, in: Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, hg. v. Annemarie Gethmann-Siefert u. Stefan Juster, 2005, S. 69 ff. (79 ff.): s. auch Dieter Birnbacher, Menschenwürde und Lebensrecht als Maßstäbe für PGD?, ebd. S. 10 ff. (33 f.).

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wären eineiige Zwillinge nur eine einzige Person und würde das Hühnerei ab Befruchtung dem Tierschutz unterfallen. Was das Potentialitäts- und das Kontinuitätsargument betrifft, so begnüge ich mich damit, die einschlägigen Feststellungen von Christiane Nüsslein-Volhard wiederzugeben: „Die Zygote hat lediglich das Potential, eine Blastozyste zu bilden, die aus der Eihülle schlüpfen muss, um mit der Einnistung das nächste Stadium der Entwicklung zu beginnen. Biologisch gesehen gibt es nichts Diskontinuierlicheres in einer Entwicklung als einen solchen Vorgang, bei der sich der Embryo in direkten zellulären Kontakt mit einem anderen Organismus begibt.“95 Insofern besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen der befruchteten Eizelle und dem befruchteten Hühnerei, das tatsächlich alles, was zur Entwicklung nötig ist, enthält. Schließlich ist auch das Zäsurargument nicht zu halten. Markanter als alles andere erscheint der Zeitpunkt der Nidation, wenn man bedenkt, dass nur etwa 30% der Zygoten diesen „Sprung“ schaffen. Ca. 70% gehen bekanntlich unbemerkt auf natürliche Weise ab. Nebenbei: Das Zäsurargument erinnert an das Sorites-Paradox96. Es geht auf Zenon von Elea zurück und lässt sich in die Frage fassen: Mit dem wievielten Sandkorn entsteht beim Häufeln ein Sandhaufen? Mit dem 3., dem 200., dem 10000. Sandkorn? Sollen wir wegen dieser Schwierigkeit sicherheitshalber schon das erste Sandkorn als Sandhaufen ansprechen? Nach alledem plädiere ich dafür, Lebensschutz und Würdeschutz wieder zu entkoppeln, Art. 1 Abs. 1 GG aus der Rolle einer Hilfsnorm des Lebensschutzes zu befreien und ihm die Würde der unantastbaren Gründungsnorm unseres Staatswesens wiederzugeben. Ein vollständiger Verlust des verfassungsrechtlichen Schutzes für das ungeborene Leben wäre damit nicht verbunden97. Denn je95 Zit. nach Dreier, Grundgesetz-Kommentar (Fn. 93), Rn. 85 Anm. 275. 96 Hinweis bei Dreier ebd. Rn. 85 zu Art. I. 97 Hierzu und zum Folgenden Neumann, Tyrannei (Fn. 63), S. 159 f.; Horst Dreier, Stufungen des vorgeburtlichen Lebensschutzes, in: ZRP 2002, S. 377 ff.; Merkel (Fn. 71), S. 171 ff.; Kurt Seelmann, Haben Embryonen Menschenwürde? in: Biomedizin und Menschenwürde, hg. v. Matthias Kattner, 2004 S. 63 ff. (76); Eric Hilgendorf, Stufungen des vorgeburtlichen Lebens- und Würdeschutzes, in: Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik (N 94), S. 115 ff.; Thomas Gutmann, Recht-

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denfalls kommt der Lebensschutzgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen und im Einklang mit einer jahrhundertealten kulturellen Tradition eine (abgestufte) Vorwirkung auf das vorgeburtliche Leben zu. Die maßgeblichen Argumente sind: Orientierungssicherheit, Normenschutz und Solidarität98. Mit der zeitlichen Differenzierung dieses Schutzes hatte jene Tradition immer ihre Schwierigkeit, seit die 70 Übersetzer des Alten Testaments zwischen einem ausgebildeten und einem nicht ausgebildeten Fetus unterschieden. Die Nidation ist ein feststellbarer plausibler Zeitpunkt, weil sie die Entwicklungschancen sprunghaft erhöht und derart signifikant erhöhte Entwicklungschancen gesellschaftliche Interessen an der Schutzgewährung auslösen99, noch bevor ab der 13. Woche mit Wahrnehmung und Annahme als Person die Stufe personalen menschlichen Lebens erreicht wird100, das dann mit der Geburt öffentlich wird und in die durch das Grundgesetz nach dem Prinzip gleicher Würde eines jeden Menschen verfassten Anerkennungsgemeinschaft eintritt101. liche und rechtsphilosophische Fragen der Präimplantationsdiagnostik, ebd., S. 131 ff. (142 ff., 149 ff., 155 ff.). 98 Dazu näher Merkel (Fn. 71), S. 143 ff., 186. 99 Dazu Klopfer (Fn. 93), S. 78, 103. Christoph Enders, Freiheit als Prinzip rechtlicher Ordnung – nach dem Grundgesetz und im Verhältnis zwischen den Staaten, in: Freiheit und Menschenwürde, hg. v. Dierksen u. Scheliha (Fn. 33), S. 295 ff. (317). 100 Dazu Bernhard Schlink, Aktuelle Fragen des pränatalen Lebensschutzes, 2002, S. 14 f. 101 Dazu Volker Gerhardt, Der Mensch wird geboren, in: Die biologische Machbarkeit des Menschen, hg. v. Christof Gestrich, 2001, S. 150 ff. (152 ff.); Schröder (Fn. 92), S 39 ff.; Enders, Kants Recht (Fn. 48), S. 71 ff. – Nur wer den fundamentalen Unterschied zwischen dem Menschen und ungeborenem menschlichen Leben einebnet, kann in gegensätzlichen Aussagen über ungeborenes Leben (nicht kommunikationsfähig, nicht Mitglied der Anerkennungsgemeinschaft, keine Menschenwürde) und den geborenen Menschen (hat, durch die Geburt in die Anerkennungsgemeinschaft aufgenommen, auch dann Menschenwürde, wenn ihm im Einzelfall die Kommunikationsfähigkeit fehlt [es sei denn dieses Fehlen ist gleichbedeutend mit Lebensunfähigkeit]) einen unauflöslichen Widerspruch sehen: so Isensee (Fn. 3), S. 196 N 126, wohl auch Lembcke, Menschenwürde (Fn. 61), S. 58. Instruktiv die Herausarbeitung des elementaren Unterschieds zwischen Anenzephalie und irreversibler Bewusstlosigkeit bei Merkel (Fn. 71), S. 146 ff.

Über die Flexibilisierung staatlichen Handelns Von Michael Kloepfer, Berlin I. Themenfeld 1. Ist Deutschland heute noch flexibel genug? Jedenfalls in der neoliberalen Sicht ist Deutschland ein angeblich in Besitzständen erstarrtes politisches System, motivations-, leistungs- und letztlich auch zeugungsunwillig. Ein Ruck müsse durch das Land gehen, forderte Bundespräsident Herzog,1 und Bundespräsident Köhler hat die im Jahre 2005 inszenierte Auflösung des Bundestages maßgeblich mit der Notwendigkeit von grundlegenden Reformen begründet.2 Kann Flexibilität diese behauptete Staatsstarre überwinden? Aber was ist genau Flexibilität und gibt es nicht längst genügend Flexibilität? 2. Die Erscheinungsformen flexiblen Staatshandelns sind eben so vielfältig wie die Bezeichnung eben dieses Handelns. Im Verwaltungsrecht wird etwa von schlichtem Verwaltungshandeln, von Realakten, von indirekten Steuerungsformen, von Anreizinstrumenten und ganz allgemein von informellem Staatshandeln3 gesprochen. Diese Begriffe bezeichnen nicht völlig deckungsgleiche, wohl aber in Kernzonen sich überschneidende Handlungs1 Roman Herzog, Berliner Rede 1997 – Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog im Hotel Adlon am 26. April 1997, abrufbar unter . 2 Horst Köhler, Fernsehansprache vom 21. 07. 2005, abrufbar unter . 3 Siehe dazu etwa Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 348 ff.; Schoch, in: Isensee / Kirchhof, HStR III, § 37; Herdegen und Morlok, VVDStRL 62 (2003), S. 7 ff., 37 ff.

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und Instrumentenbereiche. Das klassische Instrumentarium des imperativ, einseitig-verbindlichen Handelns des Staates (Verwaltungsakt, Urteil, Gesetz) wird zunehmend durch indirekte Steuerungsformen ergänzt oder in einigen Bereichen sogar verdrängt.4 Der Staat arbeitet hier insbesondere mit positiven oder negativen ökonomischen Anreizen (ökonomische Instrumente)5 sowie Warnungen und Empfehlungen (informationelle Instrumente)6. Seine Bemühungen um konsensorientierte Regelungen7 haben durch konsensuale Instrumente zu informellen Gesamtpakten zwischen Staat und Wirtschaft, zu Normvermeidungen, wie normvollziehender Absprachen, zu paktierten Gesetzen8 (z. B. Atomausstiegsgesetz) und zu ausgehandelten Verwaltungsakten, aber auch zu Absprachen im Strafprozess9 geführt. Diese Erscheinungen scheinen sich politisch gut einzureihen in die populären Forderungen nach weniger Bürokratie, weniger Staat, mehr Mitbestimmung der Bürger und eben mehr Flexibilität des Staates. Angesichts einer prinzipiellen Formfreiheit dieser Handlungsformen kann insoweit auch von einer Flexibilisierung durch Entformalisierung gesprochen werden.10 3. Die Flexibilität des Rechts scheint so wie eine Kampfansage an die Sentenz von Carl Schmitt: „Das Beste in der Welt ist ein Befehl.“11 Und in der Tat scheint durch diesen Abschied vom Be4 Insofern wird der „kooperative Staat“ auch als Gegenbild zu dem einseitig regulierenden, hoheitlichen Staat bezeichnet, vgl. Neumann, VSSR 1992, S. 119 (129); Becker, Der Staat 44 (2005), S. 432 (435). Vgl. auch Schulze-Fielitz, in: Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 11 (22). 5 S.u. Fn. 29 – 30. 6 Vgl. Kloepfer, Informationsrecht, § 10 Rn. 78 ff. 7 Zum konsensualen Verwaltungshandeln Schmidt-Aßmann, a. a. O., S. 351 ff. Das Bundesverfassungsgericht benutzte zuletzt den Oberbegriff des informalen Handelns, vgl. BVerfGE 104, 249 (266). 8 S. dazu zuletzt Reicherzer, Authentische Gesetzgebung, 2005. 9 Vgl. dazu etwa Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, 1986, Rn. 72 ff.; Schünemann, in: FS Rieß, 2002, S. 525 ff. Zum Versuch, die bisher weitestgehend gesetzlich nicht geregelten Absprachen einer Normierung zu unterziehen vgl. den Gesetzesentwurf des Landes Niedersachen, BR-Drs. 235 / 06. 10 Vgl. nur Schoch, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, 3. Aufl. 2005, § 37.

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fehl die Klarheit der rechtsstaatlichen Abwehrkonstruktionen bei flexiblen Instrumenten in Gefahr. Bei diesen wird die Prüfungsabfolge: Befehl – Befehlsbegrenzung durch Grundrechte – Begrenzungsüberprüfung durch Gerichte nahezu ausgehebelt. 4. Flexibles staatliches Handeln ist ohne seine unterschiedlichen Voraussetzungen nicht zu verstehen. Flexibles Staatshandeln hat nicht nur rechtliche Vorbedingungen, z. B. Abwesenheit zwingender Formvorschriften, sondern insbesondere auch mentale, politische, wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen unterschiedlicher Art.12 Rechtliche Rahmenbedingungen können die Entfaltung von Flexibilitätsinteressen stark einschränken, aber umgekehrt auch erst ermöglichen (z. B. Regelungen über nachträgliche Anordnungen). Zu den mentalen und politischen Voraussetzungen gehört insbesondere das aktuelle politische Klima mit den Forderungen nach Bürokratieabbau, Rechtsbereinigung und mehr Bürgerbeteiligung. Ökonomische Forderungen nach möglichst kostengünstigen, effizienten Strategien staatlicher Aufgabenerfüllung oder allgemein nach der Ökonomisierung der Welt befördern die Anwendung flexibler, vor allem ökonomischer Instrumente mit ihren relativ schnellen Reaktionsmöglichkeiten auf individuelle Kostenstrukturen, um auf diese Weise eine erhöhte Effizienz zu erreichen. In eine ökonomische Welt scheinen diese ökonomischen Instrumente perfekt zu passen. 5. Das internationale Recht (wie das europäische Recht s. u. 6.) hat seit jeher eine besondere Affinität zu flexiblen Instrumenten. Dem kann hier aus Raumgründen nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Nur soviel: Das soft law13, d. h. in der internationalen Zusammenarbeit vor allem Verständigungen und Konsense 11 Carl Schmitt, Glossarium, S. 274. Die unmittelbare Zielrichtung ist freilich eine andere, wie aus dem Gesamtzitat zu entnehmen ist: „Das Beste auf der Welt ist ein Befehl und kein Gesetz; der Befehl ist direkte Sprache; das Gesetz generell, d. h. indirekt.“ 12 So wie auch die klassischen Steuerungsinstrumente des Rechtsstaates unter bestimmten tatsächlichen Voraussetzungen stehen, vgl. Ritter, in: Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 69 (70 f.); Ritter, AöR 104 (1979), 389 (390 f.). 13 Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 11. Auf. 2005, Rn. 32; Herdegen, Völkerrecht, 3. Aufl. 2004, S. 149 ff.; Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, S. 250; Hillgenberg, ZEuS 1998, S. 81 ff.

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ohne Rechtsbindungswillen, hat vor allem im Völkerrecht frühzeitig Beachtung gefunden, bevor es – jedenfalls unter diesem Namen – auch in den nationalen Rechtsordnungen thematisiert wurde.14 Insoweit scheinen flexible Instrumente in besonderer Weise dem Wesen der internationalen Zusammenarbeit mit ihren häufig vagen und feinabgestuften Konsensen zu entsprechen. Hinzu mag nicht selten der Wille treten, mit den „leichten“ informellen Handlungsformen die schwerfälligen und aufwändigen Instrumente der völkerrechtlichen Verträge mit der Notwendigkeit der Transformation,15 also insbesondere der innerstaatlichen „Ratifikations“-Gesetzgebung, zu unterlaufen. Jedenfalls ist die politische Bedeutung des soft law und anderer Handlungsformen ohne Rechtsbindung16 in der internationalen Zusammenarbeit beträchtlich.17 6. Seinem völkerrechtlichen Ursprung entsprechend ist auch das Europäische Gemeinschaftsrecht eine Fundgrube für flexible Instrumente. Das bezieht sich insbesondere auf die vielfältigen vorsichtigen Versuche des vor allem kompetentiellen Ausbaus der Gemeinschaft wie vor allem aber auch auf die – wie selbstverständlich – erfolgende Aufzählung der Empfehlungen und Stellungnahmen in Art. 249 Abs. 5 EG18 (bzw. in den Vorläuferregelungen). Trotz der im Primärrecht ausdrücklich erfolgten Festlegung auf rechtliche Unverbindlichkeit dieser Handlungsformen beginnt das Gemeinschaftsrecht inzwischen punktuelle 14 Vgl. etwa Ermacora, FS Geiger, 1989, S. 145 ff.; Drobnig, FS MPI Privatrecht, 2001, S. 745 ff. 15 Die zumindest dort besteht, wo nicht der strengen monistischen Theorie zum Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht gilt, die einen Umsetzungsakt überflüssig macht. 16 Z. B. Gentlemen’s agreements, s. dazu Herdegen, 3. Aufl. 2004, S. 118, oder Beschlüsse internationaler Organisationen wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen v. 10. 12. 1948; zu völkerrechtlichen „Standards“ vgl. Vitzthum, Völkerrecht, S. 83. 17 Einen Paradefall stellt wohl die KSZE-Akte dar, vgl. nur Streinz, in: Sachs, GG, Art. 25 Rn. 22. 18 Siehe dazu näher etwa Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 472 mit dem richtigen Hinweis auf die rechtliche Verbindlichkeit von Protokollerklärungen bei Primärrechtsänderungen. Vgl. auch Hailbronner / Jochum, Europarecht I, 2005, Rn. 559 ff.

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rechtliche Erheblichkeit von Empfehlungen und Stellungnahmen auszubilden (vgl. etwa Art. 97 Abs. 2, 226 Abs. 1 EG). Es dürfte dabei einem allgemeinen Trend entsprechen, dass informelle Instrumente bei rechtsstaatlicher Eingebundenheit langfristig Tendenzen zur Formalisierung und zur Herausbildung echter Rechtsfolgen zeigen. Dies zeigt sich etwa auch an den im Rahmen der Europäischen Union als Rechtsakte existierenden Gemeinsamen Standpunkten. Diese sind gem. Art. 15 EU im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und gem. Art. 34 Abs. 1 lit. a EU für die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen vorgesehen. Ihre Rechtsverbindlichkeit ist jedoch nach wie vor umstritten,19 weshalb zumindest für die Maßnahmen nach Art. 34 Abs. 2 lit. a – c EU durch die Amsterdamer Fassung des Vertrages die Verbindlichkeit festgelegt wurde. 7. Die moderne, wenn nicht sogar bisweilen modische Diskussion um good governance20 hat den flexiblen Instrumenten einen erheblichen zusätzlichen Bedeutungsschub verliehen. Sie kann in ihrer Fixierung auf regelmäßig nicht rechtsverbindliche Maximen guten Staatshandelns selbst als flexibles Steuerungsinstrumentarium begriffen werden. Diese vor allem von der Exekutive21 induzierten Steuerungskonzepte gehen von vornherein weit über verbindliche Handlungsinstrumente hinaus und weiten so den Blick insbesondere auch auf rechtlich nicht verbindliche Steuerungsformen, d. h. eben gerade auch auf informelle Handlungsformen. Bei dieser Weite des Blickfelds besteht allerdings die Gefahr, dass die Einzigartigkeit von Recht entscheidend relativiert oder gar aus den Augen verloren wird. Es wird leicht zur bloßen Handlungsmaxime – neben anderen Handlungsmaximen „gute Gesetzgebung“. Die Flexibilisierung des Rechts ist somit auch eine Kon19 Vgl. Böse, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 34 EUV, Rn. 5; Brechmann, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 34 EUV, Rn. 6. 20 Vgl. statt vieler Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung, 2005; Magiera / Sommermann, Verwaltung und Governance, 2002, sowie jüngst Goerlich, DÖV 2006, S. 313 ff. 21 Zu den von der EU-Kommission und den von der OECD erarbeiteten Leitlinien für „gutes“ Regieren bzw. Verwalten (good governance / public governance) s. .

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sequenz aus dem Funktionsverlust des Rechts als Steuerungsinstrument. Die Flexibilisierung reagiert einerseits in gewisser Weise auf diesen Funktionsverlust des Rechts, treibt ihn aber andererseits gleichzeitig auch voran. 8. Mit dieser Einbeziehung des Ansatzes der good governance bei der Erörterung flexiblen Staatshandelns wird deutlich, dass bei der Frage nach der Flexibilisierung der Rechtsordnung es sich nicht um einen breiten, rechtsgebietsüberschreitenden Ansatz handelt, der sich keineswegs nur im öffentlichen Recht auswirkt. Die Frage insbesondere nach der corporate governance für Wirtschaftsunternehmen22 bestätigt dies ebenso wie die kaum noch übersehbare Vielfalt wirtschafts- bzw. unternehmensbezogener Verhaltens- und Ethikcodes von Unternehmen und Unternehmensverbänden (s. u. 19).23 Im Ergebnis finden sich Flexibilisierungsansätze in nahezu allen Rechtsgebieten, insbesondere etwa im Zivilrecht, im Gesellschaftsrecht, im Arbeitsrecht, aber etwa auch im Strafrecht. Die Frage nach seiner Flexibilität scheint also dem Recht immanent zu sein und sei es auch nur um der Vergewisserung über seine Abgrenzbarkeit willen. Trotz dieser umfassenden Bedeutung von Flexibilisierungsansätzen im Recht können im Folgenden freilich nur das flexible Handeln des Staates mit seiner besonderen Bedeutung für das öffentliche Recht behandelt werden.

II. Chancen, Risiken und Strategien der Flexibilisierung 9. Der Sinn und die Vorzüge der Flexibilisierung staatlichen Handelns lassen sich unter fünf Aspekten zusammenfassen: Erstens bietet die Flexibilisierung die Möglichkeit zur verstärkten Anpassung an die Gegebenheiten von Einzelsachverhalten (Individualisierungspotential). Zweitens ermöglicht die Flexibilisierung die erleichterte Anpassung von Sachverhalten, insbesondere 22 Vgl. dazu vor allem den von der entsprechenden Regierungskommission erarbeiteten Deutschen Corporate Governance Kodex, abrufbar unter . 23 Vgl. dazu auch Hefendehl, JZ 2006, S. 119 ff.

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auch an Veränderungen der Technik und der Wissenschaft (Änderungs- und Modernisierungspotential).24 Drittens können flexible Handlungsformen auch größere Entscheidungsräume für den Betroffenen erschließen (Freiheitspotential). Dadurch kann viertens die Flexibilisierung auch die Konsensfähigkeit staatlicher Entscheidungen steigern (Akzeptanz- bzw. Konsenspotential).25 Und schließlich kann fünftens die Flexibilisierung die ökonomische Effizienz staatlicher Instrumente erhöhen (Effizienzpotential). 10. Die Risiken einer Flexibilisierung sind freilich ebenfalls von vornherein unverkennbar. Davon seien hier vier genannt: Flexibilisierung kann – erstens – zu Schwächungen der Verbindlichkeit des geltenden Rechts26 und damit verbunden – zweitens – zu Gefährdungen der Rechtssicherheit und der Berechenbarkeit staatlichen Handeln führen.27 Jedenfalls bei Übertreibungen kann flexibilisiertes Staatshandeln wesentliche Verluste für die Steuerungsfähigkeit des Rechts verursachen. Typischerweise ist Flexibilisierung – drittens – gleichheitsgefährdend, wenn und weil sie die rechtsstaatliche Allgemeinheit staatlicher Regelungen durchbricht (z. B. Vollzugsabsprachen). Nur zu leicht kann – viertens – Flexibilisierung auch die Positionen Dritter schwächen, etwa wenn sie bei informalen Verständigungen zwischen Genehmigungsbehörde und Anlagenbetreiber am Verfahren überhaupt nicht beteiligt werden. Ungezügelte Flexibilisierung des Staates kann im ungünstigsten Fall auch in Willkür enden. „Gegenwerte“ zur Flexibilisierung sind also insbesondere rechtliche Gebundenheit, Stabilität und Kontinuität, aber auch die Willkürfreiheit staatlichen Handelns und die verfahrensgerechte Drittbeteiligung. 24 In diesen Punkten gleichen die Funktionen denen der herkömmlichen Formen flexibilisierten Verwaltungshandelns in Form der Verwaltungsspielräume wie etwa dem Ermessensspielraum, dem unbestimmten Rechtsbegriff und dem Beurteilungsspielraum, vgl. Wolff / Bachof / Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, 11. Aufl. 1999, § 31 Rn. 1 ff. 25 Becker, Der Staat 44 (2005), S. 433 (440). Zu diesem Aspekt im Umweltrecht vgl. etwa Hucklenbruch, Umweltrelevante Selbstverpflichtungen – ein Instrument progressiven Umweltschutzes?, 2000, S. 88 ff. 26 So für das Umweltrecht etwa Ekardt, NuR 2005, 215 (219). 27 Vgl. Schoch, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 8.

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11. Angesichts der Chancen einerseits, aber auch der beträchtlichen Risiken flexiblen Staatshandelns andererseits kann dieses nicht von vornherein einseitig positiv oder negativ gesehen werden. Eine realistische Beurteilung wird in der Regel eher zu differenzierten Bewertungen flexibler Handlungsformen des Staates führen können. Einmal mehr liegt in der Differenzierung zwar nicht die Kraft, wohl aber die Wahrheit. Häufig wird die Abwägung zwischen Flexibilitätsinteressen (von Staat und u.U. Drittbetroffenen) und Stabilitäts- bzw. Kontinuitätsinteressen der Betroffenen sinnvoll, wenn nicht gar geboten sein. 12. Anzustreben ist deshalb keine einseitige, sondern eine optimierende Strategie bei der Flexibilisierung, d. h. die Wahrnehmung der Chancen der Flexibilisierung unter größtmöglicher Zurückdrängung ihrer Risiken. In der Realität werden damit häufig Mischkonzepte zwischen stabilitäts- und kontinuitätsbetonenden Handlungsformen einerseits und flexibilitätsbetonenden Instrumenten andererseits sinnvoll sein. Nicht selten erfolgt ein Instrumentenverbund zwischen Ordnungsrecht und flexiblen Instrumenten.28 Dies wird besonders deutlich z. B. im Nebeneinander von wasserwirtschaftlichem Bewirtschaftungsrecht und Abwasserabgaben oder etwa in der Verpackungsverordnung: Die Rücknahmepflicht nach § 6 Abs. 1, 2 VerpackV ist dort allgemeine Voraussetzung für das Funktionieren kollektiver Rücknahmesysteme. 13. Hinzu kommt die flexible Handhabung von Ordnungsrecht: So kann z. B. die effektive Wirksamkeit von Rechtsnormen bei aller Betonung der Rechtsbindung in bestimmten Fällen auch durch die Möglichkeit flexibler Anwendung faktisch gewährleistet werden. Gesetzesbruch oder flexible Handhabung heißt hier die faktische Alternative. Rechtswissenschaftlich sehr viel überzeugender ist es allerdings, die Flexibilität innerhalb rechtlich bindender Gesetze zu ermöglichen. Damit sind verschiedene überkommene Instrumente angesprochen, mit denen durch eine Lockerung der Gesetzesbindung ein bestimmtes notwendiges Maß an Flexibilität gesichert werden soll. Zu nennen sind hier vor allen Dingen das Ermessen der Ver28

Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 5 Rn. 175, 188, § 13 Rn. 287.

