Meine Erfahrungen in Berlin-Ost
 9783412309862, 3412039977, 9783412039974

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Wenzel Holek Meine Erfahrungen in Berlin Ost

alltag & kultur Band 2 Herausgegeben vom Institut für Europäische Ethnologie und von der Landesstelle für Berlin-Brandenburgische Volkskunde der Humboldt-Universität zu Berlin durch Wolfgang Kaschuba, Rolf Lindner, Ina Merkel und Leonore Scholze-Irrlitz

Der

Herausgeber

Rolf Lindner, Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Alltags- und Subkulturforschung, Stadtethnologie, Cultural Studies

Wenzel Holek Meine Erfahrungen in Berlin Ost Eingeleitet und herausgegeben von Rolf Lindner

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Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Holek, Wenzel: Meine Erfahrungen in Berlin-Ost / Wenzel Holek. Eingel. und hrsg. von Rolf Lindner. - Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 1998 (Alltag & Kultur ; Bd. 2) ISBN 3-412-03997-7

© 1998 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Umschlagentwurf: GrafikDesign M+S Hawemann, Berlin Satz und Layout: Stephan Heinen, Berlin Druck und Bindearbeiten: MVR-Druck, Brühl Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem Papier gedruckt Printed in Germany ISBN 3-412-03997-7

Inhalt

Zur Einführung Rolf Lindner: Der Vermittler

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Wenzel Holek: Meine Erfahrungen in Berlin Ost Ankunft und erste Erfahrungen Die Laubenkolonie Klubarbeit Berliner Kneipengeselligkeit Aus der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Ferienkolonie in Bagow (Havelland) Arbeit an der Jugend Schutzaufsichten Wieder in der Ferienkolonie Eine Konferenz der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Eine Theateraufführung Ein Vorfall Auf einem Gut in Pommern Eine Konferenz zur Arbeiterreligion Die Novemberrevolution Die akademische Jugend in der sozialen Arbeit Landkonferenz in Trieglaff Eine praktische Erfahrung mit der Sozialisierung Auf dem Gut Streik

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Der Neuaufbau des Volkslebens Gottfried von Bismarck Graue Theorie Weltfremde Theologen Bilder und Gedanken vom Lande Kommunisten, Anarchisten, wilde Gruppen Ein Bürschchen Arbeitslosigkeit im Klub In Wien und in Prag Menschliche Naturen Volksbildnerische Arbeit Zur Diskussion über die Aufgaben und Ziele des Settlements Urlaubs- und Vortragsreisen in der Schweiz Nachgedanken über Religion und Politik

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Bildnachweise

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Rolf Lindner

Der Vermittler

,Ich will keine andere Rolle in der SAG haben als die, die Verbindung zwischen Akademikern und Arbeitern aufrecht zu erhalten" (Wenzel Holek) 1 „Das Wichtigste an seiner erfüllten Lebensmission scheint mir sein Vermittleramt zwischen Intellektuellen und Proletariern zu sein" (Theodor Greyerz) 2

1921 erschien etwas überraschend der zweite Band des „Lebensgangs eines deutsch-tschechischen Handarbeiters" von Wenzel Holek. Uberraschend war dies vor allem deshalb, weil eine Fortsetzung beim Genre proletarischer Lebenszeugnisse ungewöhnlich war. Der Lebensweg führte den Helden am Schluß des zweiten Bandes in den Berliner Osten, wo er bei der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost, eine soziale Einrichtung, eine Stelle als Jugenderzieher antrat. Damit galt die Lebensbeschreibung von Wenzel Holek, dem wohl berühmtesten unter den frühen Arbeiterautobiographen, der es „Vom Handarbeiter zum Jugenderzieher" (so der Titel des 2. Bandes) gebracht hatte, als abgeschlossen. Die marxistische Literaturwissenschaft, zumindest jene, die die literarische Höhe eines Werkes an der Höhe des Klassenbewußtseins des Erzählers mißt, konnte in diesem „Aufstieg zur geistigen, erzieherischen Arbeit" (Greyerz) nur einen Niedergang sehen, der sich auch literarisch rächte. „Seinen ersten Band hat er noch vorwiegend vom Standpunkt des opponierenden sozialdemokratischen Arbeiters geschrieben, und er vermochte dementsprechend ein eindrucksvoller Gestalter proletarischen Lebens ... zu sein", schreibt Ursula Münchow in ihrem Abriß über „Frühe deutsche Arbeiterautobiographien". „Im zwölf Jahre später entstandenen zweiten Band Vom Handarbeiter zum Jugenderzieher schrieb er jedoch mehr in dem überheblichen Ton des arrivierten „Geistesarbeiters", den bereits eine Kluft von den klassenbewußten Arbeitskollegen trennt. Von seiner neuen klassenversöhnlerischen Position her dreht sich seine Lebensgeschichte jetzt hauptsächlich um sich selbst. Er hatte die Kraft, ein anschauliches soziales Zeitbild zu gestalten,

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Wenzel Holek, undatierter Brief an Friedrich Siegmund-Schultze (1923), E Z A 51/SII cl5. Theodor Geyerz, Ein treuer Freund (Nachruf), in : Mitteilungsblatt der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost No.95, März 1935.

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eingebüßt"3. Das muß eine seltsame Lebensgeschichte sein, in der nicht die Geschichte durch das Leben des Erzählenden, wie durch ein Prisma, gebrochen wird. Daß es stets um ihn selbst als Exemplar, als Muster ging, daß hier einer zum Lebensbeschreiber geworden ist, der sein Leben als ein Projekt verstand und dies im unmittelbaren Sinne des „Entwurfs", des „nach vorne Werfens", das macht der hiermit vorliegende dritte Band des Lebensgangs endgültig deutlich. Daß dieser Band überhaupt vorliegt, kommt einer kleinen verlegerischen Sensation gleich. Mehr als 65 Jahre nach seiner Entstehung wurde das Typoskript von Jens Schley im Rahmen eines Studienprojektes aufgefunden, das am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt wurde4. Das Typoskript war offensichtlich einer ersten redaktionellen Bearbeitung unterzogen worden und, wie eine kurze Nachricht in der „Neuen Nachbarschaft" zeigt, für den Druck vorgesehen gewesen: „Wir alle kennen Wenzel Holek's Lebensbeschreibung. Wer den ersten Band nicht kennt, soll sich nicht als „gebildet" bezeichnen: das ernsteste Dokument der Nöte unserer Zeit, das ich kenne. Der zweite Band schilderte dann die Entwicklung vom Arbeiter zum Jugendpfleger. Er führte bis Berlin-Ost. Jetzt hat Wenzel Holek zu unserer Freude den dritten Band vollendet, der seine Erfahrungen in Berlin-Ost wiedergibt. Wir hoffen, daß er im Jahre 1931 unseren Freunden gedruckt vorliegen wird"5. Warum der Text nie erschienen ist, darüber läßt sich nur spekulieren, aber es liegt die Vermutung nahe, daß die ökonomischen und politischen Bedingungen der Zeit dies verhindert haben. Jedenfalls wurde das Typoskript jetzt im Nachlaß von Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) gefunden. SiegmundSchultze war 1911 als junger Hofprediger mit seiner Frau Maria und seiner Schwester sowie einer Handvoll Studenten von Potsdam in den Berliner Osten, nach Berlin-Friedrichshain gezogen, um ein Settlement, besagte Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (SAG) zu gründen, eine „Niederlassung Ge3 4

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Ursula Münchow, Frühe deutsche Arbeiterautobiographien, Berlin 1973, S. 88. Studienprojekte gehören zum Ausbildungsprogramm des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Thema des Studienprojekts, an dem 14 Studierende beteiligt waren, lautete "Das Settlementwesen" und behandelte vor allem die Geschichte der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost. Die Ergebnisse des Projekts sind inzwischen der Öffentlichkeit zugänglich und zwar in dem Band "Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land". Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik", hrsg. von Rolf Lindner, Berlin 1997. Die Leser seien zur Ergänzung des vorliegenden Bandes unbedingt auf den Beitrag von Annette Vogelsberg über Wenzel Holek (S. 161-177) hingewiesen. Die Veröffentlichung des dritten Bandes wird von Friedrich Siemund-Schultze angekündigt in: Neue Nachbarschaft. Akademisch-soziale Monatshefte Jg. 8(1930), S. 170.

bildeter inmitten ärmster Bevölkerungskreise", wie die zeitgenössische Umschreibung lautete. Damit wurde ein sozialpolitisches Modell aus dem Viktorianischen England auf das Wilhelminische Deutschland übertragen, das eine sich räumlich ausformende gesellschaftliche Kluft zur Voraussetzung hat, die sich in der zeitgenössischen Rede von den zwei Völkern in einem Volk wiederfindet. Durch die Teilnahme am Leben der „armen und arbeitenden Klasse" sollten die Klassengegensätze überbrückt und der Klassenhaß, den die „Besitzlosen" gegenüber den „Besitzenden" hegten, überwunden werden. Zielvorstellung war es, daß aus den Zellen der Nachbarschaft eine neue Volksgemeinschaft hervorgehen sollte. Den Kern der Settlementtätigkeit bildete das sogenannte Klubwesen. Die als .zivilisierend' verstandene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus dem Viertel wurde in Form von Klubs durchgeführt, da darin eine altersadäquate, quasi natürliche Gesellungseinheit gesehen wurde. Geleitet wurden diese Klubs von „Siedlern", zu Anfang ausschließlich Studenten, vor allem der Theologie, später auch der Medizin und der Rechtswissenschaft und anderer Fächer, bei denen sich die „Kenntnis der unteren Stände" als sinnvoll und nützlich erwies. Hierhin kommt nun am 1. Mai 1916 Wenzel Holek, 52jährig, vor allem in evangelischen Bildungsbürgerkreisen bekannt durch seine unter dem Titel „Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters" 1909 im Diederichs-Verlag erschienenen Autobiographie. Herausgeber war Paul Göhre, der zuvor bereits zwei Arbeiterautobiographien ediert hatte 6 , der vor allem aber durch seinen eigenen, auf teilnehmender Beobachtung beruhenden Erlebnisbericht „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche" hervorgetreten war. Göhre hatte 1890 als junger Pfarrer seine Entdeckungsreise ins Land des Vierten Standes angetreten, „um rücksichtslos die Wahrheit über die Verhältnisse in der Arbeiterklasse einer bestimmten Landschaft zu erforschen und darzulegen" 7 . Göhres wagemutige Expedition nimmt dem um seinen Besitzstand besorgten Bürger die Angst vor der Arbeiterschaft, indem er aufzeigt, daß deren „heiße Sehnsucht" darin besteht, von der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt und geachtet zu werden. In Wenzel Holek findet Göhre seinen idealen Protagonisten. Abgesehen nämlich von den Einblicken, die Holeks Bericht in die Arbeits- und Lebenswirklichkeit des Handarbeiters - als Ziegelarbeiter, Erdarbeiter, Glasarbeiter, Zuckerfabrikarbeiter u.a.m. - gewährte, war dieser vor allem durch den unbedingten Bildungswillen eines Autors ge6

Carl Fischer, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters, Leipzig 1903; Moritz William Theodor Bromme, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, JenaLeipzig 1905. 7 Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine practische Studie, Leipzig 1891, S.l.

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prägt, der aus dem Vierten Stand emporstrebt. Dieses Beispiel zeigte der Leserschaft, daß es unter jenen, die sie als Bilderstürmer fürchteten, Vertreter, sozialdemokratische zumal, gab, denen es vor allem um die Teilhabe an der „modernen Kulturgemeinschaft" geht. „Vielleicht", schreibt ein Rezensent, offensichtlich erleichtert, „will der Arbeiter gar nicht stürzen, revolutionieren" 8 . Schon früh orientiert sich Holek, wie sein Lebensbericht zeigt, an einem ehrbaren Leben, das durch Alkoholabstinenz, Bildungseifer und Sittlichkeit geprägt ist. Das geschieht nicht zuletzt um des Kontrastes willen zu den im wörtlichen wie übertragenen Sinne - „zerlumpten" Gestalten, die während des 19. Jahrhunderts die Imagination des Bürgertums über das Proletariat dominierten (und in Holeks Bericht über die „Abraumaken" noch einmal Gestalt annehmen'). Damit wird durch Holek (und an dessen Beispiel) ein Thema variiert, das sich in der bürgerlichen Auf-Sicht auf das Proletariat im Verlauf des 19. Jahrhunderts durchsetzt und zu verschiedenen, jeweils in moralischen Oppositionen gedachten Klassifikationen der „armen und arbeitenden Klassen" führt. In der Unterscheidung der (der Unterstützung) „würdigen" und „unwürdigen Armen" der Charity Organization Society, die aufs engste mit der Entstehung der Settlement-Bewegung verbunden war, kommt dies ebenso zum Ausdruck wie in der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzenden Scheidung in „respectable" und „rough working class", die zivilisatorischen Standards folgt 10 . Diese Einteilung der Arbeiterklasse nach moralischen Kriterien hat insofern den auf Respektabilität bedachten Arbeitertypus überhaupt erst hervorgebracht, als er sich nunmehr, aus SelbstRespekt, aktiv von seinen „unzivilisierten" Klassengenossen distanziert, um nicht mit „ces gens-lä" in einen Topf geworfen zu werden. Holeks Bericht über den Umgangston und Sitten unter den Abraumaken illustriert diese Distanznahme eindrucksvoll, ein Bericht, der in Göhres Gegenüberstellung vom „reinen Kind" Holek, das mit dem „verkommendsten Gesindel" zusammenleben mußte, nicht nur seine Resonanz, sondern auch seine Moralanwendung 8 Jean Paul d'Ardeschah, Eine Arbeiterautobiographie, in: Generalanzeiger für Hamburg Altona v. 11.7.1909, zit. n. Michael Vogtmeier, Die proletarische Autobiographie 19031914, Frankfurt a.M./Bern/New York 1984, S.212. 9 "Abraumaken" ist die Jargonbezeichnung für die im Tagebau ("Abraum") tätigen Arbeiter. Vgl. das Kapitel "Auf dem Abraum in Dux" in: W. Holek, Lebensgang eines deutschtschechischen Handarbeiters, Jena 1909, S. 102-126. 10 Zur Geschichte der "rough/respectable" Dichotomie und ihren Auswirkungen vgl. Ellen Ross, "Not the Sort that Would Sit on the Doorstep": Respectability in Pre-World War I London Neighborhoods, in: International Labor and Working Class History No. 27 (1985), S. 39-59. Diese Dichotomie läßt sich sehr schön anhand des Kapitels "Auf dem Abraum in Dux" illustrieren, und zwar im Vergleich von Wenzel Holek und seinem Vater einerseits und den "Abraumaken" andererseits.

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Wenzel Holek mit einem Knabenklub

findet. Die auf Selbstachtung bedachte, die Gefahr des gesellschaftlichen Abgleitens bedenkende Distanznahme „verbürgerlicht" in dem Grade, in dem sie ausschließlich auf Erlangung der Fremdachtung durch sozial Höherstehende ausgerichtet ist. Klassisches Beispiel dafür ist der auf Ansehen bedachte Arbeiter, der stolz darauf ist, mit Repräsentanten der herrschenden Klasse zu verkehren. Wenzel Holeks hiermit vorliegender Bericht aus seiner Berliner Zeit ist reich an entsprechenden Beispielen. Als Wenzel Holek im Mai 1916 seine Arbeitsstelle in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost antritt, ist er seit Jahren in der Jugendpflege tätig, und zwar in dem im Arbeitervorort Thekla gelegenen Leipziger Volksheim. Das Leipziger Volksheim gehört zu jener Bewegung der „Anbahnung und Pflege von Beziehungen zwischen den verschiedenen Volkskreisen", die unter diesem Titel Gegenstand der 15. Konferenz der Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen im Juni 1906 war 1 1 und den ersten Versuch der Ubertragung des Settlementprinzips auf deutsche Verhältnisse bildete. „Stammhaus" der Volksheim-Bewegung war das 1901 von dem Pastor und Studienrat Walther Classen gegründete Volksheim im Hamburger Arbeiterviertel Billwärder Ausschlag, Rotenburgsort, deren Mitarbeiter freilich nicht wie die „Siedler" der SAG „draußen", also im Arbeiterviertel wohnten, wie es in der Anfangszeit der Bewegung hieß. Am 17. 07. 1913 berichtet das „Leipziger Tageblatt" über einen von Wenzel Holek in der „Sächsisch-Evangelisch-Sozialen Vereinigung" gehaltenen Vortrag, in dem er die Prinzipien der Volksheim-/ Settlement-Arbeit formuliert: „Erfreulich sei es, daß von gebildeten Kreisen versucht werde, die Kluft zwischen den Arbeitern und Gebildeten zu überbrücken. Dies könne jedoch nicht durch bloß Beobachtungen geschehen, sondern die Gelehrten müßten suchen, in die nächste Nähe der Arbeiter zu kommen, damit sie sich beide verstehen lernen. Zu unrecht bestehe aber auch der Haß und die Scheu der Arbeiter gegen bzw. vor den Gebildeten. Die Arbeiter müßten jede ihnen gebotene Gelegenheit benützen, sich mit Höhergebildeten zu unterhalten. Nur auf diese Weise sei es möglich, eine Uberbrückung der zwischen der Arbeiterschaft und der Bürgerschaft bestehenden Kluft herbeizuführen, die mißliche Lage der Arbeiter zu erkennen und eine Änderung zum Besseren zu erzielen" 12 . Wie selbstverständlich Holek hier von „den Arbeitern" spricht und das Prinzip der „Versöhnungsarbeit" vertritt, ist außerordentlich aufschlußreich und wird uns im weiteren noch beschäftigen. Was zunächst einmal deutlich wird, 11 Vgl. den Konferenzbericht: Anbahnung und Pflege von Beziehungen zwischen den verschiedenen Volkskreisen (Volksheimen). 15. Konferenz der Centralstelle für ArbeiterWohlfahrtseinrichtungen am 7. und 8. Juni 1906 in Nürnberg und Fürth, Berlin 1907. 12 Leipziger Tageblatt vom 17.7.1913, zit. n. Vogtmeier a.a.O., S. 203

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ist, daß Holek mit den Aufgaben, die ihn im Osten Berlins erwarten und mit der SAG-Idee bereits vertraut war. In der Leipziger Jugendarbeit hat er sich, ganz wie die Mitarbeiter der SAG in Berlin, auf die „Jugendlehre" von Friedrich Wilhelm Förster gestützt 13 . Dessen „ethische Parabeln", als Handreichung für die Jugenderziehung gedacht, bildeten lange Zeit einen Grundstock der Berliner Klubarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Was Holeks Arbeit mit den Berliner Jungens augenscheinlich von Anfang an von der der studentischen Mitarbeiter unterschied, war, daß er diese „einen Strich strenger" durchführte, wie es Siegmund-Schultze formulierte. Um das im Vergleich zu seinen Leipziger Erfahrungen „schwierige Material der Berliner Jungens" zu formen, die ihm schlauer, .lebensklüger' und selbständiger, aber auch oberflächlicher und .ablenkbarer* erschienen, gilt es zuvörderst sich Autorität zu verschaffen. „Antiautoritäre Erziehung" ist nicht die Sache von Wenzel Holek. Die studentischen Mitarbeiter sind ihm häufig zu weich und inkonsequent und mit den Mitarbeiterinnen kommt er schon gar nicht klar. Gegen den „freideutschen Geist" setzt er auf „Zucht und Ordnung", und er hat auch weniger Skrupel als die Studenten, einmal „durchzugreifen", notfalls mit der Knute. Aufgrund seiner Vertrautheit mit dem Milieu ist er sicherlich weniger getäuscht und ausgenutzt worden als andere Mitarbeiter; vor allem ist anzunehmen, daß er nicht auf die Anbiederungsrhetorik hereingefallen ist, die bei einer durch soziales Gefälle gekennzeichneten und durch moralische Differenzierungen gerahmten Beziehung stets im Spiel ist. Bei der Lektüre der Fremdund Selbsteinschätzung stellt sich das Bild eines autoritären Charakters ein, für den Außenstehenden nur unwesentlich gemildert durch die Rede von „der rauhen Schale mit dem weichen Kern". Ganz offensichtlich will sich Holek, der mehr und mehr in die Rolle des eigentlichen Hauswirtes („Hausvaters") hineinwächst, nicht von seinen „Pappenheimern" auf der Nase herumtanzen lassen, wie es seiner Meinung nach des öfteren den anderen Mitarbeitern passiert. „Sie wollten mir nicht gehorchen, machten mir alles zum Possen und wollten an ihre Mütter schreiben, wie schlecht es ihnen ging", äußert sich Holek laut Protokoll einer Arbeitsbesprechung der SAG über seine Schwierigkeiten in der ersten Ferienkolonie mit den Berliner Jungens. „Einen musste ich sogar nach Hause schicken. Sie waren unpünktlich und wollten nicht glauben, als ich ihnen ankündigte, das nächste Mal gäbe es nichts zu essen. Sie mussten aber doch daran glauben. Man muß der Jugend nicht zu viel Freiheit gewähren. Wer denkt, daß er sie durch uneingeschränkte Freiheit gewinnen könnte, der ist im Irrtum" 14 . 13 Friedrich Wilhelm Foerster, Jugendlehre. Ein Buch für Eltern, Lehrer und Geistliche, Berlin 1906. 14 Arbeitsprotokoll des SAG vom 1.4.1917, S. 11. EZA 51/SII bl.

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„Was zur Befürwortung einer streng verstandenen Disziplinanwendung führte", schreibt Annette Vogelsberg, „war wahrscheinlich die Berufung auf die selbst durchlebten bitteren Erfahrungen, die er als positiv prägend für seine Persönlichkeitsentwicklung anerkannte" 15 . In dieser Berufung auf eigene Erfahrungen äußert sich für den bürgerlichen Beobachter gerade das „Urwüchsige" in ihm, das authentisch „Volkhafte", „lebendig gewordene Erde", wie es Paul Göhre pathetisch ausdrückt. Das, was dem Akademiker als Fehltritt angerechnet würde, wird bei Holek zum Ausweis von Milieuvertrautheit. Holek weiß mit dieser Sondersituation umzugehen. Er, der gegenüber seinen ehemaligen Klassengenossen soviel Wert auf gute Sitte legt, kokettiert mit seiner „ungehobelten Natur", „die die Herrschaften in ihrer Auffassung von guter Sitte kränkte" 16 . Aber genau dies wird von ihm erwartet, ist er doch nicht als Gebildeter, sondern als Stimme des Volkes gefragt. „Hier redet das Volk selbst durch den Mund Berufener" heißt es schon in Göhres Vorwort zu Holeks „Lebensgang" und daß das Buch „unersetzliches Material für die Volkskunde unserer Zeit bietet" 17 . Das Buch ist mithin für den (bildungs)bürgerlichen Leser gedacht, der Kenntnis über „die Lebensweise und die Gesinnung der arbeitenden Volksklassen" gewinnen will, wie es in einer zeitgenössischen Rezension heißt; „ein Buch für die Bourgeoisie" hat es seinerzeit Franz Mehring mit bitterem politischen Unterton genannt 18 . Holek nimmt für seine Leserschaft, die in erster Linie aus dem Bürgertum stammt, die Rolle des volkskundlichen Gewährsmannes ein, und es ist in dieser Rolle, in der er sein Leben lang gefragt bleiben wird. Diese Rolle als Gewährsmann, als „Zeitzeuge" mit ihren spezifischen Implikationen ist in der literatur- und politikwissenschaftlich dominierten Auseinandersetzung mit der Arbeiterautobiographik so gut wie nicht beachtet worden, obwohl sie doch unmittelbar auf jenes Mittleramt verweist, das soziologisch gesehen von zentraler Bedeutung ist. Zu fragen ist also: wer ist eigentlich dazu „berufen", aus seinem Munde Kunde zu tun vom Leben des Volkes? Oder, prosaischer ausgedrückt: wer wird Gewährsmann/Informant? 19 . Justin Stagl hat am Beispiel des Gewährsmannes in der Ethnologie die simple, aber häufig vergessene Rechnung aufgemacht, daß „Menschen, die sich soweit außerhalb ihrer eigenen Kultur stellen können, daß sie den Ethnographen gleichsam ethnographisch 15 16 17 18

Annette Vogelsberg, "Wenzel Holek", a.a.O., S. 170f. W. Holek, Vom Handarbeiter zum Jugenderzieher, Jena 1921, S. 165 W. Holek, Lebensgang, a.a.O., S. I. Franz Mehring, Rez. Lebensgang, in: Neue Zeit Jg. 27(1908/09), Bd. 2, S. 762-764, hier: S. 763. 19 Vgl. meinen Aufsatz "Ohne Gewähr. Zur Kulturanalyse des Informanten", in: Feldforschung. Qualitative Methoden in der Kulturanalyse. Hrsg. von Utz Jeggle, Tübingen 1984, S. 59-71.

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über diese berichten können (und ähnliches hat Holek mit seinem „Lebensgang" geleistet), normal nicht zu den gut Angepaßten (gehören)"20. Der Informant ist nicht der statistisch repräsentative Vertreter seiner Herkunftskultur; ihn eignet vielmehr eine gewisse Distanz, aus Not ebensogut wie aus Scham, die ihn eine reflexive Haltung zu seinem Herkunftsmilieu einnehmen läßt. Daher liefert der Informant streng genommen auch keine Informationen - jenes so sehr gewünschte und von den Rezensenten lobend hervorgehobene „echte Lebensbild", „ein wahrhaftiges, schleierloses Bild der breiten Masse" -, sondern Interpretationen des Milieus (und der „Masse") aus seiner spezifischen Sicht der Dinge. Es ist allzu häufig übersehen worden, das hier zwei Individuen, Gewährsmann und Forscher, über das Volk befinden bzw. sich der eine von dem anderen über jene informieren läßt. Unter den kulturell Fremden ist der Gewährsmann noch der kulturell Verwandteste für den Forscher. Der Informant ist in der Regel ein um Anerkennung Ringender, der den Kontakt zum Forscher genauso anstrebt wie der Forscher den Kontakt zu ihm. Nicht selten strebt der Informant die Assimilation an die Kultur des Forschers an; Angelo Ralph Orlandella, genannt „Sam Franco", einer der Hauptgewährsleute für William F. Whytes klassischer Feldstudie „Street Corner Society" ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel21. Stagl spricht in diesem Zusammenhang von „Aufstiegsassimilation", die sich besonders deutlich darin zeigt, daß eine ganze Reihe von Hauptinformanten in ihrem späteren Leben selber zu Ethnographen (Sozialforscher) geworden ist. Die Begegnung mit dem Forscher, der zum Mentor wird, erscheint retrospektiv als der entscheidende Wendepunkt im Leben des Informanten. Das trifft auch auf Wenzel Holek zu, der seine Lebenschance seinem bürgerlichen Freund, dem Schweizer Philanthropen Theodor Greyerz verdankte, der ihn zum Schreiben seiner Autobiographie ermunterte und Holek ein Leben lang und, wie der bewegende Nachruf zeigt, darüber hinaus verbunden blieb22. Der nach Bildung Strebende wird zum Missionar des Bildungsstrebens; auch darin ähnelt er dem Gewährsmann des Ethnographie, der selbst zum Ethnographen wird. Dabei bleibt seine Stellung notwendigerweise zwiespältig, ja wird durch diese Zwiespältigkeit definiert: kein Arbeiter mehr, aber auch kein Bildungsbürger, ist Wenzel Holek ein klassisches Beispiel für den kulturellen Randseiter, „ein Mensch am Rande zweier Kulturen und zweier Gesellschaften, die einander nie völlig durch20 Justin Stagl, Kulturanthropologie und Gesellschaft. Eine wissenschaftssoziologische Darstellung der Kulturanthropologie und Ethnologie. Zweite, durchgesehene, verbesserte und um ein Nachwort vermehrte Auflage, Berlin 1981, S. 92. 21 Angelo Ralph Orlandello, Die Wirkung von Whyte auf einen Underdog, in: William F. Whyte, Street Corner Society, Berlin 1996, S. 360-373. 22 Vgl. den Nachruf im Mitteilungsblatt der S A G vom März 1935.

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drangen und nie völlig miteinander verschmolzen" 23 . Sein Leben lang führt er eine hybride Existenz, die ihren Sinn aus der Notwendigkeit der Vermittlung gewinnt, die sie zuvörderst und letztlich an sich selbst exerziert. Das größte Exerzitium in dieser Hinsicht stellt dieser Band dar, der ein Zeugnis der kulturellen Hybridität des Autors bildet. „Dann sagte ich und ich sage es auch heute", schreibt Wenzel Holek in krisenhafter Zeit an Siegmund-Schultze, „ daß zwischen den Akademikern und den Arbeitern ein Unterschied bestehen bleibt, der nie restlos aufgehoben werden kann. Ein sich völliges Verstehenlernen, sich alles nachfühlen können, wird wohl nur selten gelingen". Die Tragik, die in dieser Passage enthalten ist, rührt an die Wurzeln der Existenz, muß doch Holek die Möglichkeit der so sehr angestrebten Kultur/Volksgemeinschaft um die Beglaubigung der eigenen Notwendigkeit willen leugnen: „Und doch ist mein Bestreben, den Studenten dazu zu verhelfen, die Arbeiter so viel wie möglich verstehen zu lernen, weil ich in der Entfremdung das größte Übel sehe, wie Sie" 2\ Hier treffen sich, in der Gestalt von Holek und SiegmundSchultze, die klarsichtigen Mittler, die der Entfremdung qua Berufung (und Beruf) begegnen wollen. „Träger der SAG-Idee sollen doch die Akademiker sein. Mir als Arbeiter (sie!) kommt nur die Aufgabe zu, zwischen ihnen und den Arbeitern zu vermitteln" schreibt er kurz nach Weihnachten 1922 an Siegmund-Schultze 25 . Noch einmal wird hier Holeks Sendung deutlich, die in der Vermittlung besteht, aber auch das Dilemma, in dem er steckt. Das, was ihn stark macht in den Augen seiner bürgerlichen Freunde, seine Arbeitervergangenheit, sein Erfahrungswissen, ist nicht problemlos gegenüber den Arbeiterfreunden, denen er, als Missionar des Bildungsstrebens, schnell als derjenige gelten kann, der „etwas Besseres" sein will und dadurch angreifbar wird, oder als Aufsteiger erscheint, dessen Vorbild man nacheifert. Darin besteht das generelle Risiko eines „cultural broker", der von „unten" kommt. Holek hat dies oft genug erfahren müssen, in der Ablehnung wie in der Form der Anbiederei. Wenzel Holek ist, trotz seiner Selbstbescheidung, Träger der SAG-Idee, eine Gemeinschaft zwischen Arbeitern und Gebildeten herzustellen, und er ist zugleich weit mehr: er verkörpert diese Idee, sie hat in seiner Existenz Gestalt angenommen. Friedrich Siegmund-Schultze hat diesen Aspekt in seinem

23 Robert Ezra Park, Human Migration and the Marginal Man, in: American Journal of Sociology vol. 33, S. 881-893, hier: S. 892 (Meine Übersetzung). 24 Wenzel Holek in einem Brief an Friedrich Siegmund-Schultze vom 10.8.1922 (EZA 51/ S i l cl5). 25 Wenzel Holek in einem Brief an Friedrich Siegmund-Schultze vom 28.12.1922 (EZA 51/ Sil cl5).

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Nachruf auf Holek auf den Punkt gebracht, als er schrieb, daß ihm Holek „das Symbol der Volksgemeinschaft in unserer Mitte" war: „Die, die mit uns in Berlin-Ost gearbeitet haben während der letzten zwei Jahrzehnte, wissen es, daß Holek mir stets als die Verkörperung unserer Arbeit erschienen ist. Er war derjenige unter uns, der als Arbeiter, schon ehe er uns kennenlernte, zu ähnlichen Grundsätzen und Erkenntnissen gekommen war wie wir. Er reichte als Arbeiter uns, die wir von der anderen Seite gekommen waren, die Hand. Er war für uns das Symbol der Volksgemeinschaft in unserer Mitte" 26 . So steht am Ende der volkskundliche Gewährsmann für das Volk selbst.

Zu dem vorliegenden Text Der vorliegende Band vollendet das Projekt von Wenzel Holek und erlaubt damit dem Leser erstmals diesen in seiner Komplexheit und Konsequenz so besonderen Lebensweg vom Handarbeiter zum Volksbildner tatsächlich nachzuvollziehen, zu „verstehen" im Sinne der Epistemologie. Dabei darf nicht übersehen werden, daß der Bericht nicht nur einer über ein Projekt ist, sondern Teil desselben. Hier hat jemand sein Leben selbst und das Schreiben darüber, „Kunde zu tun", zu seinem ureigensten Projekt gemacht, und die außergewöhnliche Kontinuität des Lebensberichts zeugt von der Überzeugung des Autors, als Vermittler eine Lebensmission zu haben. Daß der Autor eine hybride Existenz geführt hat, weder .Arbeiter' noch .Gebildeter', hat ihn hellsichtig gemacht, wie es nur ein kultureller Randseiter sein kann, der stets, folgen wir der Apodiktik von Robert Park, „unausweichlich das Individuum mit dem weiteren Horizont" ist27, und zugleich eigentümlich, d.h. seiner Lage entsprechend borniert, eine Beschränktheit, die sich gerade dort am stärksten zeigt, wo er zur Selbstüberschätzung neigt. Aber gerade dies macht die Besonderheit von „Meine Erfahrungen in Berlin-Ost" aus. Durch die Augen Holeks wird dem Leser ein neuer Blick auf ein Zeitpanorama eröffnet, das die Berliner Kriegs- und Nachkriegssituation, die Novemberrevolution und die Lage der ostelbischen Gutsherrschaft umfaßt. In den Berichten aus den Ferienkolonien auf den ostelbischen Gütern wird uns die Haltung der Junker besonders anschaulich vor Augen geführt. Hier gewinnt der Leser eine bedeutende Ergän26 Friedrich Siegmund-Schultze, Vater Holek, in: Mitteilungsblatt der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost N o . 95, März 11935. 27 Robert Ezra Park, Introduction, in: Everett V. Stonequist, The Marginal Man, N e w York 1937, S.XIII-XVIII, hier: S. XVII (Meine Übersetzung). Die Archivmaterialien stammen aus dem Evangelischen Zentralarchiv, Berlin (EZA).

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zung und punktuelle Korrektur dessen, was ihm aus den zahlreichen Autobiographien des ostelbischen Landadels bekannt ist. Historisch besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Vorstellung, daß Wenzel Holek für Gottfried von Bismarck eine Art informeller Berater in Arbeiterfragen war; ein Gewährsmann aus dem Volke, der dem Junker .taktische Anweisungen' gibt. Die Historie bildet den Rahmen, in dem sich die jugenderzieherische und volksbildnerische Tätigkeit vollzieht, die im Zentrum der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost stand. Aus der Perspektive eines prominenten, freilich uncharakteristischen Mitarbeiters werden hier die verschiedenen Aktivitäten - von der Klubarbeit über die Ferienkolonien bis zur Bildungsarbeit und den Arbeitskonferenzen - einer Einrichtung beleuchtet, die sowohl ideell wie personell Wegbereiter der modernen Jugendarbeit und Jugendkunde war wie überhaupt der Sozialarbeit als Nachbarschaftsarbeit. In den späten 20er, frühen 30er Jahren trifft man kaum auf einen Vertreter im öffentlichen Jugendwesen, der nicht direkt oder indirekt mit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost oder zumindest ihrem Leiter, Friedrich Siegmund-Schultze, der seit 1926 die erste Professur für Jugendkunde an der Berliner Universität innehatte, in Berührung gekommen war. In Holeks Buch kommt die besondere Geschichte einer gesellschaftlichen Strömung („Settlement-Bewegung") mit der allgemeinen Zeitgeschichte aus der Perspektive eines einzigartigen Zeugen zusammen. Das macht den besonderen Reiz dieses Berichts für den Leser aus. Um diesen Reiz so authentisch wie möglich zu erhalten, bin ich mit redaktionellen Eingriffen in den Text so zurückhaltend wie irgend möglich gewesen. Gestrichen habe ich nur einige wenige Sätze bzw. kurze Passagen, in denen der Autor offensichtlich etwas neues anfangen wollte, ohne es dann aus-, geschweige denn zu Ende zu führen. Diese Auslassungen habe ich mit (...) gekennzeichnet. Sprachlich habe ich, bis auf offensichtliche Fehler, nichts verändert, um dem Leser den Eindruck von den Spracheigentümlichkeiten des Autors zu vermitteln. Vielleicht nicht auf Konsens trifft meine Entscheidung, gewisse antijüdische Resentiments im Text unkommentiert zu lassen, weil gerade deren Beiläufigkeit („Der Judenjunge - wollen wir ihn schon der Einfachheit wegen (sic! R.L.) so nennen ...") etwas über die Selbstverständlichkeit solcher Aus-grenzungsrhetorik in der erzählten (1917) und in der erzählenden (1930) Zeit verrät. Um den Wert des Textes für den Leser noch zu erhöhen, habe ich mir allerdings erlaubt, durch Linienrahmen kenntlich gemachte Erläuterungen und Ergänzungen in den Text zu montieren. Das schien mir einerseits notwendig zu sein, um dem Leser bestimmte Sachverhalte und Einrichtungen verständlicher zu machen, deren Kenntnis Holek bei den Lesern seiner Zeit offensichtlich voraus-

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gesetzt hat, andererseits schien mir dies ein angemessenes Mittel, um den Haupttext noch dichter zu machen, etwa wenn Holeks (an anderer Stelle getroffenen) Ausführungen über Berliner Kneipen eingefügt oder seine Beschreibungen der „Kaffeeklappe" durch historisches Material ergänzt werden. Wir sind überzeugt, daß das Buch durch diese Montage noch gewonnen hat. Ich möchte nicht versäumen, an dieser Stelle allen zu danken, die dazu beigetragen haben, daß dieser Text in dieser Form hat erscheinen können. Allen voran Jens Schley, der das Typoskript im Nachlaß von Friedrich SiegmundSchultze im Evangelischen Zentralarchiv Berlin gefunden hat, dann dessen Leiter, Herrn Dr. Sander, der uns die Druckerlaubnis, vorbehaltlich etwaiger Autorenrechte, erteilte, wie überhaupt den Mitgliedern des Studienprojekts „Das Settlementwesen" Ruth Alexander, Alexa Färber, Sonja Finkbeiner, Alexa Geisthövel, Victoria Hegner, Elke Hetscher, Esther Sabelus, Ute Siebert, Norbert Steigerwald, Katharina Weber, Antonia Weisz und vor allem Annette Vogelsberg, die bereits im Rahmen des Projekts einen biographischen Essay über Wenzel Holek verfaßt hat. Danken möchte ich auch Evelyn Riegel und Beate Wagner für die Erstellung des endgültigen Typoskripts, Stephan Heinen für den Satz sowie Victoria Schwenzer für die Hilfe bei der Besorgung von Materialien. Es ist uns nicht gelungen, etwaige Rechteinhaber ausfindig zu machen. Wir möchten daher unseren Aufruf wiederholen, sich im entsprechenden Fall beim Böhlau-Verlag zu melden.

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Ankunft und erste Erfahrungen Am 10. Mai fuhr ich nach Berlin, um mich in die Reihe der übrigen Mitarbeiter der Sozialen Arbeitsgemeinschaft einzustellen. Der Krieg hatte aber die Zahl der Mitarbeiter sehr herabgedrückt. Die männlichen Mitarbeiter lagen irgendwo in Schützengräben, und die weiblichen Mitarbeiter pflegten die Verwundeten in Lazaretten oder sie verrichteten sonstige Kriegsdienste. Drei weibliche Mitarbeiterinnen, ein in der Inneren Mission tätiger junger Mann, zwei junge Theologen, Reserveleutnants, einer davon kriegsbeschädigt, waren ausser Siegmund-Schultze und mir der ganze Stab. Die Geschäftsstelle der Sozialen Arbeitsgemeinschaft war gerade sechs Wochen vor meiner Ankunft von der Friedenstrasse nach der Fruchtstrasse Nr. 63 übergesiedelt, wo sie jetzt noch ist. In der Fruchtstrasse 6311 werden in den gemieteten Räumen am Tage die nötigen Schreibarbeiten verrichtet, gegen Abend wickelt sich dann das Leben der Mädchenklubs dort ab. In den oberen Stockwerken befinden sich noch einige Wohnstuben für die Mitarbeiterinnen. In Nr. 64 derselben Strasse hat die S.A.G. die zweite Etage gemietet, aus sechs Zimmern und zwei Küchen bestehend. Darin befindet sich die Amtsstube von Siegmund-Schultze, in einer Stube arbeitet der Kassenwart der S.A.G., in einem anderen Zimmer ist die „Soziale Bücherei" untergebracht, die übrigen Räume sind von der Redaktion der „Eiche" besetzt, einer Zeitschrift für Soziale und Internationale Arbeitsgemeinschaft, herausgegeben von Siegmund-Schultze. In der Fruchtstrasse 62 hat der Verein Berliner Lehrerinnen seit 1916 einen Laden mit einer dazu gehörenden Wohnung gemietet und darin Lesehalle und Abendheim für Mädchen und Frauen eingerichtet. Sonst stehen die Räume auch der S.A.G. zur Verfügung für ihre Klubarbeit und sonstige Veranstaltungen. Nach dem Umzüge aus der Friedenstrasse in die Fruchtstrasse mietete Siegmund-Schultze einen Laden in der Pallisadenstrasse mit einem kleinen Wohnraum. In diese Räume wurde ich nach meinem Empfang feierlich eingeführt. In dem Laden standen Tische, Stühle, ein altes Piano und eine kleine Bibliothek. In dem nach dem Hof liegenden Zimmer stand ein eisernes Feldbett. Das Bett hatte statt einer Matratze quer und lang gespannte Sackleinwand und darauf eine Wolldecke zum Zudecken. In der Mitte des Zimmers stand ein mit rötlichem Tuch überspanntes Sofa. Vor diesem war ein rundes Tischchen mit ebenso rötlicher Decke, auf der ein gesticktes weisses Deckchen lag, darauf befand sich ein grosser bunter Blumenstrauss. In einer Ecke stand ein gewöhnlicher Esstisch, der mir als Schreibtisch dienen sollte. 25

Die Wohnung schien mir einfach, aber schön!Erst als ich mich häuslich niedergelassen hatte und Zeit gewann, mich genauer umzusehen und die Möbelstücke auf ihre Beschaffenheit zu prüfen, da erst beschlich mich ein Staunen, wie doch manche Frauenhände fast aus dem Nichts doch etwas Brauchbares und Schönes herauszuzaubern vermögen! Sie hatten das Sofa gebaut aus alten Kisten, sie mit einer Kindermatratze gepolstert, Sitz und Lehne mit schönem Tuch geziert, und fertig war der Lack! Unbehaglicher war es mit dem Bett. Die Sackleinwand hat sich unter der Last des Körpers nach jeder Bewegung noch mehr ausgedehnt, so dass ich darin lag wie in einer Mulde. Na, ein Vierteljahr konnte man es schon aushalten,dann kam die Familie nachgezogen, das war mir ein Trost. Ein weiterer Trost war der, dass eben die Bescheidenheit zu den Haupttugenden jedes S.A.G.-ers gehört. Der Laden diente als Versammlungsraum für die Knaben- und Jungenklubs. Mir wurde die Leitung von zwei Klubs übertragen, ein Klub von 15jährigen Jungen und ein Klub von Knaben im Alter zwischen 12 und 14 Jahren. Die Arbeit an den 15jährigen zeigte sich viel schwerer als an den Jugendlichen gleichen Alters in Leipzig-Grosszschocher. Die Jungen standen wohl ziemlich in einem Alter, aber sie waren grundverschieden in der Veranlagung. Mehr oder weniger schnoddrig waren sie alle, wie es nun einmal das dichte Nebeneinanderleben und -arbeiten der Menschen in einer Grosstadt mit sich bringt. Keiner von ihnen hatte einen ernsten Vorsatz und ein Ziel nach irgend einer Richtung, ebenso keine Aufgabe. Versuchte ich das Gespräch in diese Richtung zu lenken, stiess ich sofort auf Widerwillen. Sie kamen zum Klubabend, um sich, wie sie sagten, zu amüsieren. Sie waren in der Lehre. Daran glaubten sie, dass dies ihre Aufgabe und Bestimmung sei, weil ihre Eltern, Verwandten, wie auch alle übrigen Menschen etwas tun müssen, wenn sie leben wollen. Dass die Arbeit eine gesellschaftliche Notwendigkeit sei, bedingt durch moralische gegenseitige Pflicht und Hilfe, diesen Begriff kannten sie nicht. Drei Mann davon lernten Kontoristen in einer Lebensversicherungsgesellschaft. Eine solche Berufswahl entspringt in den meisten Fällen dem Wunsche der Mutter. Sie wünscht, dass der Junge sich nicht so plagen soll, wie sein Vater es muss. Sie ehrt mehr den Stehkragenarbeiter als den schmutzig aussehenden Klempner. Solche Wünsche kommen aus der Liebe der Mütter zu ihren Kindern. Sie sind berechtigt und verständlich - wenn der Junge das Zeug dazu hat, um diese Wünsche zu erfüllen, sich eine soziale Stellung zu schaffen, wie sie ihm gewünscht wird. Wie oft überwiegen solche phantastischen Wünsche das genaue Kennen der eigenen Kinder. Einer von den Kontoristen war ein ganz besonders unruhiger Kerl! Merkte er, dass das Gespräch ernster werde, dann legte er sich lang auf die Stühle oder 26

Die 1911 von dem Pfarrer Friedrich Siegmund-Schultze (18885-1969) gegründete Soziale Arbeitsgemeinschaft BerlinOst war das erste Settlement in Deutschland, eine „Niederlassung Gebildeter inmitten der armen und arbeitenden Bevölkerung", wie die zeitgenössische Umschreibung lautet. Mit dieser Gründung wird ein sozialpolitisches Modell aus dem Viktorianischen England auf das Wilhelminische Deutschland übertragen, dessen selbstgestellte Aufgaben darin bestanden, die Verhältnisse der armen und arbeitenden Klassen zu studieren, soziale Hilfsdienste zu leisten und vor allem durch den persönlichen Kontakt mit den Armen die Klassengegensätze zu überbrücken und Klassenhaß abzubauen. „Vor dem Kriege klagten alle Volksbildner über den Stumpfsinn der Massen" heißt es in einem 1916 veröffentlichten Aufsatz über „Deutsche Settlements" von Wenzel Holek: „Die bürgerliche Welt ließ sich von den demonstrierenden Arbeiterbataillonen täuschen und blickte mit Angst und Bange dem Falle entgegen, wo Deutschland in den Krieg verwickelt werden könnte, und dachte zitternd an die Revolution. Man beachtete aber nicht jene gegenwirkende Kräfte, die zwar dem äußeren roten Glänze nichts anhaben konnten; aber in aller Stille einen konservativen Geist schufen. Denkt man diesen Gedanken noch konsequenter durch, so scheint es sogar möglich, Gesellschaftshäuser zu schaffen, als Mittelpunkt solcher Bestrebungen." (Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Nr. 8/ Dez. 1916. auf das Sofa und strampelte, Witze schneidend, mit den Beinen. So gingen unzählige Abende fruchtlos dahin. Sehr gern erzählte er von seinen bösen Streichen, wie er alte Frauen auf der Strasse geärgert, Leute aus ihren Wohnungen herausklingelte, in der Schule die Lehrer wütend machte usw. Auch Siegmund-Schultze und seinen früheren Mitarbeitern hatte er so manchen Streich gespielt und sich herzlich darüber gefreut. Sehr viel Spass hat es ihm gemacht, wenn er, als er noch im Knabenklub war, eine Stinkbombe in den Klub bringen konnte, sie platzen Hess und den ganzen Klub in Aufruhr brachte und wenn er die Klubleiter recht ärgern konnte. Bei solchen Gelegenheiten schloss sich ihm der Buchdruckerlehrling, der sonst ruhig war, an. Als auf diese Weise schon Wochen vergangen waren, und ich trotz meiner Erfahrungen mit der Jugend mit diesen Burschen nichts erreichen konnte, was 27

ich mir mit ihnen vorgenommen hatte und wie in meiner Aufgabe lag, riet ich ihnen eines abends, sie sollen doch lieber ihren Klub auflösen, denn es sei doch ein Unsinn, auf diese Weise die Zeit, Kraft und Licht zu vergeuden. Die Jungen befolgten meinen Rat nicht. Sie kamen immer wieder. Und so lebten wir noch mehrere Jahre miteinander, bis die innere Unruhe der Pubertät sich legte. Ein noch viel grösseres Schmerzenskind als jene Jungen war der ungelernte Arbeiter Paul Klein. Ich kann seinen Namen nennen, er liegt schon mehrere Jahre unter der Erde. Er verhielt sich in dem Klubabend stets ruhig. Ja, er versuchte sogar, sich bei mir beliebt zu machen. Das tat er aber in so auffälliger und aufdringlicher Weise, dass ich stutzig werden musste. Einmal brachte er einen langen Aufsatz über Selbsterziehung und las ihn in der Klubsitzung vor. Unter allem anderen stand auch folgender Satz darin: „Sich selbst bekriegen, ist der allerschwerste Krieg, sich selbst besiegen ist der allerschönste Sieg!" Dass einmal den anderen Jungen so etwas vorgelesen und mit ihnen besprochen wurde, war mir schon sehr recht. „Aber: mein lieber Paul", dachte ich bei mir, „du hast einen literarischen Diebstahl begangen"! Das durfte ich ihm jetzt noch nicht sagen, dazu kannte ich ihn noch zu wenig. Ebenso vermied ich es, ihm Einwendungen zu machen, wenn er in Privatgesprächen mir das Blaue vom Himmel herunter schwindelte. Denn, wenn man jemanden kennenlernen will, muss man eben ruhig zuhören und sich wundern, dann aber in seine Wohnung gehen, seine Verwandten hören, wie er sich da gibt. So erfuhr ich von seiner Mutter, die verwitwet war, dass er sich zu Hause so unmanierlich benimmt wie ein Schwein. Er musste zum Waschen genötigt werden, war in allen Stücken liederlich, hat nirgens in der Arbeit lange ausgehalten, sieben Tage war die längste Stelle. Wie war es nun einem solchen Menschen möglich, einen solchen Aufsatz zu schreiben! Nun, er wollte mir zeigen, dass er ein tüchiger Kerl sei, dass er sogar schriftstellerisches Talent besitze. Er wusste wohl, dass das, was er von irgenwo abgeschrieben habe, eine Wahrheit ist, und er wusste auch, dass er selbst demgegenüber eine Lüge sei. Als ich dann über den Burschen genug Kenntnisse beisammen hatte, kamen mir seine Besuche, die er fast zu oft bei mir machte, gerade recht. Ich nahm mir ihn in väterlicher Weise vor, zeigte ihm, wie er äußerlich und innerlich tatsächlich aussehe, dass er gerade das Gegenteil von dem sei, was er in dem Aufsatz geschrieben hatte. Kurz, er bekam alles zu hören, was ich über ihn gesammelt hatte; denn so muss man es mit solchen Menschen machen. Sonst ist es unmöglich, ihnen innerlich weiterzuhelfen. Sie sind sich des schlechten Weges, den sie gehen, wohl bewußt; gute Lebensbeispiele, unter denen auch sie sich bewegen müssen, lassen sie ihre Minderwertigkeit immer wieder füh28

Das Klubwesen bildete d e n Kern der Settlementtätigkeit. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wurde in Form v o n Klubs durchgeführt, d a darin, der Rekapitulationstheorie der zeitgenössischen Adoleszenspsychologie folgend, eine altersadäquate, quasi natürliche Gesellungseinheit gesehen wurde. Dieses bewußte Anknüpfen a n die psychischen Besonderheiten des Jugendalters und a n die Alltagswelt der Kinder und Jugendlichen ist charakteristisch für die Klubarbeit der SAG. Siegmund-Schultze war d a v o n überzeugt, d a ß sich „rasseechte Arbeiterkinder" organisieren: „Und so ist die einzige Einrichtung, die mir geeignet zu sein scheint, die J u n g e n zwischen 12 und 14 zu fesseln, d e r , J u n g e n k l u b ' " (Evangel. Zentralarchiv (EZA) 51/ Sil k 6,2). Zur Rekapitulationstheorie, derzufolge die Ontogenese die Phylogenese wiederholt: St. L. Schlossmann, G. Stanley Hall a n d the Boy's Clubs. Conservative Applications of Recapitulation Theory, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences v o l . 9 / 1973.

len. Und gerade das ist es, was sie veranlasst, fremden Menschen in dem besten Lichte zu erscheinen, ihre Minderwertigkeit zu verbergen. Eine solche offene Auseinandersetzung kann aber bei den verschiedenen Menschen auch verschiedene Ergebnisse bringen. Mit pedantisch moralischen Vorhaltungen ist da nichts auszurichten. Solche Naturen sind nur dann erfolgversprechend zu packen, wenn der Eindruck gewaltig genug ist, dass man sie trotz ihrer persönlichen Mängel doch lieb hat, dass man das Beste für sie will, es mit ihnen gut meint, kurz, dass man trotz aller Offenheit ein warmes Herz für sie hat. So nur gelingt es, auch die festesten Naturen zur Kapitulation zu bringen und ihr Vertrauen zu gewinnen. In einem anderen Falle wird das Endergebnis ein umgekehrtes sein; man verliert den Zögling. Das braucht nicht an der Ungeschicklichkeit des Erziehers zu liegen; es kann in der Natur des betreffenden Menschen begründet sein. Er fühlt sich durch eine so offene Aussprache in eine ihm peinliche Unsicherheit versetzt, er bekommt so eine Angst, dass er das Verhältnis zu dem Erzieher zu lösen für ratsamer hält. Natürlich gibt es noch andere typische Fälle. So trifft man immer wieder die sogenannten schlauen, pfiffigen Naturen, mit deren Schlauheit und Pfiffigkeit sich oft das Diebische verbindet. Dieser Typ wird von keinem Minderwertigkeitsgefühl und moralischen Bedenken beunruhigt. Die Schlauheit und 29

Pfiffigkeit sind seine Mittel, sich Vorteile zu schaffen, wo die Gelegenheit sich ihm dazu bietet. Ihm liegt gar nichts an einem festen Verhältnis zu jemanden. Er rückt wieder ab, sobald er sich erkannt weiss oder wann er Überlegenheit bei der Gegenseite merkt. Zu den letzten beiden Sorten gehörte unser Paul nicht, trotz seiner moralischen Schwächen. Er war einer von jenen, die doch noch einen Funken geistigen Lebenswillen besitzen, die, wenn sie jemand gefunden haben, der ihnen offen sagt, wie sie sind und wie sie nicht sein dürften, sich doch dann mit sich selbst auseinandersetzen. Um dies zu können, muss ihnen erst der Mut gemacht werden. Eines Tages bekam ich einen Brief aus Königsberg. Absender: Paul Klein. Er teilte mir mit, dass er dem Wunsche nicht widerstehen konnte, sein Leben anderwärtig zu versuchen. Er sei so plötzlich von Berlin abgereist, dass er nicht einmal von mir Abschied nehmen konnte. Sein Leben sollte von nun an einen anderen Lauf und besseren Inhalt bekommen. Sein Klub lag ihm am Herzen, den vermißte er. Mir schwor er treue Freundschaft, dankte mir für die guten Ratschläge, die er in unseren Gesprächen empfangen hätte. In Königsberg hatte er einen Onkel, der soll, wie er mir erzählt hatte, ein wohlhabender Mann gewesen sein. Da hoffte Paul Arbeit zu bekommen. Nach ungefähr drei Wochen kam wieder ein Brief. Absender: Paul Klein. Dieser Brief kam aus einem Orte in Mecklenburg. Da arbeitete Paul bei einem Landwirt. Und so wie in dem ersten Briefe, so auch in dem zweiten wieder, lief Pauls Herz vor Höflichkeit, treuer Freundschaft und Dankbarkeit über. Bei dem Onkel sei es nicht gegangen. Arbeit hätte er auch nicht gleich finden können. Ich kannte nun schon meinen Paul zu gut, als dass ich ihm das alles geglaubt hätte. Er musste nun nach alldem, was bisher unter uns geschehn war, derber angefasst werden. Ich schrieb ihm, dass alle mit dem Munde gemachten Versprechungen, Beteuerungen und Vorsätze leere Worte bleiben, wenn nicht der ernste Wille dahinter wirkt, sie in die Tat umzusetzen. Meine Hoffnung habe sich sehr vermindert, dass es anders werden könnte. Ich könnte ihm nur raten, alles übrige hänge von ihm selbst ab. W e er sich durch das Leben schlägt, oder ob er zugrunde geht, dafür trage nur er die Verantwortung. Eines Tages war Paul wieder in Berlin. Der erste Weg war zu mir und in den Klub. Er war etwas kleinmütiger geworden und schweigsamer. Denn er wußte nun schon, dass das Schwindeln ihm nichts nützen kann. Ich appelierte an seine Charakterkräfte. Was er anderswo getan oder geredet, war seine persönliche Angelegenheit und für sein Ziel Nebensache. Da es während des Krieges um Arbeit keine Not gab, fand auch er bald 30

Arbeit, und zwar bei einer Firma, die in den Gastwirtschaften die Bierapparate reinigte. Das war zwar eine wandernde, aber doch keine schwere Beschäftigung, jedoch für den Paul gefährdend. Er trank gern Bier, Schnaps, rauchte reichlich Zigaretten und sein guter Geschmack verschmähte nicht gern einen guten Bissen. Zu alldem lag in diesem Geschäft zu viel Versuchung für einen Menschen, der nicht Herr genug war über sich selbst. So kam es, dass seine Mutter, durch die ich immer Erkundigungen einzog, fortgesetzt klagte, dass der Bursche zu wenig, ja manchmal gar kein Kostgeld nach Hause bringe. Auch mich pumpte er hin und wieder an. Damit musste nun einmal Schluss gemacht werden. Dazu bot sich mir dann auch bald eine Gelegenheit. Der Bursche kam und bat mich, ob ich ihm fünf Mark leihen könnte. „Das könnte ich wohl, wenn ich wollte!" sagte ich mit Nachdruck. Dann hielt ich mit ihm Gericht ab über seine Einnahmen und Ausgaben: „Paul" sagte ich ihm zum Schluß, „wenn Sie sich eine Pistole kaufen möchten, um sich zu erschiessen und die fünf Mark dazu brauchten, dann wäre ich bereit, Ihnen das Geld zu schenken. Denn Sie taugen für diese Welt doch nichts!" Die so harte Abfuhr wirkte auf ihn so erschütternd, dass er am ganzen Leibe zitterte. Kopfhängend ging er davon. „Jetzt bist du ihn los," dachte ich. Er kam jedoch wieder und immer wieder so wie vordem, als sei gar nichts geschehen zwischen uns. Als ich einmal meine Zweifel merken ließ, ob er denn noch bei der Firma arbeite, kam er schon am nächsten Tage mit einer Bescheinigung, dass er noch da arbeite. Ja, er brachte mir sogar mehrere Wochen hindurch den Lohnzettel. Da wusste ich dann, wieviel er verdiente, was er zu Hause abgeben und wieviel er von seinem Lohn vertan hatte. So ging das eine Zeit lang gut. Aber dann klagte seine Mutter wieder. Und da überlegten wir, was wir mit ihm machen sollten. Wir hielten es für ratsam, ihn in den Kriegsdienst zu bringen. Denn er zeigte sich doch als unfähig, in zuviel Freiheit zu leben. Wir hofften, dass die militärische Zucht und das Leben draussen ihn doch einigermassen abschleifen würden. Er selbst hat sich gar nicht dagegen gesträubt. Als er dann im Kriegsdienst war, da schickte er mir immer wieder mal eine Ansichtskarte oder einen Brief. Er bekundete mir stets die alte Anhänglichkeit, Freundschaft und Treue und versprach jedesmal, etwas tüchtiges zu leisten. Geklagt hat er nie. Dass er und seine Mannschaft hin und her geschoben wurden, das stillte nur seine Abenteuerlust. Dann kam der militärische Zusammenbruch. Paul Hess lange Zeit nichts von sich hören, als wäre er von dem Erdboden verschwunden, bis ich doch dann wieder eine Nachricht von ihm bekam. Er hatte sich an den Kämpfen im Baltikum beteiligt, einen Kopfschuß bekommen, wobei ihm das rechte Auge 31

verletzt worden war. Und nun lag er in einem Krankenhause. Auch jetzt hatte Paul nichts zu klagen. Er glaubte, dass er ausgeheilt würde. Dann wollte er etwas Rechtes beginnen. Später berichtete er, er habe in einem Postamt Anstellung gefunden, mache einen Lehrkursus mit, um eine besser bezahlte Stellung zu bekommen. Der nächstfolgende Bericht lautete, dass er nun ein auskömmliches Einkommen habe, dazu auch noch eine Liebste. „Paule, was willst Du noch mehr!" klang der letzte Satz seines Briefes jauchzend aus. Nicht lange freute er sich seines Glückes. Seine Wunde brachte ihn doch wieder in ein Berliner Krankenhaus. Sein Zustand wurde immer bedenklicher, so dass er selbst die Hoffnung aufgegeben hat, dass er gesund werden könnte. Die Todesanzeige liess dann auch nicht lange auf sich warten. Es wurde mir nachher mitgeteilt, dass der junge Mann eine Stunde vor seinem Tode den Wunsch gehabt hätte, noch einmal mit mir zu sprechen. Das sei aber nicht möglich gewesen, weil es um Mitternacht geschehen sei. Als wir von seinem Grabe weggingen, meinte seine Mutter, es sei doch schade, dass er sterben musste. Vielleicht wäre doch etwas Rechtes aus ihm geworden. „Vielleicht, Frau Klein", sagte ich, „wir und die Verhältnisse haben ihn geschliffen. Ob das schon genug war, weiss ich nicht!"

Die Laubenkolonie Ich hatte ausser den beiden vorher genannten Klubs auch noch die Leitung eines Gartens zu übernehmen. Die Übernahme sollte gleich am ersten Sonntag meines Hierseins erfolgen. Bisher hatte sich ein Theologe, ein zur Zeit beurlaubter Leutnant um den Garten gekümmert. Der Garten lag draussen in Lichtenberg. Die S.A.G. hatte ihn dem Gartenverein „Großstadtbauern" abgemietet und war somit auch Mitglied dieses Vereins geworden. Dadurch wollte sie auch ihre grundsätzliche Idee, die Nachbarschaftsidee, auch in die Laubenkolonien tragen. Auf diesen Garten betätigten sich die Knaben, die Mitglieder eines Knabenklubs waren. Für Mädchen gab es einen in Hohenschönhausen. Als wir an dem verabredeten Sonntag hinaus kamen in den Garten, da waren zirka zehn Knaben anwesend. Der Garten war 720 qm. gross. Die Fläche bildete ein Viereck. So standen ungefähr 25 - 30 Gärten nebeneinander mit Drahtgeflecht umzäunt. Der Garten gefiel mir nicht. In der Mitte des Gartens stand eine Bude aus Brettern, die uns Schutz bot, wenn es regnete. Die ganze Anlage, die von den Knaben willkürlich kreuz und quer angelegten Beete - das sah aus wie ein Friedhof. Das Gemüse stand sehr jämmerlich. Ihm fehlte Pflege und vor allem Dung. Die Jungen hatten keine Lust zu arbeiten. Sie wollten 32

verletzt worden war. Und nun lag er in einem Krankenhause. Auch jetzt hatte Paul nichts zu klagen. Er glaubte, dass er ausgeheilt würde. Dann wollte er etwas Rechtes beginnen. Später berichtete er, er habe in einem Postamt Anstellung gefunden, mache einen Lehrkursus mit, um eine besser bezahlte Stellung zu bekommen. Der nächstfolgende Bericht lautete, dass er nun ein auskömmliches Einkommen habe, dazu auch noch eine Liebste. „Paule, was willst Du noch mehr!" klang der letzte Satz seines Briefes jauchzend aus. Nicht lange freute er sich seines Glückes. Seine Wunde brachte ihn doch wieder in ein Berliner Krankenhaus. Sein Zustand wurde immer bedenklicher, so dass er selbst die Hoffnung aufgegeben hat, dass er gesund werden könnte. Die Todesanzeige liess dann auch nicht lange auf sich warten. Es wurde mir nachher mitgeteilt, dass der junge Mann eine Stunde vor seinem Tode den Wunsch gehabt hätte, noch einmal mit mir zu sprechen. Das sei aber nicht möglich gewesen, weil es um Mitternacht geschehen sei. Als wir von seinem Grabe weggingen, meinte seine Mutter, es sei doch schade, dass er sterben musste. Vielleicht wäre doch etwas Rechtes aus ihm geworden. „Vielleicht, Frau Klein", sagte ich, „wir und die Verhältnisse haben ihn geschliffen. Ob das schon genug war, weiss ich nicht!"