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waltung, das der Verwaltung auf Rechtsfolgenseite die Möglichkeit zu eigenverantwortlichen, wenn auch gesetzlich gelenkten Entscheidungen gibt,29 sowie – faktisch – der unbestimmte Rechtsbegriff, welcher der Verwaltung bereits auf Tatbestandsebene einen breiten Spielraum der Normauslegung und in bestimmten Fällen auch einen gerichtlich nicht voll überprüfbaren Beurteilungsspielraum gibt.30

III. Flexibilisierung durch Deregulierung oder Privatisierung von Staatshandeln 14. Auch Deregulierungsstrategien können als Ermöglichung von Flexibilität durch Beseitigung von rechtlichen Handlungsgrenzen (und damit von Flexibilitätsschranken) begriffen werden. Gerade an diesen Strategien knüpfen Hoffnungen erhöhter Effizienz und verringerter Bürokratie. Allerdings ist auch zu bedenken, dass solche Deregulierungsstrategien auch zu erheblichen Nachteilen wie Verlusten von Rechtssicherheit, aber teilweise auch zur Relativierung der Rechtsordnung und der Rechtspositionen von Menschen führen können.31 Freilich können der Vorbehalt des Gesetzes32 und der Vorrang des Gesetzes33 wichtige verfassungsrechtliche Begrenzungen für überzogene Entrechtlichungsstrategien darstellen. Deregulierung mit Augenmaß bleibt hingegen im Rahmen der vorgenannten Verfassungspositionen möglich. 15. Als besondere Deregulierungsstrategie kann auch die Privatisierung bisher staatlicher Einrichtungen und Aufgaben verstanden werden. Durch Privatisierungen können Bindungen an das öffentliche Recht abgeworfen und gegen privatrechtliche Bindun29 Vgl. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 205 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 12. 30 Vgl. Schmidt-Aßmann, a. a. O., S. 192 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 26 ff. 31 Vgl. dazu aus verschiedenen Aspekten etwa nur Reim, NJW 2005, S. 1553 ff.; Lang, MedR 2005, S. 269 ff.; Römermann, DB 2005, S. 931 ff.; Brunner, ZSchR 2004, S. 307 ff. 32 Dazu zuletzt Hoffmann-Riem, AöR 130 (2005), S. 5 ff.; zur eigenen Position Kloepfer, JZ 1984, S. 685 ff. 33 Vgl. ausführlich Stern, Staatsrecht I, S. 803 ff.

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gen eingetauscht werden, die häufig als weitmaschiger gelten als die Bindungen des öffentlichen Rechts.34 Viele Privatisierungen zeigen allerdings, dass dabei eine ausgedehnte Privatisierungsbegleitgesetzgebung unverzichtbar ist.35 Diese ist häufig anfällig für Übernormierungen, die ihrerseits eigene Erstarrungspotentiale enthalten können (z. B. TKG). Letztlich sollte die Frage der Privatisierung an anderen Kriterien als dem der Flexibilisierungsermöglichung entschieden werden, insbesondere an dem Gebot optimaler und effizienter Aufgaben- bzw. Bedarfserfüllung. Das kann, muss aber nicht Flexibilität erforderlich machen. 16. Als eher bizarre faktische Deregulierungs-, ja Entrechtlichungsstrategie kann die heute gar nicht mehr so seltene Rechtsanwendungsverweigerung durch die Verwaltung verstanden werden. Diese tarnt sich nicht selten als die (angebliche?) Notwendigkeit selektiven Rechtsgehorsams der Behörden angesichts einer Übernormierung einerseits und zu knappen Rechtsanwendungsressourcen in der Verwaltung andererseits.36 Durch Rechtsbruch können so – in rechtsstaatlich nicht hinnehmbarer Weise – rechtliche Flexibilitätsschranken faktisch überwunden werden. Damit wird aber das Steuerungssystem Recht nachhaltig delegitimiert. Die Rechtsordnung ist dem freilich nicht hilflos ausgeliefert: Insgesamt dürften bisher die vorhandenen rechtsstaatlichen, insbesondere gerichtlichen Mittel zur Bekämpfung einer solchen Flexibilisierung durch Rechtsbruch ausreichen. 17. Demgegenüber ist die gesetzliche Anordnung von fehlenden (oder abgeschwächten) Rechtsfolgen bei Rechtswidrigkeiten37 – z. B. durch den Gedanken der Planerhaltung oder der Bestandskraft von rechtswidrigen Verwaltungsakten38 – oder von 34 Vgl. Hoffmann-Riem, DVBl. 1996, S. 225 ff.; Schmidt-Preuß, VVDStRL (56) 1997, S. 160 ff.; Scholz, N JW 1997, S. 14 ff. 35 Dazu zuletzt Säcker, AöR 130 (2005), S. 180 ff. 36 Vgl. für das Umweltrecht Lorenz, UPR 1991, S. 253 ff. 37 Vgl. etwa für die materielle Bestandskraft auch des rechtswidrigen Verwaltungsaktes Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs (Hrsg.), VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 43 Rn. 2a; ders., K & R 2001, S. 13 (18 f.); BVerfGE 60, 253 (290). 38 Vgl. dazu etwa nur Hoppe / Henke, DVBl. 1997, S. 1407 ff.; Hoppe, DVBl. 1996, S. 12 ff.; ders., in: Erbguth (Hrsg.), Abwägung im Recht,

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umfassenden Heilungsmöglichkeiten bei Rechtsfehlern39 viel schwieriger zu beurteilen. Sie verringern im Effekt die Verbindlichkeit von Recht und können deshalb faktisch zu den Rechtsverdünnungsstrategien i. w. S. gezählt werden. Sie steigern die Geschmeidigkeit des Rechts, verringern aber in erheblichem Maße seine Verbindlichkeit. 18. Durch deregulative Zwischenformen der Technik staatlicher Regulierung kann schließlich versucht werden, wesentliche Vorteile der Verrechtlichung (z. B. rationalisierte und typisierte Steuerung) unter Vermeidung ihrer typischen Nachteile (insbesondere fehlende Flexibilität) zu erreichen. Dabei ist etwa an soft law, an politische Grundsätze und Programme, aber auch an Verwaltungsvorschriften zu denken, die funktionell an die Stelle von Rechtsnormen treten. 19. Eine besondere Deregulierungstechnik stellt die Verbindung gesellschaftlicher Normen und staatlicher Steuerung dar.40 Hierbei ist insbesondere an rechtlich nicht verbindliche Standards und Regeln aus dem gesellschaftlichen Raum zu denken, wie z. B. guide lines, Verhaltensregeln, Verbandsrichtlinien, ethische Unternehmensregeln (corporate governance), technische Normen, Branchenabkommen etc. Für sich allein genommen sind sie in aller Regel rechtlich nicht verbindlich und können somit keine rechtliche Steuerung darstellen. Verzahnungen solcher gesellschaftlicher Regeln mit dem staatlichen Recht sind gleichwohl möglich. Derartige Verzahnungen können in informeller Art (z. B. als Auslegungshilfe für Gesetzesbegriffe) oder in formalisierter Weise erfolgen (z. B. durch gesetzliche Erwähnung der gesellschaftlichen Regulierung, z. B. in §§ 161 AG, 38 a BDSG, freilich ohne Regelung der Rechtsfolgen). Bei echten statischen Verweisungen von Gesetzen auf gesellschaftliche Regelungen können letztere gesetzesgleich wirken und dann ihre ge-

1996, S. 133 ff.; Morlok, Die Folgen von Verfahrensfehlern, 1988, passim; Wiggers, Planerhaltung im Recht der Raumordnung, S. 7 ff. 39 Vgl. nur v. Mutius, NJW 1982, S. 2150 ff.; Ossenbühl, NVwZ 1982, S. 465 ff. 40 Siehe dazu zuletzt etwa Hoffmann-Riem, AöR 130 (2005), S. 21 f., 59 f. m. w. N.

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steigerte Flexibilität verlieren.41 Demgegenüber sind dynamische Verweisungen auf andere als staatliche Rechtsnormen verfassungswidrig.42 20. Denkbar ist als mittelbar-faktische Rechtsausdünnungsstrategie schließlich auch die partielle Reduzierung staatlicher Kontrollen der Rechtsanwendung, wenn gesichert ist, dass durch eine (kontrollierte) Eigenkontrolle Privater Sicherheitsstandards, die gesetzlichen Standards in etwa gleichwertig sind, in Eigenregie gewährleistet werden können.43 Beispiele hierfür sind etwa das Umwelt-Audit oder das Datenschutzaudit.44

IV. Ansätze für eine gesteigerte Flexibilisierung von Staatshandeln 21. Ein erhebliches Flexibilisierungspotential liegt in der inhaltlichen Ausgestaltung verbindlicher Rechtsätze. Dabei ist zunächst zwischen der inhaltlichen Flexibilisierung von Entscheidungen (s. u. 23 – 31) und der zeitlichen Flexibilisierung (s. u. 32 – 39) zu unterscheiden. Eine räumliche Flexibilisierung ist innerhalb des deutschen Rechtserzeugungsraums durch verschiedene Landesgesetze oder unterschiedliche Regelungen auf der Ebene von Gemeinden möglich. Aber auch Bundesgesetze können räumlich unterschiedliche Standards zulassen.45 Die durch die Föderalismusreform geschaffene Abweichungsgesetzgebung der Länder46 ist ein markantes neues Instrument für die räumliche Flexibilisierung gesetzlicher Regelungen im Bundesstaat. 41 Vgl. zu dieser Technik etwa Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 1991, Rn. 156; Schneider, Gesetzgebung, 1982, Rn. 400 ff. 42 Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 3 Rn. 82, 85. 43 Vgl. dazu auch Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 20 Rn. 303 ff. 44 Vgl. etwa Falke, ZUR 1995, S. 4 ff.; Schaar, DuD 2003, S. 421 ff.; Bizer, DuD 2006, S. 5 ff. 45 Als Beispiel können etwa die unterschiedlichen Besoldungshöhen in den alten und den neuen Bundesländern gelten, vgl. etwa auch § 73 BBesG. 46 Art. 75 Abs. 3 GG n. F.

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22. Generell ermöglicht der Einbau von konsensualen Elementen in staatliche Handlungsinstrumente mehr Flexibilität. Denkbar sind beim staatlichen Handeln u. a. – die stärkere Ausgestaltung von Teilen des öffentlichen Rechts als dispositives Recht – der stärkere Gebrauch des Instruments des öffentlich-rechtlichen Vertrages – das Vordrängen rechtlich unverbindlicher Vereinbarungen und Absprachen (z. B. Zielvereinbarungen, Selbstbeschränkungsabkommen).

Neben den Flexibilisierungschancen sind dabei allerdings wiederum auch die einschlägigen Risiken für die Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit zu bedenken. Die Einbußen für die Rechtssicherheit sind z. B. bei den modischen Zielvereinbarungen (z. B. in den Universitäten) unverkennbar.47

V. Inhaltliche Flexibilität von Staatshandeln Bei der inhaltlichen Flexibilisierung kann u. a. angesetzt werden an den Handlungsmöglichkeiten des Staates (s. u. 23 – 26) oder an den Auswahlmöglichkeiten für den Bürger (s. u. 27 – 31).

1. Flexibilität für den Staat 23. Inhaltliche Flexibilisierungspotentiale für die rechtsanwendenden Staatsorgane bietet eine verstärkte Nutzung der Technik der finalen Rechtssetzung mit komplexen, auslegungsoffenen Ziel- und Zweckvorgaben bei weitgehender Entscheidungsfreiheit insbesondere der gesetzeskonkretisierenden Verwaltung über die Mittel zur Zielerreichung (z. B. bei Planungsgesetzen). 24. Bei der traditionellen konditionalen Rechtssetzung eröffnen insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsseite den rechtsanwendenden Staatsorganen faktisch erhebliche 47

Vgl. dazu Battis / Kersten, DVBl. 2003, S. 349 ff.

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Einschränkungs-, Handlungs- und Flexibilitätsspielräume bei der Normauslegung.48 Die Einräumung gerichtsfreier Beurteilungsspielräume verstärkt die Spielräume der Staatsorgane in beträchtlicher Weise. Erst durch die so erreichte faktische Lockerung der Gesetzesbindung können die rechtsanwendenden Gewalten den Besonderheiten der von ihnen zu beurteilenden Einzelfällen gerecht werden.49 25. Im übrigen eröffnen im Rahmen der konditionalen Rechtssetzung die Bestimmungen über die Rechtsfolgen gesteigerte Möglichkeiten der Flexibilisierung, soweit dabei Ermessensspielräume gegebenenfalls mit unbestimmten Rechtsbegriffen vorgesehen werden. Das Ermessen gibt der Verwaltung die Möglichkeit zu eigenverantwortlichem, wenn auch gesetzlich gelenkten Entscheidungen.50 Dispens- und Billigkeitsregeln enthalten besonders große Flexibilisierungsreserven bei der Gesetzesanwendung. Das kann nicht nur für die optimale Gesetzesanwendung wichtig sein. 26. Obwohl dies auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag, kann Flexibilität auch zur Sicherung des Fortbestehens von Recht dienen. Biegsamkeit (nicht Beugsamkeit) von Rechts48 Zu beachten bleibt jedoch, dass bei rein rechtlicher Betrachtungsweise die unbestimmte Fassung eines Rechtsbegriffes nichts an der normativen Fixierung auf ein allein „richtiges“ Ergebnis ändert, sondern allenfalls Schwierigkeiten erzeugt, den einzig zutreffenden Inhalt zu ermitteln, vgl. Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs (Hrsg.), VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 40 Rn. 147. 49 Vor diesem Hintergrund hat vor Jahren bereits das Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern einen Vorschlag zur Einfügung eines neuen § 114a VwGO eingebracht, der lauten sollte: „(1) Erfordert die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs Abwägungen, Prognosen oder Wertungen, so steht der Verwaltungsbehörde dabei ein Beurteilungsspielraum zu. (2) Das Gericht prüft, ob der Verwaltungsbehörde ein Beurteilungsspielraum zusteht sowie, ob die gesetzlichen Grenzen der Beurteilungsermächtigung überschritten sind oder von ihr in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde.“ Abgedruckt bei Ewer, NVwZ 1994, S. 140; mit Begründung auch in Rudolf von Benningsen-Stiftung (Hrsg.), Beurteilungsspielraum der Behörden und richterliche Kontrolldichte, 1994, S. 49 ff. 50 Vgl. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 205 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 12.

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normen kann deren dauerhaft wirksame Existenz gewährleisten. Offen formuliertes Recht kann insbesondere flexibel auf veränderte äußere Umstände reagieren, ohne dass Gesetzesänderungen oder -aufhebungen notwendig würden.

2. Flexibilität für den Bürger 27. Flexibilität kann im Rechtsfolgenbereich in besonders wirksamer und effizienter Weise vor allem durch die Einräumung von Verhaltensoptionen für den Bürger ermöglicht werden. Dies ist immer dann der Fall, wenn Rechtsnormen oder andere staatliche Handlungsformen vor allem durch positive oder negative Anreize auf ein bestimmtes Verhalten des Bürgers hinwirken, aber es letztlich (im Rahmen der Gesetze) ihm überlassen bleibt, ob er den staatlichen Verhaltenserwartungen und Anreizen entsprechen will oder nicht. Die Flexibilität ist hier vor allem eine Flexibilität des Bürgers, der sich zwischen zwei gleichermaßen legalen Verhaltensalternativen entscheiden kann, weil der Staat ihm kein bestimmtes Verhalten (imperativ) gebietet oder verbietet, sondern sich mit einem Influenzieren begnügt. Insoweit ist dann die Legalität kein Steuerungsmittel gegenüber dem Bürger mehr. Die Entscheidung über das konkrete Verhalten liegt faktisch und rechtlich beim Bürger.51 28. Das kann die Konsensfähigkeit staatlicher Entscheidungen beim Bürger entscheidend vergrößern und ihm die Möglichkeit einräumen, die für ihn günstigste Alternative zu wählen. Dies kann zu erheblichen Vorteilen und insgesamt zu einem Freiheitsgewinn bzw. zu einer Kostenersparnis für den Bürger führen. Dem stehen allerdings nicht unerhebliche Nachteile gegenüber, z. B. die Unsicherheit bzw. Ungenauigkeit der Zielerreichung durch den Staat.52 Dies erschwert z. B. die präzise Anwendung der Instrumente des Übermaßverbots. Hinzu kommen spezifische Rechtsschutzprobleme, weil der Bürger „freiwillig“ den Verhaltenserwartungen des indirekt steuernden Staates folgt und er sich 51 Vgl. zur indirekten Verhaltenssteuerung im Umweltrecht umfassend Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 5 Rn. 166 ff. 52 Vgl. Lübbe-Wolff, NVwZ 2001, S. 481 (483).

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schwerlich gegen seine eigene Entscheidung wenden kann („volenti non fit iniuria “).53 29. Der bisher wichtigste Anwendungsfall der indirekten Verhaltenssteuerung sind die schon erwähnten sogenannten ökonomischen Instrumente. Bei ihnen sollen mit positiven ökonomischen Anreizen (insbesondere Zahlungssubventionen oder Verschonungssubventionen insbesondere durch Abgabenvergünstigungen) erwünschtes Verhalten der Bürger befördert werden oder mit negativen ökonomischen Anreizen (vor allem Abgabenbelastung, Schadensersatzpflichten) unerwünschtes Verhalten zurückgedrängt werden. Soweit diese Verhaltensanreize nicht faktisch quasi zwingend, d. h. gebots- bzw. verbotsgleich wirken (also auf „freiwilligen Zwang“ hinauslaufen), können sie dem Bürger mehr Entscheidungsfreiheit, d. h. auch mehr Flexibilität gewähren. Dadurch werden vor allem effiziente, die individuellen Kostenstrukturen berücksichtigende Entscheidungen ermöglicht.54 Ist es bei Altanlagen z. B. kostengünstiger, Umweltabgaben zu zahlen, statt teure Nachrüstungen zur Emissionsabwehr vorzunehmen, entspricht es der ökonomischen Rationalität von Unternehmensentscheidungen, die Umwelt weiter zu belasten und dafür eine Umweltabgabe zu zahlen. 30. Der Gedanke der Effizienz der Aufgabenerfüllung durch selbstbestimmtes Handeln des Marktteilnehmers liegt auch anderen ökonomischen Instrumenten zugrunde wie etwa den Benutzungsvorteilen (Befreiung von ordnungsrechtlichen Vorgaben bei „Übererfüllung“ gesetzlicher Standards)55 und den Kompensationslösungen (Befreiung einer Anlage von Emissionsstandards bei – größerer – überobligationsmäßiger Emissionsverminderung durch eine andere Anlage).56 Auch handelbare Emissionszertifi53 Vgl. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 5 Rn. 166 ff.; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Schuppert (Hrsg.), Reform des allgemeinen Verwaltunsgrechts, Bd. 1, 1993, S. 115 (143); Rehbinder, in: Kloepfer (Hrsg.), Umweltstaat als Zukunft, 1994, S. 70 (79 ff.). 54 Vgl. Wicke, Umweltökonomie, 4. Aufl. 1993, S. 150 ff.; Meßerschmidt, Umweltabgaben als Rechtsproblem, 1986, S. 58. 55 Dazu Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 5 Rn. 190 ff. 56 Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 5 Rn. 299 ff.

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kate57 sollen möglichst kostengünstige Emissionsvermeidungen ermöglichen und können zudem zu echten Marktpreisen für Verschmutzungsrechte führen.58 31. Indirekte Verhaltenssteuerung mit Flexibilitätsgewinnen für den Bürger ist auch durch die gegenwärtig stärker vordringenden informationellen Maßnahmen des Staates möglich, deren dogmatische Durchdringung weitgehend noch am Anfang steht.59 Zu denken ist dabei insbesondere an die staatlichen Empfehlungen und Warnungen, die der Bürger beherzigen kann, aber nicht befolgen muss. Vergleichbare Instrumente sind etwa staatlich verliehene Qualitätssiegel, d. h. staatliche Produktinformationen mit umsatzrelevanter Wirkung. Eine durchgängig überzeugende dogmatische Bewältigung dieser informationellen Maßnahmen steht trotz (oder wegen?) der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG zu staatlichen Warnungen60 noch aus.61

VI. Zeitliche Flexibilität von Staatshandeln 32. Auf eine lange Tradition bauen die Instrumente der Sicherung einer zeitlichen Flexibilität staatlichen Handelns, d. h. vor allem die Möglichkeit zu Kurs- und Entscheidungsänderungen für die Zukunft. Diese Möglichkeit zeigt sich vor allem an der Änderung bzw. an der Änderbarkeit von bereits erlassenen Staatsakten. Dem Interesse des Staates an zeitbezogener Flexibilität (d. h. an Änderung) stehen dabei typischerweise Vertrauensschutz- und Rechtssicherheitsinteressen der Betroffenen (an Nicht-Änderung) gegenüber. Bei unterschiedlichen InteressenVgl. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 5 Rn. 284 ff. Gleichwohl muss auch beachtet werden, dass die Transaktionskosten im Rahmen von Zertifikatslösungen in der Regel als relativ hoch einzuschätzen sind, vgl. Lübbe-Wolff, NVwZ 2001, S. 481 (487 f.). 59 Vgl. Kloepfer, Informationsrecht, § 10 Rn. 78 ff.; Kloepfer / Schoch, IFG-Prof-E, 2002. 60 BVerfGE 105, 252; 105, 279; vgl. Murswiek, NVwZ 2003, S. 1 ff.; Huber, JZ 2003, 290 ff.; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 ff.; HoffmannRiem, Der Staat 43 (2004), 203 ff. 61 So auch Schoch, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 169. 57 58

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lagen können aber auch Vertrauensschutzinteressen bei einem Teil der Bevölkerung Flexibilitätsinteressen anderer Teile widerstreben (z. B. bei der Newcomer-Problematik im Immissionsschutzrecht).62 33. Die Rechtsordnung geht die Sicherung der zeitlichen Flexibilität von Staatshandeln gewaltenspezifisch an. Sie betont die Flexibilisierungsinteressen bei der Gesetzgebung (s. 38 – 41) und die Stabilitätsinteressen bei der Rechtsprechung (s. 37). Bei der Exekutive kommt es zu relativ ausdifferenzierten Berücksichtigungen sowohl von Stabilitätsinteressen wie von Flexibilitätsinteressen (s. 34 – 36). Stabilitätsinteressen sind bei der Verwaltung mit ihren bürokratischen Strukturen besser aufgehoben als bei der in Wahlperioden denkenden Gesetzgebung. 34. Vor allem das Allgemeine Verwaltungsrecht hat bei Lösung des Problems der Änderung von Verwaltungsentscheidungen einen feinziselierten Ausgleich zwischen behördlichen Flexibilitäts- und bürgerlichen Kontinuitätsinteressen herausgebildet. Dies zeigt sich besonders am prägenden „Urkonflikt“ der Aufhebung (d. h. der Rücknahme bzw. des Widerrufs) begünstigender Verwaltungsakte (§§ 48, 49 VwVfG). Daneben dienen vielfältige andere verwaltungsrechtliche Instrumente der Sicherung künftiger Flexibilität der Verwaltung. Zu denken ist insbesondere an die entsprechenden flexibilitätsermöglichenden Nebenbestimmungen zu Verwaltungsakten: Befristungen, (vor allem: auflösende) Bedingungen, Widerrufs- und Auflagenvorbehalte (§ 36 VwVfG). Aber auch im Übrigen zollt das VwVfG der Flexibilisierung Tribut. Selbst die Zusicherung (§ 38 Abs. 3 VwVfG)63 und sogar der öffentlich-rechtliche Vertrag (§ 60 VwVfG) sind in ihrer Fortdauer bei Änderung der Verhältnisse nicht (absolut) gesichert. 35. Umgekehrt haben die Begrenzung des Vertrauensschutzes auf „schutzwürdiges“ Vertrauen und die moderate Handhabung des aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Selbstbindungsgedankens nicht zu einer untragbaren Inflexibilität der Verwaltung geführt. Insgesamt kann auf der Ebene des Verwaltungsrechts, jedenfalls des allgemeinen Verwaltungsrechts, schwerlich von einer durch62 63

Vgl. Rehbinder / Schmalholz, UPR 2002, S. 1 (4). Vgl. dazu Kloepfer / Lenski, NVwZ 2006, S. 501 ff.

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gängigen Rechtserstarrung in Besitzständen gesprochen werden. Dies schließt das Risiko politischer bzw. bürokratischer Erstarrungen allerdings nicht aus. 36. Was die Einzelgebiete des Besonderen Verwaltungsrechts betrifft, sind unterschiedliche Tendenzen feststellbar. Während z. B. im Umweltrecht seit jeher Besitzstandsschutz eher klein geschrieben wird, akzentuieren das Baurecht und insbesondere das Beamtenrecht64 teilweise anders. Für das Umweltrecht ist inzwischen zu fragen, ob die Flexibilisierungsinteressen teilweise nicht tendenziell übergewichtig geworden sind (z. B. bei umfassenden Befugnissen zum Erlass nachträglicher Anordnungen – § 17 BImschG – bzw. bei der Dynamisierung immissionsschutzrechtlicher Grundpflichten – § 5 BImSchG). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Umweltrecht in besonderer Weise den schnellen Veränderungen von Umweltrisiken und technischen Entwicklungsständen Rechnung zu tragen hat. 37. Gegenüber den weiten Flexibilitätsermöglichungen für die Verwaltung führt bei der Rechtsprechung die Fixierung auf Rechtskraft, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu einer eindeutig stärkeren Betonung des Kontinuitätsgedankens gegenüber Interessen zur zeitlichen Flexibilität, wenn erst einmal rechtskräftige Gerichtsentscheidungen in Einzelverfahren vorliegen. Allerdings gibt es dabei keinen absoluten Kontinuitätsschutz (wie insbesondere das Wiederaufnahmeverfahren zeigt). Auch bei der Fortentwicklung der Rechtsprechung insgesamt scheint die Flexibilität keinen besonders hohen Stellenwert in der Justiz zu genießen. Jedenfalls ist die Vorstellung der „ständigen Rechtsprechung“ nicht gerade flexibilitätsermutigend. 38. Demgegenüber ist die Gesetzgebung in besonderer Weise dem Gedanken der zeitlichen Flexibilität geöffnet. Der für das Demokratieprinzip so essentielle Grundsatz des Vorrangs des späteren Gesetzes gegenüber früheren Gesetzen ist dafür ein ebenso untrügliches Zeichen wie der immer wieder vom BVerfG und dem Schrifttum bekräftigte Satz, wonach es grundsätzlich keinen Anspruch auf künftigen Fortbestand des geltenden Rechts 64 Vgl. aus jüngerer Zeit nur Pfohl, ZBR 2005, S. 329 ff.; Preis / Temming, ZTR 2003, S. 262 ff.;

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gibt.65 Die außerordentlich hohe Zahl an Gesetzesänderungen66 zeigt, dass der Gesetzgeber die Chancen der Flexibilisierung auch stark nutzt. Ob diese Flexibilisierung durch eine durchgängige Befristung von Gesetzen (sunset legislation) noch zusätzlich auf die Sprünge geholfen werden muss, erscheint jedenfalls derzeit (u. a. wegen begrenzter Gesetzgebungsressourcen) mehr als fraglich.67 39. Gleichwohl zeichnen sich aber zunehmend Tendenzen zu Flexibilitätsverlusten für die Gesetzgebung heute bereits deutlich ab. Die Kritik an der Kurztaktigkeit moderner Gesetzgebung und die immer wieder auftauchenden Forderungen von Wirtschaftsverbänden nach einem Gesetzgebungsmoratorium (z. B. im Umweltrecht) geben zu denken. „Stabilität“ bei der Gesetzgebung wird letztlich vor allem aber durch die allgemeinpolitischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen (einschließlich der Staatsverschuldung) erzeugt, z. B. durch die Unfinanzierbarkeit von Vorhaben zu Gesetzesänderungen. Begrenzte personelle Kapazitäten oder fehlende Zeit bei der Gesetzgebung bzw. bei der Gesetzesvorbereitung (in Parlamenten und Ministerien) können ebenfalls hinderlich für Gesetzesänderungen werden. In einer parlamentarischen Demokratie wird Gesetzesstabilität schließlich nicht selten auch dadurch erzeugt, dass die erforderlichen Mehrheiten für Gesetzesänderungen (bzw. Bundesratszustimmungen) nicht zustande kommen bzw. nicht realisierbar erscheinen, obwohl das bestehende Recht als inhaltlich überholt gilt. Ein typisches Beispiel für eine solche destruktive Stabilität war für viele Jahre etwa das Atomgesetz. 40. Wichtig sind auch die Flexibilisierungserschwerungen durch übergeordnetes Recht (insbesondere EG-Recht und GG), wenn 65 BVerfGE 68, 193 (222); 38; 61 (83); 28, 66 (88); 27, 375 (386); 14, 76 (104); Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 139 (168); Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, 1979, S. 274 ff. 66 Brandner, Gesetzesänderung, 2004, S. 2 ff. 67 Auch die Praxis rückt daher von entsprechenden Klauseln wieder zunehmend ab. Jüngstes Beispiel ist das IFG des Bundes, in dem die zeitliche Befristung des Gesetzes, die im Entwurf vorgesehen war, auf Vorschlag des Innenausschusses gestrichen wurde, vgl. Rossi, IFG, 2006, § 15 Rn. 3.

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ein Gesetz nicht beseitigt werden kann, weil es EG-rechtlich oder grundgesetzlich geboten ist. Insoweit wirkt auch die sich zunehmend aufbauende Bindung der Gesetzgebung an gesetzgeberische Entscheidungen flexibilisierungserschwerend für die Legislative. Dabei ist die innere Bindung an gesetzgeberische Grundentscheidungen (Systemgerechtigkeit) von der vordringenden äußeren Bindung „vollziehender“ Gesetzgebung an Leitgesetze (z. B. MaßstäbeG, HGrG) zu unterscheiden. Ein Sonderproblem stellt die (jedenfalls faktische) Bindung des Haushaltsgebers an den Sachgesetzgeber dar. 41. Schließlich sind auch bei einer auf Vereinbarung zurückgehenden Gesetzgebung koordinierungsbedingte Flexibilisierungserschwerungen unverkennbar. Die Kombination von Kooperation und Gesetz kann den künftigen politischen Prozess ausgesprochen zähflüssig machen. Dies ist insbesondere bei Zustimmungsgesetzen zu Völkerrechtsverträgen ebenso erkennbar wie bei solchen Gesetzen, die faktisch das Ergebnis der interföderativen Koordination im kooperativen Föderalismus darstellen. Ähnliches gilt für die Flexibilitätserschwerung durch Koalitionsabsprachen.68 Koordinierungsbedingte Flexibilisierungserschwerungen gibt es zunehmend auch bei Gesetzen, denen „Einigungen“ zwischen Staat und großen Verbänden zugrunde liegen. Hier ist mit Nachdruck auf die aus Gründen des Demokratieprinzips unverzichtbare Dynamik der Gesetzgebung hinzuweisen. Verfassungsrechtlich darf deshalb der von der früheren Bundesregierung bzw. vom früheren Bundestag beschlossene sogenannte „endgültige“ Atomausstieg etwaige politische Kursänderungen nicht ausschließen, ebenso wie übrigens umgekehrt ein etwaiger Wiedereinstieg in die Atomenergie erneute spätere Kursänderungen rechtlich nicht verhindern könnte.

68 Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass gerade Koalitionsvereinbarungen je nach ihrem Inhalt auch flexibilitätsfördernd sein können (z. B. bei dort verabredeten Gesetzesänderungen).

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VII. Flexibles Staatshandeln und Verfassung 42. Die Rolle der Verfassung bei der Flexibilisierungsermöglichung oder -beschränkung ist nicht einfach und schon gar nicht pauschal zu beurteilen. Feststehen sollte aber von vornherein, dass die Flexibilisierung und die damit einhergehende Informalisierung als solche keine erfolgreiche Selbstbefreiung des Staates aus den Verfassungsbindungen bewirken darf. Insbesondere dürfen weder die Staatsstrukturprinzipien noch die Kompetenzordnung (Verbands- wie Organkompetenzen) des Grundgesetzes angetastet werden.69 43. Im Übrigen sind die verfassungsrechtlichen Aussagen zur Stabilität ambivalent. Der Gleichheitssatz kann hinsichtlich seiner egalitären Gehalte inhaltliche Flexibilität begrenzen, aber auch – als Gebot einzelfallspezifischer Gerechtigkeit – herausfordern. Die verbreitete verfassungsrechtliche Betonung des Bestandsschutzes etwa bei Art. 14 GG oder Art. 33 Abs. 5 GG und die rechtsstaatlichen Gebote der Rechtssicherheit bzw. des Vertrauensschutzes scheinen zwar die kontinuitätswahrenden oder -schonenden Gebote einseitig zu betonen und damit die zeitliche Flexibilität von Staatshandeln zu erschweren. Umgekehrt sind aber auch die entstehenssichernden Gewährleistungen70 und die in zeitlicher Hinsicht flexibilitätsermöglichenden Gehalte der Verfassung nicht zu übersehen. So zeigen etwa der Ausgestaltungs- und Beschränkungsvorbehalt in Art. 14 GG, die Grenzen der institutionellen Garantie des Art. 33 Abs. 5 GG, die Zulassung bestimmter Formen der belastenden Rückwirkung, die unangefochtene Geltung des lex-posterior-Grundsatzes, die erwähnte verfassungsgerichtliche Ablehnung eines Anspruchs auf künftigen Fortbestand geltenden Rechts, gesetzgeberische Anpassungspflichten an veränderte Außenumstände etc. sehr erhebliche Reserven der Verfassung für zeitliche Flexibilität, die auch aus der Verfassung abgeleitet werden. Auch aus verfassungs69 Zur Beachtung der Kompetenzordnung bei informellem Staatshandeln vgl. auch BVerfGE 104, 249 (266). 70 Vgl. umfassend Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, 1970, passim.

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rechtlicher Sicht ist somit die Sicht Deutschlands als insgesamt juristisch erstarrtes System nicht haltbar. 44. Allerdings stoßen bestimmte Arten der Flexibilisierung durch Informalisierung auf verfassungsrechtliche Barrieren (z. B. Vorbehalt des Gesetzes, Anforderungen der Rechtssicherheit, der Publizität, des fairen Verfahrens). Dabei zeichnet sich noch keine überzeugende oder gar durchschlagende Verfassungsstrategie im Hinblick auf die zunehmende Informalisierung staatlichen Handelns ab. Soll die Verfassung unübersteigbare Hindernisse gegenüber bestimmten Informalisierungen aufbauen oder soll sie ihre Aussagen an die Informalisierung anpassen? Übertreibungen dabei in die eine oder andere Richtung gefährden – jede auf ihre Weise – die normative Kraft der Verfassung: Werden zu viele unübersteigbare Verfassungshürden für informales Staatshandeln errichtet, droht das praktische Unterlaufen der Verfassung durch die Staatsorgane mit einer Flucht ins Informale. Umgekehrt ist bei einer überzogenen Anpassung der Verfassung an Informalisierungsinteressen auch das Risiko der Informalisierung der Verfassung selbst nicht zu unterschätzen, bei der die Verfassung dann als feierlich formulierte, aber nicht erzwingbare bloße Handlungsmaxime an den Staat enden könnte. Es wird also künftig bei der verfassungsrechtlichen Bewältigung informalen Staatshandelns darum gehen, behutsame und differenzierte Kombinationen zwischen der Begrenzung flexiblen informalen Handelns durch die Verfassung und der Anpassung verfassungsrechtlicher Aussagen an eben dieses Handeln zu finden. 45. Die entscheidende Handlungsmotivation des Staates für flexibles Handeln ist insgesamt jedoch gewiss nicht das Unterlaufen der Verfassung. Es geht vielmehr regelmäßig vorrangig darum, für bestimmte Sachverhalte die eingangs (s. o. 9) beschriebenen Vorteile der Flexibilisierung bei Problemlösungen zu nutzen.

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VIII. Zwänge zu flexiblem Staatshandeln und „schwacher Staat“ 46. Allerdings darf dabei auch nicht übersehen werden, dass die Entscheidungen des Staates für flexible Lösungen häufig auch gewissen sachlichen oder politischen Zwängen zur Flexibilisierung geschuldet sind. So können z. B. Schwierigkeiten der Prognose, die Notwendigkeiten der Anpassung an sich schnell verändernde (z. B. ökonomische) Außenumstände oder an neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder technische Entwicklungsstände insbesondere zeitlich flexibles Handeln des Staates unentbehrlich machen. Insoweit ist die Flexibilität von Recht eine unverzichtbare Voraussetzung für die Modernisierung von Staat und Gesellschaft. 47. Komplexe Problemlagen mit ungeklärten Wirkungsketten (wie z. B. beim Klimaschutz) sind ein besonders geeignetes Terrain für inhaltlich flexible Steuerungen. Kann z. B. die Verursachung von Waldschäden durch SO2 zwar vermutet, aber nicht bewiesen werden, ist dies nicht die Stunde der Verbote, sondern der negativen Anreize gegenüber Emissionen. 48. Besonderes Augenmerk verdient der Umstand, dass der Staat nicht selten zu indirekten, flexibilitätsermöglichenden Steuerungsmöglichkeiten greift, weil er direkte Steuerungsformen aus Macht- oder Kapazitätsgründen praktisch nicht erlassen bzw. durchsetzen kann oder aus verfassungs- bzw. europarechtlichen Gründen nicht erlassen darf. Ein Staat, der politisch nicht stark genug ist, etwa Verpackungsdosen zu verbieten, greift ersatzweise notgedrungen zu indirekten flexiblen Handlungsformen (wie einem Dosenpfand oder einer Verpackungsabgabe). Er vermag so wenigstens einen Teil seiner Steuerungsvorstellungen zu realisieren: er kann zwar eine unerwünschte Verpackung nicht gänzlich verbieten, wohl aber zurückdrängen. Insoweit können indirekte Steuerungsformen auch als Handlungsformen eines „schwachen Staates„ begriffen werden, der faktisch oder rechtlich nicht mehr gebietend oder verbietend, d. h. imperativ vorgehen kann. 49. Die faktische Schwäche kann im Übrigen auch aus der begrenzten Handlungsfähigkeit des Nationalstaats in Zeiten der Globalisierung folgen. Hier können flexible Handlungsformen

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einen gewissen – räumlich begrenzten – Ausgleich für die globalisierungsbedingte Bedeutungsschwächung des Staates schaffen und grenzüberschreitende Gemeinwohlrealisierungen ermöglichen. Hinzu kommt, dass flexible Handlungsformen wie z. B. das internationale soft law (s. o. 5.) in besonderer Weise geeignet erscheinen, grenzüberschreitende Verständigungen zu erleichtern (z. B. Erarbeitung weltweiter Standards durch internationale Normungsorganisationen) und zwar trotz Fortbestehens der Einzelstaaten, deren Bedeutung durch die Globalisierung zwar relativiert, aber nicht aufgehoben erscheint. 50. Insgesamt muss ein durch den zunehmenden Verzicht auf imperatives Handeln gekennzeichneter „schwacher Staat“ kein machtloser Staat sein. Das Ausweichen in indirekte Steuerungsformen kann dem Staat sehr wohl im Endergebnis jedenfalls partiell auch einen Machtzuwachs insoweit bescheren, als er sich mit diesem weichen Instrumentarium den traditionellen verfassungsrechtlichen, insbesondere rechtsstaatlichen Bindungen faktisch weitgehend entziehen kann. Die gilt insbesondere für die richterliche Kontrolle staatlichen Handelns. Gegenüber Verboten (z. B. von Getränkedosen) helfen die klassischen Rechtsbehelfe, gegen übernommene Selbstverpflichtungen (z. B. der Getränkeindustrie zur Abschaffung von Verpackungsdosen) hilft das klassische Rechtsschutzinstrumentarium dagegen kaum. Aus seiner Schwäche gewinnt der Staat also insoweit letztlich wieder Kraft. Ob der Staat langfristig durch einen wachsenden Verzicht auf „Befehle“ schwächer oder stärker wird, ist bislang noch nicht entschieden. Der sanfte Zwang des weichen Staates durch flexible Instrumente ist nicht zu unterschätzen. Jedenfalls ist die rechtliche Bewältigung dieser Instrumente eine wesentliche Aufgabe der Rechtswissenschaft in der Zukunft.

Verteilungsgerechtigkeit im Umweltrecht: Die Verteilung von Luftqualität als Beispiel Von Eckard Rehbinder, Frankfurt a. M. I. Das Problem Fragen der Verteilungsgerechtigkeit im Umweltrecht haben bisher nicht im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gestanden. Vielmehr hat man sich auf die Ausgestaltung und Fortentwicklung des Umweltrechts unter dem Gesichtspunkt seines Anspruchsniveaus, seiner Wirksamkeit und seiner dogmatisch-systematischen Konstruktion konzentriert. Dies bedeutet freilich nicht, dass Verteilungsfragen völlig vernachlässigt worden sind, sie sind vielfach nur unter einer anderen Perspektive diskutiert worden. Jedenfalls gibt mir das Veranlassung, für das Kolloquium der Thematik der Verteilungsgerechtigkeit nachzugehen. Grob gesprochen kann man – abgesehen von der insbesondere die Ökonomen interessierenden Frage nach den Wirkungen von Maßnahmen des Umweltschutzes auf die Einkommensverteilung – drei Problemkreise unterscheiden: – auf der Makroebene: die Aufteilung des Gebrauchs der Umweltgüter i. w. S. auf die Inanspruchnahme ihrer Belastungsoder Regenerationskapazität bzw. ihren Verbrauch durch ökonomische Nutzung einerseits, die Erhaltung der Umweltqualität zum Zwecke des Genusses der Umweltgüter durch den einzelnen andererseits, – auf der Mikroebene: die Aufteilung der danach zulässigen Inanspruchnahme der Umweltnutzungskapazität durch Aktivitäten, die inhärent oder aufgrund ihrer Zahl mit potentiell schädlichen Auswirkungen für die Umweltqualität verbunden sind, auf konkurrierende Nutzer oder Nutzergruppen, und

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– die Verteilung der zu erhaltenden Umweltqualität auf Individuen oder Gruppen von Individuen, die die Umweltgüter ohne potentiell schädliche Auswirkungen benutzen.

Die Entscheidungen auf der Makroebene bilden den „ökologischen Rahmen“ für die Verteilung auf der Mikroebene. Sie bestimmen, was auf der Mikroebene an Umweltnutzungsrechten zugeteilt und was an Umweltqualität verteilt werden kann.1 Im Bereich der Luftqualität wird der ökologische Rahmen in erster Linie durch Immissionswerte, einzelfallbezogene Konkretisierungen des Gefahrenbegriffs nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG und planerische Festsetzungen bestimmt. Wenngleich bei der Festlegung des ökologischen Rahmens umweltbezogene Erwägungen wie die Beachtung der Tragekapazität und Regenerationsfähigkeit der Naturgüter, der Schutz nicht erneuerbarer natürlicher Ressourcen, die Vorsorge gegen wissenschaftliche Unsicherheit und ggf. die Erhaltung von Freiräumen für die Zukunft im Vordergrund stehen werden, ist die Setzung des ökologischen Rahmens keine Entscheidung, die von ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen und damit auch ihren Implikationen für die Verteilungsgerechtigkeit abstrahieren könnte. Der ökologische Rahmen kann auch regionalisiert festgelegt werden. Soweit dies der Fall ist, findet bereits auf der Makroebene eine entscheidende Weichenstellung vor allem für die Verteilung von Umweltqualität statt. Es wird von vornherein eine Ungleichverteilung angestrebt, die auf der Mikroebene nur noch bedingt korrigiert werden kann. Die Verteilung der Belastungs- und Regenerationskapazität der Umwelt auf verschiedene Nutzer (oder Nutzergruppen) ist strukturell mit der Zuteilung des Zugangs zu anderen „knappen“ öffentlichen Gütern wie Standplätzen auf Märkten und Messen, zeitlichen Ab- und Anflugsrechten auf Flughäfen, Taxikonzessio1 Vgl. Kloepfer / Reinert, Umweltprobleme als Verteilungsprobleme in rechtlicher Sicht, in: Gethmann / Kloepfer / Reinert, Verteilungsgerechtigkeit im Umweltstaat, 1995, S. 23, 35 – 41; dies., Zuteilungsgerechtigkeit im Umweltstaat aus juristischer Sicht, ebda. S. 45, 73 – 80. Das umfassende Buch von Kloepfer, Umweltgerechigkeit, 2006, konnte nicht mehr berücksichtigt werden.

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nen, Studienplätzen an Hochschulen und Kassenzulassungen für Ärzte eng verwandt.2 Durch Schaffung eines (einheitlichen oder räumlich differenzierten) ökologischen Rahmens und Regulierung der Umweltnutzung wird das Umweltgut, das ursprünglich ein natürliches öffentliches Gut ist, von dessen Gebrauch niemand ausgeschlossen werden kann, zu einem knappen öffentlichen Gut mit entsprechender Nutzungskonkurrenz. Dessen Nutzung kann administrativ zugeteilt werden. Dies hat man auch bisher so gesehen, soweit, wie im Wasserrecht, ein Bewirtschaftungsregime gilt. Im Recht der Luftreinhaltung ist die Zuteilungsperspektive im Gesamtsystem mit der gebundenen Erlaubnis, dem impliziten Prioritätsgrundsatz und dem grundsätzlichen Bestandsschutz für Altanlagen aber ebenfalls angelegt. Dies ist spätestens bei der Etablierung des Emissionsrechtehandels für CO2-Emissionen durch das Gesetz über den Handel mit Berechtigungen zur Emission mit Treibhausgasen und das Zuteilungsgesetz 2007 offenbar geworden, bei dem der Verteilungskonflikt zwischen den Polen Bestandsschutz, Umverteilung im Bestand und Marktzugang für Neueinsteiger mit aller Härte ausgefochten worden ist. Bei der Verteilung von Umweltqualität geht es um die Frage, in welcher Weise, d. h. auf welche Räume, Personen oder Personengruppen, eine bestimmte – gute oder schlechte – Umweltqualität verteilt wird. Der Gebrauch von Luft zum Atmen, das Leben in einer Umgebung mit einem bestimmten Geräuschpegel oder die Erholung in der Natur stellen zwar ebenfalls Umweltnutzungen dar. Sie sind jedoch im Gegensatz zur Inanspruchnahme der Belastungs- oder Regenerationsfähigkeit oder gar des Verbrauchs von Umweltgütern in der Regel nicht mit (potentiell) schädlichen Wirkungen verbunden, so dass grundsätzlich ein dauernder Genuss möglich ist. Dies macht die Unterscheidung zwischen Umweltnutzung und einfachem Gebrauch der Umwelt sinnvoll, 2 Vgl. dazu Koenig, Die öffentlich-rechtliche Verteilungslenkung, 1994; Kloepfer / Reinert, Zuteilungsgerechtigkeit, oben Fn. 1, S. 49 – 62; Tomuschat, Güterverteilung als rechtliches Problem, Der Staat 12 (1973), 433; Voßkuhle, „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“- Das Prioritätsprinzip als antiquierter Verteilungsmodus einer modernen Rechtsordnung, Die Verw. 1999, 21, 23 – 30.

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wenngleich die Übergänge fließend sind.3 So ist ein übermäßiger Gebrauch denkbar. Dann muss zur Verhinderung einer „Überfüllung“ ggf. eine Regulierung mit Zuteilung von Zugangsrechten erfolgen. Auch im Übrigen besteht zum Teil Verwandtschaft zur Verteilungsproblematik bei Nutzungsrechten, nämlich soweit es zwischen den einzelnen Akteuren Konkurrenz hinsichtlich der beanspruchten Umweltqualität gibt. Zunächst ist zu beachten, dass entscheidende Weichenstellungen für die Verteilungsgerechtigkeit bei der Umweltqualität zum Teil bereits bei der Setzung des ökologischen Rahmens erfolgen, nämlich stets dann, wenn hier eine räumliche Differenzierung erfolgt. Unterhalb der so gesetzten Belastungsgrenzen werden die Verteilungsentscheidungen aber auf der Mikroebene getroffen. Dabei sind verschiedene Konstellationen denkbar. Bei negativen Standortkonflikten und Belastungsverlagerungen im Zuge von Umweltsanierungen konkurrieren die Betroffenen oft in der Abwehr einer Verschlechterung ihrer Belastungssituation; dem Gewinn der einen entspricht ein Verlust der anderen. Allerdings geht es bei der Verteilung von Umweltqualität auch – und vielleicht sogar überwiegend – um einfache Gleichheit oder Ungleichheit der Umweltqualität, bei der auf der betreffenden Ebene die Umweltsituation einer Betroffenengruppe verbessert werden kann, ohne dass diejenige einer anderen Gruppe verschlechtert wird, und umgekehrt. Dies ist denkbar bei räumlich unterschiedlicher Inanspruchnahme von Umweltnutzungsrechten, Optimierungsentscheidungen im Rahmen der allgemeinen räumlichen Planung und räumlich differenzierten Auswirkungen der Vorsorge nach dem Stand der Technik. Ich werde mich – bezogen auf die Luftqualität – auf den letzten Problemkreis beschränken, also auf die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit hinsichtlich der Umweltqualität. Zum einen scheint mir hier am meisten rechtswissenschaftlicher Nachholbedarf zu bestehen. Zum anderen weist die Verteilungsfrage mit den Denkmodellen der negativen Konkurrenz und einfacher Ungleichheit der Umweltbedingungen eine interessante Problemstruktur auf. 3

Vgl. Kloepfer / Reinert, Umweltprobleme, oben Fn. 1, S. 28 – 35.

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II. Umweltgerechtigkeit und Verteilung von Umweltqualität: Karriere eines programmatischen Begriffs 1. Begriffsvielfalt Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit hinsichtlich der Umweltqualität wird vielfach unter dem Topos „Umweltgerechtigkeit“ diskutiert. Allerdings hat dieser Begriff mehrere Bedeutungsinhalte. Es gibt insbesondere eine deutliche Unterscheidung zwischen einem anthropozentrischen und einem ökozentrischen Verständnis. Unter der ersteren Perspektive bezieht sich Umweltgerechtigkeit auf die Umweltbedingungen, die Umweltqualität und den Zugang zu den Naturgütern im Interesse des einzelnen Menschen (oder von Kollektiven von Menschen wie der Gesellschaft oder eines Volkes bzw. Staates). Das ökozentrische Verständnis von Umweltgerechtigkeit befasst sich mit der Gerechtigkeit gegenüber der Umwelt, also mit den Beziehungen des Menschen zur Umwelt als Kollektiv von Tieren, Pflanzen, Mikroorganismen und unbelebten Teilen der Natur. Die Kernfrage dieser Denkrichtung ist, ob und inwieweit Menschen die Natur in der Weise „fair“ behandeln, dass sie die Eigenrechte oder den Eigenwert der Natur und ihrer Bestandteile anerkennen und diese um ihrer selbst willen schützen. Ich werde im Folgenden vom herkömmlichen anthropozentrischen Verständnis von Gerechtigkeit und damit auch von Umweltgerechtigkeit ausgehen. Umweltgerechtigkeit ist ein Aspekt der sog. iustitia distributiva, der verteilenden Gerechtigkeit, die, zurückgehend auf Aristoteles und Thomas von Aquin, an sich zum traditionellen Kernbestand des abendländischen Rechts gehört, aber über die Formel von der Verteilung nach Verdienst hinaus bei der Konkretisierung erhebliche Probleme aufwirft. Auch ein Rekurs auf philosophische Erkenntnisse führt nicht wirklich zu Klarheit, selbst wenn man extreme Positionen wie die praktische Leugnung der Gerechtigkeitsfrage seitens der Neoliberalen durch Orientierung an den Marktergebnissen oder der strengen Unterordnung unter die Gesamtwohlfahrt seitens der klassischen Utilitaristen von vorn-

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herein ausblendet. Geht man von der negativen Expression von Gerechtigkeit, nämlich Ungerechtigkeit aus, so liegt bei einer Akzentuierung der inhaltlichen, ergebnisbezogenen Komponente von Ungerechtigkeit die Spannweite zwischen einem Verständnis, wonach jede Ungleichheit der Umweltbedingungen ungerecht ist, bis zu recht unterschiedlichen wertenden Qualifikationen, hinter denen der Gedanke steht, dass nicht alle Konstellationen von Ungleichheit ungerecht sind. In diesem Verständnis ist Ungleichheit der Umweltbedingungen dann ungerecht, wenn zusätzliche Attribute wie „willkürlich“, „intolerabel“, „unbegründet“, „sachlich nicht gerechtfertigt“, „unfair“ oder „unausgewogen“ erfüllt sind, wobei die eigentliche Frage meist die nach der inhaltlichen Ausfüllung dieser Attribute zu sein scheint. Ich werde im Folgenden zunächst von einer Gleichsetzung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit als Arbeitshypothese für die rechtliche Analyse ausgehen und erst in späterem Zusammenhang mögliche Relativierungen diskutieren. Ungleichheit der Umweltbedingungen kann sich auf Räume wie etwa Standorte an belebten Straßen, Stadtviertel, Gemeinden, Regionen oder – in der internationalen Dimension – auf Länder oder Kategorien von Ländern beziehen (räumliche Umweltungleichheit). Die Ungleichheit der Umweltbedingungen kann auch Personen oder Personengruppen betreffen, z. B. wenn die anwendbaren Gesetze hinsichtlich der Umweltqualität zwischen Personen oder Personengruppen auf der Grundlage von Einkommen oder ethnischer Herkunft unterschieden oder, was sicherlich realistischer ist, sich in dieser Weise faktisch auswirken (soziale Umweltungleichheit). Räumliche und soziale Umweltungleichheit sind häufig miteinander verknüpft oder überlappen sich doch. Sie sollen deshalb hier gemeinsam diskutiert werden. Die Verteilung der Einflussmöglichkeiten bei Entscheidungen über die Umweltqualität und die zeitliche Verteilung zwischen den gegenwärtigen und den künftigen Generationen, die ebenfalls Spielarten von Umweltgerechtigkeit darstellen oder jedenfalls so verstanden werden können, werde ich nicht behandeln.