Die Laubenkolonie Ich hatte ausser den beiden vorher genannten Klubs auch noch die Leitung eines Gartens zu übernehmen. Die Übernahme sollte gleich am ersten Sonntag meines Hierseins erfolgen. Bisher hatte sich ein Theologe, ein zur Zeit beurlaubter Leutnant um den Garten gekümmert. Der Garten lag draussen in Lichtenberg. Die S.A.G. hatte ihn dem Gartenverein „Großstadtbauern" abgemietet und war somit auch Mitglied dieses Vereins geworden. Dadurch wollte sie auch ihre grundsätzliche Idee, die Nachbarschaftsidee, auch in die Laubenkolonien tragen. Auf diesen Garten betätigten sich die Knaben, die Mitglieder eines Knabenklubs waren. Für Mädchen gab es einen in Hohenschönhausen. Als wir an dem verabredeten Sonntag hinaus kamen in den Garten, da waren zirka zehn Knaben anwesend. Der Garten war 720 qm. gross. Die Fläche bildete ein Viereck. So standen ungefähr 25 - 30 Gärten nebeneinander mit Drahtgeflecht umzäunt. Der Garten gefiel mir nicht. In der Mitte des Gartens stand eine Bude aus Brettern, die uns Schutz bot, wenn es regnete. Die ganze Anlage, die von den Knaben willkürlich kreuz und quer angelegten Beete - das sah aus wie ein Friedhof. Das Gemüse stand sehr jämmerlich. Ihm fehlte Pflege und vor allem Dung. Die Jungen hatten keine Lust zu arbeiten. Sie wollten 32

Die Laube ist unser jüngster Arbeitszweig. Sie war ursprünglich gedacht als ein ausschließlicher Teil der Knabenarbeit. Daß sie dazu helfen sollte, Jungens den Sommer über von der Straße abzuziehen, ist schon in dem Bericht über die Frohe Jugend gesagt. Sodann sollte der Versuch gemacht werden, durch Gartenarbeit, insbesondere durch Blumenpflege eine veredelnde, vor allem dem Zerstörungstrieb vorbeugende, Rückwirkung auf den Charakter auszuüben. Eine Methode, die in England und in Amerika längst mit großem Erfolg gerade rohen Menschen gegenüber angewandt wird. Und endlich hatten wir die Hoffnung, vielleicht bei einzelnen Jungen soviel Freude an Landarbeit oder Gärtnerei zu wecken, daß sie sich bei ihrer Schulentlassung für einen ländlichen Beruf entschlössen (F. Siegmund-Schulze EZA 626 II, 29, 2). lieber auf der gegenüberliegenden Wiese Ball spielen. Ein Teil von ihnen ging mit dem Leiter durch die Gärten. Sie mussten einen grossen U m w e g machen. Die anderen, die schlaueren und faulen, machten ganz einfach in den Drahtzaun ein Loch, krochen hindurch und ersparten sich den Umweg. Ich fragte den Leutnant, ob denn eine Kompagnie Soldaten leichter zu führen sei als die zehn Berliner Jungen! Als wir uns dann gegen Abend vor der Bude versammelten und der Siegmund- Schultze Leiter mir die Leitung feierlich übertragen hatte, fragte ich die Jungen, ob sie dächten, dass hier so weiter gewirtschaftet werden kann. Keine Antwort. Augenblicklich Hess sich an der Anlage nichts ändern. Erst im Herbst, wenn alles abgeernted war. Die Beete wurden dann in gleichmässigen Längen und Breiten eingeteilt. Jeder Junge bekam vier Beete, 7 m lang und 1,20 m breit. Jeder wurde verpflichtet, sein Feld zu düngen. Auch für mich blieben einige Beete übrig. Ich hielt es nämlich aus erzieherischen Gründen für ratsamer, den Jungen zu zeigen, was ich selbst kann, statt mich hinzustellen, zu befehlen und zu unterweisen. Im nächsten Jahr wurde die Ernte schon besser. Die Jungen arbeiteten in dem Garten zwei Nachmittage in der Woche. Wir mussten eine gute halbe Stunde mit der Strassenbahn fahren, dann noch eine viertel Stunde zu Fuss gehen. Im Herbst und im Frühjahr musste ich vier bis fünfmal hinaus, besonders wenn ich D u n g hinausbringen musste. Den D u n g focht ich mir in den benachbarten Kuhställen und Kanii.chenzüchtereien, oder wir sammelten auf der 33

Straße die Pferdeäpfel und mischten all diese Sorten durcheinander in einen Komposthaufen. Ich hatte einen Handwagen, der zwei Zentner trug. Der Weg mit einer solchen Ladung Mist dauerte immer anderthalb Stunden hin und ebenso lange zurück. Auf diese Weise schafften wir ungefähr 120 Zentner Mist hinaus. Unsere Arbeit, wie sie nun unter der neuen Ordnung lief, wirkte dann auch nach einer anderen Richtung produktiv. Die Eltern der Jungen besuchten uns, halfen uns bei der Arbeit und bekamen so Interesse für den Gartenbau. Verschiedene von ihnen pachteten sich auch dann selbst einen Garten und sitzen heute noch mit ihren Kindern draußen. So wie es vorher unter der Leitung der Studenten gegangen ist, hätte es nicht mehr lange gehen können. Die an unseren Garten angrenzenden Nachbarn freuen sich über die Zucht und Ordnung bei uns. Von ihnen erfuhr ich, was da manchmal getrieben worden ist. Wenn z.B. die Jungen schon an die Arbeit zu ihren Beeten gingen, dort hackten oder pflanzten, sammelte ein Student heimlich Rasenbatzen, stieg damit auf das Dach der Bude, warf dann bald diesen, bald jenen Jungen. Die Jungen stutzten. Auch sie nahmen dann, als sie sahen, woher das kommt, Rasenbatzen und stürmten die Bude. Die Geschosse flogen hin und her bis in die Gärten der Nachbarn, die es natürlich mit Mißachtung quittierten. Und so kamen manche Dinge vor, die die Nachbarn verärgerten und die ganze Arbeit ihnen zweifelhaft erscheinen liess. Einmal bekam ich von einem Schuhmann aus Leipzig die Mitteilung, dass er beabsichtige, einen Reichsverband der Schülergärtnereien zu gründen mit der Anfrage, ob ich gewillt sei mitzumachen. Ich lehnte ab, denn ich war mehr bedacht auf die Ergebnisse der praktischen Arbeit auf dem Felde als auf eine zeitraubende Organisation. Wir hielten den Garten bis in das Jahr 1921. Dann mußte ich ihn infolge Uberhäufung mit anderer Arbeit doch aufgeben. Die Zahl der Klubs nahm fortwährend zu, sie stieg auf sieben Jugendklubs und auf acht Knabenklubs, deren Mitgliederzahl im Durchschnitt fünfzehn betrug. Die Schutzaufsichtsfälle wuchsen heran. Der Krieg brachte so manche unvorhergesehene Arbeit mit sich. Auf fünf bis zehn Wochen musste ich mit einer Schar von Jungen in die Ferien auf ein Gut ziehen. Vom Leben und Treiben in den Ferienkolonien will ich später erzählen.

Klubarbeit Ich komme nun zu dem Knabenklub, den ich schon anfangs erwähnte. Es waren im Ganzen acht Knaben, ziemlich gleich alt, 12 Jahre. Auch diese Jungen waren ein anderer schwieriger Schlag, als es die in Grosszschocher gewesen 34

Straße die Pferdeäpfel und mischten all diese Sorten durcheinander in einen Komposthaufen. Ich hatte einen Handwagen, der zwei Zentner trug. Der Weg mit einer solchen Ladung Mist dauerte immer anderthalb Stunden hin und ebenso lange zurück. Auf diese Weise schafften wir ungefähr 120 Zentner Mist hinaus. Unsere Arbeit, wie sie nun unter der neuen Ordnung lief, wirkte dann auch nach einer anderen Richtung produktiv. Die Eltern der Jungen besuchten uns, halfen uns bei der Arbeit und bekamen so Interesse für den Gartenbau. Verschiedene von ihnen pachteten sich auch dann selbst einen Garten und sitzen heute noch mit ihren Kindern draußen. So wie es vorher unter der Leitung der Studenten gegangen ist, hätte es nicht mehr lange gehen können. Die an unseren Garten angrenzenden Nachbarn freuen sich über die Zucht und Ordnung bei uns. Von ihnen erfuhr ich, was da manchmal getrieben worden ist. Wenn z.B. die Jungen schon an die Arbeit zu ihren Beeten gingen, dort hackten oder pflanzten, sammelte ein Student heimlich Rasenbatzen, stieg damit auf das Dach der Bude, warf dann bald diesen, bald jenen Jungen. Die Jungen stutzten. Auch sie nahmen dann, als sie sahen, woher das kommt, Rasenbatzen und stürmten die Bude. Die Geschosse flogen hin und her bis in die Gärten der Nachbarn, die es natürlich mit Mißachtung quittierten. Und so kamen manche Dinge vor, die die Nachbarn verärgerten und die ganze Arbeit ihnen zweifelhaft erscheinen liess. Einmal bekam ich von einem Schuhmann aus Leipzig die Mitteilung, dass er beabsichtige, einen Reichsverband der Schülergärtnereien zu gründen mit der Anfrage, ob ich gewillt sei mitzumachen. Ich lehnte ab, denn ich war mehr bedacht auf die Ergebnisse der praktischen Arbeit auf dem Felde als auf eine zeitraubende Organisation. Wir hielten den Garten bis in das Jahr 1921. Dann mußte ich ihn infolge Uberhäufung mit anderer Arbeit doch aufgeben. Die Zahl der Klubs nahm fortwährend zu, sie stieg auf sieben Jugendklubs und auf acht Knabenklubs, deren Mitgliederzahl im Durchschnitt fünfzehn betrug. Die Schutzaufsichtsfälle wuchsen heran. Der Krieg brachte so manche unvorhergesehene Arbeit mit sich. Auf fünf bis zehn Wochen musste ich mit einer Schar von Jungen in die Ferien auf ein Gut ziehen. Vom Leben und Treiben in den Ferienkolonien will ich später erzählen.

Klubarbeit Ich komme nun zu dem Knabenklub, den ich schon anfangs erwähnte. Es waren im Ganzen acht Knaben, ziemlich gleich alt, 12 Jahre. Auch diese Jungen waren ein anderer schwieriger Schlag, als es die in Grosszschocher gewesen 34

Ein wichtiger Zweig der von der SAG geleisteten Jugendfürsorge bildete die Jugendgerichtshilfe, zu der auch die Übernahme von Schutzaufsicht straffällig gewordener Jugendlicher gehörte. Versuche, Jugendliche, die unter Schutzaufsicht standen, in die Klubs einzugliedern, scheiterten in der Regel, vor allem am Einspruch der .alten" Mitglieder. sind. Dort pflegte die Klubversammlung folgendermassen zu verlaufen: Erst wurde von irgendeinem ethisch anregsamen und erzieherisch wirkenden Gegenstand erzählt, nachher kam eine heitere Erzählung, zum Schluss wurden Gesellschaftsspiele gemacht. Es war mein fester Grundsatz, den Kindern auch die ernste Seite des Lebens zum Bewusstsein zu bringen. Ich hatte auch Erfolg damit. Ich erfuhr es öfter von den Eltern, wie ihre Kinder zu Hause erzählten, was sie in der Klubstunde gehört hatten, und wie die Eltern es als das richtige pädagogische Verfahren schätzten. In Berlin schien damit nichts zu machen zu sein. Sind etwa die Berliner 12jährigen Jungen lebenserfahrener? Wissen sie von der ernsten Seite des Lebens mehr als jene Kinder in Grosszschocher? Grosszschocher war noch ein Dorf, zwar schon mit städtischem Charakter, mit siebentausend Einwohnern, genügendem Raum und immer noch mit verhältnismäßig niedrigen Häusern. Alle Kinder gingen in ein und dieselbe Schule, sie kannten einander, kannten auch viele von den erwachsenen Menschen. Das Leben war ruhig, es ereignete sich nicht viel Neues, das der Kinder Gemüt und Gehirn überlastet werden konnte. In Berlin aber, in der großen Stadt, wo auf einen qkm. ungefähr 10000 Menschen leben, arbeiten und sich bewegen, wo ein Geschehnis auf das andere folgt, da erfahren die Kinder tatsächlich genug vom Ernst des Lebens. Eine Sensation löst die andere ab, man muss vergessen lernen, was man gesehen und gehört hat, um das demnächst folgende Neue eine Weile behalten zu können. Sollte ich dieser Erkenntnis folgen, meinen Grundsatz fallen lassen, oder meiner Überzeugung treu bleiben, dass wir erwachsenen Menschen die Dinge doch anders sehen, hören und empfinden als die Kinder und deshalb anders als sie urteilen und reden über die Dinge! Die Klubarbeit nur im Spiel aufgehen zu lassen, hielt ich für eine Verfehlung meiner Berufung. Um nun den von mir beabsichtigten Sinn der Arbeit zu erreichen, blieb weiter nichts übrig, als es mit kleinen Portionen zu versuchen. Es handelte sich dabei um nichts geringeres als um die Pflege von Lebenskunde, ohne deren Pflege ein Klub, als Individuum genommen, keine Kulturwurzel fassen kann. Turnen, Singen, Wandern und alle übrigen Dinge, die heut35

zutage dem Jungvolk empfohlen und von ihm getan werden, können für die Entwicklung des jungen Lebens fördernde Zwecke haben. Die Technik derartiger Beschäftigungen fordert wohl von jedem einzelnen Gliede eine bestimmte Ein- und Unterordnung, aber die sogenannte Verinnerlichung des jungen Menschen wird damit nicht erreicht. Wir haben Beispiele genug davon, wie Tausende von Jugendlichen im Rausche solcher Beschäftigungen aufgehen! Ihre besten Jahre, die die Vorbereitungszeit sein sollten für die kommenden Lebensaufgaben, verlieren sie und zeigen, wie sie dann in ihrem jungmännischen Alter ratlos, unbeholfen, verlegen, schüchtern und nicht selten feige dem Geschichtlichen gegenüberstehen. Sie verstehen nichts von der Gesetzlichkeit des gesellschaftlichen Lebens, der Wirtschaft und der Politik, gerade in dem Alter, wo sie mit ihrer Stimme über den Lauf dieser Dinge entscheiden sollen. Nun wird der Leser endlich die berechtigte Frage stellen: Was verstehst du unter Lebenskunde und wie betreibst du sie? Ich verfahre da ganz einfach und führe hier nur zwei Beispiele an, um zu zeigen, worauf es ankommt: Die Zeitung berichtet, dass ein achtzehnjähriger Junge seine eigene Mutter mit einem Beil verletzt hat. Der Grund zu der scheusslichen Tat war der, dass sie ihm kein Taschengeld geben wollte. Ich bin mit dem Lesen des Berichtes im Klub noch nicht zu Ende, und schon heben sich soundsoviel Hände. Auch die Jungen haben es schon zu Hause gelesen, denn auch sie verfolgen in den Zeitungen alle Neuigkeiten, die im Orte und in der Welt vorkommen. Ich eröffne die Diskussion mit der Frage, ob und welche Strafe dieser ungeratene Sohn verdienen würde? Und da kommen meistens sehr harte Urteile. Der eine schlägt 10, der andere 15 Jahre Gefängnis vor, der dritte kommt gar mit der Todesstrafe und meint, so einem Kerl müsste der Kopf abgehauen werden. Es handelt sich um eine Mutter, deshalb also solche Strafe. Das Strafurteil liegt ausserhalb des Bereiches unserer Macht und ist für unsere weitere Diskussion auch nicht wichtig. Wichtiger ist, ihnen das zum Bewußtsein zu bringen, was sie zu Hause von den Eltern erlebt haben. Wie ihre Mutter um sie besorgt ist, wenn sie krank sind, wie sie Nächte wachend, den Schlaf missend, sie pflegt, besorgt sich über ihren kranken Körper beugt und ihren Atem beobachtet. Sie erfahren ferner, wieviel Geld sie kosten, ehe sie aus der Schule entlassen werden, wie sie dann in die Lehre kommen und immer noch Geldausgaben benötigen und dass das alles die Eltern schaffen müssen. Wenn nun der Sohn seine Mutter so behandelt, ist das der Dank für das, was sie für ihn gelitten und getan hat! In einer anderen Klubstunde stelle ich einen Schuh auf den Tisch mit der Frage: „Was ist das"? Den Jungen kommt diese Frage dumm vor, denn sie wis36

sen, dass ich ebensogut weiss wie sie, dass es ein Schuh sei. „Aus welchem Stoff ist er gemacht"? Diese Frage halten sie für ebenso töricht wie die erste. Aber die dritte Frage: „Woher kommt das Leder?" zwingt sie zum Nachdenken. „Der Schuhmacher hat es aus der Lederhandlung", ist die Antwort. Danach kommen an die Reihe: die Gerberei, der Schlächter, der Landwirt mit seiner Viehzucht und die übrigen Menschen, die mit dem Leder zu tun haben. In dem Schuh sind auch Holznägel, Stahlstifte, Ösen von Eisen, Leinwandfutter und Schnürsenkel. Wir gehen von einem Posten zum anderen und versuchen uns klar zu machen, woher er stammt und wie er hergestellt wird. Auf diese Weise stellen wir fest, dass der Schuh durch ungefähr 72 Hände gegangen ist. Da aber alle Menschen Schuhe brauchen, sie selbst aber auch wieder jene zum Leben nötigen Gegenstände erzeugen, die die Schuherzeuger bedürfen, haben wir am Schluss unserer Diskussion ein grosses Bild von einer Arbeitsund Lebensgemeinschaft vor uns. Diese Beispiele sind primitiv. Man kann selbstverständlich auch andere Gegenstände zum Anlass solcher Gespräche wählen. Jedenfalls erfordert diese Arbeit eine gute Vorbereitung. Das Vorlesen moralisch zugeschnittener Abhandlungen macht auf die Jungen fast keinen Eindruck. Man merkt es ihnen an, dass sie stets den Verdacht hegen, als hätte man sich ganz absichtlich etwas Moralisierendes zurecht gesucht für sie. Übrigens lieben sie das Vorlesen sowieso nicht. Bespricht man aber irgend einen Fall aus einer Zeitung, oder einen, der sich in der Nachbarschaft zugetragen hat, der auch von Mund zu Mund besprochen wird in den Familien und auf der Strasse, so können auch wir im Klub darüber reden, ohne dass da eine Absicht gewittert werden kann. Der Unterschied ist nur der, dass wir im gegebenen Falle von einem anderen Standpunkt betrachten als andere Leute. Ebenso verhält sichs mit dem unterhaltenden zweiten Teil. Wer nicht meisterhaft vorlesen kann, der soll sich lieber die Mühe geben, das Stück, das er für gut hält, vor der Klubstunde ein- oder zweimal zu lesen und es dann zu erzählen. Es hat nämlich noch den Vorteil, dass man Unpassendes fallen lässt und stattdessen etwas anderes einschieben kann. Die Zuhörer lieben mehr den, dem sie jedes Wor von den Lippen ablesen können, als den, dessen Mund sich über das Buch beugt und der vielleicht sogar noch stotternd vorliest. Auch ich habe am Anfang meiner Tätigkeit in der Jugendpflege mit dem Vorlesen begonnen, habe aber bald dessen Unfruchtbarkeit gemerkt und deshalb die oben genannte Methode gewählt. Auch alle meine Helfer sind vom Vorlesen abgekommen. Das Vorlesen ist zwar bequemer. Es erfordert keine 2 oder 4 Stunden Zeit sich vorzubereiten. Aber es bleibt eben unfruchtbar! 37

Dass ich mit meiner Wertlegung auf die innere Erfassung und innere Festigung der Jugend recht habe, wird mir immer wieder durch das Betragen der Jugendlichen anderer Organisationen, bei denen diese Erkenntnis noch nicht aufgekommen ist, bestätigt. Ausserdem trägt diese Methode noch die Möglichkeit in sich, die Jugend schon in ihrem frühen Jugendalter vorzubereiten auf geistige Betätigung in späterem Alter. Diesen Wunsch hegt jeder, der sich mit der Jugend beschäftigt. Und wenn er es nicht bei allen erreichen kann, weil seinem Vorsatze der Mangel an geistreicher Begabung im Wege steht, so gehen auch die mehr oder weniger kulturell Entwurzelten nicht ohne erzieherische Werte aus, d. h. man macht sie kulturfähig, stärkt sie für den Kampf des Lebens, indem man sie lebenskundiger macht. Mein Verhältnis zu den Klubjungen besserte sich von Woche zu Woche. Die Klubsitzungen, die Turnabende und die Gartenarbeit halfen uns dazu, dass wir uns immer besser kennenlernten. Die Jungen waren ja auch keine unüberwindlichen Naturen. Die Schulzeit der meisten neigte sich nun ihrem Ende zu. Sie standen vor der Frage und Sorge, was dann? Auf die Frage, was sie denn am liebsten lernen möchten, kam die Antwort von dreien „Maschinenschlosser", einer wollte Lehrer werden, die anderen waren noch unentschieden und blieben es noch acht Tage vor ihrer Einsegnung. Sie stammten alle aus Arbeiterfamilien. Die Väter waren Handwerker, nur einer war ungelernter Arbeiter. Die Väter von zwei Jungen waren Postbeamte. Die Jungen der letzteren besuchten die Realschule, alle übrigen die Gemeindeschule. Das Familienleben fand ich überall geordnet, bis auf die Familie des ungelernten Arbeiters. Sie war vor 15 Jahren von Pommern nach Berlin zugezogen und bewohnte seitdem eine aus zwei Zimmern und Küche bestehende Wohnung in der Koppenstrasse Quergebäude, drei Treppen hoch. Schon auf der Treppe war es so dunkel, das man sich sogar am Tage schwer zurechtfand. In der Wohnung war es nicht viel heller. Wollte man in die Küche eintreten, musste man erst durch das vor der Küche gelegene Zimmer. Die einzigen, die noch gesund waren, waren die Mutter und ihre 10jährige Tochter. Der Vater, auch die Söhne von 18, 15 und 12 Jahren waren tuberkulös. Der Fünfzehnjährige war dazu noch ein Psychopath. Der letztere war für eine regelrechte Arbeit überhaupt nicht zu gebrauchen. Mit ihm ist es umso schwieriger gewesen, weil er öfter in die Versuchung geriet, zu stehlen. Alles warnende Zureden fruchtete nicht. Er hatte keine moralischen Hemmungen. Vor dem Jugendgericht stand er so einfältig da, dass man annehmen musste, dass die Straftat ihm überhaupt nicht zum Bewusstsein kam. Ebenso schwierig war noch ein anderer Junge. Seine Tante, eine Kontoristin, und ihr Mann, ein selbständiger Schuhmacher, beide sehr ordentliche Leute, nahmen ihn zu sich, weil sein in Pommern lebender Vater ein unverbes38

serlicher Säufer war. Ich hatte den Eindruck, dass die Verpflanzung des Jungen in die überlieferte kleinbürgerliche Ordnung und Sitte nicht recht zusammenpassen wollte. Er fühlte sich zu sehr unter ständiger strenger Vormundschaft. Die Pflegeeltern bewachten ihn auf Schritt und Tritt, und doch spielte er seine tollen Streiche immer wieder ausserhalb des elterlichen Hauses. Er hatte stets seine Taschen voll von Gegenständen und verschacherte sie, wo sich ihm Gelegenheit bot. Als er dann in ein Drogengeschäft in die Lehre gegeben wurde, dauerte es nicht lange, bis er Sacharin stahl und draussen verkaufte, weswegen er aus der Lehre entlassen wurde. Von da kam er zu einem Schneider in die Lehre. Auch der entliess ihn aus demselben Grunde. Und als ihn dann seine Tante durch Fürsprache als Wagenputzer bei der Eisenbahn anbrachte, schnitt es auch hier das Leder von den Sitzen der zweiten Klasse ab und vertrieb es unter den Bekannten. Auf die Frage, wozu er dies getan, gab er an, er wollte sich Holzpantoffeln davon machen. Er ging später zum Kriegsdienst. Seitdem habe ich nichts mehr über ihn erfahren. Mit den Eltern eines anderen Jungen hatte ich mehr Schwierigkeiten als mit ihm selber. Seine Mutter war sehr eingebildet und eitel, und ihr Mann, ein Schirmmacher, war es noch mehr. Ich riet, als die Zeit der Berufswahl nahte, den Jungen seiner Veranlagung gemäss Klempner lernen zu lassen. Darüber war die Frau und auch ihr Mann höchst entrüstet. Das schien ihnen wie eine beleidigende Zumutung! Der Junge nahm Geigenunterricht. Die Eltern taten das, in ihrer Eitelkeit, ein Wunderkind mit künstlerischem Talent zu besitzen. Sie Hessen ihren Wunsch durchblicken, ob er durch meine Hilfe auf ein Konservatorium kommen könnte. Ich liess den Jungen von einem Fachmann prüfen. Der stellte aber fest, dass der Junge das Zeug nur zum gewöhnlichen Musikanten habe. Daran zerschlug sich unsere Freundschaft. Die Mutter, die aus ihrem Sohn durchaus einen Herrn machen wollte, gab ihn zu einem Zahntechniker in die Lehre, wo er seine Lehre nicht beendete und heute weder Zahntechniker noch Künstler geworden ist. Er verdient sein Brot durch das Spielen in Gasthäusern. Von den drei Jungen, die Maschinenschlosser werden wollten, ist es nur einer geworden, einer wurde Drogist, der dritte Conditor. Einen anderen, der Lehrer zu werden wünschte, brachte ich auf die Präparandenschule. Der spielte zu gern den Kavalier, ging sauber angezogen, befleissigte sich einer gewählten Sprache, bemühte sich, dem Schliff der bürgerlichen Welt sich anzupassen. Aber auch er machte nur den Abschluss in dieser Schule mit. Er wurde ein wenig bucklig, so dass er den Anforderungen als Lehrer im Turnen nicht hatte genügen können. Aber auch ohne diesen Grund würde ich ihm abgeraten haben, auf das Seminar zu gehen. Ein so netter und angenehmer Mensch er war, 39

so egoistisch und selbstgefällig war sein Wesen, so dass ich befürchten musste, dass er seine Schüler nicht anders als Objekte seines Berufes angesehen hätte. So eine psychologische Beurteilung scheint aber auf den Lehrerseminaren nicht zu existieren. Er wäre eben ein Einpauker geworden, wie es Tausende anderer auch sind, aber kein vollwertiger Erzieher. Ihm wurde durch die Soziale Arbeitsgemeinschaft eine Stelle bei einer Bank vermittelt. Beim Zählen der Geldstücke konnte er sich wohl verzählen, sie aber nicht verderben. Die Treue versagte mir ein einziger von den Jungen. Den treffen wir aber im Laufe unserer Wanderung wieder. Berliner Kneipengeselligkeit Während ich mich in dieser Weise mit der Jugend beschäftigte, hatte ich noch Zeit genug übrig, mich am Tage in Berlin umzusehen, manchen Abend auch den Berliner in der Wirtschaft zu studieren. Die vielen Gasthäuser mit den grosssprecherischen Firmenschildern „Gross-Destillation" erschienen auch mir als auffällige Erscheinungen im Verhältnis zu anderen Städten. Man wird sich jedoch darüber klar, wenn man in die Höfe gesehen hat, wieviele Menschen in jedem Hause zusammengepfercht sind. Jedes Haus ist vierstöckig mit einem ebenso hohen Seitenflügel. Darin wohnen 25 Familien, zu vier Köpfen gerechnet, sind das einhundert Menschen. Dazu gibt es noch ein erstes, zweites und nicht selten sogar noch ein drittes Quergebäude ebenso hoch wie die übrigen Gebäude. Diese Räume dienen meistens als Werkstätten für irgendein Handwerk. Jeden Arbeitsraum mit zehn Menschen geschätzt, macht mindestens weitere hundert Menschen aus. Demnach wohnen und arbeiten in zehn Häusern zweitausend Menschen. Wenn man. bedenkt, dass in Berlin mit den schwach bewohnten und eingemeindeten Vororten auf einen qkm. rund 4500 Menschen kommen und dass, wenn diese Vororte abgezogen würden, sich eine Bevölkerungsdichte von 8000 bis 10000 auf den qkm. ergäbe, so dürften die oben angeführten Einwohnerzahlen stimmen. Auf dem Stück Fruchtstrasse, vom Küstriner Platz bis zur Frankfurter Strasse z.B. stehen 30 Häuser, 6000 Einwohner, 10 Gasthäuser, also auf je 600 Einwohner eins. 600 Menschen ernähren einen Gastwirt mit seiner Familie, die Brauerei, den Hauswirt und liefern die Steuern an die Gemeinde und an den Staat. Wenn ein fremder Mensch nach Berlin kommt, vielleicht vom Schlesischen Bahnhof auf der Fruchstrasse läuft, der ahnt nicht, was alles hinter der vorderen Häuserfront steckt. Dass die allermeisten Eckhäuser von Gastwirtschaften besetzt sind, zeigt, dass die Brauereibesitzer und Gastwirte bessere Psychologen sind als die an40

so egoistisch und selbstgefällig war sein Wesen, so dass ich befürchten musste, dass er seine Schüler nicht anders als Objekte seines Berufes angesehen hätte. So eine psychologische Beurteilung scheint aber auf den Lehrerseminaren nicht zu existieren. Er wäre eben ein Einpauker geworden, wie es Tausende anderer auch sind, aber kein vollwertiger Erzieher. Ihm wurde durch die Soziale Arbeitsgemeinschaft eine Stelle bei einer Bank vermittelt. Beim Zählen der Geldstücke konnte er sich wohl verzählen, sie aber nicht verderben. Die Treue versagte mir ein einziger von den Jungen. Den treffen wir aber im Laufe unserer Wanderung wieder. Berliner Kneipengeselligkeit Während ich mich in dieser Weise mit der Jugend beschäftigte, hatte ich noch Zeit genug übrig, mich am Tage in Berlin umzusehen, manchen Abend auch den Berliner in der Wirtschaft zu studieren. Die vielen Gasthäuser mit den grosssprecherischen Firmenschildern „Gross-Destillation" erschienen auch mir als auffällige Erscheinungen im Verhältnis zu anderen Städten. Man wird sich jedoch darüber klar, wenn man in die Höfe gesehen hat, wieviele Menschen in jedem Hause zusammengepfercht sind. Jedes Haus ist vierstöckig mit einem ebenso hohen Seitenflügel. Darin wohnen 25 Familien, zu vier Köpfen gerechnet, sind das einhundert Menschen. Dazu gibt es noch ein erstes, zweites und nicht selten sogar noch ein drittes Quergebäude ebenso hoch wie die übrigen Gebäude. Diese Räume dienen meistens als Werkstätten für irgendein Handwerk. Jeden Arbeitsraum mit zehn Menschen geschätzt, macht mindestens weitere hundert Menschen aus. Demnach wohnen und arbeiten in zehn Häusern zweitausend Menschen. Wenn man. bedenkt, dass in Berlin mit den schwach bewohnten und eingemeindeten Vororten auf einen qkm. rund 4500 Menschen kommen und dass, wenn diese Vororte abgezogen würden, sich eine Bevölkerungsdichte von 8000 bis 10000 auf den qkm. ergäbe, so dürften die oben angeführten Einwohnerzahlen stimmen. Auf dem Stück Fruchtstrasse, vom Küstriner Platz bis zur Frankfurter Strasse z.B. stehen 30 Häuser, 6000 Einwohner, 10 Gasthäuser, also auf je 600 Einwohner eins. 600 Menschen ernähren einen Gastwirt mit seiner Familie, die Brauerei, den Hauswirt und liefern die Steuern an die Gemeinde und an den Staat. Wenn ein fremder Mensch nach Berlin kommt, vielleicht vom Schlesischen Bahnhof auf der Fruchstrasse läuft, der ahnt nicht, was alles hinter der vorderen Häuserfront steckt. Dass die allermeisten Eckhäuser von Gastwirtschaften besetzt sind, zeigt, dass die Brauereibesitzer und Gastwirte bessere Psychologen sind als die an40

Aus dem Artikel über „Deutsche Settlements" von Wenzel Holek: „In Berlin sind einem sofort die vielen Kneipen auffällig, und zwar, daß gerade die von den Arbeitern bewohnten Straßen die meisten haben. Es gibt Stellen, wo es auf zwei oder drei Häuser eine gibt und wo jedes Eckhaus eine Kneipe hat. Fragt man nach den Ursachen dieser Erscheinung, so meinen die einen, das sei ein Zeichen des Wohlstandes, andere sagen wieder, das sei eine Beweis eines lockeren, liederlichen Großstadtlebens. Darin steckt gewiß viel Wahrheit; denn wo es viel Kneipen gibt, muß auch viel Geld zum Biertrinker) übrig sein. Wer sich jedoch vom Glänze dieser Erscheinung nicht blenden läßt und in das Volksleben tiefer dringt, der weiß bald , daß sie auch noch andere Ursachen hat. Studiert man das Leben in den Kneipen und in den Arbeiterwohnungen, so findet man, daß die Kneipen eine Folge der schlechten Wohnverhältnisse sind. Auch das gegen früher immer straffere Arbeitsverhältnis trägt viel dazu bei. Die Arbeiter, welche sich mit dem unbedingt nötigen Raum begnügen und sich darauf zusammendrängen, müssen, weil die Miete hoch ist, jeden entbehrlichen Raum von ihrer Wohnung auf Schlafstellen weitervermieten, haben kein Heim, an dem sie sich freuen, an dem sie sich erholen und mit Weib und Kindern gesellig zusammen sein könnten nach des Tages Mühen. Was sie also nicht zu Hause finden, suchen sie in der Kneipe. Die Folge davon ist gewöhnlich, daß der Vater sich seiner Familie um so mehr entfremdet, als er ein treuerer Stammgast des Wirtes wird, und daß seine Kinder uns allen dann wegen mangelhafter sittlicher Erziehung viele Sorgen machen, den Gemeinden und dem Staate manche Geldausgaben verursachen. Die Zeiten, wo die Arbeiter während der Arbeit den Meinungsaustausch pflegen, sich persönlich näher kennen lernen und verstehen lernen konnten, sind auch vorbei. Die Akkordarbeit und je kürzer die Arbeitszeit, um so straffer müssen die Arbeitskräfte angespannt werden. Der mündliche Verkehr in der Werkstatt darf sich nur auf das unbedingt Nötigste beziehen. Die Arbeiter arbeiten oft monatelang nebeneinander und kennen sich bloß äußerlich und dem Na-

men nach. Vor und nach der Arbeit ist auch keine Zeit dazu; denn jeder kommt und geht von woanders her. Abends eilen sie in die ihren Wohnungen nächst liegenden Kneipen, um sich mit ihren da gemachten Bekannten auszuplaudern. Die Frauen kommen nach, bringen auch die Kinder mit. Und die Kneipe ist ein Familienheim. Der Gastwirt und seine Frau sind gute Nachbarn. Allerdings nicht aus ethischen Trieben, sondern aus Erwerbsgründen. Ihnen liegt alles daran, das Vertrauen ihrer Stammgäste zu gewinnen, um so ein festes persönliches Verhältnis zu schaffen. Es sind Vertrauensleute, Ratgeber und Vermittler in vielen Angelegenheiten. Da laufen auch alle Tagesneuigkeiten ein und aus. Die älteren Stammgäste dürfen denWirt duzen und ihn mit August, oder wie er sonst heißt, anreden. Auf diese Weise sind die Kneipen zu einem sozialen Bedürfnis in den Arbeitervierteln geworden. Sie sind bis zu einem gewissen Grade Settlements, mögen wir auch sehr vieles an ihnen auszusetzen haben. Etwas können wir wohl doch davon lernen. Darüber ließe sich noch so mancherlei schreiben und sagen." (Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Nr.8/ Dez. 1916).

deren Geschäftsleute. Die Menschen müssen mit der Nase auf das Lokal stossen, das Firmenschild muss von allen Seiten zu lesen sein, keine Stufen dürfen dem Eintretenden Mühe machen, jeder kann stehen oder sitzen, wie er will, für Belustigungen wird gesorgt. In den sogenannten Stehbierhallen gibt es gegen Abend stets ein reges Leben. Geistig verwandte Naturen bilden Gruppen, wobei es nie an Wortführern mangelt. Geredet wird über Arbeit, Politik, Religion. Geschichten aus der ländlichen Heimat werden erzählt und das Blaue vom Himmel heruntergelogen. Es herrscht Meinung, daß die Arbeiter zu wenig Interessen hätten. Ich weiß aber, daß gerade in den Kneipen sehr viel über Arbeit geredet wird. Natürlich tun die Arbeiter dies in ihrer Art, wie das die Ingenieure, Fabrikdirektoren und sonstige Betriebsleiter auch in ihrer A r t tun. Jeder erzählt, was, wie und wieviel er heute getan hat. Es wird mit hohen Leistungen geprahlt. Die Werkmeister und Betriebsleiter werden als Dummköpfe geschildert, und man freut sich, wenn Kollegen es mit gläubiger Zustimmung belohnen. 42

Männer, die sich über die Politik auch ihre Gedanken machen, es aber in den Versammlungen nicht wagen, den Mund aufzutun, bringen es hier zum Ausdruck, eben in dem Kreise, von dem sie wissen, dass sie bei ihm nicht auf Widerlegung stossen. So kann man oft das unsinnigste Zeug hören. Dies und auch das, was in ihrer Familie geschehen, was in ihrem Orte sich alles zugetragen hatte, bei wem sie in der Lehre waren, wie der Meister und die Meister gewesen sind, bekommt man von Zeit zu Zeit immer wieder zu hören. Die Kirche und die Religion sind seltenere Gegenstände der Gespräche, dann zieht man über die Pfaffen her. Man sucht sich einzelne Fälle aus, wo einer oder der andere etwas Dummes oder Ungerechtes geredet hatte. Die Existenz Gottes wird geleugnet. Aber man scheut sich nicht, Vorkommnisse abergläubischster Art aus der Heimat zu erzählen und sie als glaubwürdig erscheinen zu lassen. Die Art, wie das Berliner Gelände bebaut worden ist, die feuchten und lichtarmen Kellerwohnungen, die mit einem in eine Ecke eingebauten und nach dem Hofe führenden Fenster der sogenannten Berliner Zimmer, die sogar am hellen Tage schwach erhellt sind, die hohen Mietspreise, dies alles zeigt, ein wie krasser Bodenwucher in Berlin geherrscht hat, schon in den sechziger und siebziger Jahren. Auch die architektonische Kunst wurde ein Opfer dieser Bodenspekulation. Sie schuf Mietshäuser, in denen der Leib und die Seele langsam dahinsiechen. In manche Hause wurden sogar Pferde- und Kuhställe eingebaut. Auch die Kuh, die auf dem Lande gekauft und in der Berliner Stall eingestellt wird, ist ein bedauernswertes Geschöpf, denn sie bekommt in dem ganzen Rest ihres Lebens nichts mehr von dem blauen Himmel und einer grünen Wiese zu sehen. Besser geht es in der Hinsicht dem Pferde, schlechter wiederum, indem es tagaus, tagein, jahraus, jahrein auf dem harten Steinpflaster trampeln muss. Aus der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Ausser meiner beiden Klubs bestanden noch zwei andere Knabenklubs. Der eine hiess „Eintracht", der andere „Pfeil°\ Der Name des letzteren existiert jetzt noch. Ihn haben schon etliche Generationen getragen. Beide Klubs werden geleitet von zwei beurlaubten Soldaten, die vor dem Kriege schon Mitarbeiter in der S.A.G. gewesen sind. Dann gab es noch einige Mädchenklubs, deren Leiterinnen Frl. Rokohl und Frl. Vedder waren. Fräulein Schnauben versah die von der Jugendgerichtshilfe der S.A.G. zugewiesene Arbeit und besorgte die Verteilung der Schutzaufsichten auf einzelne Helfer. Die Mädchenklubs tagten, wi schon erwähnt, in der Fruchtstrasse. 43

Männer, die sich über die Politik auch ihre Gedanken machen, es aber in den Versammlungen nicht wagen, den Mund aufzutun, bringen es hier zum Ausdruck, eben in dem Kreise, von dem sie wissen, dass sie bei ihm nicht auf Widerlegung stossen. So kann man oft das unsinnigste Zeug hören. Dies und auch das, was in ihrer Familie geschehen, was in ihrem Orte sich alles zugetragen hatte, bei wem sie in der Lehre waren, wie der Meister und die Meister gewesen sind, bekommt man von Zeit zu Zeit immer wieder zu hören. Die Kirche und die Religion sind seltenere Gegenstände der Gespräche, dann zieht man über die Pfaffen her. Man sucht sich einzelne Fälle aus, wo einer oder der andere etwas Dummes oder Ungerechtes geredet hatte. Die Existenz Gottes wird geleugnet. Aber man scheut sich nicht, Vorkommnisse abergläubischster Art aus der Heimat zu erzählen und sie als glaubwürdig erscheinen zu lassen. Die Art, wie das Berliner Gelände bebaut worden ist, die feuchten und lichtarmen Kellerwohnungen, die mit einem in eine Ecke eingebauten und nach dem Hofe führenden Fenster der sogenannten Berliner Zimmer, die sogar am hellen Tage schwach erhellt sind, die hohen Mietspreise, dies alles zeigt, ein wie krasser Bodenwucher in Berlin geherrscht hat, schon in den sechziger und siebziger Jahren. Auch die architektonische Kunst wurde ein Opfer dieser Bodenspekulation. Sie schuf Mietshäuser, in denen der Leib und die Seele langsam dahinsiechen. In manche Hause wurden sogar Pferde- und Kuhställe eingebaut. Auch die Kuh, die auf dem Lande gekauft und in der Berliner Stall eingestellt wird, ist ein bedauernswertes Geschöpf, denn sie bekommt in dem ganzen Rest ihres Lebens nichts mehr von dem blauen Himmel und einer grünen Wiese zu sehen. Besser geht es in der Hinsicht dem Pferde, schlechter wiederum, indem es tagaus, tagein, jahraus, jahrein auf dem harten Steinpflaster trampeln muss. Aus der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Ausser meiner beiden Klubs bestanden noch zwei andere Knabenklubs. Der eine hiess „Eintracht", der andere „Pfeil°\ Der Name des letzteren existiert jetzt noch. Ihn haben schon etliche Generationen getragen. Beide Klubs werden geleitet von zwei beurlaubten Soldaten, die vor dem Kriege schon Mitarbeiter in der S.A.G. gewesen sind. Dann gab es noch einige Mädchenklubs, deren Leiterinnen Frl. Rokohl und Frl. Vedder waren. Fräulein Schnauben versah die von der Jugendgerichtshilfe der S.A.G. zugewiesene Arbeit und besorgte die Verteilung der Schutzaufsichten auf einzelne Helfer. Die Mädchenklubs tagten, wi schon erwähnt, in der Fruchtstrasse. 43

Mein erster Weg war, nachdem mir meine Wohnung zugewiesen wurde, in die kleine Parkanlage hinter der Kirche in der Friedenstrasse. Da setzte ich mich auf dieselbe Bank, auf der ich vor 10 Jahren eines nachmittags auch gesessen hatte, ohne Arbeit, ohne Geld, aber mit einem erst vor kurzer Zeit in Dresden gekauften, neuen Anzug. Den bot ich einem alten Manne, der sich zu mir setzte, zum Kauf an, nachdem ich ihm meine Lage geschildert und ihm erklärt hatte, dass ich Geld gebrauche, um zu meiner Familie nach Dresden zurückkehren zu können. Anfangs schien der Mann Lust zu haben, auf mein Angebot einzugehen. Dann aber lehnte er es nachdenkend ab. Wahrscheinlich machte er sich Gedanken darüber, ob der Anzug nicht gestohlen sei. Am andern Tag wurde ich meinen Anzug doch los, bei der Pfandleihanstalt am Küstriner Platz, für 4 Mark. Die Fahrt nach Dresden kostete damals Μ 3,70, für das übrige Geld kaufte ich mir Semmel und ein Stückchen Wurst. Abends desselben Tags war ich wieder zu Hause bei meiner Frau und den Kindern, allerdings mit leeren Taschen. Die Nacht, die ich damals in Berlin verbringen musste, war regnerisch und trostlos. Schlafgeld besass ich nicht, so machte ich mich auf den Weg durch die Fruchtstrasse, Stralauer Platz, Schillingsbrücke, Engelufer, Oranienstrasse nach dem Anhalter Bahnhof. Das war die einzige Richtung, die ich kannte. Diese Wanderung zu Fuss wiederholte ich, bis die Nacht zu Ende ging, jedoch mit gemischten Gefühlen und Erinnerungen an das Gewesene. Die Jugendlichen aus Grosszschocher - es waren 60 Personen im Alter von 14-18 Jahren, in vier Klubs gegliedert - schrieben mir einen Brief nach dem andern. Sie fragten, ob ich wieder zurückkommen möchte. Auch wollten sie mit dem Amtshauptmann von Nostitz-Wallwitz, durch den ich angestellt gewesen war, bis er nach Wien als Gesandter der Sächsischen Regierung versetzt wurde, wegen meiner Rückkehr verhandeln. Ich hatte zwar vor meiner Abreise aus Leipzig die Weiterführung der Jugendvereine besprochen, hatte mich auch bemüht, das Leben des Vereins zu sichern. Die Mitarbeiter gaben mir das Versprechen, dass sie alles daran setzen werden, das Geschaffene weiterhin aufrecht zu erhalten. Aber es ging doch nicht so, wie wir es uns gedacht hatten. Sie wohnten nicht im Orte. Sie kamen abends und gingen wieder fort. So fehlte eben das Bindungsglied zwischen ihnen und den Jugendlichen. Es fiel mir unaussprechlich schwer, die Leipziger Arbeit, die so grosse Hoffnung in sich trug und mir so viel Mühe und Kämpfe gekostet hatte, verlassen zu müssen. Im zweiten Bande meiner Lebensgeschichte unter dem Titel „Vom Handarbeiter zum Jugendpfleger" sind die Einzelheiten darüber zu finden. Die weiteren Berichte klangen immer hoffnungsloser. Und ehe ein Jahr verging, war die ganze Organisation auseinander und ihr Leben erloschen. Die Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft brachte auch noch andere 44

„Pfeil" ist einer der ersten, bereits 1912 entstandenen Knabenklubs. Die Bezeichnungen der Klubs sind ein wichtiger historisch-kultureller Indikator. Dominierten in der Wilhelminischen Phase nationale Töne („Jung-Siegfried", „Deutsche Treue", „Weddigen", nach dem Krieg umgetauft in „Jungmannen"), so setzt sich in der Weimarer Republik der jugendbewegte Ton durch („Bärenhorde", „Wanderfalke", „Zugvögel").

Veranstaltungen mit sich: einmal wöchentlich eine Arbeitsbesprechung. Besprochen wurde die bereits geleistete Arbeit, und beraten über das, was noch zu schaffen bevorstand in den Klubs und auf sonstigen Arbeitsfeldern, wobei auch der Austausch der bei der Arbeit gemachten Erfahrungen gepflegt wurde. An den Akademischen Sozialen Abenden, für die der Donnerstgag traditionell ist wie für die Arbeitsbesprechungen der Dienstag nachmittag, gibt es stets einen Vortrag für die Mitarbeiter und Freunde der S.A.G.. Sie dienen meistens der Orientierung im gesellschaftlichen Leben, so z.B. „Wie denkt der Arbeiter über den Studenten?", „Das Leben der Arbeiterschaft in der Grosstadt", „Die Rationalisierung der Produktion und Arbeiter" und ähnliche Themen. Mittlerweile rückte der erste Juli heran. Meine Familie kam mit Sack und Pack nachgezogen. Wir bezogen eine von der Sozialen Arbeitsgemeinschaft gemietete Wohnung in der Andreasstrasse gegenüber der Handwerksschule. Sie bestand aus einer Küche, zwei Stuben von ungefähr 20 qm. Grösse und einer kleinen Stube 1,20 m breit und 5 Meter lang. Die letztgenannte Stube war ein eigentümlicher Bau, eine sogenannte Mädchenstube. Man machte aus einem Schlafraum von 3,50 m Höhe ganz einfach zwei Schlafräume, indem mittendurch eine Decke von Brettern gezogen wurde. So konnten auf diese Weise statt zwei Mädchen gleich vier untergebracht werden, wodurch der Mietsertrag sich um die Hälfte erhöhte. Die oberen beiden Mädchen mussten auf einer einfachen Leiter hinaufsteigen. Da aber durch die Decke auch das Fenster in zwei Lichtteile getrennt war, konnten die Mädchen unten und oben von der Sonne nur zur Hälfte das Licht erhalten. Man muss erst die halbe Welt durchwandern, ehe man so kluge Menschen findet, wie sie Berlin aufweist. In dieser Strasse zu wohnen, dazu gehörte besondere Lust. Fast alle fünf Minuten kam ein Strassenbahnwagen durchgefahren, abgesehen von dem anderen Fuhrwerk. Bei unserem Umzug hatten wir auf der Eisenbahn Unglück. 45

Meine Frau gab die Möbel als Stückgut auf. Sie wurden während der Fahrt in dem Waggon hin und her geworfen und so zerbrochen, dass uns die Reparatur 100 Mark kostete. Der entstandene Schaden verringerte sich durch einen Beitrag, den Siegmund-Schultze uns beisteuerte. Als dann auch die Schulferien nahten und eine Pflegestelle gefunden wurde, wo der Knabenklub „Frohe Jugend" untergebracht werden konnte, mussten auch dazu Vorbereitungen getroffen werden. Auf vier Wochen sollten wir nach Bagow in Westhavelland auf ein Gut ziehen, dessen Besitzerin Frau v. Ribbeck war. Ausser der Bahnfahrt, die die Knaben zu zahlen hatten, sollte die Verpflegung nichts kosten. Ferienkolonie in Bagow (Havelland) Am 5. Juli fuhren wir nach dort, Siegmund-Schultze, der uns hinbrachte, ich und 10 Mann. Es sollten nicht mehr Jungen mitgebracht werden. Zwei davon waren aus Charlottenburg, die wir vorher nicht kannten. Frau v. Ribbeck machte es zur Bedingung, dieselben mitzubringen, weil sich irgendeine Jugendpflegestelle bei ihr für sie eingesetzt hatte. Das taten wir ungern, nicht etwa der familiäre Egoismus war der Beweggrund, das lag uns völlig fern, sondern weil fremde Kinder stets schwieriger zu behandeln sind als die, mit denen man sich kennt, die auch vorher in einem Klub abgerundet worden sind (sie!). Wir stiegen in Päwesin ab und wanderten zu Fuss nach Bagow, wohin es ja kaum eine halbe Stunde zu laufen war. Dort wurden wir von Frau v. Ribbeck und ihrer Tochter empfangen und in ein für uns eingerichtetes Wohnhaus geführt. Es war ein Schnitterhaus. Die Wohnung bestand aus einem Vorhause, in das man von der Strasse eintrat und in dem sich ein Kochherd befand. Weiter hinein zeigten sich noch zwei Zimmer, eines davon ungefähr 24 qm gross, und nach der Strasse gelegen, das andere strebte dem Hofe zu und mochte so 10 qm. gross gewesen sein. In dem vorderen Zimmer standen fünf Betten, eine Kommode und in dem anderen, das für den Leiter vorgesehen war, ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl. Die Jungen mussten zu zweien schlafen. Dazu waren die Betten auch gross genug. Bagow ist ein kleines Dorf. Ausser dem Rittergut, das von dem Pächter Harms bewirtschaftet wurde, und ausser den Gutsarbeitern, waren da nur einige Kleinbauern und Häusler. Der Ort liegt am Abhänge eines Hügels, der nach Beetssel ausläuft. Nicht weit davon fließt die Havel. Die vielen Gewässer, Hügel, Wiesen und der Wald, so auch die dazwischenliegenden Getreidefelder, bieten einen abwechslungsreichen Anblick. Der Boden ist stellenweise so 46

Meine Frau gab die Möbel als Stückgut auf. Sie wurden während der Fahrt in dem Waggon hin und her geworfen und so zerbrochen, dass uns die Reparatur 100 Mark kostete. Der entstandene Schaden verringerte sich durch einen Beitrag, den Siegmund-Schultze uns beisteuerte. Als dann auch die Schulferien nahten und eine Pflegestelle gefunden wurde, wo der Knabenklub „Frohe Jugend" untergebracht werden konnte, mussten auch dazu Vorbereitungen getroffen werden. Auf vier Wochen sollten wir nach Bagow in Westhavelland auf ein Gut ziehen, dessen Besitzerin Frau v. Ribbeck war. Ausser der Bahnfahrt, die die Knaben zu zahlen hatten, sollte die Verpflegung nichts kosten. Ferienkolonie in Bagow (Havelland) Am 5. Juli fuhren wir nach dort, Siegmund-Schultze, der uns hinbrachte, ich und 10 Mann. Es sollten nicht mehr Jungen mitgebracht werden. Zwei davon waren aus Charlottenburg, die wir vorher nicht kannten. Frau v. Ribbeck machte es zur Bedingung, dieselben mitzubringen, weil sich irgendeine Jugendpflegestelle bei ihr für sie eingesetzt hatte. Das taten wir ungern, nicht etwa der familiäre Egoismus war der Beweggrund, das lag uns völlig fern, sondern weil fremde Kinder stets schwieriger zu behandeln sind als die, mit denen man sich kennt, die auch vorher in einem Klub abgerundet worden sind (sie!). Wir stiegen in Päwesin ab und wanderten zu Fuss nach Bagow, wohin es ja kaum eine halbe Stunde zu laufen war. Dort wurden wir von Frau v. Ribbeck und ihrer Tochter empfangen und in ein für uns eingerichtetes Wohnhaus geführt. Es war ein Schnitterhaus. Die Wohnung bestand aus einem Vorhause, in das man von der Strasse eintrat und in dem sich ein Kochherd befand. Weiter hinein zeigten sich noch zwei Zimmer, eines davon ungefähr 24 qm gross, und nach der Strasse gelegen, das andere strebte dem Hofe zu und mochte so 10 qm. gross gewesen sein. In dem vorderen Zimmer standen fünf Betten, eine Kommode und in dem anderen, das für den Leiter vorgesehen war, ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl. Die Jungen mussten zu zweien schlafen. Dazu waren die Betten auch gross genug. Bagow ist ein kleines Dorf. Ausser dem Rittergut, das von dem Pächter Harms bewirtschaftet wurde, und ausser den Gutsarbeitern, waren da nur einige Kleinbauern und Häusler. Der Ort liegt am Abhänge eines Hügels, der nach Beetssel ausläuft. Nicht weit davon fließt die Havel. Die vielen Gewässer, Hügel, Wiesen und der Wald, so auch die dazwischenliegenden Getreidefelder, bieten einen abwechslungsreichen Anblick. Der Boden ist stellenweise so 46

Bagow und seine Umgebung. Aus dem Tagebuch von Wenzel Holek: „Von dem Mühlberg schauend, sieht man die Dächer des Schlosses und des Rittergutes zwischen den hohen grünen Linden nur stellenweise rot durchschimmern. Hinter dem Schloß liegt ein nicht gar zu breiter Park mit allerlei Blumen, Sträuchern und Eichen, von denen manche schon über hundert Jahre lebt und uns manches erzählen würde, wenn sie könnte. Hinter dem Park breitet sich der blaue See aus, vom Schilf umsäumt. Dahinter steht eine Ziegelei, deren ungefähr vierzig Meter hoher Rauchfang weit sichtbar ist. Um den Berg zieht sich das kleine Dorf von ungefähr dreißig Nummern mit seiner kleinen, aber schönen Kirche, deren Turm stolz emporragt und der Umgegend ein friedliches Gepräge gibt. Die Häuschen sind von Gärten und Obstbäumen umgeben, so daß sie wie Gartenhäuser aussehen. Links vom See liegt ein anderer See und die beiden Seen sind durch einen Kanal verbunden, hinter dem gerade aus sehend das malerische Dorf Päwesin liegt, ungefähr sieben Minuten von Bagow entfernt, das vor lauter Bäumen und Gärten kaum zu sehen ist. Zwischen beiden Dörfern liegen Wiesen und Getreidefelder. Vor dem linken See steht noch eine Ziegelei. Hinter dem Dorfe liegt der sogenannte Vogelsang, ein Försterhaus mit einigen Häusern. Ein Wald zieht sich von einem See zum anderen, so weit man sehen kann. Auf den Feldern rühren sich die fleißigen Hände der Männer und Frauen, früh um vier Uhr hört man sie schon hantieren und abends um acht von der Arbeit kommen. In den Gesichtern zeigt sich kein Zug eines flotten Lebens, wie bei den Großstädtern, sondern Selbstzufriedenheit. Die Arbeit und Fortpflanzung scheint den Dörflern die bewußte Selbstbestimmung zu sein. Die Großstädter betrachten die Welt als einen Vergnügungsort." (EZA 626/ II 27,8a).

fruchtbar, dass auf ihm auch der Weizen wächst. Unweit des Dorfes steht auch eine ziemlich grosse Ziegelei mit einem Ringofen, in dem Ziegel gebrannt werden. Sie war nur in der Kriegszeit ausser Betrieb. In dem D o r f e war auch ein von Frau v. Ribbeck eingerichtetes Kinderheim. Es beherbergte ungefähr 20 Kinder vom Säuglingsalter an, die alle aus Berlin stammten.