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2. Ursprünge der Debatte Mitte der siebziger Jahre, also zu Beginn der Entwicklung des deutschen Umweltrechts, waren Probleme der räumlichen und sozialen Umweltgerechtigkeit bereits diskutiert worden. Sie wurden jedoch im Vergleich zur vorrangigen Aufgabe der Verbesserung der Umwelt im Interesse aller eher als Randprobleme angesehen.4 In dieser frühen Diskussion hatte ich selbst den Standpunkt vertreten, dass Umweltprobleme weniger klassen- oder schichtenspezifisch als rollenspezifisch seien und dass das Interesse aller Personen an Umweltschutz generell ein „schwächeres Interesse“ sei, das eines besonderen Schutzes bedürfe.5 Später wurde das Problem der räumlichen Verteilung der Umweltqualität beinahe ausschließlich unter der ökonomischen Perspektive diskutiert, die sich auf Effizienzfragen und nicht auf Verteilungsgerechtigkeit konzentrierte. Ökonomen gaben insbesondere auch den Anstoß zur Diskussion über eine offene Regionalisierung der Luftreinhaltepolitik in den Jahren 1979 / 80, die am Ende mehr aus politischen Rücksichten als aus Grundsatzüberlegungen der Verteilungsgerechtigkeit ad acta gelegt wurde. Erst in neuerer Zeit ist Umweltgerechtigkeit, insbesondere räumliche Umweltgerechtigkeit, zum Thema auf der Agenda des deutschen Umweltrechts6 und der Gesundheitswissenschaft7 geworden. Dabei haben Anregungen aus den Vereinigten Staaten, aber auch aus der ökonomischen Diskussion eine Rolle gespielt. Diese Debatte erkundet ein Forschungsfeld, das in Deutschland recht neuartig ist. Daher 4 Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Privatrecht (Hrsg.), Der Schutz des Schwächeren im Recht, RabelsZ 40 (1976), 362. 5 Rehbinder, Der Schutz des Schwächeren im Recht – Umweltschutz, RabelsZ 40 (1976), 363 – 365. 6 Rehbinder, Ziele, Grundsätze, Strategien, Instrumente, in: J. Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 2. Aufl. 1997, Teil 4 Tz. 67 – 75; Kloepfer, Environmental Justice und Geographische Umweltgerechtigkeit, Deutsches Verwaltungsblatt 2000, 750 – 754; G. Rowe, Gerechtigkeit und Effizienz im Umweltrecht – Divergenz und Konvergenz, in: Gawel (Hrsg.), Effizienz im Umweltrecht, 2001, S. 303 – 308. 7 Heinrich et al., Soziale Ungleichheit und umweltbedingte Erkrankungen in Deutschland, 1998; Maschewsky, Umweltgerechtigkeit, Public Health und Soziale Stadt, 2001.

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liegt der Schwerpunkt noch sehr auf den programmatischen Aspekten und nicht so sehr auf der systematisch-dogmatischen Durchdringung der Materie. Ein anderer Gesichtspunkt ist wichtig. Obwohl es nunmehr unter Juristen eine gewisse Debatte über Umweltgerechtigkeit gibt, ist Umweltgerechtigkeit als soziale Frage weiterhin ein Randproblem. In Deutschland gibt es, wenn ich recht sehe, kein nennenswertes öffentliches Bewusstsein über Umweltungerechtigkeit, so dass das Thema als sozialer Mobilisierungsfaktor weitgehend ausfällt.8 Dies gilt etwa für Standortkonflikte oder die Einhaltung von Immissionswerten. Betroffene Bürger haben z. B. in jüngster Zeit – bisher mit unterschiedlichem Erfolg – Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten mit dem Ziel in Anspruch genommen, die zuständigen Behörden zur Einhaltung der neuen Immissionswerte der 22. BImSchV oder zur Aufstellung von Aktionsplänen zu zwingen.9 Dabei hat man sich bezeichnenderweise aber nicht auf Umweltgerechtigkeit als Argument zur rechtlichen Unterstützung der Anträge und Klagen oder zur politischen Gewichtsverstärkung bezogen. Man betont hierzulande eher die Verhütung oder Minderung von Umweltrisiken in absoluten Kategorien, d. h. den Gesichtspunkt der absoluten Unzumutbarkeit von Umweltbelastungen, und nicht so sehr die Verteilung der Umweltbelastungen auf Räume und Personengruppen („Umweltneid“). Eine Ausnahme zu diesem Verhaltensmuster findet sich freilich außerhalb der Luftreinhaltung beim Fluglärm. Dort verlangen die Betroffenen bisweilen eine gerechtere Verteilung der Flugrouten und damit des Fluglärms auf die ganze Region (im Raum Frankfurt am Main gar unter dem Stichwort der „Demokratisierung“ des Fluglärms). Aber dies ändert nichts an der Richtigkeit der generellen Aussage. Das geringe Interesse an Umweltgerechtigkeit als soziales Problem hat auch Folgen für die Generation empirischer Erkenntnisse hinsichtlich des Bestehens und des Ausmaßes an Umweltgerechtigkeit in Deutschland gehabt. Studien und Feststellungen in dieMaschewsky, oben Fn. 7, S. 151. Vgl. Willand / Buchholz, Feinstaub: Die ersten Gerichtsentscheidungen, NJW 2005, 2661. 8 9

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sem Bereich werden selten empirisch fundiert. Die wenigen vorhandenen neueren Studien kann man wie folgt resümieren: Eine Studie über krebserzeugende Luftschadstoffe, die im Jahre 1992 veröffentlicht wurde, kam zu dem Schluss, dass die Unterschiede im Risiko der Krebsmortalität aufgrund Exposition gegenüber diesen Stoffen zwischen städtischen und ländlichen Gegenden 5 zu 1 betragen (1:5.000 gegenüber 1:1.000).10 Allerdings beruht diese Studie auf mathematischen Extrapolationen und ist nicht empirisch fundiert. Eine neuere Übersichtsstudie, die Untersuchungen aus den Jahren 1985 bis 1996 auswertete,11 kommt zu dem Schluss, dass eine Ungleichverteilung von Umweltbelastungen auf Kosten einkommensschwacher Bürger besteht, die regelmäßig in Vierteln mit schlechter Wohnqualität und in der Nähe von Straßen mit hohem Verkehrsaufkommen leben. Jedoch konnte man keine klare Konzentration von umweltbedingten Erkrankungen in dieser Personengruppe feststellen. Eine neuere Untersuchung über Umweltbewusstsein in Deutschland12 hat festgestellt, dass 14,6% der Personen, die an Hauptverkehrsstraßen und / oder in schlechten Wohngebieten leben, sich über Belästigungen durch Lärm und Luftverunreinigungen beklagen. Verglichen mit 10,4% der Personen, die an ruhigen Wohnstraßen leben und einem Durchschnitt von 12% ist dies statistisch signifikant, obwohl die Unterschiede nicht allzu groß erscheinen. Schließlich ist empirisch festgestellt worden, dass an bestimmten Durchgangsstraßen die jährliche Durchschnittsbelastung mit luftbelastenden Stoffen achtmal so hoch sein kann wie in ländlichen Räumen und selbst ein globaler Vergleich von ländlichen und städtischen Räumen zeigt Belastungsunterschiede zwischen 10 Mikrogramm und 30 – 60 Mikrogramm.13 In der Vergangenheit wurden 10 Länderausschuß für Immissionsschutz (LAI), Krebsrisiko durch Luftverunreinigungen, Ministerium für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, 1992. 11 Heinrich et al., oben Fn. 7. 12 Grunenberg / Kuckartz, Umweltbewusstsein im Wandel. Ergebnisse der UBA-Studie Umweltbewusstsein in Deutschland 2002, Umweltbundesamt 2003, S. 225 – 234. 13 Umweltbundesamt, Umweltdaten Deutschland 2002, S. 35; siehe auch Umweltbundesamt, Daten zur Umwelt 2005, S. 123 – 125.

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trotz erheblicher Belastungsunterschiede auch in den belasteten Gebieten die Immissionswerte noch eingehalten. Für die verschärften Immissionswerte, die aufgrund der 1. und 2. Tochterrichtlinie zur EG-Luftqualitätsrichtlinie durch die 22. BImSchV ab 2005 eingeführt worden sind, ist dies aber nicht mehr durchweg der Fall. Vielmehr sind in den meisten deutschen Großstädten an belebten Durchgangsstraßen Überschreitungen insbesondere hinsichtlich Feinstaubs, in geringerem Maße auch Stickoxiden festgestellt worden. Insofern ist evident, dass ein tatsächlicher Zustand an Ungleichheit der Belastung durch Luftschadstoffe besteht.

III. Räumliche Differenzierung der Luftqualität im Umwelt- und Planungsrecht Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit das deutsche Umwelt- und Planungsrecht eine geographisch einheitliche Luftqualität anstrebt und zum Abbau von Ungleichheit beiträgt oder im Gegenteil neue Ungleichheiten schafft oder dazu beiträgt, bestehende zu erhalten.

1. Gesetzgebung und Rechtsprechung Zweckmäßigerweise hat der folgende geraffte Überblick über das Thema „Umweltgerechtigkeit“ im deutschen Umwelt- und Planungsrecht mit dem Planungsrecht zu beginnen, weil dieses die Grundlage auch für die Zulassung der Errichtung von größeren luftbelastenden Anlagen an einem bestimmten Standort ist. Art. 1 ROG erhebt die „Gleichwertigkeit“ der Lebensbedingungen zu einer zentralen Leitvorstellung der Raumordnung14. Allerdings erweist sich die Erwartung, dass sich hieraus Impulse 14 Kritisch etwa Hübler, Die Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Teilräumen. Ist das nicht auch eine Aufgabe der Raumplanung und Landesplanung in Deutschland?, Raumforschung und Raumordnung 2005, 55 – 61; Kersten, Abschied von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, UPR 2006, 245 – 252.

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für gleiche Umweltbedingungen ergeben könnten, schnell als trügerisch. Gleiche Lebensbedingungen sind nicht identisch mit gleichen Umweltbedingungen, da die Gleichwertigkeit in einer gesamthaften Berücksichtigung aller Aspekte bestimmt werden muss, die zur Lebensqualität beitragen.15 Wichtiger noch ist, dass auf der unteren Planungsebene das Recht der räumlichen Planung ein relativ hohes Maß an räumlicher Differenzierung der Umweltqualität vorsieht. Den in der Baunutzungsverordnung vorgesehenen Kategorien von Bauflächen und Baugebieten unterschiedlicher Qualität für die Flächennutzungs- und Bauleitplanung liegt das Separationsmodell zugrunde. Es zielt darauf ab, Konflikte zwischen unvereinbaren baulichen Nutzungen innerhalb des jeweiligen Gebiets zu vermieden. Allerdings wird insbesondere in Mischgebieten ein gewisses Nebeneinander von Wohnfunktion und Gewerbe zugelassen. Die Ausweisungen im Bebauungsplan stellen zugleich Standortzuteilungen nach dem Typus „negative Konkurrenz“ dar und bestimmen damit mittelbar die Umweltqualität des Gebiets auf Kosten oder zugunsten anderer Gebiete. Bei Konflikten zwischen ausgewiesenen benachbarten Baugebieten unterschiedlicher Qualität führen der Grundsatz der Trennung unvereinbarer Nutzungen und, wenn eine solche nicht möglich oder sinnvoll ist, der Grundsatz der gegenseitigen Anpassung der Standards („Zwischenwerte“) zu einer annähernd gleichwertigen räumlichen Differenzierung der Umweltqualität, soweit Planung sie beeinflussen kann.16 Soweit es an Bauleitplänen fehlt, setzen die vorhandenen Nutzungen und die vorhandenen Umweltbelastungen den Rahmen für die Zulässigkeit einer bestimmten Nutzung (§ 34 BauGB). Im Gegensatz hierzu verfolgt das BImSchG, soweit es die Luftreinhaltung regelt, allerdings das strategische Konzept einheitlicher Luftqualität. Dies ist unabhängig davon, ob die angestrebte Luftqualität durch Immissionswerte oder im Einzelfall 15 Kunig, in: v. Münch / Kunig, Grundgesetzkommentar, Bd. 3, 5. Aufl. 2003, Art. 72 Rdnr. 25; Boysen, Gleichheit im Bundesstaat, 2004, S. 119 – 123; zu Art. 72 Abs. 2 GG vgl. BVerfGE 106, 62, 144. 16 BVerwGE 45, 309, 326 – 329; 107, 313, 330.

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aufgrund einer Auslegung des gesetzlichen Erfordernisses der Gefahrenabwehr nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG bestimmt wird. Im Grundsatz gilt dies auch im Planfeststellungsrecht, da dieses Immissionswerte zur Gefahrenabwehr zu beachten hat.17 Eine Ausnahme besteht allerdings bei bloßen Belästigungen, im Bereich der Luftreinhaltung relevant etwa bei Gerüchen sowie beim Schutz von Gebäuden und Ökosystemen. Aufgrund einer entsprechenden Auslegung des gesetzlichen Erheblichkeitserfordernisses in Bezug auf Belästigungen und Nachteile gilt hier ähnlich wie bei Lärm das Modell funktionaler Differenzierung entsprechend dem Gebietscharakter (vgl. Nr. 4.8 TA Luft).18 In der Sache bedeutet dies, dass insoweit die Ausweisung im Bauleitplan oder bei dessen Fehlen die bisherige Nutzung und Luftbelastung den Rahmen für die angestrebte Luftqualität abstecken. Trotz der im Großen und Ganzen unter dem Gesichtspunkt der Umweltgerechtigkeit günstigen gesetzlichen Ausgangsbedingungen führt eine Reihe von Strukturelemente des Rechts der Luftreinhaltung zu einer erheblichen Ungleichheit der Luftqualität. Zum einen ist daran zu erinnern, dass Immissionswerte nur die Obergrenze der Belastung setzen und unterhalb dieser Obergrenze Differenzierungen die Folge der konkret-generellen Standortentscheidungen in den Bauleitplänen mit ihrer Zuteilungsfunktion sind. Zum anderen führt die Anwendung des Vorsorgeprinzips nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG, insbesondere durch Emissionsminderungen nach dem Stand der Technik, zu einer ungleichen Ausschöpfung der durch die Immissionswerte vorgegebenen Belastungskapazität und damit zu einer verborgenen räumlichen Differenzierung der Luftqualität. Da es sich in letzterem Fall nur um einfache Ungleichheit handelt, die nicht auf Kosten der Menschen in benachteiligten Gebieten geht, sollte dies freilich kein Anlass für besondere Besorgnis sein. 17 BVerwGE 107, 350; BVerwG, NVwZ 2000, 560, 564; NVwZ 2000, 567, 568 ff.; NVwZ 2005, 442, 444. 18 Jarass, Bundesimmissionsschutzgesetz, 6. Aufl. 2005, § 3 Rdnr. 46, 55 – 59; zum Fachplanungsrecht vgl. BVerwGE 59, 253, 265 – 268; 107, 313, 330; 107, 350, 357 f.

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In der Vergangenheit war allerdings auch nicht durchgängig sichergestellt, dass bei Überschreitung der Immissionswerte durch Altanlagen Reduzierungsmaßnahmen vorgenommen werden müssen. § 17 Abs. 1 S. 2 BImSchG verpflichtet die zuständige Behörde zwar im Regelfall zu nachträglichen Anordnungen, diese Verpflichtung steht jedoch unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit (§ 17 Abs. 2 BImSchG). Bei nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen konnte man Einschreitenspflichten nur mit dem Konstrukt der Reduzierung des hier den zuständigen Behörden eingeräumten Einschreitensermessens (§ 24 BImSchG) begründen, was jedenfalls bei kumulativen Wirkungen durch eine Mehrzahl von Kleinanlagen zu Schwierigkeiten führte. Bei bestehenden Verkehrsanlagen erwies sich der prinzipiell gegebene Anspruch Betroffener auf nachträgliche Schutzvorkehrungen (§ 75 Abs. 2 S. 2 VwVfG) zum Schutz gegen Luftverunreinigungen als wenig wirkungsvoll und verkehrsregelnde Maßnahmen an hochbelasteten Straßen zur Minderung des Verkehrsaufkommens nach § 45 StVO standen im behördlichen Ermessen.19 Durch die EG-Luftqualitätsrichtlinie und die deutsche Umsetzungsgesetzgebung (§§ 45, 47 BImSchG und 22. BImSchV) ist hier aber eine bedeutsame Veränderung eingetreten.20 Bei tatsächlicher oder drohender Überschreitung der Immissionswerte besteht eine behördliche Verpflichtung zur Aufstellung eines Aktionsplans, der die Gefahr beseitigt oder doch deren Dauer verringert. Luftreinhaltepläne sollen die Einhaltung künftig geltender verschärfter Immissionswerte sicherstellen. Wenngleich die Rechtswirkungen dieser Pläne von der strikten Behördenverbindlichkeit über eine Berücksichtungspflicht bis hin zu einem bloßen Empfehlungscharakter reichen, ist gerade für den Bereich verkehrsregelnder Maßnahmen eine strikte Beachtenspflicht der Vollzugsbehörden (§ 47 Abs. 6 S. 2 BImSchG) eingeführt worden. Es ist zu erwarten, dass all dies – jedenfalls 19 BVerwGE 74, 234, 238; VGH Kassel, NJW 1989, 2767; VGH München, NVwZ 2005, 1096. 20 Vgl. hierzu etwa Rehbinder, Zur Entwicklung des Luftqualitätsrechts, NuR 2005, 493; Sparwasser / Stammann, Neue Anforderungen an die Planung durch die Qualitätsvorgaben der EU?, ZUR 2006, 169; Koch, Aktuelle Probleme des Luftreinhalterechts in der EU und in Deutschland, FS Bartelsperger, 2006, S. 497.

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nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten mit dem neuen System – erheblich dazu beitragen wird, bestehende Ungleichheiten der Belastung im Gefahrenbereich bzw. in der Grauzone zwischen Gefahrenabwehr und Vorsorge abzubauen.

2. Schutzkautelen Obwohl das Umwelt- und Planungsrecht in einem nicht unerheblichen Maße Ungleichheit der Umweltbelastungen fördert oder ermöglicht, ist doch auch festzustellen, dass es auch gewisse Kautelen gegen zu große Divergenzen bietet. In erster Linie dient die Gefahrenabwehr als Sicherheitsnetz, um einen Mindeststandard für alle Betroffenen sicherzustellen. In zweiter Linie führen Ausnahmen und Einschränkungen im Recht der städtebaulichen Planung zu einer gewissen Nivellierung von Unterschieden, die durch einen Bebauungsplan intendiert sind oder sich aus der bestehenden Nutzung ergeben. Das Städtebaurecht ist durch das gesetzliche Ziel geprägt, Planungsunzuträglichkeiten aufgrund ungesunder Wohn- und -Arbeitsverhältnisse zu vermeiden und bestehende zu beseitigen. Dies gilt für die Aufstellung von Bauleitplänen, deren Umsetzung durch Baugenehmigungen und die Erteilung von Baugenehmigungen im unbeplanten Innenbereich (§ 1 Abs. 6 Nr. 1, § 34 Abs. 1 BauGB, § 15 BauNVO). Darüber hinaus hat die jüngste Novelle zum BauGB besondere Vorschriften über die städtebauliche Sanierung eingeführt, die unter anderem auch der Verbesserung der städtischen Umweltbedingungen dienen (§§ 171a – 171d). Auch nach öffentlichem Umweltrecht sind die Verwaltungsgerichte im Prinzip bereit, Restriktionen des in Teilbereichen geltenden Konzepts räumlicher Differenzierung zu akzeptieren. Dies ist der Fall, wenn die Gefahrengrenze erreicht ist. Mit diesem Sicherheitsnetz soll allen Betroffenen ein einheitliches Mindestniveau an Umweltqualität gewährleistet werden. Eine Rolle spielt dies neben Lärm, der nicht Gegenstand meiner Überlegungen ist, etwa bei Gerüchen. Methodisch bedient man sich hier entweder der Unterscheidung zwischen Gesundheitsgefahren, die

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unabhängig von räumlicher Erheblichkeit immer vermieden werden müssen, und bloßen Belästigungen, wo die Erheblichkeitsschwelle und damit auch die Möglichkeit räumlicher Differenzierung gilt, oder man korrigiert das Ergebnis unter Bezugnahme auf die staatliche Pflicht zum Schutz der menschlichen Gesundheit.21 Dieses Sicherheitsnetz hat freilich gewisse Lücken. Es ist auf Entscheidungen über neue Industrieanlagen, Gebäude und Straßen zugeschnitten. Es ist weniger wirksam bei bereits bestehenden Umweltbelastungen. Hier bilden, wie dargelegt, das in Teilbereichen weiterhin bestehende Vollzugsermessen sowie das Interesse am Schutz privater und öffentlicher Investitionen gewichtige Faktoren, die zur Aufrechterhaltung bestehender Ungleichheit der Umweltbedingungen im Gefahrenbereich beitragen.

3. Soziale Aspekte räumlicher Differenzierung der Luftqualität Räumliche Differenzierung der Umweltqualität und damit auch der Luftqualität hat eine bedeutsame soziale Komponente. Städtische Gebiete und im besonderen Stadtviertel mit einem hohen Anteil an einkommensschwachen Bewohnern sind in der Regel stärker höheren Belastungen ausgesetzt als ländliche Gebiete oder Stadtteile mit wohlhabender Bevölkerung. In gewissem Maße ist dies die Folge der Verlängerung der industriellen und regionalen Entwicklung in Deutschland in den beiden letzten Jahrhunderten in Verbindung mit der Entwicklung der Grundstückspreise und Mieten auf dem Markt. Die ersteren Gebiete sind für Personen mit niedrigem Einkommen attraktiv, weil ihre geringere Umweltqualität sich in den Grundstückspreisen und Mieten ausdrückt, obwohl man natürlich zwischen bewusster Ansiedlung in einer belasteten Umgebung aufgrund Präferenz für billigen Wohnraum unter Inkaufnahme der damit verbundenen Umweltnachteile und dem sozialen Unvermögen, einer solchen Umgebung durch Wahl einer besseren Wohnlage zu entfliehen, unterscheiden muss. In gewissem Maße könnten auch die zuständigen Entscheidungsträger ihr Ermessen bei Entscheidungen über den 21

BVerwGE 88, 210, 216; 101, 1, 10; Jarass, oben Fn. 16, § 3 Rdnr. 51.

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Standort von Schnellverkehrs- und Durchgangsstraßen, Flughäfen und Abfallanlagen, bei verkehrsregelnden Maßnahmen und der Industrieansiedlung zum Nachteil von Gebieten mit einer einkommensschwachen Wohnbevölkerung ausgeübt haben. Dies wird immer wieder behauptet.22 Wie bereits erwähnt, gibt es aber wenige empirische Erkenntnisse über das Ausmaß, die Gründe und die wesentlichen Auswirkungen verborgener sozialer Umweltungleichheit in Deutschland.

IV. Rechtliche Perspektiven der Korrektur von Umweltungleichheit Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob und in welchem Umfang die staatlichen Organe ermächtigt oder gar verpflichtet sind, eine besser ausgewogene Verteilung der Umweltqualität anzustreben und durchzusetzen. Wenn man dies bejaht, sind als Folgeproblem die betreffenden Kriterien und Inhalte der Entscheidungen zu diskutieren. In der Sache geht es insoweit darum, was man in rechtlicher Sicht als Umweltgerechtigkeit oder umgekehrt als Umweltungerechtigkeit qualifizieren kann.

1. Die Rolle der Verteilungsgerechtigkeit im Entscheidungsprozess Aus der Übersicht über räumliche Differenzierung der Luftqualität im Umwelt- und Planungsrecht hat sich schon ergeben, dass es hier um eine ganze Reihe von Entscheidungskategorien mit durchaus unterschiedlichen Entscheidungsvoraussetzungen geht. Fragen der Umweltgerechtigkeit können sich insbesondere stellen in Verfahren der räumlichen Planung, der umweltbezogenen Fachplanung (Aktions- und Luftreinhaltepläne nach § 47 BImSchG), Baugenehmigungsverfahren über Bauten im unbeplanten Innenbereich, Planfeststellungsverfahren, Genehmigungsverfahren nach dem BImSchG, Verfahren über nachträgliche Anordnungen bei genehmigten und Maßnahmen bei nicht geneh22

So etwa Maschewsky, oben Fn. 7, S. 148 – 151.

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migungsbedürftigen Anlagen, und straßenverkehrsrechtlichen Verfahren. Vielfach besteht hier Planungsermessen, ein Abwägungsspielraum oder Ermessen, in manchen Fällen handelt es sich jedoch um gebundene Entscheidungen (zum Teil mit „nachvollziehender“ Abwägung). Von daher kann man hinsichtlich des Stellenwertes von Umweltgerechtigkeit eigentlich kaum einheitliche Ergebnisse erwarten. Gewiss kann man hier die allgemeine These aufstellen, dass das deutsche Umwelt- und Planungsrecht jedenfalls in dem Maße, in dem es Entscheidungsspielräume eröffnet, für die Berücksichtigung von Umweltgerechtigkeit offen sei.23 Dies gilt insbesondere für das Planungsrecht. Das Planungsermessen im Rahmen der Bauleitplanung (§ 1 Abs. 7 BauGB) erfasst alle erheblichen Belange betroffener Personen, Gebiete und Gemeinden. Räumliche Planung beschränkt sich nicht auf die Vermeidung ungesunder Lebens- und Arbeitsverhältnisse, sondern strebt eine optimale Lösung an. Dies muss dann auch für die Berücksichtigung von Verteilungsaspekten der Planung gelten.24 In gewissem Umfang geschieht dies bereits in der Praxis. Man denke an Bestrebungen, bei der Ausweisung von Wohngebieten eine soziale Durchmischung zu erreichen. Ein bedeutsamer Belang scheint Verteilungsgerechtigkeit aber bisher nicht zu sein, wenn man dies anhand der nur spärlichen und recht undeutlichen Diskussion im Schrifttum beurteilen will. Für den Belang „Umweltgerechtigkeit“ ist im Besonderen darauf hinzuweisen, dass die Komplexität von Verteilungsgerechtigkeit, die ja nicht auf Umweltgerechtigkeit beschränkt ist, interne Abwägungen erforderlich macht. Diese interne Abwägung und die Notwendigkeit, Effektivitätsund Effizienzgesichtspunkten ausreichend Gewicht zu verleihen, machen Lösungen schwierig. Es kommt hinzu, dass die Berücksichtigung im Rahmen des Abwägungsgebots nicht die Grundentscheidung des Gesetzgebers für eine räumlich differenzierte Umweltqualität konterkarieren darf. Gleichwohl verbleiben innerhalb dieses Rahmens Spielräume, etwa bei der Auswahl von BauRowe, oben Fn. 6, S. 327. Krautzberger, in: Battis / Krautzberger / Löhr, Baugesetzbuch, 9. Aufl. 2005, § 1 Rdnr. 100, 101, 109; Söfker, in: Ernst / Zinkahn / Bielenberg, Baugesetzbuch, Stand März 2006, § 1 Rdnr. 206 f. 23 24

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gebietskategorien, der Standortwahl für bestimmte Baugebiete oder der Wahl von Schutzvorkehrungen für benachbarte Gebiete. Aussagen zum gesundheitsbezogenen Umweltrecht sind schwieriger. Verteilungsfragen spielen grundsätzlich keine Rolle in Zulassungsverfahren für Industrie- und Infrastrukturanlagen, soweit es um die Vermeidung von Gesundheitsgefahren geht, die durch ein Vorhaben verursacht werden können; solche Gefahren sind unabhängig von den Verteilungsimplikationen zu vermeiden. Im Übrigen ist zwischen Entscheidungen mit Abwägungsspielraum oder Ermessen und gebundenen Entscheidungen zu unterscheiden. Im Planfeststellungsverfahren könnten unterhalb der Gefahrenschwelle Belange der gerechten Verteilung von Umweltbelastungen unter Optimierungsgesichtspunkten eingebracht werden, wenngleich auch hier zu beachten ist, dass die Rechtsprechung insoweit ein Konzept räumlicher Differenzierung befolgt25. Mehr Spielraum für die Berücksichtigung der Verteilungsperspektive besteht bei der behördlichen Reaktion auf bestehende Umweltbelastungen. In der Praxis hat dies bei Verkehrsumleitungen zur Entlastung eines Raums, die zu Mehrbelastung eines anderen führten, eine Rolle gespielt.26 Allgemein wird man feststellen können, dass die Bildung von Sanierungsschwerpunkten zur Entlastung der am meisten exponierten Räume und der dort lebenden Bevölkerung zulässig ist. Dies dürfte in begrenztem Umfang selbst im Anwendungsbereich des § 47 BImSchG bei Aktionsplänen zur Einhaltung der Immissionsgrenzwerte der 22. BImSchV gelten. Nach § 47 Abs. 2 S. 2 BImSchG müssen die im Aktionsplan festgelegten Maßnahmen bei einer bereits eingetretenen Überschreitung nur geeignet sein, den Zeitraum der Überschreitung zu verkürzen. Dies gestattet m. E. eine gewisse Prioritätensetzung,27 bei der wiederum das Interesse am Schutz der am stärksten exponierten Räume und der dort lebenden Menschen eine besondere Rolle spielt. Bei gebundenen Entscheidungen bestehen über das Modell räumlicher Differenzierung bei Belästigungen, Sachschäden und ökologischen Schäden hinaus dagegen Vgl. die oben Fn. 17 genannten Entscheidungen. Vgl. die oben Fn. 17 genannten Entscheidungen. 27 E. Rehbinder, NuR 2005, 493, 495; a.M. Klinger / Löwenberg, Rechtsanspruch auf saubere Luft?, ZUR 2005, 169, 171. 25 26

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wenige Ansatzpunkte für eine Berücksichtigung von Verteilungsaspekten. Wird anerkannt, dass es sich bei der Verteilungsgerechtigkeit hinsichtlich der Umweltqualität um einen abwägungs- oder ermessenserheblichen Belang handelt, so steht damit auch fest, dass dieser grundsätzlich auch in der Entscheidung berücksichtigt werden muss. Damit ist allerdings noch nichts über die Art und Weise der Berücksichtigung, insbesondere sein Gewicht, ausgesagt.

2. Maßstäbe für die Entscheidung Für die Gewichtung des Belangs „Umweltgerechtigkeit“ liegt es nahe, in erster Linie auf Grundrechte und Verfassungsgrundsätze wie den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) zurückzugreifen. Eine Alternative auf einer anderen Ebene ist das Kompensationsprinzip, das jedenfalls die Abwägung zwischen Effektivität, Effizienz und Umweltgerechtigkeit erleichtern könnte, aber hier nicht behandelt werden kann.28 Insgesamt erweist es sich als schwierig, für den von manchen postulierten Grundsatz der Umweltgerechtigkeit29 eine verfassungsrechtliche Grundlage zu finden. Auf den ersten Blick erscheint das Potential des Gleichheitssatzes am größten. Dieser verbietet, dass durch staatliche Maßnahmen ohne hinreichend gewichtigen Grund wesentlich Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches gleich behandelt wird. Das Problem liegt allerdings bekanntlich in den Prüfungsmaßstäben für eine Verletzung des Gleichheitssatzes und in der Kontrolldichte.30 Die Prüfmaßstäbe reichen vom Willkürverbot bis 28 Dazu im Zusammenhang mit Verteilungskonflikten Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 80 – 83; Suhr, Die Bedeutung von Kompensation und Entscheidungsverknüpfungen, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Konfliktbewältigung durch Verhandlungen, 1990, S. 113 – 138; Kloepfer, DVBl. 2000, 750, 753 f. 29 Kloepfer, DVBl. 2000, 750, 753. 30 Vgl. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, 541; Gubelt, in: v. Münch / Kunig, Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000,

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zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse und entsprechend kann auch die Kontrolldichte variieren.31 Dabei handelt es sich um graduelle Maßstäbe, die eine Vielzahl von Wertungsgesichtspunkten aufnehmen und deren Subsumtionsergebnisse schwer vorherzusagen sind. Da man in den hier betrachteten Konstellationen von rechtlich bedingter oder faktischer Ungleichheit der Umweltbedingungen wohl kaum je von Willkür sprechen kann, kommt es darauf an, ob hier ein Fall vorliegen könnte, für den eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen ist. In diesem Fall müssten nach der vom Bundesverfassungsgericht32 geprägten Formel Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen, oder anders ausgedrückt: die Differenzierungsgründe müssten von solcher Art und solchem Gewicht sein, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können. Vereinzelt ist zusätzlich auch verlangt worden, dass die am wenigsten ungleiche Alternative gewählt wird.33 Eine eher strenge Prüfung der Rechtfertigung wird insbesondere angenommen, wenn Personengruppen und nicht nur Sachverhalte ungleich behandelt werden oder wenn, was vorliegend von besonderer Bedeutung ist, ein Eingriff in den Schutzbereich eines anderen Grundrechts – im Gegensatz zur Versagung einer Begünstigung in der Leistungsverwaltung – erfolgt oder das Grundrecht sonstwie berührt ist34. Nun ist bei dem Problem der Umweltgerechtigkeit typischerweise die menschliche Gesundheit und damit der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG betroffen. Überdies kann die sachverhaltsbezogene Differenzierung der Umweltqualität im Art. 3 Rdnr. 14, 29; Jarass / Pieroth, Grundgesetz, 7. Aufl. 2004, Art. 3 Rdnr. 17 – 25. 31 Vgl. aus neuerer Zeit BVerfGE 99, 367, 388 f.; 103, 172, 193; 108, 52, 57 f.; 113, 167, 214 f. 32 Etwa BVerfGE 82, 126, 146; 102, 68, 87; 107, 25, 45; 108, 52, 77 f.; 113, 167, 214 f. 33 BVerfGE 91, 389, 403 f.; Rüfner, in Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Stand 2006, Art. 3 Rdnr. 97; a.M. Gubelt, in v. Münch / Kunig, GG, Bd. 1, Art. 3 Rdnr. 29; Osterloh, in Sachs, Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 3 Rdnr. 21. 34 BVerfGE 82, 126, 146; 88, 87, 96; 95, 267, 316 f.; 105, 73, 110 f.; 106, 166, 176; 112, 74, 87; 112, 164, 174.

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Umweltrecht ggf. in eine mittelbare personenbezogene Diskriminierung nach Einkommen und sozialem Status umschlagen, für die strengere Prüfmaßstäbe gelten.35 Damit scheint ein Ansatz für die Gewichtung in Abwägungs- und Ermessensentscheidungen gefunden zu sein. Indessen ist dieser Eindruck trügerisch. Folgt man dem herkömmlichen Verständnis, geht es nämlich nicht um Eingriffe des Staates in den Schutzbereich des Grundrechts auf Gesundheit, sondern um die Unterlassung zureichenden Schutzes. Dies gilt selbst dann, wenn durch eine staatliche Maßnahme wie einen Bebauungsplan oder eine Anlagengenehmigung die tatsächliche Position von Drittbetroffenen verschlechtert wird. Die grundsätzliche Anerkennung einer aus den Freiheitsgrundrechten abgeleiteten Schutzpflicht der Staatsorgane einschließlich der Exekutive36 für die Ausübung der Grundrechte und damit auch des Grundrechts auf Gesundheit gegen tatsächliche oder potentielle Beeinträchtigungen durch Dritte geht aber einher mit der Zubilligung eines weiten Einschätzungs-, Bewertungs- und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers und Ermessens der Exekutive. Danach ist die Schutzpflicht nur verletzt, wenn der Staat völlig untätig bleibt oder die getroffenen Maßnahmen evident unzureichend sind.37 Das wäre übrigens nicht anders, wenn man ein Grundrecht auf angemessene Umwelt einführen oder anerkennen würde, da auch in diesem Fall die Unterscheidung zwischen Eingriff und Schutz mit ihren Rechtsfolgen grundsätzlich bestehen bliebe. Das staatliche Ermessen bei der Erfüllung von Schutzpflichten muss zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Anwendung des Gleichheitssatzes haben. Es dürfte zwar anerkannt sein, dass ähnlich wie bei der Vergabe staatlicher Vergünstigungen38 der Gleich35 BVerfGE 88, 87, 96; 91, 346, 363; 95, 267, 316; 99, 367, 388; zur mittelbaren Diskriminierung nach EG-Recht EuGH, Slg. 1999 I 5127, Tz. 19, 22, 30 – Krüger / Kreiskrankenhaus Ebersberg; Slg. 1986, 1607, Tz. 29 – 31 – Bilka Kaufhaus. 36 BVerfGE 77, 170, 214 f.; 101, 1, 9 f.; 107, 350, 357. 37 BVerfGE 49, 89, 142; 56, 54, 78 – 82; 77, 381, 402 f., 405; BVerfG, NJW 1997, 2509; NJW 2002, 1638; NJW 2006, 891. 38 BVerfGE 49, 280, 283; 51, 295, 300 ff.; 103, 242, 258; 112, 74, 87; BVerfG, NVwZ 2004, 597, 602; BVerwGE 101, 86, 95.

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heitssatz auch im Bereich der Schutzpflichten anwendbar ist.39 Die Anwendung des Gleichheitssatzes liegt hier zwar in gedanklicher Nähe zu einer allgemeinen Verpflichtung zum Abbau tatsächlicher Ungleichheit. Eine solche Schutzpflicht für Gleichheit ist nach ganz h. M.40 Art. 3 Abs. 1 GG – im Gegensatz zu Art. 3 Abs. 2 GG – fremd und kann sich allenfalls in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ergeben. Jedoch muss sich alles Staatshandeln am Gleichheitssatz ausrichten und dies gilt dann auch für das Handeln zur Ausfüllung einer positiven Schutzpflicht (im Gegensatz zum reinen Unterlassen). Dies bedeutet, dass insoweit nicht nur – durch die weichen Anforderungen des Untermaßverbots relativiert – angemessener, sondern auch gleicher Schutz zu fordern ist. Indessen muss aus Gründen der Systemgerechtigkeit dann auch der weite Entscheidungsspielraum der Staatsorgane und der Evidenzvorbehalt gelten. Selbst wenn man also, was im Lichte der neueren Rechtsprechung41 plausibel erscheint, wegen der Grundrechtsberührung sowie ggf. wegen mittelbarer Ungleichbehandlung von Personengruppen strengere Kontrollmaßstäbe befürwortet, kann ungleicher Schutz nur dann gleichheitswidrig sein, wenn die fehlende Rechtfertigung im Sinne eines unangemessenen Verhältnisses zwischen Ungleichbehandlung und rechtfertigenden Gründen evident ist. Zuteilungs- und Verteilungsentscheidungen hinsichtlich der Umweltqualität stehen damit zwar unter einem gewissen Legitimierungsdruck. Da es sich jedoch im Verhältnis zu anderen Betroffenen ebenso wie zu den Verschmutzern um mehrpolige Beziehungen handelt und das gesamte Interessengeflecht in die Bewertung eingeht, dürften die behördlichen Entscheidungsspielräume nicht allzu sehr eingeschränkt sein. In zweiter Linie kommt das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) in Betracht. In seinem Kern verlangt es als Korrektiv gegen die sozialen Auswirkungen des Marktmechanismus, dass dem 39 BVerfGE 112, 74, 87; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rdnr. 64, 88 f.; Gubelt, in: v. Münch / Kunig, GG, Bd. 1, Art. 3 Rdnr. 10. 40 Rüfner, in: Bonner Kommentar, Bd. 1, Art. 3 Rdnr. 53 f.; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 4. Aufl. 1999, Art. 3 Rdnr. 3 ff.; Jarass / Pieroth, GG, Art. 3 Rdnr. 12. 41 BVerfGE 112, 74, 87.

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Einzelnen ein ökonomisches Existenzminimum gewährleistet wird und dass eine ausgewogene soziale Entwicklung mit annähernd gleichen Vorteilen und Lasten aller Bürger anzustreben ist.42 Das Sozialstaatsprinzip wird vielfach auf diesen öko-sozialen Kernbereich beschränkt, betrifft aber auch andere Aspekte der Lebensqualität und schließt daher grundsätzlich den Gesundheitsschutz ein.43 Wenngleich man dabei nicht eigentlich den Schutz gegen Beeinträchtigungen durch Dritte, sondern die Volksgesundheit und deren soziale Implikationen, insbesondere die Krankenversorgung, im Auge hat,44 gibt es keine zwingenden Gründe dagegen, das Sozialstaatsprinzip auch dann anzuwenden, wenn verbreitete Beeinträchtigungen oder Gefährdungen der Gesundheit durch Dritte wegen der bloßen (mittelbaren) Ungleichbehandlung von Personengruppen soziale Fragen aufwerfen.45 Dies ist rechtlich bedeutsam, weil dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsgrundrechten auch ein Auftrag zur Herstellung von Chancengleichheit immanent ist. Allerdings besteht wohl Einigkeit darüber, dass volle Chancengleichheit weder erwünscht noch herstellbar ist, es vielmehr nur darum geht, Ungleichheit zu mindern46. Bezogen auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergibt sich daraus ein in diesem Sinne relativierter Auftrag zur Herstellung gleicher Gesundheitschancen für alle Bürger, d. h. auf An42 BVerfGE 94, 241, 263; 100, 271, 284; Badura, Der Sozialstaat, DÖV 1989, 491, 492 f.; Zacher, Die soziale Frage, in HdStR, Bd. 1, 2. Aufl. 1995 Rdnr. 32. 43 BVerfGE 57, 70, 99; 113, 167, 215; Benda, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, Rdnr. 163 f. 44 Vgl. hierzu Hermes, Das Grundrecht auf Leben und Gesundheit, 1987, S. 129 – 133; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 33. 45 Vor Einführung des Art. 20a GG wurde z. B. aus dem Sozialstaatsprinzip vielfach eine staatliche Pflicht zum Umweltschutz hergeleitet; vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 908 f.; Steiger, in: Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, S. 27 f.; Breuer, Strukturen und Tendenzen des Umweltschutzrechts, Der Staat 20 (1981), 393. 46 BVerfGE 33, 303, 331; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, Art. 3 Rdnr. 33 ff.; Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 2, 4. Aufl. 2000, Art. 20 Rdnr. 105; Schnapp, in v. Münch / Kunig, Grundgesetzkommentar, Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 20 Rdnr. 37; Zacher, HdStR, Bd. 1, Rdnr. 38, 62, 78.

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gleichung der tatsächlichen Voraussetzungen für die Erhaltung der Gesundheit, unter anderem hinsichtlich der Umweltbedingungen.47 Der programmatischen Stärke des Sozialstaatsprinzips korrespondiert freilich eine weitgehende Unverbindlichkeit auf der Seite der Rechtsfolgen. Das Sozialstaatsprinzip ist in erster Linie an den Gesetzgeber adressiert, dem aber ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht;48 konkrete Pflichten lassen sich aus dem Prinzip regelmäßig nicht ableiten, weil jeder Eingriff zugunsten einer bestimmten sozialen Gruppe mit Belastungen des Staatshaushalts oder anderer Gruppen verbunden ist. Insbesondere gibt es keine Gesetzgebungspflicht auf Herstellung von Umweltgerechtigkeit im Sinne von Umweltgleichheit. Auf der Ebene der Exekutive ist das Sozialstaatsprinzip zwar ebenfalls bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu berücksichtigen, insbesondere bei Entscheidungen mit Abwägungs- oder Ermessensspielraum.49 Bisher hat dies nur vereinzelt im Bereich staatlicher Leistungen und im Ausländerrecht eine Rolle gespielt. In keinem Fall haben bisher die Gerichte einen aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatz der Herstellung gleicher sozialer Chancen und schon gar nicht gleicher Gesundheitschancen angewandt. Selbst wenn man hier weiterginge, bliebe es bei einer bloßen Berücksichtigungspflicht. Darin kommen die relative Unverbindlichkeit des Sozialstaatsprinzips und das grundsätzliche Primat des Gesetzgebers zum Ausdruck. Ein Auftrag zur Herstellung gleicher Gesundheitschancen könnte nur einen abwägungserheblichen oder ermessensleitenden Grundsatz darstellen. Er vermöchte die Ausübung der Abwägungs- und Entscheidungsspielräume nur in krassen Fällen zu steuern, etwa wenn es evident ist, dass ansonsten die Gesundheitsbelange einer ins Gewicht fallenden Zahl von Betroffenen völlig vernachlässigt würden.50 47 Vgl. Maschewsky, oben Fn. 7, S. 41, 44, 147, 190; Heinrich et al., oben Fn. 7, S. 90 – 92. 48 BVerfGE 65, 182, 193; 70, 278, 288; 71, 66, 80; Badura, DÖV 1989, 491, 494 f.; Schnapp, in: v. Münch / Kunig, GG, Bd. 2, Art. 20 Rdnr. 38. 49 BVerwGE 1, 97, 105; 42, 148, 157 ff.; 56, 254, 260; 68, 80, 84; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 916.

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3. Entscheidungsinhalte Fragt man danach, was denn nun auf der Grundlage des Gleichheitssatzes sowie des sozialstaatlichen Auftrags zum Abbau von Ungleichheiten der Verteilung von Umweltqualität inhaltlich an Umweltgerechtigkeit geboten ist, gerät man etwas in Verlegenheit. Obwohl dies trivial ist, muss doch in Erinnerung gerufen werden, dass in rechtlicher Sicht Umweltgerechtigkeit nicht notwendig mit Umweltgleichheit identisch ist. Im bisherigen deutschen Schrifttum zur Umweltgerechtigkeit herrscht zwar alles andere als Klarheit über das jeweils befürwortete Konzept der Umweltgerechtigkeit. Jedoch sieht es wohl niemand – übrigens im Gegensatz zur internationalen Diskussion über Verteilungsfragen im Nord-SüdVerhältnis im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung – als zwingend an, dass es einen Grundsatz strikter Umweltgleichheit geben sollte. Vielmehr sucht man nach Rechtfertigungen für eine ungleiche räumliche oder soziale Verteilung der Umweltqualität wie etwa Schutzwürdigkeit aufgrund der Standortbedingungen, Akzeptabilität des Umweltrisikos, Existenz kompensierender Umweltbedingungen in anderen Bereichen und / oder wirtschaftlicher Vorteile oder man fordert die Beseitigung krasser Ungleichheit verbunden mit einem Minimumstandard und dem Grundsatz der am wenigsten ungleichen Alternative.51 50 Denkbar wäre auch die Anknüpfung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (so Rowe, oben Fn. 6, S. 327). Eine Ungleichbehandlung kann zwar so belastend sein, dass sie zugleich gegen diesen Grundsatz verstößt (BVerfGE 30, 292, 316), jedoch gibt es keinen allgemeinen Anspruch auf eine „ausgewogene“ Umweltpolitik (vgl. BVerfGE 47, 109, 117 f.; 50, 142, 166; 71, 206, 217 f.; großzügigerer Prüfungsmaßstab aber in BVerfGE 90, 145, 196; vgl. auch Di Fabio, Voraussetzungen und Grenzen des Vorsorgeprinzips, FS. Ritter, 1997, 807, 825). Im Übrigen wird im hier relevanten Bereich der Schutzpflichten der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur in der abgeschwächten Form des Untermaßverbotes anerkannt. Seine Anwendung könnte daher kaum je zu weitergehenden Ergebnissen führen als die direkte Anwendung des Gleichheitssatzes, dem ohnehin Verhältnismäßigkeitsüberlegungen immanent sind. 51 Kloepfer, DVBl. 2000, 750, 753 f.; Rehbinder, oben Fn. 6, Rdnr. 73; Rowe, oben Fn. 6, S. 323, 327; weitergehend wohl Maschewsky, oben Fn. 7, S. 41, 44, 147, 178, 190 (gleiche Gesundheitschancen für alle Bürger).

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Eine Orientierung an philosophischen Theorien der Verteilungsgerechtigkeit ist weniger ertragreich, als man dies zunächst vermuten mag, selbst wenn man gewisse, oben bereits genannte Extrempositionen von vornherein unberücksichtigt lässt. Dies beruht zum einen auf der großen Vielfalt der Theorien, zwischen denen eine Entscheidung schwierig ist. Vor allem fällt ins Gewicht, dass die Theorien die komplexen Entscheidungssituationen mit einer Vielzahl von Akteuren und mannigfaltigen Wechselwirkungen nicht ausreichend abbilden und zu sehr an der Verteilung von Gütern als, wie dies für den Umweltschutz typisch ist, an der von Risiken und Chancen orientiert sind. Ich muss es mir versagen, auf die philosophischen Gerechtigkeitstheorien, die die rechtliche Entscheidung ja ohnehin nur zu inspirieren, nicht aber zu steuern vermögen, näher einzugehen.52 Ausdrücklich nennen möchte ich als Beleg für die genannten Vorbehalte eine auf Risiken und Chancen bezogene Abwandlung der einflussreichen diskursiven Gerechtigkeitstheorie von John Rawls durch Gethmann.53 Nach dessen Auffassung umfasst eine moderne Gerechtigkeitstheorie vier Grundsätze: die Akzeptabilität von Risiken, die man auch bisher akzeptiert hat (Risiko / Risiko-Vergleich), die Ausgewogenheit von Chancen und Risiken, die Regel des größten relativen Nutzens für die bisher am wenigsten durch Chancen Begünstigten und ein an ökonomische Theorien angelehntes Entschädigungsprinzip. So bedenkenswert diese Theorie sein mag, so erscheint doch evident, dass sie für die Bewältigung konkreter Entscheidungsprobleme wenig hergibt. In rechtlicher Sicht kann auf dem Boden des Gleichheitssatzes und des Sozialstaatsprinzips in Verbindung mit dem Grundrecht auf Gesundheit kaum vertreten werden, dass Gleichheit der Umweltbedingungen für alle Bürger anzustreben sei. Solange wirtschaftliche und soziale Ungleichheit durch die Rechtsordnung toleriert werden, muss dies auch für die Umweltungleichheit gelten. Selbst wenn man die gegenteilige Ausgangsposition verträte, 52 Vgl. dazu etwa Rowe, oben Fn. 6, S. 322 – 326; Gethmann, Ethische Probleme der Verteilungsgerechtigkeit im Umweltstaat, in: Gethmann / Kloepfer / Reinert, Verteilungsgerechtigkeit im Umweltstaat, 1995, S. 1 – 22; Voßkuhle, Die Verw. 1999, 21, 30 – 34. 53 Oben Fn. 52.

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wären doch Abwägungen zwischen Umweltwirksamkeit und Effizienz auf der einen Seite, einer gerechten Verteilung auf der anderen Seite erforderlich. Ungleichheit der Umweltbedingungen ist im Bereich der Schutzpflichten daher nur ungerecht, wenn die Ungleichbehandlung offensichtlich außer Verhältnis zu den Gründen steht, auf die sie gestützt wird. Hier kann man zum einen an das von vielen ins Spiel gebrachte Konstrukt des Umweltminimums anknüpfen. Gefordert ist ein Umweltniveau für Bewohner benachteiligter Räume, das noch als akzeptabel angesehen werden kann.54 Im Wesentlichen wird diesem Erfordernis durch das Sicherheitsnetz der Gefahrenabwehr Rechnung getragen. Soweit dieser Minimumstandard in Gebieten mit bestehenden Belastungen nicht eingehalten ist, müssen die Lebensbedingungen der betroffenen Bevölkerung so weit wie möglich verbessert werden. Insoweit ist m. E. eine Reduzierung des behördlichen Vollzugsermessens geboten, soweit dies nach geltendem Recht noch besteht. Die Regelungen der § 17 Abs. 1 S. 2, § 47 Abs. 2, Abs. 6 S. 1 BImSchG, § 75 Abs. 2 S. 2 VwVfG sind ein sinnvoller, aber auch gebotener Ansatz in dieser Richtung. Darüber hinaus sprechen das Gewicht des Grundrechts auf Gesundheit und die praktische Unmöglichkeit der Abgrenzung von Gefahrenabwehr, wo eine Differenzierung der Umweltbedingungen grundsätzlich ausgeschlossen ist, und risikobezogener Vorsorge, wo sie prinzipiell stattfinden kann, dafür, dass in der Grauzone zwischen Gefahrenabwehr und risikobezogener Vorsorge eine Angleichung der Exposition angestrebt werden muss.55 Auch insoweit hat § 47 Abs. 2, Abs. 6 S. 1 BImSchG Modellcharakter, da die in der 22. BImSchV festgelegten Immissionsgrenzwerte weitgehend der risikobezogenen Vorsorge zuzurechnen sind.56 Entsprechendes gilt im Grenzbereich zwischen Gesundheitsgefahr und erheblicher Belästigung, was allerdings eher für den Lärmschutz als für den Schutz gegen Luftverunreinigungen von Bedeutung ist. Rowe, oben Fn. 6, S. 327; Rehbinder, oben Fn. 6, Rdnr. 73 f. So wohl Salzwedel, Rechtsgutachten, in: LAI, oben Fn. 9, Teil IV, S. 1, 31 – 33. 56 Rehbinder, NuR 2005, 493, 494; a.M. wohl Sparwasser / Stammann, ZUR 2006, 169, 176. 54 55

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Unterhalb dieser Ebene könnte man allenfalls noch staatliche Einwirkungen auf die Verteilung von Umweltqualität in dem Sinne verlangen, dass eine evident unausgewogene Verteilung der Umweltqualität möglichst zu korrigieren ist. Allerdings bestehen keine grundsätzlichen rechtlichen Bedenken gegen eine räumliche Differenzierung der Umweltqualität mit dem Ziel der Konzentration umweltbelastender Anlagen in bestimmten Gebieten und der Schaffung und Erhaltung von Ausgleichs-, Erholungs- und Ruheflächen, wie sie das Bauplanungsrecht vorsieht. Das Gleiche gilt auf der Ebene des Immissionsschutzrechts. Was das Erfordernis der Gewährleistung eines Umweltminimums in allen Räumen genau bedeutet, ist nicht immer leicht zu bestimmen. Soweit einheitliche Umweltqualitätsstandards für den Gesundheitsschutz bestehen, ist die Antwort relativ einfach: diese sind einzuhalten und Überschreitungen auf Kosten benachteiligter Gebiete und der dort lebenden Wohnbevölkerung mit typischerweise niedrigem Einkommen müssen schrittweise abgebaut werden. Entsprechendes gilt für die Gefahrenabwehr im Rahmen der § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 17, 24 BImSchG, § 74 Abs. 2 S. 2, § 75 Abs. 2 S. 2 VwVfG. Soweit Umweltqualitätsstandards räumlich differenziert sind (was im Bereich der Luftreinhaltung beim Gesundheitsschutz gegenwärtig nicht der Fall ist) oder in Ermangelung solcher Standards unbestimmte Gesetzesbegriffe wie erhebliche Belästigung in dieser Richtung ausgelegt werden, entstehen schwierigere Fragen, die überdies zum Teil die exekutivische Rechtssetzung und nicht die Rechtsanwendung i. e. S. betreffen – mit entsprechenden Folgen für die Kontrolldichte. Eine Differenzierung der Qualitätsanforderungen nach vorherrschender Nutzung, insbesondere die Unterscheidung zwischen Wohn-, Mischund Industriegebieten ist grundsätzlich gerechtfertigt, jedenfalls dann, wenn es ausreichende Instrumente gibt, um eine unkontrollierte Wohnbesiedlung in den Gebieten zu verhindern, die aufgrund ihrer vorgesehenen Nutzung stärker belastet sind oder werden können. Soweit die Differenzierung der Umweltqualität an die vorhandene Umweltbelastung und nicht an die herrschende Nutzung anknüpft, steht die Umweltgerechtigkeit schon eher auf dem Prüfstand. Die bloße Tatsache, dass ein Raum und die dort lebende

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Bevölkerung bereits eine erhebliche Umweltbelastung zu tragen haben, rechtfertigt nicht die Auferlegung einer signifikant höheren Belastung mit der Begründung, dass das Gebiet nicht schutzwürdig sei. Hierbei handelt es sich um ein sachwidriges Differenzierungskriterium, das auch bei Anwendung der weniger anspruchsvollen Kontrollmaßstäbe im Bereich der Schutzpflichten nicht akzeptabel ist.57 Die Beseitigung oder Milderung von Ungerechtigkeit hinsichtlich der Verteilung von Umweltqualität kann neue Ungerechtigkeiten schaffen; es können konfligierende Ansprüche auf Umweltgerechtigkeit entstehen. Ein einschlägiges Beispiel sind Standortentscheidungen oder verkehrsregelnde Maßnamen zur Beseitigung oder Minderung erheblicher Umweltbelastungen in einem bestimmten Gebiet. Hier lässt sich die Frage stellen, ob die Bewohner eines Gebiets nicht ein Recht auf einen auf ihre Umweltbedingungen bezogenen Bestandsschutz oder doch ein entsprechendes rechtlich relevantes Interesse haben. Grundsätzlich ist jedenfalls ein subjektives Recht auf Erhaltung des Status quo nicht anzuerkennen, selbst wenn sich die Anwohner in ihrer Eigenschaft als Eigentümer auf die Eigentumsgarantie stützen können. In abgeschwächter Form haben die Verwaltungsgerichte allerdings die Legitimität dieses Interesses anerkannt. So haben sie etwa in Bezug auf Verkehrsumleitungen eine bloße Verlagerung von Belastungen von einer Straße auf eine Umleitungsstraße als Mittel zur Minderung erheblicher Gesundheitsgefahren abgelehnt oder doch einer strengen Ermessenskontrolle unterworfen.58 Bedeutsamer in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass die EG-Luftqualitätsrichtlinie und § 50 S. 2 BImSchG, der diese Regelung umsetzt, ein Verbot einer wesentlichen Verschlechterung einer bestehenden guten Luftqualität eingeführt haben. Bei allen raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen muss die Erhaltung der bestmöglichen Luftqualität als Belang berücksichtigt werden. Diese Regelung umfasst Bauleitpläne, Planfeststellungen, 57 Vgl.VGH München, NVwZ-RR 2000, 661, 665; zum Lärmschutz BVerwGE 56, 110, 131; 59, 253, 268; 87, 332, 358; 107, 350, 357. 58 Vgl. die oben Fn. 17 genannten Entscheidungen; hierzu auch Sparwasser / Stammann, ZUR 2006, 169, 174.