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Unsere Schlaf- und Essenräume lagen getrennt, einige hundert Schritte auseinander. Ein Häusler, der sonst im Elektrischen Werke arbeitete, hatte zufällig eine Stube leerstehen. Dort nahmen wir unsere Mahlzeiten ein. Das Essen holten wir uns aus der Küche des Kinderheims, wo ein Fräulein den Dienst für uns freiwillig übernommen hatte. Die vom Klub beschlossene Hausordnung, die für jeden verbindlich war, lautete folgendermassen: 1. Früh um 7 Uhr aufstehen, sich waschen und Zähne putzen, Betten machen und alle Tage zwei zu zwei ablösend, ausfegen. 2. Um 8 Uhr frühstücken, um 12 Uhr mittagessen und um 7 Uhr abends Abendbrot. 3. Jeden Tag haben zwei andere das Essen aus der Küche zu holen, wiederum zwei andere das Wasser zum Abwaschen des Geschirrs zu besorgen. 4. Niemand darf sich allein herumtreiben. Wer eine Viertelstunde nach der Mahlzeit erscheint, bekommt kein Essen. 5. Je nach Bedarf soll täglich 3 Stunden gearbeitet werden. Punkt eins bis drei sind selbstverständliche Bestimmungen, wenn in der Kolonne Ordnung aufrecht erhalten werden soll und Streitigkeiten vermieden werden müssen. Punkt vier gilt dem Schutz des Leiters. Denn er trägt die ganze Verantwortung für das Leben und die Gesundheit jedes Schutzempfohlenen. Er würde, wenn er die Jungen nach ihrem Belieben herumlaufen ließe und dabei einem oder dem anderen etwas passieren würde, mit einer Gefängnisstrafe wegen Fahrlässigkeit rechnen müssen. Punkt 5 hat die Bedeutung moralischen Pflichtgefühls. Wird man vier Wochen lang oder noch länger umsonst verpflegt, so hat man die Pflicht, auch etwas dafür zu tun. Diese Einsicht ist zwar den Jungen schwer beizubringen, jeder Leiter muß es aber sogar aus pädagogischen Gründen versuchen. Die Arbeit muß allerdings den körperlichen Kräften angemessen sein. So spannten wir uns z.B. den Pony in den Wagen ein, fuhren in den Wald, sammelten die vom Wind abgebrochenen dürren Äste, luden sie auf den Wagen und fuhren wieder nach Hause. Ein andermal gingen wir wieder in den Wald, um Pilze zu sammeln, oder pflückten Kirschen und halfen sonst in dem Gemüsegarten. Auch holten wir mit dem Pony Ziegel aus der Ziegelei zum Ausbau des Kinderheims. Solche Arbeiten machten den Jungen Spass und waren nur eine Spielerei. Nachmittags begannen wir mit Spielen aller Art, Schlagball oder Völkerball, Speere hatten wir auch mit, sowie auch Quartett und Damenbrett. Manchmal wurde auch eine Wasserschlacht ausgetragen. Ich nahm einen Krug mit Wasser und die Jungen auch jeder irgendein Gefäss, so sausten wir spähend um die Häuser herum, überraschten sie mich, dann wurde ich gehörig nass, überraschte ich sie oder irgend einen, so wurden sie es. 48

Abends traten wir auf dem Dorfplatze an und beschäftigten uns mit Singtänzen. Die einheimischen Kinder machten mit. Später gesellten sich die Mädchen und Burschen dazu, sogar die Frauen zeigten dann Interesse und schlossen sich an, so dass der Platz bald zu klein wurde für uns alle. Die Kinder sangen nachher die gelernten Lieder auf ihren Wegen und zu Hause. Die Einwohner wurden immer freundlicher zu uns. Manchmal unternahmen wir Ausflüge in die Umgebung nach Grosslehnitz, Ketzier, Machnow usw. Einmal sind wir auch in dem Ort Ribbeck gewesen. Es war sonntags. Dort war der Gutsbesitzer von Ribbeck, ein Bruder unserer Gastgeberin. Wir wollten den Birnbaum von Ribbeck sehen, über den der Dichter Fontane ein Gedicht verfaßt hatte. Unsere Gastgeberin bestellte in einem dortigen Gasthause telefonisch Kaffee und Kuchen, was wir natürlich mit Wonne verzehrten. Vom dem dichterisch beschriebenen Birnbaum waren wir aber enttäuscht. Wir stellten ihn uns vor wie einen richtigen hohen Baum mit breiter Zweigkrone. Der aber, der da auf dem Friedhofe in einer Ecke der Kirchenwand stand und uns als derjenige gezeigt wurde, entsprach unserer Vorstellung nicht. Es war zwar ein verhältnismäßig hohes, aber sehr schwaches Bäumchen mit wenigen Zweigen! Witze sind Würze für das Leben, sei es nun im Klub, in der Ferienkolonie, bei der Arbeit oder während der Wanderungen. Das müssen selbst gemachte Witze sein, wie sie sich eben bei einem laufenden Zusammenleben ergeben. Man kann sich so manchen Witz und Spass erlauben, worüber sich moderne Pädagogen höchst entrüsten könnten. Entscheidend dabei ist die innere Einstellung auf die jungen Menschen. Schafft man ihnen Beispiele, dass man sie lieb hat, dass man alles tut, was zu ihrem Besten dienen soll, dann kann man sich schon manches erlauben, mit dem ein anderer schief fahren würde. Ich sehe schon die Augen der Theoretiker sich vor Wut verdrehen, wenn ich folgenden Witz, den ich mir mit den Jungen, gerade deshalb, weil sie eben die gewitzten Berliner Jungen waren, erlaubte: „Jungs", sagte ich, „in vierzehn Tagen gibt es hier Jahrmarkt", mit der Voraussetzung, dass sie unmöglich glauben würden, dass das in einem so kleinen Orte vorkommen könnte. „Was wird da verkauft?", wurde ich gefragt. „Vieles - Wurst, Käse, Eier und anderes", erwiderte ich. Überrascht sah ich, wie es alle glaubten und auch in keinem einzigen ein Zweifel aufkam. Ohne auch nur daran zu denken, sich weiterhin zu erkundigen, schrieben gleich mehrere nach Hause an ihre Mütter, sie sollten ihnen Geld schicken. Das Geld kam auch gleich mit dem anfeuernden Begleitschreiben: „Junge, kaufe alles, was Du kriegen kannst!" Als dann der Tag nahte, an dem der Jahrmarkt stattfinden sollte, wie ich es angegeben hatte, wurde ich gefragt, wie es damit sei, es werden ja gar keine Vorbereitungen gemacht, Buden gebaut usw.. Ich musste eine ausflüchtige Antwort geben, dass 49

der Jahrmarkt aus irgendwelchen Gründen verschoben worden sei. Als die Jungen sich bei den Ortsbewohnern erkundigten und erfuhren, dass in Bagow noch nie ein Jahrmarkt stattgefunden hätte, da erst wussten sie, dass sie auf der Leimrute sassen. Sie fielen über mich her und setzten sich zu Gericht über mich. Mich zu verteidigen war nicht allzu schwer. Ich hielt ihnen vor, dass ich selbst nicht geglaubt hätte, dass es auch in Berlin noch so naive und leichtgläubige Jungen geben könnte, und setzte die warnende Ermahnung hinzu, sie sollen künftig auch in Berlin ihre Leichtgläubigkeit zügeln. Ich kann sagen, dass dieser Fall, der vom pädagogischen Standpunkt aus betrachtet, verwerflich scheinen mag, meinem inneren Verhältnis zu den Jungen keinen Abbruch getan hat, wie auch nicht die späteren vorgekommenen ähnlichen Fälle, von denen ich noch zu erzählen haben werde. Wenn jemand die Menschen nicht innerlich erfasst, die nachdrückliche Betonung der ernsten Seite des Lebens versäumt, dann können wohl solche Äusserlichkeiten zu Kaspereien ausarten, den Leiter zu einem Hanswurst herabwürdigen. Und nun ein Gegenbild. Als wir eines abends zum Essen kamen, fehlten drei Jungen. Wir waren mit dem Essen fertig, sie waren noch nicht da. Es wurde abgewaschen, das übriggebliebene Essen in die Küche geschafft, und noch immer war keine Spur von den Dreien zu sehen. Um 8 Uhr kamen sie endlich geschlendert. Wir übrigen verdauten schon unser Essen in unserem Wohnraum. Alle drei gingen in die Küche und verlangten nach ihrem Essen. Das Fräulein teilte ihnen mit, dass ich angeordnet hätte, ihnen nichts zu geben. Von hier liefen sie in das Schloß. Dort wurde ihnen dasselbe gesagt. Nun erst kamen sie mit roten Köpfen, schimpfend und mit den Händen fuchtelnd in die Wohnung zurück. Ich ging hinaus und setzte mich auf die Bank vor der Haustüre. Die Jungen wurden sofort solidarisch. Sie schimpften und kritisierten, an allem hatten sie was auszusetzen, an der Behandlung, Kost und Wohnung. Einer von den Jungen aus Charlottenburg liess sich soweit hinreissen, dass er sagte, das Essen schmecke manchmal sowieso wie Mistsudel. Ich hörte von draussen jedes Wort, was gesprochen wurde. Doch tat ich so, als ginge mich das nichts an. Die meisten waren der Meinung, den andern Tag den Eltern zu schreiben, wie es ihnen hier gehe. Diesen Abend wurde weder gespielt noch wurden Ringtänze gemacht. Auch brauchte ich sie nicht um 10 Uhr ins Bett zu nötigen, denn um 9 Uhr war es in dem Schlafraum still. Am andern Morgen hatte ich es nicht nötig „Aufstehen" zu rufen. Diesmal war ich der letzte, der aufstand. Jeder tat seine Pflicht, ohne ein Wort zu reden. Nach dem Frühstück kam einer von den Bestraften zu mir und fragte, ob heute etwas zu tun sei. Als ich seine Frage verneinte, fragte er weiter, ob sie eine Kahnfahrt auf dem See machen dürften, 50

Berliner Jungen in der Ferienkolonie, o.J.

worauf ich selbstverständlich die Erlaubnis gab, ohne erkennen zu lassen, wie ich mich über diese Wendung wunderte. Nach geraumer Zeit kam derselbe Junge wieder. Er bat mich, ob ich ihnen helfen möchte, der Kahn stecke im Schilf, sie könnten ihn nicht herausbringen. Ich erwiderte seine Höflichkeit und ging mit, machte den Kahn frei mit der Ermahnung acht zu geben, dass nichts passiere. Mein Verhalten war so, als sei gestern gar nichts zwischen uns vorgefallen. Ich blieb ruhig und höflich und was in solchen Fällen die Hauptsache ist: Ich trug mit keinem Wort ihnen nach, was sie getan hatten. Habe ich es doch mit meiner eigenen Mutter erlebt und mich im Leben immer wieder davon überzeugen können, wie peinigend das wirkt, wenn einem tagelang die Dummheit, die man begangen hat, aufgetischt wird. Man ist sich selbst der Missetat bewusst und das Schamgefühl, dass man doch besitzt, lässt einem lieber eine Ohrfeige oder sonstige Strafe ertragen, als das endlose Nachtragen. Natürlich trachtet jeder Junge ebenso wie alle andern Menschen trotzdem danach, die Strafe von sich fernzuhalten. Er schätzt sich klug, schlau und pfiffig, wenn es ihm gelingt.Die drei Jungen wussten schon auf dem Heimwege, dass sie unrecht gehandelt hatten, sie kannten doch die Hausordnung. Aber sie rechneten mit der Nachsicht. Wer es zuläßt, dass die Klugheit, Schlauheit und Pfiffigkeit Missbrauch treiben kann, der kann unmöglich in irgendeiner Gemeinschaft Disziplin schaffen oder Charakterkräfte bilden. Wirkungsvoller wird die Arbeit, wenn der Leiter sich selbst fest in der Hand hat, sich nicht bei jeder Kleinigkeit aufregt, nicht nervös wird und nicht herumschreit. Auch wenn einmal etwas mit Nachdruck gesagt werden muss, darf es nichts von zorniger Erregung verraten. Gelingt es den Jungen, einen aus der Fassung zu bringen, dann haben sie den billigsten Spass und das Vergnügen, das sie sich immer wieder zu verschaffen trachten, wenn sie ein Bedürfnis danach haben. Hat man mit Liebe und Höflichkeit, mit Aufklärung und Ermahnungen alles versucht und ist der Erfolg dabei ausgeblieben, dann heisst es handeln, strafen. Wir haben die Aufgabe, die jungen, der Lebensordnung noch unkundigen Menschen für das Leben vorzubereiten, sie kulturfähig zu machen. Da schafft aber die alles verzeihende und übermässig nachsichtige Liebe nur Chaos. Da ich auch stets darauf bedacht war, die Jungen zur Selbstverwaltung anzuhalten, Hess ich die Klubmitglieder aus ihrer Mitte einen Vorsitzenden, einen Schriftführer und einen Kassenwart wählen. Der Vorsitzende leitete die Sitzungen, der Schriftführer führte Protokoll über den Verlauf der Klubsitzungen und der Kassenwart zog die Mitgliedsbeiträge ein und verwaltete das Kassenbuch. Die Klubgelder waren Eigentum des Klubs. Er konnte nach Bedarf darüber verfügen, Zuschüsse für Ausflüge gewähren, Spiele anschaffen usw. 52

Dieses Verfahren Hessen wir auch in der Ferienkolonie gelten. Der Verlauf eines jeden Tages wurde in ein Heft aufgeschrieben. Auch ich führte mein eigenes Tagebuch. Zwischen den beiden Tagebüchern war ein Unterschied. In dem von den Jungen geführten Tagebuch zeigte ein jeder Tag nur insofern ein wechselndes Bild, als es ein anderes Gericht gab. Eine Beobachtung des Dorflebens vermisste ich ganz. Selbst die Eindrücke aus der Umgebung und von den Wanderungen, die wir gemacht haben, waren sehr mangelhaft. Persönliche Vorkommnisse kamen erst recht nicht in Frage. So z.B. stand nichts davon darin, dass, wenn die beiden mit dem Abwaschen des Geschirrs dran waren, die Löffel, Messer und Gabel schlecht geputzt und abgetrocknet hatten, sie es noch einmal und noch einmal machen mußten, wenn es immer noch nicht recht war. Sie mussten sogar die ganze Woche mit der Arbeit verbringen, wenn sie das dritte mal oberflächlich waren. Auch das wurde nicht eingetragen, dass, wenn sie den Nachbarn über ihre ObstbSume hergezogen sind, ich dann, als diese mit Klagen kamen, mit ihnen ein Gericht gehalten habe. Dass der eine der beiden Jungen aus Charlottenburg gesagt hat, dass das Essen manchmal wie Mistsudel schmecke, kam auch unserer Gastgeberin zu Ohren. Sie liess mich und den Jungen zu sich rufen. Sie wollte wissen, wie die Sache sich verhält. Wir standen beide verlegen vor ihr. Ich aus dem Grunde, dass so etwas in dem Klub möglich sei, und er wusste nichts zu sagen. Schliesslich schob er es auf die Gurkensauce und meinte, dass seine Mutter sie auch mache, jedoch anders schmecke als die hier. Frau von Ribbeck entschuldigte ihn selbst, indem sie meinte, es sei eben ein dummer Junge, und gab ihre Absicht, ihn nach Hause zu schicken, auf. Auch Soldaten wurden unsere Nachbarn. Sie halfen mit bei der Ernte. Als wir eines abends wieder - wie immer - unsere Singtänze veranstalteten, stellten sich auch die Dienstmädchen der Gutspächter und Bauern ein, so auch eine junge Frau, deren Mann im Kriege war. Sie tanzten tüchtig mit. Die Soldaten, alles Landstürmer, schauten uns zu. Schliesslich stellten auch sie sich, von lächelnden Mienen und lieblichen Blicken der Mädchen angelockt, in Reih und Glied, tanzten und sangen wie wir alle. Als ich um 10 Uhr das Signal zum Schlafengehen gegeben hatte, löste sich der Ring der Tänzer auf. Die Mädchen wandten sich dem Dorfausgange zu, der auf eine an dem Hügel hinter dem Dorfe gelegene Wiese führte. Sie Hessen es willig geschehen, dass die Soldaten sich einhängten und mitgingen. Dann wurde es still im ganzen Ort. Um Mitternacht wurde ich durch Schritte und Geflüster aus dem Schlaf gebracht. Die Geräusche kamen aus dem Hof, der hinter den Wohnhäusern und Ställen ausgebreitet lag. Nun begriff ich erst, dass es nicht kindliche Freude an den Tänzen und an dem Gesang, sondern andere Beweggründe waren, die uns die Gäste des Abends zugeführt hatten. 53

Zum Abschluss unserer Ferien versammelten wir uns in dem kleinen Saal des Kinderheims. Der Junge, der das Essen getadelt hatte, trug ein Abschiedsgedicht vor, und die anderen schlossen die Zeremonie mit einigen Liedern ab. Dann ging es zur Bahn, die uns nach Berlin zurückbrachte. Zurückgekehrt, wurde weiter nach denselben Grundsätzen, nach derselben Methode gehandelt. Nur eines machten die Berliner Jungen nicht mit. In Leipzig· Grosszschocher hiessen mich die Knaben wie die Jugendlichen „Onkel". Alle durch die Bank duzten mich ebenso wie ich sie. Das mochten die Berliner nicht. Die Meinung, dass des Leiters Autorität einen Abbruch erleiden könnte, hat wenigstens bei mir keine Bestätigung erfahren. Es kommt wohl vor, dass hin und wieder mal ein Junge auftaucht, der so ein Verhältnis nicht gleich begreift und es deshalb leicht missbraucht. Er muß bald einsehen, dass er nichts ausrichten kann, wenn die anderen zu 99% die Disziplin halten. Dass das so gekommen ist, war mir auch recht, indem ich dadurch wahrnehmen konnte, dass es in Berlin 30% freche Jungen gibt. Während ich in Bagow war, brachte meine Frau unseren im Frühjahr eingesegneten Sohn Karl in die Lehre zu einem Friseur in die Prenzlauer Straße. Ich war mit ihrer Bestimmung nicht besonders zufrieden. Mir schien dieses Handwerk zu wenig Möglichkeiten für die Zukunft zu bieten. Ich hätte es lieber gesehen, wenn er Schriftsetzer gelernt hätte. Da aber sein Lehrherr ein vernünftiger Mann war und bessere Kundschaft hatte, stellte mich das noch so einigermassen zufrieden. In dem Jugendklub, in dem Paul Klein Mitglied gewesen ist und vom dem ich schon soviel erzählt habe, konnte auch Karl sich nicht wohlfühlen, sein ruhiges und bedächtiges Wesen fand zu der launenhaften Lebhaftigkeit der Berliner Jungen keinen Anschluss und dann erst recht nicht, als er seines sächsischen Dialektes wegen ausgelacht wurde. Der nun 20 Jahre alte Sohn Fritz befand sich bereits seit einem Jahr in russischer Gefangenschaft. Er wurde als 18jähriger eingezogen und musste, weil ich noch österreichischer Staatsangehöriger war, in derselben Armee dienen. Er war kaum 14 Tage im Felde, als er an der russischen Grenze in Gefangenschaft geriet. Wir erfuhren bald ein ganzes Jahr nichts von ihm, bis dann doch eine Postkarte kam, durch die er uns mitteilte, daß er in der Gegend von Samara an der Wolga bei einem Bauer sei. Unser jüngster Sohn Arno war erst 8 Jahre alt und zu jung, um in einem der Knabenklubs mitzumachen. Von der Entwicklung dieser drei und von den anderen beiden Söhnen wie auch von den drei Töchtern will ich später noch etwas sagen.

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Arbeit an der Jugend Mit der Arbeit an der Jugend ging es nun auch in Berlin vorwärts. Bis zum Herbst desselben Jahres, als ich in Berlin einzog, hatte ich ausser dem Jugendklub und dem Knabenklub noch zwei neue Knabenklubs bilden können. Der junge Schreiber aus der inneren Mission war ein guter Helfer. Er war mit mir übereinstimmend mehr innerlich als äußerlich, nur jugendbeweglich, auf die Jungen eingestellt. Wandern, Turnen und Spiel wurden in massigen Grenzen gehalten. Erzählungen ernster und heiterer Art hatte er stets auf Lager. Er wurde aber von dem Wunsche nach Grosszügigkeit getrieben, ohne dass er die Helferkräfte in Erwägung gezogen hätte, und ihm zum Bewußtsein gekommen wäre, dass eine grossaufgezogene Organisation zur Verflachung führen müsse, wenn ihrem Verhältnis entsprechend Kräfte nicht vorhanden sind, wie es nun während der Kriegszeit der Fall gewesen ist. Ausserdem mussten wir damit rechnen, dass er jeden Tag zum Militärdienst einberufen werden konnte. Das letztere ist dann auch bald geschehen. Und weil die weitere Geschichte dieses Mannes so kurz und doch interessant ist, will ich hier doch lieber gleich zu Ende erzählen. Als der Krieg zu Ende war, kam er wieder zu mir, um weiterzuarbeiten. Eines Tages kam eine Mitarbeiterin, eine Studentin, in die S.A.G.. Sie war in Berlin mit einer jungen Frau bekannt geworden, deren Mann im Kriege umgekommen war. Diese stand nun da ohne Mann, ohne Lebensunterhalt, verzweifelt und hatte schon den Versuch gemacht, sich mit ihren beiden Kindern das Leben zu nehmen. Die Studentin bat mich, ob ich jemanden wüsste, der dieser Frau helfend beispringen würde. Ich beriet mit meinem jungen Helfer. Er zeigte sich sofort bereit, die Frau aufzusuchen und ihr, wenn möglich, mit Rat und Tat beizustehen. Dann aber, nachdem er einige Male bei ihr gewesen war, geschah das nicht vorausgesehene Wunder: Er zog zu ihr, liess sich nicht mehr bei mir sehen und wie ich auf indirektem Wege zu erkunden vermochte, hat er sie bald darauf geheiratet. Ob diese Hilfe für die Frau von längerer Dauer war, entzieht sich meiner Kenntnis. Denn er war seitdem wie vom Erdboden verschwunden. Weil es nun in den Jugend- und Knabenklubs nicht ohne Lärm abgeht und auch nicht abgehen kann, trotz allen Bremsens, drängte sich SiegmundSchultze der Gedanke auf, ein Haus in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs zu kaufen, um nicht fortwährend die Kündigung fürchten zu müssen. Der in Friedrichshagen verheiratete Hausbesitzer und Dichter Gustav Schüler wurde beauftragt, die Sache in die Hand zu nehmen, weil er Erfahrungen als Eigentümer von Häusern hatte. Gustav Schüler liess dann in seiner Zeitung eine Annonce los. Darauf meldete sich eine Hausbesitzerin am Ostbahnhof 17. Siegmund-Schultze, Gustav Schüler und Hausmeister Mant aus Friedrichshagen 55

gingen hin, um das Haus zu besichtigen und zu begutachten. Sie waren zufrieden, ja sogar begeistert über die 85 cm dicken Aussenwände. Der Kauf dieses Hauses wurde abgeschlossen. Es kostete 93,000 Mark. In dem Vorderhaus sind 4 Wohnungen mit zwei Stuben und Küche, und 4 Wohnungen mit drei Stuben und Küche, und im Seitenflügel auch 4 Wohnungen, Stube und Küche und 4 Zweizimmer-Wohnungen mit Küchen sind im Quergebäude. Ausserdem befanden sich in diesem Hause noch drei Kellerwohnungen mit eins bis drei Stuben und der dazugehörigen Küchen, die gegenwärtig nicht bewohnt werden, aber früher noch bewohnt gewesen sein sollen. An ihnen vermag man zu ermessen, was den armen Teufeln an unschönen, dunklen, feuchten und höchst ungesunden Wohnstätten zugemutet worden ist. Anfang der siebziger Jahre, zu dieser Zeit ist diese Häuserreihe am Ostbahnhof gebaut worden. Im Erdgeschoss des Vorderhauses befand sich ein Laden, 4 Zimmer mit zwei Küchen. Wahrscheinlich sind das ursprünglich zwei Wohnungen gewesen. Hinterher hat es sich herausgestellt, dass das Innere des Hauses baufällig war, dass der Fussboden und die Fenster halbmorsch und die Wasserleitungen verbraucht waren. In dem Laden war eine Gastwirtschaft mit Bier- und Schnapsausschank. Es war ein Stammlokal der Mistkutscher von Berlin Ost, die aus den Kuh- und Pferdeställen den Mist mit dem Pferdegespann am Ostbahnhof entlang nach dem naheliegenden Güterbahnhof schafften, auf die Waggons luden, als Lieferware für die Landwirte. Nachdem der Gastwirt ein paar Häuser weiter eine andere Kneipe gemietet hatte und ausgezogen war, sollte der Laden wie auch die hinteren Räume erneuert werden. Mit dieser Arbeit wurde der Baumeister Mans betraut. Für uns war es eine abgeschlossene Sache, dass wir aus dem Laden eine, wie es in Berlin heisst, „Kaffeeklappe" machen wollten, mit einem Ausschank alkoholfreier Getränke. Wir, also ich und meine Frau, sollten das Geschäft führen. Auch die Hausverwaltung sollte meine Aufgabe sein. Dass die Arbeit mit den männlichen Klubs in diese Räume auch verlegt werden sollte, war schon durch den Kauf des Hauses entschieden. Die Sache wurde noch ernster, als die Bauhandwerker, Maurer, Zimmerleute und Maler kamen. Die Arbeit wollte nicht recht vonstatten gehen. Die Handwerker setzten halbe und ganze Tage aus. Mir aber lag sehr viel daran, einziehen zu können, bevor die Kälte einbrach. Und es stellte sich tatsächlich schon Anfang Oktober eine große Kälte ein mit starken Frösten. Endlich war es dann doch soweit, dass nur noch ein Anstreicher an der Ladeneinrichtung zu tun hatte. Der stellte in die Mitte des grossen Zimmers einen Koksofen und machte es sich gemütlich. Täglich kam ich nachsehen, wie weit die Arbeit wohl gediehen sei, enthielt mich dabei jedoch jeder Kritik, da einmal, als ich doch etwas zu sagen gewagt hatte, angedeutet wurde, dass mich 56

„So nannte man damals die meist guten, aber billigen Wirtschaften, die über das ganze Berlin verstreut waren. Sie lagen zum Teil unter dem Straßenniveau, so daß man nur durch ein paar abwärts führende Stufen hineingelangen konnte. Hier versammlten sich gewöhnlich die Droschkenkutscher, überhaupt Wagenführer aller Art, bis hinab zum besser situierten Hundefuhrwerksbesitzer. Dienstmänner und Marktweiber ergänzten häufig das bunte Bild der Besucher. Obwohl auch ein Rum oder ein "Nordlicht mit Luft', ein Gilka, zu haben waren, so bildeten der Kaffee, gute Milch und eine eigenartige Schokolade das Hauptgetränk der Kaffeeklappenbesucher während der kälteren Jahreszeit" (Hans Fechner, Eine Jugendgeschichte aus dem vorigen Jahrhundert, Berlin 1911, S. 182). Die Kaffeeklappe der SAG war strikt darauf ausgerichtet, die umwohnende Bevölkerung vom Alkohol ferzuhalten. Äußerlich war sie wie eine der üblichen Kneipen aufgemacht, „mit Theke, runden Holztischen, Stühlen und Hockern und "möglichst einem Volltheologen als Budiker!' Zum Verkauf kamen Kaffee, Limonade, Weißbier, Schrippen, Schnecken oder ähliches einfaches Gebäck. Das alles zum denkbar niedrigsten Preis, aber keinesfalls geschenkt; man bezahlte, man war Kunde. Hier konnte man dann bei einer Tasse Kaffee zu 5 Pfennig stundenlang sitzen, mit den Kameraden Skat, wohl auch Mühle oder Dame oder gar Schach spielen, oder auch einfach sich unterhalten. Es gab keinen Zwang, nicht einmal eine Andeutung, daß man etwas "verzehren', daß man eine Zeche machen müsse, in dieser merkwürdigen Kneipe" (Erich Gamm, Bilder aus der Arbeit, in: Lebendige Ökumene. Festschrift für Friedrich Siegmund-Schultze zum 80. Geburtstag, Witten 1965, S. 93). das nichts angehe. Dieses Mundpflaster vermochte meine Ungeduld jedoch nicht ganz totzumachen. Als ich mich wieder einmal sehen Hess, weil die Arbeit des Anstreichers krebsartig ihren Fortschritt nahm, da erlaubte ich mir höflich zu fragen, wie lange er hier noch zuzubringen glaube. Er fuhr mich, wie ich es auch erwartet hatte, grob an: „Was verstehen Sie überhaupt von der Arbeit?!" Worauf ich ihm zu verstehen gab, in wieviel Fabriken ich gearbeitet

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hätte, und erläuterte ihm auch die Arten meiner geleisteten Arbeiten. Zum Schluss sagte ich ihm mit Nachdruck: „Das erzählen Sie jenen, die von der körperlichen Arbeit nichts verstehen. Das, was Sie hier noch zu tun haben, kann höchstens zwei Tage dauern, brauchen Sie länger, dann passen Sie auf, was ich Ihnen erzählen werde". Die Räume wurden, wie ich geschätzt hatte, am dritten Tag frei. Wir konnten einziehen. Die alkoholfreie Kneipe war von vornherein auch als eine Stätte für die Mitarbeiter gedacht. Es sollte für sie eine Gelegenheit sein, Menschen auch des fünften Standes kennenzulernen, psychologische und soziale Kenntnisse zu sammeln, um so in die tiefsten Abgründe des Volkslebens einen Einblick zu bekommen, vielleicht sogar sich in der Rettungsarbeit zu versuchen. Die Getränke, die wir führten, waren folgende: Apfelsprudel mit Citronenbeigeschmack war das Hauptgetränk, so wie es in anderen Kneipen das Bier ist. Ein Becher kostete lOPf. Vom Römertrank, einer Himbeerart, wurde die gleiche Menge für dasselbe Geld verabreicht. Ausser diesen beiden Getränkearten hatten wir auch alkoholfreie Liköre wie Rum, Kirsch, Waldmeister usw.. Statt Kaffee, weil keiner zu haben war, machten wir Brühe von Würfeln. Die Fläche des Ladens ergab 20 qm. Durch das Ladenpult und das dahinterliegende Schankregal sowie zweier Tische für die Gäste, blieb nicht mehr allzuviel Platz übrig. Gäste, die sich da hereingefunden hatten und auch fernerhin der Stamm blieben, waren Jugendliche von 15 bis zu 20 Jahren. Sehr selten verirrte sich ein erwachsener Mensch herein. Die jugendlichen Gäste waren zum Teil solche, die auf dem Güterbahnhof mit dem Ausladen und Abfahren der Güter zu tun hatten. Es gab allerdings auch solche unter ihnen, die auf dem Bahnhof nichts zu suchen hatten, die sich unter den verschiedensten Vorwänden dort einschlichen und stahlen, was sich nur irgendwie stehlen Hess. Gelang es ihnen nicht, das Diebesgut auf die ausfahrenden Pferdewagen zu verstauen und es zum Tor hinauszubringen, dann wurde versucht, es über den Zaun zu transportieren. Meistens aber gelang es ihnen auf dem ersteren Wege. Fühlten sich doch alle, die da irgendwelche Beschäftigung hatten, solidarisch, halfen einander wo und wie sie nur konnten. Und wer der frechste und waghalsigste war, der hatte eben die besten Chancen, nicht in die Hungersnot so tief hineinzugeraten wie andere, in die Not, wie sie in dem Kohlrübenwinter von 1916 bis zum Jahre 1917 herrschte. Das war auch der Grund, weshalb die Jugendlichen lieber diesen Weg gingen, statt in einer Fabrik mit geregelter Arbeitszeit zufrieden zu sein. Was nützte jemandem das ehrlich verdiente Geld, wenn er keine Ware dafür bekam! Deshalb schien jedem der andere Weg besser, auf dem sich direkt etwas zum Beissen ergattern ließ. Was die jungen Diebe nicht für ihr Elternhaus für nötig hielten, das wurde ihnen von den Nachbarn freudigst 58

abgekauft. So zog sich ein breiter Ring um die Diebe, Menschen, die sich an dem Diebstahl interessierten, ohne moralische Bedenken und Gewissensbisse. Die Jungen fühlten sich nun in der Welt der Erwachsenen als hochgeschätzte Persönlichkeiten. Sie wurden mit der Steigerung dieses Gefühls immer frecher. Das bekamen auch wir in unserer Kneipe in reichem Maße zu spüren. Deshalb mußte hier eine ganz andere Methode angewendet werden. Die Jungen benahmen sich manchmal mit den Getränken so übermütig, dass sie sich damit gegenseitig bespritzten. Oder sie machten Anstalten zu einem Ringkampf, warfen Tische und Stühle um und führten zotige Redensarten. Das konnte natürlich nicht geduldet werden. Aber mit beschwichtigendem Zureden war da eben nichts zu machen! Ich musste also nach einem anderen Mittel sinnen. Schliesslich fand ich einen 35 cm langen und 8 cm breiten Riemen. Den schnitt ich in 7 Striemen, band sie an einem Ende mit Draht zusammen, hing sie an ein aus einem Wasserschlauch gemachtes Heft und ein Karwatsch war fertig. Der lag von nun an unter dem Pult an der Seite, von der aus wir bedienten. Dann gab ich ihnen zu wissen, dass ich sie nur einmal um Ruhe bitten würde, was nachher folgen würde, wenn sie nicht hören sollten, das würden sie sehen. Sie liessen es aber doch hin und wieder darauf ankommen. Da tanzte jedesmal mein Karwatsch ohne Worte, ohne Zögern auf ihren Buckeln. Allmählich zogen sie doch daraus eine Lehre und passten auf, ob ich mich nach dem Karwatsch bückte. War es der Fall, dann lief alles fluchtartig nach der Ausgangstür, und ich musste eilen, dass ich noch einige von ihnen mit dem Instrument erwischte. Das musste mit einer Entschlossenheit und Furchtlosigkeit geschehen wie beim Blücher, wie es im Volksmunde heisst. Es könnte als eine Eigentümlichkeit erscheinen, dass es kein einziger von ihnen wagte, mir weder mit dem Wort noch mit der Handlung zu widerstehen. Meine Frau sagte manchmal, wenn abends der Laden geschlossen war und wir uns allein befanden: „Ich zittere zuweilen vor Angst, wenn ich Dich so losgehen sehe. Denn es sind doch auch kräftige Burschen dabei." Unter ihnen war ein gut entwickelter Bursche von 18 Jahren. Der pflegte zu gern mit seinen Muskeln zu prahlen, indem er den Rock auszog und die Hemdsärmel heraufstreifte. Als er eines nachmittags mit einem anderen Burschen, der körperlich nicht schwächer, doch etwas jünger und kleiner war, allein an einem Tisch sass, da gerieten sie in Streit miteinander. Der Athlet, wie er sich auch nannte, sprang auf und gab dem andern ein paar Ohrfeigen. Ich sass hinter dem Pult und beobachtete den Vorgang, mit einem Sprung jedoch war ich bei ihnen und gab dem Athleten rechts und links eine Ohrfeige wieder. Keinen Widerstand leistend, Hess er sich sachte auf seinem Stuhl nieder; so feige war er und so waren sie fast alle. Zwei von ihnen wurden dann auch zum Militär einberufen, obwohl man nach ihrer körperlichen Beschaffenheit hätte 59

denken können, dass Deutschland keine anderen mehr habe, wenn es die braucht. Doch um Dummheiten zu machen, dazu waren sie gut genug. Nachdem sie einige Wochen Militärdienst getan hatten, kamen sie beide zu Besuch, auch zu uns. Da fing das Leben in unserem Lokal an, bunt zu werden. Wieder sprang ich hin zu ihnen, doch diesmal ohne Karwatsch, packte die beiden Soldaten mit meinen Händen und ehe sie sich versahen, waren sie draussen vor der Tür, dann kamen die anderen Übertäter an die Reihe. Nach solchen Aufräumungsarbeiten hätte man befüchten können, dass diese Gesellschaft einem nie wieder zu nahe käme. Das war aber anders. Zehn Minuten später fanden sie sich gewöhnlich wieder ein. Dann benahmen sie sich wieder eine ganze Weile anständig. Meine Familie hätte nicht so mager leben oder gar hungern müssen. Diese Gesellschaft hätte uns mit allem möglichen versorgt, wenn es nur unser Wille gewesen wäre. Das konnten und durften wir nicht. Denn wir standen auf einem Posten, wo pädagogische Aufgaben zu erfüllen waren. Wir hätten es kaum nötig gehabt, uns von der geschenkten und mit der Kaffeemühle geschroteten Gerste einen Brei zu kochen. Wer Lust verspürte, mit Murmeln zu spielen, der konnte auch diese haben. Eines Abends kam ein Junge namens Adam, von dem vorher die Rede war, wie er von dem Athleten geohrfeigt wurde, schelmisch lächelnd in unsere Kneipe mit einer langen Wurst über der Schulter: „Du, Adam, die hast Du gestohlen!" sagte ich ihm mit Bestimmtheit auf den Kopf zu. „Was, die habe ich eben billig gekauft", verteidigte er sich und lachte mir hellauf ins Gesicht, als hätte er das grosse Los gewonnen. Am andern Tag wussten wir, meine Frau und ich, wie er zu der Wurst gekommen war. Auf der Strasse Am Ostbahnhof kam ein Pferdeschlächter mit seinem Wagen, in dem er Wurst hatte, gefahren, blieb vor einer Gastwirtschaft stehen, schloss die in der Rückwand des Wagens eingebaute Tür auf und holte einige Würste heraus. Nachdem er die Tür wieder verschlossen und den Schlüssel abgezogen hatte, ging er mit der Ware in das Geschäft. Als er dann in die Fruchtstrasse weiterfuhr, und von dieser in die Koppenstrasse und dann weiter bis zur Andreasstrasse, wurde er von Adam und Genossen vefolgt und beobachtet, die nur auf den Moment warteten, dass er es mal vergessen würde, den Schlüssel abzuziehen. Erst in einer entfernteren Gegend von uns, in der Köpenicker Strasse, Hess er den Schlüssel dann doch stecken. Während er in einem Geschäft wieder seine Lieferung abwickelte, stahlen die Burschen ihm soviel von der Wurst, was sie nur fassen konnten. „Sie sind wohl des Teufels!" rief der überschlaue Adam, sich nicht genug wundernd, als wir ihm entgegenhielten, wie er in Wirklichkeit die Wurst erwarb und ihm auch noch den Weg bis nach der Köpenicker Strasse beschrieben. 60

Die Methode, um dies zu erfahren, war viel einfacher als es sich dieser gerissene Bursche vorstellte. Meine Frau war frühmorgens immer die erste im Laden. Wenn sie am vorangegangenen Tage etwas Verdächtiges bei den Jungen vernahm, da war sie wie ein Detektiv hinterher, um den Sachverhalt aufzuklären. Der erste von denen, der den Laden betrat, wurde ganz unauffällig ausgeforscht. Sie verstand es meisterhaft, eine so vertrauenserweckende Miene aufzustecken und die Fragen so zu stellen, dass die Burschen immer ins Garn gingen. Die beste Gelegenheit, um auf dem Güterbahnhof ein „Ding zu drehen", war immer die Dunkelheit gegen Abend. Sonst hielten sie sich tagsüber bei uns auf. Einer, manchmal auch mehr, waren unterwegs und kundschafteten aus, was auf dem Güterbahnhof angekommen, auf welchem Gleise es stehe und wie am leichtesten heranzukommen sei. Diejenigen, die zum Ausladen irgendwelcher Ware zeitweise Anstellung fanden, leisteten ihnen dabei gute Dienste. Der Torwächter vermochte bei dem starken Verkehr nicht zu kontrollieren, wer da arbeite oder nicht. Wurde aber doch der eine oder andere dem Wächter dadurch bekannt, wenn er beim Stehlen erwischt wurde, so gab es noch andere, die auf den Bahnhof gelangen konnten. Man lauerte auf dem Küstriner Platz einen bekannten Kutscher ab, stieg auf seinen Wagen, kroch unter eine Pferdedecke und kam so, von dem Torwächter unbemerkt, durch das Tor. War es ein Kohlenkutscher, so brachte diese Methode auch ihm einen Vorteil. Er nahm nicht nur einen, sondern gleich drei Burschen auf den Wagen, dieser wurde auf dem Bahnhof abgewogen, die Burschen dann heruntergezaubert und der Wagen wieder mit Kohlen beladen. Was die Jungen mehr wogen als der leere Wagen, soviel ungefähr wurde dann draussen von den Kutschern verschoben, und auf diese Weise ein Nebenverdienst erzielt. Manchmal hatten die Burschen nicht einmal so viel Geld am Tage, dass sie ein Glas Apfelsprudel hätten trinken können. Gepumpt wurde nichts. Aber abends gegen sechs kamen sie polternd und guter Dinge hereingestürmt und zogen die Geldscheine nur so aus den Westentaschen. Der Römertrank wurde flaschenweise getrunken. Da wussten wir gewöhnlich, dass wieder einmal ein Ding gedreht worden ist. In diesen Augenblicken aber war nichts zu erfahren. Als sie eines abends wieder so gelaunt hereinstürmten, da erfuhren wir am andern Tage, das ihrer vier Mann sieben Gänse aus einem Waggon gestohlen hatten und einer von ihnen beinahe erwischt worden wäre. Am tollsten trieben sie es an einem Freitag. Sie stahlen 26 Kisten Kunsthonig und schafften sie über die Mauer, dann durch ein Haus in der Friedrichsfelder Strasse, deren eine Häuserreihe dicht am Güterbahnhof liegt. Diesmal lief aber die Sache nicht so glatt ab wie sonst in den meisten Fällen. Die Polizei machte Haussuchungen. Auch ich wurde damit bedacht. Die Konzession ging auf meinen 61

Namen. Ich war auf dem Polizeirevier als Gastwirt eingetragen, und weder die Polizei noch die anderen Leute in der Nachbarschaft, die mich wenig oder gar nicht kannten, machten einen Unterschied zwischen mir und anderen Budikern. Gefunden wurde weder bei mir noch bei anderen etwas. Meine Lust zu dieser Beschäftigung war indessen sehr gesunken, zuletzt ist sie aber vollends gebrochen worden. Unsere Arbeit nahm von sieben Uhr morgens bis 10 Uhr abends kein Ende. Die Gastwirtschaft, die Gartenarbeit, die Klubs, deren Zahl immer weiter stieg, ein Dutzend Schutzaufsichten und andere Aufgaben noch dazu, dies alles lag auf mir und meiner Frau. Die paar Musterproben, von denen ich erzähle, sind nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was wir tatsächlich erlebt haben. Daran anschliessend möchte ich aber noch einen Fall erleben, der meiner Frau unterlaufen ist. Ein Knabe von 13 Jahren kommt in den Laden, er bestellt für sich und zwei anderen Jungen je ein Glas Römertrank. Nachdem er dies noch zweimal wiederholte, legte er einen Fünfzigmarkschein auf das Pult. Die Zeche betrug 90 Pfennige. „Woher hast Du soviel Geld?" fragte ihn meine Frau. „Das ist mein Geld,das habe ich mir gespart und aus der Sparbüchse genommen!" antwortete er verlegen. „Wissen Deine Eltern davon?" erkundigte sich meine Frau weiter. „Ich habe nur Pflegeeltern." „Dann nimm Dein Geld und bringe es nach Hause!" riet sie ihm und versuchte ihm klarzumachen, welchen Verdruss er seinen Pflegeeltern bereiten würde, wenn er das Geld verlumpe usw.. Wie wir nachher erfuhren, ging er mit dem Gelde nicht nach Hause. Einige Jungen schlossen sich ihm an und es gelang ihnen, ihn zu überreden, einen Bummel durch die Stadt zu machen. Sie wanderten durch die Paul Singer Strasse und kauften sich dort Zigaretten, Schokolade und Getränke. Von hier nahmen sie ihren Weg nach der Alexanderstrasse, und landeten schliesslich später in der Passage Unter den Linden. Überall Hessen sie es sich gutgehen. Sicher hätte dem Fall vorgebeugt werden können, wenn meine Frau die Möglichkeit gehabt hätte, das Geschäft zu verlassen und wenn beide Eltern nicht auf Arbeit gewesen wären. Der Leser soll sich aber nun nicht dem Glauben hingeben, dass ich mich mit all diesen Burschen herumgeschlagen habe. Wenn der Sturm vorüber war, gab es auch wieder gutes Wetter. Nach solchen Unterbrechungen walteten die Höflichkeit und Liebe ihres Amtes weiter, aber Liebe, die streng und unnachsichtig ist gegen alles Unrechte. Meine Frau und ich unternahmen mit ihnen Spiele, lasen ihnen Geschichten vor und erzählten ihnen dieselben, die wir für diesen Kreis als passend hielten. 62

Öfter erkundigten sich Mütter bei uns nach ihren Jungen. Meistens taten sie das erst dann, wenn ihr Junge kein Geld zu Hause abgab, sich keine dauernde Arbeit suchte und obendrein noch frech und grob wurde. Das gab mir jedesmal Anlass, dieses Früchtchen vorzunehmen. Ihre Handlungsweise wurde immer in meiner Schreibstube unter vier Augen ausgetragen, so dass mancher mit tränenden Augen vor mir stand, indem ich ihm in väterlicher Weise die ganze Situation, in der er nun lebte, zum Bewusstsein brachte, bis sie einwilligten, eine dauernde Arbeit anzunehmen. Ich verfügte damals stets über Arbeitsstellen. Dadurch war es nicht gar zu schwer, helfend einzugreifen. Heute sind sie alle Männer. Mancher kommt mir noch heute entgegengesprungen, wenn er mich auf der Strasse erblickt, und erinnert mich an die Zeit, zu der er bei mir Römertrank und Apfelsprudel trank. So heisst es unter anderem: „Es ist doch schön gewesen!" Nur zwei von ihnen sind auf der schiefen Bahn geblieben. Der eine war damals 15 Jahre alt, Sohn einer benachbarten Witwe, schwächlich im Wuchs wie auch am Körper und sehr schmutzig. Vielleicht kam es daher, weil er in einer Schraubenfabrik arbeitete und mit der Kriegsseife der Dreck nicht herunterzukriegen war. Er gals sonst als ein ruhiger Kerl, aber auch als ein leidenschaftlicher Kartenspieler. Heute geht er fein und sauber angezogen. Arbeit braucht er nicht mehr. Er hat sich zum Professionsspieler entwickelt, und spielt an den Rennbahnen und wo sich ihm sonst noch Gelegenheit dazu bietet, wie ζ. B. das sogenannte „Blümchenspiel" mit drei Karten. So verdient er einmal viel Geld, das andere mal ist er wieder so blank, dass er mich auf der Straße anzupumpen versucht. Der andere, Sohn eines Tischlermeisters, der schon als Knabe sich überaus gern mit dem Kartenspiel beschäftigte, ist mit ihm in der Veranlagung verwandt, er schlug diesselbe Laufbahn ein. Beide spielen nicht nur auf den Rennbahnen, sondern sie gehen auch aufs Land unter die Bauern, ja sie fleddern die Menschen sogar in Eisenbahnzügen, indem sie ein harmloses Spiel zum Zeitvertreib beginnen. Gelingt es ihnen, die mitreisenden Gäste zum Mitspiel zu veranlassen, dann wird bald zum Glücksspiel geschritten, wobei die Fremden totsicher ihr Geld verlieren. Beide Burschen haben deswegen schon mindestens ein Dutzend Gefängnisstrafgen verbüsst, aber sie lassen davon nicht ab, sie sind nur vorsichtiger geworden. Der letzte hatte nach seiner Schulentlassung so oft gestohlen, dass er schliesslich 9 Monate Gefängnis bekam. Das ging ihm nun doch ein wenig nahe, so dass er sich vornahm, wirklich ein anderes Leben zu beginnen. Aber auch bei ihm blieb es nur beim Vorsatz. Auch mein Zureden, da er unter meiner Schutzaufsicht stand, nutzte nichts. Noch mit einem andern hatten wir grosse Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten. Eines Tages besuchte mich ein 18j ähriger Bursche. Er überreichte 63

mir eine schriftliche Empfehlung von Siegmund-Schultze. Der Bursche sei, als er noch in der Friedenstrasse gewohnt habe, Mitglied eines Knabenklubs gewesen. Seine Mutter, die ihn ledig hatte, sei nach Berlin Nord, in die Heidestrasse gezogen, wodurch der Junge die Verbindung mit der S.A.G. verloren haben sollte. Da er nun wieder Anschluss suche, soll ich mich seiner annehmen. Seine Mutter arbeitete in der Molkerei von Bolle und war den ganzen Tag nicht zu Hause. Er war ein stattlich gebauter Mensch und benahm sich auch manierlich. Seine Gesichtszüge Hessen ein Intelligenzvermögen vermuten, so dass er von den übrigen bei uns verkehrenden Gästen sehr abstach, und wir ihm ohne zu zögern auch bald Familienanschluss gewährten. Und so ging das eine lange Zeit fort. Einen jeden Tag gegen fünf Uhr nachmittags Hess er sich bei uns sehen, verzehrte sein Abendbrot, unterhielt sich nachher mit uns, mit meinen Kindern oder mit den Gästen. Spiele, wie Schach, Damenbrett, Quartetts usw. waren stets da. Er half uns räumen, als wir dann unsere Schlafstube nach dem Quergebäude verlegten und machte so allerhand Handgriffe. Als ich einmal von dem Gartenverein „Berliner Grosstadtbauern", dessen Mitglied die S.A.G. war, eine Einladung zu einer Jahresversammlung erhielt, erklärte sich der Bursche bereit, mich dahin zu begleiten, um so auch zu sehen, wie es in solchen Zusammenkünften zugeht. Als dann die Stunde zum Aufbruch kam, zeigte sich bei ihm wenig Lust, als ich ihm auf seine Einwände, dass er kein Geld habe, versicherte, für ihn, was er verzehre, zu bezahlen, kam er schliesslich doch mit. Es mochte so um 12 Uhr mitternachts gewesen sein, als wir uns auf dem Rückwege auf dem Küstriner Platz trennten. Am folgenden Morgen, nachdem meine Frau aufgestanden und sich nach den vorderen Zimmern begeben hatte, kam sie fast atemlos in das Schlafzimmer zurück: „Du, bei uns sind sie heute nacht eingebrochen!" Ich stand auf und sah mir die Bescherung an. Alle Türen standen offen. Getränke und Zigaretten fehlten, verschwunden waren auch sämtliche Brot- und sonstige Karten. Sogar von dem Brot, welches in der Brotbüchse lag, war nichts mehr zu sehen. Der Dieb hatte sich, wie das Messer und das Glas auf dem Tisch in der Küche zu erkennen gab, bevor er fortging, noch satt gegessen. Aus der Tür zu meiner Schreibstube hatte er die eine Hälfte der Füllung herausgehoben, welcher Grund dafür vorhanden war, zeigte sich erst, als wir die Tür aufschlossen: beide Flügeltüren des Schreibtisches waren gewaltsam aufgebrochen worden. Dazu wurde, wie die Spuren zeigten, ein Stemmeisen verwendet. 600 Mark, die sich im Schreibtisch befanden, waren auch dahin. Wir benachrichtigten sofort die Polizei. Ein Kriminalwachtmeister kam, sah sich die Sache an und fragte, ob wir jemanden in Verdacht hätten. Wohl hatten wir den oder jenen in Verdacht, aber das war nur ein Raten. Der Wachtmeister fragte auch einige aus, herauszukriegen war aber

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nichts. Es ergab sich nirgends der geringste Anhaltspunkt. So blieb weiter nichts übrig, als auch fernerhin zu beobachten. Und unser Bemühen blieb auch nicht ohne Erfolg. Unser Freund B., dem Siegmund-Schultze schickte, lenkte sehr bald die Aufmerksamkeit auf sich. Er brachte bald ein ganzes, bald ein halbes Brot und grosse Stücken Wurst, und ass sich vor unseren Augen nach Herzenslust satt. Es ist wohl nur Pferdewurst gewesen, aber solche Mengen waren eben zu der Zeit doch nicht so leicht zu ergattern. Weitere Nachforschungen brachten uns zur Kenntnis, dass er in anderen Gastwirtschaften Zechen bis zu 50 Mark für seine Kameraden bezahlte. Für uns stand es fest, dass kein anderer als er der Dieb gewesen sei. Dies reichte noch nicht aus, um ihn überführen zu können. Unser Sinnen ging nur noch dahinaus, mit welcher Leimrutenart man ihn fangen könnte. Wie er wieder eines abends zur Ladentüre hereintrat, sprang ihm meine Frau mit den Worten entgegen: „Ach, bitte Richard, Sie haben immer Brotkarten einstecken, könnten Sie mir nicht wenigstens einen Abschnitt davon ablassen?" Er zog grosszügig seine Ledertasche heraus und reichte ihr den begehrten Abschnitt. Überraschenderweise ist es zu seinem Unglück und - zu unserer Freude jener Abschnitt gewesen, der die Seriennummer zeigte, die auf unseren Namen eingetragen war. Ich nahm mir nun den Burschen auf mein Zimmer und drang auf ihn ein: „Sagen Sie mir, wie Sie zu der Brotkarte gekommen sind? Sie sind uns doch gestohlen worden. Er wurde kreideweiss, am ganzen Körper zitternd hielt er sich an der Türklinke fest, sonst wäre er wohl umgefallen. „Ich habe sie auf dem Alexanderplatz gekauft!" stotterte er. Blitzschnell schoss mir der Gedanke durch denKopf: hier musst du einmal glauben. Denn so etwas war bei der Kartenschieberei schon möglich. Das konnte sogar dem Gericht glaubhaft erscheinen. Das gab ihm eine Ruhe wieder. Die war aber nur scheinbar. Dass er im Verdacht steht und beobachtet wurde, witterte er doch. Als meine Frau ihn und seine Mutter in der Wohnung aufgesucht hatte, und er am folgenden Tage wieder bei uns mit einem anderen Burschen allein am Tisch sass, da erzählte er demselben: gestern abend sei eine Frau im schwarzen Mantel in seiner Wohnung gewesen, die habe sich nach ihm erkundigen wollen, seine Mutter sei aber nicht daheim gewesen. Man habe ihn im Verdacht, dass er der Einbrecher sei. Das Hesse er sich nicht gefallen und wird sich bei seinem Vormund beschweren. Der müsse ihm helfen. Meine Frau hörte dem Gespräch zu und verstand wohl, dass es auf sie ge65

münzt war. Sie führte ihn in das Zimmer nebenan und gab ihm mit Nachdruck zu wissen: „Was, Sie wollen mir mit Ihrem Vormund drohen?! Wir haben so viele Beweise, die gegen Sie sprechen, dass nur Sie der Dieb gewesen sind und kein anderer!" Er leugnete immer noch. Sie hiess ihn dann, sich mit ihr an den Tisch zu setzen, hielt ihm die ganzen Beweise vor, schlug darauf einen mütterlichen Ton an und redete ihm zu, dass er wohl bei uns Geld gesehen habe und da sei er sicher in einer schwachen Stunde in die Versuchung geraten, sich auf diese Weise dasselbe zu verschaffen. Er schwieg. „Nun gut! Keine Antwort ist auch eine Antwort!" sagte sie und forderte ihn auf zu erzählen, wie er es angestellt hat. Noch bevor wir miteinander in die Versammlung des Gartenvereins gingen, öffnete er in dem nach dem Hof liegenden Zimmer die Fensterflügel. Und als wir uns auf dem Rückwege am Küstriner Platz trennten, bummelte er noch eine Stunde in den benachbarten Strassen herum. Nachher ging er in unser Haus, stieg durch das Fenster in ein Zimmer, von dem aus er nach dem Laden gelangte. Die übrigen Türen und meinen Schreibtisch erbrach er mit einem Stemmeisen, das sich in meinem Werkzeugkasten befand. So erzählte er das haarklein. Ich nahm von einer Strafanzeige Abstand. Dafür schloss ich mit ihm einen gewissen Vertrag. Es wurden ihm folgende Bedingungen gestellt: Erstens, dass er sich unter meine Aufsicht stellt und zweitens, dass er mir das entwendete Geld ratenweise abzahlt. Darauf ging er gern ein. An einem Abend aber, nachdem einige Wochen dahigegangen waren, stand er mit mehreren Genossen vor der Ladentür und drückte sich dort eine zeitlang herum. Es schien mir, als hätte er gegen mich etwas vor. Ich nahm meinen Karwatsch, trat hinaus und erteilte ihm eine Tracht Prügel. Damit war die Sache für uns erledigt. Eine weitere Entschädigung war die, dass ich seine 400 Mark auf der Zwangssparkasse, die während der Kriegszeit für Jugendliche bestand, beschlagnahmte. Er war ein uneheliches Kind. Ein Arzt soll, wie seine Mutter mir sagte, der Vater sein. Dass der Junge sich zu Hause nicht wohl fühlte, wunderte mich gar nicht. Selten fand ich eine so armselige und schmutzige Wohnung vor, wie die ihrige. Es war eine Kellerwohnung aus Küche und Stube bestehend. Ein alter Tisch, ein paar Stühle und so etwas wie Betten standen darin, sonst weiter nichts. Lumpen und alte Wäsche lagen in allen Winkeln. Unabgewaschene Töpfe, grosse und kleine, standen überall in der Küche und Stube umher. Kindern aus einem solchen Hause Kultur beizubringen, ist schwer! Und mit noch zwei anderen bedachte mich Siegmund-Schultze. Ein junger Mann von ungefähr 25 Jahren bettelte am Schlesischen Bahnhof eine Gräfin 66

an. Diese schickte ihn zu Siegmund-Schultze und er beförderte ihn weiter zu mir mit der Bitte, mich seiner anzunehmen und ihn mit allem, was er brauche zu versorgen. Er war also arbeits- und mittellos und hatte, wie die Berliner sagen, keine Bleibe, kein Obdach. Nach seiner Angabe war er Kriegsbeschädigter. Seine Papiere, die er mithatte, zeigten, dass er Eisendreher sei. Ich wies ihm eine im Quergebäude leerstehende Stube an, in der ein Bett, Tisch und Stühle und auch ein Schrank standen. Das letzte Möbelstück brauchte er gar nicht, da er nicht mehr besass, als was er auf dem Leibe hatte. Die Kost bekam er bei uns. Dazu erhielt er, wenn er auf Arbeitssuche ging, noch eine Mark Zehrgeld. Da er als Dreher auch eine Richtlehre haben musste, ging ich mit ihm in eine Eisenhandlung, Hess ihn eine solche aussuchen und bezahlte sie. Ihm das Geld zu geben und allein gehen zu lassen, soviel traute ich ihn nicht zu. Alles, was ich ihm vorschoss, sollte ich aufschreiben. Er kam bald mit der Kunde, dass er Arbeit gefunden habe. Dann ging er regelmässig morgens fort und kam gegen fünf Uhr nachmittags wieder. Die eine Mark Taschengeld wollte nun nicht mehr reichen. Unter irgendeinem Vorwand verlangte er hin und wieder zwei bis drei Mark. Da hiess es bremsen. Als er aber ein paar Mal hintereinander schon um die Mittagszeit nach Hause kam, mit der Ausrede, dass sein Betrieb keine Kohle habe, wurden wir stutzig und misstrauisch. An einem Nachmittag, an dem er wieder arbeitsfrei war, wie er behauptete, drängte ihn meine Frau, er möge sich die Brot- und sonstigen Karten besorgen. Es war schon spät geworden, als er mit trauriger Miene zurückkam. „Denken Sie, was mir passiert ist!" fing er an, sich zu entschuldigen, „Ich habe die Karten verloren." „Das können Sie erzählen, wem Sie wollen, aber nicht uns. Sie haben die Karten verkauft und das Geld versoffen. Der Schnaps riecht Ihnen jetzt noch zum Halse heraus!" Bei dieser Abfuhr gelangte er auch zu der Erkenntnis, dass wir nicht glauben, dass er arbeite usw.. Ohne ein Wort zu widersprechen, weil er wohl merkte, dass hier mit faulen Ausreden nichts zu machen sei, verschwand er in seine Schlafstube. Am andern Morgen stellten wir fest, dass der Vogel ausgeflogen war und mit ihm das Ober- und Unterbett, Kopfkissen und Bettlaken. Meine Pelerine, die ich ihm geliehen hatte, weil er fror, wenn er den ganzen Tag draussen war, verschwand auch mit. Die Anzeige, die ich bei der Polizei machte, blieb ohne Ergebnis. Erst nach ungefähr einem dreiviertel Jahr bekam ich eine Vorladung vom Revier. Dort fragte man mich, ob ich den Mann gesehen habe, als er mit den Sachen davonging. Hätte ich ihn gesehen, dann wäre er wohl sicher nicht fortgekommen. Er hatte also auch anderwärts so gehandelt wie bei uns. Das habe ich aus dieser Vernehmung schliessen können.

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Einl8jähriger Bursche kam auch mit einer Empfehlung von SiegmundSchultze. Auch er hatte keine Bleibe und keine Arbeit und weder Kleingeld noch grosses Geld. Ich sollte ihn in dem Jugendheim, das wir unterdessen in dem Quergebäude für acht bis zehn Jugendliche eingerichtet hatten, unterbringen. Meine Nachforschungen aber ergaben, dass die Mutter des Jungen in Berlin-Lichtenberg eine Waschanstalt besitze und zum zweiten Mal verheiratet sei. Der Junge stammte aus der ersten Ehe. Mit beiden Eheleuten Hess es sich vernünftig reden. Die Frau meinte, der Kerl brauchte sich keine andere Arbeit zu suchen, wenn er zu Hause helfen würde und folgen möchte. Er sei aber faul, sei morgens nicht aus dem Bett zu kriegen, komme abends spät nach Hause und verlange obendrein noch viel Taschengeld. Nun habe er seine Sachen gepackt und sei losgegangen. Ihr Mann war derselben Meinung. Er schien mir kein Rabenvater zu sein. Dies zu wissen genügte mir, um dem Burschen ins Gewissen reden zu können. Als mir dann die Sache als genügend vorbereitet erschien, lud ich die beiden Eltern an einem Sonntag nachmittag zu mir ein, nahm den Burschen dazu und bot ihnen die Gelegenheit, sich vor mir offen auszusprechen. Die Sitzung dauerte vier Stunden und endete mit dem Ergebnis, dass der Junge mit nach Hause ging. Die Verhältnisse zu Hause waren für ihn förderlicher als unser Jugendheim. Wichtiger schien doch der Familienfriede! Das vorhin erwähnte Jugendheim brachte nicht viel Erfolg. Hier hätte ein pädagogisch erfahrener Hausvater seines Amtes walten müssen, um die halbstarken Jungen zu bändigen. Ein solcher war nicht vorhanden und hatte andere Arbeit genug. Die Hausverwaltung, die mir gleich nach unserem Einzüge aufgegeben wurde, konnte ich nicht länger ausüben. Nicht die übrige Arbeit hat mich so sehr daran gehindert, als gerade zwei Mieter der zweiten und dritten Etage des Vorderhauses.

Schutzaufsichten Der Winter 1916 war sehr kalt. Die Wasserleitungen , Ableitungsröhren, die Klosetts und sogar die Gasleitungen froren ein. Die Mieter hatten öfter kein Wasser. Ich befand mich stundenlang in den Kellern und versuchte die Leitungen aufzutauen. Ging ich die Treppe hinauf und begegnete dabei dem einen oder anderen der Mieter, so überschütteten sie mich mit Schimpfworten. In ihren Augen war ich ein Dummian, ein blöder Kerl, der von Hausverwaltung nichts verstand. Je öfter ich mir das anhörte, desto mehr kam ich hinter ihre Absichten, beide wollten gern Hausverwalter sein. Ausserdem kannten sie noch gar nicht den Zusammenhang zwischen mir und der S.A.G. 68

Einl8jähriger Bursche kam auch mit einer Empfehlung von SiegmundSchultze. Auch er hatte keine Bleibe und keine Arbeit und weder Kleingeld noch grosses Geld. Ich sollte ihn in dem Jugendheim, das wir unterdessen in dem Quergebäude für acht bis zehn Jugendliche eingerichtet hatten, unterbringen. Meine Nachforschungen aber ergaben, dass die Mutter des Jungen in Berlin-Lichtenberg eine Waschanstalt besitze und zum zweiten Mal verheiratet sei. Der Junge stammte aus der ersten Ehe. Mit beiden Eheleuten Hess es sich vernünftig reden. Die Frau meinte, der Kerl brauchte sich keine andere Arbeit zu suchen, wenn er zu Hause helfen würde und folgen möchte. Er sei aber faul, sei morgens nicht aus dem Bett zu kriegen, komme abends spät nach Hause und verlange obendrein noch viel Taschengeld. Nun habe er seine Sachen gepackt und sei losgegangen. Ihr Mann war derselben Meinung. Er schien mir kein Rabenvater zu sein. Dies zu wissen genügte mir, um dem Burschen ins Gewissen reden zu können. Als mir dann die Sache als genügend vorbereitet erschien, lud ich die beiden Eltern an einem Sonntag nachmittag zu mir ein, nahm den Burschen dazu und bot ihnen die Gelegenheit, sich vor mir offen auszusprechen. Die Sitzung dauerte vier Stunden und endete mit dem Ergebnis, dass der Junge mit nach Hause ging. Die Verhältnisse zu Hause waren für ihn förderlicher als unser Jugendheim. Wichtiger schien doch der Familienfriede! Das vorhin erwähnte Jugendheim brachte nicht viel Erfolg. Hier hätte ein pädagogisch erfahrener Hausvater seines Amtes walten müssen, um die halbstarken Jungen zu bändigen. Ein solcher war nicht vorhanden und hatte andere Arbeit genug. Die Hausverwaltung, die mir gleich nach unserem Einzüge aufgegeben wurde, konnte ich nicht länger ausüben. Nicht die übrige Arbeit hat mich so sehr daran gehindert, als gerade zwei Mieter der zweiten und dritten Etage des Vorderhauses.