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die Genehmigung von Industrieanlagen, Umweltfachpläne wie Luftreinhalte- und Aktionspläne und verkehrsregelnde Maßnahmen.59 Es besteht allerdings kein striktes Verbot; vielmehr ist die Erhaltung der bestehenden Luftqualität nur ein abwägungs- oder ermessenserheblicher Belang, der überwunden werden kann.60 Immerhin ergibt sich aus der Regelung eine Leitlinie, wonach Maßnahmen zu allererst gegen die Verursacher zu richten sind und eine Umverteilung der Belastung nur subsidiär in Betracht kommt.

V. Schlussbetrachtung Umweltgerechtigkeit ist ein Problem, das auf der Tagesordnung des deutschen Umweltrechts bisher unter „Verschiedenes“ läuft. Das ist dem Problem nicht angemessen. Die Frage nach der Verteilung von Umweltqualität eröffnet eine neue Perspektive für staatliche Entscheidungen, die mehr Aufmerksamkeit verdient. Verteilungsgerechtigkeit ist ein abwägungserheblicher und ermessensleitender Belang. Die eher grobmaschigen Maßstäbe des Gleichheitssatzes und des Sozialstaatsprinzips in Verbindung mit dem Grundrecht auf Gesundheit richten sich allerdings nur gegen krasse Benachteiligungen im Gesundheitsbereich. Das mag man als Nachteil empfinden. Der Vorteil liegt indessen darin, dass sie als Kehrseite auch allzu gleichmacherischen Tendenzen entgegenwirken.

Jarass, BImSchG, § 50 Rdnr. 5 – 8, 32. Jarass, BImSchG, § 50 Rdnr. 35; vgl. schon zum bisherigen Recht BVerwGE 87, 322, 324; 107, 313, 322 f. 59 60

Verfassungsdenken jenseits des Staates Abschiedsvorlesung vom 8. Juli 2006 Von Rainer Wahl, Freiburg i. Br. Wenn ein Staatsrechtslehrer vom Abschied spricht, dann weiß man nicht sogleich, wovon er spricht. Spricht er von seinem Abschied, dann ist dies ein Ereignis, dem besondere Bedeutung nicht zukommt. Spricht er dagegen über den Abschied von seinem Gegenstand, also dem Abschied vom Staat, dann wäre dies sicherlich von besonderer, ja welthistorischer Bedeutung. In der Tat gibt es eine umfangreiche Abschiedsliteratur. Entgegen allen rhetorischen Regeln lasse ich die Beantwortung dieser Alternative, worum es beim Thema Abschied geht, nicht bis zum Ende offen, sondern komme gleich zur Ausgangsfeststellung. Der Staat ist nicht verabschiedet, er ist kein Auslaufsmodell. Aber er hat sich gewandelt und zwar so sehr, wie er es in seiner jahrhundertelangen Geschichte zuvor nicht getan hat. Diese Auffassung ist weit verbreitet. Einige ihrer prominentesten Vertreter sind anwesend. Nennen möchte ich einen Vorgänger in der Gattung der Abschiedsvorlesung, nämlich den Gießener Kollegen Heinhard Steiger. Er hat seine Abschiedsvorlesung unter den Titel gestellt: Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende?1 Er hat diese Frage überzeugend verneint und ich stimme ihm zu. Es geht also nicht um den Abschied vom Staat, sondern um den großen, den sehr großen Wandel des Staates vom geschlossenen souveränen Staat, der die Alleinvertretung des Politischen nach außen hatte, zu einem Mitspieler in einer aus drei Ebenen bestehenden Gesamtkonstellation von Staaten, der supranationalen Integrationsgemeinschaft in Europa und internationalen Organisa1

Der Staat, 41 (2002), S. 331 ff.

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tionen. Und es geht darum, ob das rechtliche Glanzstück der Staaten, nämlich ihre Verfassungen, auch für andere Ebenen, für die politischen Einheiten jenseits des Staates, Geltung beanspruchen, rechtliche Kraft ausüben und gestaltende Funktion haben können. Die Europäische Union und die internationalen Organisationen haben einen größeren Wirkungskreis, der sie auszeichnet. Die Frage ist, ob sie auch das Verfassungsdenken in seinem Kern und seiner Wirkkraft in sich aufnehmen können und in diesem Sinne Erweiterung und Vertiefung, nämlich räumliche Erweiterung und rechtsstaatlich-demokratische Vertiefung zugleich leisten können. Um der Beantwortung dieser Frage näherzukommen, möchte ich zunächst in drei großen Strichen die Entwicklung des gesamten Öffentlichen Rechts in den letzten 60 Jahren auf seinen drei Ebenen zeichnen. Ich beginne den Rückblick auf die Zeit nach 1945 mit einem dreifachen Staunen: – Zu staunen ist über den Siegeszug des inneren Verfassungsstaates in Deutschland und in wichtigen Teilen der westlich geprägten Welt. – Zu staunen ist über eine präzedenzlose Entwicklung in Europa – nur in Europa – zu einer vorher unbekannten Form der supranationalen Gemeinschaft. – Und zu staunen ist drittens über einen beispiellosen Aufschwung des Völkerrechts und der Verrechtlichung der internationalen Ordnung.

Gewendet ins Rechtliche geht es jedesmal um eine Vertiefung und Steigerung des Rechts, des Staatsrechts, des Europarechts und des Völkerrechts.

I. Fortschritte des inneren Verfassungsstaates Als erste Erfolgsbilanz ist der beträchtliche Bedeutungsgewinn der nationalen staatlichen Verfassung zu nennen. Das Grundgesetz ist dafür ein sichtbares, aber nicht das einzige Beispiel. Dem Grundgesetz stand kein Gründungsmythos zur Seite, es hatte keinen besonderen emotionalen Start, dafür hatte es den ent-

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schiedenen Willen seiner Väter und Mütter zur Seite, die neue Grundordnung auf eine inhaltliche und materielle Basis, nämlich auf Grundsätze und Freiheitsrechte zu gründen, auf Werte, wie es bald allgemein hieß. In der weiteren Folge hat sich das Grundgesetz rasch zu einer normativ wie real kraftvollen Verfassung neuen Typs entwickelt. Der Ausbau der Verfassungsstaatlichkeit ist in Deutschland in einem hohen Maße, man möchte sagen zu einem Höchstmaß vorangetrieben worden. Eine bedeutsame Rolle spielt dabei das Bundesverfassungsgericht, das auch im Verhältnis zum Supreme Court und anderen hochgeachteten Verfassungsgerichten in der Welt eine wohl einzigartige und einzigartig umfassende Kompetenz hat. Die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes hat auch einiges dazu beigetragen, dass das Verfassungsrecht insgesamt, die Verfassungsstaatlichkeit und das Verfassungsdenken im öffentlichen Leben einen unbestrittenen Platz erhalten haben. Dies war 1949 und dies ist 2006 alles andere als selbstverständlich, macht sich doch das Verfassungsrecht anheischig, die politische Macht selbst zu binden, sie in Form und Verfasstheit zu bringen und das politische Leben nachhaltig in die Bahn des Rechts zu lenken. Kurzum wir haben uns an eine tiefgreifende Verrechtlichung des politischen Lebens gewöhnt, die Verfassung und ihre Normen sind kein leeres Stück Papier, ihre Verletzung bleibt nicht folgenlos. Der Eindruck, dass die innere Verfassungsstaatlichkeit in den Jahrzehnten nach 1949 auf einem Höhepunkt angekommen ist, liegt nicht fern. Aber – und nicht selten – ist es so: Während die Zeitgenossen diese Entwicklung noch feiern, hat sich längst Neues ereignet. Die Blüte der Verfassungsstaatlichkeit könnte zur Spätblüte werden, weil Neues entstanden ist, das Vorrang beansprucht. Es gibt offensichtlich auch andere Entwicklungen in der Zeit nach 1945.

II. Die supranationale Integrationsgemeinschaft und ihre Mitgliedsstaaten Auf einer zweiten Ebene fällt natürlich die europäische Integration ins Auge. Auch dafür ist das Grundgesetz selbst bemerkens-

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wert deutlich. 1949 – das war ein Doppelanfang: ein Neubeginn der inneren Verfassungsstaatlichkeit und zugleich das Startsignal für einen grundsätzlichen Wandel des Staates, den Wandel zu einem offenen Staat, zum integrations- und kooperationsbereiten Staat. Der historische, präzedenzlose Wandel – das ist die Verwandlung des Staates in einen Mitgliedsstaat. Natürlich ist die Bundesrepublik Deutschland weiterhin ein Staat. Was die Bundesrepublik jedoch von allen Vorgängern trennt, ist der Status des Mitgliedsstaates. Dieser Status ist die Ursache der meisten Neuerungen und Andersartigkeiten. Er ist der Quell einer anhaltenden Evolution des Rechts in all seinen Erscheinungsformen. Alle klassischen Attribute des Staates, in Jahrhunderten ausgebildet, sind stark abgeschwächt oder relativiert, so Autonomie, Eigenständigkeit, Selbständigkeit, Souveränität, In-Sich-Ruhen, Selbstgenügsamkeit. Benützt man den allseits beliebten Indikator für einen grundsätzlichen Wandel, das Wort vom Paradigmenwechsel, dann ist der Wechsel von der Kategorie des Selbständigen zu dem der Wechselbeziehungen und des Verflochtenseins ein solcher Paradigmenwechsel, der das gesamte Bezugs- und Koordinatenfeld verändert: Der bisherige Solist Staat ist zum Mitgliedsstaat geworden. Im Vorübergehen sei mit Staunen vermerkt, dass die europäische Entwicklung schon sehr früh begann, dass sie weiter zurückliegt als die Gründungsverträge zur EWG 1957, deren fünfzigstes Jubiläum im nächsten Jahr begangen wird. Unter dem Eindruck der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und in dem produktiven Willen, die Fehler von 1919 zu vermeiden, begann 1948 die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD). Es folgten Gründung und Satzung des Europarats 1948 / 49. Dann kam gleich der erste Höhepunkt 1950, die Europäische Menschenrechtskonvention. Es folgte auf dem Weg zur Europäischen Gemeinschaft die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Probelauf für die EWG. Die Erfolgsbahn war, wie wir wissen, nicht einlinig oder stetig. Sie wurde durch die zu früh gewollte und deshalb gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft unterbrochen, bis dann ein zweiter Anlauf 1958 mit dem Beginn der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von zunächst 6 Mitgliedern gelang. Zu bemerken ist nochmals:

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Die Zeitgenossen waren vor allem mit der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik und seines Grundgesetzes mental beschäftigt. Gleichzeitig war kräftig Neues im Werden. Auf der europäischen Ebene wiederholt sich die besondere Bedeutung des Rechts. Die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union verstehen sich nach dem bekannten Wort von Walter Hallstein betont und ausdrücklich als Rechtsgemeinschaft. Dies hat zu einer veritablen eigenen Rechtsordnung des Gemeinschaftsrechts und zu einem enormen Korpus an Richterrecht durch die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg geführt. Es kommt hinzu und soll nur mit einem Satz zusammengefaßt werden: Mit der europäischen Integration und ihrem Recht ist ein fundamentaler Veränderungsprozess für jedes nationale Recht in der Europäischen Union verbunden. Die Stichworte lauten Europäisierung, wechselseitige Beeinflussung, Überformung des nationalen Rechts, Gemeinschaftsrecht als Motor der Rechtsentwicklung. Der Fluchtpunkt der absehbaren und für uns interessanten Entwicklungsspanne ist aber nicht das Aufgehen des nationalen Rechts im Gemeinschaftsrecht oder sein Absterben, sondern die Aufrechterhaltung einer Doppelung der Rechtsordnungen, einer Doppelung, die ein zentrales und wesensbestimmendes Merkmal der Integration ist und die ihren Grund in den politischen Grundverhältnissen hat, nämlich in der der Doppelung von Staaten und Integrationsgemeinschaft und ihrer Verbindung zu einer Gesamtkonstellation. Ein Rechtsregime wie das des Gemeinschaftsrechts beeinflusst und wirkt nun auch – man möchte sagen natürlich auch – auf das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten ein, und zwar in bedeutsamer Weise. Daran ist im vorliegenden Zusammenhang wichtig: Ein Rechtsregime, das in der Lage ist, verändernd auf das nationale Verfassungsrecht einzuwirken, muss selbst unter die Anforderungen der Verfassungsidee und des Verfassungsdenkens treten. Dies ist in den einander korrespondierenden Grundregeln des Art. 23 GG und Art. 6 EUV geschehen. Nach Art. 23 I GG darf sich die Bundesrepublik als Mitgliedsstaat nur an einer Gemeinschaft beteiligen, die den anspruchsvollen, aus dem Gedankengut des Verfassungsdenkens im Staat entstammenden Grundsätzen genügt: Die Europäische Union ihrerseits darf und will nur Mit-

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gliedsstaaten haben, die sich zu den nun auch als suprastaatliche Grundsätze verstandenen Prinzipien der Freiheit und Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit bekennen. Eine Gemeinschaft, die für ihre Mitgliedsstaaten in dieser Weise das Verfassungsdenken für grundsätzlich und maßgeblich hält, muss mit einer inneren Konsequenz das Verfassungsthema auf ihre Tagesordnung setzen. Deutlich sichtbar trifft hier Verfassungsdenken auf Verfassungsdenken.

III. Die plötzlichen Fortschritte des Völkerrechts seit 1989 Die dritte Linie nimmt die beiden großen Wachstumsphasen des Völkerrechts ins Blickfeld. Das Völkerrecht hat seinen ersten großen Quantensprung in den 40er Jahren erlebt, ihm folgten seine plötzlichen Fortschritte nach 1989, nach dem Ende des Kalten Kriegs. Hatte der Kalte Krieg und die durch ihn bewirkte Blockade des Sicherheitsrats zum Ende der ersten großen Entwicklungsphase des neueren Völkerrechts mit der Geburtsstunde der großen Internationalen Organisationen (Internationaler Währungsfonds, Weltbank) und der Vereinten Nationen sowie der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte (1948) geführt, so endete 1989 die Selbstblockade der UN im Sicherheitsrat mit den wechselseitig ausgeübten Vetos der beiden Weltmächte. Danach konnten schon lange Zeit projektierte Vorhaben Gestalt annehmen, wie die Gründung der Welthandelsorganisation WTO, es bekamen Weltverträge wie die Rio-Abkommen und andere Umweltverträge Entwicklungsmöglichkeiten. Die Expansion des Völkerrechts im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist groß und beeindruckend. Der Wandel des Völkerrechts wird häufig in einem Drei-Schritt gesehen: vom Koordinationsrecht über das Kooperationsrecht zur Konstitutionalisierung des Völkerrechts. Die größte Aufmerksamkeit in der neueren Geschichte des Völkerrechts beansprucht die letzte Entwicklung, die das Verfassungsdenken innerhalb der Staaten unmittelbar aufgreift und unter dem Kunstnamen der Konstitutionalisierung diskutiert. Man spricht auch vom

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public law approach. Nach ihm haben grundlegende Normen des Völkerrechts eine ähnliche Rolle und Funktion wie klassische Verfassungsbestimmungen. Sie haben die Qualität von zwingendem Völkerrecht, weil sie auf elementaren Werten und Grundsätzen des Rechts beruhen. Solch zwingendes Völkerrecht ist vorrangiges Recht. Es beansprucht auch gegen den Willen einzelner Staaten Geltung. Sein Anwendungsbereich ist naturgemäß nicht umfassend, es geht vor allem um den Schutz von Menschenrechten. Das zwingende Recht ist das Symbol eines neuen Völkerrechts, das sich partiell von der alten Legitimationsbasis des Staatenwillens ablöst und eine eigene Grundlage findet. Vor allem in diesen Elementen der Konstitutionalisierung begegnen wir zum dritten Mal dem Verfassungsdenken, diesmal in einer spezifischen Ausprägung auf der dritten Ebene.

IV. Die politische Gemeinschaft in der zweistufigen Konstellation Das weite Panorama, das ich in großen und groben Strichen gezeichnet habe, markiert höchst eindrucksvolle Entwicklungen. Die Vielzahl der Themen enthält aber nicht die Ankündigung, dass ich dies jetzt alles behandele. Das Thema ist so weit, dass eine erschöpfende Behandlung nicht zu erwarten ist. Ich beschränke mich auf die beiden ersten Ebenen, Staaten und Europäische Union; die völkerrechtliche Problematik lasse ich aus. Im Weiteren knüpfe ich an die erwähnten drei Erfolgsgeschichten des Verfassungsdenkens an und frage von hier aus nach ihrem Gesamtergebnis: Verbinden und verstärken sich – so lautet die Hauptfrage – die drei Entwicklungslinien in der Art einer Addition zu einem großen Fortschritt des Verfassungsdenkens oder sind ihre Wirkungen teilweise gegenläufig, so dass die Gesamtbilanz problematischer und gebrochener ist als die Schilderung der drei Erfolgsgeschichten suggerieren möchte? Lenkt man den Blick auf die Gesamtbetrachtung der Entwicklungen in Sachen Verfassung, dann vermeidet man zugleich, die einzelnen Ebenen isoliert zu betrachten und sie isoliert an verfassungsrechtlichen Anforderungen zu messen. Stattdessen richtet

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sich die Aufmerksamkeit auf die letztlich allein relevante GesamtKonstellation von Staaten und Europäische Union (+ internationale Ebene). Für diese Gesamtkonstellation müssen sich die zentralen verfassungsrechtlichen Anforderungen bewähren. Im Einzelnen gehe ich in acht Schritten vor.

1. Entstaatlichung und Denationalisierung Unbestritten haben die Staaten, die zu Mitgliedsstaaten geworden sind, Verluste erlitten. Zunächst denkt man nur an die Aufgaben, die die Staaten nicht mehr wahrnehmen können. Wer einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitritt, die das Ziel eines Gemeinsamen Marktes und eines umfassenden Binnenmarkts hat, weiß und wundert sich nicht, dass die Mitgliedsstaaten wirtschaftspolitische und im weitesten Sinne wirtschaftsbezogene Aufgaben an die Gemeinschaft abgeben und verlieren. Ein zweiter Blick zeigt, dass diesen Verlusten Realvorgänge zugrunde liegen, nämlich insbesondere die Entgrenzung der Lebens- und Handlungsräume der Einzelnen. Die Aktionsräume der Menschen, der Einzelnen und der Unternehmen, sind offensichtlich bedeutend größer als das Staatsgebiet des jeweiligen Staates. Man kann den fundamentalen Vorgang auch als Verlust von Deckungsgleichheit beschreiben. Die für lange Zeit deckungsgleichen Größen Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Territorium haben unterschiedliche Reichweite angenommen, sie überdecken sich nicht mehr. Die staatliche Verfassung erreicht in ihrer Bindungs- und Direktionskraft längst nicht mehr jede Aktivität und jede Norm, die auf dem staatlichen Territorium Geltung verlangt. Die Stichworte nicht nur der rechtswissenschaftlichen Literatur sind Denationalisierung oder Entstaatlichung. Die Staaten sind unvollständige Gemeinschaften geworden.

2. Kompensation durch die europäische Union? Von diesem Grundsachverhalt ausgehend argumentiert eine verbreitete Ansicht wie folgt: Die Europäische Union ist geradezu das geeignete und willkommene Instrument, um diesen Verlust an

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politischer Steuerungsfähigkeit zu kompensieren. In und durch die Europäische Union gelingt es ihren Mitgliedsstaaten, einige Verluste auszugleichen, zusammen mit anderen Mitgliedsstaaten und der Europäischen Union wieder Handlungsfähigkeit für größere Zusammenhänge zu erreichen. In dieser Sicht wird ein konstitutionelles Gesamtergebnis nur durch einen entschiedenen Ausbau der europäischen Ebene erreicht. Die fortschreitende Integration kann auch als großes Projekt der Kompensation interpretiert werden. Dieser Gedankengang wird dann auch auf die Verfassungsebene erstreckt. Eingeräumt wird, dass die staatlichen Verfassungen zusammen mit den Staaten einen Bedeutungsverlust erlitten haben: Das Kernstück einer demokratischen Staatsorganisation, das Parla-ment, nimmt offensichtlich an Bedeutung ab, wenn weite Teile der in Deutschland geltenden Gesetze in ihrer Substanz nicht mehr vom Parlament selbst, sondern von der vorrangigen Europäischen Union stammen. Aber, so lautet der in sich konsequente Gedankengang: Diese Verluste an innerstaatlicher Verfassungskraft werden kompensiert durch die Europäische Union mit ihren Institutionen, die ihrerseits verfassungsrechtlichen konstitutionellen Anforderungen genügen würden.

3. Ambivalente Wirkung der Europäischen Union in der Gesamtkonstellation Eine andere, skeptische Auffassung bestreitet dies und hält in der Bilanz Verluste für die Staaten und ihre Verfassungen für gegeben, Verluste, die nicht kompensiert werden können. Ihr Hauptargument gibt zu bedenken: Jede gelungene Konstitutionalisierung jenseits der Staaten fängt nicht nur die Relativierung der staatlichen Verfassungen auf – sie verstärkt sie auch. Denn mit dem Hochzonen von Aufgaben und Verantwortlichkeiten vermindert sich notwendigerweise die politische und rechtliche Bedeutung der demokratischen Institutionen in den Staaten. Daraus ergibt sich: Die Europäische Union ist nicht nur ein Mittel zur Kompensation von Verlusten des Staates, sondern dieses „Mittel“ verstärkt auch die Verluste. In der Konsequenz empfiehlt diese

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Auffassung besondere Vorsicht bei der weiteren Übertragung von Aufgaben auf die Europäische Union. Angemahnt wird eine Reflexion darüber, wieviel Entzug und Verluste die Staaten überhaupt vertragen können.

4. Kompensationsfähigkeit der Europäischen Union Es stellt sich also die grundsätzliche Frage: Ist die Europäische Union die geeignete Instanz, um Verluste der Staaten und ihrer Verfassungen auszugleichen oder vertieft sie diese Verluste. Zu beantworten ist diese Frage auf dem gesamten Feld der Verfassung, also für die beiden Hauptteile, für den rechtsstaatlichen und den politischen Teil. Einigkeit dürfte sich relativ leicht darüber erzielen lassen, dass rechtsstaatliche Problemlagen auf der höheren europäischen Ebene aufgefangen und dadurch Verluste im staatlichen Bereich kompensiert werden können. Das Hauptbeispiel ist der Grundrechtsschutz. Er hat sich in Europa – Europa als die Gesamt-Konstellation aus Europäischer Union und den Mitgliedsstaaten verstanden – in der Tat verdoppelt, genauer gesagt verdreifacht. Wir haben dreifachen Schutz von Grundrechten, erstens durch die nationalen Verfassungen und ihre Verfassungsgerichte, zweitens durch die im gesamten Europa anerkannten Rechtsgrundsätze des Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und drittens durch die Europäische Menschenrechtskonvention und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Im Ergebnis sind die Grundrechte also dreimal materiell verbürgt und durch drei Höchstgerichte geschützt. Natürlich ist das Verhältnis der drei Höchstgerichte nicht nur harmonisch, natürlich gibt es gewisse Spannungen. Im Ergebnis wiegen sie aber gering gegenüber dem Gewinn, der in dem dreifachen Grundrechtschutz liegt. Vor allem folgt der Grundrechtsschutz den Abwanderungen der politischen Entscheidungen sozusagen auf dem Fuße nach. Dies gilt auch für andere materielle rechtsstaatliche Grundsätze. Schwieriger ist der politische Teil der Verfassung zu beurteilen. Hierauf bezieht sich auch im Wesentlichen der Streit. Zugrunde gelegt ist dabei der häufig vergessene Umstand, dass sich das Ver-

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fassungsdenken über den rechtsstaatlichen Teil hinaus auch auf die politischen Fragen der An- und Zugehörigkeit, der Gemeinschaft und der Demokratie bezieht und dass es dabei nicht nur um Fragen des Wahlrechts und der Befugnisse des Parlaments geht. Hier setzen die grundsätzlichen Zweifel an, die weiterverfolgt werden sollen. Auch von der Gegenauffassung, der skeptischen Auffassung, wird die Denkfigur der Kompensation benutzt, nur wird sie anders zu Ende gedacht. Kompensiert werden können durch die Europäische Union Verluste bei den Staaten nur, wenn diese selbst das relevante Niveau des Verfassungsgedankens einhält. Kompensieren kann nach diesem Gedankengang nicht jede beliebige Einheit, sondern nur eine solche, die selbst spezifischen verfassungstheoretischen Anforderungen genügt. Deshalb stellt sich für die Gegenauffassung nicht die Frage, ob Kompensationen erwünscht sind, sondern es geht um die Fähigkeit zur Kompensation. Wer z. B. die Europäische Union selbst mit einem Demokratiedefizit behaftet sieht, wird sie schwerlich zur Therapie für demokratische Verluste bei den Mitgliedsstaaten einsetzen können oder wollen. So geht es in der umgreifenden Debatte über die Demokratiedefizite in der Europäischen Union nicht um verfassungsrechtliche Kleinigkeiten, nicht um die eine oder andere Bestimmung in Verträgen, die man ändern oder verbessern könnte, sondern um das Ganze, um den Lackmus-Test des Konstitutionalismus auf der europäischen Ebene.