Schutzaufsichten Der Winter 1916 war sehr kalt. Die Wasserleitungen , Ableitungsröhren, die Klosetts und sogar die Gasleitungen froren ein. Die Mieter hatten öfter kein Wasser. Ich befand mich stundenlang in den Kellern und versuchte die Leitungen aufzutauen. Ging ich die Treppe hinauf und begegnete dabei dem einen oder anderen der Mieter, so überschütteten sie mich mit Schimpfworten. In ihren Augen war ich ein Dummian, ein blöder Kerl, der von Hausverwaltung nichts verstand. Je öfter ich mir das anhörte, desto mehr kam ich hinter ihre Absichten, beide wollten gern Hausverwalter sein. Ausserdem kannten sie noch gar nicht den Zusammenhang zwischen mir und der S.A.G. 68

Nachdem ich es dann doch satt hatte, mich alle Tage beschimpfen zu lassen, bat ich Siegmund-Schultze, die Hausverwaltung jemand anderem zu übertragen. Auf seine Frage, wen er dazu nehmen soll, schlug ich ihm gerade diese beiden Männer, meine Feinde, vor. Von dem einen wusste ich, dass er mehr Wert auf den Titel legte als auf den materiellen Vorteil. Dem anderen lag daran, mehr Geld herauszuholen. Sie waren glücklicher als ich! Ich hatte zwei Feinde und sie jeder nur einen. Bei den darauffolgenden Verhandlungen mit den beiden ging natürlich der als Sieger hervor, dessen Angebot billiger war. Es war der Erstgenannte. Nun hatte ich wenigstens Ruhe! Unterdessen mussten auch die Schutzaufsichten erledigt werden. Das war immer meine Sonntagsarbeit. Nur die ganz naheliegenden Fälle erledigte ich an den Wochentagsabenden. Oder wenn ein Ermittlungsbericht geleistet werden sollte, man zu den Lehrern und Pfarrern gehen musste, um sich zu erkundigen, wie der Schutzempfohlene sich bei ihnen geführt hat, auch das musste wochentags ausgeführt werden. Denn am Sonntag ist die Schule geschlossen, die meisten Lehrer wohnen ausserhalb Berlins, die Pfarrer, die Sonntagsarbeiter, haben an diesem Tag ihre Köpfe voller Arbeit. Ich habe von jeher, vom pädagogischen wie auch vom soziologisch-familiären Standpunkte aus betrachtet, die Schutzaufsichten nicht für so erfolgreich angesehen, wie es so oft geschieht. Was kann man pädagogisch leisten - wenn man den Schützling in 14 Tagen einmal besucht, wenn man nachsieht, wo und wie er schläft, wie er arbeitet und wie er sich beträgt, was für eine Gesellschaft er hat, ob er ins Kino geht, Schundliteratur liest usw.; wenn schliesslich die soziologische Lage und die familiären Verhältnisse kein gutes Beispiel von sich geben; und vollends in der Familie eine pädagogische Ohnmacht herrscht! Hat da diese Arbeit etwa mehr als einen statistischen Wert? Sie kann allerdings noch für einen sogenannten Gebildeten aus der bürgerlichen Klasse hervorgegangenen und psychologisch strebenden Menschen einen Wert haben. Ich bedurfte solche Kenntnisse nicht erst dadurch zu erwerben. Habe ich doch schon als achtjähriger Knabe und später immer unter Lumpenproeltariern gelebt und gearbeitet. Da ich nun mit dieser Arbeit reichlich zu tun hatte, will ich davon einige Proben abgeben: Ein zwölfjähriger Junge steigt in den Garten eines Laubenkolonisten und nahm eine Handvoll Flieder heraus. Dabei wird er erwischt. Es folgt eine Anzeige bei der Polizei. Die gibt den Fall an die Staatsanwaltschaft weiter. Diese beauftragt die Kriminalpolizei zu recherchieren und klagt dann beim Jugendgericht. Von hier aus wurde die Sache der Jugendgerichtshilfe übermittelt. Die bittet irgendeine freiwillige Hilfsdienststelle, den Fall zu übernehmen, den Ermittlungsbericht zu machen und dann die Schutzaufsicht auszuüben. 69

Zum Schluss kommt es zur Gerichtsverhandlung. Der Junge bekommt einen Verweis und dann wird über ihn die Schutzaufsicht verhängt. Und ich ich laufe dann drei Jahre lang dem Bengel nach und schreibe Berichte über seine Führung. Unterdessen schmuggelt er sich mit mehreren Jungen auf den Frankfurter Bahnhof mit der Absicht, Konserven, gefüllt mit allerhand gutem Zeug, zu stehlen. Sie wurden verjagt, mein Schützling aber erwischt, weil er, wie seine Mutter mir sagte, immer der Dümmste sei. Dann wieder ist ihm ein kleiner Hund nachgelaufen, bis in die Wohnung. Wieder eine Anzeige! Solche Sachen machten auch wir, als wir so alt waren. Damals wurden aber solche Kleinfälle damit erledigt, dass es ein paar auf den Hintern gab. Wer sollte aber die Hemmungslosigkeit dieses Jungen eindämmen können, wenn er sehen muss, wie in seiner Familie Fleisch gegen andere Lebensmittel verschoben wurde. Ein 15jähriger Junge hat auch wieder gestohlen und wie oft schon! Nun wurde er zum dritten Mal erwischt. Seine Mutter, meine Nachbarin, wußte, dass ich mit solchen Angelegeneheiten zu tun habe, kam zu mir. Dass ihr Junge gestohlen hat, das machte ihr keine Sorgen. Sie fragte nur, wie hoch wohl die Strafe ausfallen würde. Ihr Mann kümmerte sich um seine Familie nicht. Von den 5 Kindern arbeiteten drei auf dem Güterbahnhof, die anderen beiden waren noch schulpflichtig. Die Not zwang die Kinder zum Diebstahl, und ihre Mutter war froh, wenn sie etwas nach Hause brachten. Ein in der Manteuffelstrasse wohnender 12jähriger Knabe stahl in einem Lebensmittelgeschäft drei Mark und fünfzig Pfennige. Da war es auch nötig, nach dem Rechten zu sehen. Diesmal war es aber eine gutbürgerliche Wohnung, in die einzutreten ich die Ehre hatte. Teppiche lagen vor der Korridortür bis in die Wohnstuben. Die Wohnung war fein eingerichtet, auch gepolsterte Sesseln fehlten nicht. Die Mutter des Jungen empfing mich sehr höflich, zeigte sich aber wie von einem grossen Unglück betroffen und fing gleich seufzend an zu erzählen, wie gut ihr Junge gewesen sei und nur die verfluchte Gesellschaft von unerzogenen Kindern habe ihn verführt. Mit solchen Klagen pflegen die Mütter einen immer zu empfangen. Bei weiteren Erkundigungen versicherte sie mir, dass sie alles tue, um den Jungen zufriedenzustellen. Das sei aber heute nicht so leicht wie früher. Ihr Mann war, wie sie mir sagte, Buchhalter in einer Fabrik. Auch ihr ältester Sohn war Beamter in demselben Betriebe. Sie selbst stammte vom Lande aus einem grösseren Bauernhof. So etwas, meint sie, sei in ihrem Elternhaus niemals vorgekommen. Auf die Aussagen der Mutter, dass ihr Junge ein gutmütiger und braver Sohn sei, pflege ich zu erwidern, dass gerade seine Gutmütigkeit seine Schwä70

che sei. Das sind die Jungen, die einen schwachen Willen besitzen und stets dem Willen anderer folgen, in böser wie in guter Tat. Nachdem, was ich über den Jungen erfahren konnte, Hess die Möglichkeit zu, für die Straftat mit zwei Ursachen zu rechnen oder mit beiden in gleichem Maße: mit einer latenten Veranlagung zum Diebstahl, oder es geschah aus Verwöhnung. Ich nahm das letztere an und kombinierte folgendermaßen: Diese Ehe gehörte in den Bereich der klugen Eheleute mit dem Zweikindersystem. Der ältere Sohn wuchs heran in der Zeit, als noch Wohlstand herrschte. Der zweite Sohn erfreute sich wohl derselben Affenliebe, aber da kam die Lebensmittelnot hereingebrochen und konnte seinen Wünschen und seinem verhätschelten Geschmack nicht so Rechnung getragen werden wie früher. Es gibt in keiner Familie so verweichlichte und verhätschelte Kinder wie in jenen, wo der Grundsatz des Zweikindersystems herrscht. Später hat der Junge sein Versprechen, das er mir gegeben, ein braver Junge zu sein, doch gebrochen. In ganz kurzer Zeit beging er zwei Mal hintereinander ganz raffinierte Betrügereien. Unter dem Namen eines Installateurs rief er in einer Fabrik telefonisch an, ob er Kupferdraht und anderes Hilfsmaterial bekommen könnte. Nach der Zusage bat er, dem Boten, den er schicken wird, die Ware auszuhändigen und zugleich die Rechnung mitzugeben. Der Bote war er selber. Die Rechnung machte 29 Mark. Kurz darauf machte er wieder eine Bestellung, diesmal aber in der Höhe von 600 Mark. In der Fabrik wurde man misstrauisch und liess ihn verhaften, als er kam. Diese Schutzaufsicht wurde mir abgenommen und einer anderen Person übertragen, weil sie sowieso ausserhalb der Grenze unseres Betätigungsfeldes lag. So erhielt ich keine Kenntnis davon, was mit dem Burschen geschehen ist. Ich hatte dann aber doch den Eindruck, dass er wohl mit einer leisen Veranlagung zum Diebstahl behaftet gewesen sein muss. Vielleicht wäre sie latent geblieben, wenn die Verwöhnung und die Not nicht hinzugekommen wäre! Der Sohn eines Schmiedemeisters in der Friedenstrasse stahl mit noch einem anderen aus der Kasse seines Lehrherrn 72 Mark. Sein um ein Jahr älterer Kollege, der in dem selben Betriebe lernte, wurde nach seiner Lehrzeit weiterhin beschäftigt. Beide lernten das kaufmännische Gewerbe. Die Eltern ernährten sich durch selbständige Führung einer Damenschneiderei. Sie waren schon älter und nach meinen Erkundigungen ehrwürdige Leute. Auch sie hatten nur zwei Kinder, den erwähnten Sohn und eine Tochter, die auch Kontoristin war. Es war der Wunsch der Mutter, dass der Sohn Kaufmann werden sollte. Beide Eltern fühlten sich über das, war ihr Sohn getan, höchst unglücklich. Wieder ist es die böse Gesellschaft gewesen, die den Jungen ver71

führte. Das schien diesmal aber auch wirklich der Fall zu sein! Der Diebstahl, den die beiden Burschen ausgeführt hatten, wurde vorher von ihnen gut durchdacht, und es hätte ihnen gelingen können, ungefährdet davon zu kommen, wenn die Polizei nicht so schlau gewesen wäre. Eines sonnabends, vor dem Verlassen des Büros entnahmen sie aus dem Kassenschrank die 72 Mark, öffneten die Fenster und gingen dann, die Kontotüre hinter sich verschliessend, von dannen. Dieses Verfahren sollte den Eindruck erwecken, als wären des nachts Diebe eingebrochen. Die Polizei aber hatte sich nicht täuschen lassen. Sie nahm sich die beiden Burschen vor, die dann den wahren Sachverhalt durch ein getreues Geständnis niederlegten. Beide wurden entlassen. Der Jüngere kam vor das Jugendgericht und der andere, da er bereits über 18 Jahre alt war, wurde von einem anderen Gericht abgeurteilt. Er erhielt 16 Monate Gefängnis mit Bewährungsfrist. Der andere kam mit einer geringen Strafe davon. Aber schon vorher hatte der letztere einen Diebstahl begangen, indem er aus der Kasse der Invalidenmarken 84 Mark nach und nach unterschlug. Sein Vater kam für den Schaden auf, der Lehrherr erstattete keine Anzeige, ja er behielt den Jungen sogar weiter in der Lehre. Beide Jungen waren Mitglieder eines Theatervereins, deren es in Berlin unzählige gibt und deren finanzielle Ansprüche über die eines Lehrlings gehen. Mein Schützling wurde, da für ihn nach dem letzten Diebeszug keine neue Lehrstelle zu finden war, Kistenbauer. Wie oft bereute er die Tat! Ich glaube auch an die Aufrichtigkeit seine Reue. Man darf die Jungen nicht alle über einen Kamm scheren. Es gibt solche, die ihrer Veranlagung folgen, andere handeln aus mangelhafter Überlegung, bubenstreichartig, und wieder andere werden von ihrer Umgebung animiert, wie ich es in diesem Falle erkannt zu haben glaubte. Die Freundschaft mit den Schützlingen ist immer lose. Etwas fester ist sie, solange wir nicht wissen, wie die Sache für die ausfällt und solange sich der Hoffnung hingeben können, dass man es ihnen leicht machen könnte. Nach der Gerichtsverhandlung, durch die sie erfahren woran sie sind, empfinden sie die Schutzaufsicht als überflüssig und lästig. Unsere Versuche, aus solchen Jungen Jugendklubs zu bilden, sind misslungen und zwar auch aus diesem Grunde, weil der Junge im Alter von 15 - 16 Jahren einen Kreis hat, eine innere Verwandtschaft, in der er sich wohlfühlt. Das trifft besonders bei dem ersten Typ zu. Aber auch die anderen beiden Typen, die noch etwas von Gewissenhaftigkeit verspüren und nicht an Rückfälligkeit denken, glänzen nicht gern vor Menschen, die von ihren Verhältnissen zu viel wissen. Auch dann, wenn man den Versuch macht, zwei oder drei solcher Jungen in dem Klub 72

unter die anderen zu mischen, wird man bald beobachten, wie die drei, auch wenn sie weit voneinander wohnen, sich zusammenfinden und in kurzer Zeit ein anderes Benehmen hereinbringen. Selten hält einer dieser Jungen eine längere Zeit aus, die mir von der Jugendfürsorge entweder für den Klub oder für die Jugendwerkstatt empfohlen wurden. Auch die fühlen schon etwas wie amtliche Aufsicht. Da ist eine straffere Einrichtung als die Klubs zu empfehlen, wo jeder freiwillig kommen und gehen kann. Für die Ermittlungsberichte sind die Erkundigungen in der Schule meist unbefriedigend. Die Lehrer wissen wohl, ob der Junge den von der Schule gestellten Anforderungen genügte oder nicht. Sie kennen aber die Familie und die Umgebung der Jungen nicht, können nicht sagen warum der oder jener so oder so geraten ist. So passierte mit ζ. B. folgende Sache: Durch meinen schulpflichtigen Sohn erfuhr ich, dass ein Knabe in seiner Klasse Onanie trieb. Ich ging eines morgens zu der Lehrerin und setzte sie davon in Kenntnis mit der Bitte, dies zu verhindern und sich doch mit der Mutter des Jungen in Verbindung zu setzen. Sie versprach mir, in der Klasse aufpassen zu wollen, aber mit der Mutter zu reden, dazu hätte sie zu wenig Zeit, weil sie in Karlshorst wohne. So musste ich die Angelegenheit erledigen. Die Mutter war die Frau eines Postsekretärs. Ihr Mann war an der Front und sie arbeitete in einem Kontor, von da sie erst abends nach Hause kam, so dass ihr Kind fast ohne Aufsicht dahinlebte. Nicht viel mehr wussten die Pastoren auszusagen. Sie erinnerten sich wohl des Namens und dessen, dass der Junge im Religionsunterricht nicht aufpasste, oder wie er sich irgendwelche Streiche zuschulden kommen Hess, nur davon, worüber ich eigentlich hören wollte, wussten sie sehr wenig zu sagen. Zu einem kam ich einmal drei Minuten nach seiner Sprechzeit, es war in der Friedenstrasse. Als ich läutete öffnete er selbst die Tür und wies dabei auf die Tafel, mit der Bemerkung, dass seine Sprechzeit bereits zu Ende sei. Auf meine Erklärung, dass ich in einer amtlichen Angelegenheit käme, zuckte er mit den Schultern und verschwand hinter der Tür. Einen anderen besuchte ich gegen Mittag. Auf dessen Schild stand nichts von Sprechstunden. Als ich meine Angelegenheit vorgetragen hatte und er den Namen meines Schützlings vernahm, da stiess er einen tiefen und lauten Seufzer aus, scholt über die Ungezogenheit und Gottlosigkeit der heutigen Jugend und versuchte das Betragen seines Dienstmädchens mir glaubwürdig zu machen, indem er entrüstet erzählte, wie faul, liederlich und schnippisch sie sei. Beinahe hätte ich vergessen können, warum ich eigentlich zu ihm kam. Was für einen Rat hätte ich wohl dem so bedrückten Seelensorger geben können?! Bei den Besuchen meiner Schützlinge bin ich nie dem gut gemeinten Rat, amtlich aufzutreten gefolgt, da ich die Abneigung der Menschen gegen alles 73

Amtliche kenne. Man erwartet erfahrungsgemäss nichts Angenehmes, wenn man eine Amtsperson erblickt. Ich hielt nicht einmal das für zweckmäßig, mich einer Aktentasche zu bedienen und trug schon aus dem Grunde dieselben immer in der inneren Rocktasche. Auch hielt ich es nicht für ratsam, gleich beim Hereintreten auf den Fall einzugehen, dessentwegen ich kam. Man muss eben zu Beginn einen anderen Gegenstand zum Gespräch wählen und dann erst auf die eigentliche Sache übergehen. Im Monat Mai 1917 schwemmte uns der Krieg einen deutschen Engländer ins Haus als Helfer, und zwar den Hans Windekilde Jannasch. Mit ihm war es eine ganz eigentümliche Geschichte. Sein Vater war ein Deutscher und Missionar, sein Bruder diente im deutschen Heer und er selbst ist zwar in Deutschland erzogen und zum Lehrer ausgebildet worden und war auch als solcher bis in das erste Kriegsjahr hinein tätig, dennoch wurde er als Engländer angesehen und in Ruhleben bei Berlin interniert, weil er irgendwo auf englischem Gebiet geboren ward. In Ruhleben bestand für ihn die Möglichkeit, aus dem Gefangenenlager beurlaubt zu werden, sobald er in Berlin eine Beschäftigung nachweisen könne. Diese Gelegenheit bot sich ihm bei uns in der S.A.G. Siegmund Schulze kundschaftete ihn in Ruhleben aus und brachte ihn sogleich zu uns. Ich sehe heute noch den schüchternen vollbärtigen Mann, wie er mit Siegmund-Schulze durch die Kaffeeklappe schreitet, um sich die übrigen Räume anzusehen. Er machte einen niedergeschlagenen Eindruck, und es dauerte auch eine geraume Zeit, bevor er sich von dem Schlag erholte, den die Gefangenschaft ihm beigebracht hatte. Auf vollkommen freiem Fusse befand er sich noch nicht, denn er musste sich an jedem Tag auf dem Polizeirevier melden und erst später nur in ein paar Tagen einmal. Unser neuer Freund half uns bei der Klubarbeit und auch im Garten. Er zeigte sich bald als mustergültiger Klubleiter und Erzieher, wie sie selten unter den Lehrern anzutreffen sind. Wenn er mit 1 2 - 1 5 Jungen in dem Zimmer hinter dem Laden sass, so merkte man kaum etwas von ihnen, so ruhig ging es zu. Er hatte auch stets eine Anzahl Erzählungen auf dem Lager. Nie konnte er in eine Verlegenheit gebracht werden, wie lange und was er auch erzählen sollte. Seine gedämpfte Stimme, mit der er zu erzählen pflegte, feuerte die Jungen an, gut aufzupassen, wenn ihnen nichts entgehen sollte. Das war eine ausgezeichnete Methode! Das bestätigte meine Erfahrung, dass auf diese Weise Ruhe, Ordnung und Disziplin zu schaffen war. Eine solche Arbeit erfordert natürlich eine gewissenhafte Vorbereitung! Jannasch blieb bei uns bis zu Kriegsende. Dann ging er wieder als Lehrer in ein Landerziehungsheim. Vor zwei Jahren schrieb er seine Erlebnisse am Ost74

Am Ostbahnhof 17, Berlin, um 1926

bahnhof nieder und Hess sie unter dem Titel „Alarm des Herzens" erscheinen. Auch ihn zählen wir zu unseren aufrichtigen Freunden. Die Mitgliederzahl und damit auch die Zahl der Klubs wuchsen immer mehr an. Wir blieben trotz vieler anderer Arbeit und sonstigen Sorgen unseren Grundsätzen und unserer Methode treu, und Witze waren unsere Würze. Während der eine Witz die Lachmuskeln in Bewegung setzte, gab ein anderer wieder einen Anlass zu einer Diskussion. Wenn ich ihnen ζ. B. erzählte, dass von nun an die Luftschiffe mit Anhängern fahren werden und dass somit der Fahrpreis erheblich sinken würde, da stutzten die kleinen Berliner Jungen eine Weile staunend. Bis dann doch dem oder jenem der Gedanke kam, dass dies unmöglich sein kann. Dass Bahnen auch mit Anhängern fahren, Hessen sie als Beweisgrund nicht gelten. Etwas schwieriger wurde für sie die Sache, als ich ihnen eine andere Neuigkeit erzählte, nämlich die, dass die Amerikaner demnächst versuchen wollen, von ihrer Erdseite aus durch die ganze Erde ein Loch zu bohren, bis sie auf der entgegengesetzten Seite durchkommen, um dabei die Erdschichten erforschen zu können. Nachdenkend und mir fragende Blicke zuwerfend sassen sie eine geraume Weile wortlos da, bis dann doch einer mit dem Einwand herausrückte, dass das wohl bis zu einer bestimmten Tiefe möglich sei, dass es aber dann immer heisser würde, je tiefer man käme. Nach meiner Erwiderung, dass mittels Maschinen durch Röhren die Hitze herausgezogen werden könnte, kratzte ein anderer seine ganzen in der Schule erworbenen Kenntnisse zusammen und meinte, wenn all dies möglich wäre, dann käme man in der Mitte der Erde auf einen toten Punkt, auf den Punkt zwischen Süd- und Nordpol, wo niemand leben kann. Auch das bereitete ihnen viel Mühe, als ich sie an die eingefügte Sommerzeit und an die ungleichen Tage und Nächte erinnerte und im Anschluss daran ihnen erzählte, dass man beabsichtigte mit den Luftschiffen nach Polen zu fliegen, um dort soviel Erde loszuhacken oder mit Dynamit abzusprengen, bis die Erde sich so weit neigt, dass gleiche Tage und Nächte eintreten. Einer kam doch auf den Einfall, dass das alles nichts nütze, weil die losgetrennten Erdstückchen doch von der Erde angezogen würden. Auch das, dass man das Meer von unten anbohren will, um das Wasser herauszulassen und auf diese Weise das entwässerte Land später urbar zu machen, hat viel Kopfzerbrechen gegeben und wurde schliesslich als ein müssiges Beginnen anerkannt. Es Hessen sich noch viele ähnliche Beispiele anführen, doch dürften die soeben erwähnten genügen, um zu zeigen, wie die Jungen zum Nachdenken angeregt und zum Reden veranlasst werden können. Und dies ist auch der Zweck der Sache. Es kommt nicht darauf an, greifbare Ergebnisse der Forscher zu bringen, 76

sondern gerade oft Dinge, die nur scheinbar wahr sind und deren Unsinnigkeit durch Nachdenken festgestellt werden sollen. Die Wahrheit,, die man durch eigenes Denken und Prüfen erwirbt, wird mehr geschätzt und an Festigkeit gewinnen, als die, die uns die Strasse übermittelt. Der Grund, aus denen heraus sich die Jungen in die Klubs drängten, war zu verstehen. Wir verschickten die Kinder einzeln zu den Bauern und ganze Klubs auf die Rittergüter als Ferienkolonnen. Auch in Dänemark und in Schweden wurden uns die Kinder abgenommen und wochenlang verpflegt. Das war für sie eine Zeit, in der sie sich satt essen konnten.

Wieder in der Ferienkolonie Auch in diesem Jahr mußte ich mit einem Klub wieder auf ein Gut in der Neumark. Wir freuten uns alle darauf. War doch mein Körpergewicht bereits von 180 auf 132 Pfund gesunken. Zunächst sollte ich auf fünf Wochen mit 10 Kindern kommen. Diese Kolonne sollte nachher von einer zweiten auf weitere fünf Wochen abgelöst werden. Nur die Bahnfahrt wurde von uns selbst bezahlt. Nachdem ich eine Woche vor unserer Abreise noch mit den Eltern gesprochen hatte, fuhren wir, von der angenehmen Hoffnung erfüllt, soviel essen zu dürfen, was der Magen nur aushalten kann, los. Der Ort, in dem wir Unterkunft fanden, war ein Gutsdorf oder Gutsbezirk, wie man das damals noch nannte. Da es von dem Bahnhof Mohrin-Butterfelde eine gute Stunde zu gehen war, liess der Gutsherr uns und unser Gepäck mit einem Pferdewagen abholen. Er und seine Frau waren schon ältere Leute, hatten verheiratete Töchter, und der jüngste Sohn zog gerade als Soldat ins Feld. Sie nahmen uns sehr höflich auf und wiesen uns das gleich hinter dem Schloss gelegene, leere Försterhaus als unsere Wohnung an. Unweit der Försterei befand sich ein Kiefernwald, an dem sich ein ungefähr Dreiviertelstunden langer und so ca. 150 Meter breiter See entlangzog. Wie die meisten Güter in Pommern, so grenzte auch hier das Schloss unmittelbar an den Gutshof und sonstige Gebäude, so dass man gleich auf dem Hofe war, wenn man aus der Schlosstüre heraustrat. Im Hintergrunde des Schlosses lag bis zu dem See und dem Wald glänzender Park mit breitkronigen Linden und Eichen. Am Rande desselben befand sich die Försterei, so dass wir stets dieses Bild vor unseren Augen hatten und auch auf dem Parkrasen spielen durften, wenn wir nur Lust dazu verspürten. In Osterreich pflegten die adeligen Familien nicht so zu wohnen wie unsere hier. Dort wohnten die meisten weit von ihren Gütern entfernt und kamen nie 77

sondern gerade oft Dinge, die nur scheinbar wahr sind und deren Unsinnigkeit durch Nachdenken festgestellt werden sollen. Die Wahrheit,, die man durch eigenes Denken und Prüfen erwirbt, wird mehr geschätzt und an Festigkeit gewinnen, als die, die uns die Strasse übermittelt. Der Grund, aus denen heraus sich die Jungen in die Klubs drängten, war zu verstehen. Wir verschickten die Kinder einzeln zu den Bauern und ganze Klubs auf die Rittergüter als Ferienkolonnen. Auch in Dänemark und in Schweden wurden uns die Kinder abgenommen und wochenlang verpflegt. Das war für sie eine Zeit, in der sie sich satt essen konnten.

Wieder in der Ferienkolonie Auch in diesem Jahr mußte ich mit einem Klub wieder auf ein Gut in der Neumark. Wir freuten uns alle darauf. War doch mein Körpergewicht bereits von 180 auf 132 Pfund gesunken. Zunächst sollte ich auf fünf Wochen mit 10 Kindern kommen. Diese Kolonne sollte nachher von einer zweiten auf weitere fünf Wochen abgelöst werden. Nur die Bahnfahrt wurde von uns selbst bezahlt. Nachdem ich eine Woche vor unserer Abreise noch mit den Eltern gesprochen hatte, fuhren wir, von der angenehmen Hoffnung erfüllt, soviel essen zu dürfen, was der Magen nur aushalten kann, los. Der Ort, in dem wir Unterkunft fanden, war ein Gutsdorf oder Gutsbezirk, wie man das damals noch nannte. Da es von dem Bahnhof Mohrin-Butterfelde eine gute Stunde zu gehen war, liess der Gutsherr uns und unser Gepäck mit einem Pferdewagen abholen. Er und seine Frau waren schon ältere Leute, hatten verheiratete Töchter, und der jüngste Sohn zog gerade als Soldat ins Feld. Sie nahmen uns sehr höflich auf und wiesen uns das gleich hinter dem Schloss gelegene, leere Försterhaus als unsere Wohnung an. Unweit der Försterei befand sich ein Kiefernwald, an dem sich ein ungefähr Dreiviertelstunden langer und so ca. 150 Meter breiter See entlangzog. Wie die meisten Güter in Pommern, so grenzte auch hier das Schloss unmittelbar an den Gutshof und sonstige Gebäude, so dass man gleich auf dem Hofe war, wenn man aus der Schlosstüre heraustrat. Im Hintergrunde des Schlosses lag bis zu dem See und dem Wald glänzender Park mit breitkronigen Linden und Eichen. Am Rande desselben befand sich die Försterei, so dass wir stets dieses Bild vor unseren Augen hatten und auch auf dem Parkrasen spielen durften, wenn wir nur Lust dazu verspürten. In Osterreich pflegten die adeligen Familien nicht so zu wohnen wie unsere hier. Dort wohnten die meisten weit von ihren Gütern entfernt und kamen nie 77

mit den Arbeitern in engere Berührung. Wer mit ihnen einmal dringend zu reden hatte, der durfte sich nur an die höchsten Beamten wenden. Auch in diesem Orte wohnte ausser der Herrschaft, Beamten und Gutsarbeitern niemand. An der Gutspforte stand ein Balkengerüst mit Glocken, die am Morgen, Mittag und Abend die fällige Zeit verkündeten. Ungefähr 20 russische Gefangene befanden sich zur Zeit auf dem Gute. Die meisten Arbeiterhäuser bestanden aus Fachwerk, eine Küche und eine Stube für jede Familie. Zehn Minuten entfernt von diesem Ort lag ein anderes Dorf gleichen Namens. Dieses hiess Gross-Mandel, jenes Klein-Mandel. Gross-Mandel war ein reinrassiges Bauerndorf mit einer Schule, einer Kirche und einem Pfarramt. Die Bodenbeschaffenheit dieser Gegend war nicht besonders gut. Wer schon anderwärts Weizen und Hopfenfelder gesehen hat, der muss sich wundern, dass in diesem Sandboden doch noch so viel wächst. Stärkere Winde wehten den Sand bald da, bald dorthin. Der Sand trocknete derart aus, dass er zwei Regentage die Woche vertragen konnte. Kartoffeln, Roggen und Gerste waren dort die Hauptfrüchte. Auch der weit ausgebreitete Kiefernwald mochte nutzbringend sein. Doch der Sandboden bot auch ihm zu wenig Nahrung, als dass er sich hätte entwickeln können wie in fruchtbaren Gegenden. In unserer Ferienkolonie galt auch in diesem Jahr dieselbe Hausordnung wie vor einem Jahr in Bagow. Vier von den Jungens, die vorher in Bagow mitwaren, wurden gerade eingesegnet und darum durch andere ersetzt. Wieder waren drei Jungen von Postbeamten dabei. Damals haben auch diese sich nicht gescheut, Ihre Söhne mit der Arbeiterjugend gehen zu lassen! Die meiste Zeit verbrachte man wieder mit dem Essen, Spielen, Baden und Ausflügen, und 3 - 4 Stunden täglich wieder für nützliche Arbeit verwendet. Am Ende des Sees im lichten Wald standen massenhaft Brennesseln so hoch wie das Getreide. Die Gutsbesitzerin riet mir, mit Rücksicht auf die herrschende Not an Textilstoffen, dieselben abzuernten, auf der Parkwiese zu trocknen und sie dann in Bündelform zu schnüren. Sie wollte um den Absatz sorgen und uns dann den Erlös zukommen lassen. Wir wurden von ihr mit abgelegten Handschuhen und Messern ausgerüstet, bekamen einen Handwagen zur Verfügung gestellt und so fuhren wir immer vormittags zur Brennnesselplantage, schnitten die Stengel los und streiften die Blätter ab, bis wir unseren Handwagen voll hatten. Dann fuhren wir nach Hause, breiteten sie auf dem Rasen hinter dem Forsthaus aus und Hessen sie trocknen. Im frischen Zustand, solange sie noch ihre Säfte innehatten, zeigten sie eine gewisse Schwere, doch leichter wurden sie je mehr sie austrockneten! Getrocknet sollte das Kilo 32 Pfennige bringen. Die Arbeit war eine sehr qualvolle! Wo eine 78

Stelle der Haut mit dieser giftigen Pflanze in Berührung kam, entstanden sofort Blasen. Selbst die Handschuhe vermochten die Jungen nicht zu dieser Arbeit ermutigen. Zur Abwechslung gingen wir auch in den Wald, um nur Pilze oder dürres Holz zu sammeln. Hin und wieder bat uns die Köchin, Meldeblätter von den Feldern zu holen. Dann gab es gewöhnlich ein Spinatgericht. Sie kochte gut und gab uns reichlich zu essen, dass oft noch etwas übrig blieb. Im Durchschnitt gab es jede Woche zweimal Fisch. Jedesmal, wenn der alte Mann mit seinen Netzen auf dem Wege nach dem See an uns vorbei kam, dann wussten wir gewöhnlich, dass es am nächsten Tag Fische zur Mahlzeit gab, wovon ein jeder immer eine anständige Portion verzehren durfte. Auch mit Tomaten wurden wir reichlich versehen, die der grosse Gemüsegarten gegenüber des Schlosses spendete. Das waren Früchte, die man selten zu sehen bekommt. Drei Stück auf ein Pfund. Die häusliche Ordnung in die diesjährigen Schlafzimmer hineinzubringen, war nicht leicht. Die Jungen mussten auf dem in der Schlafstube ausgebreiteten und mit Decken überzogenen Stroh nebeneinanderliegen. Zwar war zu ihren Füssen ein Brett angebracht, um das Verrutschen des Strohes in den noch Übriggeblieben Raum zu verhindern, es gelang aber doch nicht so recht. Betten waren entschieden vorteilhafter. Aber auch sonst musste ich hinterher sein, wenn Ordnung sein sollte. Die Gutsbesitzerin besuchte uns öfter. Sie interessierte sich für die Jungen , fragte nach den Berufen ihrer Väter und wo sie wohnen usw. Hatte sie einen besonderen Wunsch, um mit mir allein zu sprechen, so unternahmen wir einen Spaziergang durch den Park. Sie hatte auch nie einen Anlaß, bei uns etwas zu beanstanden. Unsere Gespräche drehten sich zumeist um die Erziehung, Bildung, um Besitz- und Standesfragen, sie hatte auch meine Lebensgeschichte gelesen und wusste deshalb, wer und was ich bin. Als wir einmal von der Gesinnung und innerer Beschaffenheit der Menschen sprachen, da kam sie seufzend mit dem Bekenntnis, wie auch sie unter den neidischen Menschen zu leiden hätte und meinte: „Nicht war, was kann ich dafür, dass Gott meinen Mann mit dem Besitz begnadete und seine Neigung zu mir schenkte!?" Hier wurde mir klar, und ich dachte bei mir: „Wenn schon dieser kleine Adel sich für gottbegnadet in wirtschaftlicher und politischer Machtstellung hält, warum sollte es nicht auch der höchste Adel tun!" Ein anderesmal wieder erzählte sie mir, wie schwer es doch die Beamten bezüglich der Eheschliessung und des Geschlechtslebens haben. Sie müssten jahrelang ledig bleiben und erst dann, wenn sie sich lohnendere Stellungen erkämpft, dann erst könnten sie an ein Eheleben und an einen eigenen Haushalt

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denken. Viele von ihnen würden bis dahin von Geschlechtskrankheiten verseucht, würden schwach- oder gar irrsinnig. Ihr Mann sei Prokurator einer solchen Anstalt. Er könne etwas davon erzählen. Wie sie weiter meinte, müsste den Beamten die Möglichkeit gegeben werden, früher zu heiraten! Eine passende Gelegenheit machte mich auch mit dem Gutsmaurer bekannt. Er war bereits ein älterer Mann und schon viele Jahre hier beschäftigt, hatte auch schon verheiratete Kinder. Nach kurzer Bekanntschaft gewann er soviel Vertrauen zu mir, dass er mir sein politisches Geständnis ablegte. Er war ein Sozialdemokrat! Davon Hess er im Orte nie etwas verlauten. Es kam aber doch heraus und zwar auf folgende Weise: Nach einer stattgefundenen Reichstagswahl begegnete ihm der Gutsbesitzer und meine lächelnd, „Na, Sie haben ja sozialistisch gewählt!?" Auf meine Frage, wie er das wissen könne, erzählte mir der Maurer folgendes: Die Wahlurne sei genau so lang und breit gewesen wie der Briefumschlag, in den der Stimmzettel hineingesteckt wurde. Auf der Wählerliste numerierte man die Wähler fortlaufend und die Stimmzettel mussten demzufolge in der Wahlurne so übereinander fallen, wie sie hereingeworfen wurden. Auf diese Weise war es der Wahlkommission möglich festzustellen, welchen Umschlag der Mann abgab und welche Partei er gewählt hatte. Setzte sich doch die Wahlkommission zusammen aus dem Gutsbesitzer und anderen ihm ergebenen Leuten. Da es aber erst, sozusagen, eine Schwalbe war, die allein keinen Sommer herbeizubringen vermochte, glaubte auch der Gutsbesitzer, dem Manne keine weiteren Schwierigkeiten bereiten zu brauchen. Gab ihm aber doch einiges zu verstehen, was ja auch manchmal bei der nächsten Wahl seine Wirkung nicht verfehlte. Durch eine, mit solchem Posten verbundene Funktion, kommt man mit Menschen in Berührung, deren Beziehungen einem noch weitere Höflichkeitsformen auferlegen. Wenn man in einem solchen Orte sich aufhält, ist man gewissermassen verpflichtet, die Autoritätspersonen wie den Pfarrer und den Lehrer aufzusuchen. Derartige Besuche unternimmt man schon aus eigenem Interesse, wenn man materielle, politische und psychologische Fragen an sie zu richten hat. Der Pfarrer mochte so gegen 40 Jahre alt gewesen sein. Seine Frau war im Verhältnis zu ihm noch jung. Sie erfreuten sich des ersten Kindes. Mich interessierte zunächst die Einstellung dieses Mannes, ob er konservativ oder fortschrittlich, ob die Religion, das Leben, der Krieg u.a. ihm problematisch erscheine. In dieser Hinsicht war aus ihm nichts herauszuholen. Der Eindruck, den er auf mich machte, war der, dass er nicht so dachte wie so manche seiner Amtskollegen: „Ich tue meine Pflicht, die mein Amt von mir fordert und das andere geht mich nichts an!" Seine abweichenden Antworten auf meine Fragen Hessen mich vermuten, 80

dass er die äusserste Vorsichtigkeit an den Tag legte. Wie er mir sagte, kam er aus Siebenbürgen hierher. Worüber er offen zu klagen wagte, war der Standesdünkel der Bauern. Der missfiel ihm als ein Mangel an sozialer Gesinnung. Dagegen einzuwirken hätte er schon vergebens versucht. Im Orte gebe es zwei Gasthäuser. In dem die Bauern mit ihren Söhnen und Töchtern verkehren, Hesse sich das Gesinde nicht sehen und so ist es auch umgekehrt. Das war mir nichts Neues! Wie oft habe ich das anderwärts auch beobachten können. Auch dem Lehrer erstattete ich einen Besuch. Er kam gerade, als ich vor der Schule stand, mit einer Schar Jungens, trommelnd und einen Militärmarsch pfeifend, marschierend vom Turnplatz. Ganz militärisch, in Reih und Glied waren die Kinder geordnet und er schritt wie ein Hauptmann voran, einen kurzen lächelnden Blick auf mich werfend, als er mich stehen sah. Nach dem er „Halt!" „Stillgestanden!" und „Rührt Euch!" kommandiert hatte, bat ich ihn, ob ich zu irgendeiner Unterrichtsstunde mit meinen Klubjungen hospitieren dürfte. Er zeigte sich sehr zuvorkommend und freute sich sichtlich über meinen Wunsch, überlegte aber, welche Stunde er mir als die beste empfehlen könnte, bis er nach längerem Sinnen auf dieReligionsstunde kam. Diese empfahl er mir mit strahlendem Gesicht wie einer, dem sich endlich eine Gelegenheit bot, zu zeigen, was er kann. Donnerstag um 7 Uhr morgens sollten wir kommen. Der Lehrer, so Mitte Vierzig, mittelgross, rund und mit einem heiteren Gesicht, nahm sich das vierte Gebot vor. Da nun diese Religionsstunde moralpsychologisch interessant erscheint, möchte ich sie hiermit wiedergeben, wie sie hier in ländlich gewohnter Art gegeben wurde. „Wie heisst das vierte Gebot?" fing es an. „Du sollst Vater und Mutter ehren usw." kam die Antwort von mehreren Seiten. „Warum sollen wir Vater und Mutter ehren?" fragt der Lehrer weiter, seine Blicke von dem einen Schüler zu dem anderen lenkend, bis es ihm gelingt, ein Mädchen zum Aufstehen und zur Antwort herauszulocken. „Weil sie uns zu essen geben", sagte sie fast leise. „Nein!" widerspricht der Lehrer, fortfahrend, „So fängt es nicht an." Ein Junge erhebt seine Hand: „Na Willi, sag Du es!" „Weil wir ihre Kinder sind." „Richtig! Setze Dich!" „Und warum müssen wir die Eltern noch ehren? Max, weisst Du es?" „Weil sie für uns sorgen." „Else, weiter!" „Und das Essen verdienen." „Herbert, was noch?" „Uns kleiden." 81

„Hans, weiter!" „Uns erziehen." „Na, Walter?" „Und uns Wohnung geben." „Weiter, Karl!" „Dass sie uns in die Schule schicken." „Richtig, gut so! Und wen ausser den Eltern sollen wir noch verehren?" „Die Herrschaft!" lautete die Antwort eines Knaben. Nach den weiteren Fragen, warum man die Herrschaft verehren solle, wurde ebenso wie bei den Eltern fortgefahren, weil sie unseren Eltern Arbeit, Wohnung usw. gibt. Nach der Herrschaft kam der Gemeindevorsteher mit dem Gemeinderat an die Reihe. Danach der Landrat, der Regierungspräsident, die Landes- und Reichsregierung, dann der König und der Kaiser. So wurde ein jeder Punkt in derselben Weise besprochen wie bei der Frage: Warum sollen wir unsere Eltern ehren? Dankbar schüttelte ich des Lehrers Hand. Denn so einen Religionsunterricht habe ich nicht einmal in den katholischen Gegenden erlebt. Auf dem Heimwege drängte sich mir der Gedanke auf: was würde Jesus wohl zu einem solchen Religonsunterricht sagen?! In derselben Gegend, aber nicht vor, sondern hinter Königsberg war auch einer von unseren Klubs auf einem Gut untergebracht, mit einem anderen Leiter. Von dort erhielt ich von den Kindern zwei Briefe, durch die sie mir zu wissen gaben, dass sie aus Berlin keine Nachricht bekämen, ob sich da irgend etwas ereignet habe oder nicht. Der Berliner Junge ist eben verwöhnt, er muss immer wieder etwas Neues zu sehen und zu hören bekommen. Auf dem stillen Lande wird es ihm langweilig. In der Ferienkolonie sind sie die fleissigsten Briefschreiber! Weil sie draussen keine Zeitung zu lesen bekommen, erhoffen sie, durch die Briefe etwas zu erfahren. Mir blieb also nichts weiter übrig, als eine zugkräftige Neuigkeit auszudenken, und erzählte ihnen, um ihre Neugier zu befriedigen, folgendes: Auf dem Rangierbahnhof Am Ostbahnhof soll sich, wie meine Frau mir eben mitteilt, sich folgendes ereignet haben: Ein Lokomotivführer und sein Heizer sind bis auf die vor den Häusern Am Ostbahnhof liegenden Gleise gefahren, sind dann abgestiegen, um in dem gegenüberliegenden Gasthaus ein Glas Bier zu trinken. Zwei Burschen, welche die beiden beobachtet hatten, benutzten die Gelegenheit, um auf die Lokomotive zu steigen. Sie drehten das Dampfventil auf, und die Maschine kam in Gang. Vor Angst sprangen die Burschen wieder herunter und die Maschine sauste mit Volldampf durch die Bahnhofshalle, rannte das nach dem Küstriner Platz stehende Portal durch und nahm ihren Weg durch die Strasse „Grüner Weg" weiter. Es wäre gewiss 82

ein grosses Unglück geschehen, wenn ein Schutzmann nicht den Mut gehabt hätte, auf die Maschine zu springen und sie zum Stehen zu bringen. Natürlich bestürmten die Jungen ihre Eltern mit vorwurfsvollen Briefen, warum sie so hörenswürdige Sachen verschweigen, erst, als wir alle wieder beisammen- saßen, wurde die Angelegenheit ins Reine gebracht und viel darüber gelacht. In der vierten Woche wurde ich von einem jungen Manne, einem Maler aus der Schweiz, abgelöst. Wie Siegmund-Schultze zu diesem Manne kam, das weiss ich nicht. Der deutsche Engländer war ausser mir immer noch der einzige Helfer. Da er sich aber nicht aus Berlin entfernen durfte, waren wir froh, dass sich noch ein Fremder zu Helferdiensten bereitfand. Zu Hause angekommen, hatte ich wieder die zweite Kolonne für den Aufenthalt weiterer fünf Wochen vorzubereiten. Da aber alle Klubjungen versorgt waren, sammelten wir zehn weitere Jungen von denen, die sich für die Landverschickung gemeldet hatten, die aber nicht zu den Klubs gehörten. Acht von denen suchte ich mir aus der nächsten Umgebung zusammen. Dazu kamen auf Empfehlung noch zwei, einer aus Erkner, der andere aus Charlottenburg. Vor dieser zusammengewürfelten Kolonne, in der die Jungen einander fremd waren, wo weder ich sie, noch sie mich kannten, hätte ich mich am liebsten gedrückt. Einem in der Sache unerfahrenen Menschen es zuzutrauen, war schon aus diesem Grunde nicht möglich, wenn sich überhaupt jemand dazu erboten hätte. Da war ganz besonders eine feste Hand nötig! Das bestätigte sich später. Ich besprach die Sache wieder vorher mit den Eltern und Hess mir eine Vollmacht von Ihnen erteilen. Die Jungen waren verschieden in ihrem Alter. 10-14 Jahre zählten sie. Man konnte es schon während der Bahnfahrt beobachten, dass sie keine Klubmitglieder waren. Unterwegs begegneten wir den Heimfahrenden mit ihrem Schweizer Leiter. Ich wunderte mich ein wenig, als ich sah, dass uns diesmal kein Wagen vom Bahnhof abholte. So mussten wir eben unsere Koffer eine Stunde schleppen. Welcher Grund vorhanden war, dass man uns so kühl behandelte, konnte ich mir nicht ausdenken. Auf der Landstrasse holte uns ein Pferdefuhrwerk ein. Die Jungen machten sich gleich bittend an den Fuhrmann heran und er liess sich auch dazu bewegen, vier Mann auf den Wagen zu nehmen. Mit den übrigen ging ich zu Fuss. Die anderen waren schon längst da, als wir den Ort erreichten. Bei unserem Einzug durch das Hoftor kam mir die Gutsbesitzerin bestürzt entgegen: „Herr Holek! Was haben Sie denn für einen Jungen mitgebracht! Das ist ja ein 83

Jude!" Damit war der Junge aus Charlottenburg gemeint. Er war 14 Jahre, klein und schwach. Dafür war seine Kopfgrösse gut entwickelt. Seine Abstammung verrieten auf den ersten Blick sein auffallend schwarzes Haar, wie seine Augenbrauen und seine Nase gebogen war. Dass seine Mutter eine Jüdin ist, das wusste ich nicht. Sie nahm aber den evangelischen Glauben an und verheiratete sich dann mit einem Lehrer, der evangelisch war. Mit dem hatte sie diesen Jungen, der sich eben mehr nach der Mutterseite entwickelte. SiegmundSchultze und ich stiessen uns nicht daran, wie die Gutsfrau. Als ich das Letztgesagte ihr zur Aufklärung zu verstehen gab, beruhigte sich die Frau dann doch etwas. Ich merkte aber bald, dass sie uns auch ohne dies nicht lieber gehabt hatte. Ihr kühles Verhalten musste also doch noch einen anderen Haken haben. Wir hatten uns kaum niedergelassen, da verschwand die ganze Gesellschaft. Am See, im Walde und im Dorfe waren sie zerstreut. Wie oft musste ich meine Pfeife in Tätigkeit bringen, um sie alle wieder zusammenzurufen. Da hiess es vor allen Dingen, Disziplin in die Reihen zu bringen! Der Judenjunge - wollen wir ihn schon der Einfachheit wegen so nennen war sauber und fein in seinem Benehmen. Er spielte schon gern den kleinen Kavalier, schmückte seine Finger mit Ringen und vergass nie, bei unseren Ausflügen und sonstigen kurzen Wegen, die wir machten, sein Spazierstöckchen mitzunehmen. Die anderen Jungen empfanden das bald zu ihrer Lebenskultur als unpassend und Hessen ihm ihren Widerwillen deutlich merken. Zu mir benahm er sich äusserst schmeichelhaft, dass sich in mir manchmal der Zorn regte. Wenn die anderen ihm ihre Antipatie merken Hessen, dann berief er sich jedesmal auf mich und meinte, dass alle anderen ihm nichts angehen, wenn er sich nur bei mir gut stehe. Da musste ich ihm mit Nachdruck zum Bewusstsein bringen, dass mir einer so Heb sei wie der andere und dass seine Denkart das Zeichen schlechten Charakters sei. Sich an die Hausordnung zu halten, das gefiel ihm auch nicht. Erst als er merkte, dass er sich durch Schmeicheleien nicht davon befreien konnte, fügte er sich. Auch die sonstigen Arbeiten brauchte es für ihn nicht zu geben. Besonders das Brennesselschneiden behagte ihm in keiner Weise. Ein solches Kerlchen abzuschleifen macht mir weniger Ärger als Vergnügen! Dem 12jährigen Söhnchen eines Kriminalbeamten andere Formen beizubringen, damit ist es auch nicht gerade zu leicht gewesen. Er ging stets angezogen wie eine Puppe. Anfangs versuchte er, in seinem besten Kleid, einem Matrosenanzug, damit auch zur Arbeit zu gehen. An dem Essen hatte er stets etwas auszusetzen. Seine Mutti hätte dies oder jenes besser gekocht. Arbeiten mochte er auch nicht. Aber Streiche spielen, das konnte er! 84

Als wir wieder Mal auf dem Brennesselfelde beschäftigt waren, sträubte er sich mitzuhelfen, nahm aber einen Strauch Brennessel und schlug die andern damit über die nackten Beine. Ich verbot ihm das, aber er tat es wieder. Wo die Worte nichts nützten, muss die Hand in Funktion treten. Ich ging, als suchte ich etwas, auf ihn zu, bis ich ihn fassen konnte, darauf folgten ein paar Ohrfeigen. Er drohte mir, seinen Eltern schreiben zu wollen. Ich aber riet ihm, doch gleich nach Hause zu fahren, das übrige würde ich schon mit seinen Eltern erledigen. Er hatte sich aber dann gebessert und blieb noch eine lange Zeit Klubmitglied. Der nun schon 14 jährige Woldt war der grösste und stärkste unter ihnen, aber auch der frechste, roheste und grossmäuligste. Er war auch überall der erste, wenn es sich um eine Missetat handelte und gebrauchte die gemeinsten Ausdrücke. Meine Beschwerden bei seiner Mutter und ihre Ermahnungen ihm gegenüber fruchteten nichts, auch meine Drohungen, dass ich ihn nach Hause schicken müsste. Eines Nachmittags sammelten wir wieder Holz im Walde, da führte der Junge wieder Redensarten gegen die Kirche und gegen den Kaiser, die ich zu wiederholen hier vermeiden möchte. Wenn diese Redensarten den Gutsleuten zu Ohren gekommen wären, hätten sie unser Hiersein gefährden können. Ich sagte ihm nun, er solle sich gefasst machen, am nächsten Morgen müsse er nach Hause. Daran wollte er nicht glauben. Er ließe, wie er mir zu verstehen gab, auch zu Haus seinem Munde freien Lauf. Damit wollte er mir beweisen, dass er sich nicht fürchte. Am andern Morgen ging ich, während die Jungen noch frühstückten, in die Küche, ließ dort Stullen schneiden, legte sie, zu Haus angekommen, vor Woldt auf den Tisch und das Fahrgeld dazu mit den Worten: „So, und nun fährst Du nach Hause!" und ging fort. Errötend und staunend schaute er mir nach und brach darauf in lautes Weinen aus. Das wirkte auch auf die Kolonne wie ein kalter Guss, denn es fühlten sich noch etliche mit ihm wahlverwandt, nur besassen sie nicht so viel Mut wie er, doch machte sein Benehmen ihnen Spass. Bald kam eine Deputation von drei Mann zu mir und bat, ich möchte ihm doch noch einmal verzeihen, seine Mutter schlüge ihn tot, wenn er nach Hause käme. Ihr Bitten nützte nichts und wäre auch dann vergeblich gewesen, wenn er selbst gekommen wäre, denn ich pflegte stets, die ausgesprochene Strafe in die Tat umzusetzen. Einige Tage später schrieb er einem unserer Jungen, wie sehr er es bereue, dass er es soweit hat kommen lassen. Später in Berlin, als die Einsegnungszeit war und ich gerade meinen Weg 85

durch die Fruchtstrasse nahm, da kam ein Bürschchen von der anderen Seite der Strasse auf mich zu, grüsste und reichte mir die Hand, das war der Konfirmand Woldt. Ich begrüsste ihn gleichfalls, begleitete ihn noch ein Stück des Wegs und sprach mit ihm über das, was ich nun von ihm erwarte, erklärte ihm auch, dass es nun davon abhinge, wie sein weiteres Schicksal sich gestaltete. Aber darüber, was in der Ferienkolonie sich zwischen uns abgespielt hatte, darüber verloren wir kein Wort. Wer sich seiner Jugendzeit erinnert, der wird aus den begangenen Fehlern eine Lehre ziehen. Auch der Junge mit schwach entwickeltem Verstand ist sich dessen bewusst, ob er recht oder unrecht gehandelt hat, er weiss es gleich oder erfährt es nach der Tat, wenn er deren Folgen beschauen kann. Es ist ganz gleich, ob er mit oder ohne Überlegung gehandelt hat, er sieht es doch ein, dass er Falsches getan, und will auch nicht immer daran erinnert werden. Herr Zawatzki, ein Kriegsbeschädigter, wünschte, seinen einzigen Sohn auch in die Ferienkolonie zu bringen. Seinem Wunsche wurde auch entsprochen. Sein Junge war ein lang gewachsenes, aber schwaches 12jähriges Kerlchen, und dazu ein verwöhntes Muttersöhnchen! Für ihn wäre eine besondere Köchin nötig gewesen, die ein jedes Mal ihn hätte erst fragen müssen, was seinem Gaumen passe oder was nicht. Die Hausordnung, die mit ihr verbundene Disziplin und alles andere passte ihm auch nicht. Er wollte durchaus nach Hause. Sein Vater, strenger als die Mutter, schrieb mir, er dürfe nicht eher nach Hause bis wir alle kämen. Ich gab den Brief dem Jungen zu lesen. Sein Brief, den auch er mit der gleichen Post erhalten hatte, lautete ebenso. Darauf versuchte er, die Heimkehr auf eine andere Weise zu erreichen. Er stellte sich krank und wand sich vor Bauchschmerzen. Ich tat so, als schenkte ich ihm Glauben und zeigte mich sehr besorgt um ihn, indem ich mir aus dem Schloss bitteren Tee besorgte, ihm nur Milch und Brot verordnete und ihn hiess liegenzubleiben. So blieb er liegen, auch wenn wir arbeiten gingen. Zwei Tage und Nächte hat er so ausgehalten. Dann liess er mich durch die anderen Jungen bitten, ob er aufstehen dürfe. Ich legte freundlich einen gewissen Zweifel an den Tag und erklärte ihm, dass das ihm vielleich nur schaden könnte, er soll doch noch lieber liegenbleiben. Er befolgte meinen Rat nicht, sondern stand auf, ass mit dem grössten Appetit und war wieder gesund. Auch er wurde später Mitglied eines Klubs. Der ärmste, dem es zu Hause am schlechtesten ging, der aber der anständigste war und zugleich als der begabteste galt, war Felix Wauschkuhn. er zählte erst 13 Jahre und war so halbwegs körperlich entwickelt. Er war ein uneheliches Kind. Seine Mutter stand allein da, war kränklich und verdiente infolgedessen nicht viel. Der Junge war auch sehr ausgehungert! Ich habe bald aus ihm herausbekommen, dass er auf Veranlassung seines Lehrers eine Prüfung 86

für die Schule der Begabten mitgemacht hat. Nachdem wir nach Berlin zurückgekehrt waren, setzte ich mich mit seinem Lehrer und mit seiner Mutter in nähere Verbindung. Der Lehrer war von seiner Begabung überzeugt und meinte, dass dem Jungen der Besuch einer höheren Schule möglich gemacht werden müsste. Es handelte sich nur um das Wie? Da wusste auch er vorläufig keinen Rat. Seine Mutter bewohnte mit ihm eine kleine Küche, in der ein Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen und eine Ofenbank stand. Da ihre Armut es nicht einmal gestattete, dem Jungen ein Handwerk erlernen zu lassen, so wäre es ihr lieber gewesen, wenn er in einer Fabrik eine Anstellung gefunden hätte, um auf diese Weise gleich mit zu verdienen. Er wurde Mitglied eines Knabenklubs und ich darf ihn heute noch zu meinen besten Freunden rechnen. Bis zu seiner Schulentlassung sorgte ich dafür, dass er gleich nach derselben in die Präperantenschule aufgenommen wurde. Dann erwirkte ich aus der Friedrich-Ebert-Stiftung für ihn einen Betrag in Höhe von 600 Mark und half ihm sonst noch wie ich nur konnte mit Anzügen, Schuhen, Lebensmitteln und Geld aus, wenn ich noch welches aufzutreiben vermochte. So ging die Sache leidlich weiter. Als er auf das Seminar nach Fürstenwalde kam, interessierten sich noch meine Freunde in Deutschland und in der Schweiz für ihn. Wir waren alle zufrieden, dass unsere Mühe sich lohnte. Nachdem er bereits das Seminar absolviert hatte, kam eine neue Sorge in ihm auf: Was nun? Da kam wie gerufen ein Schulleiter aus Hellerau bei Dresden und suchte einen Hilfslehrer. Auf meine Empfehlung bekam er auch sogleich den Posten. Die Schule löste sich aber nach einem Jahr wieder auf, darauf fand er eine Anstellung als Lehrer in einer heilpädagogischen Anstalt für Psychopathen. Dort war der Stand für ihn kein leichter. Gleich am ersten Tage kamen ihm einige halbwüchsige Schüler mit Schimpfworten entgegen, warfen ihm Namen an den Kopf wie Esel, Ochse usw.. Was sollte er nun tun? In dieser Anstalt galt der Grundsatz: „Nicht schlagen!" „In diesem Augenblick", berichtete er mir, „besann ich mich auf Vater Holek, sprang hin und gab dem Anführer eine kräftige Ohrfeige und seitdem haben die Kerls einen ganz anderen Respekt vor mir". Wie er mir persönlich bei einem Besuch erzählte, war er unter dieser Gesellschaft nicht einmal seines Lebens sicher. Jedesmal, wenn er mir derartiges berichtet, denke ich bei mir: „Oh, ihr grauen Theorien!" Verweichlicht aussehende, in Affenliebe sich benehmende Menschen ohne innere feste Entschlusskraft sind nicht dazu berufen, solche Theorien zu verwirklichen, und derart verpfuschten Menschen zu helfen, wie sie in solchen Anstalten eingeliefert werden. Felix war dann noch drei Jahre in einer anderen Anstalt dieser Art. Heute 87

ist er, 26jährig, als Schullehrer auf dem Lande tätig. Er ist nicht nur ein Pauker, sondern ein wirklicher Erzieher. Interessant war es zu beobachten, wie seine Verwandten sich erst dann für ihn zu interessieren begannen, als sie sahen, dass er sich doch zu etwas Brauchbarem entwickelte. Sie wollten z.B. wissen, wie er dazu gekommen war und woher er das Geld habe, so dass er weinend zu mir kam und um Rat flehte. Vollends dann, als er sich mit einem Hausmädchen verlobte, zeigten alle, der Grossvater, die Onkels und Tanten ihre Neugier und wollten erfahren, ob seine Braut Geld habe. Von Liebe und Schönheit könne man doch nicht leben! Da er sich nun ein ebenso armes Wesen gewählt hat wie er selber ist, aus diesem Grunde reden sie heute nicht mehr mit ihm. Mir aber ist er dadurch noch lieber geworden. Liebe und Ehe sind eine Angelegenheit des Herzens. Da haben wir nichts zu bestimmen! In unserer zweiten Kolonne hatte sich noch ein weit schlimmerer Fall zugetragen, als alle anderen, die wir miteinander erlebten. Dieser Fall hätte einem Jungen das Leben kosten können, alle wären wir zu Gericht geladen worden und ich hätte mir noch obendrein einige Wochen Gefängnis eintragen lassen müssen. Eines nachmittags sollten wir wieder einmal in den Wald gehen, um Holz zu sammeln. Auf der Wiese lagen die Brennesseln, gut getrocknet, es war also Zeit, sie umzuwenden. Dies musste ich selbst machen, weil die Jungen sich dabei nicht in Acht nahmen und die Stengel durch Knicken unbrauchbar machten. Deshalb schickte ich sie voraus und wollte nachkommen, sobald ich diese Arbeit getan habe. Sie waren noch keine Stunde fort, als schon einer von weitem schreiend zu mir gelaufen kam: „Herr Holek, Prager hat den Jungen aus Erkner totgeschlagen! Kommen Sie schnell!" Prager war der feine Junge aus Charlottenburg. Mir fiel alles aus den Händen. Ich folgte dem Jungen in den Wald. Wirklich, der Junge lag gekrümmt und noch schwach winselnd an einem Baumstamme. Zu einem Verhör war keine Zeit. Schnell befahl ich zwei Jungen, aus dem an der Waldgrenze stehenden Schnitterhaus Wasser zu holen, nahm aber unterdessen den Jungen in die Arme und lief, was ich nur konnte, auch nach dem Haus. Die beiden kamen mit einem Eimer voll Wasser mir bereits entgegen, ich legte den Jungen hin, tauchte die Hände in das Wasser und fuhr ihm über das Gesicht. Als ich mit meiner wassertriefenden Hand auf seinen Hals kam, zuckte er auf und begann, sich aufrichtend, nach Luft zu schnappen. Wie mir dabei wurde, ist kaum zu beschreiben. Da kam auch schon der junge Sohn des Gutsbesitzers im Reitdress und mit Reitpeitsche, stürzte sich auf den Missetäter, versetzte ihm einige Schläge, indem er nach einem jeden Hieb das Schimpfwort „Du verfluchter Judenjunge!"

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ausstiess, bis ich abwehrend einschritt. Der Junge war gerettet! Wir gingen zurück in unser Heim. Dort nahm ich ein Verhör vor. Der Übeltäter hatte gerade die ganze Kolonne gegen sich, und ich vermochte aus den Aussagen nur den Schluss zu ziehen, dass er durch Neckereien und Sticheleien zu der Tat gereizt worden war. Deshalb nur, nahm ich von einer weiteren Bestrafung Abstand. So schön, wie es in diesem Orte war, und so reichlich wir verpflegt wurden, so lag über der zweiten Kolonne doch eine schwüle Atmosphäre. Die Gutsfrau vermochte nicht die Herzenswärme wiederzugewinnen, die sie der ersten Kolonne zuteil werden liess. Wo die Ursache ihrer Verwöhnung lag, war nicht zu enträtseln! So gingen auch wir ab ohne feierlichen Abschied, mit ebenfalls bedrücktem Gemüt, um nicht wiederzukommen!

Eine Konferenz der Sozialen Arbeitsgemeinschaft In dasselbe Jahr 1917 fiel auch eine Konferenz der sozialen Arbeitsgemeinschaft. Sie war für mich die erste, welche ich in diesem Kreise mitmachte. Es war nicht eine Konferenz in dem Sinne, dass man die Arbeit in einem ganz bestimmten Zeitabschnitt überschaute und aus den gewonnenen Erfahrungen für die demnächst zu tuende Arbeit Schlüsse zu ziehen gedachte. Dazu war unser Mitarbeiterkreis zu klein. Von den früheren Mitarbeitern befanden sich einige in festen Stellungen ausserhalb Berlins, die meisten standen im Felde und auf die Wiederkehr vieler war überhaupt nicht mehr zu hoffen, sie lagen bereits als Opfer des Krieges unter der Erde. So sollte darauf eingewirkt werden, mit den früheren Helfern und sonstigen Freunden der Sozialen Arbeitsgemeinschaft die Fühlung aufrecht zu erhalten. Somit sollte auch die Gelegenheit geboten sein, sich über die Lebenslage und über die Situationen des gesamten Lebens zu erkundigen. Auf der Tagesordnung standen folgende Punkte: „Arbeiterschaft und Religion", „Die Erfahrungsfrage", „Die soziale Aufgabe der Gastwirtschaft", „Die Ferienfahrt der Schulkinder", „Die Jugend aus Berlin-Ost auf dem Lande". Zu dem Ergebnis äussert sich Siegmund-Schultze in „Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft" Nr. 10, Dezember 1917, folgendermassen: „Die Teilnehmer unserer ersten Arbeitskonferenz, die vom 30. März bis zum 1. April dieses Jahres in Berlin-Ost stattfand, haben die Uberzeugung von der Tagung mitgenommen, dass sich trotz der Kriegsstörungen der Bund unserer Gesinnungsfreundschaft fester schliesst. Die früheren Mitarbeiter und die Freunde haben durch Berührung mit denen, die jetzt an der Hauptstätte wirken, den Zusammenhang mit dem Werk wiedergewonnen. Die auswärti89

ausstiess, bis ich abwehrend einschritt. Der Junge war gerettet! Wir gingen zurück in unser Heim. Dort nahm ich ein Verhör vor. Der Übeltäter hatte gerade die ganze Kolonne gegen sich, und ich vermochte aus den Aussagen nur den Schluss zu ziehen, dass er durch Neckereien und Sticheleien zu der Tat gereizt worden war. Deshalb nur, nahm ich von einer weiteren Bestrafung Abstand. So schön, wie es in diesem Orte war, und so reichlich wir verpflegt wurden, so lag über der zweiten Kolonne doch eine schwüle Atmosphäre. Die Gutsfrau vermochte nicht die Herzenswärme wiederzugewinnen, die sie der ersten Kolonne zuteil werden liess. Wo die Ursache ihrer Verwöhnung lag, war nicht zu enträtseln! So gingen auch wir ab ohne feierlichen Abschied, mit ebenfalls bedrücktem Gemüt, um nicht wiederzukommen!

Eine Konferenz der Sozialen Arbeitsgemeinschaft In dasselbe Jahr 1917 fiel auch eine Konferenz der sozialen Arbeitsgemeinschaft. Sie war für mich die erste, welche ich in diesem Kreise mitmachte. Es war nicht eine Konferenz in dem Sinne, dass man die Arbeit in einem ganz bestimmten Zeitabschnitt überschaute und aus den gewonnenen Erfahrungen für die demnächst zu tuende Arbeit Schlüsse zu ziehen gedachte. Dazu war unser Mitarbeiterkreis zu klein. Von den früheren Mitarbeitern befanden sich einige in festen Stellungen ausserhalb Berlins, die meisten standen im Felde und auf die Wiederkehr vieler war überhaupt nicht mehr zu hoffen, sie lagen bereits als Opfer des Krieges unter der Erde. So sollte darauf eingewirkt werden, mit den früheren Helfern und sonstigen Freunden der Sozialen Arbeitsgemeinschaft die Fühlung aufrecht zu erhalten. Somit sollte auch die Gelegenheit geboten sein, sich über die Lebenslage und über die Situationen des gesamten Lebens zu erkundigen. Auf der Tagesordnung standen folgende Punkte: „Arbeiterschaft und Religion", „Die Erfahrungsfrage", „Die soziale Aufgabe der Gastwirtschaft", „Die Ferienfahrt der Schulkinder", „Die Jugend aus Berlin-Ost auf dem Lande". Zu dem Ergebnis äussert sich Siegmund-Schultze in „Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft" Nr. 10, Dezember 1917, folgendermassen: „Die Teilnehmer unserer ersten Arbeitskonferenz, die vom 30. März bis zum 1. April dieses Jahres in Berlin-Ost stattfand, haben die Uberzeugung von der Tagung mitgenommen, dass sich trotz der Kriegsstörungen der Bund unserer Gesinnungsfreundschaft fester schliesst. Die früheren Mitarbeiter und die Freunde haben durch Berührung mit denen, die jetzt an der Hauptstätte wirken, den Zusammenhang mit dem Werk wiedergewonnen. Die auswärti89

gen Kreise haben ihre Erfahrungen und Überzeugungen geprüft und gestärkt. Wir von Berlin-Ost haben unsere müden Geister in der Gemeinschaft der noch nicht von derselben N o t täglicher Belastung und widrigen Umgebung gedrückten Freunde aus der Stadt und dem Land wieder etwas aufgefrischt. Unsere Versöhnung geht gleich stark nach Aussen wie nach Innen. Wie eng beides zusammengehört, ist vielen erst im Kriege klar geworden: Es hat sich gezeigt, welche furchtbaren Folgen die Unzufriedenheit weiter Volkskreise mit den Zuständen Deutschlands auf die Meinung und Haltung des Auslandes gegen uns gehabt hat. Andererseits zeigte es sich, wie stark unsere innere Einigkeit auf Stimmung und Haltung der Feinde drückt. N u r ein einiges Volk wird sich einen Frieden erkämpfen können. So ist die Arbeit unseres Kreises niedriger denn je. Wenn wir uns auch grundsätzlich darauf beschränken, nur an unserer verborgenen Ecke in BerlinOst, und etwa an gleich stillen Stellen einiger anderer Städte zu arbeiten, so ist doch, ohne dass wir es wollen, die Wirkung unserer Arbeit viel weiter gedrungen. Nicht nur hervorragende Sozialarbeiter fussen auf unseren Erfahrungen und tragen unsere Überzeugung in weite Kreise hinaus, sondern auch Männer der Regierung und des Parlaments wenden ihren weitreichenden Einfluss im Sinne der Sozialen Arbeitsgemeinschaft an. Aber davon lässt sich nicht viel sagen, vielleicht gibt es einmal sichtbare Wirkungen. Diesselben sollen uns klar machen, dass unsere Arbeitsgemeinschaft ihre grosse Aufgabe hat." An der Konferenz nahmen Pastoren aus Berlin und auch von auswärts teil, darunter einige Würdenträger der evangelischen Kirche wie Generalsuperintendent Lahnsen, Pfarrer Heim usw., ausserdem zwei Sozialdemokraten, Hildebrandt und Archivar Grundwald und einige Arbeiter [...]. Eines vormittags wurde ich aus dem Konferenzsaal gerufen. Draussen empfing mich ein bekannter Herr, einer von den Mitregierenden. Wir gingen in meine in der N ä h e gelegene Schreibstube. Er forschte mich aus, wie die Ernährungsverhältnisse liegen, wie die Stimmung in dem Volke sei, ob die politische Gesinnung sich verschärft habe usw.. Ich liess ihn darüber nicht in Zweifel. Darauf fragte er mich, was ich dazu meine, wenn man jetzt statt des Dreiklassenwahlrechts in Preussen dem Volke das direkte Wahlrecht verleihen würde. Darauf gab ich die Antwort, dass es jetzt, wo die vielen Männer in dem Dienste des Krieges stehen, nicht viel heissen würde. Es würde vielleicht genügen, dem Volke das Versprechen zu geben, dass es nach Beendigung des Krieges geschehe. In dem Sinne brachte nach einigen Tagen die Regierung in den Zeitungen einen Aufruf [...].

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Eine Theateraufführung Während ich schon so manche Vorkommnisse vorwegnehmen mußte, und ich mir vornahm, die Bilder von Personen und Dingen abgerundet zu bringen, so genügt es zu sagen, dass auch in dieser Zeit unsere Arbeit auf allen Arbeitsgebieten in gewohnter Weise weiterverlief. Wir Hessen es uns sogar nicht verdriessen, noch eine weitere Arbeit auf uns zu nehmen. Da wir nun schon einige Dutzend 16-17jährige Burschen und Mädchen beisammen hatten, dachten wir auch an eine Theateraufführung. Die Aufgabe war keine leichte. Es standen uns ja nur unerprobte zur Verfügung, so dass bei der Auswahl der Stücke mancherlei Bedenken aufkommen mussten. Trotzdem Hessen wir aber den Jugenlichen so viel Mitbestimmungsrecht, zu sagen, was sie am liebsten möchten. Ihre Wahl fiel auf das Stück „Empor die Waffen", ein Dreiakter, der viel Handlung enthielt und auch gute Kostüme erforderte. Das letzte ist bei den Jugendlichen fast immer ausschlaggebend. So ein Stück einzustudieren, gebraucht immerhin eine Arbeit von zehn Wochen. Man überschüttete mich nachher mit Vorhaltungen, warum ich ein Theaterstück zuliess, in dem ein Kampf zwischen Frankreich, England und Deutschland durch die Gestalten der Marianne, des John Bulls und der Germania symbolisiert wurde. Vor dem Kriege hätte ich es kaum mitgemacht. Das Stück war ja auch nur ein Produkt des Kriegsgeistes. Heute würde ich es sicher nicht tun. Warum also damals? Ich will also so ehrlich sein und meine damalige Schwäche eingestehen. Ich habe gleich zu Beginn des Krieges keinen Funken Begeisterung aufbringen können, einmal aus Menschlichkeitsgefühlen und dann, da ich mir der wirtschaftlichen Folgen bewusst war, in dem Falle, dass Deutschland verliere, da ich nie recht glauben konnte, dass man sich gegen eine derartige Ubermacht erwehren würde. Wer von uns hat nicht das verhängnisvolle Ende geahnt? Wer hätte sich nicht ein Kriegsende gewünscht, das uns nicht noch mehr in ein Elend stürzte wie es der Krieg schon allein getan hat. Es war also damals jene seelische Stimmung, die es mich gewähren Hess. Der blutige Ausfall des Stückes hätte bei der Aufführung abergläubigen Menschen Anlass geben können, auf ein für Deutschland verhängnisvolles Kriegsende schliessen zu dürfen. Die Marianne schlug bei dem Schwertgefecht einem der Germanen ungewollt so sehr auf die Hand, dass er, als wir ihn nach der Restaurationsküche gebracht hatten, blutend in eine Ohnmacht fiel. In den Jugendpflegerkreisen ist man über das Theaterspiel mit Jugendlichen verschiedener Meinung. Die einen sind dafür, die anderen dagegen. Ich gehöre 91

nun zu der ersten Sorte. Ich kann nicht die Meinung der letzten teilen, dass das Theaterspiel in den jungen Menschen nur einen falschen Ehrgeiz entfacht und sie zu kleinen „Gernegrössen" erzieht. Ich halte es für eine gute Schule. Es gibt wenig Betätigungsgebiete, die einem die Gelegenheit so günstig geben, die Jugendlichen derart fest in der Hand zu haben, wie es gerade bei den Proben und Aufführungen der Fall ist. Hier kann man ihnen Disziplin beibringen. Hier erkennen sie auch, was geistig zu arbeiten heisst. Die meisten der Volksschüler verstehen nicht richtig zu lesen, die Sätze den Schriftzeichen entsprechend richtig auszusprechen und zu betonen. Dies alles muss ihnen erst beigebracht werden. Eine Auslese von Befähigten gibt es bei mir nicht. Alle 12 oder 15 Jungen sollen daran beteiligt sein, wenn es halbwegs geht. Selbstverständlich muss man für eine jede Hauptrolle auch einen annähernd passenden Mann haben. Ausserdem wirkt so ein gemeinsames Werk auch innerlich verbindend. Alle diese Vorteile fallen so sehr ins Gewicht, dass man es ruhig in Kauf nehmen kann, wenn sich der oder jener mehr einbildet als einem lieb ist [...].

Ein Vorfall Nach der Theateraufführung war es nur noch eine kurze Zeit bis zu der Weihnachtsfeier. Jeder Klub wollte seine eigene Feier arrangiert haben. Dazu gehörte das Einstudieren von Gedichten und Liedern.Um einen Weihnachtsbaum bedurfte es noch keiner grossen Sorge, da Hesse sich noch immer einer auftreiben. Aber was sollte darauf gehängt werden? Kohlrüben gab es noch verhältnismässig viele, doch das war nicht gerade ein verlockender Christbaumschmuck. Einen Christbaum zu besorgen, das schien etlichen Jungen eines Klubs eine ganz einfache Sache zu sein. Eines Abends kurz vor Weihnachten kamen sie schmunzelnd mit einem Baum hereingepoltert. Aus ihren lächelnden Mienen entnahm ich, dass sie den Baum einem Händler auf der Strasse gestohlen hatten und sagte ihnen auf den Kopf zu: „Jungs, den Baum habt Ihr gestohlen! Würdet Ihr Euch nicht schämen, unter einem gestohlenen Baum eine Weihnachtsfeier zu halten und Lieder zu singen?" Da von Ihnen keine Antwort folgte, hielt ich meinen Verdacht für bestätigt und hiess sie, den Baum wieder fortzubringen. Mit dem Verschicken der Kinder nach Dänemark und Schweden, erweiterte sich unser Arbeitsfeld noch mehr. Jedesmal, wenn ein Rücktransport gemeldet wurde und auf dem Stettiner Bahnhof ankommen sollte, so brachten die Kinder bei ihrer Ankunft 40, 50 bis 60 Fünfpfundpakete Käse, Butter, Eier und Wurst mit. Die Quantität richtete sich nach der Anzahl der Kinder. Mit einem Handwagen musste ich dann gewöhnlich zum Bahnnof fahren und die Pakete 92

nun zu der ersten Sorte. Ich kann nicht die Meinung der letzten teilen, dass das Theaterspiel in den jungen Menschen nur einen falschen Ehrgeiz entfacht und sie zu kleinen „Gernegrössen" erzieht. Ich halte es für eine gute Schule. Es gibt wenig Betätigungsgebiete, die einem die Gelegenheit so günstig geben, die Jugendlichen derart fest in der Hand zu haben, wie es gerade bei den Proben und Aufführungen der Fall ist. Hier kann man ihnen Disziplin beibringen. Hier erkennen sie auch, was geistig zu arbeiten heisst. Die meisten der Volksschüler verstehen nicht richtig zu lesen, die Sätze den Schriftzeichen entsprechend richtig auszusprechen und zu betonen. Dies alles muss ihnen erst beigebracht werden. Eine Auslese von Befähigten gibt es bei mir nicht. Alle 12 oder 15 Jungen sollen daran beteiligt sein, wenn es halbwegs geht. Selbstverständlich muss man für eine jede Hauptrolle auch einen annähernd passenden Mann haben. Ausserdem wirkt so ein gemeinsames Werk auch innerlich verbindend. Alle diese Vorteile fallen so sehr ins Gewicht, dass man es ruhig in Kauf nehmen kann, wenn sich der oder jener mehr einbildet als einem lieb ist [...].

Ein Vorfall Nach der Theateraufführung war es nur noch eine kurze Zeit bis zu der Weihnachtsfeier. Jeder Klub wollte seine eigene Feier arrangiert haben. Dazu gehörte das Einstudieren von Gedichten und Liedern.Um einen Weihnachtsbaum bedurfte es noch keiner grossen Sorge, da Hesse sich noch immer einer auftreiben. Aber was sollte darauf gehängt werden? Kohlrüben gab es noch verhältnismässig viele, doch das war nicht gerade ein verlockender Christbaumschmuck. Einen Christbaum zu besorgen, das schien etlichen Jungen eines Klubs eine ganz einfache Sache zu sein. Eines Abends kurz vor Weihnachten kamen sie schmunzelnd mit einem Baum hereingepoltert. Aus ihren lächelnden Mienen entnahm ich, dass sie den Baum einem Händler auf der Strasse gestohlen hatten und sagte ihnen auf den Kopf zu: „Jungs, den Baum habt Ihr gestohlen! Würdet Ihr Euch nicht schämen, unter einem gestohlenen Baum eine Weihnachtsfeier zu halten und Lieder zu singen?" Da von Ihnen keine Antwort folgte, hielt ich meinen Verdacht für bestätigt und hiess sie, den Baum wieder fortzubringen. Mit dem Verschicken der Kinder nach Dänemark und Schweden, erweiterte sich unser Arbeitsfeld noch mehr. Jedesmal, wenn ein Rücktransport gemeldet wurde und auf dem Stettiner Bahnhof ankommen sollte, so brachten die Kinder bei ihrer Ankunft 40, 50 bis 60 Fünfpfundpakete Käse, Butter, Eier und Wurst mit. Die Quantität richtete sich nach der Anzahl der Kinder. Mit einem Handwagen musste ich dann gewöhnlich zum Bahnnof fahren und die Pakete 92

Soziale Arbeitsgemeinschaft „Berlin-Ost", E.V. Theater-Aufführung vom Jugendclub-"Eintracht" am Sonntag, den 15. April 1917, abneds 7 Uhr in der Gastwirtschaft „Am Ostbahnhof". Musik. 1.

Empor die Waffen!

Ein vaterländisches Bühnenspiel in zwei Aufzügen von Dr. H. Renk. Germania Michel Marianne John Bull Wodkakaff Der getreue Eckart Treuhilde Bertchen Suttmann Der Weltbürgergeist Das Kosmopolinchen, seine Tochter Die Gerechtigkeit

K. Brandt G. Nennemann M. Zakrzewski K. Holek E. Bapawczyk E. Blumenfeld Μ .Blumenfeld E. Schiele W Bild S. Ziegler A. Pohl

2.

Geschwister Blumenfeld

Ungarischer Nationaltanz.

3.

Husarenstreich von Lüttich von Paul Matzdorf

Personen:

2.

Hans Wnder, Techniker Klara, seine Frau Lotte, ihre Tochter Karl, ihr Sohn Fritz Pfeifer, Husar Prinz Friedrich Karl, Leutnant Bürgermeister v. Lüttich ein belgischerr Soldat

W. Bild S. Ziegler E. Schiele A. Nennemann P. Senftieben G. Nennemann E. Werner F. Schumann 93

abholen. Zu Haus wurden sie dann unter den Kindern verteilt, die nicht fort waren. Als wieder einmal ein direkter Transport Lebensmittel auf dem Stettiner Bahnhof angekommen war, fuhren mein Sohn Karl und ich mit dem Handwagen hin, nicht ahnend, in welch unangenehme Situation wir auf unserem Rückweg geraten würden. Der Zug hatte beinahe eine Stunde Verspätung, statt um 10 Uhr kam er um 11 Uhr an. Diesmal waren es nur 43 Pakete, die angekommen waren. Nachdem wir sie von dem Bahnsteig heruntergebracht und in unseren Wagen geladen hatten, fuhren wir, eine gute Stunde Fussweg, die Linienstrasse und Weberstrasse entlang dem Küstriner Platz zu. Schon unterwegs hatten wir mit unserem Wagen Pech. Wir verloren und wussten nicht wie von dem Hinterrad den Vorstecker, so dass uns das Rad immer nach einigen Schritten von der Achse herunterrutschte. Immer hatte ich sonst einen Nagel in der Tasche, nur diesmal nicht. Es blieb also nichts anderes übrig, als von dem über den Wagen gespannten Bindfaden ein Stück loszuschneiden, und ihn durch das Loch, in dem der Vorstecker sass, durchzuziehen, die Achse zu umwickeln und somit festzubinden, so fuhren wir vorsichtig und langsam weiter. Dadurch hat sich die Fahrt um mehr als um das Doppelte verlängert. Wir waren gerade im Begriff, in die Weberstrasse einzubiegen, da erscholl plötzlich eine Kommandostimme „Halt!". Zwei Männer standen vor uns, einer in einem dunklen, der andere in einem braunen Anzug. „Wohin fahren Sie?" fragte der braun Gekleidete. „Nach Hause" war meine Auskunft. „Was haben Sie auf dem Wagen?" erkundigte er sich weiter. „Wurst, Butter, Käse und Eier" erwiderte ich ihm. „Woher haben Sie die Sachen?" fuhr er weiterfragend fort. „Wie heissen Sie?" „Wenzel Holek." Er dachte eine geraume Zeit nach und begann dann von neuem auf mich einzudringen. „Sie sind im Mai 1916 nach Berlin gekommen!?" „Stimmt!" antwortete ich. „Später kam ihre Familie aus Leipzig nach!?" „Stimmt auch!" nickte ich zustimmend. „Erst wohnten Sie in der Pallisadenstrasse und nachher in der Andreasstrasse." „Wie Sie es sagen, stimmt alles!" setzte ich hinzu, dabei schoss mir der Gedanke durch den Kopf, wie auch wir österreichischen Staatsangehörigen und Verbündeten Deutschlands durch die Polizei überwacht werden. Nun erzählte ich ihnen die ganze Entstehungs- und Abstammungsgeschichte der Pakete und deren Zweckbestimmung. Darauf wurde ich nach einem Ausweis befragt, den ich aber nicht vorweisen konnte, da ich ihn nicht hatte, sondern Fräulein Reichhardt, die Köchin der S.A.G., die in ihrem Kämmerlein unterdessen schon im erquickenden Schlafe lag. Sie war mit auf dem Bahnhof, fuhr aber dann, als wir mit dem Packen fertig waren, mit der Str94

assenbahn nach Hause. Bei der Verabschiedung dachte weder sie noch ich an den den Ausweisschein. Die Männer legitimierten sich durch ihre Marke als Kriminalbeamte. Endlich wusste ich es sicher, wie ich bisher nur ahnen konnte, mit wem ich es wirklich zu tun hatte. Er hiess mich nun, da ich mich nicht ausweisen konnte, ihnen auf das Polizeirevier zu folgen. Dieses befand sich unweit des Büschingplatzes in der Büschingstrasse, in einem Mietshaus. Die Amtszimmer lagen in der ersten Etage. Hier hinauf mussten wir nun all unsere Pakete tragen. Noch einmal wurde ich nach meinem Namen, meinem Beruf und nach der Wohnung gefragt. Der Beamte, der mich schon auf der Strasse verhört hatte, fragte telefonisch bei meinem zuständigen Polizeirevier in der Fruchtstrasse an, um zu erfahren, ob meine Angaben stimmten. Als er aber hörte, dass ich dort auch als Gastwirt eingetragen sei - denn die Konzession der alkoholfreien Kneipe ging unter meinem Namen - da wurde er misstrauisch und unhöflich. Damit glaubte er schon den Beweis in der Tasche zu haben, dass ich ein Schieber sei und liess es auch nicht an Bemerkungen un dieser Hinsicht fehlen. Ich widersprach ihm und wollte solche unbegründeten Verdächtigungen nicht dulden, erklärte ihm unter anderem lächelnd: „Herr Wachtmeister, hätte ich den Himmel so sicher wie das, dass ich meine Pakete wiederbekomme, da wäre ich froh!" Das schien ihn noch mehr zu reizen, indem er mir warnend zurief: „Na, lachen Sie nicht im voraus!" Ich sollte bis zum andern Tag in der Wachstube bleiben. Mein Sohn kam schon nachsehen, ob ich bald komme. Ich sagte ihm, er möge nach Hause fahren, da ich noch hierbleiben müsste, aber morgen um 8 Uhr solle er mit dem Handwagen wieder hier sein. Mein sicheres Auftreten und meine Gleichgültigkeit, die ich an den Tag legte, schien den Beamten doch unsicher gemacht zu haben. Kaum als mein Sohn fort war, rief er aus dem Nebenzimmer einen anderen uniformierten Beamten herbei. Es war ein grosser dicker Mann in Hemdsärmeln, der barhäuptig und ganz verschlafen durch die Tür zum Vorschein kam. Seinen Rang und wie ich ihn dementsprechend hätte ansprechen sollen, wusste ich nicht. Nachdem der Kriminalbeamte ihm den ganzen Sachverhalt zur Kenntnis gebracht hatte, betrachtete er mich forschend und meinte, er würde mich freilassen, wenn ich ihm verspreche, morgen früh um 8 Uhr wiederzukommen. Ich versicherte ihm von neuem zu kommen, weil ich sowieso kommen müsse, um die Pakete abzuholen. Um sein Vertrauen zu mir noch zu verstärken, fügte ich hinzu, dass ich sogar sächsischer Staatsbeamter gewesen sei. Unterdessen war es 2 Uhr nachts geworden, als man mich freiliess. Um 8 Uhr früh waren wir wieder auf dem Revier. Ich meldete mich bei dem Wachtmeister. Es telefonierte das Wucheramt in Schöneberg an, das uns bereits 95

kannte. Welche Antwort er erhielt, das vermochte ich nicht daraus zu entnehmen. Als er mit dem Gespräch zu Ende war, drehte er sich jedenfalls zu mir um und sagte: „Sie dürfen die Pakete mitnehmen!" Er begleitete mich in die Wachstube. All die Pakete musternd meinte er mit zwinkernden Augen: „Wenn man doch auch so ein Paket haben könnte!" „Liegt mir nicht daran", sagte ich und reichte ihm ein Paket Käse hin. „ N a Käse, den bekommt man hier doch auch noch" erwiderte er, das Paket zaghaft fassend. „Meinetwegen können sie auch etwas anderes haben!" liess ich entgegenkommend verlauten, indem ich ihm das Paket Käse aus der H a n d nahm und an dessen Stelle ihm die Wurst reichte. In dem Augenblick wusste ich gar nicht wie mir geschah, fünf bis sechs Polizisten waren plötzlich erschienen, als wären sie hervorgezaubert worden, ein jeder nahm so viele von den Paketen in die Arme, wie sie nur fassen konnten, liefen damit die Treppe hinunter und schlichteten sie in den Wagen. Im nu war alles unten! Ich lief noch einmal hinauf, um etwas zu fragen, aber kein Schutzmann war mehr zu sehen, verschwunden waren sie, wie die Ratten mit ihrer Beute.

Auf einem Gut in Pommern In diesem Jahr hiess es für mich wieder während der Ferien mit einem Knabenklub auf ein Gut in Pommern bei Treptow, Kreis Demmin zu gehen. 1917 war bereits ein Knabenklub dort gewesen. D a sich die Jungen ungebührlich betragen haben und vor ihrer Abreise der Gastgeberin sogar noch die ganzen Aprikosen abpflügten, verlangte sie, dass ein älterer und fester Leiter mitgegeben werden soll. Sonst müsse sie uns ihre Gastfreundschaft versagen. Die beiden Leiter des letztgenannten Klubs waren junge Gymnasiasten, also allem Anschein nach noch zu jung und unerfahren, als dass sie hätten durchgreifen und Disziplin halten können. So fuhr ich also mit 12 Jungen im Alter von 12 - 14 Jahren ab. Die meisten von ihnen kannte ich, nur drei waren Neulinge. Unter ihnen befand sich auch der Übeltäter vom vorigen Jahr und das Muttersöhnchen des Kriminalbeamten, auch Zawatzki kam wieder mit. Alle drei Jungen sind trotz der unangenehmen Vorkommnisse im vergangen Jahr Klubmitglieder geworden und hielten auch aus. Von Prager hatte ich schon so viel Uberzeugung gewonnen, dass seine Mitgliedschaft nicht von der Liebe, Klubtreue und Kameradschaftlichkeit bedingt sei. Den Wunsch seiner Mutter kannte ich. Sie suchte Menschen, durch deren Beziehungen ihr Sohn eine Förderung erfahren hätte. Gegen solche Wünsche kann schliesslich ein vernünftiger Mensch nichts einzuwenden haben, wenn nur der Junge das Zeug dazu besitzt. Sie wollte gern aus ihm einen landwirtschaftlichen Beamten machen. Dazu reichten weder seine 96

kannte. Welche Antwort er erhielt, das vermochte ich nicht daraus zu entnehmen. Als er mit dem Gespräch zu Ende war, drehte er sich jedenfalls zu mir um und sagte: „Sie dürfen die Pakete mitnehmen!" Er begleitete mich in die Wachstube. All die Pakete musternd meinte er mit zwinkernden Augen: „Wenn man doch auch so ein Paket haben könnte!" „Liegt mir nicht daran", sagte ich und reichte ihm ein Paket Käse hin. „ N a Käse, den bekommt man hier doch auch noch" erwiderte er, das Paket zaghaft fassend. „Meinetwegen können sie auch etwas anderes haben!" liess ich entgegenkommend verlauten, indem ich ihm das Paket Käse aus der H a n d nahm und an dessen Stelle ihm die Wurst reichte. In dem Augenblick wusste ich gar nicht wie mir geschah, fünf bis sechs Polizisten waren plötzlich erschienen, als wären sie hervorgezaubert worden, ein jeder nahm so viele von den Paketen in die Arme, wie sie nur fassen konnten, liefen damit die Treppe hinunter und schlichteten sie in den Wagen. Im nu war alles unten! Ich lief noch einmal hinauf, um etwas zu fragen, aber kein Schutzmann war mehr zu sehen, verschwunden waren sie, wie die Ratten mit ihrer Beute.

Auf einem Gut in Pommern In diesem Jahr hiess es für mich wieder während der Ferien mit einem Knabenklub auf ein Gut in Pommern bei Treptow, Kreis Demmin zu gehen. 1917 war bereits ein Knabenklub dort gewesen. D a sich die Jungen ungebührlich betragen haben und vor ihrer Abreise der Gastgeberin sogar noch die ganzen Aprikosen abpflügten, verlangte sie, dass ein älterer und fester Leiter mitgegeben werden soll. Sonst müsse sie uns ihre Gastfreundschaft versagen. Die beiden Leiter des letztgenannten Klubs waren junge Gymnasiasten, also allem Anschein nach noch zu jung und unerfahren, als dass sie hätten durchgreifen und Disziplin halten können. So fuhr ich also mit 12 Jungen im Alter von 12 - 14 Jahren ab. Die meisten von ihnen kannte ich, nur drei waren Neulinge. Unter ihnen befand sich auch der Übeltäter vom vorigen Jahr und das Muttersöhnchen des Kriminalbeamten, auch Zawatzki kam wieder mit. Alle drei Jungen sind trotz der unangenehmen Vorkommnisse im vergangen Jahr Klubmitglieder geworden und hielten auch aus. Von Prager hatte ich schon so viel Uberzeugung gewonnen, dass seine Mitgliedschaft nicht von der Liebe, Klubtreue und Kameradschaftlichkeit bedingt sei. Den Wunsch seiner Mutter kannte ich. Sie suchte Menschen, durch deren Beziehungen ihr Sohn eine Förderung erfahren hätte. Gegen solche Wünsche kann schliesslich ein vernünftiger Mensch nichts einzuwenden haben, wenn nur der Junge das Zeug dazu besitzt. Sie wollte gern aus ihm einen landwirtschaftlichen Beamten machen. Dazu reichten weder seine 96

geistigen Kräfte noch seine Charakterstärke aus. Der Ort, in dem wir unsere 4 Wochen verbringen sollten, hatte mit seiner ganzen Umgebung nicht viel Reiz. Die Umgebung war flach und waldlos, doch der Boden fruchtbarer als in der Neumark. Das Schloss war gross, aber nicht burgartig gebaut. Hof- und Schlossgebäude bildeten auch hier ein Viereck, wie es fast auf allen Guthöfen in Pommern zu ersehen ist. Wir wurden in dem einstöckigen, vom Schloss nur wenige Schritte entfernten Wirtschaftshaus untergebracht. Im Erdgeschoss befand sich die Küche und ein geräumiges Esszimmer. Die Räume im ersten Stock bewohnten die Wirtschafterin oder Köchin mit ihren Helferinnen, in einem anderen befanden sich zehn serbische Gefangene. Wir durften unser Lager auf dem Dachboden aufschlagen, Nägel in die Balken hämmern und unsere Sachen daran aufhängen. Unser Lager sah wie eine flachlange, mit Stroh gefüllte Kiste aus, geräumig, dass jeder sich nach Belieben drehen und wenden konnte. Mit mir machte man eine Ausnahme. Ich bekam ein Bett aus Urgrossmutters Zeiten ebenfalls mit Stroh gefüllt und Pferdedecken zum Zudecken. Ausser uns waren noch sieben Schulmädchen mit einer Leiterin aus Stettin anwesend. Bald hatte ich den Eindruck gewonnen, dass die Wirtschafterin uns nicht besonders zugetan war, das schien mir auch für unsere Magen nachteilig zu werden. Hier führte mich das Schicksal wieder mit dem 16jährigen Kurt Müller zusammen, von dem ich gleich zu Beginn erzählte, wie wir nach Berlin kamen und miteinander nicht einig werden konnten, und sich dann von uns entfernte. Auch seine Mutter war als Gast hier. Als sie mich erblickte, hatte sie natürlich nicht eiligeres zu tun, als mich gehörig auszuschimpfen. Sie behauptete, ich hätte ihren Jungen schlecht behandelt, deshalb sei er aus dem Klub ausgetreten. Sie sprach mir alle Fähigkeiten ab, mit Jungen umzugehen. Wie ich dazu kam, wusste ich nicht. Ohne zu widersprechen ging ich darüber hinweg. Sie und die Leiterin aus Stettin hatten Kartoffel zu schälen und sonstige Helferdienste zu leisten. Kurt Müller hütete hier schon seit einem Jahr die Schafe. Was er, der Grosstadtjunge, damit für einen Vorsatz haben konnte, das zu erfahren, liess mir keine Ruhe, bis ich es aus ihm heraushatte. Die Nahrungsmittelnot allein war es nicht, die ihn auf das Land trieb, missratene Abenteuerlust und phantastischer Einschlag wirkten dabei mit. Er glaubte, ein landwirtschaftlicher Beamter werden zu können. Unser Ferienleben verlief wie immer. Es wurde gespielt, gearbeitet und in dem nahen See gebadet ohne irgendwelche Zwischenfälle. Das einzige, was uns hier nicht wenig verärgerte, waren die zu Massen vorhandenen Fliegen. An der Küchendecke bildeten sie eine förmliche Wolke. Wurde ein Topf mit kochender Flüssigkeit aufgedeckt, dann fanden jedesmal Dutzende von ihnen den Tod, indem sie, von dem aufschiessenden Dampf verbrüht, herunterfielen.

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Ass man Kartoffel in Öl und Zwiebel gebraten, so musste man gut aufpassen, um die geröstete Zwiebel von der Fliege unterscheiden zu können. In der Milchsuppe konnte man die Biester besser sehen. Trotz der täglich sich wiederholenden Todesstürze war diese Brut nicht auszurotten. Es schien fast, als würden es dadurch nur immer mehr. Das war auch kein Wunder! Die Brutstätte war gleich vor der nach dem Obstgarten führenden Küchentür, hier befand sich der grosse Hühnerstall. Im vorigen Jahr hatte ich 14 Pfund zugenommen. Zu einem gleichen Ergebnis waren diesmal die Aussichten schlecht. Wäre es mir nicht um die Jungen zu tun gewesen., ich hätte schon am dritten Tag meine Rückreise angetreten. Denn nichts kann mir das Essen mehr verekeln als eine Fliege oder eine unsaubere Frau. Die Gutsbesitzerin war eine feine und höfliche Dame. Sie kam einen jeden Abend mit ihrer Tochter zu uns, sie brachten ständig einen Korb voll Obst, das eine Mal Stachelbeeren, das andere Mal wieder Johannisbeeren usw.. Vielleicht sollte damit vorgebeugt werden, dass ihre Aprikosen an der Rückwand des Wirtschaftshauses keine Beine kriegen, wie es im vorigen Jahr passierte. Der Inspektor des Gutes war uns auch nicht gerade gut gewogen. Geiziger als der Gutsbesitzer, wie es uns erzählt wurde, sollte er schon 50 Jahre hier leben und arbeiten. Ein kluger und geschäftiger Mann war der Lehrer. Acht Kinder zählten zu seiner Familie, wie er sagte, und er könne sie alle auf die höheren Schulen schicken, auch würden sie alle was werden. Ihm stand ein ziemlich grosser Gemüsegarten am Schulhaus zur Verfügung. Die Bienenzucht soll ihm letztes Jahr 3000 Mark eingebracht haben. Ferner verfügte er über soviel Feld, dass er Kartoffel und Getreide anbauen konnte. Die Gutsverwaltung Hess sämtliche Feldarbeiten für ihn tun. Ausserdem erhielt er täglich sechs Liter Milch. Von der in Deutschland herrschenden Not wusste er wenig und glaubte nicht, dass Deutschland diesen Krieg verlieren könne. Die gefangenen Serben waren alle stämmige Kerle! Mit Hilfe der tschechischen Sprache war es mir möglich, mich mit ihnen zu verständigen. Ihnen missfiel es, dass sie tagaus tagein arbeiten müssen. Auf meine Frage, was sie wohl zu Hause tun, erfuhr ich, dass ein jeder ein Anwesen mit Weide und Schafe habe. Nur drei Monate im Jahr hätten sie es nötig zu arbeiten, dann Wutki trinken und Zigaretten rauchen (sie!). Ihr Wachposten war ein Glasmacher der Zeiss'schen Werke in Jena. Da ich schon so manches über dieses Werk gehört und gelesen habe, hoffte ich aus dem Munde dieses Mannes etwas Positives zu erfahren, er wusste aber weniger als ich! Bevor wir von hier abreisten, wurde ich mit dem Müller und seiner Mutter 98

gut Freund, und er Hess sich leicht dazu bewegen, mit nach Berlin zurückzukehren. Als ich ihn einmal aus seiner Wohnung abholte, um ihn in eine Lehrstelle zu bringen, da sass er am Ofen und spielte mit seinem kleinen Bär, den er schon als Knabe lieb hatte. Er lernte bei einer Firma für Dampfheizungsbau. Franz Pech, Mitglied des Klubs, der auch mit in Pommern war, zeigte bei seinen 13 Jahren, die er erst zählte, eine ziemliche Grösse und eine Dickleibigkeit. Sein großer runder, Kopf, die mittelhohe Stirn und sein breites Gesicht Hessen es nicht zu, auf eine arische Abstammung zu schliessen. Auch der Inhalt seines Schädels gab nicht gerade den Anlass zu allzu vielen Hoffnungen (sie!). In einer Klubstunde teilte er mir die Neuigkeit mit, dass er auf den Wunsch seines Vaters in die Realschule gehen müsse. „Mensch", sagte ich ihm erstaunt, „da kommst du nicht mit!" An einem folgenden Sonntagvormittag Hess sein Vater mir melden, dass er mich besuchen wolle und war an besagtem Tage pünktlich zu Stelle. Seine barsche Stimme und sein etwas finsteres Gesicht erweckten in mir die Vermutung, dass er mich wegen dem zur Rede stellen will, was ich seinem Jungen so geradeweg gesagt habe. Als ich ihn jedoch freundlich, auf seinen gereizten Zustand gar nicht reagierend, bat, sich zu setzen und ihn fragte, womit ihm dienen kann, da wurde er ruhiger und trug mir eine Pläne, die er mit seinen Jungen hatte, vor. Er selber sei ein Arbeiter, ein Schlosser, habe einen einzigen Jungen und er möchte es nicht, dass auch er sich so schinden soll, wie er es muss. Auf meine Frage, was er denn nun eigentlich gedenkt, aus dem Jungen zu machen, meinte er, es bestände die Möglichkeit, dass aus ihm eine Ingenieur oder so etwas ähnliches werden könnte. Sein Wunsch schien mir ganz natürlich und selbstversändlich. Der Eltern Zukunft Hegt in den Kindern. Welche Eltern wünschen nicht, dass es ihre Kinder besser haben sollen, als sie es haben! Es gibt allerdings auch solche, denen nichts daran Hegt. O b nun gerade dieser Junge solchen Wünschen seiner Eltern nachkommen konnte, das war mir zweifelhaft! Dass ich den Jungen besser zu beurteilen imstande war als sein Vater, das wurde mir nach einem Jahr bestätigt, als er aus der Realschule ausscheiden mußte. Bei diesem Fall interessierte mich ganz besonders noch ein anderer psychologisch wichtiger Umstand. Der Vater war gewiss gewerkschaftlich und politisch organisiert, was als eine Voraussetzung des Klassenbewußtseins anzusehen ist. Der Junge soll aber aus der Sphäre des väterlichen Klassenbewusstseins herausgehoben und in das nichtproletarische Bewusstsein versetzt werden. Da schien mir die Marx'sche Klassenbewusstseinstheorie mit der Praxis nicht übereinzustimmen. 99

Kurt Prager brachte ich auf ein Gut nach Belgrad. Da lernte er Gärtner. Immer schwieriger wurde es mit ihm, je höher sein Alter stieg. Ihn geistig anzuregen, ihm Vorsätze und seine Zielsetzung beizubringen, das alles blieb vergebliche Mühe. Er wünschte sich viel Geld, spielte gern den Kavalier, wozu natürlich auch die Mädchen unentbehrlich waren. Er wurde in dem letzten Jahr seiner Lehrzeit zur weiteren Ausbildung in eine Kunstgärtnerei gebracht, musste aber bald wegen seiner Interessenlosigkeit und weil er sich etwas angeeignet hatte, was nicht sein war, entlassen werden.

Eine Konferenz zur Arbeiterreligion Zur selben Sommerzeit fand auch eine Arbeitskonferenz der Sozialen Arbeitsgemeinschaft statt, die ich nicht umgehen möchte, da sich in ihr die Stimme der damaligen Zeit so recht spiegelt. Abgehalten wurde sie in Pommern und zwar in Trieglaff, Kreis Greifenberg, in den Schlossräumen des Landrats von Thadden. - Trieglaff lag eine halbe Stunde von der Eisenbahnstrecke StettinKolberg entfernt. Es ist ein grösseres Dorf mit einem Rittergut und zwei Kirchen, einer evangelischen und einer reformierten. Dieser Ort hat auch eine historische Bedeutung; als junger Mann lebte dort die Reichskanzler Fürst Bismarck. Das Schloss liegt auf eine Anhöhe und hinter derselben ein See mit einem prachtvollen Park. Zwischen dem See und dem Schloss wurde im Jahre 1844 ein Saal angebaut, der ungefähr 200 Gäste fasst. Unter dem Saal befindet sich ein Keller. Am Fussboden des Saales zeigt sich ein historisches Loch, durch das man ein ungefähr armdickes Rohr bequem stecken kann. So wurde dem alten Herrn von Thadden bei Festen mit Hilfe einer Handspritze vom Keller aus ein Kunstwasserwerk in Funktion gesetzt. Zu der Konferenz fanden sich allerlei Gäste ein, von denen ich wenigstens einige Namen streifen möchte. So waren ζ. B. anwesend: Reichskanzler a. D. Michaelis, Pfarrer Schmidt, Leiter der Brüdergemeinde in Nisky, Mennicke, der jetzige Leiter der Hochschule für Politik, der bekannte Leiter des Hamburger Volksheims (Walter Clarsen) wie auch andere hohe und niedrige Geistliche aus der Umgebung und aus der Provinz. Die meisten Teilnehmer zählten aber doch zum Pommerschen Adel, dem Grossgrundbesitz. In meiner Unerfahrenheit unter solchen Kreisen fiel mir auf, dass so viele des jungen weiblichen Geschlechts sich für die auf der Tagesordnung stehenden Probleme interessierten, auch dass die Frauen besonders grosse Koffer auf ihrer Reise mitschleppten. Der Grund dieses allzuvielen Reisegepäcks wurde mir bald klar, als ich sah, wie die Frauen sich morgens, mittags und abends 100

Kurt Prager brachte ich auf ein Gut nach Belgrad. Da lernte er Gärtner. Immer schwieriger wurde es mit ihm, je höher sein Alter stieg. Ihn geistig anzuregen, ihm Vorsätze und seine Zielsetzung beizubringen, das alles blieb vergebliche Mühe. Er wünschte sich viel Geld, spielte gern den Kavalier, wozu natürlich auch die Mädchen unentbehrlich waren. Er wurde in dem letzten Jahr seiner Lehrzeit zur weiteren Ausbildung in eine Kunstgärtnerei gebracht, musste aber bald wegen seiner Interessenlosigkeit und weil er sich etwas angeeignet hatte, was nicht sein war, entlassen werden.

Eine Konferenz zur Arbeiterreligion Zur selben Sommerzeit fand auch eine Arbeitskonferenz der Sozialen Arbeitsgemeinschaft statt, die ich nicht umgehen möchte, da sich in ihr die Stimme der damaligen Zeit so recht spiegelt. Abgehalten wurde sie in Pommern und zwar in Trieglaff, Kreis Greifenberg, in den Schlossräumen des Landrats von Thadden. - Trieglaff lag eine halbe Stunde von der Eisenbahnstrecke StettinKolberg entfernt. Es ist ein grösseres Dorf mit einem Rittergut und zwei Kirchen, einer evangelischen und einer reformierten. Dieser Ort hat auch eine historische Bedeutung; als junger Mann lebte dort die Reichskanzler Fürst Bismarck. Das Schloss liegt auf eine Anhöhe und hinter derselben ein See mit einem prachtvollen Park. Zwischen dem See und dem Schloss wurde im Jahre 1844 ein Saal angebaut, der ungefähr 200 Gäste fasst. Unter dem Saal befindet sich ein Keller. Am Fussboden des Saales zeigt sich ein historisches Loch, durch das man ein ungefähr armdickes Rohr bequem stecken kann. So wurde dem alten Herrn von Thadden bei Festen mit Hilfe einer Handspritze vom Keller aus ein Kunstwasserwerk in Funktion gesetzt. Zu der Konferenz fanden sich allerlei Gäste ein, von denen ich wenigstens einige Namen streifen möchte. So waren ζ. B. anwesend: Reichskanzler a. D. Michaelis, Pfarrer Schmidt, Leiter der Brüdergemeinde in Nisky, Mennicke, der jetzige Leiter der Hochschule für Politik, der bekannte Leiter des Hamburger Volksheims (Walter Clarsen) wie auch andere hohe und niedrige Geistliche aus der Umgebung und aus der Provinz. Die meisten Teilnehmer zählten aber doch zum Pommerschen Adel, dem Grossgrundbesitz. In meiner Unerfahrenheit unter solchen Kreisen fiel mir auf, dass so viele des jungen weiblichen Geschlechts sich für die auf der Tagesordnung stehenden Probleme interessierten, auch dass die Frauen besonders grosse Koffer auf ihrer Reise mitschleppten. Der Grund dieses allzuvielen Reisegepäcks wurde mir bald klar, als ich sah, wie die Frauen sich morgens, mittags und abends 100

Die Pfingstkonferenz in Trieglaff, die vom 21. bis 25. Mai 1918 stattfand, war die erste umfassende Aibeitskonferenz der SAG. Thema war: „Zur Arbeiterreligion". Das Programm sah folgendermaßen aus: 21. Mai vormittags: Zur Arbeiterreligion 1 Walther Classen Leben und Kampf Jesu nachmittags: Landrat Dr. von Thadden Stadt und Land 22. Mai vormittags: Zur Arbeiterreligion II Walther Classen Jesus und Goethe nachmittags: Martha Abicht und Wenzel Holek Wie fördern wir das geistige Leben der Jugendlichen? 23. Mai vormittags: Zur Arbeiterreligion III Walther Classen Jesu Forderung an uns nachmittags: Mitgliederversammlung der SAG 24. Mai vormittags: Zur Arbeiterreligion IV Lie. Dr. Rittelmeyer Christentum und Friedensarbeit nachmittags: Das Durchhalten der Heimat 25. Mai vormittags: Dr. von Erdberg Ein Volkshaus Berlin-Ost nachmittags: „Akademisch-soziale Arbeit" (Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft 11/ (1918) immer wieder in anderen Kleidern zeigten, was sie dann veranlasste, dass sie so oft am Tage ihre Kleidung wechselten, darüber zerbrach ich mir erst den Kopf. Wir auswärtigen Gäste wurden auf die benachbarten Güter verteilt. Ich kam ζ. B. mit acht Damen und einem Pastor zu Frau von Wodke. D a schliefen wir und bekamen Frühstück und Abendessen und einige Schnitten Brot für den Tag. In Trieglaff wurde für uns das Mittagessen zubereitet und in Kesseln gekocht. Der Pastor hielt es in unserer Gesellschaft nur einen Abend aus, er Hess sich in ein anderes Quartier versetzen. Er benahm sich sehr gelehrt und dazu noch widrig schmeichelhaft. Die Anreden „Gnädige F r a u " und Gnädiges Fräulein" flogen nur so hin und her und wirkten auf uns alle, durch die Kriegszeit uns gegen solche Uberschwenglichkeiten immun gemachten Gei101

ster, wie Stinkbomben. Auch mögen wir ihm vielleicht zu dumm geschienen zu haben. Die Stimmung der Teilnehmer war nicht gerade erhebend. Sie hatte das Gepräge, als wenn man vor einer Schicksalswendung steht, von der man nicht weiss, ob einem das Gute oder das Böse trifft. Die immer mehr drückende Not und das Schwanken des Kriegsglückes, Hess einem jeden die Lage unsicher erscheinen, machte alle ahnungsvoll, dass nichts Gutes folgt. Das Hess auch alle die Trennlinien der Stände und Klassen übersehen, sich nebeneinanderzusetzen und einander wenigstens mit Tost zu stärken. Darauf war ungefähr auch die ganze Tagung zugeschnitten. Dass Classen zwischen Jesus und Goethe einen Vergleich zog, schien mir als ein Wagnis. Obwohl ich in Goethes Schriften viele lebensaufbauende Kräfte und Wahrheiten finde, die sogar oft der Bibel entlehnt sich. In Faust lässt Goethe den Herrn mit dem Mephisto sich unterhalten, und am Schluß des zweiten Teils tritt der Herr auch wieder mit seinem Gefolge auf, sonst kommt aber in der ganzen Tragödie der Name Jesu kein einzigesmal vor. Doch will ich nicht jetzt, sondern erst später meine Meinung über die Kirche äussern. Ebenso will ich hier nichts über meinen in dieser Konferenz gehaltenen Vortrag über die Arbeiterjugend sagen, da mein Standpunkt darüber zur Genüge aus meiner hier geschilderten Arbeit zu ersehen ist. Zum Schluss möchte ich es doch nicht vergessen, dass auch auf dieser Konferenz einige Verlobungen zustande gekommen sind. Eine von den Damen, über die dieses Glück auch so jäh hereinbrach, war schon in der Berliner Universität für Nationalökonomie eingetragen und wohnte bereits bei uns Am Ostbahnhof. Einige Tage später, als wir von der Konferenz zurückgekommen waren, packte sie ihre Koffer und erkundigte sich bei mir nach einem Spediteur. Erstaunt, als wüsste ich nicht, dass sie sich verlobt hatte, gab ich ihr zur Antwort: „Aber Fräulein, wo wollen Sie denn hin? Sie wollen doch die Nationalökonomie studieren!" „Ich fahre zu meinem Verlobten", erklärte sie mir. Zwei Eisen im Feuer zu halten sei doch besser, dachte ich bei mir. Wir waren wieder dabei, uns für die nächsten Weihnachtsfeiern vorzubereiten. Weiter hatten wir uns vorgenommen, mit vier Knabenklubs in dem ersten Vierteljahr 1919 eine grössere Veranstaltung, einen Familienabend in einem Schulsaal mit mehr als 40 Kindern, Knaben und Mädchen zu arrangieren. Da fuhr uns aufeinmal die Revolution dazwischen. Sie vermochte aber unsere Vorsätze nicht umzustossen. Wir übten und probten weiter. Alles lief befriedigend ab. Auch die Weihnachtsfeier der einzelnen Klubs bis auf eine, die gerade ich selbst leitete. Dieser Knabenklub setzte sich zusammen aus den in der Nachbarschaft wohnenden Knaben. Es war so etwas wie mein Ideal, dass ich, als wir nach der Strasse Am Ostbahnhof gezogen waren, zuallererst die Nach102

barschaftskinder zu sammeln begann, in der Hoffnung, dass dies ein festes [...] geben müsse. Habe mich aber dann doch getäuscht! Ich musste erst durch die praktische Erfahrung einsehen lernen, dass ihnen die ringsherum zerstreut wohnenden Jungen wertvoller waren, als die anderen. Ein Beisammensein in dem Klub bietet ihnen keinen besonderen Reiz. Sie hocken in ihrer schulfreien Zeit vor den Häusern, unterhalten sich durch Erzählungen oder Spiel, oder aber sie ergötzen sich an einer Prügelei. So gibt es bald zwischen denen oder jenen Verdruss. Daraus entstehen feindliche Gruppen, von denen die eine oder andere die Klubsitzung meidet. Glücklicherweise dauert gewöhnlich so eine Feindschaft nicht lange. Da sie aber öfter entsteht, wirkt sie auf das Klubleben störend. Ein Kunststück ist es oft, einen solchen von draussen hereingetragenen Quatsch zu schlichten. Zu unserer Weihnachtsfeier bekamen wir von einem S.A.G. Freund einen Christbaum geschenkt und uns selbst war es gelungen, von dem Klubvermögen etliche Pfund Apfel und Kekse aufzutreiben. Die Apfel waren von geringer Qualität, doch erhielten davon ein jeder acht Stück. Die Kekse hatten die Grösse einer Zündholzschachtel und wurden zu je sechs Stück verteilt. Allerdings geschah das erst nach der Feier. Zwei Jungen waren nicht anwesend, da sie an der Feier teilzunehmen, verhindert waren, hatten aber ihren Anspruch auf ihren Teil vorher angemeldet. Das allzu schnelle Verschwinden zweier anderer aus dem Klubzimmer machte mich stutzig. Es mussten nach der Verteilung 12 Kekse und 16 Äpfel übrig bleiben, der Tisch war aber leer. Nun sah ich erst, was geschehen war. Zum Glück traf ich noch einen von ihnen im Hausflur. Dem drohte ich an, dass der gesamte Klub solange ausgesperrt bleibt, bis ich erfahren habe, wer die Sachen entwendet hat. Es dauerte jedoch nicht lange, da erfuhr ich, wer die beiden Missetäter waren. Das wischte aber die Mitschuld der anderen nicht ab. Ich setzte die Aussperrfrist auf vier Wochen fest und verlangte ausserdem die gestohlenen Sachen zurück. Am anderen Tag bekamen auch die nicht erschienen Jungen ihre Weihnachtsgabe. Als nur noch drei Tage bis zu der Auflösung des Aussperrtermins fehlten, kamen die Jungen gebettelt, ich solle sie doch wieder hereinlassen. Ich hielt aber an dem Termin fest.

Die Novemberrevolution Vorher erwähnte ich, wie wir bei unserer Arbeit von der Revolution überrascht waren. Dieses geschichtliche Ereignis zu übergehen, würde in diesem Buche ein Lücke bedeuten. Wohl kann ich nur das erzählen, was ich selbst beobachtet habe. Ich muss auch gestehen, dass dieses das unangenehmste Ka103

barschaftskinder zu sammeln begann, in der Hoffnung, dass dies ein festes [...] geben müsse. Habe mich aber dann doch getäuscht! Ich musste erst durch die praktische Erfahrung einsehen lernen, dass ihnen die ringsherum zerstreut wohnenden Jungen wertvoller waren, als die anderen. Ein Beisammensein in dem Klub bietet ihnen keinen besonderen Reiz. Sie hocken in ihrer schulfreien Zeit vor den Häusern, unterhalten sich durch Erzählungen oder Spiel, oder aber sie ergötzen sich an einer Prügelei. So gibt es bald zwischen denen oder jenen Verdruss. Daraus entstehen feindliche Gruppen, von denen die eine oder andere die Klubsitzung meidet. Glücklicherweise dauert gewöhnlich so eine Feindschaft nicht lange. Da sie aber öfter entsteht, wirkt sie auf das Klubleben störend. Ein Kunststück ist es oft, einen solchen von draussen hereingetragenen Quatsch zu schlichten. Zu unserer Weihnachtsfeier bekamen wir von einem S.A.G. Freund einen Christbaum geschenkt und uns selbst war es gelungen, von dem Klubvermögen etliche Pfund Apfel und Kekse aufzutreiben. Die Apfel waren von geringer Qualität, doch erhielten davon ein jeder acht Stück. Die Kekse hatten die Grösse einer Zündholzschachtel und wurden zu je sechs Stück verteilt. Allerdings geschah das erst nach der Feier. Zwei Jungen waren nicht anwesend, da sie an der Feier teilzunehmen, verhindert waren, hatten aber ihren Anspruch auf ihren Teil vorher angemeldet. Das allzu schnelle Verschwinden zweier anderer aus dem Klubzimmer machte mich stutzig. Es mussten nach der Verteilung 12 Kekse und 16 Äpfel übrig bleiben, der Tisch war aber leer. Nun sah ich erst, was geschehen war. Zum Glück traf ich noch einen von ihnen im Hausflur. Dem drohte ich an, dass der gesamte Klub solange ausgesperrt bleibt, bis ich erfahren habe, wer die Sachen entwendet hat. Es dauerte jedoch nicht lange, da erfuhr ich, wer die beiden Missetäter waren. Das wischte aber die Mitschuld der anderen nicht ab. Ich setzte die Aussperrfrist auf vier Wochen fest und verlangte ausserdem die gestohlenen Sachen zurück. Am anderen Tag bekamen auch die nicht erschienen Jungen ihre Weihnachtsgabe. Als nur noch drei Tage bis zu der Auflösung des Aussperrtermins fehlten, kamen die Jungen gebettelt, ich solle sie doch wieder hereinlassen. Ich hielt aber an dem Termin fest.

Die Novemberrevolution Vorher erwähnte ich, wie wir bei unserer Arbeit von der Revolution überrascht waren. Dieses geschichtliche Ereignis zu übergehen, würde in diesem Buche ein Lücke bedeuten. Wohl kann ich nur das erzählen, was ich selbst beobachtet habe. Ich muss auch gestehen, dass dieses das unangenehmste Ka103

pitel ist, worüber ich mit gemischten Gefühlen schreibe. Denn als ich vor 45 Jahren die Arbeiterbewegung kennenlernte und ihr begeisterter Anhänger wurde, da erhofften wir uns eine andere Entwicklung, als sie sich heute darstellt. Wer von uns hätte es glauben wollen, dass es in 45 Jahren kaum einen Arbeiter geben sollte, der wenigstens aus seiner Lage heraus einzusehen vermochte, wo die Ursachen seiner materiellen und geistigen Not, wie auch die seiner wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit zu finden sind. Wieviele leben heute noch in einer völligen Unklarheit über ihre Lage, lassen sich von den unsinnigsten Versprechungen bald von denen bald von jenen füttern, solange bis sie von der aussichtslosen Erfüllbarkeit enttäuscht in die Schwarzseherei versinken. Wer von uns mit der Marx'schen Theorie vertraut war, die nationalen und internationalen wirtschaftlichen Zusammenhänge kannte, der sah die Revolution als einen Schlussakt der wirtschaftlichen Höchstentwicklung an. Unter einer solchen Entwicklung verstand Marx, dass das Kapital sich immer mehr in einzelne Hände anhäuft, die Kleinbetriebe sich in Grossbetriebe konzentrierten und dass es dann auf der einen Seite nur wenige Menschen gäbe, die alles Kapital und alle Produktionsmittel besässen, und denen gegenüber die grosse proletarische Masse stände. Dann erst wäre es möglich, wenn diese Entwicklungsstufe erreicht sei, die Kapitalisten zu enteignen und den Sozialismus zu verwirklichen. Der Glaube an diese Prophezeiung gab uns damals die Kraft zum Kampf und die Hoffnung zu einer schnelleren Vollziehung diese Entwicklungsgeschichte, die uns noch Nutzniesser dieser Früchte werden lassen sollte. Aber mit der Zeit sahen wir mit eigenen Augen, dass die Sache doch nicht schnell ging. Und nun sahen wir auch, dass das, was über uns herein gebrochen war und was man die Revolution nannte, keine von den der oben ganannten Entwicklung bedingter Revolution war, sondern nur ein Zusammenbruch des bisherigen Regierungs- und Militärsystems. Ein Nachricht folgte auf die andere: Der Kaiser hat abgedankt und ist ausgerückt. Wer hatte das von einem so grossen Kaiser erwartet, war das überhaupt möglich? Waffenstillstand! - Sodatenräte wurden gewählt, unter der Leitung das Heer zum grössten Teil in das Heimatland zurückflutete. Scheidemann hat die Republik ausgerufen, seine Regierung von Volksbeauftragten wurde gebildet unter Ebert und Scheidemanns Führung. So folgte eins nach dem anderen, dass man aus dem Erstaunen nicht herauskommen konnte. Aber eine Begeisterung vermochte dieses alles nicht entfachen, wenigstens nicht in mir. Auch im allgemeinen war von einer Begeisterung nichts zu merken. Selbst die nun regierenden Männer werden sich wohl nicht viel begeistert haben an dem, was und wie es gekommen ist. Eine Republik zu erlangen, das war wohl 104

schon immer unser langersehntes Ziel gewesen, doch damit konnte man doch nicht die hungrigen Magen füllen und die Leiber bedecken und den Händen Arbeit schaffen. Die Lebensmittelvorräte und sonstige zum Leben notwendige Waren, waren lange vorher schon erschöpft. Dass man im Berliner Schloss 1000 Sack weisses Mehl gefunden hatte und es beschlagnahmte, war ja schön, gut und recht, aber was galt das schon gegenüber den Millionen bedürftiger Magen! Die Industrie war mehr oder weniger auf Kriegsproduktion eingestellt. Mit der Erklärung des Waffenstillstands und dem darauffolgenden Zusammenbruchs der Front, hörte des Heeresbedarf auf. Die Industrie blieb stehen. Für die von der Front zurückkehrenden Arbeiter, Handwerker, Angestellten, Beamten und Offiziere gab es nur im geringen Masse Beschäftigung. Die Fabriken mussten erst ihre dem zivilen Leben entsprechende Produktionsweise umstellen. Jeder stand vor der bangen Frage: Wovon soll ich leben? Die Staatskasse und die Gemeindekassen waren leer. Das Volk stand durch die vielen inneren Kriegsanleihen ausgepumpt da. Fast die Hälfte des Volksvermögens wurde vom Krieg aufgefressen. Wir konnten zwar Geld drucken, so viel wir nur wollten, was nutzte es aber, wenn sich nichts zum Verkauf darbot. Wohin das Gelddrucken führte, darüber belehrete uns die spätere Zeit. So stand es am 9. November 1918 mit uns. Hätte der grosse Wissenschaftler Karl Marx noch gelebt und die Lage übersehen, und wären wir mit der Frage auf ihn eingedrungen, ob sozialisiert werden solle oder nicht, so wäre wohl seine Antwort, auf seinen Scharfsinn zu schliessen, gewiss mit einem Nein ausgefallen. Zu diesem Urteil über die Sachlage komme ich nicht etwa aus Sympathie zu irgendwelchen Personen, sondern aus der Erkenntnis der wirtschaftlichen Lage, wie ich sie zu sehen gelernt habe. Das Bürgertum, gewöhnt an geistige Führung und an den Schutz des Staates, stand da wie ohne Kopf. Der Mittelstand, der schafft und schafft, der leben und leben lassen will, aber sonst fast kein anderes Lebensideal kennt und keine besondere Neigung verspürt, um sich um politische Dinge zu kümmern, der aber des Krieges auch satt war, Söhne und Gut verloren hatte, ihm ist es recht gewesen, dass ich noch jemand fand, der wieder Ordnung zu schaffen versprach. Noch während des Krieges hörte ich von ihnen sagen: „Jetzt bin ich auch schon rot geworden!" Sie glaubten an die sittliche Kraft und Macht der Arbeiterbewegung. Sie schätzten sie nach ihrem Streben und nach ihrer Organisationsmacht ein. Eine Zeit lang lief auch die Sache befriedigend. Die Soldatenräte kamen, besetzten sämtliche Ämter, auch die Polizeireviere, entwaffneten die Schutzleute. An Stelle des krebsartigen Bürokratismus trat unter Einwirkung der Sozialdemokratie, eine schnelle Erledigung der Geschäfte ein und die Beamten wurden auch höflicher. Für die Gasthäuser wurde die Poli105

zeistunde auf 10 Uhr abends befohlen und so manche anderen Dinge geordnet. Das war etwas von jener Kraft sichtbares, das der Partei, die nun an die Regierung gelangte, Achtung verschaffen musste und dessen man sich auch allgemein erfreute. Eine Soldatenwehr wurde gegründet, in die nur organisierte Arbeiter eingestellt werden sollten. Das war von der Regierung ein ausgezeichneter und klug durchdachter Plan. Die organisierten Arbeiter sollten die aus ihrer Mitte in die Regierung gewählten Männer stützen und ihnen zu den zu ergreifenden Massnahmen die Macht verleihen. Es sollte aber anders kommen. Karl Liebknecht, mit dem Beinamen Spartakus, trat auf, fuhr durch die Strassen Berlins, von Platz zu Platz und von einer Kaserne zur anderen, den Aufstand predigend. In den Fabriken gab es noch wenig Arbeit. Die Menschen sammelten sich in den Strassen und Plätzen an, so fand er immer willige Hörer in Massen. Dieselben fand er aber auch unter den Arbeiterwehrlern, die sich sowieso bereits schon aus den Unabhängigen und Mehrheitssozialisten zusammensetzten. Viele zog er an sich und machte sie zu seinen Anhängern. Wurden die einen verlangt, um irgendwo Ordnung zu schaffen, so hinderten die anderen sie mit Waffengewalt daran. Und so erlebten wir es schliesslich, wie in einer Nacht die Kaserne in der Köpenickerstrasse von einer Gruppe andersdenkender, von der Schillingsbrücke aus beschossen wurde. Auf den Strassen und Plätzen bildeten sich Ansammlungen von 30 und noch mehr Mann und in deren Mitte immer ein Wanderredner. Das Land schien auf einmal mit soviel Propheten gesegnet zu sein, dass man staunen musste, woher sie alle kamen. Jeder, der über einige Grad Rednergabe zu verfügen glaubte, fühlte sich berufen und wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, als Politiker und Prophet aufzutreten, um dabei auch für sich das Glück zu finden. Die eifrigsten von denen waren Liebknechts Anhänger. Sie wanderten von früh bis abends spät hin und her. Hätten diese Leute über ebenso eine Masse von Wissen verfügt wie an Eifer und Ausdauer, sie hätten Berge in Bewegung bringen müssen. Mit Wissensschätzen stand es schlecht bei ihnen. Meist schwatzten sie ein politisches und ökonomisches Kauderwelsch. Die Anhänger der Unabhängigen Sozialdemokratie verhielten sich bei dieser Redeboxerei passiv, denn sie waren sich noch nicht ganz sicher, ob sie morgen oder übermorgen dem russischen Beispiel folgen sollen. Uber eine grössere Anzahl geschulter, politisch und organisatorisch erfahrener Leute verfügte natürlicherweise die Mehrheitssozialistische Partei. Die waren auch klug genug, sich als Korreferenten auf das dumme Geschwätz nicht einzulassen, um so mehr aber bestürmten sie die Wanderredner mit Fragen und zogen sie somit von der Stelle weg, die ihnen dann doch zu unsicher wurde, da sie den Umstehenden nur zu leicht verraten mussten, wie schlecht es um ihr Wissen bestellt sei. 106

Diese Zeit noch viel besser auszunutzen, das verstanden die ganz Klugen. Bei dem Wanderreden, Agitieren oder Zeitungsverkauf vermochten sie keinen Nutzen für sich selber zu ersehen. Was hatten sie schon davon, wenn sie vom Gemeinsinn redeten? So stellten sich also die Klugen mit drei Spielkarten in der Tasche, die rote Sieben, die Acht und die Neun, und einem zusammenklappbaren Brett in der Grösse eines Blumentischchens auf der Strasse auf. Das Tischchen, das sie links und rechts an einem Band um den Hals zu hängen hatten, trugen sie auf ihren Wegen unter dem Überzieher. Es brauchte nur hervorgeholt zu werden, wenn das Spiel beginnen sollte. Dann wurden diese drei Karten sehr schnell hin und her gemischt. Wer erraten hat, an welcher Stelle die rote Sieben lag, der gewann. Der Einsatz und der Gewinn wurden vorher ausgemacht. Der Spielmann hatte auch immer seine Kompagnons mit. Sie durften ihre Blicke nicht nur auf das Spiel, sondern auch immer wieder in die Umgebung schweifen lassen. Drohte Gefahr, wurde das Brett zusammengeklappt und verschwand unter dem Überzieher. Vor den von den alten Schutzleuten begleiteten Soldatenräten hatte man Angst. Die Umstellung der Industrie ging nur langsam vorwärts. Je länger es dauerte, desto mehr verschärften sich die Gegensätze in der Arbeiterbwegung. Die bisher indifferente, politisch und gewerkschaftlich unorganisierte Masse wurde durch die feurigen Reden Liebknechts und unter Mitwirkung seiner Anhänger in den Spartakusstrom hineingerissen. Die Menschenmenge wogte Tag und Nacht in den Meinungsverschiedenheiten hin und her. Ein besonnenes Erwägen und Organisieren der Verhältnisse war unmöglich. Selbst Liebknecht, der die Geister gerufen, konnte derer nicht mehr Herr werden. Was er eigentlich wollte, was für Verhältnisse in der Wirtschaft und in der gesellschaftlichen Lebensorganisation entstehen sollten, wusste er sicher selbst nicht. Auf mich machte er den Eindruck, dass er ein sozial denkender und Gerechtigkeitsgefühl besitzender Mensch sei, aber seinem Gebaren nach, unfähig, die Lebensverhältnisse neu zu gestalten, praktisch zu organisieren und lebensführend zu wirken. So brach also plötzlich der Sturm los. Der Schlesische und andere Bahnhöfe wurden von den Spartakisten besetzt. An den Ecken der am Schlesischen Bahnhof liegenden Strassen wurden mit Gewehren bewaffnete Posten aufgestellt. Sah man sich diese Gestalten näher an, so Hessen sie vermuten, welcher Herkunft sie waren. Siebzehn, achtzehnjährige Burschen, das Gewehr in der Hand, glotzten vorübergehende Menschen siegesbewusst an. Die Besatzung requirierte bei den Bäckern Brot, bei den Fleischern Fleisch usw.. Dabei wurde nicht einmal das von den Arbeitern gegründete Unternehmen, der Konsumverein, geschont. Auch ihm wurde auf der Strasse eine Mehllieferung beschlagnahmt. Einbrüche in die Läden geschahen bald hier, bald dort, auch im Konsumverein. 107

Die Besatzungstruppe bestand zumeist aus entlassenen Strafgefangenen und aus Leuten der Berliner Verbrecherzunft, die schon im Frieden 8-10 Tausend Köpfe zählte. Ein paar Idealisten, die sich unter den Mannschaften befanden und die vielleicht die naive Hoffnung hegten, mit Hilfe dieser Masse ihr Ideal zu verwirklichen, vermochten die bösen Anlagen dieser Geister nicht zu bändigen. Und wenn schliesslich der oder jener von ihnen auch den lockenden materiellen Vorteilen nicht zu widerstehen vermochte, dann war das Unglück da. Die Nichtidealisten gewannen das Spiel. Was war die Folge davon? Durch dieses der sozialistischen Idee zuwiderhandelnde Verfahren wurde das Ansehen der Arbeiterbewegung in den Augen derer, die noch vorher an die heilbringende Mission der Arbeiterbewegung glaubten, herabgesetzt. Am 5. Januar 1919 morgens bekam ich meine Zeitung, den „Vorwärts", nicht zugestellt. Ich ging zu dem nahen Zeitungsstand und wollte mir ein Blatt kaufen. Der Verkäufer erklärte mir aber, dass auch er keine Zeitung bekommen habe. Von hier ging ich sofort in die Vorwärtsfiliale in der Markusstrasse, da erfuhr ich, dass das Vorwärtsgebäude in der Nacht von den Spartakisten besetzt worden sei. Dasselbe Schicksal traf alle übrigen Zeitungsverlagsanstalten auch, nur die konservative „Tägliche Rundschau" und den „Börsen-Kurier" nicht. Von welcher Absicht sich die Spartakisten dabei leiten Hessen, war nicht zu ersehen. Ich kaufte mir also den „Börsen-Kurier", um wenigstens zu erfahren, was in Berlin gespielt wird. Die Not zwang mich dazu, den „BörsenKurier" als mein Organ zu wählen, eben so lange, bis der „Vorwärts" wieder erschien. Der „Börsen-Kurier", wahrscheinlich unter Spartakusdiktatur stehend, vermied eine jede Kritik und Polemik und berichtete nur, was geschehen war. Die Gegensätze zwischen den Regierungstreuen und dem Spartakus schienen nun den Höhepunkt erreicht zu haben. Man ging vom Wortkampf zum Waffenkampf über. Die Strassenkämpfe wurden unvermeidlich, die aber dann ihren weiteren Höhepunkt erreichten, als die Spartakisten am 12. Januar das Polizeipräsidium besetzt hatten. So wie an allen der letzten Tage, ging ich auch wieder einmal, um mir eine Zeitung zu holen. Es war wieder keine andere zu haben als die „Rote Fahne" und die Börsenzeitung. In der Nähe des Andreasplatzes, in einem Hausflur, da lag die „Rote Fahne" stossweise. Die wie bei einer Prozession vorbeikommenden Arbeiter riefen dem Verkäufer nur immer zu: „Fahne!". Die eine Hand nahm die Fahne, die andere das Geld. Der Hauptstrom bewegte sich dem Zentrum zu. Wie ich das alles so sah, da erschien mir der Sieg der Spartakisten unzweifelhaft. Dabei packte mich aber auch die bange Sorge, was wohl daraus werden soll, wenn diese undisziplinierte und in Verwirrung geratene Masse 108

nach dem Siege für bessere Verhältnisse sorgen soll, wo sie doch schon in den letzten Tagen solche Dinge stark genug zum Ausdruck brachten. Zwei Stunden hörte ich mir auf den Plätzen und Strassen des Debattieren mit an, doch dann ekelte ich mich davor und ich eilte nach Hause. Unterwegs rollte sich in mir noch einmal die Entwicklungsgeschichte der Arbeiterbewegung, wie ich sie kannte, auf. Dabei erinnerte ich mich der Gladiatorenspiele im alten Rom. So wie damals von der Macht und der vertierten Schaulust der besitzenden Klasse ein Sklave gezwungen wurde, in der Arena mit dem anderen auf Tod und Leben zu kämpfen, so tut es heute, aus purer politischer Rückständigkeit, die Arbeitrmasse freiwillig. Zu Hause hatte ich ein neues Bild zu stehen, ein Geburtstagsgeschenk. Dieses Bild an die Wand zu hängen, schien mir produktiver zu sein, als das Anhören des fruchtlosen Quatsches. Ich habe in meinem Leben viel Dummheit angetroffen und mir so manchen Unsinn anhören müssen, doch dieses Quantum auf einmal habe ich noch nie zuvor zu sehen und zu hören bekommen! Ich nahm mir einen Steinbohrer, stieg auf eine Leiter, um ein Loch in die Wand zu giebeln. Da kam mein Freund Lanz, ein Schweizer, Student an der Berliner Kunstakademie, mit dem ich seit 1911 befreundet war, wie ein Hirsch freudestrahlend in das Zimmer hereingesprungen. Er blieb verblüfft stehen, als er sah, mit was ich mich da beschäftigte und fragte dann verwundert: „Was machen Sie denn da?" „Ein Bild aufhängen", erklärte ich ihm gleichgültig. „Ich wähnte Sie draussen zu sehen!" rief er erstaunt. „Was soll ich draussen?" gab ich meine Antwort noch gleichgültiger zurück. „Es ist doch Revolution!" „Ein grosser Quatsch ist es!" Hess ich spöttisch weiter verlauten. Mein Freund, ein radikaler Sozialist, verschwand darauf in der Tür, und liess noch dabei eine Büchse Milch und ein Stück Kuchen, was ihm gehörte, auf dem Tisch liegen. Er, der mich so oft besuchte, ist von der Stunde an mir so böse geworden, dass wir uns erst nach fünf Jahren wieder zusammengefunden haben. Das lastete die ganze Zeit so drückend auf mich, denn ich musste annehmen, dass er mich für einen Verräter der guten Sache hält. Das Polizeipräsidium, die Zeitungsverlage und auch die Bahnhöfe wurden dann doch wieder zurückerobert. In dem Vorwärtsgebäude sollen über achthundert Spartakisten gehaust haben. Nicht minder war es an allen übrigen Stellen. Nach dem Siege über die Besatzungen verschoben sich die Kämpfe auf die Strassen. Als die revolutionären Kugeln von den Dächern und Fenstern der Häuser geflogen kamen, waren wir unseres Lebens erst recht nicht mehr sicher. 109