5. Der begrenzte Einheitswille der europäischen Völker Es ist ein – bekanntes – Demokratieproblem, ob die Bürgerinnen und Bürger genügend Mitwirkungsrechte in der Europäischen Union und ihren Institutionen haben. Die Frage richtet sich primär an die Ausgestaltung des Wahlrechts zum Europäischen Parlament. Unbestritten ist, dass insoweit in der Europäischen Union geringere Rechte als in den Staaten bestehen, dass in der Europäischen Union nicht das Prinzip des one person – one vote anerkannt ist und dass das Europäische Parlament die Vertretung der „europäischen Völker“, nicht aber die eines europäischen Volkes ist.

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Anforderungen des Demokratieprinzips richten sich aber nicht nur darauf, in welchem Umfang die Bürgerinnen und Bürger in einer gegebenen politischen Gemeinschaft mitwirken. Darüber hinaus ist auch ein Thema der Demokratie – und meiner Meinung nach das logisch und politisch vorrangige –, mit wem sie überhaupt eine politische Gemeinschaft bilden wollen. Im Falle einer gegliederten oder zweistufigen politischen Gesamtkonstellation wie in Europa erweitert sich diese Basisfrage darauf, wie stark diese neue Einheit im Verhältnis zum Staat sein soll. Sicher ist insoweit, dass die Angehörigen der europäischen Völker der Europäischen Gemeinschaft als einer zusätzlichen Gemeinschaft politisch angehören wollen. Das Ob ist also unumstritten. Es bleiben aber weitere, ebenso wichtige Grundfragen, nämlich die nach der Reichweite und überhaupt nach der politischen Bedeutung der zusätzlichen Gemeinschaft. Haben sich die Einzelnen in der Vergangenheit zu einem Staat zusammengeschlossen, so führte dieser (Ur-)Akt zu einer vollständigen politischen Einheit, zu einer Gemeinschaft mit vollem Aufgabenfeld und umfassender politischen Identifizierung seitens der Angehörigen. Dem Staat gehörte der volle Gemeinschaftswille. Eine dynamisch sich entwickelnde Integrationsgemeinschaft wie die Europäische Union ist und bleibt trotz aller Fortschritte und allen Voranschreitens eine unvollständige, auf die Staaten als ihre notwendige Voraussetzung und Komplettierung angewiesene Einheit (umgekehrt gilt das gleiche). Wegen ihrer Struktureigenschaft als einer unvollständigen Gemeinschaft trägt die Europäische Union immer die Frage nach dem Wieviel und Wieweit in sich. Sie bezieht sich zum einen – und dies ist bekannt – auf den jeweils neu zu bestimmenden Umfang des Aufgabenbestands. Sie äußert sich aber auch im demokratischen Kontext an der Basis aller politischer Prozesse in der Frage, welche der beiden Einheiten für die Bürgerinnen und Bürger die politisch wichtigere ist, welches die Gemeinschaft ist, die sie stärker anspricht, sie in ihrem Denken und ihren Emotionen erfasst. Die Antwort auf diese Grundfragen war bisher immer die gleiche: Die in der Europäischen Union lebenden Menschen wollen die zusätzliche europäische Gemeinschaft, sie wollen sie aber

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nicht als eine neue politische Einheit mit beliebig großem Umfang. Sie haben nämlich ersichtlich im Laufe von fünf Jahrzehnten kein europäisches Einheitsgefühl oder einen Einheitswillen ausgebildet, die stärker oder ähnlich groß wären wie ihre Einheitswünsche in Bezug auf die staatliche Gemeinschaft. Der Kern der europäischen Problematik liegt in der Frage nach der Qualität des europäischen Einheitswillens, und dies muss zugleich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Angehörigkeitswillen zu den beiden relevanten Gemeinschaften sein. Alles was die Bürgerinnen und Bürger in Richtung auf die Europäische Union wollen – und dies ist beträchtlich –, wollen sie nicht als Ersatz und zu Lasten ihres staatlichen Einheitswillens. Stattdessen ist der These von Gertrude Lübbe-Wolff zuzustimmen. Die Völker Europas und die Bürgerinnen und Bürger im Raum der Europäischen Union haben einen begrenzten Einheitswillen. Dass dies so ist, ist Ausdruck und Betätigung ihres souveränen und zugleich in hohem Maße demokratischen Rechts darüber zu bestimmen, wie stark der zusätzliche europäische Einheitswillen ist und wie sie das Verhältnis zu ihrem staatlichen Gemeinschaftsgefühl bestimmen. Im Kontext dieser Überlegungen liegt es auf der Hand, dass es in der Europäischen Union kaum eine einschneidendere Änderung geben könnte, als wenn die Völker in Europa nicht mehr ihre Staaten, sondern die europäische Union als maßgebliche, entscheidende Gemeinschaft, als Kristallisationsort aller politischer Interessen und Gefühle empfinden würden. Durch eine solche Veränderung und einen solchen Umschlag, wenn sie denn einträten, käme es zur folgenreichsten Verschiebung an der Basis sowohl der Staaten wie auch der Europäischen Union und der Gesamtkonstellation. Stärker könnte das demokratische Leben in Europa nicht berührt und verändert werden.

6. Folgen des begrenzten Einheitswillens Den demokratischen Zentral-Akt – wollen die Bürgerinnen und Bürger in Europa eine starke Einheit oder wollen sie ihren Einigungswillen in der einen oder anderen Form begrenzt lassen – müssen die Bürgerinnen und Bürger selbst vornehmen. Insoweit habe ich schon früher ironisch gesagt: Die Bürgerinnen und Bür-

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ger in Europa werden es sich nicht von unseren Theorien vorschreiben lassen, wie eng sie miteinander verbunden sein wollen, das werden sie schon selber entscheiden – und sie haben es längst im Sinne eines (nur) begrenzten Einheitswillens entschieden. Daraus folgt Vieles und Wichtiges: – Wegen des begrenzten Einheitswillens ihrer Völker wollen die kleineren Staaten nicht, dass sie einfach in der demokratischen Gleichheit untergehen und darin marginalisiert werden. Weil sie sich primär gegen das Aufgehen in der großen Einheit entschieden haben, bilden sie für die größere politische Einheit auch nur einen begrenzten Einheitswillen aus. – Aber auch bei den Völkern der größeren und großen Staaten gibt es keine Option für eine dominante politische Identifizierung mit der Europäischen Union. – Deshalb bleibt die starke Stellung des Europäischen Ministerrats erhalten, in der die einzelnen Staaten volle oder große Chancen haben, ihnen und ihren Bürgerinnen und Bürgern missliebige Entscheidungen zu verhindern. – Deshalb bleiben auch die Unterschiede im Wahlrecht, deshalb gibt es kein volles gleiches Wahlrecht, sondern ein Wahlrecht, das die kleineren Staaten schont.

Die Besonderheiten der Europäischen Union und die Abweichung von dem, was in den Verfassungen der Staaten gilt, lassen sich also erklären als Folgerung und Konsequenzen der Ur-Tatsache, der ersten Ursache, dass ihr Einheitswille nicht umfassend ist. Dies hat auch Folgen: Der begrenzte Einheitswille begrenzt natürlich auch den Umfang der Aktivitäten der Europäischen Union, den Aktionsradius der Europäischen Union, weil die Europäische Union eine demokratische Gemeinschaft ist und bleiben will. Werden die hierdurch gesetzten Grenzen überschritten, kommt es zu Friktionen. Die These vom begrenzten Einheitswillen impliziert eine noch starke verbleibende Bedeutung des Angehörigkeitsempfindens der Einzelnen gegenüber ihren Staaten. Diese Formulierung oder Konsequenz mag verschiedene Vorwürfe auslösen, bis zu dem eines etatistischen Vorverständnisses. Dem möchte ich entgegen-

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halten: Ob es einen (nur) begrenzten Einheitswillen gibt, ist für mich eine empirische Aussage. Indizien dafür sind die mangelnde Kenntnis der Menschen in der Europäischen Union über die Parteien im Europäischen Parlament, ihrer Fraktionsvorsitzenden, auch geringe Kenntnisse über die Mitglieder der Kommission, weiterhin ein deutlich geringeres Interesse an den Wahlen zum Europäischen Parlament im Vergleich zu demjenigen gegenüber den Bundestagswahlen. Bleiben die Fragen, an wen und an welche Institutionen die Bürgerinnen und Bürger denken, wenn sie sich aus politischem Interesse informieren wollen oder welche Entscheidungsprozesse das politische Interesse oder gar die Leidenschaften der Bürgerinnen und Bürger gewinnen. Hier gibt es bedeutsame Unterschiede zwischen der Politik im staatlich-nationalen Bereich und in der Europäischen Union. Wie stark der Einigungswille in Zukunft werden wird, ist eine offene Frage, sie ist nicht theoriegesteuert. Ich habe keine theoretischen Gründe dagegen vorgebracht und bringe keine dagegen vor, dass sich die Europäische Union weiterentwickeln könnte, wenn und soweit sich die Bürgerinnen und Bürger in ihren Einstellungen ändern, wenn etwa ihr Einheitswillen wächst. Das alles kann geschehen. Aber es wird nicht einfach durch Zeitablauf, durch einen Automatismus oder durch eine immanente Entwicklungs- oder Sachlogik geschehen, sondern dazu bedarf es beträchtlicher Entwicklungssprünge, nicht in der Programmatik der Europäischen Union, nicht bei besseren Formulierungen in Vertragstexten, sondern bei den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union. Die Veränderung ihrer Einstellungen und politischer Mentalitäten kann eine kluge, die politische Doppelstruktur in Europa achtende Politik befördern, zu einem kleinen Teil kann eine demokratische Führung auch voran zu schreiten versuchen. Doch am Ende müssen die Basisprozesse – denn um solche handelt es sich – von den Bürgerinnen und Bürgern, von den europäischen Völkern vollzogen werden. Ehe man erhofft, dass sich die Bürgerinnen und Bürger auf den Weg zu einer engeren Verbindung machen und ihren Einheitswillen verstärken, sollte man ihnen sagen, wo die Grenzen der Europäischen Union sind und was das Ziel der Europäischen Union ist. Eine politische Gemeinschaft, die ihre Grenzen nicht kennt,

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weiß nicht, wer sie ist. Und umgekehrt: Wer nicht weiß, wer er ist, kann seine Grenzen nicht bestimmen.

7. Die Entscheidung über die Grenzen des Einheitswillens bei Völkern Lassen sich somit gute Gründe für die theoretische Position angeben, dass die Völker der europäischen Staaten entscheiden müssen, in welcher Dichte sie zusammenleben und zusammenwirken wollen, so ist damit nicht geklärt, durch welchen Akt, zu welcher Zeit und in welcher Form sie darüber entscheiden können. Ein spezielles Plebiszit zu diesem zentralen demokratischen Akt hat es in den bisherigen 50 Jahren nicht gegeben. Als eine explizite Entscheidung ist sie auch kaum vorstellbar. Deshalb ist das Thema aber nicht obsolet und die ursprüngliche und später fortgeschriebene Grundentscheidung nicht eine bloß fiktive. Das Problem des mehr oder weniger begrenzten Gemeinschaftswillens und seiner denkbaren Wachstumsprozesse ist und bleibt grundlegend. Die Antworten der Bürgerinnen und Bürger darauf suchen sich, wenn die explizite Äußerung nicht möglich ist, ihre impliziten Ausdrucksformen. Die Grundfrage „hängt“ sich an andere Entscheidungen an und wird dort zu einem wichtigen Bestimmungsgrund für diese. Abstimmungen zu anderen Themen werden „umfunktioniert“, sie werden von ihrer eigentlichen Thematik auf die Grundfrage umgeleitet. Dies muss nicht immer so sein: Gute und erfolgreiche Integrationspolitik bewährt und bewährte sich darin, dass sie es mit ihren Plänen und Vorgriffen nicht zu größeren Spannungen kommen ließ, was der Einheitswille in den einzelnen Ländern mitgetragen hat. Die von der europäischen Führung vorgeschlagenen und vorangetriebenen Projekte müssen vom Einheitswillen der Völker anerkannt und mitvollzogen werden. Dies ist geschehen beim Gemeinsamen Markt und dem Ausbau des Binnenmarkts sowie bei der Einführung des Euros. Nicht gelungen ist dieses Voranschreiten und Hinausführen der Völker über den bisherigen Einigungswillen bei den Erweiterungen und bei der europäischen Verfassung. Letztere war entworfen worden nicht nur wegen der dringend notwendigen Verbesserung von organisationsrechtlichen

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Problemen, sondern auch bewusst, um die Legitimation und das Integrationsgefühl in der Europäischen Union voranzubringen. In meiner Sprache sollte dieses Projekt die Bürgerinnen und Bürger zu einem höheren Einheitswillen veranlassen. Genau dies ist gescheitert, der Vorgriff war derzeit zu groß. In Frankreich, in den Niederlanden und in der öffentlichen Kritik hat sich gezeigt, dass nicht genug Menschen diesen Schritt mitmachen wollten. Dabei konnte es durchaus zu inneren Widersprüchen kommen, dass ausgerechnet einem Verfassungsvertrag, der manches verbessert und auch die Stellung der Einzelnen bessern wollte, der Ablehnung, der Generalablehnung verfällt. Dies sollte man nicht als Unfähigkeit oder Undankbarkeit der Bürgerinnen und Bürger hinstellen, sondern es ist die Folge davon, dass es keine andere Gelegenheit gibt, über die eigentlich wichtige Frage des Wieweit der zusätzlichen Einheit zu entscheiden.

8. Zusammenfassung Auf längere Zeit, für die Zeit, die wir jetzt überblicken können, wird es bei der ausgeprägten Zweistufigkeit der für eine Demokratie notwendigen politischen Basisprozesse bleiben. Ein beträchtlicher Teil der intellektuellen Probleme, welche die Europäische Union aufwirft, liegt in ihrer strukturbestimmenden Zweistufigkeit. Die demokratischen Prozesse sind doppelt, es sind aber nicht die gleichen. Die meisten politischen Energien wenden die Bürgerinnen und Bürger für die nationale Politik auf, einen kleineren Anteil für die europäische. In dieser Zweistufigkeit des Politischen liegt das Schwergewicht der politischen Prozesse in den Mitgliedsstaaten. Für den politischen Teil der Verfassungen ergibt sich damit im Ergebnis eine andere und ungewohnte Anwendung der Kompensationsfigur. In Sachen Demokratie und in Sachen des Politischen ist die Europäische Union von den Basisprozessen in den Mitgliedstaaten abhängig. Was die politischen Energien, die Stärke des Angehörigkeitsgefühls oder Angehörigkeitswillens betrifft, sind es die Staaten und ihre Verfassungen, welche die Defizite der Europäischen Union kompensieren, aber nur teilweise kompensieren können. Die konzeptbedingte Unvollständigkeit der Euro-

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päischen Union bezieht sich so gerade auch auf die fundierenden Prozesse des Politischen. Verfassungsdenken auf der europäischen Ebene hat einen bedeutsamen und wirkungsvollen Anwendungsbereich im rechtsstaatlichen Teil des Verfassungskonzepts. Grundrechtsschutz, Berechenbarkeit, Vorhersehbarkeit des hoheitlichen Handelns – dies ist schon gut ausgebaut und kann weiter ausgebaut werden. Im politischen Teil, im Bezug auf Demokratie, Angehörigkeitswille und -gefühl, Wille zur Einheit und zu einer stärkeren Einheit – in all diesen Fragen liegt die Europäische Union in den Fesseln des Einheitswillens der Europäer. Oder um es richtiger – weil mit Referenz zum Demokratieprinzip selbst – zu sagen: In allen diesen politischen Fragen liegt die Europäische Union am Band des Einheitswillens der Europäer. Dies aber scheint mir nichts mehr als die einfache Folgerung aus dem Demokratieprinzip selbst zu sein. Verfassungsdenken jenseits des Staates, angewendet auf eine supranationale Gemeinschaft, muss die Grundfragen des Verfassungsdenkens noch einmal aufwerfen, noch einmal von neuem buchstabieren und neue Lösungen finden. Es müssen kreative Konzepte für die zweistufige Gesamt-Konstellation entwickelt werden, z. T. sind sie durchaus schon vorhanden. Wie erwähnt sind im Hinblick auf Rechtsstaat und Gewaltenteilung der Eigenart der Europäischen Union und der Gesamtkonstellation gemäße Modifikationen vorhanden. Offen sind die Probleme der politisch-demokratischen Prozesse, der Einheits- und Gemeinschaftsbildung. Hier geht es um Neues, um ein Aliud. Das Verfassungsdenken im Staat, das eingangs kurz in Erinnerung gerufen wurde, ist bei alledem eine große, nahezu unerschöpfliche Quelle für Parallelen, ein Reservoir für Ideen und ihre Konkretisierung. Das Verfassungsdenken im Staat gibt einen anspruchsvollen Maßstab und eine Messlatte: In der Verfassungsidee sind nämlich die beiden Teilen, von denen die Rede war, der rechtsstaatliche und der politisch-demokratische, eng miteinander verknüpft. Darin liegt die Quintessenz des westlichen Verfassungsdenkens, zugleich eine Art Vermächtnis des Verfassungsdenkens im Staat. Jenseits der Staaten ist diese innere Verknüpfung ähnlich zu leisten, sie ist allerdings schwieriger zu leisten. Mein Überblick über Verfassungsdenken auf den verschiedenen Ebenen

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bringt so am Ende ein Problem zutage, dessen Lösung Kreativität erfordert.

V. Schluss In meinem Vortrag fehlen Überlegungen zur dritten Ebene, die als solche einen weiteren Hauptteil bilden müssten. Ich empfinde dies auch als Mangel; ein endgültiger Mangel wäre dies aber nur, wenn ich hier eine Abschiedsvorlesung im Wortsinne halten würde. Dann wäre der Drang, alles zur Sprache zu bringen, was mit dem Thema zusammenhängt, übergroß. Da ich aber nur eine formelle, nicht ein materielle Abschiedsvorlesung halte, verwandele ich jetzt die Abschiedsvorlesung in eine Ankündigungs-Vorlesung und mache die ausstehenden Teile zu Zukunftsthemen. Am Ende steht so nicht das Wort Abschied, sondern – es sei in Gegenseitigkeit zu Ihnen allen gesagt – an Orten wie diesem, zu Themen wie diesem: Auf Wiedersehen.

Schriftenverzeichnis Rainer Wahl Monographien 1. Stellvertretung im Verfassungsrecht, Berlin 1971 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 170) 2. Hans Gerwin Burgbacher / Hans-Werner Gartmann / Dieter Grunow / Rolf Knieper / Eckard Rehbinder / Franz Jürgen Röttger / Rainer Wahl, Juristische Berufspraxis, Kronberg 1976 3. Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, 2 Bände, Berlin 1978 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 341) 4. Nationale Kernenergiepolitik und Gemeinschaftsrecht, Düsseldorf 1995 (gemeinsam mit Georg Hermes) 5. Rainer Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge: Von der Staatsaufgabe zu den verwaltungsrechtlichen Instrumenten, Berlin 1995 (gemeinsam mit Ivo Appel) 6. Rolf Grawert / Bernhard Schlink / Rainer Wahl / Joachim Wieland (Hrsg.), Offene Staatlichkeit, Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, Berlin 1995 7. Rainer Wahl / Joachim Wieland (Hrsg.), Das Recht des Menschen in der Welt, Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstags von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Berlin 2002 8. Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt 2003 9. Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, Berlin 2006

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Aufsätze I. Veröffentlichungen zum Verfassungsrecht S. auch vorne unter Monographien Nr. 1, 6 und 7 1. Die Weiterentwicklung der Institution des Parlamentarischen Staatssekretärs, Der Staat Bd. 8 (1969), S. 327 – 347 2. Probleme der Ministerialorganisation, Der Staat Bd. 13 (1974), S. 383 – 398 3. Empfehlungen zur Verfassungsreform. Zum Schlußbericht der EnqueˆteKommission Verfassungsreform, AöR Bd. 103 (1978), S. 477 – 521 4. Der Vorrang der Verfassung, Der Staat Bd. 20 (1981), S. 485 – 516 5. Antragsschrift und Plädoyer, in: Wolfgang Heyde / Gotthard Wöhrmann (Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht. Dokumentation des Verfahrens, Heidelberg 1984, S. 3 – 50, S. 156 – 162 und 213 – 218 6. Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, S. 401 – 409 7. Staatszielbestimmungen im Verfassungsrecht – Bemerkungen aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland, in: Reinhard Rack (Hrsg.), Grundrechtsreform, Wien, Köln, Graz 1985, S. 223 – 235 8. Rechtsschutz gegen den Staat, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Einführung in das öffentliche Recht, Heidelberg 1985, S. 210 – 243 9. Grundrechte und Staatszielbestimmungen im Bundesstaat, AöR Bd. 112 (1987), S. 26 – 53 10. Das Wahlrecht in der Sondersituation der deutschen Einigung, NJW 1990, S. 2585 – 2593 11. Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 553 – 563 (gemeinsam mit Johannes Masing) 12. Staatsaufgaben im Verfassungsrecht, in: Jens Joachim Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften – eine vergessene Disziplin oder eine Herausforderung, Baden-Baden 1990, S. 29 – 53 13. Constitutionalism (Dt. Landesbericht für Sektion IV des XIII. Internationalen Kongresses für Rechtsvergleichung in Montreal 1990), in: Rudolf Bernhardt / Ulrich Beyerlin (eds.), Reports on German Public Law, Heidelberg 1990, S. 85 – 113

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14. Art. „Demokratie, Demokratieprinzip“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied 1990, S. 1 – 7 15. Art. „Repräsentation“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied 1990, S. 1 – 3 16. Die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, Staatswissenschaften und Staatspraxis, Baden-Baden 1990, S. 468 – 484 17. Die deutsche Einigung im Spiegel historischer Parallelen, Der Staat Bd. 30 (1991), S. 181 – 208 18. Der Zugang zum Bundesverfassungsgericht. Aktuelle Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit unter besonderer Berücksichtigung der neuen einheitsbedingten Herausforderungen, in: Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland gestern und heute, Veranstaltung des Gesprächskreises Politik und Wissenschaft des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung am 13. November 1991 in Bonn, Bonn 1991, S. 13 – 42 19. Denkmalschutz und Verfassungsrecht, in: Arbeitsgemeinschaft Freiburger Stadtbild e.V. (Hrsg.), Freiburger Stadtbild 1992. Zum 25jährigen Bestehen der Arge Stadtbild, Freiburg 1992, S. 145 – 158 (gemeinsam mit Georg Hermes) 20. Die Aufgabenabhängigkeit von Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann / Folke Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 177 – 218 21. Gewaltmonopol des Staates – Vom zwiespältigen Umgang mit einem alten Verfassungsprinzip, in: Konrad von Bonin (Hrsg.), Dokumente des Deutschen Evangelischen Kirchentages München 1993, Gütersloh 1994, S. 510 – 528 22. Der Finanzausgleich von Bund und Ländern, in: Johannes Ch. Traut (Hrsg.), Verfassung und Föderalismus Rußlands im internationalen Vergleich, Baden-Baden 1995, S. 171 – 188 23. Die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts in außenpolitischen Angelegenheiten, in: Eckart Klein (Hrsg.), Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit, Festschrift für Ernst Benda zum 70. Geburtstag, München 1995, S. 265 – 309 (gemeinsam mit Friedrich Schoch) 24. Verfassungsrechtsprechung als knappes Gut, JZ 1996, S. 1137 – 1145 (gemeinsam mit Joachim Wieland) (Erschienen auch auf Spanisch: La jurisdiccion constitucional como bien escaso. El acceso al Bundesverfassungsgericht, Madrid 1997, S. 11 – 35)

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25. Welche Gewährleistungen verlangt das Sozialstaatsprinzip unserer Verfassung?, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Abbau oder Umbau des Sozialstaats. Was kann die Rechtspflege tun?, Tagung vom 10. – 12. 10. 1997, 1998, S. 38 – 47 26. Quo Vadis – Bundesverfassungsgericht? Zur Lage von Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassung und Staatsdenken, in: Bernd Guggenberger / Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, BadenBaden 1998, S. 81 – 120 27. Chancengleichheit und rechtswidrig handelnde Partei, in: NJW 2000, S. 3260 – 3262 28. Das Bundesverfassungsgericht im europäischen und internationalen Umfeld, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37 – 38 / 2001, S. 45 – 54 (Erschienen auch in: Typen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das deutsche Bundesverfassungsgericht im Vergleich mit anderen Verfassungsgerichten, Journal of Social Sciences (Korea), Seoul 2002, S. 225 – 243; überarbeitete Fassung in: Robert van Ooyen / Martin Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2007, S. 477 – 493) 29. Die Reformfrage, in: Peter Badura / Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Tübingen 2001, S. 461 – 491 30. Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, JuS 2001, S. 1041 – 1048 31. Humangenetik als Problem nationaler Grund- und internationaler Menschenrechte, in: Pietro Barcellona / Agostino Carrino (Hrsg.), I diritti umani tra politica filosofie e storia, Napoli 2003, S. 301 – 338 32. Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich; in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I – Entwicklungen und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 745 – 781 33. Ämterpatronage – ein Krebsübel der Demokratie, in: Herbert von Arnim (Hrsg.) Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit? (Beiträge auf der 7. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2004 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer), Berlin 2005, S. 108 – 136 34. Lüth und die Folgen: Ein Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, in: Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hrsg.), Das LüthUrteil aus (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2005, S. 371 – 397