Wer die bis über die Zähne bewaffneten Spartakuskämpfer auf dem Schlesischen Bahnhof und die auf den Brücken der Frucht- und Koppenstrasse aufgestellten Maschinengewehre sah, der erwartete sicher beim Anrücken der Regierungstruppen einen fürchterlichen Kampf. Doch bei der Säuberung des Bahnhofs fiel kein einziger Schuss. Die männlichen Revolutionäre und deren Köchinnen und Samariterinnen, sie alle verdufteten schon, als sie den Hauch des Gegeners zu riechen glaubten. Wie von einer Heuschreckenplage befreit, atmete die ganze Umgegend auf! Als man die Kunde vernahm, dass Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet worden seien, erwartete man, dass ein neuer und zwar noch heftigerer Sturm losbrechen müsste. Da hatte man sich aber doch getäuscht. Dass Liebknechts Anhänger sich darüber höchst entrüstet zeigten, das war eine Selbstverständlichkeit. Auch die Sozialdemokraten verurteilten diese Tat, in der sie eine neu erwachte Frechheit des Militärs erblickten, sonst wurde aber Liebknecht doch als ein Hindernis in der das Leben neu ordnenden Arbeit empfunden. Das Hess auch nicht die Herzen jene Trauer bekunden, wie sie liebgewonnenen Freunden und Führern gewöhnlich entgegengebracht wurde. Die übrige Bevölkerung, die den politischen Auseinandersetzungen fern stand und noch von den hereingebrochenen Ereignissen eingeschüchtert war, wagte sich nicht zu äussern. Wem das Verdienst gebührt, die Spartakusbewegung unterdrückt zu haben, darüber bestehen Meinungsverschiedenheiten. Anton Fischer, der Helfer und Berater des ersten Stadtkommandanten in Berlin war, behauptet in seiner selbstverlegten Schrift „Die Revolutions-Kommandatur in Berlin", dass es Wels, dem Stadtkommandanten und ihm, trotz aller Schwierigkeiten mit der revolutionären Soldatenwehr gelungen sei, die Spartakisten niederzuwerfen, und dass erst dann, als es nicht mehr viel zu tun gab, Noske die Zeitfreiwilligen sammelte und deren Führung dem General v. Lüttwitz und anderen hohen Militärs anvertraute. Anton Fischer, der später Kommandant wurde und an dessen Seite Kuttner, Baumeister u.a. mitgekämpft und ihre Truppen befehligten, erhebt gegen Noske den Vorwurf, dass er sich von diesen Militärs zu sehr einwickeln liess und zwar in dem reichen Masse, dass ihr Einfluss soweit ging, die Soldatenwehr abzuwürgen. Auch Wels und die anderen regierenden Männer sollen den Schmeicheleien der Offiziere anheimgefallen sein. So wirkte allerlei zusammen und liess keinen an das gesteckte Ziel herankommen. Dass man die Kapitalisten nicht enteignete und die Produktion nicht sozialisierte, das konnte ein halbwegs volkswirtschaftlich geschulter Mensch nicht übelnehmen. Dazu waren eben - wie gerade jetzt die revolutionäre Bewegung zeigte - weder die volkswirtschaftlichen noch die psychologischen Voraussetzungen gegeben. Selbst wenn die psychologischen Voraussetzungen

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gegeben gewesen wären, d.h. der geschulte Gemeinsinn, so wäre die durch den Krieg bankrott gemachte Volkswirtschaft nicht imstande, die Lebenshaltung des Volkes erheblich zu erhöhen. Russland ist ein Beispiel dafür. Und das hätte die Massen, die zu hören gewohnt waren, dass die sozialisierte Produktionsweise eine paradiesisches Leben brächte, auch nicht zufriedengestellt. Damit will ich nicht sagen, dass eine auf niedriger Stufe stehende Wirtschaft nicht zu sozialisieren sei. Es ist möglich, aber nur mit der Voraussetzung, dass die Lebenshaltung des Volkes nur in dem Masse ansteigen kann, in dem auch die Produktionskräfte eine Steigerung erfahren. Darum vermag man in Russland nicht die Löhne zu zahlen wie in Deutschland, und Deutschland wiederum nicht die, wie sie in Amerika gezahlt werden. Doch das nur so nebenbei, denn es ist hier nicht der Platz, sich mit volkswirtschaftlichen Theorien auseinanderzusetzen. In politischer und sozialpolitischer Hinsicht brachte die Revolution der Arbeiterschaft doch einen Fortschritt. Das Selbstbestimmungsrecht in allen gesetzgebenden Körperschaften für beiderlei Geschlecht von 29 Jahren an, den 8stündigen Arbeitstag. Mitbestimmungsrecht in den Betrieben durch die Betriebsräte, Arbeitsämter, Arbeitsgerichte, Schlichtungsämter mit Schiedsrecht, volle Koalitions-, Presse-, Vereins-, Versammlungs- und Redefreiheit. Diese Errungenschaften zu schätzen und den Vergleich zwischen einst und jetzt zu ziehen, vermögen nur jene Arbeiter, die seit Jahrzehnten dafür gekämpft und ungeheure Opfer bringen mussten. Bei denen, die 1918 erst acht Jahre alt waren und heute das 29. Lebensjahr erreichen, ist all dieses, wie ich so oft hören musste, nichts! Wenn die Arbeiterschaft sich von der oder jener Errungenschaft etwas hat abhandeln lassen müssen, so trägt sie selbst die Schuld daran, weil sie die politische Macht, die durch das Selbstbestimmungsrecht ihr in die Hände gegeben wurde, nicht zu ihrem Interesse anzuwenden versteht, was natürlich noch dazu den weiteren Fortschritt hemmt. Die Hauptschuld daran ist aber doch den widerlichen Gladiatorenkämpfen zuzuschreiben, durch die die Macht den Gegnern in die Hände gespielt wird. Bei den Skalvenhaltern und Machthabern der altrömischen Zeit war das Losungswort: „Teile und herrsche!" Die gegenwärtigen Machthaber brauchen das nicht selbst zu tun, die Proleten besorgen es freiwillig und auf eigene Kosten. Wie glücklich könnten doch die Menschen sein, wenn es auf der Welt keine politische Dummheit gäbe! Im Januar 1919 kamen die Wahlen in die Nationalversammlung und in den Preussischen Landtag. Da auch wir Österreicher diesmal wählen durften, wurde ich von dem Wahlvorsteher unseres Wahlbezirkes in die Wahlkommission bestellt. Von den Arbeiterparteien stellten nur die Mehrheitssozialisten und die Unabhängigen Sozialisten ihre Kandidaten auf. Die Spartakisten wählten

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nicht. Die politische Luft war noch immer schwül. Man war sich noch nicht sicher, ob nicht doch noch einmal ein Spartakusgewitter losbreche. In unserem Wahlbezirk wurden für die Liste der Unabhängigen Sozialdemokraten 443 Stimmen abgegeben, für die Mehrheitssozialisten 441, die übrigen Parteien erhielten zusammen rund 150 Stimmen. Das war also eine Mehrheit, wie man sie im Durchschnitt aus dem ganzen Lände hätte erwarten sollen, nach der durch den Krieg erfahrenen bitteren Not, und nach der Meinung, dass die Werktätigen im Reich die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Dem war aber nicht so. Beide Arbeiterparteien haben nicht mehr als 177 Sitze erobert, wodurch nur eine Kompromisspolitik möglich war. Darum ist das künstlich gezüchtete politische Homunkulusgeschwätz, dass die Sozialdemokraten die Arbeiter verraten haben, dumm! Wenn von ihnen etwas Dummes gemacht worden ist, so soll man auch wissen, dass auch das Regieren erst gelernt werden muss. Es brachte allen ehrlichen Idealisten eine ungeheure Enttäuschung, sehen zu müssen, wie sehr sie an die Masse glaubten und wie übermässig sie idealisierten. Im März kam es abermals zu Strassenkämpfen. Vom Polizeipräsidium durch die Frankfurter Strasse und Frankfurter Allee bis nach Lichtenberg wurde von Haus zu Haus gekämpft. Der Kampf fiel aber wieder zu Ungunsten der Spartakisten aus. Alle diese Kämpfe Hessen einem jeden Laien erkennen, dass einige hundert Mann, wenn sie nur diszipliniert sind, die Kriegstechnik beherrschen und von einer Stelle geleitet werden, genügen, um mit der Masse fertig zu werden. In diese Kämpfe spielten noch zahlreiche Lohnkämpfe hinein. Inwieweit diese zu rechtfertigen waren, war schwer zu sagen. Jedenfalls steht fest, dass die Regierung sich genötigt fühlte, durch Plakate überall aufklärend zu wirken, indem sie unter anderem erklärte, dass uns nun nur die Arbeit retten könne. Denn in den Lohnkämpfen sind die unorganisierten Arbeiter massloser und revolutionärer als die organisierten. Sie sind aber auch diejenigen, die sich vom geringsten Gegendruck knicken lassen. Während all der Wirrnisse Hessen wir uns von unserer Arbeit nicht abhalten. Gleich nach dem Zusammenbruch packte unser Freund Jannasch seine Sachen und verliess uns. Er, der Engländer, ging, um wieder an der deutschen Jugend zu arbeiten. Einen Tag vor Weihnachten fiel in unsere traurigen Erlebnisse auch ein Freudefunken. Unser Sohn Fritz kam aus der russischen Gefangenschaft zurück. Er und noch ein Berliner haben es gewagt, aus der Gefangenschaft im Samaragebiet zu entfliehen und erreichten auch glücklicherweise Berlin. So hatten wir ein liebes Weihnachtsgeschenk. Auch unsere bereits erwähnten Vorbereitungen für einen Familienabend, der in den letzten Tagen des Februar stattfinden sollte, machte gute Fortschrit112

Wenzel Holek mit Bernhard Schmalz, Walter Möricke und Walter Örtle vor dem Haus Am Ostbahnhof 17 (?) 1926.

te. Einstudiert wurden folgenden Märchenspiele: Der gestiefelte Kater, Das tapfere Schneiderlein, Heinzelmännchen, Der Rattenfänger von Hameln. Der Familienabend gelang vortrefflich. Die Kinder spielten mit Begeisterung. Die Verwandten und Bekannten der Spieler füllten den Saal, der 799 Personen fasste. Eine solche aus Märchenspielen bestehende Aufführung hat für die Mitwirkenden wie auch für die Zuschauer einen besonderen Reiz. Aus den Büchern sind die Märchen allen bekannt, doch auf der Bühne wird in ein solches Märchen die Handlung gebracht, so dass sie in den Kindern einen wirkungsvollen Gefallen entfachen. Die Erwachsenen denken dann gewöhnlich an ihre Jugendzeit zurück und alle fühlen sich innerlich mitgerissen und verbunden. Das ist auch der Zweck, den der Veranstalter hauptsächlich im Auge haben muss. Theaterstücke, die nicht die Sprache des Volkes reden, nur dem Auge, der Sensationslust oder den Lachmuskeln Rechnung tragen, erreichen diese Wirkung nicht, und mögen sie noch so kunstvoll dargestellt werden.

Die akademische Jugend in der sozialen Arbeit Nach dem Zusammenbruch der alten Mächte wurden viele durch den Krieg gebundene Kräfte frei. Der Himmel hing zwar voller schwer erkennbarer Zeichen, aber viele Menschen ahnten doch, dass nun etwas Neues entstehen müsse. Man schaute sich nach Stellen um, wo Klarheit über das Geschehene bestand und wo fester Glaube an das Wahre und Gute angebracht war; man fasste Mut, um den kommenden Dingen ins Auge zu sehen. Von solcher Ahnung getragen, stellten sich in kurzer Zeit eine Reihe neuer Mitarbeiter und Freunde in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft ein. Und wer von uns hätte ihren Eifer als ein Zeichen dieser Zeit nicht begriffen, wie jeder sich mit neuen Ideen abmühte, wie eine neue Ordnung geschaffen und das Leben neu gestaltet werden könnte. Es war oft rührend, diesem Umschwung im sozialen Denken zuzusehen. Der so plötzlich erwachte Wille fühlte sich bei uns enttäuscht. Man dachte sich, dem Volke möglichst schnell zu helfen und im Grossen das Leben neu zu gestalten. Dazu schien die S.A.G. der Ungeduld mancher nicht auszureichen, ihre Organisation und ihr Arbeitsgebiet zu klein, und das soziale Wirken von Mensch zu Mensch zu bescheiden. Damit glaubte der deutsche, an Grosszügigkeit gewöhnte Mensch nichts anfangen zu können. Das versprach ihm auch keine Ruhmernte in der Welt. In den intellektuellen Kreisen, wenn sie auch die Neigung haben, soziale Gesinnung zu pflegen, herrscht heute noch der irrige Glaube, dass man es durch Bücher und theoretische Erwägungen in Sitzungen und Versammlun114

te. Einstudiert wurden folgenden Märchenspiele: Der gestiefelte Kater, Das tapfere Schneiderlein, Heinzelmännchen, Der Rattenfänger von Hameln. Der Familienabend gelang vortrefflich. Die Kinder spielten mit Begeisterung. Die Verwandten und Bekannten der Spieler füllten den Saal, der 799 Personen fasste. Eine solche aus Märchenspielen bestehende Aufführung hat für die Mitwirkenden wie auch für die Zuschauer einen besonderen Reiz. Aus den Büchern sind die Märchen allen bekannt, doch auf der Bühne wird in ein solches Märchen die Handlung gebracht, so dass sie in den Kindern einen wirkungsvollen Gefallen entfachen. Die Erwachsenen denken dann gewöhnlich an ihre Jugendzeit zurück und alle fühlen sich innerlich mitgerissen und verbunden. Das ist auch der Zweck, den der Veranstalter hauptsächlich im Auge haben muss. Theaterstücke, die nicht die Sprache des Volkes reden, nur dem Auge, der Sensationslust oder den Lachmuskeln Rechnung tragen, erreichen diese Wirkung nicht, und mögen sie noch so kunstvoll dargestellt werden.

Die akademische Jugend in der sozialen Arbeit Nach dem Zusammenbruch der alten Mächte wurden viele durch den Krieg gebundene Kräfte frei. Der Himmel hing zwar voller schwer erkennbarer Zeichen, aber viele Menschen ahnten doch, dass nun etwas Neues entstehen müsse. Man schaute sich nach Stellen um, wo Klarheit über das Geschehene bestand und wo fester Glaube an das Wahre und Gute angebracht war; man fasste Mut, um den kommenden Dingen ins Auge zu sehen. Von solcher Ahnung getragen, stellten sich in kurzer Zeit eine Reihe neuer Mitarbeiter und Freunde in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft ein. Und wer von uns hätte ihren Eifer als ein Zeichen dieser Zeit nicht begriffen, wie jeder sich mit neuen Ideen abmühte, wie eine neue Ordnung geschaffen und das Leben neu gestaltet werden könnte. Es war oft rührend, diesem Umschwung im sozialen Denken zuzusehen. Der so plötzlich erwachte Wille fühlte sich bei uns enttäuscht. Man dachte sich, dem Volke möglichst schnell zu helfen und im Grossen das Leben neu zu gestalten. Dazu schien die S.A.G. der Ungeduld mancher nicht auszureichen, ihre Organisation und ihr Arbeitsgebiet zu klein, und das soziale Wirken von Mensch zu Mensch zu bescheiden. Damit glaubte der deutsche, an Grosszügigkeit gewöhnte Mensch nichts anfangen zu können. Das versprach ihm auch keine Ruhmernte in der Welt. In den intellektuellen Kreisen, wenn sie auch die Neigung haben, soziale Gesinnung zu pflegen, herrscht heute noch der irrige Glaube, dass man es durch Bücher und theoretische Erwägungen in Sitzungen und Versammlun114

gen allein erreichen kann. In Wirklichkeit ist es aber so, dass diejenigen, die auf diese Weise soziale Gesinnung erworben zu haben glauben, in der Kleinarbeit von Mensch zu Mensch versagen, so wie diejenigen, die da glauben, dass sie schon schwimmen können, wenn sie die Schwimmübungen auf dem Rasen gelernt haben, im Wasser ertrinken sie dann gewöhnlich. Man findet, wie ein solches Theoretisieren manchmal zuwiderläuft und in die praktische Arbeit Verwirrung bringt. So hat z.B. Herr Vierer in seinem in der „Sozialen Gülde" gehaltenen Vortrag zu sagen gewagt, dass es keine soziale Veranlagung, sondern ein soziales Verhalten gäbe. Das sagte er, ohne auf einen Widerspruch der Zuhörer zu stossen! Hätte er es nicht auch noch auf andere menschliche Vorgänge beziehen können? Z.B., dass es keinen Hunger, sondern nur Essverhalten gibt. Grau, mein Freund, ist alle Theorie! Meiner Überzeugung nach ist das Motiv des sozialen Handelns die Veranlagung. Im anderen Falle kann das Motiv das Geld sein. Wo aber dies der Fall ist, da wirst du nie dein Herz zu Herzen tragen! Ich hatte bis 1919 rund 259 schulpflichtige und schulentlassene Jugendliche gesammelt. Einige Klubs musste ich bis zu 49 Mann stark halten. Die Klubs kleiner zu gestalten, dazu reichte meine Zeit nicht hin. Da nun Mitarbeiter in genügender Zahl vorhanden waren und ihnen auch zu tun gegeben werden musste, so machte ich aus einem Klub zwei oder drei, so dass wir über 8 Knabenklubs und 7 Jugendklubs verfügten. Jeder Mitarbeiter bekam einen Klub zugewiesen, mit dem er einmal in der Woche eine Sitzung abzuhalten hatte, in der etwas erzählt und auch gespielt wurde. Ausserdem sollte er die Jungen der Reihe nach in ihren Wohnungen besuchen, ratend und helfend einspringen, wenn es nötig war. Das war für ihn doch die vorteilhafteste Gelegenheit, auch die Eltern kennenzulernen und einen Einblick in das Arbeiterleben zu gewinnen. Ab und zu wurde auch gewandert. Andere Mitarbeiter bekamen von der Jugendgerichtshilfe Schutzaufsichten zugewiesen. Auch in den Kommissionen durfte ein jeder mithelfen, wie in den Wohnungs-, Kirchen-, Wohlfahrts- und Kneipenkommissionen usw.. Jede Kommission hat das ihr zugewiesene Gebiet zu erforschen und die Ergebnisse schriftlich niederzulegen. So hat z.B. die Wohnungskommission nicht nur die Beschaffenheit der Arbeiterwohnungen festzustellen, sondern auch wie stark sie bewohnt ist, die Mietshöhe, wie lange der Mieter schon in Berlin ist, woher er gekommen sei usw.. Wie daraus zu ersehen ist, ist das Arbeitsgebiet, der See, in dem jeder das soziale Schwimmen erlernen kann, gross genug. Ob man dieses Schwimmen schon als Student, als künftiger Beamter, lernen soll, darüber kann ein jeder anderer Meinung sein. Jedenfalls haben wir schon Beweise dafür, wie die durch soziale Betätigung volkskundlich geschulten Geistlichen, Richter, Verwaltungsbeamte u.a. friedlicher wirken als die, die es nicht für nötig hielten. Die Zeit, wo der Obrig115

keitsstaat mit seiner schützenden Hand über dem Beamtentum auf der einen und der Untertanen auf der anderen Seite stand, im Standesdünkel eingekapselt, wo soziales Verfahren mit dem Volke als unstandesgemäss galt, ist vorbei. Hatte ich bisher noch soviel Arbeit, dass es mir fast unerträglich schien, so tat ich sie doch von aussen ungestört und innerlich befriedigt. Durch die neue Mitarbeiterschaft kam in den Betrieb Unruhe hinein. Mit den Studenten des ersten Semesters geht es meistens noch erträglich. Schwieriger ist es mit dem letzten Semester. Erstens sind die Köpfe mit viel unverdautem Zeug vollgestopft, dann - ja dann wird man bald in das Leben gestossen. Man möchte am liebsten etwas Tüchtiges leisten, aber nicht das, was schon geleistet wird, sondern etwas, was noch niemand geleistet hat. Gegen dieses edle Streben kann auch kein vernüftiger Mensch etwas einwenden, sondern es nur loben, aber nur eben bei dem, der wirklich das Zeug dazu hat. Daraus wird, wenn der Wille stärker ist als das Können, Eigensinn, der dann so gern als Eigenart verteidigt wird. Davon getrieben und von den Zeichen der Neuzeit geleitet, glaubte ein jeder, nun sei der Abschnitt gekommen, wo seine Idee verwirklicht werden müsste. Das war nicht nur bei uns so, sondern auch in ganz Deutschland. So hat z.B. einem Mitarbeiter, ein Privatdozent, der nun Professor und wieder deutschnational ist, das Herz so demokratisch geschlagen, dass er in dem sozialdemokratischen „Vorwärts" durch einen Aufsatz Vorschläge machte, wie das Deutsche Reich in Bezirke eingeteilt werden könnte. An so etwas haben sicher nicht einmal die nun regierenden Sozialdemokraten gedacht! Die waren ihrem Programm entsprechend, zentralistisch eingestellt. Also, zuerst die laufende Arbeit kennenzulernen, das kam aus der Mode. Etwas noch nie Dagewesenes sollte geschaffen werden. Bald war dies, bald war jenes nicht richtig. Dinge wurden vorgeschlagen und versucht, sie wurden als etwas Neues angesehen, was wir aber schon vor Jahrzehnten versucht und wieder weggelegt hatten, weil es sich nicht bewährte. Das wurde uns dann aber nicht geglaubt. So kam ich mir manchmal vor, als hätte ich mein Leben lang geschlafen, bis die neuen Stürmer mit ihren Einfällen kommen. Einem z.B. strömte so viel demokratisches Blut durch die Adern, dass er zwischen sich und mir keinen Unterschied zugeben wollte. Er wünschte eine völlige Gleichheit! Es war schwer, ihm klarzumachen, dass wir beide nicht nur zwei verschiedene Individualitäten sind, sondern auch Angehörige verschiedener Klassen, Stände und Kulturen, dass wir verschiedene Lebenswege gegangen sind, ich ungefähr nur zwei Jahre durch eine Dorfschule, er durch das Gymnasium und durch die Universität, deren Betrieb und Sitten ich nicht im geringsten kenne. So wie ich mich am liebsten mit einem Schlosser unterhalte, so auch er lieber mit einem Akademiker. Das sei eine psychologische Tatsache, an der wir nichts ändern könnten. 116

Politisch könnten wir schon gleich sein, und auch in anderen Dingen, die es gebe, die für uns gleiches Interesse haben können. Hätte ich damals, als wir stundenlange Debatten miteinander führten, ein klareres Urteil gehabt als er und ihm geglaubt, was in seiner Naivität ihm in die demokratische Anwandlung auf die Zunge spielte, könnte ich ihm heute böse sein. Heute sitzt er als Beamter in Berlin. Er erkundigt sich aber nicht nach mir, auch dann nicht, wenn er in Berlin-Ost in meiner Nähe zu tun hat. Ein anderer Student ist den Arbeitern so wohlwollend geworden, dass er einen 29jährigen Schlosser überredete, mit auf seiner Bude zu wohnen. Nach vier Wochen zog der Schlosser wieder zu seinen Eltern. Als ich ihn nach dem Grund fragte, weshalb er von dem Studenten fortging, sagte er mir, dass sie nicht zusammenpassen. Die Stube sei zu fein eingerichtet, er getraue sich nicht recht, wenn er von der Arbeit käme, sich darin zu waschen. Der Student sei ein verhätschelter Mensch, gehe im Schlafanzug zu Bett und Hesse sich von der Wirtin hinten und vorne bedienen. Sonst wollte der Student nirgends anfassen. In der Kritik aber war er masslos. Als er dann von uns fort wollte und zu mir kam, um sich zu verabschieden, da sprachen wir über Jugendbewegung und über die Arbeit in der S.A.G. bis wir auch auf den Fall mit dem Schlosser kamen. Er bedauerte das Misslingen seines guten Willens. Ich klärte ihn auf, warum es nicht ging. Dann aber offenbarte ich ihm, dass ich es nicht bedaure. Denn er wäre, wenn ihm das Experiment gelungen wäre, in Deutschland herumgereist und hätte gepredigt: „Seht, so wird es gemacht!" Hin und wieder stellte sich auch ein Mitarbeiter ein, bei dem nicht soziale Gesinnung das Motiv war. Man sucht Beziehung zu jenen Menschen, von denen man hoffen darf, durch sie eine Stelle zu erlangen. Man erkennt sie aber bald, wie man ja auch die verschiedenen Apfelsorten erkennen kann. In der ersten Nachkriegszeit setzte sich die Mitarbeiterschaft aus Nationalökonomen, Medizinern und Theologen zusammen. Ein Jurist war auch dabei, seitdem kam merkwürdigerweise keiner mehr, obwohl man voraussetzen kann, dass gerade sie im Volksleben Bescheid wissen müssten, dass es gerade den Richtern bei ihren Urteilssprüchen zugute käme. Nun hatte ich Gelegenheit genug, auch bei der akademischen Jugend die Gradverschiedenheit in ihrer Begabung und Kulturfähigkeit, ausser der formalen Bildung, auch den positiven Wert der Universitätsbildung wahrzunehmen. Ich fand, dass auch diese akademische Jugend nicht begabter ist, als die andere Jugend, dass sie das, was sie geworden ist, nur den günstigeren Verhältnissen ihrer Eltern zu verdanken haben. Öfter habe ich bei mir gedacht, wenn einer zu mir kam und sich als neuer Doktor vorstellte, „auch Du! ?" dann ist es mit dem Studium doch nicht so schwer! Wer da glaubt, dass er von so einem 117

neugebackenen Dr. der Nationalökonomie viel über die wirtschaftlichen Zusammenhänge des In- und Auslandes erfahren kann, der täuscht sich. Was sie mehr oder weniger besser kennen, sind die theoretischen nationalökonomischen Systeme. Etwas besser daran sind die Mediziner, die schon als Studenten mehr anschaulichen Unterricht in den Krankenhäusern bekommen. Die Theologen kennen die Vergangenheit viel besser als die Gegenwart. Ihre Kunst besteht darin, aus dem Vergangenheitsstoff der Gegenwart ein Kleid zu nähen. Eigen ist allen, dass sie das Volksleben, in dem sie wurzeln und es später zu gestalten haben, viel zu wenig kennen. Erst, wenn sie das Pauken auf der Universität losgeworden sind, ist ihnen Gelegenheit geboten, sich weiterzubilden und etwas Tüchtiges zu leisten. Das tun aber nur die, die über den Durchschnitt begabt sind. Andere sind froh, wenn sie die mit ihrer Arbeitsstelle verbundene Pflicht erfüllen können. Kommt dann noch die Frau dazu, dann haben sie erreicht, was sie zum Leben brauchen und lassen den lieben Gott einen guten Mann sein. Und doch muss ich trotz meines harten Urteils anerkennen, dass all die Akademiker, die ich bei uns kennengelernt habe, doch nach ihrer sozialen Einstellung und nach ihrem Streben für das Allgemeinwohl als die besten anzusehen sind. Wir mussten sie mit all den Schwierigkeiten nehmen, wie sie eben waren und sie damit entschuldigen, dass der strebsame Mensch irrt, so lang er lebt und dass auch wir als junge Menschen eben denselben Weg wandern mussten. Auch die akademische Jugend muss nach Jahren alles an der eigenen Haut erfahren. Wer sie so nicht begreift, kommt mit ihr zum Bruch. Meine individualisierende, sozialethisch gerichtete Methode wurde nun in den von den Mitarbeitern geleiteten Klubs meistens umgebogen. Kannte ich doch die Arbeiterfamilien gut genug, um zu wissen, dass gerade sie auf ihre Kinder solchen Einfluss nicht ausüben. Die akademischen Helfer waren geneigt, aus ihrer eigenen Familienlage die Arbeiterjugend zu sehen. Zudem kamen sie zumeist von irgend einer jugendbewegten Gruppe her, auf deren Geist sie eingestellt waren. Wenn die bürgerliche Jugend aus geordneten Familienverhältnissen, sich gegenseitig fortbildend, irgend einer Organisation anschliesst, so hat sie dies nur als Ergänzung zu ihrer geistigen Tätigkeit nötig. Mit dem erzieherischen Einfluss sieht es in den Arbeiterfamilien aus allerlei Gründen oft nicht gut aus; mit dem 14. Jahr hört auch die Schulbildung auf und beschränkt sich nur noch auf die Fach- und Fortbildungsschule. Da genügen die äusseren, jugendbeweglerisch aussehenden Betätigungen wie: Wanderungen, Singtänze usw. nicht, besonders wenn der Jugendklub der Familienersatz sein muss. Eine solche verständnisvolle, planmässig und zielbewusste Erziehungsarbeit vermag auch der akademisch gebildete Helfer nicht zutun, oft auch nicht 118

einmal der akademisch gebildete Lehrer. Sie kommen nur als Miterzieher in Frage. Wobei natürlich auch sie eine gehörige Portion zu lernen haben. Ein von meinen früheren Helferinnen ist akademische Lehrerin geworden. Da sie sozial gesinnt war, nahm sie sich vor, auch ihre Mädchen, die alle aus bürgerlichen Familien stammten, gleichfalls zur sozialen Gesinnung zu erziehen. Sie begann ihre Arbeit damit, dass sie ihnen aus dem Buche von Frank „Der Mensch ist gut" vorlas. Die Mädchen erklärten ihr aber kategorisch, dass sie die Klasse verlassen und sich zu Hause beschweren würden, wenn sie ihnen noch einmal mit solch einer Lektüre käme. Darauf bekam ich von der Lehrerin einen verzweiflungsvollen Brief. Sie fragte, was sie wohl tun könne. Worauf ich ihr der guten Rat gab, das Lesen sein zu lassen, sie solle sich lieber nach einer verarmten Familie umsehen, dieselbe besuchen, dann eins von ihren Mädchen mitnehmen, später noch eine usw. Zu Weihnachten oder zu einer anderen Gelegenheit soll sie versuchen die Mädchen damit anzuregen, dass dieselben Geschenke zurechtmachen und sie möge sie dann als Geberinnen vorschicken. Das sei das anschaulichste Mittel. Es ist besonders für den sich fortwährend in der geistigen Sphäre bewegenden Akademiker auch sonst nicht leicht, sich in ein Arbeiterkind hineinzuversetzen, persönliche Beziehungen zu gewinnen und Zucht zu halten. Nur geistig interessierte Helfer vermögen sich wohl 10 interessierte Jungen zusammenzuholen und Beziehung zu ihnen gewinnen. Doch mit geistig nicht interessierten wissen sie nichts anzufangen. Da erst geistige Anregung zu geben , ihnen das Leben von einer besseren Seite anschaulich zu machen, das fällt ihnen sehr schwer, sie versagen dann gewöhnlich in der Klubarbeit. Andere wieder treten schneidig auf, ihre Worte klingen bestimmt, sie wissen, was getan werden soll und die Disziplin ist da. Tritt ein unentschlossener und zu nachgiebiger Helfer in den Klub ein, so merken die Jungen bald seine Schwäche, und es dauert nicht lange, dann geht alles drüber und drunter. Ein adliger Leutnant a. D. hatte auch den Wunsch sich in der sozialen Arbeit zu versuchen, Ihm wurde ein Knabenklub mit 12 Jungen von 13 Jahren zugewiesen. Der Herr hatte immer bei seinen Berliner Bekannten viel zu tun. Das hinderte ihn mehrmals, sich für die Klubsitzung vorzubereiten. So trat er schon mit der Frage in den Klubraum: „Jungs, was machen wir heute?" Sofort eiferten die Jungen miteinander um Vorschläge und einer schrie mehr als der andere, um sich Gehör und Geltung zu verschaffen, so dass es dabei über Tische und Stühle ging. Nach einer anderen, aber gleichfalls so stürmischen Sitzung, kam der Herr in meine Stube und warf sich seufzend auf das Sofa, „Ich bin fertig mit dem Klub. Was soll ich weiter machen?" Ich bestätigte ihm, dass ich alles gehört habe und setzte ihm auseinander, worauf es ankomme wenn Zucht und Ordnung herrschen soll. 119

Beehrt wurden wir auch von solchen Herren, die lieber Tag und Nacht Probleme gelöst und Lebenssysteme gebaut hätten, als etwas Praktisches zu unternehmen. Es gab damals unter den Intellektuellen eine ganze Anzahl Menschen, die von den Kriegsfolgen angeekelt, gern ein Reich mit neuem Leben vom Himmel heruntergeholt hätten, wenn es nur an ihrem Willen gelegen wäre. Manche von ihnen vermuteten sogar, dass wir ihnen ideell nahe standen, suchten uns auf und hofften, wir würden sie in ihren Ideen und Plänen unterstützen und fördern. Der Edelsinn mancher mündete sogar bis in die anarchistische, hinter der Sonnenferne liegende Idee und sie träumten von absoluter persönlicher Freiheit. So wollte einer, als wir über die Statuten des Versöhnungsbundes berieten, durchaus den Satz hinein haben: „Und wir erstreben eine klassenlose Gesellschaft!" Es hielt schwer ihn zu belehren, auch mir dem Sozialdemokraten wollte es nicht gelingen, ihm beizubringen, dass an so etwas nicht zu glauben sei. Mir, dem Sozialdemokraten fiel die undankbare Aufgabe zu, ihm auseinanderzusetzen, dass es auch in Zukunft so etwas geben wird, was man heute Arbeiter nennt, dafür sorge schon die Natur. Ich erklärte ihm weiter, dass er bedenken müsse, dass die Begabungen der Menschen so verschieden seien, so dass, wenn das Elternhaus zielbewusst erziehen und die Schule zielbewusst schulen, die Berufsberatung und die psychotechnische Prüfungsstelle so rationelle Berufswahl durchführen würde, wenn also alle diese Faktoren so zusammenwirken würden, dass jeder Mensch auf den Posten gestellt werden könnte, dem seine Kräfte entsprächen, dass es auch dann noch Menschen gäbe, die die Arbeiten wie Strassenfegen usw. verrichten müssten und auch solche, die Ministerposten bekleiden. Wie dann der Mensch beruflich angesprochen wird, ob Arbeiter oder Bürger, das sei unwesentlich. Ein Klasse setze sich aus allen Berufsständen und nach deren geistigen und materiellen Interesse zusammen. Die Auseinandersetzung ging natürlich noch weiter und tiefer. Das, was ich ihm damit sagte, ist meine biologische Auffassung. Anfang des Jahres 1919 wurde Carl Mennicke Stellvertreter des SiegmundSchulze. Als solcher hatte er die Diskussionsabende des Akademischen Vereins zu organisieren, das Programm zu entwerfen und für die Redner zu sorgen. Das Programm trug immer ein Generalthema mit Einzelvorträgen, die sich auf das ganze Semester erstreckten. Es wurden, wie ich schon erwähnte, volkswirtschaftliche, soziologische, erzieherische, psychologische und religiöse Fragen behandelt, wozu Redner aller Richtungen zu Worte kamen. Diese Abende sollten ausser der praktischen Arbeit die Helfer und Freunde auch in die theoretischen Fragen einführen. Leider ist es mir nicht möglich aus der Fülle, der in den 14 Jahren gehaltenen Vorträge wenigstens eine notdürftige 120

Quintessenz hier wiederzugeben. Wie die Diskussionen geführt und was dabei herausgekommen sein mag, lässt sich wohl daraus ahnen, dass alle Standpunkte zu den verschiedensten Fragen dargelegt werden konnten. Durch die persönliche Verbindung mit den Quäkern, deren Geschäftsstelle in Berlin der Kaufmann Lorenz innehatte, erhielten wir aus Amerika auch eine Menge Lebensmittel, wie Mehl, Speck, Zukker, Speisoel, Lebertran und anderes. Alles lagerte im Berliner Stadthaus. Natürlich behielt die Soziale Arbeitsgemeinschaft diese Dinge nicht für sich selber. Sie wurden an die Familien verteilt, deren Kinder, Jungen und Mädchen, bei uns in den Klubs waren. Wir wogen alles in gleiche Teile, und bestimmten dann die Zeiten der Verteilung. So ging das wochenlang. Auch aus Finnland bekamen wir 15 Sack Erbsen, 6 Sack Hafergrütze und 8 Sack Hafer. Das luden wir in den Keller Am Ostbahnhof ab, was sich aber bald als ein Fehler herausstellte. Gleich in der ersten Nacht holten uns Diebe 6 Sack Erbsen heraus. Wir standen dann mehrere Nächte abwechselnd Wache, aber die Diebe kamen nicht wieder, erst als wir das Wachen aufgaben, stahlen sie uns wieder 6 Sack von der Ware. Aus Schweden bekamen wir 50 Tonnen Heringe zugewiesen und 250 Tonnen wurden auf verschieden Städte verteilt, wo unsere Zweigstellen sich befanden. Ebenso wie die anderen Sachen wurden auch die Heringe an die Klubkinder verteilt. Mit den Heringen hatte es eine besondere Bewandtnis. Irgendwo in Schweden soll eine Konferenz stattgefunden haben, an der sich auch SiegmundSchulze beteiligte. Da wurde unter anderem auch von der Kriegsschuld gesprochen. Ein Schwede oder Norweger - ich weiß es nicht mehr gewiss - trat Siegmund-Schulze heftig entgegen. Auch er redete wohl in der üblichen Sprache, dass Deutschland der alleinige Sünder sei. Als er aber nach einiger Zeit zu einer anderen Einsicht kam, entschuldigte er sich bei Siegmund-Schulze und frage, wie er es wieder gut machen könnte. Er könne es wohl, bekam er zur Antwort, wenn er den Deutschen ein Geschenk manchen würde. Diese Geschenk bestand aus 300 Tonnen Heringen. Landkonferenz in Trieglaff Auch in diesem Jahr kam es zu einer Landkonferenz in Trieglaff. Behandelt wurden hauptsächlich folgende Themata: „Sittlich-soziale Aufgaben der Gegenwart", und „Sozialisierung der landwirtschaftlichen Großbetriebe". Teilnehmer waren auch diesmal die benachbarten Gutsbesitzer, ihre Verwandten und Inspektoren, wie auch einige namhafte Großstädter wie Reichskanzler a. D. Michaelis und andere. Frauen waren diesmal weniger vertreten. 121

Quintessenz hier wiederzugeben. Wie die Diskussionen geführt und was dabei herausgekommen sein mag, lässt sich wohl daraus ahnen, dass alle Standpunkte zu den verschiedensten Fragen dargelegt werden konnten. Durch die persönliche Verbindung mit den Quäkern, deren Geschäftsstelle in Berlin der Kaufmann Lorenz innehatte, erhielten wir aus Amerika auch eine Menge Lebensmittel, wie Mehl, Speck, Zukker, Speisoel, Lebertran und anderes. Alles lagerte im Berliner Stadthaus. Natürlich behielt die Soziale Arbeitsgemeinschaft diese Dinge nicht für sich selber. Sie wurden an die Familien verteilt, deren Kinder, Jungen und Mädchen, bei uns in den Klubs waren. Wir wogen alles in gleiche Teile, und bestimmten dann die Zeiten der Verteilung. So ging das wochenlang. Auch aus Finnland bekamen wir 15 Sack Erbsen, 6 Sack Hafergrütze und 8 Sack Hafer. Das luden wir in den Keller Am Ostbahnhof ab, was sich aber bald als ein Fehler herausstellte. Gleich in der ersten Nacht holten uns Diebe 6 Sack Erbsen heraus. Wir standen dann mehrere Nächte abwechselnd Wache, aber die Diebe kamen nicht wieder, erst als wir das Wachen aufgaben, stahlen sie uns wieder 6 Sack von der Ware. Aus Schweden bekamen wir 50 Tonnen Heringe zugewiesen und 250 Tonnen wurden auf verschieden Städte verteilt, wo unsere Zweigstellen sich befanden. Ebenso wie die anderen Sachen wurden auch die Heringe an die Klubkinder verteilt. Mit den Heringen hatte es eine besondere Bewandtnis. Irgendwo in Schweden soll eine Konferenz stattgefunden haben, an der sich auch SiegmundSchulze beteiligte. Da wurde unter anderem auch von der Kriegsschuld gesprochen. Ein Schwede oder Norweger - ich weiß es nicht mehr gewiss - trat Siegmund-Schulze heftig entgegen. Auch er redete wohl in der üblichen Sprache, dass Deutschland der alleinige Sünder sei. Als er aber nach einiger Zeit zu einer anderen Einsicht kam, entschuldigte er sich bei Siegmund-Schulze und frage, wie er es wieder gut machen könnte. Er könne es wohl, bekam er zur Antwort, wenn er den Deutschen ein Geschenk manchen würde. Diese Geschenk bestand aus 300 Tonnen Heringen. Landkonferenz in Trieglaff Auch in diesem Jahr kam es zu einer Landkonferenz in Trieglaff. Behandelt wurden hauptsächlich folgende Themata: „Sittlich-soziale Aufgaben der Gegenwart", und „Sozialisierung der landwirtschaftlichen Großbetriebe". Teilnehmer waren auch diesmal die benachbarten Gutsbesitzer, ihre Verwandten und Inspektoren, wie auch einige namhafte Großstädter wie Reichskanzler a. D. Michaelis und andere. Frauen waren diesmal weniger vertreten. 121

Wir Berliner fuhren alle, ohne Unterschied des Standes mit dem am Stettiner Bahnhof für uns bestellten Wagen, vierter Klasse nach Trieglaff. So etwas gab es früher nie und gibt es auch jetzt schon nicht wieder. Den Höhepunkt dieser Konferenz bildete das zweite Thema. Hierzu war Graf Baudussin der Referent. Die Quintessenz seiner Rede war ungefähr folgende: „Der Privatbesitz an Grund und Boden ist anfangs der Kulturgeschichte der Völker, auch der Gemeinbesitz der Germanen gewesen, er muss es wieder werden, wenn es das Wohl des Volkes erfordern soll." Korreferent war Gottfried v. Bismarck. Aus seiner Rede war kein Widerspruch zu der des Grafen Baudussin zu vernehmen. Auch alle übrigen Diskussionsredner wie Graf Bismarck-Osten, Dr. Michaelis, Reinhold von Thadden, v. Blittersdorf u. a. gaben diese Notwendigkeit mit kleinen Einschränkungen zu. Nur ein alter weisshaariger Konsistorialrat versuchte zu den Stellen, wo die Rede von Arbeitern war, von ihren Pflichten und Rechten auf die Inferiorität hinauszuspielen. Es gelang mir in einer Pause diesen Herrn zu fragen, ob denn auch er noch an dieses gesellschaftliche Vorurteil glaube. Natürlich wollte er das nicht so gemeint haben. Meine Erwiderung bestand darin, dass ich ihm sagte, dass es vielleicht eine Inferiorität einzelner Individuen geben kann, aber nicht ganzer Klassen, deshalb auch keine von ihm gemeinte Masse im Sinne der Inferiorität. Es gäbe im Volke nicht nur eine, sondern viele Massen und Massenmenschen. Jeder dieser Massen würde von einer Ideologie gebildet und innerlich verbunden. In diesem Sinne könnte er und andere sogar gelehrte Menschen irgendeiner Masse angehören und Massenmensch sein. Nicht die Neugier oder Sensationslust und irgend ein plötzliches Ereignis, dass die Menschen zufällig zu einem Haufen zusammenlaufen lassen, sie ein psychologischer Beweis für den Begriff Inferiorität... So wie man im ganzen Reich fast allgemein vor ungewohnten Tatsachen stand und unsicher war, was demnächst folgt, so auch hier, wie es in den Pausen und Spaziergängen aus den Gesprächen zu entnehmen war. Am deutlichsten brachte es ein alter Gutsbesitzer hervor, indem es sich bei einer Gelegenheit mir gegenüber äusserte, er möchte gern sein bares Geld hingeben, wenn er nur nicht seinen Wohnsitz, das herrliche Stück Erde mit dem See und Wald verlieren würde. Er erwartete sicher die Enteignung. Dazu musste ich nur lächeln, und ich versuchte ihn damit zu beruhigen, dass ich ihm erklärte, wie grundlos seine Angst sei. Wusste ich doch, so wie die Wahlen in die Nationalversammlung und in den Preussischen Landtag ausgefallen sind, dass sie keine sozialistische Mehrheit und infolgedessen auch keine rein sozialistische Regierung gebracht haben. Ferner wusste ich auch, dass, wenn dies auch der Fall wäre, die sozialistische Regierung, der Marx'schen Theorie treu und an ihr Programm gebunden, an die Zerschlagung des landwirtschaftlichen Grossbe122

Das Programm der Landkonferenz in Trieglaff vom 12.-15. Juni 1919 sah folgendermaßen aus: 1. Die Sozialisierung der landwirtschaftlichen und industriellen Betriebe. Landrat von Thadden, Trieglaff Korreferent: Direktor W. Spieker, Berlin 2. Die sittlich-sozialen Aufgaben der nächsten Zeit Graf Baudissin, Stolp 3. Ist ein Reich der Gerechtigkeit möglich? Leonhard Ragaz Anstelle des verhinderten Leonard Ragaz referierte Friedrich Siegmund-Schultze zum Thema: Klassengegensätze und Stimmungen in Stadt und Land. Der Vergleich mit der Pfingstkonferenz 1918 verweist deutlich auf die veränderte politische Situation, die auch die ostelbischen Junker dazu bringt, Fragen der Sozialisierung zu diskutieren. triebes gar nicht denkt, dass es ihrem Glauben an die Konzentration zuwiderliefe, dass, wenn es schliesslich dazu käme, es ohne Entschädigung und ohne Beibehaltung sachkundiger Leute nicht ginge. Ausser alledem stand für den Menschenkenner die Frage offen, ob man sich jetzt schon für die psychologische Reife, die dabei als der Hauptfaktor angesehen sei, verlassen kann. Diese Seite eines sozialisierten Produktionsprozesses voraussetzend, setzte ich mich hin und schrieb für die Zeitschrift „Akademische Soziale Monatshefte," Heft 5/6,1919, folgende auf Wahrheit beruhende Erzählung:

Eine praktische Erfahrung mit der Sozialisierung Wenn man durch die Sächsische Schweiz wandert und an der Elbe entlang über das Mittelgebirge noch weiter ins Innere Böhmens vordringt, so gelang man, wenn man will, in die Landstadt Raubnitz. Es ist das eine uralte Stadt. Das erkannt man sofort an dem Baustil mancher Häuser, die sich bis zum heutigen Tag zu erhalten vermochten. Die Stadt liegt auf einem Hügel, der sich ganz allmählich nach der Elbe senkt, wo die meistenteils einstöckigen Häuschen am dichtesten aneinander gedrängt stehen und enge, unplanmäßige Gassen bilden. Der ziemlich große Marktplatz bildet ein Dreieck, dessen eine Spitze nach der Elbe zu den Zugang gewährt. An zwei Seiten des Marktplatzes stehen Wohnhäuser, und die dritte Front 123

Das Programm der Landkonferenz in Trieglaff vom 12.-15. Juni 1919 sah folgendermaßen aus: 1. Die Sozialisierung der landwirtschaftlichen und industriellen Betriebe. Landrat von Thadden, Trieglaff Korreferent: Direktor W. Spieker, Berlin 2. Die sittlich-sozialen Aufgaben der nächsten Zeit Graf Baudissin, Stolp 3. Ist ein Reich der Gerechtigkeit möglich? Leonhard Ragaz Anstelle des verhinderten Leonard Ragaz referierte Friedrich Siegmund-Schultze zum Thema: Klassengegensätze und Stimmungen in Stadt und Land. Der Vergleich mit der Pfingstkonferenz 1918 verweist deutlich auf die veränderte politische Situation, die auch die ostelbischen Junker dazu bringt, Fragen der Sozialisierung zu diskutieren. triebes gar nicht denkt, dass es ihrem Glauben an die Konzentration zuwiderliefe, dass, wenn es schliesslich dazu käme, es ohne Entschädigung und ohne Beibehaltung sachkundiger Leute nicht ginge. Ausser alledem stand für den Menschenkenner die Frage offen, ob man sich jetzt schon für die psychologische Reife, die dabei als der Hauptfaktor angesehen sei, verlassen kann. Diese Seite eines sozialisierten Produktionsprozesses voraussetzend, setzte ich mich hin und schrieb für die Zeitschrift „Akademische Soziale Monatshefte," Heft 5/6,1919, folgende auf Wahrheit beruhende Erzählung:

Eine praktische Erfahrung mit der Sozialisierung Wenn man durch die Sächsische Schweiz wandert und an der Elbe entlang über das Mittelgebirge noch weiter ins Innere Böhmens vordringt, so gelang man, wenn man will, in die Landstadt Raubnitz. Es ist das eine uralte Stadt. Das erkannt man sofort an dem Baustil mancher Häuser, die sich bis zum heutigen Tag zu erhalten vermochten. Die Stadt liegt auf einem Hügel, der sich ganz allmählich nach der Elbe senkt, wo die meistenteils einstöckigen Häuschen am dichtesten aneinander gedrängt stehen und enge, unplanmäßige Gassen bilden. Der ziemlich große Marktplatz bildet ein Dreieck, dessen eine Spitze nach der Elbe zu den Zugang gewährt. An zwei Seiten des Marktplatzes stehen Wohnhäuser, und die dritte Front 123

Bildes das bürgerliche Brauhaus mit seinen Kellereien, die mit Bäumen und Sträuchern umgeben sind. Das Gebäude trägt mehr das Gepräge einer Burg, nur daß man an den vielen da herumliegenden Fässern erkennt, welchem Zwecke es eigentlich dient. Vom Marktplatze führen vier Hauptstraßen in die umliegenden Dörfer. Die Straßen und sonstigen Plätze der Stadt sind halbwegs sauber. Die Reinigung besorgen meistes alte zu sonstiger Arbeit unfähige Leute. Raudnitz hat ungefähr 7000 Einwohner. Die Mehrzahl der Einwohner ist katholisch und tschechischer Nationalität. Der übrige Teil besteht aus Juden. Die letzteren treiben nur Handel in Stoffen, Schuhwerk, Kleidern usw. Die Katholiken und Tschechen sind Bauern, Handwerker, Beamte und Lehrer. Und weil die Stadt auch höhere Schulen hat, deshalb sind die letztgenannten Stände hauptsächlich für das politische Leben die richtunggebenden. Die Raudnitz war immer schon die Hochburg der nationalistischen Idee, die von dort aus über den ganzen Bezirk verbreitet wurde. Erst saßen da die Alttschechen fest. Diese wurden von den Jungtschechen verdrängt, und mit denen rang dann die Sozialdemokratie und die neue von Professor Masarnk gegründete realistische Partei. Die Juden verhielten sich immer neutral. Sie waren nur auf ihre materiellen Vorteile bedacht. Sie zogen nicht selten aus dem politischen und nationalen Streit einen großen Nutzen. Es passierte manchem Bürger und auch dem Bauer, daß er sich mehr um die Politik kümmerte als um seine Wirtschaft und deshalb oft auf heimliche Weise nach Geld, Tuch, Kleidung usw. zu suchen gezwungen war. Der nächste, der borgte und auch schwieg, war der Jude. Kein Wunder, wenn der Kampf um die nationale und politische Befreiung dann auch einen antisemitischen Einschlag bekam, wenn man gegen die Juden offen hetzte und nachts ihre Firmentafeln mit Teer beschmierte. In dieser Stadt lebte Mitte des vorigen Jahrhunderts, als Industrie und Handel zu blühen anfingen, ein Mann namens Schwandersky. Er war von Beruf Zimmermann und bei einem Holzhändler beschäftigt, der seine Holzsägerei zunächst mit Wasserkraft, dann aber auch mit Dampf betrieb. Schwandersky hatte nur die Volksschule besucht, lesen und schreiben gelernt; aber keine Intelligenz ging doch über die Grenze des Gelernten hinaus. Irgendwelche politische und sonstigen Ideen vermochten ihn, der infolge seiner engen Bildung keinen Weitblick für sie hatte, nicht zu begeistern. Der Inhalt seines Denkens und Strebens war das materielle Vorwärtskommen seiner Person. Er sah, wie die Bautätigkeit sich immer stärker entfaltete und die Nachfrage nach dem Holze in der holzarmen Gegend zunahm. Das bestärkte ihn in seinen Plänen, sich, wenn möglich, ein eigenes Holzgeschäft zu gründen. Diese Möglichkeit bot sich ihm dann auch, als sein Vater starb und ihm ein kleines Vermögen hinterließ. 124

Seine Arbeitskollegen waren nicht wenig erstaunt, als sie eines Sonnabends hörten, daß Schwandersky sein Arbeitsverhältnis gelöst habe und einen selbständigen Holzhandel anfangen wolle. Mancher von ihnen sah im Geist schon das Geld in der Luft schwimmen und Schwandersky auf seinem alten Posten stehen. Es waren auch solche unter ihnen, die mit ihrer Meinung nicht hinterm Berge hielten und ihm offen sagten, wie sie über sein Vorhaben dächten. Doch das Zweifeln und Kopfschütteln seiner Kollegen vermochten ihn in seinem Vorsatze nicht zu erschüttern. Im Gegenteil, ihm flößte es noch mehr Mut ein. „Warum sollte es nicht gehen, wenn ich umsichtig und sparsam bin?" dachte er. Wir wollen nun die weitere Entwicklung von Schwanderskys Unternehmen nicht in Einzelheiten verfolgen. Es dauerte freilich viele Jahre, ehe er sich bei mühevoller Arbeit und Verzicht auf Genüsse, in denen andere schwelgten, zu einer Stellung emporgeschwungen hatte, wie sie von Anfang an in seiner Phantasie lebte. Nun stand er auf der Höhe. An Unermüdlichkeit und Geschäftssinn übertraf er die Holzhändler, deren es noch mehrere im Orte gab. Sein Geschäft war das größte. Sein Betrieb war mit den neuesten technischen Mitteln ausgestattet. Er zählte sich zu den reichsten Männern der Stadt. Sein Name war in der Geschäftswelt weit und breit bekannt; aber die politische Welt kannte ihn nicht. Schwandersky hatte zwei Söhne. Dem älteren schien der nüchterne Geschäftsinn des Vaters eigen zu sein. Auch der zweite Sohn schien eine Seite des väterlichen Charakters geerbt zu haben. Er zeigte wenigstens viel Unternehmenslust. Diese schlug jedoch nach einer ganz anderen Richtung aus als die des Vaters, nämlich nach der Richtung abenteuerlicher Unternehmungen. Schwandersky ließ seine beiden Söhne die Hochschulen besuchen und dann auch studieren, in dem Glauben, daß seine Söhne, wenn sie seine Erben würden, die Geschäfte lebhafter betreiben könnten als er, der den Mangel der höheren Bildung bei sich zu spüren glaubte. Der zweite Sohn, Ladislav, der uns hier besonders interessiert, scheiterte indessen mit seinem Studium an seiner Abenteuerlichkeit und seiner Begeisterung für alles Neue in der Welt. Er bereist Rußland, Bulgarien, Rumänien, Serbien und andere Länder. Als in den achtziger Jahren der serbisch-bulgarische Krieg ausbrach, meldete sich Ladislav sofort als Freiwilliger in das bulgarische Heer, um gegen die Serben zu kämpfen. Er hatte das Glück, bei den Kämpfern seinen Schaden zu erleiden. Er kehrte, als der Krieg zu Ende war, in die Heimat zurück. Da er keine Lust hat, weiterzustudieren und keinen anderen Beruf ergreifen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich von seinem Vater geschäftigen zu lassen. 125

Das einseitige Geschäftsleben, das sich vor allem, was nicht in seinem Bereich paßt, verschließt, füllte das innere Leben Ladislavs nicht aus. Er fühlte sich gezwungen, nach einem Ersatz zu suchen. Und er glaubte ihn in der politischen Betätigung zu finden, indem er Anhänger der alttschechischen Partei wurde. Als nun sein Vater starb und ihm die Hälfte des beträchtlichen Vermögens zur freien Verfügung zufiel, konnte er endlich seiner schwärmerischen Veranlagung freien Lauf lassen. Während sein Bruder das vom Vater übernommene Geschäft in der bisherigen Weise weiter leitete und dasselbe noch zu verbessern bestrebt war, stürzte sich Ladislav auf eine Bahn, die für ihn immer verhängnisvoller wurde, nicht in moralischer, aber in finanzieller Hinsicht. Er wurde ein leidenschaftlicher Politiker. Er fehlte in keinem nationalen Verein, in keiner Versammlung und auch bei keinem Kongreß seiner Partei. Und da er eine gute rednerische Begabung hatte und überall begeisternd einzuwirken vermochte, und weil er sich freigebig zeigte, wenn die Sache Geldopfer erforderte, wurde er überall auf die vordersten Posten geschoben und mit allerhand Funktionen überhäuft. Daß das Leben aus dem Vollen nicht auf die Dauer gehen könne, daß er irgendeine Beschäftigung und Verdienst sich suchen müsse, daran dachte er nicht. Endlich mußte er aber dies einsehen und andere Wege suchen. Er zog sich vom politischen Leben zurück, was wohl seinen politischen Freunden als ein großer Verlust empfunden wurde, und gründete ein Eisenwarengeschäft mit einer Abteilung für Nähmaschinen und Fahrräder. Das Geschäft ging auf den Namen seiner Frau, da seine persönliche finanzielle Lage nicht mehr sicher war. Aber das waren nicht die alleinigen Gründe, die ihn zur Zurückziehung vom politischen Leben veranlaßt hatten. Er war nicht ein phrasenhafter Schwärmer für die bloße nationale Idee, sondern ein ehrlicher Politiker mit stark entwickeltem Gerechtigkeitsgefühl und sozialem Pflichtbewußtsein. Das ließ in ihm solche Einseitigkeit, wie man sie bei seinen Parteigängern fand, nicht aufkommen. Das hinderte ihn auch immer, nach dem Munde der großen Schar zu reden. Deshalb fühlte er sich weder bei den Alttschechen, noch bei den Jungtschechen, zu denen er übergegangen war, recht zufrieden. Auch die freisinnigste realpolitische Partei vermochte ihn nicht zu begeistern. Sie war in seinen Augen nichts anderes als ein Abklatsch von den übrigen Parteien. Alle zusammen kämpften wohl gegen das Deutschtum und für die nationale Befreiung des tschechischen Volkes, stellten sich aber feindlich gegen die Demokratisierung des politischen Lebens auch für Volksgenossen in den niederen Klassen. Für ihn war die Nation eine große Familie von Brüdern und Schwestern, die weder wirtschaftlich noch politisch sich gegenseitig entrechten durften. 126

Er lebte nun mehrere Jahre für seine Familie und für sein Geschäft. Die Politik der gegenwärtigen Führer hielt er für ein demagogisches Treiben, das ihm nur Abscheu einflößte. Sein Geschäft ging so, daß es ihn und seine Familie nicht nur leidlich leben ließ, sondern noch so viel Uberschuß abwarf, daß er es noch besser ausbauen und dazu noch eine Werkstatt einrichten konnte, in der fünfzehn Handwerker - Schlosser, Schmiede und Hilfsarbeiter - Beschäftigung fanden. Die Auswahl der Arbeiter bei der Einstellung traf er so, daß er die Anhänger der sozialdemokratischen Partei berücksichtigt, was gerade das Gegenteil von dem war, wie es andere Arbeitgeber praktizierten. Schwanderskys Werkstatt wurde auch nicht anders als „die rote Bude" genannt. Der Betrieb war im vollsten Sinne des Wortes ein konstitutioneller Betrieb. Die Leitung hatte ein Werkmeister, der zugleich ein Sozialdemokrat war; aber in allen übrigen Angelegenheiten sollte der Grundsatz der Gleichberechtigung gelten. Auch die Entlohnung der Arbeiter ging über die ortsübliche Lohnhöhe hinaus. Das machte die Arbeiter sehr zufrieden, denn sie konnten stolz darauf sein, daß es im ganzen Lande einen solchen Betrieb gab. Während die Werkstatt auf diese Weise und in größter Ordnung ein Jahr gearbeitet und auch ansehnlichen Gewinn abgeworfen hatte, reifte in Schwandersky eine Idee, von der er weder seinen Angehörigen noch seinen Arbeitern das geringste verriet. Ihm schien nach den vielen Enttäuschungen im politischen Leben doch nur die sozialdemokratische Idee die Erlösung zu bringen. Und er glaubte es in der Hand zu haben, den Versuch zu machen, diese Idee jetzt schon zu verwirklichen. Er trat eines Morgens in die Werkstatt, den Werkmeister bittend, er möge ihm die genannten Arbeiter behufs einer wichtigen Besprechung zusammenrufen. Der Werkmeister erfüllte sofort seinen Wunsch. Die Arbeiter umringten Schwandersky und schauten ihm mit neugierigen Gesichtern entgegen, was er ihnen wohl zu sagen habe. Schlechtes erwarteten sie nicht, denn jeder von ihnen fühlte sich in seinem Gewissen rein. „Werte Genossen!" hob Schwandersky an, und durch die Versammelten ging eine Bewegung. „Ihr wißt meine Vergangenheit und meine Herkunft. Ich war in mehreren politischen Parteien tätig und bemüht, die Grundsätze der Gleichberechtigung aller Volksgenossen, ob Bürgerliche oder Arbeiter, hineinzutragen und zu verwirklichen, mußte aber unter bitteren Enttäuschungen einsehen, daß meine Bemühungen vergeblich waren. Wenn das tschechische Volk auch die nationale Befreiung erreichen sollte, so kommt diese Befreiung hauptsächlich der bürgerlichen Klasse zugute, die die wirtschaftliche Freiheit schon besitzt. Aber die übrigen Volksgenossen, die der Nation ebenfalls als Brüder und Schwestern angehören und eine große Familie mit bilden sollten, 127

bleiben ferner wirtschaftlich abhängig und infolgedessen auch politisch unfrei. Aus diesen Erwägungen bin ich zu der Ansicht gelangt, daß wir zwar gut gesinnte nationale Männer bleiben, aber zugleich Sozialdemokraten sein können, denn nur darin liegt meiner Uberzeugung nach die Bürgschaft für endliche Befreiung der gesamten Volksgenossen. Wenn wir aber diese Grundsätze verwirklichen wollen, so kann es nicht mit Redensarten, sondern nur durch Taten geschehen. Und wir müssen bei uns selbst damit anfangen, um den anderen ein gutes Beispiel zu geben." Die Gesichter der Versammelten strahlten immer mehr vor Freude. „Ich habe mich entschlossen," fuhr Schwandersky fort, „ das, was ich mir denke, in die Tat umzusetzen. Die Werkstatt steht Euch von heute ab zur Verfügugng. Jeder von Euch soll sich als Eigentümer fühlen von ihr. Einer ist dem anderen gleichgestellt, und jeder soll wie bisher seiner Pflicht nachkommen. Ja, ihr habt die Freiheit, noch mehr zu schaffen als bisher; denn ihr sollt von nun ab für Euch arbeiten. Ihr habt das Recht, die Geschäftsbücher einzusehen, und Euch zu überzeugen, wie hoch der Gewinn sein wird. Der Reingewinn soll an uns Beteiligte zu gleichen Teilen verteilt werden nach dem Jahresschluß. Es bleibt mir noch zum Schluß übrig, die Frage an Euch zu richten: Seid Ihr alle mit meinem Vorschlage einverstanden?" Aus allen Kehlen erscholl ein lautes, begeistertes: „Ja!" Diese von Herzen gehende Mitteilung löste unter den Arbeitern so große Begeisterung aus, daß sie sich anschickten, Schwandersky auf die Schultern zu nehmen und ihn hochleben zu lassen. Er wehrte aber ab, indem er ihnen in nachdrucksvollem Tone zurief: „Ich verlange von Euch keine persönliche Vergötterung. Was ich tue, ist das Gebot des Rechts und der Menschlichkeit. Ihr habt es nun in der Hand zu zeigen, daß Ihr Männer seid, die von der Idee, für die sie kämpfen, durchdrungen sind und die Kraft haben, sie zu verwirklichen." Schwandersky reichte jedem die Hand und entfernte sich. Die Einzelheiten des kollektivistischen Vorschlages sollten in einer demnächst stattfindenden Sitzung besprochen und beschlossen werden. Als die Arbeiter aus der festlichen Stimmung, die über ihre Herzen sich gelegt hatte, ernüchterten, bildeten sich Gruppen, und es wurde über die praktische Durchführbarkeit des Vorschlages debattiert. Es tauchten verschiedene Zweifel auf. Die einen fürchteten, ob Schwandersky auch wirklich alles wahrheitstreu in die Geschäftsbücher eintragen würde. Andere hatten die Sorge, daß das Geschäft vor Jahresschluß bankrott machen könnte, man also das ganze Jahr gearbeitet hätte und dann nichts bekäme. Die gelernten Arbeiter hielten sich darüber auf, daß die ungelernten Arbeiter denselben Anteil haben sollten wie sie. Einer kam auch mit dem radikalen Gedanken, Schwandersky 128

dürfte überhaupt keinen Anteil haben, da er persönlich an der Arbeit nicht teilnehme. Schwandersky zögerte nicht lange mit der Festlegung des Vertrages, mit dem auch alle einverstanden zu sein schienen. Doch zeigte sich's bald, daß die Zweifel weiter wirkten wie die glühende Kohle unter einer Kruste. Aber der gewünschte Gang des Betriebes konnte so leidlich aufrecht erhalten werden. Dann fing er aber doch an zu kranken. Es kam bald der, bald jener um eine halbe Stunde, dann gar um eine ganze Stunde zu spät in die Arbeit. Es wurden auch halbe und ganze Tage daraus. Montags wurde oft sehr wenig gearbeitet, man neigte mehr dem Kartenspiel und Biergenuß zu. Die Pflichttreuen, die dies nicht mitmachen wollten, wurden als Schmarotzer angerempelt, obwohl sie sich hüteten, es Schwandersky zuzutragen. Wenn der Werkmeister, der in den Augen der andern nicht mehr war als sie, sich Vorhaltungen erlaubte, hieß es gewöhnlich: „Na, dann bekommen wir eben weniger vom Reingewinn!" Schwandersky, der zwar selten in die Werkstatt kam und so tat, als könnte er sich auf die Arbeiter verlassen, kontrollierte den Geschäftsgang der Werkstatt in seinen Büchern. Er fand, daß die Werkstatt immer mehr mit Verlust arbeitete. Nachdem Schwandersky ungefähr dreiviertel Jahr die Sache in dieser Weise gewähren ließ, betrat er mit trauererfülltem Herzen die Werkstatt, den Werkmeister bittend, die Arbeiter zusammenzurufen. Nun standen sie alle wieder versammelt vor ihm. Er konnte von ihren Gesichtern ablesen, was sie diesmal ahnten, und daß sie ihre Gewissen von Schuld beladen fühlten; sonst hätten sie ihre Blicke nicht zum Boden senken müssen. „Werte Freunde!" setzte er tief ergriffen an. „Vor ungefähr dreiviertel Jahr versammelten wir uns auf dieser Stelle. Es kam mir damals vor wie eine weihevolle Stunde der Erlösung. Aus der sozialen Einsicht heraus ging meine Wunsch dahin, Euch die Fesseln abzunehmen, Euch für freie Menschen zu erklären, wenigstens im Bereiche meines Betriebes. Ich bin aber gezwungen, Euch die tieftraurige Wahrheit zu sagen, daß Ihr für diese Freiheit noch nicht reif seid. Euere Seelen sind mit vielen schlechten Eigenschaften behaftet, die Euch nicht frei handelnde Manschen werden lassen. Der Sozialismus ist deshalb bei Euch nur äußerlich, sonst hättet Ihr nicht in so grober Weise Eure Pflichten versäumen können, als ich Euch den Betrieb zur Verfügung stellte, und hättet nicht mit Verlust gearbeitet. Sozialismus ist der Ausdruck menschlicher Pflichterfüllung und der reinen menschlichen Gesinnung gegen sich selbst und gegen andere. Da ich bei Euch diese Voraussetzung vermisse, sehe ich mich gezwungen, zu der früheren Arbeitsweise zurückzukehren, Euch unter die mir verantwortliche Aufsicht zu stellen, der jeder sich fügen oder das Arbeitsverhältnis auflösen muß." 129

Den meisten war so, als sei ein Stein von ihrem Herzen genommen worden. Sie fühlten die Berechtigung der Worte und die eigene Schwäche, gegen die ihnen anhaftenden Untugenden ankämpfen zu können, und die Selbständigeren fühlten sich ebenfalls zu schwach, sich gegen jene durchzusetzen. So war es für alle wieder wie eine Erlösung.

Auf dem Gut In diesem Jahr zog ich wieder mit 16 Jungen in die Ferien und zwar auf ein Gut im Kreise Belgard. Unter ihnen befanden sich ein 18jähriger Kontorist, ein früherer Klubjunge, sowie zwei Präparanden, die übrigen waren alle im Alter von 13 und 14 Jahren. Wir fuhren vormittags 10 Uhr von Berlin ab und waren erst um 10 Uhr abends an Ort und Stelle. Das Gut gehörte einer alteingesessenen adligen Familie, mit der wir bei den Konferenzen und bei anderen Gelegenheiten immer mehr bekannt geworden waren. Sie war bereit, uns 17 Mann fünf Wochen lang zu verpflegen. Die Einwohnerschaft setzte sich auch hier nur aus den Angehörigen des Gutsbesitzers und der Gutsarbeiter zusammen. 5 500 Morgen Land sollte das Gut mit Wald und Wiesen umfassen. Die Landfläche war fast ringsherum von Wald umsäumt, inmitten lag das kleine Dörfchen, das mit seiner ganzen Umgebung einen idyllischen Charakter zeigte. Die aus Fachwerk gebauten Wohnhäuser, Scheunen und sonstigen Gebäude erinnerten an die Zeit vor zweihundert Jahren. Nur das Herrschafts- und Vierfamilienhaus wurden erst vor nicht langer Zeit nach neuer Architektur errichtet. Auch das Schulgebäude stammte noch aus der alten Zeit. Da der Lehrer ein junger unverheirateter Mann war und erst aus dem Krieg zurückgekommen war, standen infolgedessen in der Schule zwei Zimmer für uns frei. Für das grosse Zimmer baute der Stellmacher Schlafpritschen, die aufeinander gestellt wurden. So schliefen unten und oben acht Jungens. Ich selbst wohnte in dem anschließenden kleinen Zimmer, ausserdem stand noch ein kleiner Raum zur Verfügung, in dem sich alle waschen und auch das Geschirr reinigen konnten. Das Essen wurde aus der Schlossküche geholt. In dem großen Zimmer stand auch der Esstisch mit seinen Sitzbänken. Bei schönem Wetter assen wir dann gewöhnlich auf dem Schulhof. Zu essen gab es genug. Mehrmals in der Woche Fleisch und Speck. Morgens gab es eine gute in Milch gekochte Mehlsuppe. Nur das Brot war.noch etwas knapp. Der Gutsbesitzer, der erst als Oberleutnant aus dem Felde gekommen war, zeigte noch ein verhältnismäßig junges Alter. Er war mit Leib und Seele Landwirt, schien für politische Dinge wenig Interesse zu haben, war aber sonst sehr höflich und menschlich gesinnt, nicht nur im Verhältnis zu uns, sondern auch zu seinen Arbeitern. Ebenso wie er war auch seine Frau, die Tochter des General v. 130

Den meisten war so, als sei ein Stein von ihrem Herzen genommen worden. Sie fühlten die Berechtigung der Worte und die eigene Schwäche, gegen die ihnen anhaftenden Untugenden ankämpfen zu können, und die Selbständigeren fühlten sich ebenfalls zu schwach, sich gegen jene durchzusetzen. So war es für alle wieder wie eine Erlösung.

Auf dem Gut In diesem Jahr zog ich wieder mit 16 Jungen in die Ferien und zwar auf ein Gut im Kreise Belgard. Unter ihnen befanden sich ein 18jähriger Kontorist, ein früherer Klubjunge, sowie zwei Präparanden, die übrigen waren alle im Alter von 13 und 14 Jahren. Wir fuhren vormittags 10 Uhr von Berlin ab und waren erst um 10 Uhr abends an Ort und Stelle. Das Gut gehörte einer alteingesessenen adligen Familie, mit der wir bei den Konferenzen und bei anderen Gelegenheiten immer mehr bekannt geworden waren. Sie war bereit, uns 17 Mann fünf Wochen lang zu verpflegen. Die Einwohnerschaft setzte sich auch hier nur aus den Angehörigen des Gutsbesitzers und der Gutsarbeiter zusammen. 5 500 Morgen Land sollte das Gut mit Wald und Wiesen umfassen. Die Landfläche war fast ringsherum von Wald umsäumt, inmitten lag das kleine Dörfchen, das mit seiner ganzen Umgebung einen idyllischen Charakter zeigte. Die aus Fachwerk gebauten Wohnhäuser, Scheunen und sonstigen Gebäude erinnerten an die Zeit vor zweihundert Jahren. Nur das Herrschafts- und Vierfamilienhaus wurden erst vor nicht langer Zeit nach neuer Architektur errichtet. Auch das Schulgebäude stammte noch aus der alten Zeit. Da der Lehrer ein junger unverheirateter Mann war und erst aus dem Krieg zurückgekommen war, standen infolgedessen in der Schule zwei Zimmer für uns frei. Für das grosse Zimmer baute der Stellmacher Schlafpritschen, die aufeinander gestellt wurden. So schliefen unten und oben acht Jungens. Ich selbst wohnte in dem anschließenden kleinen Zimmer, ausserdem stand noch ein kleiner Raum zur Verfügung, in dem sich alle waschen und auch das Geschirr reinigen konnten. Das Essen wurde aus der Schlossküche geholt. In dem großen Zimmer stand auch der Esstisch mit seinen Sitzbänken. Bei schönem Wetter assen wir dann gewöhnlich auf dem Schulhof. Zu essen gab es genug. Mehrmals in der Woche Fleisch und Speck. Morgens gab es eine gute in Milch gekochte Mehlsuppe. Nur das Brot war.noch etwas knapp. Der Gutsbesitzer, der erst als Oberleutnant aus dem Felde gekommen war, zeigte noch ein verhältnismäßig junges Alter. Er war mit Leib und Seele Landwirt, schien für politische Dinge wenig Interesse zu haben, war aber sonst sehr höflich und menschlich gesinnt, nicht nur im Verhältnis zu uns, sondern auch zu seinen Arbeitern. Ebenso wie er war auch seine Frau, die Tochter des General v. 130

Liest, eingestellt. Sie sorgte sich um uns wie um andere wie einen Mutter. Es war rührend zu sehen, wenn sie mit ihrer Hausapotheke unter dem Arm durch das Dorf ging, um die Kranken zu besuchen. Des Gutsbesitzers Mutter war ebenso veranlagt. Sie betätigte sich auch schriftstellerisch, hielt Vorträge und interessierte sich für Probleme aller Art. Eine kleine Schrift von ihr über Erziehungsprobleme gefällt mir sehr gut! Es scheint mir auch so, als ob die ganze Familie und ihre Verwandten von ihrem Geist durchdrungen wären. Meine Jungen durften im Park und auf der Parkwiese vor dem Schloss spielen, wann und was sie wollten. So wurde Schlagball, Fussball oder ein anderes Spiel getätigt, aber auch Wettlauf oder Dauerlauf, zu diesen Spielen die Gutsbesitzerin oder auch ich Preise aussetzten. Wenn der Abend kam und die Mädchen in der Küche mit ihrer Arbeit fertig waren, wenn wir dann alle vor dem Schloss unter der breitkronigen Linde sassen und ich auf der Harmonika spielte, dann sangen und tanzten sie alle ohne Unterschied des Standes lustig und froher Laune auf dem sandigen Platze. Für die Küche sammelten wir Blaubeeren und Pilze, halfen bei den Gartenarbeiten und wenn nicht anderes zu tun war, dann reinigten wir die Dorfstrasse. Gleich am ersten Tage nach unserer Ankunft sagte ich zu meinen Jungen, wie sie sich dazu stellten, es gäbe doch noch Soldatenräte, Schülerräte und was sonst nicht noch für Räte, ob nicht sie auch einen Ferienrat wählen möchten. Ich warf diesen Gedanken mehr als Spass hin. Als ich aber sah, dass die Jungen mit Ernst darauf reagierten, stellte ich es ihnen anheim, vier Mann zu wählen, mir dann die Namen der Gewählten mitzuteilen und entfernte mich, um sie nicht in ihrem Entschluss zu hindern. Mir lag nun daran zusehen, welche Funktion der Ferienrat sich zu eigen machen werde. Es galt aufzupassen, ob die Jungen ihre Betten gemacht, sich gewaschen, die Stuben ausgefegt haben usw. Darum kümmerte er sich aber nicht. Das blieb nachher wie zuvor meine Sorge. Doch ich äusserte mich vorläufig nicht dazu. Eines Tages kam der Gutsbesitzer und meinte, er hätte draussen ein Stück mit Mohrrüben besätes Feld, die Rüben waren aber stellenweise zu dicht gekommen, ob sie nicht, da seine Leute keine Zeit dazu hätten, mit meinen Jungen lichten und jäten möchte, es könnte vielleicht drei oder vier Nachmittage in Anspruch nehmen. Natürlich sagte ich zu. In der Küche wurden uns nun Stullen, eine Kanne mit Kaffee und einen mit Milch zurecht gemacht, und damit ausgerüstet zogen wir um 2 Uhr nachmittags hinaus. Das war eine Arbeit, die entweder gebückt oder gekniet getan werden musste. Eine Weile ging es gebückt, da aber der Rücken bald weh tat, muss die Kniestellung eingenommen werden. Schon sah ich wie sich einige auf 131

die Ellenbogen stützend zwischen den Zeilen langlegten, so dass ich bald zu dem Rat veranlasst wurde, am anderen Tag Matratzen mit auf das Feld zu nehmen, Am zweiten Abend nach dem Abendessen kamen zwei Mann von dem gewählten Ferienrat zu mir und teilten mit, dass der Ferienrat beschlossen habe, nicht mehr auf das Rübenfeld zu gehen, worauf ich ihnen aber erwiderte, dass ich den Beschluss gefasst habe, weiterhin Mohrrüben zu jäten. Wenn es sich so verhält, meinten sie, dann hätte ja der Ferienrat keinen Zweck. Das bestätigte ich ihnen gern, da ihnen nur das angehen sollte, wie sie es deutlich ersichtlich machten, wann gearbeitet werden soll und wann nicht, alles andere kümmerte ihnen nichts. So wurde ich mit meinen Ferienräten schneller fertig als die Regierung mit ihren Sodatenräten. Die Wahlen in die Nationalversammlung und in den Preussischen Landtag sollen in diesen Dörfern 32 sozialdemokratische Stimmen ergeben haben. Das ist ein zuvor nie dagewesenes Ereignis. Darin vermutete man schon eine Verbolschewisierung des ganzen Ortes. Ein junger kriegsbeschädigter Mann, dem ein Bein bis zum Knie abgenommen worden war und der im Orte geboren und gross wurde, sollte der schlimmste Hetzer und Aufwiegler sein. Er setzte sich, da er zur Arbeit nicht zu gebrauchen war und sich infolgedessen zu Hause langweilte, bald in die Stellmacherei, bald in die Schmiede, also überall dort wo Arbeiter verkehrten, kritisierte und schimpfte alles in Grund und Boden. Diese Orte, an denen er sich den Tag über aufhielt, führten uns bald zusammen und verbanden uns zur Freundschaft. Als ich dann seiner Einladung folgte, traf ich ihn allein zu Hause an. Seine Eltern und seine beiden Geschwister waren auf dem Felde. Nachdem er mir Kaffee und ein Butterbrot mit Schinken angeboten hatte, frage er, ob ich denn auch im Schloss etwas bekäme, die Herrschaft wäre doch sehr sparsam. Bei dem alten Gutsbesitzer, dem Vater des jetzigen Herrn, hätte es auch immer Hering mit Kartoffeln gegeben. Während wir so über die und jene mir nebensächlichen Dinge plauderten, brachte der Briefträger eine Zeitung. Ich vermutete, dass das gewiss die „Rote Fahne" oder der „Vorwärts" sei. Ο nein! Es war die „Berliner Volkszeitung". Allmählich lenkte ich unser Gespräch auf seine Wünsche, Pläne und Vorsätze seiner Zukunft. Sein Wunsch ging dahin, eine Anstellung als Schreiber beim Bezirksausschuss zu erlangen. Mit der bloßen Handschrift, erklärte ich ihm, sei heutzutage nicht daran zu denken, an eine solche Stellung heranzukommen. Er müsste schon Stenographie und Maschineschreiben lernen. Ausserdem bat ich ihn, doch über irgend etwas einen Aufsatz zu schreiben. Im Schloss wohnten und speisten auch zwei Kontoristinnen des Gutshofes und eine Hauslehrerin. Diese Damen weihte ich in meinen Plan ein und interessierte sie für diesen jungen Mann. Sie erklärten sich bereit, ihm Unterricht zu geben. 132

Als ich später seinen Aufsatz zu Gesicht bekam, fand ich eine sehr schöne Handschrift vor und mit nur ganz wenigen Rechtschreibfehlern. Ich fühlte mich nun gewissermassen veranlasst, ihm meinen Plan zu enthüllen, auf welche Weise er sein Ziel erreichen könne und dass die Damen im Schloss sich dazu bereit erklärt haben, ihm dabei behilflich zu sein. Aber damit stiess ich bei ihm auf den heftigsten Widerstand. Von den Leuten im Schloss mochte er nichts wissen. Bisher habe er sie beschimpft und nun solle er noch hingehen, was würden denn da, meinte er weiter, seine Kollegen dazu sagen. Nachdem ich ihm noch einmal seine ganze Lage auseinandersetzte und ihm bewies, dass er auf keine andere Weise zur Erfüllung seiner Wünsche kommen könne, da erst gab er nach. Am nächsten Tag holte ich ihn ab und führte ihn auf die Hintertreppe ins Schloss zum Unterricht. Wie ein Wunder sahen das die Damen an. Es war eben ein menschliches Verstehen. Vor drei Jahren erkundigte ich mich nach ihm, da erfuhr ich von seinen Verwandten, dass er in Polzin bei einem Baumeister angestellt sei. Ausserdem ist er auch verheiratet, hat bereits zwei Kinder und besitzt ein Wohnhaus mit einem Garten. Wir hatten uns schon zu Hause vorgenommen, in diesen stillen, vergnügungslosen Ort ein wenig Freude hineinzubringen, indem wir unsere in Berlin einstudierten und aufgeführten Theaterstücke in unserem Gedächtnis auffrischten und sie auf dem Getreidespeicher zur Aufführung gelangen liessen. Von Bohlen und Latten bauten wir uns eine Bühne. Unsere Gastgeberin versorgte uns das dazu nötige farbige Tuch und half uns auch bei der Zusammenstellung der Kostüme. Nachdem ich von dem Herrn die Erlaubnis erhalten hatte, dass nach der Vorstellung auch getanzt werden darf, transportierte die Dorfjugend das Klavier aus dem Schloss hinauf in den Speicher. Jung und alt, alles kam und schaute unserer Kunst zu und tanzte auch nachher lustig und voller Stimmung bis 12 Uhr nachts. Das dabei das Bier und Rauchmaterial nicht fehlte, das ist eine selbstverständliche Sache. Das besorgte mein kriegsbeschädigter Freund. Dass auch die Herrschaft in den fröhlichen Strom hineingezogen wurde, das brauche ich eigentlich nicht besonders zu erwähnen. Die Aufführung brachte uns bei der ganzen Einwohnerschaft eine Freundschaft ein. Meine Jungen und ich wurden überall gern gesehen und sogar sonntags zum Kaffe eingeladen. Sonst werden von den Einwohnern solche Ferienkolonisten beneidet. Sie empfinden sie als eine Belastung des Gutes und meinen, warum man stattdessen nicht ihren Lohn aufbessere. Es ist nicht leicht, das Vertrauen dieser Leute zu gewinnen, zumal sie sehen, wie nah unsere Verbindung mit ihrem Arbeitgeber ist, und wie wir täglich in dem Schlosse aus- und eingehen. Und doch durfte ich mich ihres Vertrauens erfreuen. Wie dies geschieht, 133

weiss man sich oft selbst nicht zu erklären. Mir wurden Dinge erzählt, die man gewiss selten einem Fremden anvertraut, Dinge, die sich schon vor 100 oder 200 Jahren zugetragen hatten und sich von der einen auf die andere Generation vererbten und die den Leuten im Blute haften. Dabei wurde mir die Tatsache klar, wie durch Jahrhunderte die Unzufriedenheit sich ansammelt und dass sie bei einer gegebenen Gelegenheit in rachsüchtige Wucht ausbrechen kann. Alle am Urgrossvater bis zu den letzten Erben selbst verübte Ungerechtigkeit oder Duldung derselben bei ihren Beamten befand sich wie registriert in ihren Köpfen. Der letzte Besitzer hatte ein ziemlich gutes Verhältnis zu seinen Arbeitern, wie es seine Vorfahren nicht hatten. Er war menschlich gesinnt, ausserdem lebte er in einem anderen Zeitgeist, als jene lebten. Das wurde von den intelligenteren Arbeitern auch angesehen und anerkannt. Es war sehr vernünftig gesprochen, als der Stellmacher mir einmal sagte, dass der jetzige Besitzer, auf den nun die Sünden seiner Vorfahren fallen, nichts dafür kann. Er war der Meinung, dass diese sogar schon von der Ritterzeit her datierten. Hier hatte ich nun auch die Gelegenheit, zwischen dem landwirtschaftlichen und dem industriellen Betrieb einen Vergleich zu ziehen. In der Landwirtschaft hängt der Ertrag der Arbeit von der Witterung ab, auch bei bester fachmännischer Leistung und Anwendung von modernen technischen Produktionsmitteln. Dort lässt sich die zu produzierende Menge in bestimmter Zeit nicht vorausberechnen und erzielen. Auch ist bei wechselndem Wetter über die Zeit und die Arbeitskräfte schwerer zu disponieren als in einer x-beliebigen Fabrik. Soll z.B. Getreide eingefahren oder eine andere Arbeit, die nur bei trockenem Wetter möglich ist, geleistet werden, und wird man dabei von einem länger anhaltenden Regen überrascht, so muss man mit einer nicht dem Wetter ausgesetzten Arbeit beginnen. Eine jede solche Umstellung bringt Zeitverlust mit sich. Die industriellen Produkte haben gleiche Preise, ob es regnet oder nicht, und werden trotz bester Produktionsmittel von der sich vertrustenden Industrie nach Belieben hochgetrieben. Angebot und Nachfrage ist da fast ausgeschlossen. Ist die Ernte aber schlecht, so hat der Landwirt geringe Einnahmen, ist die Ernte allgemein gut, so ist das Angebot an Getreide gross und die Einnahme nicht wesentlich besser als erst. Die Preise der landwirtschaftlichen Produkte stehen meist verhältnismässig niedriger zu den Preisen, die er für die Maschinen, Geräte, Schuhe, Kleidung usw. zahlen muss, so dass zwischen Einnahmen und Ausgaben immer eine Differenz besteht. Es ist z.B. schwer zu erforschen, weshalb die Differenz zwischen den Fleischpreisen auf dem Lande und in der Stadt so gross ist und wo sie bleibt, wenn draussen das Pfund Fleisch 68 Pfennig und in der Stadt Mark 1,60 oder 134

1,80 kostet. K o m m t man den Landwirten mit solchen Gedankengängen, in der Hoffnung, von ihnen Aufklärung zu erhalten, da erfährt man oft, dass sie über ihre Lage selbst nicht recht Bescheid wissen. Darüber unterhielt ich mich am meisten mit Gottfried von Bismark, mündlich und auch brieflich. Lange Briefe wechselten wir miteinander. Wenn der Roggen massenhaft auf dem Markte lag und dessen Preis niedrig stand, so sah er die Ursachen dieser Erscheinung darin, dass die Grossstädter zu wenig Brot und mehr Weizengebäck essen. D a s dies eine mit von den vielen Ursachen sein könnte, war nicht zu bestreiten, aber sie war nicht die wesentliche Ursache, wie er es glaubte. Ich sah den Grund der N o t in der Landwirtschaft darin, dass die Landwirtschaft in den letzten hundert Jahren ihre Produktivkräfte kaum um 50% zu steigern vermochte, wogegen die Industrie ihre Produktivkräfte um mehr als das hundertfache steigerte, wodurch sie eben den Wohlstand der Industriebevölkerung hob, die Landbevölkerung dagegen zurückblieb. Ich war der Meinung, dass diese Unausgeglichenheit als die Hauptursache der N o t in der Landwirtschaft betrachtet werden muss, und die nach meiner weiteren Ansicht nicht anders zu beheben sei, als dass man die Preise für landwirtschaftliche Produkte dem städtischen Wohlstand angemessen stabilisiert. Dies müsste in der Masse geschehen, indem der ansteigende technische Fortschritt zur höchsten industriellen Stufe strebt. Herrn von Bismarck fiel es aber schwer, meine Ansichten für richtig zu halten. Bei meinen Gesprächen mit den Gutsarbeitern lag mir auch daran, von ihnen selbst zu hören, wie es mit ihrer Entlohnung steht. Bei der Einstellung der Arbeiter kam weniger der einzelne als gerade die Familie in Frage, über wieviel Arbeitskräfte sie verfügte. Wenn es also stimmt, was mir gesagt wurde, dann war das Arbeitsverhältnis so: Der Vater, der als erster Arbeiter galt, bekam eine aus etlichen Zimmern bestehende Wohnung mit einem Garten und einem Stall, ausserdem 20 Zentner Roggen, 6 Zentner Gerste und ebenso viel Hafer, 8 qum Holz, zwei Kastenwagen voll Torf, 50 Zentner Briketts, fünfviertel Morgen Land für den Anbau von Kartoffeln und 40 Pfenninge Tagelohn, alles letztere versteht sich pro Jahr. Eine Kuh, die sich jeder selbst für sein Geld anzuschaffen hatte, stand in dem Kuhstall der Herrschaft. Sie wurde vom Gut gefüttert und auch auf die Weide getrieben. Die Frauen der Gutsarbeiter hatten also nur ihre Kühe früh, mittags und abends zu melken und konnten die Milch nach Hause bringen. Die Kartoffelsaat beschaffte sich jeder selbst. Bei einer guten Ernte, brachten die fünfviertel Morgen Feld auch bis 130 Zentner Kartoffeln. Kleinvieh hielt sich ein jeder so viel er konnte, 15-20 Gänse und ebenso viele Hühner und Kaninchen. Die meisten zogen sich vier Schweine gross, zwei davon wurden geschlachtet, das eine im Frühjahr und 135

das andere im Herbst und die anderen beiden verkauft. Etliche Leute versuchten es auch mit einer Zuchtsau. Da der Barlohn zur Anschaffung von Kleidung nicht reichte, so verkaufte man Eier, Butter, Gänse und Hühner. Den Roggen Hessen sie mahlen und buken sich das Brot selbst. Hinter der Schmiede befand sich ein grosser Backofen. Ein vom Gut angestellter Mann heizte in jeder Woche den Ofen und schob dann die Brote, welche die Frauen zu Haus zurechtgemacht und ihm hingebracht hatten, hinein. Donnerstag buken die Arbeiter und Freitag die Herrschaft. Hatte der Vater noch einen Sohn und ein arbeitsfähiges Mädchen, so bekam der Sohn die Hälfte des oben genannten Deputates, aber mehr Bargeld als der Vater, die Tochter erhielt nur ihren Barlohn. Die Arbeitszeit betrug einschliesslich der Pausen 13 Stunden im Sommer und 9 Stunden im Winter. Ich fand, dass die Menschen dort nicht gar so schlecht leben, wie wir Großstädter es uns vorstellen, oder wie es manchmal in den Zeitungen geschrieben steht. Wohl leben die Leute da einsamer, ohne Kino, Theater, Tanzsaal und sonstigen Vergnügungsstätten. Nicht einmal eine Flasche Bier oder einen Schnaps bekommt man zu kaufen, ohne dem allen der Großstädter sich das Leben gar nicht denken kann. Aber diese Menschen habe doch ihre Freude. Sie sind doch nicht ganz und gar solche besitzlosen Proletarier wie wir großstädtischen Arbeiter, sie finden Freude an ihrer Kleinwirtschaft und an ihrem Vieh. Das ist es auch, was sie mit dem Gut verbunden hält. Wenn es auch unvernünftige Gutsbesitzer gibt, die mit ihren Arbeitern in dauernder Zwietracht leben, das ändert aber nichts an dieser Wesenheit. Ein Unikum was unser Hauswirt, der junge Dorfschullehrer. Mehr als ich interessierten sich für ihn meine beiden Präparanden, als zukünftige Lehrer. Sie merkten aber bald, dass von ihm nichts zu lernen war,, dass er eher ein Hanswurst war. Er machte sich bei seinen Gesprächen mit den Jungen so lächerlich, dass sie sich oft über ihn lustig machten. Sei Ziel und Ideal war, eine reiche Braut zu finden. Sein Stolz war auch, dass er es bis zum Reserveleutnant gebracht hatte, damit versuchte er nun, bei ihnen Eindruck zu schinden. Um zu erfahren, was für eine Bibliothek der Mann besitze, gingen die beiden hin und wollten sich von ihm Goethe ausleihen. Goethe müsste zwar auf dem Tisch eines jeden Lehrers stehen, doch habe er ihn leider nicht, sagte er, sich entschuldigend. Im Gespräch über die Reichtagswahlen meinte er weiter, dass ein jeder Lehrer deutschnational sein müsse, doch wäre er gezwungen, sozialdemokratisch zu wählen. Auf die Frage, wie er zu solcher Meinung komme, begründete er damit, weil die Sozialdemokraten für die Forderungen der Lehrerschaft eintreten. Das wollte meinem 18jährigen Helfer durchaus nicht in den Kopf. Die sahen das als eine Charakterlosigkeit an. Als im Nachbarort eine Lehrerkonferenz stattfand und man ihn fragte, 136

warum er nicht hingehe, gab er geziert zu verstehn, dass ein Reserveleutnant nicht hineinpasse. So lächerlich gebärdete er sich bei einer jeden solchen Gelegenheit. Da wir nun von nebenan alles, was in der Schulstube vorging, hören konnten, waren wir oft entsetzt darüber, wie der Rohrstock knallte. Auch die Hauslehrerin, die in der Schule Unterrichtsstunden zu geben hatte, kam manchmal gerade dazu, wie er 6, 8-10 Kinder in Reih und Glied antreten Hess und sie nacheinander verprügelte. Entsetzt darüber begab sie sich dann nach Hause. Aber auch der Gutsbesitzer mit seinen Angehörigen regte sich darüber auf. Er war aber trotzdem der Meinung, dass die Kinder Furcht haben müssen, wenn sie etwas lernen und ihre Schularbeiten machen sollen. Der Gutsbesitzer hatte nicht mehr die Macht, wie früher, ihm zu kündigen. Der Protest der Eltern war auch zu schwach, so dass nicht genug ausreichende Gründe vorlagen, bei der Schulbehörde zu klagen. Mit dem Schulrat, der ein Sozialdemokrat gewesen sein soll, stand sich der Lehrer gut. Da durch die Schulbehörde nichts zu erreichen war, die Klagen der Eltern sich aber immer mehr häuften, wurde ein Familienrat abgehalten, zu dem alle daran interessierten Leute hinzugezogen wurden. Man kam zu der Ansicht, es mit ihm persönlich zu versuchen. Man brachte ihm die falschen erzieherischen Grundsätze zum Bewusstsein und legte ihm nahe, sich selbst versetzen zu lassen, was er dann auch tat. Inzwischen hatte der Lehrer auch geheiratet und zwar ein adoptiertes Mädchen aus dem Nachbardorf. Die besass wohl nicht ein so grosses Vermögen, wie er es sich in seinem Eheidealismus wünschte, aber sie brachte doch etwas in die Ehe. Sie war hübsch, gross und schlank, geistig interessiert und las, wie mir gesagt wurde, viele gute Bücher. Sie bekamen dann auch ein Mädchen, und es hatte den Anschein, als lebten die beiden - trotz seiner egoistischen Ader und seiner unmännlichen Haltung - doch zufrieden miteinander. Doch als ich wieder einmal ohne meine Jungens auf meinem Besuchweg zu ihm mich befand, da wurde mir sofort das neueste Ereignis, das sich in dem Orte zugetragen hatte, erzählt. Des Lehrers Frau Hess Mann und Kind im Stich, warf sich unter den Eisenbahnzug und liegt nun bereits unter der Erde. Uber die Gründe, die sie zu dieser so schrecklichen Tat getrieben haben, zerbrach man sich allgemein die Köpfe. Materielle Not kam nicht in Frage. Es mußten also psychologische Gründe vorhanden gewesen sein. Für mich stand folgendes fest: Der Mann war ein grosser Egoist, dazu ein Hanswurst. Wie soll sich eine charaktervolle und geistig interessierte Frau neben einem solchen Manne wohl zufrieden und glücklich fühlen? Für sie musste ein solches Leben eine Qual sein. Deshalb dieser schreckliche Entschluß, das eigene Kind zu verlassen und in den Tod zu gehen. 137

Nicht nur die Dorfleute vermochten die Gründe des Selbstmordes nicht zu finden, sondern auch der nun sich unglücklich fühlende Mann. Die Leute hatten doch eine sichere Stellung, hatten Geld und auch zu leben. War es dann also notwendig, fragten sich die Bewohner, dass diese Frau sich dieser Tat hingab. Ich wunderte mich nicht. War es denn aber möglich, diesem materiell eingestellten Menschen ein psychologisches Rätsel verständlich zu machen? Ich Hess, als unsere Gastzeit zu Ende war, den Helfer und meinen Sohn, der auch 19 Jahre alt war, mit den Jungen nach Berlin fahren und blieb noch 14 Tage länger in dem Orte. Die Ferien der Klubjungen waren in den letzten Jahren zugleich auch meine Ferien oder Urlaub, wie ich sie auch nennen kann. Hat man aber von frühmorgens bis abends 10 Uhr mit 16 Kindern zu tun, dann kann man das, was man des Spasses aber auch des Argers gedenkt, die dabei herausschauen, nicht gerade als eine Erholung betrachten. Hätte mir meine Gastgeberin nicht erlaubt, einen mit mir befreundeten Schuldiener aus Berlin nachkommen zu lassen, so würde ich mich ohne die Jungens doch gelangweilt haben, Zumindestens hätte ich sie vermisst. Andererseits war ich wieder froh, dass ich nicht länger blieb, denn es sollten sich bald unerwartete Ereignisse einstellen.

Streik Eines nachmittags merkte ich, wie der kriegsbeschädigte junge Mann hastend einen Fremden von Haus zu Haus führte. Daraus schloss ich, dass irgendetwas vorbereitet werden sollte. Als wir nach dem Abendessen durch das Dorf nach unserer Schlafstelle gingen, stand vor einem Hause neben der Schmiede eine Menschenmenge und viele andere Neugierige kamen noch dazu. Auch mein Freund und ich blieben schliesslich stehen, um abzuwarten, was hier geschehen soll. Aus der Haustür kam bald danach der Mann heraus und begann zu reden. Das, was er sprach, war mir nicht neu. Man hörte auch aus seinem Munde die gewohnten Schlagworte von kapitalistischer Ausbeutung usw. gewürzt mit persönlichen Angriffen gegen die Grossgrundbesitzer. Es war ein vom Landarbeiterverband geschickter Mann, der Mitglieder werben sollte; der aber, so viel ich merkte, seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Denn ihm sollte es sich weniger um politische Agitation, als um die Aufklärung über die geschichtliche Mission der Gewerkschaften handeln. Trotzdem hatte er Erfolg, indem sich fast alle aufnehmen Hessen. Eines vormittags um die elfte Stunde ging ich nach dem Schloss. Vor der Treppe kam mir der Gutsbesitzer entgegen und rief erregt: „Es wird gestreikt!" 138

Nicht nur die Dorfleute vermochten die Gründe des Selbstmordes nicht zu finden, sondern auch der nun sich unglücklich fühlende Mann. Die Leute hatten doch eine sichere Stellung, hatten Geld und auch zu leben. War es dann also notwendig, fragten sich die Bewohner, dass diese Frau sich dieser Tat hingab. Ich wunderte mich nicht. War es denn aber möglich, diesem materiell eingestellten Menschen ein psychologisches Rätsel verständlich zu machen? Ich Hess, als unsere Gastzeit zu Ende war, den Helfer und meinen Sohn, der auch 19 Jahre alt war, mit den Jungen nach Berlin fahren und blieb noch 14 Tage länger in dem Orte. Die Ferien der Klubjungen waren in den letzten Jahren zugleich auch meine Ferien oder Urlaub, wie ich sie auch nennen kann. Hat man aber von frühmorgens bis abends 10 Uhr mit 16 Kindern zu tun, dann kann man das, was man des Spasses aber auch des Argers gedenkt, die dabei herausschauen, nicht gerade als eine Erholung betrachten. Hätte mir meine Gastgeberin nicht erlaubt, einen mit mir befreundeten Schuldiener aus Berlin nachkommen zu lassen, so würde ich mich ohne die Jungens doch gelangweilt haben, Zumindestens hätte ich sie vermisst. Andererseits war ich wieder froh, dass ich nicht länger blieb, denn es sollten sich bald unerwartete Ereignisse einstellen.

Streik Eines nachmittags merkte ich, wie der kriegsbeschädigte junge Mann hastend einen Fremden von Haus zu Haus führte. Daraus schloss ich, dass irgendetwas vorbereitet werden sollte. Als wir nach dem Abendessen durch das Dorf nach unserer Schlafstelle gingen, stand vor einem Hause neben der Schmiede eine Menschenmenge und viele andere Neugierige kamen noch dazu. Auch mein Freund und ich blieben schliesslich stehen, um abzuwarten, was hier geschehen soll. Aus der Haustür kam bald danach der Mann heraus und begann zu reden. Das, was er sprach, war mir nicht neu. Man hörte auch aus seinem Munde die gewohnten Schlagworte von kapitalistischer Ausbeutung usw. gewürzt mit persönlichen Angriffen gegen die Grossgrundbesitzer. Es war ein vom Landarbeiterverband geschickter Mann, der Mitglieder werben sollte; der aber, so viel ich merkte, seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Denn ihm sollte es sich weniger um politische Agitation, als um die Aufklärung über die geschichtliche Mission der Gewerkschaften handeln. Trotzdem hatte er Erfolg, indem sich fast alle aufnehmen Hessen. Eines vormittags um die elfte Stunde ging ich nach dem Schloss. Vor der Treppe kam mir der Gutsbesitzer entgegen und rief erregt: „Es wird gestreikt!" 138

„Wo denn?" fragte ich ihn ... Ich hatte wohl die Kutscher unterwegs ausspannen sehen, aber das taten sie zu derselben Zeit immer. „Bei uns! Was soll man machen?" fragte er. „Kopf hochhalten und ruhig Blut bewahren!" beschwichtigte ich ihn. In dem Zimmer seiner Mutter drängte sich nun alles zusammen, die Familienangehörigen, wie auch die hier weilenden Verwandten und Bekannten. Jedem konnte man an den Lippen die Frage ablesen: Was nun? Jemand rief sogar in seiner Aufregung: „Lassen wir uns doch Militär kommen!" Davon riet ich ab. Auch im Falle, dass Militär zu haben wäre, sollte man sich nicht das Vertrauen der Arbeiter, welches sie noch immer haben, nicht ganz und gar verscherzen. Ich mahnte zur Besonnenheit, man möchte abwarten, bis sich die Situation etwas geklärt haben wird. Man konnte die Aufregung und die Furcht mancher,dass etwas Furchtbares im Anzug sei, begreifen. Denn es war eine Situation, ein noch nie dagewesenes Ereignis! N u n erfuhr ich auch den Grund des Streikes. Die beiden Verbände, der Landarbeiter-Verband und der Landbund verhandelten bereits wochenlang wegen eines neuen Lohnabkommens miteiander und konnten sich nicht einig werden, weil dem Landbund die von der Arbeitern gestellten Forderungen zu hoch erschienen. Die Verhandlungen zogen sich unendlich hin, bis der Landarbeiter· Verband dem Landbund ein Ultimatum stellte, bis zum Donnerstag, dem soundsovielten entweder zu bewilligen, oder sie sollen sich auf einen Streik gefasst machen. D a s letztere war nun geschehen. N a c h dem Mittagessen ging ich- wie so oft - in die Schmiede. D a traf ich den erst vor kurzem zusammengestellten Arbeitsausschuss an. Auch dieser stand vor einer ungewohnten Situation, ratlos und ohne Hilfe da. N u n fand auch ich eine Gelegenheit, mit meinem Rat zur Seite zu stehen. Ich versuchte nun die Männer aufzuklären, was ein Streik bedeute und auf was dabei alles zu achten sei, wenn die Sache gut und ordnungsgemäss verlaufen soll. D a s tat ich auch in der Stellmacherei und überall, wo ich sonst mit den Leuten zusammenkam. Aber überall machten die Arbeiter auf mich den Eindruck, dass sie vor einer ungewohnten Tatsache standen und sich dabei nicht wohlberührt fühlten. Das Unbehagen steigerte sich allseits noch deswegen, weil nach langem unbeständigem Wetter schöne sonnige Tage eingetreten waren. Der Gutsherr wünschte sein Getreide in der Scheune zu haben und der Landarbeiter hat denselben rationellen Sinn. Dazu ist er nicht gewohnt, in der Stube zu sitzen, wenn draussen die Sonne scheint. Die Hoffnung, daß jemand von dem Landarbeiter-Verband kommt und die Leute instruiert, erfüllte sich nicht. An einem Sonntag nachmittag lud ich die Arbeiter in die Schulstube, mit der Absicht, sie mehr aufzuklären, indem ich ihnen die Geschichte der Arbei139

terbewegung und die der Gewerkschaften eingehender vorzutragen versuchte. Das erste Mal sollte es gehen, da kamen 15 Mann, das zweite Mal aber nur noch zwei. Wo der Grund einer solchen Interessenlosigkeit zu finden war, das konnte ich mir schwer erklären. Meine Vortragsart trug ihrem Auffassungsvermögen sorgfältig Rechnung. Der Landarbeiter fühlt sich eben nicht in dem Maße als Proletarier, wie der Industriearbeiter, deshalb ist er auch nicht ganz solidarisch mit ihm und deshalb auch das schwache Interesse an der Geschichte der Arbeiterbewegung. Die Tage wurden immer schöner. Auf die Erntehände wartend, lag draussen auf dem Felde der gemähte Hafer. An der Tafel im Schloss wurde um seine Einfuhr beraten. Man beschloss schliesslich, dass er am andern Tage gebunden werden solle. Die Angestellten und Gäste waren bereit, dabei zu helfen. Dazu sollten noch einige Bauern aus einem Nachbardorf gemietet werden. Ich riet aber wiederum davon ab, da ich voraussetzte, dass sich die anderen Arbeiter darüber aufregen und sich zu einem Gegendruck veranlasst sehen werden. Mein Rat fand jedoch keine Zustimmung. Am Nachmittag des nächsten Tages zog man also hinaus, den Hafer zu binden und mit Gesang kehrte man des abends wieder heim. Am darauffolgenden Tage ging es schon um neun Uhr vormittags hinaus. Eine Stunde später sah ich eine Schar junger Männer in und um die Scheune herum suchen. Sie versorgten sich mit Holzknüppel und marschierten nach dem Haferfeld. Dort angelangt, jagten sie die Bauern mitsamt den Gästen vom Felde, nur der Besitzer mit seiner Frau sollten so viel Hafer binden dürfen, wie sie mochten. Das hatte noch zur Folge, dass die Arbeiter nun auch erwogen, ob sie nicht auch die Bestellung des Viehs einstellen sollten. Davon riet ich ihnen aber ab und hielt ihnen vor, dass ich mir von ihnen so etwas nicht denken könne, weil ich wüsste, wie sie Futtermittel stehlen, wo ihnen nur die Gelegenheit dazu geboten wird, um ihre Pferde aufzubessern. Sie wären doch auf das gute Aussehen ihrer Pferde stolz, und nun wollten sie sie einfach verhungern lassen? Das würde ich von ihnen gewiss nicht erwarten. Ich ermahnte sie also nochmals, sie mögen früh, mittags und abends das Vieh bestellen und nachher können sie Spazierengehen. Das geschah dann auch. Nachdem die beiden Verbände doch zu einer Einigung gelangten, wurde der Streik abgebrochen.

Der Neuaufbau des Volkslebens Im Herbst sollte noch eine, von der Sozialen Arbeitgemeinschaft einberufene Konferenz zum Thema „der Neuaufbau des Volkslebens" stattfinden, die dann auch vom 16.-19. September in Berlin zustandekam. Diesmal sollten die Teilnehmer mehr aus den Städten herangeholt werden. Da aber auch über das 140

terbewegung und die der Gewerkschaften eingehender vorzutragen versuchte. Das erste Mal sollte es gehen, da kamen 15 Mann, das zweite Mal aber nur noch zwei. Wo der Grund einer solchen Interessenlosigkeit zu finden war, das konnte ich mir schwer erklären. Meine Vortragsart trug ihrem Auffassungsvermögen sorgfältig Rechnung. Der Landarbeiter fühlt sich eben nicht in dem Maße als Proletarier, wie der Industriearbeiter, deshalb ist er auch nicht ganz solidarisch mit ihm und deshalb auch das schwache Interesse an der Geschichte der Arbeiterbewegung. Die Tage wurden immer schöner. Auf die Erntehände wartend, lag draussen auf dem Felde der gemähte Hafer. An der Tafel im Schloss wurde um seine Einfuhr beraten. Man beschloss schliesslich, dass er am andern Tage gebunden werden solle. Die Angestellten und Gäste waren bereit, dabei zu helfen. Dazu sollten noch einige Bauern aus einem Nachbardorf gemietet werden. Ich riet aber wiederum davon ab, da ich voraussetzte, dass sich die anderen Arbeiter darüber aufregen und sich zu einem Gegendruck veranlasst sehen werden. Mein Rat fand jedoch keine Zustimmung. Am Nachmittag des nächsten Tages zog man also hinaus, den Hafer zu binden und mit Gesang kehrte man des abends wieder heim. Am darauffolgenden Tage ging es schon um neun Uhr vormittags hinaus. Eine Stunde später sah ich eine Schar junger Männer in und um die Scheune herum suchen. Sie versorgten sich mit Holzknüppel und marschierten nach dem Haferfeld. Dort angelangt, jagten sie die Bauern mitsamt den Gästen vom Felde, nur der Besitzer mit seiner Frau sollten so viel Hafer binden dürfen, wie sie mochten. Das hatte noch zur Folge, dass die Arbeiter nun auch erwogen, ob sie nicht auch die Bestellung des Viehs einstellen sollten. Davon riet ich ihnen aber ab und hielt ihnen vor, dass ich mir von ihnen so etwas nicht denken könne, weil ich wüsste, wie sie Futtermittel stehlen, wo ihnen nur die Gelegenheit dazu geboten wird, um ihre Pferde aufzubessern. Sie wären doch auf das gute Aussehen ihrer Pferde stolz, und nun wollten sie sie einfach verhungern lassen? Das würde ich von ihnen gewiss nicht erwarten. Ich ermahnte sie also nochmals, sie mögen früh, mittags und abends das Vieh bestellen und nachher können sie Spazierengehen. Das geschah dann auch. Nachdem die beiden Verbände doch zu einer Einigung gelangten, wurde der Streik abgebrochen.

Der Neuaufbau des Volkslebens Im Herbst sollte noch eine, von der Sozialen Arbeitgemeinschaft einberufene Konferenz zum Thema „der Neuaufbau des Volkslebens" stattfinden, die dann auch vom 16.-19. September in Berlin zustandekam. Diesmal sollten die Teilnehmer mehr aus den Städten herangeholt werden. Da aber auch über das 140

Verhältnis zwischen Stadt und Land gesprochen werden sollte, so lud man auch einige Landwirte ein. Uber die Teilnehmerzahl und über die starke Beteiligung der Jugend von den verschiedensten Richtungen konnte man sich freuen. Das zeigte uns die Ratlosigkeit der sogenannten bürgerlichen Jugend, und wie gerade sie auf der Suche nach neuen Lebenswerten war. Wie sollte auch die deutsche Jugend in ihrer Lebensführung anders beschaffen sein, wenn das Bildungswesen dem inneren Wesen der Menschen, wie auch dem Wesen der Lebensorganisation fremd gegenüberstand. Besonders stark vertreten waren die aus der Wandervogelbewegung herausgewachsenen Freideutschen. Am ersten Tag sprach v. Moellendorf über das Thema: „Wie überwinden wir die gegenwärtige Erkrankung des Volkskörpers?" Er behandelte die Frage von seinem planwirtschaftlichen Standpunkte aus. Die Diskussion war matt, weil auch die akademische Jugend, wenn sie nicht gerade Nationalökonomie studierte, nichts davon versteht. Am zweiten Tag behandelte Gottfried v. Bismark die Frage: „Wie können Stadt und Land zum inneren Frieden wirken?" Diese Frage war der deutschen Jugend noch fremder als die erste. Etwas wärmer aber wurde die Tagung als Lie Herpel über den Punkt „Ist im Reich eine Gerechtigkeit möglich?" gesprochen hatte, wozu auch Professor Natorp sprach. Da fing die Konferenz an, sich zu einer Ideenausstellung zu entwickeln. Jede Gruppe glaubte nun, die gebotetene Gelegenheit nutzen zu müssen, um ihre Gedanken, Ahnungen und ihre Voraussicht, auf die sie eingefuchst war, zum Ausdruck zu bringen und - durchzusetzen. Das führte allerdings zu einem unerfreulichen Durcheinander! Auf diesem Felde glaubte sich mancher oder manche befähigt und berechtigt ackern zu dürfen. Die Wogen gingen aber dann noch höher, als Ferdinand Göbel über: „Der ethisch-soziale Gehalt der Jugendbewegung" geredet hatte. Das war ein Gebiet, auf dem sich ein jeder zu Hause fühlte. Aber alles, was dabei herauskam, war weiter nichts als ein Rätselraten, wie sich nun die Jugend auf die gegebenen geschichtlichen Tatsachen einstellen sollte, ohne mit den dahinter stehenden wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Machtfaktoren zu rechnen. Es wurde auch sehr viel über die Arbeiterjugend geredet. Aber alles, was man da zu hören bekam, war ein Beweis, wie wenig man die Arbeiterjugend in ihrem Wesen kannte, und wie schlecht man die Motive dieser Bewegung sah und sie deshalb überschätzte. Man war sich nicht einmal klar über das innerste Wesen der Bewegung. So behauptete z.B. Dr. Wilke, dass der junge Menschh, auch der jugendliche Arbeiter, ein Jugendbewegter sei. Er war auch dann noch nicht zu überzeugen, dass es an dem nicht sei, als ich auf die Tatsache hingewiesen hatte, dass von der gesamten Jugend kaum 20% irgendwo Mitglieder sind und ich ihn weiter fragte, wie nun die 80% der Jugendlichen zu nennen sei. 141

Im wahrsten Sinne und Worte, verstehe ich eine Bewegung anders. Der junge Mensch ist erst dann ein wahrhafter Bewegter, wenn er sich von innerster Kraft, von der Problematik des Lebens bewegt fühlt und ein Ideal besitzt, für dessen Verwirklichung er kämpft. Wieviele solche Naturen gibt es aber in der Jugendbewegung? Sind es mehr als fünf Prozent? Ich glaube nicht! Was an Anhängern darüber hinaus in der Jugendbewegung vorhanden ist, fühlt sich nicht von diesem innersten Wesen hingetrieben, es wird vielmehr von den äußeren Handlungen wie Wandern, Volkstanz usw. angezogen, es ist der Schwanz, wie der eines Kometen. So wird der Arbeiterjugend in Vorträgen über die Geschichte der Arbeiterjugendbewegung erzählt, dass der Selbstmord eines Lehrlings in Berlin der Beweggrund zu dieser Bewegung gewesen sei. Wenn nur das die Ursache gewesen sein sollte, dann stünde es schlimm mit ihr. Die Arbeiterjugendbewegung leuchtet ein Ideal voran, dessen Verkleidung die Gestaltung eines neuen und gerechten gesellschaftlichen Lebens bedeutet. Daran arbeitet eine Minorität bewusst und die anderen tun mit aus ihrem Glauben an dieses Ideal. Dies ist auch der dicke Strich zwischen der Arbeiter- und der bürgerlichen Jugend. Letztere kennt eben kein solches Ideal wie jene. Auch die Bestgesinnten unter den Jugendbewegten sind auf den von ihren Vätern erworbenen materiellen und geistigen Besitz bedacht. Sie sind gern bereit, Konzessionen zu machen, jenen von ihrem Uberschuss abzugeben, aber sich als Stand oder Klasse aufzugeben, daran hindert sie der Selbsterhaltungstrieb. Ihre Lage zwingt auch sie, wie ein Individuum nach dem Prinzip der Selbsterhaltung zu handeln! Es dürfte also das Aufgehen der einen Klasse in die andere nicht so einfach sein, wie es sich manche vorstellen. Schon vor wie auch nach der Konferenz suchten uns junge Leute auf, da sie von uns hörten. Sie wollten sehen und hören, wie es bei uns zugeht, was wohl demnächst geschehen soll und was in Zukunft zu tun sei. Manche waren gesinnte Idealisten, andere wieder trieb der Ehrgeiz dazu, etwas Neues zu schaffen. Sie sahen jedoch unser Tun und Handeln als eine Sisyphusarbeit an, zu klein, als dass damit dem Volke geholfen werden könnte. Von den edel gesinnten taten sich soundsoviele zusammen, pachteten oder kauften irgendwo ein Bauerngut und wollten kommunistisch arbeiten und leben, andere stillten ihren Ehrgeiz, indem sie sich irgendeiner vielversprechenden Organisation anschlossen. Es gab auch solche, die es nach der Art eines Rattenfängers von Hameln versuchten, das Volk glücklich und zufrieden zu machen, indem sie von Ort zu Ort zogen und unter Zupfgeigenbegleitung Gesänge und Tänze aufführten. Der Jugend gut gesinnte Männer und Frauen nahmen die Sache so ernst, dass sie darin ein Heilmittel für den kranken Volkskörper erblickten. 142

Nüchtern sehende Menschen sahen aber, dass dem Volke nur ernstes Nachdenken, Arbeiten und Wirtschaften helfen kann, und dass die phantasierende Wandersängerei nur aus der Unkenntnis der Lage, aus der Verlegenheit und Phantasie geboren worden ist. Wie leicht hätte es da der Sozialen Arbeitsgemeinschaft passieren können, von dieser oder jener Richtung betört zu werden, wenn sie durch ihre reichen Lebenserfahrungen hätte nicht widerstehen können. Manche von denen, die uns aufsuchten und uns ihre Ideen und Pläne entwickelten, wurden uns böse, als sie merkten, dass wir für ihre Sache zu wenig oder gar keine Begeisterung übrig hatten. Sie verliessen uns auf Nimmerwiedersehen, oder sie kamen wieder, nachdem sie nach Jahren alles an eigener Haut erfahren hatten. Die Konferenz wurde mit einer Theatervorstellung abgeschlossen. Ich hatte mit den ältesten Klubmitgliedern, die 18-22 Jahre alt waren, das Lustspiel von Kotzebue „Die deutschen Kleinstädter" einstudiert. Die Spieler nahmen die Sache sehr ernst, lernten und übten fleißig und gut, so dass es bei der Aufführung ohne Störungen ablief. Wir scheuten auch nicht die Kosten für die Kostüme und alles andere, was dazu nötig war. Das Spiel gelang so gut, dass die fremden Gäste glaubten, Berufsschauspieler vor sich zu haben, wie wir es aus ihrem Betragen heraus fühlten.

Gottfried von Bismarck Vom Landrat von Thadden erhielt ich eine Anfrage, ob ich bereit wäre, in einem grösseren Kreise über meine unter den Landarbeitern gemachten Erfahrungen zu reden. Man wollte wissen, wie sie über ihre Lage denken und gegen die Gutsbesitzer gestimmt sind. Ich sagte zu. Warum sollte ich das nicht? Da bot sich mir doch eine Gelegenheit, einer guten Sache willen auf beiden Seiten zu dienen. Auf dem Bahnhof in Stettin mussten wir von ein Uhr nachts bis fünf Uhr früh auf den Zug nach Kolberg warten. Wie in Berlin, so auch in dem Zuge und in dem Wartesaal des Bahnhofs Stettin machten alle Menschen noch den Eindruck, als lebten sie wie unter schwerem Luftdruck und litten deshalb unter der Atemnot. Auch ein Offizier - es mag ein Major gewesen sein - der mit seinen Verwandten anwesend war, machte denselben Eindruck. Nichts war mehr von dem Stolz und sicheren Auftreten zu merken, an das man früher gewohnt war. In Trieglaff erfuhr ich dann den Ort, in dem die Versammlung stattfinden sollte, und zwar beim Landrat von Zietzewitz in Gollnow. Am andern Tag nachmittags fuhren wir in einem Landauer dahin. In einem kleinen Saal des landrätlichen Wohnhauses fanden sich die Gutsbesitzer und deren Inspektoren zusammen. Unter ihnen fielen mir manche bekannte Gesichter auf. Auch 143

Nüchtern sehende Menschen sahen aber, dass dem Volke nur ernstes Nachdenken, Arbeiten und Wirtschaften helfen kann, und dass die phantasierende Wandersängerei nur aus der Unkenntnis der Lage, aus der Verlegenheit und Phantasie geboren worden ist. Wie leicht hätte es da der Sozialen Arbeitsgemeinschaft passieren können, von dieser oder jener Richtung betört zu werden, wenn sie durch ihre reichen Lebenserfahrungen hätte nicht widerstehen können. Manche von denen, die uns aufsuchten und uns ihre Ideen und Pläne entwickelten, wurden uns böse, als sie merkten, dass wir für ihre Sache zu wenig oder gar keine Begeisterung übrig hatten. Sie verliessen uns auf Nimmerwiedersehen, oder sie kamen wieder, nachdem sie nach Jahren alles an eigener Haut erfahren hatten. Die Konferenz wurde mit einer Theatervorstellung abgeschlossen. Ich hatte mit den ältesten Klubmitgliedern, die 18-22 Jahre alt waren, das Lustspiel von Kotzebue „Die deutschen Kleinstädter" einstudiert. Die Spieler nahmen die Sache sehr ernst, lernten und übten fleißig und gut, so dass es bei der Aufführung ohne Störungen ablief. Wir scheuten auch nicht die Kosten für die Kostüme und alles andere, was dazu nötig war. Das Spiel gelang so gut, dass die fremden Gäste glaubten, Berufsschauspieler vor sich zu haben, wie wir es aus ihrem Betragen heraus fühlten.

Gottfried von Bismarck Vom Landrat von Thadden erhielt ich eine Anfrage, ob ich bereit wäre, in einem grösseren Kreise über meine unter den Landarbeitern gemachten Erfahrungen zu reden. Man wollte wissen, wie sie über ihre Lage denken und gegen die Gutsbesitzer gestimmt sind. Ich sagte zu. Warum sollte ich das nicht? Da bot sich mir doch eine Gelegenheit, einer guten Sache willen auf beiden Seiten zu dienen. Auf dem Bahnhof in Stettin mussten wir von ein Uhr nachts bis fünf Uhr früh auf den Zug nach Kolberg warten. Wie in Berlin, so auch in dem Zuge und in dem Wartesaal des Bahnhofs Stettin machten alle Menschen noch den Eindruck, als lebten sie wie unter schwerem Luftdruck und litten deshalb unter der Atemnot. Auch ein Offizier - es mag ein Major gewesen sein - der mit seinen Verwandten anwesend war, machte denselben Eindruck. Nichts war mehr von dem Stolz und sicheren Auftreten zu merken, an das man früher gewohnt war. In Trieglaff erfuhr ich dann den Ort, in dem die Versammlung stattfinden sollte, und zwar beim Landrat von Zietzewitz in Gollnow. Am andern Tag nachmittags fuhren wir in einem Landauer dahin. In einem kleinen Saal des landrätlichen Wohnhauses fanden sich die Gutsbesitzer und deren Inspektoren zusammen. Unter ihnen fielen mir manche bekannte Gesichter auf. Auch 143

Graf Bismarck-Ost und Gottfried von Bismarck waren da. Ich schilderte ihnen die materielle, rechtliche und geistige Lebenslage ihrer Arbeiter, deren Gesinnung, so wie ich sie kannte, ohne Schwarz- oder Schönfärberei. Handelte es sich hier doch darum, in die Situation Klarheit zu schaffen. D a z u schien mir diese Gelegenheit wie gefunden. Zu einer Diskussion kam es nicht. N u r Fragen wurden über dies und jenes gestellt. N a c h Schluss der Versammlung fuhr ich dann mit Gottfried von Bismark und seinem Inspektor nach Jarchlin, wo ich auch übernachtete. Gottfried von Bismarck schien mir in seiner Art der gebildetste von den Junkern, die ich bisher kennenzulernen Gelegenheit hatte, zu sein. Er war sehr human, auch gegen seine Arbeiter, aber in mancher Hinsicht doch ein Illusionist. N o c h am selben Abend las er mir die Verfassung vor mit einer Erläuterung zu jedem Paragraphen. Er wollte davon überzeugt sein, dass die Staatsbürger sich im Leben und im Staat nur deshalb nicht zurechtfänden, weil sie die Staatsverfassung nicht kennen. Deshalb schrieb er sie mit Erläuterung und mit der Absicht nieder, um dafür zu sorgen, dass sie so in die Hand des Staatsbürgers kommen. Ich sah wohl ein, dass er gewissermassen recht hat, konnte mich aber nicht überzeugen lassen, dass das der Hauptgrund der wirtschaftlichen, politischen und sittlichen Verwirrung sei. Schliesslich hat er es doch versucht, das Manuskript mit seinen Gedankengängen in der „Kreuz-Zeitung" anzubringen. Die Herren Redakteure waren bereit, seinem Wunsche Rechnung zu tragen, wenn sie ihren Kommentar hinzufügen dürfen. D a s lehnte er ab, und so liegt wohl heute noch die Sache in seinem Schreibtischfach. Auffällig war mir, dass gerade er, der Humanist, gewillt war, für seine Arbeiter zu tun, was er nur konnte, mit seinen Arbeitern mehr Schwierigkeiten hatte, als alle anderen Gutsbesitzer, dass auch bei ihm die Arbeiter unzufrieden waren, auch streikten, ja dass sogar einer von seinen Arbeitern ihn ums Leben gebracht hätte. Dieser fand sich eines morgens in seinem Kontor ein. Beide redeten ohne Aufregung über die Gutsarbeit, gingen dann hinaus, auf der Treppe merkte Bismark etwas Hartes auf seinem Hinterkopf und hörte einen Knaks, drehte sich um und sah mit Entsetzen in der Hand des Arbeiters einen Revolver, der Schuss, den er gegen seinen Gutsherrn abfeuern wollte, hatte versagt. Er lief nach dem Gutshof zu, rutschte aber auf dem Eise aus und fiel zu Boden, worauf sich der Arbeiter sogleich auf ihn stürzte und ihm von neuem mit dem Revolver ununterbrochen auf den Kopf schlug, dass er dann wochenlang im Krankenhaus zubringen musste. Nach meinen Erkundigungen hat er gerade durch seinen falsch angewendeten Humanismus seine Leute gegen sich aufgebracht, was mancher mir vielleicht nicht gern glauben wird. Er hatte den von beiden Verbänden vereinbarten Barlohn zu zahlen und das Deputat zu gewähren, und nicht mehr. Tat er mehr, so hing dies von seinem 144

Willen ab. Nun kam einer und bat um einen Kasten Kartoffeln, ein anderer um eine andere Gabe. Gab er einem, so kamen auch die anderen, bekamen sie nichts, schon machte das böses Blut und Neid. Zwar waren die Arbeiter einander neidisch, doch in der Feindschaft gegen ihren Herrn waren sie aber stets solidarisch. Um also Frieden zu haben, riet ich ihm, damit aufzuhören. Sein Gemeinsinn ging sogar soweit, dass er sein Getreide nicht denjenigen verkaufte, die ihm einen höheren Preis dafür boten, sondern forderte von den anderen nur den üblichen Preis. Er und einige andere Gutsbesitzer lieferten ihre erjagten Hasen nach Berlin für 15 Mark das Stück, in der naiven Meinung, sie täten für billigeres Geld den Berlinern etwas Gutes. Ich musste über ihren Optimismus herzlich lachen, als ob das uns in Berlin etwas nützen könnte. Ich erklärte, dass nicht wir, sondern die Geschäftswelt den Vorteil hätte.

Graue Theorie Zu unserer bisherigen Arbeit sollte nun noch ein neuer Arbeitszweig angegliedert werden, und zwar ein Jugendpfleger-Kursus, der sich - wie geplant war zu einer ständigen Einrichtung, einer Schule zur Ausbildung von Jugendpflegern entwickeln sollte. Mit dieser Sache hatte ich eigentlich nichts zu tun. Ich brauchte weder zu dozieren noch das Schulzimmer anzuheizen und konnte deshalb kein Werturteil über die gehaltenen Vorlesungen abgeben, sondern meine Meinung nur soweit zum Ausdruck bringen, wie ich die einzelnen Dozenten und Schüler kennenzulernen Gelegenheit fand. Diese Gelegenheit bot sich mir dadurch, dass die Schüler verpflichtet waren, ausserhalb der Vorlesungen sich auch irgendwo in praktischer Arbeit zu betätigen, sei es in der Jugendpflege, Wohlfahrtspflege usw.. Auch die Dozenten standen meistens einer solchen Einrichtung vor. Und wenn manche von ihnen selbst noch nie viel von der praktischen Arbeit getan haben, so hatten sie zumindest so viel Bildung und Geschick, die einzelnen Teile der Ergebnisse der von Praktikern geleisteten Arbeit in ein Ganzes zusammenzufassen, etwas hinzuzudenken und daran die Schüler lernen zu lassen. Die Schüler kamen aus allen Ecken Deutschlands. Pastoren, frühere Militäranwärter usw. waren dabei. Die einen wollten umsatteln, die anderen versuchten sich zu retten wie es eben ging. Nicht der Trieb der inneren Berufung zu dem Jugendpflegerberuf trieb sie, sondern die Berufsnot, sei es, dass ihre erste Berufswahl eine falsche gewesen ist und sie sich darin nicht mehr wohlfühlten, oder dazu gezwungen waren, einen neuen Beruf zu suchen. Auch diese Schule, wenn sie sich entwickelt hätte, gehörte mit zu jenen Kategorien von Schulen, wo nur Beamte, Menschen mit sozialem Verhalten ausgebildet worden wären, ohne innere Berufung, ohne soziale Veranlagung und 145

Willen ab. Nun kam einer und bat um einen Kasten Kartoffeln, ein anderer um eine andere Gabe. Gab er einem, so kamen auch die anderen, bekamen sie nichts, schon machte das böses Blut und Neid. Zwar waren die Arbeiter einander neidisch, doch in der Feindschaft gegen ihren Herrn waren sie aber stets solidarisch. Um also Frieden zu haben, riet ich ihm, damit aufzuhören. Sein Gemeinsinn ging sogar soweit, dass er sein Getreide nicht denjenigen verkaufte, die ihm einen höheren Preis dafür boten, sondern forderte von den anderen nur den üblichen Preis. Er und einige andere Gutsbesitzer lieferten ihre erjagten Hasen nach Berlin für 15 Mark das Stück, in der naiven Meinung, sie täten für billigeres Geld den Berlinern etwas Gutes. Ich musste über ihren Optimismus herzlich lachen, als ob das uns in Berlin etwas nützen könnte. Ich erklärte, dass nicht wir, sondern die Geschäftswelt den Vorteil hätte.