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35. Die Rolle des Verfassungsrechts angesichts von Dissens in der Gesellschaft und in der Rechtspolitik, in: Giovanni Maio (Hrsg.), Der Status des extrakorporalen Embryos. Perspektiven eines interdisziplinären Zugangs, Stuttgart 2007, S. 551 – 593

II. Veröffentlichungen zum Verwaltungsrecht 1. Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1983), S. 151 – 192 2. Der Nachbarschutz im Baurecht, JuS 1984, S. 577 – 586 3. Der Klagegegner bei Handeln der unteren Verwaltungsbehörde, VBlBW 1984, 123 – 126 4. Vereinheitlichung oder bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht?, in: Willi Blümel (Hrsg.), Die Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrensrechts, Berlin 1984, S. 19 – 59 5. Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VBlBW 1988, S. 387 – 392 6. Art. „Verfahren, Verfahrensrecht“, in: Staatslexikon, Bd. 5, 7. Auflage 1989, Sp. 628 – 633 7. Verwaltungsorganisation, in: Hartmut Maurer / Reinhard Hendler (Hrsg.), Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, Frankfurt a.M. 1989, S. 92 – 122 8. Abschied von den „Ansprüchen aus Art. 14 GG“, in: Bernd Bender / Rüdiger Breuer / Fritz. Ossenbühl / Horst Sendler (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtschutz, Festschrift für Konrad Redeker, München 1993, S. 245 – 269 9. Das Verhältnis von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift, in: Stanislaw Biernat / Reinhard Hendler / Friedrich Schoch / Andrzej Wasilewski (Hrsg.), Grundfragen des Verwaltungsrechts und der Privatisierung, Stuttgart 1994, S. 145 – 156 10. Die doppelte Abhängigkeit des subjektiven öffentlichen Rechts, DVBl. 1996, S. 641 – 651 11. Kommentierung zu § 42 Abs. 2 VwGO, in: Friedrich Schoch / Eberhard Schmidt-Aßmann / Rainer Pietzner (Hrsg.), Kommentar zur VwGO, München 1996 (gemeinsam mit Peter Schütz) 12. Fehlende Kodifizierung der förmlichen Genehmigungsverfahren im Verwaltungsverfahrensgesetz, NVwZ 2002, S. 1192 – 1195

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13. Verwaltungsvorschriften: Die ungesicherte dritte Kategorie des Rechts, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / Dieter Sellner / Günter Hirsch / Gerd-Heinrich Kemper / Hinrich Lehmann-Grube (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, Köln / Berlin / Bonn / München 2003, S. 571 – 598 14. Bedeutungsverlust und Bedeutungsgewinn für das Institut der Genehmigungen, in: Klaus Hansmann / Hans-Jürgen Paetow / Manfred Rebentisch (Hrsg.), Umweltrecht und richterliche Praxis: Festschrift für Ernst Kutscheidt zum 70. Geburtstag, München 2003, S. 199 – 212 15. Das Baurecht – Exempel eines sachzugewandten Rechts, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, München 2007 (im Erscheinen)

III. Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt Planungsrecht S. auch vorne unter Monographien Nr. 2 1. Der Regelungsgehalt von Teilentscheidungen in mehrstufigen Planungsverfahren, DÖV 1975, S. 373 – 380 2. Aktuelle Probleme im Verhältnis der Landesplanung zu den Gemeinden, DÖV 1981, S. 597 – 606 3. Die vertikale Koordination durch das Landesraumordnungsprogramm: Die Rolle der einzelnen administrativen Ebenen im Wirkungsgefüge räumlicher Planung, in: Perspektiven des künftigen niedersächsischen Landesraumordnungsprogramms (Arbeitsmaterial der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Nr. 48), Hannover 1981, S. 97 – 136 4. Bürgerbeteiligung bei der Landesplanung, in: Willi Blümel (Hrsg.), Frühzeitige Bürgerbeteiligung bei Planungen, Berlin 1982, S. 113 – 146 5. Genehmigung und Planungsentscheidung, DVBl. 1982, S. 51 – 62 6. Zur Integration der Umweltplanungen in die raumordnerische Planung, in: Umweltplanungen und ihre Weiterentwicklung (Beiträge der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Nr. 73), Hannover 1983, S. 43 – 67 7. Rechtliche Wirkungen landesplanerischer Festlegungen gegenüber gemeindlichen Planungen und Fachplanungen, in: Verwirklichung von Umweltschutz durch Raumordnung und Landesplanung (Arbeits-

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material der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Nr. 90), Hannover 1984, S. 47 – 83 8. Art. „Gebietsreform“, in: Staatslexikon, Bd. 2, 7. Auflage Freiburg 1986, Sp. 782 – 787 9. Art. „Planfeststellung“, in: Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 2, Berlin 1987, Sp. 167 – 180 10. Art. „Raumordnung und Landesplanung“, in: Staatslexikon, Bd. 4, 7. Auflage Freiburg 1988, Sp. 649 – 660 11. Die Auswirkungen der Umsetzung der EG-Richtlinie auf die kommunale UVP, in: Karl-Hermann Hübler / Konrad Otto-Zimmermann (Hrsg.), UVP – Umweltverträglichkeitsprüfung, Taunusstein 1989, S. 48 – 59 12. Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung aus verfassungs- und planungsrechtlicher Sicht, in: Strukturwandel und Entwicklungstendenzen im Einzelhandel (Arbeitsmaterial der Akademie für Raumforschung u. Landesplanung, Nr. 163), Hannover 1989, S. 41 – 59 13. Entwicklung des Fachplanungsrechts, NVwZ 1990, S. 426 – 441 14. Rechtsschutz in der Fachplanung, NVwZ 1990, S. 923 – 928 15. Das Raumordnungsverfahren am Scheideweg, in: Everhard Franßen / Konrad Redeker / Otto Schlichter / Dieter Wilke (Hrsg.), Bürger – Richter – Staat, Festschrift für Horst Sendler, München 1991, S. 199 – 223 16. Eigenentwicklung von Gemeinden, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Notwendigkeit, Möglichkeiten und Grenzen interkommunaler Zusammenarbeit, Tagungsband der Regionalplaner-Tagung 1991 vom 6. bis 8. November 1991 in Überlingen, Hannover 1992, S. 13 – 36 17. Die Einschaltung privatrechtlich organisierter Verwaltungseinrichtungen in den Straßenbau, in: Willi Blümel (Hrsg.), Einschaltung Privater beim Verkehrswegebau – Innenstadtverkehr, Speyerer Forschungsberichte 115, Speyer 1993, S. 24 – 58 (Erweiterte Fassung in: DVBl. 1993, S. 517 – 527) 18. Neues Verfahrensrecht für Planfeststellung und Anlagengenehmigung – Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrens oder bereichsspezifische Sonderordnung?, in: Willi Blümel / Rainer Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, Berlin 1994, S. 83 – 120

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19. Art. „Planfeststellung“, in: Otto Kimminich / Heinrich von Lersner / Peter Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 2, 2. Aufl. Berlin 1994, Sp. 1624 – 1641 20. Umweltleitplanung als neuer Planungstyp oder Ausbau der Landschaftsplanung zur Umweltleitplanung? oder Koordinierung der sektoralen Umweltplanungen durch die Raumordnung?, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Integration einer Umweltleitplanung in die Raumordnung, 1994, S. 6 – 28 21. Zielbeachtungspflicht und Zulassungsentscheidung, in: Werner Hoppe / Petra Kauch (Hrsg.), Raumordnungsziele nach Privatisierung öffentlicher Aufgaben. Kolloquium des Zentralinstituts für Raumplanung am 13. März 1996 in Münster, Münster 1996, S. 11 – 34 22. Art. „Umweltplanung“, in: Wilhelm Korff / Lutwin Beck / Paul Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 3, Gütersloh 1998, S. 645 – 650 23. Umweltschutz durch Planung, in: Johannes Bizer / Hans-Joachim Koch (Hrsg.), Sicherheit, Vielfalt, Solidarität. Ein neues Paradigma des Verfassungsrechts?, Symposium zum 65. Geburtstag Erhard Denningers am 20. Juni 1997, Baden-Baden 1998, S. 87 – 99 24. Entwicklung des Fachplanungsrechts, in: NVwZ 1999, S. 606 – 620 (gemeinsam mit Johannes Dreier) 25. Entwicklung des Fachplanungsrechts, NVwZ 2006, S. 161 – 171 (gemeinsam mit Dietmar Hönig) 26. Die Fachplanung in der Phase ihrer Europäisierung, in: Max-Emanuel Geis / Dieter Umbach (Hrsg.), Planung – Steuerung – Kontrolle. Festschrift für Richard Bartlsperger zum 70. Geburtstag, Berlin 2006, S. 427 – 447

IV. Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt Umweltrecht S. auch vorne unter Monographien Nr. 4 und 5. 1. Durchsetzung ökologischer Vorrangbereiche gegenüber konkurrierenden Nutzungen, in: Ökologische Vorranggebiete (Arbeitsmaterial der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Nr. 54), Hannover 1981, S. 55 – 82 2. Art. „Erlaubnis“, in: Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 1, Berlin 1986, Sp. 434 – 441

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3. Thesen zur Umsetzung der Umweltverträglichkeitsprüfung nach EGRecht in das deutsche öffentliche Recht, DVBl. 1988, S. 86 – 89 4. Recht und Technik, in: Beiträge aus der evangelischen Militärseelsorge 3 / 1988, S. 5 – 26 5. Risikobewertung der Exekutive und richterliche Kontrolldichte – Auswirkungen auf das Verwaltungs- und das gerichtliche Verfahren, NVwZ 1991, S. 409 – 418 (Erschienen auch in: Risikobewertung der Exekutive und richterliche Kontrolldichte – Auswirkungen auf das Verwaltungs- und das gerichtliche Verfahren, in: Dokumentation zur 14. wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht e.V. 1990, Berlin 1991, S. 41 – 93) 6. Das Verwaltungsverfahren bei Genehmigungsverfahren. Die nachvollziehende Amtsermittlung im UVP-Gesetz, in: Karl Kroeschell (Hrsg.), Recht und Verfahren. Symposium der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Städtischen Universität Osaka, Heidelberg 1993, S. 155 – 182 7. Das Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, in: Karl Kroeschell (Hrsg.), Vom nationalen zum transnationalen Recht. Symposium Freiburg / Osaka, Heidelberg 1993, S. 197 – 220 (gemeinsam mit Ivo Appel) 8. Art. „Erlaubnis“, in: Otto Kimminich / Heinz von Lersner / PeterChristoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 1, 2. Aufl. Berlin 1994, Sp. 528 – 544 9. Risikoabschätzung aus juristischer Sicht, in: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung Baden-Württemberg (Hrsg.), Gesundheitliche Risiken durch den Kfz-Verkehr, 1994, S. 25 – 31 10. Prävention und Vorsorge. Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge: Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, (Studien zum Umweltstaat), Berlin 1995, S. 1 – 216 (gemeinsam mit Ivo Appel) 11. Genehmigung zwischen Bestandsschutz und Flexibilität, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge (Studien zum Umweltstaat), Berlin 1995, S. 217 – 262 (gemeinsam mit Georg Hermes und Karsten Sach) 12. Umweltschutz und Verfassungsrecht: Prävention durch staatliche Kontrolle oder durch Haftungsrecht, Ritsumeikan Law Review (Kyoto), Nr. 10, Kyoto 1995, S. 105 – 124

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13. Privatisierung im Umweltrecht, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Privatisierung von Staatsaufgaben. Kriterien – Grenzen – Folgen, Baden-Baden 1998, S. 260 – 297 14. Risikobewertung und Risikobewältigung im Lebensmittelrecht, in: ZLR 3 / 1998, S. 275 – 298 15. Verkehrsanlagen und Hochwasserschutz, in: Rüdiger Breuer (Hrsg.), Hochwasserschutz im geltenden und künftigen Recht, Referate und Diskussionen der 19. Vortragsveranstaltung des Instituts für das Recht der Wasser- und Entsorgungswirtschaft an der Universität Bonn am 3. Mai 1996, Köln 1999, S. 83 – 98 16. Materiell-integrative Anforderungen an die Vorhabenzulassung – Anwendung und Umsetzung der IVU-Richtlinie, in: NVwZ 2000, S. 502 – 508 (Erschienen auch in: Gesellschaft für Umweltrecht e.V. (Hrsg.), Die Vorhabenzulassung nach der UVP-Änderungs- und der IVU-Richtlinie: Dokumentation zur Sondertagung der Gesellschaft für Umweltrecht e.V. Berlin 1999, Berlin 2000, S. 67 – 93) 17. Die Normierung der materiell-integrativen (medienübergreifenden) Genehmigungsanforderungen, in: ZUR 2000, S. 360 – 367 18. Umweltschutz durch Bauplanung, in: Sung Kyun Kwan Universität, Korean Environmental Law Association, 2001, S. 263 – 284 19. Das deutsche Genehmigungs- und Umweltrecht unter Anpassungsdruck, in: Klaus-Peter Dolde (Hrsg.), Umweltrecht im Wandel: Bilanz und Perspektiven aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens der Gesellschaft für Umweltrecht (GfU), Berlin 2001, S. 237 – 265 20. Entstehung und Entwicklung des Umweltrechts im Kontext der gesellschaftlich-politischen Kräfte, in: Martin Führ / Rainer Wahl / Peter von Wilmowsky (Hrsg.), Umweltrecht und Umweltwissenschaft, Festschrift für Eckard Rehbinder, Berlin 2007, S. 127 – 143)

V. Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt im Gentechnikrecht und der Freiheit der Wissenschaft 1. Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, Freiburger Universitätsblätter, Heft 95, 1987, S. 19 – 35

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2. Limits of the Freedom of Science, in: Umberto Bertazzoni et al (eds.), Human Embryos and Research, Proceedings of the European Bioethics Conference in Mainz 7. – 9. November 1988, 1990, S. 201 – 211 3. Forschungs- und Anwendungskontrolle technischen Fortschritts als Staatsaufgabe? – dargestellt am Beispiel der Gentechnik, in: Gentechnikrecht und Umwelt, 6. Trierer Kolloquium zum Umwelt- und Technikrecht vom 26. – 28. September 1990, UTR 14 (1991), S. 7 – 36 4. Das Gentechnikrecht nach der Novellierung, JZ 1994, S. 973 – 982 (gemeinsam mit Hansjörg Melchinger) 5. Kommentierung Gentechnikgesetz (GenTG), in: Robert Landmann / Gustav Rohmer, Umweltrecht II, München 1994, §§ 1 – 13 6. Art. „Forschung / Forschungsfreiheit“, in: Wilhelm Korff / Lutwin Beck / Paul Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 1 (A – F), Gütersloh 1998, S. 761 – 765 7. Art. „Freisetzung / Freisetzungsversuche“, in: Wilhelm Korff / Lutwin Beck / Paul Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 1 (A – F), Gütersloh 1998, S. 806 – 808 8. Das Öffentliche Recht als Fundament und dritte Säule des Medizinrechts, in: Jörg Arnold / Björn Burkhardt / Walter Gropp / Günter Heine / Hans-Georg Koch / Otto Lagodny / Walter Perron / Susanne Walther (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht, Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag, München 2005, S. 1243 – 1260

VI. Veröffentlichungen zur Verwaltungswissenschaft 1. Die politische Planung in den Reformüberlegungen der Bundesregierung, DÖV 1971, S. 42 – 47 2. Notwendigkeit und Grenzen langfristiger Aufgabenplanung, Der Staat Bd. 11 (1972), S. 459 – 482 (Ebenfalls abgedruckt in: Manfred Rehbinder (Hrsg.), Recht im sozialen Rechtsstaat, Opladen 1973, S. 459 – 482; überarbeitete Fassung unter dem Titel: Politische Planung in der differenzierten Gesellschaft. Notwendigkeiten, Grenzen und verfassungspolitische Probleme, in: Bernd Schäfers (Hrsg.), Gesellschaftliche Planung. Materialien zur Planungsdiskussion in der BRD, Stuttgart 1973, S. 127 ff.)

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3. Probleme der Ministerialorganisation, in: Der Staat Bd. 3 (1974), S. 383 – 398 4. Zukunftsaspekte der Verwaltung, Zur 48. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften, DÖV 1980, S. 443 – 446 5. Die bürokratischen Kosten des Rechts- und Sozialstaats, Die Verwaltung Bd. 13 (1980), S. 273 – 296 (Erschienen auch auf Italienisch: I costi burocratici dello stato sociale e di diritto, in: Problemi di amministrazione pubblica, VI (1981), N. 2, S. 1 – 39; erschienen auch auf Portugiesisch: Os nestos burocráticos do estado social de direito, in: Revista da Administraçao Pública, n.o 28, S. 191 – 211.) 6. Einführung in die Literatur der Verwaltungswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Öffentlichen Recht, Fälle und Lösungen in Ausbildung und Prüfung, Neuwied 1981, S. 370 – 381 7. Die Organisation und Entwicklung der Verwaltung in den Ländern, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5, Stuttgart 1987, S. 208 – 292 8. Zur Lage der Verwaltung Ende des 20. Jahrhunderts, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5, Stuttgart 1987, S. 1197 – 1217 9. Erweiterung des Handlungsspielraums: Die Bedeutung von Kompensation und Entscheidungsverknüpfungen, in: Wolfgang HoffmannRiem / Eberhard Schmidt-Aßmann, Konfliktbewältigung durch Verhandlungen, Baden-Baden 1990, S. 283 – 288 10. Die Verwaltung, in: Festschrift Baden-Württemberg: Aufbau und Gestaltung 1952 – 1992, Stuttgart 1992, S. 73 – 89 11. Privatorganisationsrecht als Steuerungsinstrument bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, Baden-Baden 1997, S. 301 – 338 12. Organisation kommunaler Aufgabenerfüllung im Spannungsfeld von Demokratie und Effizienz, in: Organisation kommunaler Aufgabenerfüllung. Optimierungspotentiale im Spannungsfeld von Demokratie und Effizienz, Stuttgart 1997, S. 15 – 41

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13. Landkreise, Regionen, Regierungsbezirke – zu viele Ebenen?, in: Der Bürger im Staat, 1998, S. 209 – 213

VII. Veröffentlichungen zur Verfassungsgeschichte 1. Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des Kaiserreichs, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Moderne Deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1918), Köln 1972, S. 208 – 231 2. Die Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik – im Vergleich zum 19. Jahrhundert und zu Weimar, in: Werner Conze / Mario Rainer Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1983, S. 339 – 386 (gemeinsam mit Frank Rottmann) 3. Der Übergang von der feudal-ständischen Gesellschaft zur staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung als Rechtsproblem, Die Entwährungslehre Lorenz von Steins, in: Roman Schnur (Hrsg.), Staat und Gesellschaft. Studien über Lorenz von Stein, Berlin 1978, S. 337 – 371 4. Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, Der Staat Bd. 18 (1979), S. 321 – 348 (Erschienen auch in: Ernst-Wolfgang Böckenförde [Hrsg.], Moderne Deutsche Verfassungsgeschichte [1815 – 1914], 2. Auflage, Königstein / Ts. 1981, S. 346 – 374) 5. Rezension von: Ulrich Scheuner, Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie, in: Der Staat Bd. 20 (1981), S. 613 – 616 6. Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Heidelberg 1987, Bd. 1, S. 3 – 34 (Erweiterte Fassung in: 3. Aufl., Heidelberg 2002, S. 45 – 91) 7. Die Person im Ständestaat und im Rechtsstaat. Vergleichende Betrachtungen zur europäischen und japanischen Entwicklung, in: Rolf Grawert / Bernhard Schlink / Rainer Wahl / Joachim Wieland, (Hrsg.), Offene Staatlichkeit, Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde, Berlin 1995, S. 83 – 105 (Erschienen auch in: Hans-Martin Pawlowski / Gerd Roellecke [Hrsg.], Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates 1996, ARSP-Beiheft 65, Stuttgart 1996, S. 49 – 70)

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8. Die Bewertung im labilen Dualismus des Konstitutionalismus in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen einer Entwicklung zugunsten des Parlaments, in: Anna Gianna Manca / Luigi Lacchè (Hrsg.), Parlamento e Costituzione nei sistemi costituzionali europei ottocenteschi – Parlament und Verfassung in den konstitutionellen Verfassungssystemen Europas, Berlin 2003 9. Der Konstitutionalismus als Bewegungsgeschichte, Der Staat 44 (2005), S. 571 – 594 (Erweiterte Fassung auch in: Ulrike Müßig [Hrsg.], Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt, Symposium für Dietmar Willoweit, Tübingen 2006, 197 – 225)

VIII. Veröffentlichungen zur Europäisierung und Internationalisierung des Rechts S. auch Monographie Nr. 7 1. Individualismus und Gemeinschaftsgebundenheit. Vorüberlegungen zu einem Kulturvergleich, in: Dieter Leipold (Hrsg.), Selbstbestimmung in der modernen Gesellschaft aus deutscher und japanischer Sicht, Heidelberg 1997, S. 47 – 62 2. Die Europäisierung des Genehmigungsrechts am Beispiel der NovelFood-Verordnung, in: DVBl. 1998, S. 2 – 14 (gemeinsam mit Detlef Groß) 3. Europäisches Planungsrecht – Europäisierung des Deutschen Planungsrechts, in: Klaus Grupp / Michael Ronellenfitsch (Hrsg.), Planung – Recht – Rechtsschutz, Festschrift für Willi Blümel zum 70. Geburtstag, Berlin 1998, S. 617 – 646 4. Die zweite Phase des Öffentlichen Rechts in Deutschland. Die Europäisierung des Öffentlichen Rechts, in: Der Staat Bd. 38 (1999), S. 495 – 518 5. Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: Dietrich Murswiek / Ulrich Storost / Heinrich A. Wolff (Hrsg,), Staat – Souveränität – Verfassung, Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 163 – 182 6. Einige Grundprobleme im europäischen Raumplanungsrecht, in: Wilfried Erbguth / Janbernd Oebbecke / Hans-Werner Rengeling / Martin Schulte (Hrsg.), Planung, Festschrift für Werner Hoppe zum 70. Geburtstag, München 2000, S. 913 – 926

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7. Internationalisierung des Staates, in: Joachim Bohnert / Christof Gramm / Urs Kindhäuser / Joachim Lege / Alfred Rinken / Gerhard Robbers (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche, Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, Berlin 2001, S. 193 – 222 8. Der einzelne in der Welt jenseits des Staates, in: Der Staat 40 (2001), S. 45 – 72. (Erschienen auch in: Rainer Wahl / Joachim Wieland [Hrsg.]. Das Recht des Menschen in der Welt, Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstages von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Berlin 2002, S. 59 – 109) 9. Kompetenzprobleme bei der Umsetzung von europäischen Richtlinien, in: NVwZ 2002, S. 21 – 28 (gemeinsam mit Eckard Rehbinder) 10. Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: CarlEugen Eberle / Martin Ibler / Dieter Lorenz (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, Festschrift für Winfried Brohm zum 70. Geburtstag, 2002, S. 191 – 207 11. Zwei Phasen des Öffentlichen Rechts nach 1949, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt 2003, S. 411 – 435 12. Das Verhältnis von Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozeßrecht in europäischer Sicht, DVBl. 2003, S. 1285 – 1293 (Erschienen auch in: Hermann Hill / Rainer Pitschas, Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht [Beiträge der 70. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 20. bis 22. März 2002 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer], Berlin 2004, S. 357 – 383) 13. Der offene Staat und seine Rechtsgrundlagen, JuS 2003, S. 1145 – 1151 14. Der offene Verfassungsstaat als Staatstyp der Gegenwart, in: Festschrift für Hisao Kuriki, Tokyo 2004, S. 684 – 655 15. Internationalisierung der Informationsordnung, in: Dieter Leipold (Hrsg.), Rechtsfragen des Internet und der Informationsgesellschaft, Symposion der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Städtischen Universität Osaka, Heidelberg 2002, S. 37 – 61 (gemeinsam mit Katrin Hölting) (Erschienen auch in: The Law Research Institute, Seoul National University [Hrsg.], Seoul Law Journal, Volume XLV, No. 1, Seoul 2004, S. 289 – 320) 16. Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegrif-

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Schriftenverzeichnis Rainer Wahl fe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit, Symposium für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag, Berlin 2005, S. 113 – 149 (Erschienen auch in: JZ 2005, S. 916 – 925 sowie auf Spanisch in: Teoría y Realidad Constitutcional [Verfassungslehre und -wirklichkeit], Nr. 18, 2. semestre 2006, Madrid 2006, S. 105 – 129)

17. Europäisierung und Internationalisierung. Zum Verlust der schützenden Außenhaut der Souveränität, in: Gunnar Folke Schuppert / Ingolf Pernice / Ulrich Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, BadenBaden, S. 147 – 176 18. Die Rolle von Verbänden auf der internationalen Ebene, in: Verbände, Organisationen und Recht, Japanisch-deutsches Symposium Osaka 2005, S. 345 – 364 (Erschienen auch in: Dieter Leipold [Hrsg.], Verbände und Organisationen im japanischen und deutschen Recht. Japanisch-deutsches Symposium, Osaka, 2005, Köln 2006, S. 297 – 317) 19. Das Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht. Die Relevanz unterschiedlicher Entwicklungspfade, in: Stephan Breitenmoser / Bernhard Ehrenzeller / Marco Sassoli / Walter Stoffel / Beatrice Wagner Pfeifer (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat, Festschrift für Luzius Wildhaber, Zürich / Baden-Baden 2007, S. 865 – 964

IX. Varia 1. Entwurf zur Änderung der Juristenausbildung, Mitteilungen des Hochschulverbandes 1984, S. 45 – 50 2. Kritik am Entwurf zur Änderung der Juristenausbildung in BadenWürttemberg, VBlBW 1984, S. 43 – 46 3. Kunstraub als Ausdruck von Staatsideologie, in: Kunst und Recht, Symposium aus Anlaß des 80. Geburtstags von W. Müller-Freienfels, Heidelberg, 1996, S. 105 – 136 (Gekürzte Fassung in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 80 vom 8. April 1997, S. 44. sowie Wiederabdruck in: Matthias Frehner [Hrsg.], Das Geschäft mit der Raubkunst, Zürich, 1998, 17 – 24 und veränderte Fassung in: Volker Michael Strocka, [Hrsg.] Kunstraub – ein Siegerrecht? Historische Fälle und juristische Einwände“, Berlin 1999, S. 27 – 39) 4. Die Misere der Betreuungsrelation in der Juristenausbildung. Wie eine Universitätsausbildung durch gesetzlich vorgesehene Normwerte denaturiert wird, in: Dieter Strempel (Hrsg.), Juristenausbildung zwi-

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schen Internationalität und Individualität, Baden-Baden 1998, S. 379 – 394 5. Kann es die Gesundheit und das Leben kosten, in einem Rechtsstaat sein Recht zu wollen? – Überlegungen zu Martin Walser: „Finks Krieg“, in : NJW 1999, S. 1920 – 1925 (Erschienen auch in: Hermann Weber, [Hrsg.], Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur, S. 181 – 197)