Graue Theorie Zu unserer bisherigen Arbeit sollte nun noch ein neuer Arbeitszweig angegliedert werden, und zwar ein Jugendpfleger-Kursus, der sich - wie geplant war zu einer ständigen Einrichtung, einer Schule zur Ausbildung von Jugendpflegern entwickeln sollte. Mit dieser Sache hatte ich eigentlich nichts zu tun. Ich brauchte weder zu dozieren noch das Schulzimmer anzuheizen und konnte deshalb kein Werturteil über die gehaltenen Vorlesungen abgeben, sondern meine Meinung nur soweit zum Ausdruck bringen, wie ich die einzelnen Dozenten und Schüler kennenzulernen Gelegenheit fand. Diese Gelegenheit bot sich mir dadurch, dass die Schüler verpflichtet waren, ausserhalb der Vorlesungen sich auch irgendwo in praktischer Arbeit zu betätigen, sei es in der Jugendpflege, Wohlfahrtspflege usw.. Auch die Dozenten standen meistens einer solchen Einrichtung vor. Und wenn manche von ihnen selbst noch nie viel von der praktischen Arbeit getan haben, so hatten sie zumindest so viel Bildung und Geschick, die einzelnen Teile der Ergebnisse der von Praktikern geleisteten Arbeit in ein Ganzes zusammenzufassen, etwas hinzuzudenken und daran die Schüler lernen zu lassen. Die Schüler kamen aus allen Ecken Deutschlands. Pastoren, frühere Militäranwärter usw. waren dabei. Die einen wollten umsatteln, die anderen versuchten sich zu retten wie es eben ging. Nicht der Trieb der inneren Berufung zu dem Jugendpflegerberuf trieb sie, sondern die Berufsnot, sei es, dass ihre erste Berufswahl eine falsche gewesen ist und sie sich darin nicht mehr wohlfühlten, oder dazu gezwungen waren, einen neuen Beruf zu suchen. Auch diese Schule, wenn sie sich entwickelt hätte, gehörte mit zu jenen Kategorien von Schulen, wo nur Beamte, Menschen mit sozialem Verhalten ausgebildet worden wären, ohne innere Berufung, ohne soziale Veranlagung und 145

ohne Herzenswärme. Wie diese dann dem Volke dienen, das erfahren wir im Verkehr mit ihnen täglich. Auf diese Weise bekamen wir auch einige Praktikanten. Aber auch sie konnten sagen, als sie den Kursus beendet hatten: Was ich weiss, das brauche ich nicht, aber gerade das, was ich brauche, weiss ich nicht! Ihnen ging es wie einer jüngst verheirateten Mitarbeiterin. Sie hatte etwas von der Griesspeise von Pussing gehört und auch eine solche schon gegessen. So wollte auch sie sich in der Kochkunst versuchen, um ihrem Manne zu zeigen, was sie kann. Sie nahm dazu für zwei Personen drei Pfund Gries, was schon für eine halbwegs besetzte Hochzeitstafel gereicht hätte. Wenn der Mensch etwas noch nicht kann, so ist das noch nicht schlimm, er kann es ja noch lernen, wenn - er dazu befähigt ist. Schlimmer war bei allen damals das, dass der nun herrschende Zeitgeist die Köpfe mit ungeprüften Theorien inspirierte, sie so in Anspruch nahm, dass die praktische Arbeit darunter litt, denn junge Menschen sind immer geneigt, ein, aus Gedanken und Worten gebautes System als wahr hinzunehmen, ohne es erst im Feuer der Praxis auf seine Tauglichkeit selbst zu prüfen. Das führt oft zu gegensätzlichen Meinungen zwischen ihnen und dem Praktiker. Auch der Praktiker muss sich mit allen aufgetauchten Theorien über Erziehung und Volksbildung vertraut machen, sie mit seinen Erfahrungen vergleichen und in der praktischen Arbeit Versuche anstellen, wieviel sich davon bewährt und wieviel nicht. Auch er muss durch eigenes Nachdenken oder durch Anregungen von aussen seine Grundsätze und Methoden ändern. Pocht er nur auf seine eigenen Erfahrungen, dann sieht er seinen Beruf nicht von hohem Werte an. Ich fasse das Theoretisieren so auf, dass das Denken der Praxis vorausgehen muss, indem man die Fehler in der Arbeit erfährt und nachdenkt, wie sie zu beheben wären. Wenn aber manche von den jungen Mitarbeitern schon am dritten Tage alles Bestehende in Grund und Boden kritisieren, also noch bevor sie es gekannt haben, dann ist es eben Leichtsinn, der daraus spricht. Man kann auch nicht sagen, dass das, was gestern noch gegolten hat, auch heute noch gilt, oder dass dieselbe Methode bei allen Menschen anwendbar sei. In der Erziehung und Volksbildung gibt es eben keine Schablonen. Wie oft schon wurde ich gefragt, wie ich das mache, dass ich Erfolg habe. Ich bin nicht imstande, jemandem zu raten, dass er es so oder so machen solle. Da muss man eben selbst sehen, wie man es beginnt. Aber ausser alldem sind Kenntnisse über die Umgebung der Menschen nötig, an denen man zu arbeiten hat. So hatte ich z.B. wieder vor, einen Familienabend zu veranstalten, wie ich ihn vor und nach Weihnachten zu arrangieren pflegte. Diesmal wollte ich mich ein wenig entlasten, indem ich vier von den Klubleitern je ein Märchenspiel von einem Akt zuwies, die sie mit ihren Klubjungens einüben sollten. Zum 146

Schluss sollte dann alles in der Generalprobe zusammengefasst werden. Unter den Klubleitern befand sich auch ein junger Lehrer. Der hatte sich von irgendwoher, den Glauben einprägen lassen, dass die Jungens nicht bevormundet, nicht vergewaltigt werden dürften, sondern etwas aus sich heraus unternehmen sollten. So liess er also die Jungens proben und proben, schaute ihnen zu oder sah in sein Rollenheft, ohne zu verbessern oder zu zeigen, was von den Jungens falsch gemacht wurde. So hatten die Kinder freien Lauf, allerhand Unsinn, der Berliner nennt es Quatsch, dabei zu treiben. Das ging solange, bis die Jungens selbst einsahen, dass dieser Quatsch nicht zum Ziele führen kann. Ich freute mich doch etwas, als nach einer solchen Probe einer von den Jungen mich aufsuchte, es war gerade der, der bei mir schon paarmal gespielt hatte und immer der erste war, einen Quatsch anzustiften, aus diesem Grunde manchmal zurechtgerückt werden musste, dieser kam, sich bei mir zu beschweren, indem er meinte, dass aus der Sache nichts würde, wenn ich es nicht in die Hände nähme. Der Herr sässe da, schaue in sein Buch, sage ihnen nicht, ob sie es falsch oder richtig machen. So ist es, dachte ich, du graue Theorie! Die Jungen wussten, dass sie es aus eigener Kraft nicht schaffen können und auch, dass sie dazu nicht diszipliniert sind. Was kümmerten den Herrn solche Erkenntnisse. Bei ihm handelte es sich um die Autorität der Theorie. In derselben Weise verfuhr man auch in der Klubarbeit. Das wirkte sich wieder so aus, dass die losen Jungen, die sich nur amüsieren wollten, die Oberhand bekamen, die ernsteren aber fernblieben. Nach dem Grund ihres Wegbleibens zu forschen und diese Jungen zu besuchen, das hielten sie nicht für nötig. Blieben vier Klubmitglieder weg, so hatte man ja immer noch neun oder zehn übrig und diese Zahl genügte auch. So fiel die Klubmitgliederzahl immer tiefer. Das war aber noch nicht das einzige Übel. Das andere und noch schlimmere war das, dass manchen von den Mitarbeitern nicht zum Bewusstsein kam, dass sie zu eigenem Nachteil handelten, dass nicht die Klubleitung und das Kennenlernen der Jungen die Hauptsache war, sondern, dass sie gekommen sind, durch diese Arbeit einen Einblick in das Arbeiterleben überhaupt zu gewinnen. Ferner litten und leiden wir heute noch unter dem ständigen Wechsel der Mitarbeiter und deren langen Schulferien. Das Studium ist nach dem Kriege teurer geworden. Der Student muss mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln rechnen und darf kein Semester versäumen. Wer sein Studium abgeschlossen hat, muss sehen, eine Anstellung zu bekommen. Auch diese können nicht, wie es früher manche taten, sich irgendwo ein Jahr lang auf eigene Kosten für soziale Arbeit verpflichten. Ein oder zwei Semester in einem Klub zu leben, schafft keine innere Verbindung, reicht nicht aus, wie es wünschenswert ist, so viele soziale Kenntnisse zu sammeln. Nach einem jeden Wechsel von 147

Mitarbeitern und nach langer Ferienpause stellt sich ein Verlust an Klubjungen ein. Unter den Mitarbeitern gab es auch nur geistig eingestellte, philosophisch, theologisch oder naturwissenschaftlich. Sie wünschten mehr Problemwälzung als das Allgemeinbildende zu betreiben. Die Klubarbeit, die Arbeit von unten an, war ihnen zu profan, so was wie Holzhacken. Sich mit so etwas zu betätigen, ging gegen ihren ästhetischen Sinn. Deshalb fahndeten sie nach jenen Menschen, die das Glück ihrer Wünsche sein könnten. Dazu waren die ältesten Jugendlichen, die nun schon 18-22 Jahre zählten, gut genug. Sie waren zwar keine besondere geistige Elite, aber gut zum Steckenpferd reiten. Sie sind es aber nur durch die jahrelange Kleinarbeit geworden. Diese jungen Menschenkinder gefielen nun allen und man drängte sich an sie heran, um sie mit seiner Art Bildung glücklicher zu machen. Die Burschen waren auch gutmütig genug, um bald dieser oder jener Einladung zum Vortrag oder Kursus zu folgen. Die Zahl der Einladungen überschritt oft die der freien Abende, weil ein jeder für sich planlos darauf zuarbeitete, so dass die Burschen und Mädchen häufig wegen Überlastung klagten, was mich gar nicht wunderte; denn das, was ihnen da geboten wurde, vermochten genial veranlagte Menschen kaum zu verdauen. Davon konnten nur Brocken hängenbleiben, die wie ein Nichts zusammenfallen, die nicht Bildung sondern Einbildung schaffen. Dieser U n sinn wurde von manchen soweit getrieben, dass z.B. ein Verkäufer eines Konfektonsgeschäftes die Aufgabe zugeteilt bekam, einen Vortrag über die deutsche Forstwirtschaft auszuarbeiten. Gegen solche Volksbildungsarbeit konnte ich protestieren soviel ich wollte und mich bis zu Ohnmachtsanfällen laut empören, das half alles nichts. Der Vortrag oder ein Kursus war eben ihr Glück und die anderen - die Versuchskaninchen. Das alles geschah unter Carl Mennickes Oberleitung. Ja er selbst machte es nicht anders als die anderen. Welcher Mitarbeiter könnte sich heute darüber beschweren, daß er nicht genügend Freiheit bei uns genossen hätte! Manchen mag es wohl heute noch als ein Rätsel scheinen wie auch mir, wie eine solche unbegrenzte Freiheit von Siegmund-Schultze verstanden werden konnte.

Weltfremde Theologen Wie ich diese Arbeit geleistet habe und wie ich meinem Grundsatz gerecht zu werden trachtete, darüber schrieb ich im Jahre 1921 in den „Akademisch-Sozialen Monatsheften" folgenden Aufsatz: Nach dem Kriege schössen auch bei uns in Berlin aus dem gottlos scheinenden Grosstadtleben eine religiöse Sekte nach der anderen wie Pilze aus der 148

Mitarbeitern und nach langer Ferienpause stellt sich ein Verlust an Klubjungen ein. Unter den Mitarbeitern gab es auch nur geistig eingestellte, philosophisch, theologisch oder naturwissenschaftlich. Sie wünschten mehr Problemwälzung als das Allgemeinbildende zu betreiben. Die Klubarbeit, die Arbeit von unten an, war ihnen zu profan, so was wie Holzhacken. Sich mit so etwas zu betätigen, ging gegen ihren ästhetischen Sinn. Deshalb fahndeten sie nach jenen Menschen, die das Glück ihrer Wünsche sein könnten. Dazu waren die ältesten Jugendlichen, die nun schon 18-22 Jahre zählten, gut genug. Sie waren zwar keine besondere geistige Elite, aber gut zum Steckenpferd reiten. Sie sind es aber nur durch die jahrelange Kleinarbeit geworden. Diese jungen Menschenkinder gefielen nun allen und man drängte sich an sie heran, um sie mit seiner Art Bildung glücklicher zu machen. Die Burschen waren auch gutmütig genug, um bald dieser oder jener Einladung zum Vortrag oder Kursus zu folgen. Die Zahl der Einladungen überschritt oft die der freien Abende, weil ein jeder für sich planlos darauf zuarbeitete, so dass die Burschen und Mädchen häufig wegen Überlastung klagten, was mich gar nicht wunderte; denn das, was ihnen da geboten wurde, vermochten genial veranlagte Menschen kaum zu verdauen. Davon konnten nur Brocken hängenbleiben, die wie ein Nichts zusammenfallen, die nicht Bildung sondern Einbildung schaffen. Dieser U n sinn wurde von manchen soweit getrieben, dass z.B. ein Verkäufer eines Konfektonsgeschäftes die Aufgabe zugeteilt bekam, einen Vortrag über die deutsche Forstwirtschaft auszuarbeiten. Gegen solche Volksbildungsarbeit konnte ich protestieren soviel ich wollte und mich bis zu Ohnmachtsanfällen laut empören, das half alles nichts. Der Vortrag oder ein Kursus war eben ihr Glück und die anderen - die Versuchskaninchen. Das alles geschah unter Carl Mennickes Oberleitung. Ja er selbst machte es nicht anders als die anderen. Welcher Mitarbeiter könnte sich heute darüber beschweren, daß er nicht genügend Freiheit bei uns genossen hätte! Manchen mag es wohl heute noch als ein Rätsel scheinen wie auch mir, wie eine solche unbegrenzte Freiheit von Siegmund-Schultze verstanden werden konnte.

Weltfremde Theologen Wie ich diese Arbeit geleistet habe und wie ich meinem Grundsatz gerecht zu werden trachtete, darüber schrieb ich im Jahre 1921 in den „Akademisch-Sozialen Monatsheften" folgenden Aufsatz: Nach dem Kriege schössen auch bei uns in Berlin aus dem gottlos scheinenden Grosstadtleben eine religiöse Sekte nach der anderen wie Pilze aus der 148

Erde. Die Ursachen dieser Erscheinung sind zahlreich und fast unergründlich. Das Gemüt der mystisch Veranlagten findet in der heutigen Kirche nicht genügende Befriedigung und sucht Ersatz. Die nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis Strebenden, gehen zu den Freidenkern. Diejenigen, die weder das erstere noch das letztere sind, dem Leben gleichgültig gegenüberstehen, stehen dem kirchlichen wie auch dem religiösen Leben fern, weil sie weder Mut noch Schaden davon erwarten. Vielen Menschen genügt auch schon das Beispiel im gesellschaftlichen Leben als Grund. Sie sehen, dass gerade diese Kreise, die am eifrigsten für die Erhaltung der Religion reden, deren Gebote fortwährend verletzen, ja dass es sogar die Geistlichen selbst tun. So ist es eben auch hier so, dass das, was sich im praktischen Leben nicht bewährt, als wertlos beiseite gelegt wird. Fabrikmenschen sehen jahraus jahrein, wie alles durch ihre Hände und unter Mitwirkung erfinderischen Geistes entsteht, gewöhnen sich leicht ab, an höhere Geistesmächte zu glauben. Und die, die mit den politischen und wirtschaftlichen Mächten um ihre Existenz kämpfen, sehen wie die Kirche nichts dazu sagt, oder nichts zu sagen wagt, was sollen sie mit dem, was sie ihnen sonst zu bieten hat? Der Trost mit Himmelreich im Jenseits zieht auch nicht mehr. Demgegenüber steht das Beispiel, wie man schon hier auf Erden den Himmel baut. Das Reich der sozialen Gerechtigkeit wird schon jetzt gefordert, nicht erst nach dem Tode, am „Jüngsten Tag". Diese neue Welle des Sektentums brachte sogar aus der Schweiz einen Freund in die Soziale Arbeitsgemeinschaft, der ihr eifriger Mitarbeiter wurde und der jetzt wieder in der Schweiz lebend, zu unseren besten Freunden gezählt zu werden verdient. Dieser Mann kam zu uns mit ganz anderer Absicht, als was er dann tat. Er, der Kaufmann, fühlte sich gedrängt nach Berlin zu kommen und im Namen Jesu zu missionieren. Er setzte sich mit einigen Arbeitern zusammen und las ihnen aus der Bibel vor, um sich dann mit ihnen darüber zu unterhalten. Nach einer jeden solchen Vorlesung und Besprechung wurde die Zahl der Teilnehmer immer weniger, bis schliesslich nur noch einer übrig blieb, mit dem es sich allein nicht mehr lohnte. Seine Not brachte ihn auch zu mir. Da erfuhr ich bald, dass auch ich so etwas ähnliches vorhabe, aber in einer anderen Form und mit etwas anderem Inhalt, dass ich sehen wollte, ob die Meinungen, dass die Arbeiter aus der Religion entwurzelt seien, richtig sind. Ich hatte mir vorgenommen, die Sache nach Art des amerikanischen Religionsphilosophen Ralph Waldo Trine zu beginnen. Der lehnt zwar die Vorstellung vom persönlichen Gott ab und sieht in Jesu nur einen sittlich hervorragenden Menschen, aber nicht den von Gott gesandten Sohn mit einem Erlösungsplan. Gott ist so etwas, das grösser sei als die Welt, ein Wesen, das hinter allem steht und in allem wirkt und die Menschen mitwirken. Deshalb 149

der Spruch von Jesu: „Gott wirkt in mir und ich wirke mit." Entscheidend sei nicht das, was dieses Wesen nennt, ob Gott, Leben oder Liebe, das sei ein misslicher Streit über Worte. Den Hauptwert legt Trine darauf, wie sich die Religiosität der Menschen im sozialen Leben auswirkt, ob herrschsüchtig und egoistisch, oder liebevoll und gerecht. So eine religiöse Lebens- und Weltanschauung schien mir doch die zu sein, die der Menschenverstand, auch der der Arbeiter zu fassen und anzunehmen vermag. Mein Freund Hess Einladungskarten drucken mit einem kurzen Text, aus dem der Sinn zu ersehen war, wie wir zu wirken gedachten. Wir luden unsere Freunde und Bekannten auf Sonntagvormittag 10 Uhr ein. In der Mehrzahl waren es Arbeiter, wovon welche sogar aus der Kirche ausgeschieden waren. Die Tische wurden gedeckt und mit Blumen geschmückt, doch vermieden wir den Schein einer andächtigen Erbauung. Der Verlauf der Zusammenkunft sollte nach folgendem Plan geschehen: eine halbe Stunde Ansprache über irgend eine Frage, ζ. B. Was ist Gott? Was ist wahres Christentum? usw. Dazu konnte sich ein jeder der Anwesenden ohne Worterteilung äussern, wenn er sich dazu gedrungen fühlte. Zum Schluss wurde ein Gedicht oder ein dem Thema angepasster Abschnitt aus einem Buche vorgelesen. Die Sitzungen verliefen stets klärend und ohne persönliche Reibungen. Nur wenn ich bei der Diskussion die Zügel etwas locker liess, gerieten die Leute sofort in Aberglauben, von dem sie dann schwer abgelenkt werden konnten. Im Verlauf dieser Veranstaltungen wuchs in uns immer mehr die Uberzeugung, dass diese Art religiösen Lebens doch die richtigere wäre, als die bei der das Ohr abstumpfe „Es steht geschrieben", oder „Er sprach", wie es in der Kirche gepredigt wird. Die Sache ist nach zwei Jahren eingegangen. Nicht etwa aus dem Grunde, dass uns der Atem ausgegangen wäre, oder wegen Mangel an Teilnehmern. Die Zusammenkunft erfordert immerhin zwei Tage Vorbereitung, und ich hatte andere Arbeit genug. Die Hoffnung, dass sich von den anwesenden Theologen einige auf diese Form und Inhalt einfuchsen lassen, hat mich auch getrügt. Wenn ich einen damit betraute, den Sonntagvormittag zu leiten, da dauerte es nicht lange, so schwamm er in dem Wasser, in dem er es eben von der hochlöblichen Schultheologie gelernt hatte. Andere Gedankengänge zu begreifen, die wahre psychologische Lage jener zu verstehen, denen sie dienen sollen, dazu sind die allermeisten, erst von der Schule kommenden Theologen, unfähig. Man findet in keinem anderen Fach der Intellektuellen so viele weltfremde Menschen wie unter den Theologen. Erst dann, wenn sie in das Leben gestossen worden sind, erst dann müssen sie sehen, wie sie darin zurecht kommen. Jeder tut es dann auch nur nach seiner Eigenart, so wie sein Verstand es begreift. Von da aus gesehen macht es uns schliesslich begreiflich, dass die Kir150

che von dem geschichtlichen Geschehen abseits steht. Sie versteht nicht oder wenig davon. Zu den Dingen, die man nicht versteht, pflegt man eben zu schweigen.

Bilder und Gedanken vom Lande Wieder rückte die Zeit heran, wo es hiess, mit einem Knabenklub in die Ferien zu gehen. Fünf Wochen vorher erzählte ich in einer Klubsitzung, dass ich ein Buch von einem Amerikaner gelesen habe, der berichtete, wie er mit einer Schar Jungen draussen auf dem Lande ein Ferienlager einrichtete, dass er Jugendrepublik nannte. Die Jungen verwalteten sich selbst, wählten aus ihrer Mitte den Präsidenten, Richter und sonstige Funktionäre. „Das machen wir auch!" riefen die Klubjungen schlagfertig. Sie sollten also draussen auch dieselben Funktionäre wählen, aber jetzt schon eine Hausordnung ausarbeiten, die die Rechte und Pflichten aller bestimmt. Sie machten sich gleich an die Arbeit. Ich sass dabei und hörte zu. Sie nehmen die Sache ernst, sogar furchtbar ernst. Die Strafbestimmungen drohten so dragonisch ausfallen, dass sogar bald die Todesstrafe in die Bestimmungen mit aufgenommen worden wäre, wenn ich nicht gebremst hätte. Wir durften wieder nach demselben Ort kommen, wo wir im vorigen Jahr waren. Und zwar wurden wir diesmal in dem dort sogenannten Rettungshaus untergebracht. Das Haus war eine Fürsorgeerziehungsanstalt, eine Stiftung von dem Grossvater des jetzigen Grundbesitzers, aus dem Jahre 1858. Zur Zeit waren da 42 Jungen von 6 - 1 4 Jahren, Vollwaisen, oder solche, deren Eltern das Erziehungsrecht entzogen worden ist, untergebracht. Der Leiter soll früher Bäcker gewesen sein, hatte sich aber doch gut in diese Sache eingearbeitet. Ihm standen zwei Junglehrer zur Seite. Da die Anstalt über 60 Mann fasste, so hatten auch wir Raum genug. Am anderen Morgen nach unserer Ankunft, gleich nach dem Frühstück, nahmen wir alle 20 Mann um den Tisch herum Platz, und mein Helfer Felix Waschkuhn las die von den Jungen selbst verfasste Hausordnung vor, um sie noch einmal allen zum Bewusstsein zu bringen. Dann wurden die Funktionäre gewählt. Und nun Hessen wir die Sache einfach laufen. Bei der Einteilung der Jungen zum Essenholen und zur sonstigen Hausordnung mussten wir anfangs noch behilflich sein. Aber schon am dritten Tage beging gerade einer der Gewählten eine Straftat, indem er in einen benachbarten Garten stieg und Obst klaute. Als ich von der Sache Kenntnis erhielt, Hess ich mir die ganzen Funktionäre kommen, teilte ihnen den Sachverhalt mit und fragte sie, was ich nun machen soll, wenn ausgerechnet gerade einer von den Richtern zu richten sei. Da fiel mir der Präsident ins Wort und sagte mit Nachdruck: „Herr Holek, 151

che von dem geschichtlichen Geschehen abseits steht. Sie versteht nicht oder wenig davon. Zu den Dingen, die man nicht versteht, pflegt man eben zu schweigen.

Bilder und Gedanken vom Lande Wieder rückte die Zeit heran, wo es hiess, mit einem Knabenklub in die Ferien zu gehen. Fünf Wochen vorher erzählte ich in einer Klubsitzung, dass ich ein Buch von einem Amerikaner gelesen habe, der berichtete, wie er mit einer Schar Jungen draussen auf dem Lande ein Ferienlager einrichtete, dass er Jugendrepublik nannte. Die Jungen verwalteten sich selbst, wählten aus ihrer Mitte den Präsidenten, Richter und sonstige Funktionäre. „Das machen wir auch!" riefen die Klubjungen schlagfertig. Sie sollten also draussen auch dieselben Funktionäre wählen, aber jetzt schon eine Hausordnung ausarbeiten, die die Rechte und Pflichten aller bestimmt. Sie machten sich gleich an die Arbeit. Ich sass dabei und hörte zu. Sie nehmen die Sache ernst, sogar furchtbar ernst. Die Strafbestimmungen drohten so dragonisch ausfallen, dass sogar bald die Todesstrafe in die Bestimmungen mit aufgenommen worden wäre, wenn ich nicht gebremst hätte. Wir durften wieder nach demselben Ort kommen, wo wir im vorigen Jahr waren. Und zwar wurden wir diesmal in dem dort sogenannten Rettungshaus untergebracht. Das Haus war eine Fürsorgeerziehungsanstalt, eine Stiftung von dem Grossvater des jetzigen Grundbesitzers, aus dem Jahre 1858. Zur Zeit waren da 42 Jungen von 6 - 1 4 Jahren, Vollwaisen, oder solche, deren Eltern das Erziehungsrecht entzogen worden ist, untergebracht. Der Leiter soll früher Bäcker gewesen sein, hatte sich aber doch gut in diese Sache eingearbeitet. Ihm standen zwei Junglehrer zur Seite. Da die Anstalt über 60 Mann fasste, so hatten auch wir Raum genug. Am anderen Morgen nach unserer Ankunft, gleich nach dem Frühstück, nahmen wir alle 20 Mann um den Tisch herum Platz, und mein Helfer Felix Waschkuhn las die von den Jungen selbst verfasste Hausordnung vor, um sie noch einmal allen zum Bewusstsein zu bringen. Dann wurden die Funktionäre gewählt. Und nun Hessen wir die Sache einfach laufen. Bei der Einteilung der Jungen zum Essenholen und zur sonstigen Hausordnung mussten wir anfangs noch behilflich sein. Aber schon am dritten Tage beging gerade einer der Gewählten eine Straftat, indem er in einen benachbarten Garten stieg und Obst klaute. Als ich von der Sache Kenntnis erhielt, Hess ich mir die ganzen Funktionäre kommen, teilte ihnen den Sachverhalt mit und fragte sie, was ich nun machen soll, wenn ausgerechnet gerade einer von den Richtern zu richten sei. Da fiel mir der Präsident ins Wort und sagte mit Nachdruck: „Herr Holek, 151

lassen Sie den Q u a t s c h sein! Wir brauchen keine Funktionäre. Machen sie das so, wie sie es immer gemacht haben!. Sie befehlen und es wird erledigt." Ich habe von vornherein bei diesem Versuch nichts erwartet, da ich doch meine Jungen genügend kannte. Aber wie furchtbar enttäuscht hätte wohl ein Erziehungstheoretiker dagestanden! Mich brachte dieses Misslingen nicht von der Uberzeugung ab, dass es doch ginge, wenn die jungen eine lange Zeit draussen sein müssten. So wollten sie aber in den fünf Wochen ihrer Ferienzeit frei sein. So muss man sie also verstehen. Unser Leben verlief mit wenig Ausnahmen wie vorher. Ferien und Wanderungen sind die besten Gelegenheiten, die Eigenart jedes einzelnen Jungen und auch den Geist seiner Familie kennen zu lernen. Ausser essen, trinken, ein wenig arbeiten und dem Spiel muss auch der Witz das Leben würzen. „Jungens", sagte ich als ich gefragt wurde, was heute getan werden soll, „heute wird das Kirchdach abgefegt und gewaschen. Geht zum Hofmeister, lasst euch Besen, Scheuerlappen und einen Eimer geben, und einer holt vom Lehrer den Schlüssel von der Kirche!" Gespannt sah ich zu, ob die sonst so witzigen Berliner Jungen auf diesen Leim gehen werden. Wohl sahen sie mich zweifelnd an, aber sie gingen doch. N u n musste ich nach der Ausrede, wie ich es drehen soll, wenn sie zurückkommen, suchen. „Heute ist das Wetter nicht gerade günstig", redete ich mich aus, als sie alles gebracht hatten. Im Laufe des Nachmittags erfuhren sie, wie sie sich haben anführen lassen. Aber keiner wurde mir böse. Es war etwas, worüber wir einige Tage zu lachen hatten. Ein Gutsarbeiter erzählte uns, wie in einem Schnitterhause die Gespenster zwischen 12 und 1 Uhr nachts ihr Unwesen treiben. Er habe dort selbst gewohnt und es nicht mehr darin aushalten können. E s sei so, als rüttle jemand an der Türklinke. Die Jungen lachten über dessen Erzählung und meinten, das sei Kohl, an den glauben kann, wer will. Ich schlug ihnen vor, eine Nacht dort zu verbringen, um sich selbst zu überzeugen, was an der Geschichte wahr sei. A m Mittagstisch waren sie alle Mann dafür. Beim Vesper wurden sie kleinlauter, als ich fragte, was alles mitzunehmen sei. Als nach dem Abendessen die Vorbereitungen getroffen werden sollten, war der Mut schon ganz gesunken, so dass wir zu Hause blieben. Ein Schweizer Student kam mit einem Knaben nach. Er wollte auch etwas von diesem Leben und Treiben kennenlernen. Als die Jungen sich eines nachmittags die Hände wuschen, fuhr er mit seinen Händen in eine von den Waschschüsseln und spritzte die Jungen ins Gesicht. Sie taten natürlicherweise dasselbe. Das vertrug seine akademische Ehre nicht und er gab einem eine 152

Ohrfeige. Die anderen nahmen sogleich für ihren Kameraden Partei, schimpften und meinten, er habe gar nicht zu schlagen usw. Ich sah und hörte von der Ferne zu, ohne mich dreinzumischen. Erst als die Jungen fort waren, nahm ich mir den künftigen Pfarrer vor und machte ihm klar, dass, wenn er eine Distanz wahren will, so etwas nicht tun darf. Die hätten Recht! Hinter dem Dorf befand sich ein Stück Feld voll von Brennesseln und dicht bewachsen wie ein Roggenfeld. Wer nun barfuss lief, bekam 50 Pfennig. Gewagt haben es nur zwei. Der Spass kostete mich eben eine Mark. Beim Sammeln von Pilzen fand ich unter einem solchen eine Fünfmarkschein, den ich natürlich vorher hingeworfen hatte. „Soeben einen Fünfmarkschein gefunden!" rief ich. Alles stürmte herbei und bewunderte mein Glück. Natürlich wollten es nicht alle recht glauben. Sie liefen aber doch wieder auseinander und suchten wie Spürhunde. Das sind ein paar Stichproben, wie man das Leben würzen kann. Im nächsten Jahr hatten wir noch einmal und zum letzten Mal das Glück in diesem Ort zu sein. Dann fing es an, der Landwirtschaft schlechter zu gehen. Die schlimmste Lebensmittelnot war vorüber. Der nach dem Krieg erwachte Versöhnungsgeist und -wille erlahmte, der Glaube an die Versöhnung zwischen Land und Stadt sank. Kein Gutsbesitzer war mehr bereit uns aufzunehmen. Allein durfte ich kommen, was ich auch öfter tat. Es wurde mir auch versichert, dass ich gern gesehen werde. Aber den Jungen ist dadurch die Freude genommen worden, einige Wochen draussen leben zu dürfen und weiterhin das Landleben kennenzulernen. Es war erhebend zu sehen, wie uns die Einwohner Jung und Alt willkommend empfingen. Denn wir brachten durch unsere Theaterspiele und sonstige Unterhaltungen Leben in den Ort. In dem Hause des Gutsbesitzers fühlte sich jeder wohl. Er war so als atmeten sogar die Wände häuslichen Frieden. Nie fühlte man sich da von schlechten oder verletzenden Worten berührt. Beide Eheleute trugen nicht nur die Freude, sondern auch das Leid geduldig miteinander. Sie verloren Vieh. Eines Tages wurden die Pferde scheu, brannten durch, wobei ihr zehnjähriges Mädchen ums Leben kam, der Herr und sein sechsjähriger Sohn schwebten in der gleichen Gefahr; eine Scheune brannte nieder, eine andere stürzte vor Altersschwäche zusammen, aber nie war entweder von dem einen oder dem anderen ein Vorwurf oder Klagewort zu hören. Auch konnte man diesen Menschen nicht gram sein, wenn bei verschiedenen Anlässen die schwarz-weiss-rote Fahne wehte, oder wenn ihr Herz der Stahlhelmorganisation zugeneigt war, auch wenn man selbst anderer politischer Überzeugung war. Der Gutsbesitzer glaubte an die Selbsthilfe der Landwirtschaft durch den genossenschaftlichen Zusammenschluss der Landwirte. Dadurch sollte der Zwischenhandel ausgeschaltet und der Gewinn der Landwirtschaft zugeführt 153

werden. Er war Mitbegründer und Leiter der Viehverwertungs-Genossenschaft, die das Vieh in den grosstädtischen Schlachthäusern selbst verkaufte. Die Verwirklichung dieses Gedankens hatte seine Schwierigkeiten. Manche von den Gutsbesitzern waren dazu zu bequem. Sie verkauften das Vieh lieber dem Juden. Der kam, holte es ab und legte das Geld sogleich auf den Tisch. Bei der Genossenschaft aber musste man auf das Geld warten, bis das Vieh in Berlin oder sonst irgendwo verkauft worden ist. Das hindert diese Gutsbesitzer nicht, nachher auf die Juden zu schimpfen und Antisemiten zu sein. Die Bauern machen es ebenso und hegen ausserdem noch grosses Misstrauen gegen die Genossenschaft zum Teil deshalb, weil sie nicht genug gebildet sind, um deren Vorteil einzusehen und zum anderen Teil deshalb, weil sie schon zu oft durch vorsichtige oder auch unehrliche Leitung Schaden erlitten haben. Finden sich aber doch noch Bauern, die sich der Genossenschaft anschliessen, so reisen die Viehhändler von Ort zu Ort, machen die Genossenschaft schlecht und trachten den Bauern das Vertrauen zu nehmen. Geht das nicht so, dann zahlt man dunklen Elementen Bier und Schnaps und diese schlagen dann den Genossenschaftlern die Fenster ein oder verprügeln sie, wo die Gelegenheit sich bietet. Der Gutsbesitzer Hess auch später nicht den Gedanken fahren, seine Arbeiter an dem Reingewinn teilhaben zu lassen, um vielleicht auf diese Weise die Produktivität des Gutes zu steigern. Darüber wie auch über andere Verhältnisse in der Landwirtschaft haben wir uns öfter miteinander unterhalten. So erfuhr ich auch, was für ein Verhältnis mancher von den anderen Gutsbesitzern zu seinen Arbeitern hat. Einer war gross und stark, robust und grob. Seine Hände sollen so gross sein wie unsere beiden zusammen. Er schimpft und schlägt sich mit seinen Leuten, wird auch wieder beschimpft, aber selten geht einer von ihm fort. Ein anderer wieder ist fein und gelehrt, kommt aber weder an die Arbeiter noch an die Bauern heran. Dieses Gespräch bot mir die Gelegenheit, ihn auf den Fall aufmerksam zu machen, der seinen Schmied betraf und der mir von diesem mit der Erlaubnis ihn weiter erzählen zu dürfen, berichtete. Wenn schönes Wetter ist und die Ernte kommt, dann wird auch von den Handwerkern verlangt, bei der Ernte mitzuhelfen. Das verweigerte der Schmied nicht und war auch nicht darüber böse, dass es von ihm verlangt wurde. Böse war er nur über die Art, wie man es von ihm forderte. Der dreißigjährige Inspektor kam und sagte in einem Befehlston: „B···, Sie gehen morgen mit aufs Feld!" Der Schmied sah als erfahrener Landmann die Notwendigkeit dessen ein, aber wünschte einen anderen Ton, weil er sich als Mensch fühlte und nicht als Untertan. Übrigens hätte er im Vertrag diese Pflicht nicht stehen. Aber er täte es doch, weil auch der Herr ihm manche Gefälligkeit tue. 154

Ich riet dazu, die Beamten zur besseren Behandlung anzuleiten, oder selbst, wenn sie nicht dazu fähig sind, in solchen Fällen zu den Leuten hinzugehen. Der Herr meinte, er könne sich nicht Gefälligkeiten von den Arbeitern bieten lassen. Worauf ich ermahnte, nicht auf den juristischen Sinn zu pochen. Der Schmied weigere sich ja gar nicht zu helfen, nur ein menschliches Entgegenkommen fordere er, darin man ihm doch recht geben sollte. Bald zog man auch aus dem Schloss in das Inspektorenhaus. Meine Frage, ob da der Haushalt billiger komme, wurde bejaht. Die Hofarbeiter konnten nicht begreifen, daß eine solche Massnahme nötig sei und meinten, dass das um so mehr leide, als wenn es bewohnt sei. Das Schloss sollte mit dem Jagdrevier verpachtet werden. Leider fand sich kein Pächter. Ich glaubte, in dieser Massnahme doch ein Zeugnis zu sehen, dass es dem Gut finanziell nicht gut gehe. Denn so etwas tut man nicht aus egoistischen Gründen. Ein sehr unzufriedenes Leben führten die drei landwirtschaftlichen Beamten. Der erste war 31 Jahre, der zweite 26 und der dritte noch jünger als dieser. Ihr Monatsgehalt betrug 110, 90 und 70 Mark bei freier Station. Ihr Dienst begann morgens um halb fünf Uhr und hörte abends gegen 8 Uhr auf. Doch dies alles hätten diese Männer in Kauf genommen, wenn sie nur eine Aussicht gehabt hätten, einmal zu heiraten, um einen eigenen Haushalt gründen zu können. Aber eine Aussicht bestand nun nicht so, wie in der Vorkriegszeit. Die Aussichten der derzeitigen jungen Gutsbesitzer auf Staatsdienstellen verringerte sich, so dass viele von ihnen es vorzogen, ihr Gut selbst zu bewirtschaften. Brauchten sie dennoch Hilfsbeamte, dann nahmen sie eben nur ledige und billige Kräfte. Andererseits soll die Unrentabilität der Güter dazu geführt haben. Wie oft sassen die armen Kerle in meiner Bude, fragend und ratend, woher die Erlösung kommen könnte. Sie waren bereit, sofort nach Amerika auszuwandern, es wollte ihnen ganz egal sein, was und wie sie drüben arbeiten müssten. Sie wussten, dass mein Sohn in Amerika ist. sie berieten auch mit einem Tierarzt, der schon einmal in Südamerika gewesen sein soll und auch wieder hin wollte. Aus all dem entnahm ich, dass diese Massnahme, ganz gleich welche Ursache sie hat, sich zu einem System auszuwachsen droht, das zwar nach aussen willige, aber eine innerlich höchst unzufriedene Beamtenschaft heranzüchtete. Bei solchen Erwägungen kam mir immer der Gedanke: Was würden wohl, im Falle einer Erhebung der Landarbeiter, diese Beamten tun? Noch nie ist über die Lage der Landwirtschaft so viel geredet worden wie gerade nach der Stabilisierung der deutschen Währung. Nicht nur die Landwirte klagen immer lauter, auch die Städter sind gezwungen worden, sich damit zu beschäftigen, und es herrscht durchaus ein Mangel an Ratschlägen und Heilrezepten. Auch der Großstädter ist zu der Erkenntnis gelangt, dass der 155

Grund und Boden auch der Grundstock seines Lebens sei. Ebensogut weiss er, dass man ihn nicht veröden lassen kann und lieber Lebensmittel einführen soll, wenn deren Kosten mit den Exporteinnahmen nicht gedeckt werden können. Wenn also der Grund und Boden ein so wichtiger Zweig unseres Lebens ist, um darauf die Steigerung der Produktivkräfte in das Verhältnis zu der Steigerung der Produktivkräfte in der Industrie zu bringen, dann muss eben die Industrie so oder so die Differenz tragen. Anders könnte es auch in einer sozialisierten Produktionsweise sein. Die Gespräche mit den Landwirten zeigten, dass auch ihr Blick nicht so weit reicht. Auch sie sehen nur das, was unmittelbar auf ihre Haut drückt. So schrieb z.B. des Gutsbesitzers Schwager, der auch ein Gut in der Neumark besitzt, einen Artikel in einer Zeitung, und zwar stand da folgendes: „Wir haben durch den Krieg und durch die Inflation das Rechnen verlernt. Wir müssen wieder lernen, keinen Pfennig auszugeben, bevor wir ihn nicht eingenommen haben!" Seine Sparabsicht bezog sich sogar auf den Gebrauch von Düngemitteln, Maschinen, Geräten usw.. Auf meine Einwendungen, dass das die Verringerung des Ertrages bedeute, wurde mit achselzuckend gesagt: „Sollen wir Schulden machen, die wir nicht abzahlen können und Zinsen übernehmen, die unsere Zahlungsfähigkeit übersteigen?" Tatsächlich konnten die Landwirte nur kurzfristige Anleihen unter 12-15 Prozent Zinsen auftreiben. Der Landwirtschaft ging es also demnach doch nicht so rosig, wie wir es in Berlin so leicht zu glauben geneigt waren. Mag sein, dass der oder jener Landwirt schlecht wirtschaftet, keinen Sinne für bessere Arbeitsmethoden und für einen technischen Fortschritt hat; liederlich ist und sein für das Vieh oder Getreide gelöstes Geld in Berlin mit Frauen verjubelt, das ist noch lange kein Beweis, dass alle Landwirte diese Veranlagung haben und dass sie selbst an ihrer N o t Schuld sind. Auch wir Berliner würden es uns verbieten, wenn uns jemand mit den Liederlichen und Verschwenderischen in einen Topf werfen wollte. In der Großstadt hört man oft Meinungen, als kümmerte man sich in der Landwirtschft wenig darum, die Ertragsfähigkeit des Bodens zu heben, als wäre es immer so wie vor hundert Jahren. Dabei kümmern sich die Techniker, Rationalisierungstheoretiker und Praktiker unermüdlich darum. Durch die Landwirtschaftskammern und deren Versuchsanstalten wird in allen Gegenden die Beschaffenheit des Bodes untersucht, Getreidearten gepflegt, verteilt, beobachtet und neue Ertragsergebnisse mit den früheren verglichen. So ist das mit allen Feldfrüchten und auch mit dem Vieh aller Arten. Nur ist die Organisation noch nicht so rationell ausgebaut wie in Dänemark. Was in der Landwirtschaft noch Beachtung verdient, das sind die Produktionsmittel, Maschi156

nen und Geräte. In einer Fabrik läuft die Maschine oft Tag und Nacht. Da amortisiert sie sich früher und bringt in kürzerer Zeit mehr Nutzen als die Maschine in der Landwirtschaft. Dort werden manche Maschinen wie der Dampfpflug oder die Dreschmaschine nur einige Wochen gebraucht, andere wieder nur tagelang und stehen dann müssig. In der Industrie hat eine jede neu erfundene Maschine eine Vermehrung der Produktmenge zur Folge. In der Landwirtschaft ist dem nicht so. Da erleichtert wohl manche Maschine und manches Gerät dem Bauer die Arbeit, er wird bequemer und früher fertig, aber die erzeugte Menge bleibt dieselbe wie vorher. Das besagt, dass in der Landwirtschaft heute mehr als hundertfache Werte an Produktionsmitteln stecken, gegen früher, die sich aber sehr langsam bezahlt machen und auch nur langsam in langer Zeit Nutzen bringen. Bezüglich des Landbundes und des Landarbeiterverbandes vermochten wir uns schwer zu einigen. Der Landbund besteht aus drei Gruppen, die des Grossgrundbesitzers, der Bauern und der Landarbeiter. Jede Gruppe verwaltet sich selbst durch ein eigenes Sekretariat. Alle Gruppen bilden eine Arbeitsgemeinschaft. So fein und klug wurde das bei der Gründung erdacht. Mir kam es aber so vor, wie wenn man Hund, Katze und Kaninchen in einen Stall steckt. Die Gegensätze zwischen den dreien sind kaum überbrückbar. Gewiss gibt es bei den ersten beiden Gruppen etwas von gemeinsamen Interessen, aber auch der heutige Bauer weiss, was seine Vorfahren beim Adel galten. Er, der kleine Mann, wird mit seinem Neid gegen den grossen Mann nicht fertig. Die Landarbeiter sehen wiederum die ersten beiden Gruppen als ihre Gegner an. Das haben die Arbeiter, wenn ich mit ihnen darüber sprach, immer wieder zum Ausdruck gebracht. Ich sah also in dieser Organisation nur eine Zwangsorganisation. Ausserdem fand ich in ihrer Unnatürlichkeit keine Gewähr für ein dauerndes geschichtliches Bestehen, und meinte, dass es ratsamer wäre, die Arbeiter nicht zu hindern, ihrem Verbände anzugehören und lieber mit dem Landarbeiter-Verband entgegenkommend zusammenzuarbeiten. Andererseits konnte ich auch feststellen, dass der Landarbeiter-Verband ungewollt an der Sache mit schuld sei. Er erlebte den allzu raschen Aufstieg und verfügte in diesem Masse nicht über genug geschulte Kräfte. Seine Beamten spannten oft den Bogen zu straff! Was zu seiner Entschuldigung doch auch gebucht werden kann, ist das, dass auf dem Lande die Aufklärungs-, Schulungs- und Organisationsarbeit, wie auch die Erhaltung des Mitgliederbestandes viel schwerer ist als in den Städten mit genügend Vortragskräften, Kursusleitern, Bibliotheken und sonstigen Hilfsmitteln. Das wiegt vielleicht mehr als alle anderen Hemmungen. Des Gutsbesitzers Frau war eine vernünftige und zielbewusste Erzieherin ihrer Kinder. Sie gab sich mit ihren Kindern nicht mehr ab, als sie es für unbe157

dingt notwendig hielt; vermied jede affige Schwelgerei in Liebe und Zärtlichkeit und strafte, wenn ein Grund vorlag. Die Strafen bestanden meist darin, dass die Kinder in das Nebenzimmer gesteckt wurden, sobald sie sich unartig benahmen oder wenn sie versuchten, ihren Willen durchzusetzen. Als ich einmal im Gespräch mit ihr auf ihren fünfjährigen Knaben zu sprechen kam und meinte, dass er sich wohl gut entwickle, verneinte sie dies nicht und setzte hinzu, er sei nur noch zu eigensinnig, wogegen sie ankämpfen müsse. Auf meine Einwendung, dass der Eigensinn doch so etwas wie Eigenart sei, ging ihre Meinung dahin, dass das wohl bis zu einem gewissen Grade stimmt, nur dürfe man diese Eigenschaft nicht zur Tyrannei entarten lassen, dass er dann in seinem Mannesalter zum Tyrann seiner Umgebung und seiner Familie wird. Eine Mutter, die bei ihrem Kinde, ihrem Knaben, mit dem Mannesalter rechnet und auf der Hut ist, welche Eigenschaften ihm und seinen Mitmenschen schaden könnten, das ist eine Mutter, deren wir nicht allzuviele in Deutschland besitzen. Das sind einige Bilder von dem, was ich ausser meiner Klubarbeit auf dem Lande getan und - gelernt habe.

Kommunisten, Anarchisten, wilde Gruppen Durch einige persönlich mit mir befreundete Kommunisten kam es dazu, dass sich eine kommunistische Jugendgruppe bei mir einmietete. Die Gruppe Berlin-Ost tagte zweimal in der Woche, Dienstag und Freitag. Später kamen noch andere hinzu, die Gruppe vom „Strausberger Viertel" und „Ostkap". Die letztere ist heute noch in unserem Heim, aber nur als „Kommunistische Opposition". Eine Zeitlang beherbergte ich auch die „Anarchistische Jugend", „Syndikalistische Jugend", „Sozialistische Lebenreformer", „Bund für Arbeiter und Wanderheime", „Arbeiter-Esperanto", die „Sozialistische Jugend" war vorübergehend bei mir. Mit all diesen so verschiedenartigen Jugendbestrebungen habe ich so manch Gutes, Angenehmes und Lehrreiches erlebt. Schwierigkeiten hatte ich sehr selten mit ihnen. Was mich dazu bewogen hat, war gerade das, sie alle unter ein Dach zu bringen und so zu wirken, dass sie sich gegenseitig nicht totbeissen, sondern vertragen sollten. Mit Ausnahme der Sozialistischen Lebensreformer, Bund für Arbeiter-Wanderheime und dem Arbeiter-Esperanto, waren alle auf politische Betätigung eingestellt. Da hiess es, sie in ihren Idealen zu verstehen, sie gern zu haben und als Menschen ernst zu nehmen, aber nicht daran zu glauben, dass sie das sind, wie sie reden. Ich glaubte auch, dass unsere Mitarbeiter diese Gelegenheit beim Schöpfe fassen würden, um auch dabei etwas zu lernen, doch habe ich zu viel geglaubt! Zwischen derartig harte Müh158

dingt notwendig hielt; vermied jede affige Schwelgerei in Liebe und Zärtlichkeit und strafte, wenn ein Grund vorlag. Die Strafen bestanden meist darin, dass die Kinder in das Nebenzimmer gesteckt wurden, sobald sie sich unartig benahmen oder wenn sie versuchten, ihren Willen durchzusetzen. Als ich einmal im Gespräch mit ihr auf ihren fünfjährigen Knaben zu sprechen kam und meinte, dass er sich wohl gut entwickle, verneinte sie dies nicht und setzte hinzu, er sei nur noch zu eigensinnig, wogegen sie ankämpfen müsse. Auf meine Einwendung, dass der Eigensinn doch so etwas wie Eigenart sei, ging ihre Meinung dahin, dass das wohl bis zu einem gewissen Grade stimmt, nur dürfe man diese Eigenschaft nicht zur Tyrannei entarten lassen, dass er dann in seinem Mannesalter zum Tyrann seiner Umgebung und seiner Familie wird. Eine Mutter, die bei ihrem Kinde, ihrem Knaben, mit dem Mannesalter rechnet und auf der Hut ist, welche Eigenschaften ihm und seinen Mitmenschen schaden könnten, das ist eine Mutter, deren wir nicht allzuviele in Deutschland besitzen. Das sind einige Bilder von dem, was ich ausser meiner Klubarbeit auf dem Lande getan und - gelernt habe.

Kommunisten, Anarchisten, wilde Gruppen Durch einige persönlich mit mir befreundete Kommunisten kam es dazu, dass sich eine kommunistische Jugendgruppe bei mir einmietete. Die Gruppe Berlin-Ost tagte zweimal in der Woche, Dienstag und Freitag. Später kamen noch andere hinzu, die Gruppe vom „Strausberger Viertel" und „Ostkap". Die letztere ist heute noch in unserem Heim, aber nur als „Kommunistische Opposition". Eine Zeitlang beherbergte ich auch die „Anarchistische Jugend", „Syndikalistische Jugend", „Sozialistische Lebenreformer", „Bund für Arbeiter und Wanderheime", „Arbeiter-Esperanto", die „Sozialistische Jugend" war vorübergehend bei mir. Mit all diesen so verschiedenartigen Jugendbestrebungen habe ich so manch Gutes, Angenehmes und Lehrreiches erlebt. Schwierigkeiten hatte ich sehr selten mit ihnen. Was mich dazu bewogen hat, war gerade das, sie alle unter ein Dach zu bringen und so zu wirken, dass sie sich gegenseitig nicht totbeissen, sondern vertragen sollten. Mit Ausnahme der Sozialistischen Lebensreformer, Bund für Arbeiter-Wanderheime und dem Arbeiter-Esperanto, waren alle auf politische Betätigung eingestellt. Da hiess es, sie in ihren Idealen zu verstehen, sie gern zu haben und als Menschen ernst zu nehmen, aber nicht daran zu glauben, dass sie das sind, wie sie reden. Ich glaubte auch, dass unsere Mitarbeiter diese Gelegenheit beim Schöpfe fassen würden, um auch dabei etwas zu lernen, doch habe ich zu viel geglaubt! Zwischen derartig harte Müh158

lensteine des Lebens wagte sich die akademische Jugend mit ihrem auf der Universität erworbenen Wissen nicht zu begeben. Die Gruppe Osten hatte eine verhältnismässig hohe Mitgliederzahl. Sie verfügte auch über eine Reihe von Rednern aus ihrer Mitte. Die Wogen des politischen Lebens waren gerade zu der Zeit hoch, deshalb auch hier. In den Versammlungen waren immer 60 - 80 Mann anwesend. Wenn der Verstand in die Tiefe der Lebensprobleme nicht herabzusteigen und sie zu analysieren vermochte, da half die Kühnheit des Gefühls. Nicht immer war das Ideal das Motiv zum Reden. Persönlicher Ehrgeiz, Wichtigtuerei schimmerten meistens unter der Schminke hervor. Die Braut sollte sehen und sich wundern, was für einen tüchtigen Bräutigam sie hat. Vieleicht wurde sie dann beim Hinausgehen williger. Wie oft musste ich an Goethe denken: „Der Vortrag ist des Redners Glück!" Als wieder einmal der Redegang durch die Räume brauste, kam einer von ihnen zu mir und fragte mich, ob ich es denn nicht mit der Angst zu tun bekäme. „Oh nein", erwiderte ich lächelnd „ihr tut niemanden etwas!" Meine Scheuerfrau war auch eine Kommunistin, aber sie war Anhängerin der Kommunistischen Arbeiterpartei, die mit Moskau nichts zu tun haben wollte. Deshalb war sie Feindin dieser kommunistischen Abart. Als sie einmal aus Herzenslust gegen sie schimpfte, fragte ich sie, ob sie die Bibel kenne. Mit diesem Quatsch hätte sie nichts zu tun, sagte sie mir schroff. Sie wurde aber ruhig, als ich ihr erklärte, dass darin geschrieben steht: „Wenn du deine Opfer zum Altar trägst und du dich unterwegs besinnst, dass dein Bruder etwas gegen Dich hat, so gehe hin und versöhne dich erst mit ihm!" Es war hier nicht anders, als es schon immer in Parteibewegungen gepflegt wurde. Unfähige und auch fähige Menschen glauben und hoffen, dass nun die Zeit gekommen sei, wo die soziale Frage zunächst für sie gelöst werden könnte. Je schneller sich der Aufstieg einer Bewegung vollzieht, um so mehr wird an die Einfühlungsmöglichkeit des heimlichen Wunsches geglaubt, und um so grösser wird die Zahl derer, die diesen Wunsch hegen und sich demgemäss auch vordrängen. Das konnte ich immer wieder beobachten und erfahren. Am lebendigsten wurde man, als der Aufstand in Mitteldeutschland im Anzüge war. Mehr als eine Woche lang hatte ich von früh 8 bis 10 Uhr abends immer ein Dutzend Jugendliche, Burschen und Mädchen im Heim. Sie betätigten sich mit Gesellschaftsspielen, lasen etwas vor, veranstalteten Singtänze und allerhand anderes. Fragte ich nach dem Grund ihres täglichen Hierseins, so hiess es, sie müssten Bereitschaft stehen, falls auch in Berlin etwas losgehen sollte. Eines Sonntag nachmittags, als sie wieder seit früh in Bereitschaft standen, 159

hörte ich mir von meiner Schreibstube aus eine Unterhaltung zweier Burschen, die im Nebenzimmer sassen, an. Der eine davon, der eine Stunde vorher mit seinem Bündel angerückt kam, war erst kurze Zeit Mitglied der Gruppe Osten. Er erzählte dem anderen, dass sein Vater Mehrheitssozialist sei und dass sie miteinander in Streit geraten sind. Sein Vater wollte nicht dulden, dass er im Kommunistischen Jugendverein sei, worauf er ihm geantwortet habe, „Was verstehst du dummer Mehrheitssozialist davon!" Nach einer Weile kam der andere zu mir und bat mich, ob ich den Burschen in meiner Schreibstube auf dem Sofa übernachten lassen wollte. Ich hiess ihm, den Jungen zu mir kommen zu lassen. Er kam auch und erzählte mir dasselbe. Ich fragte ihn, was er arbeite, wieviel er verdiene und wo seine Eltern wohnen und machte ihm schliesslich klar, dass er mit 9 Mark, die er wöchentlich verdiene, bei fremden Leuten nicht auskommen kann. Sein Vater hat ihn Motorschlosser lernen lassen. Er ist aber aus der Lehre davongelaufen und arbeite jetzt als Arbeitsbursche. Auf meinen Vorschlag, dass ich am nächsten Tag seine Eltern besuchen und sehen wollte, was sich machen lässt, ging er ein. Sein Vater berichtete mir die Sache ein wenig anders. Er hatte nichts dagegen, wenn der Junge in einem Kommunistischen Jugendverband sei. Aber er habe in einer Funktionärssitzung seiner Gewerkschaft erfahren, dass es auch in Berlin zu etwas kommen kann und deshalb ihn gewarnt, abends nicht fortzugehen, damit er nicht in etwas verwickelt werde, worauf er die freche Antwort bekam: „Was verstehst Du dummer Mehrheitssozialist davon!" Weiter erzählte mir der Vater, dass er mit der ganzen Familie aus der Kirche ausgetreten sei. Der Junge sei aber in dem Jünglingsverein eines Pastors gewesen und habe sich auch gegen seinen Willen einsegnen lassen. Er erklärte sich schliesslich auch bereit, den Jungen wieder aufzunehmen. Ich nahm mir dann den Burschen vor, machte durch seine Freiheiten einen dicken Strich, in dem ich ihm mit Nachdruck sagte, dass er ja froh sein müsste, eine solchen vernünftigen Vater zu haben und er hätte, wenn ich sein Vater wäre, noch gewiss viel Schlimmeres erlebt. „Wilst du nach Hause gehen oder nicht!?" fragte ich ihn zum Schluss. Darauf erwischte er sein Bündel und lief als hätte er etwas gestohlen, den Ostbahnhof entlang. Nach einer Zeit erschien er mit mehreren Jungen wieder in der Gruppe Osten, aber als Oppositionsmacher. Ihm ging es nirgends radikal genug zu, deshalb machte er unter seinem eigenen Namen „Freie Jugend" einen Laden auf. Später stiess er zu den Syndikalisten. Und nun höre ich nichts mehr von ihm. In unserem Heim besass ich so etwas wie ein unerträgliches Vaterrecht. Alle Gruppen ohne Unterschied ihrer Einstellung wandten nichts dagegen ein, 160

wenn ich an ihrem Versammlungen teilnahm und in der Diskussion mitredete. Hin und wieder durfte ich sogar einen Vortrag halten, auch in den ausserhalb unseres Heimes liegenden Gruppen. In all diesen Fällen ging es mir nicht darum, rechthaberisch, überzeugungsvoll zu wirken, oder weit- und lebensanschauliche Bekämpfung zu betreiben, sondern meine Ansicht den anderen gegenüberzustellen und somit zum Denken anzuregen. Ein noch viel besseres Wirkungsfeld war der Verkehr mit einzelnen Jugendlichen. Im Einzelgespräch wird oft das, was der man unter einer Massenstimmung geglaubt hat, als falsch erkannt. Aber vor der versammelten Masse ist mit den besten Gegenbeweisen nichts auszurichten. Der Vortragende oder der Diskussionsredner weiss, dass er als Genösse das Vertrauen seiner Zuhörer hat, dass sie noch weniger wissen als er und dass sie ihm auch den greifbarsten Unsinn glauben, weiter ist er sich gewiss, dass er sein Ansehen nicht ramponieren lassen darf, weshalb er den wildesten Angriff und die schlagendste Beweisführung des Gegners unter allen Umständen abwehren muß. Es lag mir also nichts daran, da ich mir dieser Einstellung bewusst war, den Redner zu schlagen, sondern seinen Hörern Gedanken zu bringen, über die sie in einer ruhigen Stunde nachdenken sollten, was mir meistens auch gelungen ist. So sprach ich ζ. B. einmal über Kommunismus in China. Als ich in meinem Vortrag auf die patrialschanen Verhältnisse zu sprechen kam, fiel mir der grösste und älteste Genösse, der in der äussersten Ecke des Saales sass, mit der Behauptung ins Wort, in der kommunistischen Gesellschaft brauchte man das nicht, da würden die Kinder nicht in der Familie sondern in Kinderheimen erzogen. Sollte ich mich mit ihm auf eine wissenschaftliche Auseinandersetzung einlassen, zu der er gar nicht fähig war und von dem man immer wieder dasselbe erwarten konnte. Vor mir sassen ungefähr ein Dutzend Mädchen. „Mädchen, was würdet ihr wohl dazu sagen, wenn ihr verheiratet wäret und man euch eure Kinder wegnehmen wollte?" fragte ich sie. „Das gibt es nicht!" klang es wie aus einem Munde, und - die Schlacht war gewonnen. Die Folge war noch die, dass sich zwei Parteien bildeten, die eine für und die andere dagegen. Sie knobelten die Sache untereinander in ihren Wohnungen aus. Ein junger Anarchist setzte seinen Zuhörern den volkswirtschaftlichen Kohl vor, daß das Kapital aus dem Diebstahl entstanden ist und wollte sich durchaus nicht überzeugen lassen, dass das Kapital durch Arbeit gediehen ist. Von Marximus wurde viel in den Reden erwähnt. Jedes junge Küken schmückte sich mit dem Namen Karl Marx. Wollte ich die Frage beantwortet haben, wie das kommt, dass der Handwerker in Amerika 240 Mark, der deutsche 50 und der russische nur 20 Mark in der Woche Lohn bekommt; da ver161

sagten die marxistischen Kenntnisse. Ebenso versagten sie, wenn ich fragte, ob das Pferd dem Unternehmer auch Mehrwert schafft wie der Arbeiter. Man wusste nicht einmal, dass das Pferd ein Produktionsmittel sei und in die Kategorie des konstanten Kapitals gehöre. So bot sich immer wieder die Gelegenheit ihnen zu beweisen, dass sie nichts wissen. Wer in einer solchen Stellung des gekränkten Huhn spiele will, wenn einem nicht sofort geglaubt wird, oder getan wird, als hätte man den Betreffenden besiegt, das richtet nichts dabei aus. Jedes Jahr holte man sich einen Redner oder eine Rednerin, die einen Kursus über das „Sexuelle Leben" gaben. Dabei galt meistens Hodans Buch „Bub und Mädel" als Grundlage, unterschiedlich nur insofern, dass Hodans Braten oder Schmalz zugesetzt wurde, um das von der Natur gegebene Schamgefühl als unser Schutzmittel vollends mit Stumpf und Stiel auszurotten. Nach allem, was ich diesbezüglich beobachten konnte, fällt es mir schwer zu glauben, dass die Wissengier nach gesundheitlicher Aufklärung, nach anatomischen Kenntnissen das Motiv gewesen sei, solche Kurse zu machen und dass sie sich nur deshalb eines viel stärkeren Besuches rühmen durften, als alle übrigen Veranstaltungen. Zu dieser Annahme veranlaßte mich eine andere Feststellung, nämlich die, dass ein anderer rein anatomischer Kursus schon am dritten Abend versandete. Daneben wirken aber auch noch andere Gründe. Der von den traditionellen Sitten sich immer mehr loslösende und unbeschränkt freiheitsbegehrende junge Mensch, bezieht seinen Freiheitsbegriff auch auf das geschlechtliche Leben. Das enge Wohnen und Arbeiten in den Fabriken stumpft das Schamgefühl ab und treibt zur Genußsucht. Der Junge oder das Mädchen haben schon oft genug in den Betrieben vom geschlechtlichen Verkehr gehört, so dass auch sie ein Interesse daran zeigen sich mit einem solchen zu beschäftigen. Dahinter lauert aber die Angst vor den Folgen. Auch wegen bösen Folgen schafft das Fabrikleben viel Aufklärung, aber man will es doch aus dem Munde eines Wissenschaftlers hören, um sich vor Unanschaulichkeiten zu schützen. Der Junge will wissen, wie es einzurichten geht, dass für ihn keinerlei Verantwortung daraus erwächst und auch das Mädchen muss erfahren, welche Anstellung sie von ihm fordern soll. Das sind die Hauptbeweggründe. Die draufgeherischen, rücksichtslosen, lügnerischen und betrügerischen Naturen fragen nicht danach, was aus den Mädchen werden wird. Bei ihnen ist von vornherein die Absicht da, sich um die Verantwortung irgendwie zu drücken. Mir scheint es so, als gäbe es auf keinem anderen Gebiet so viel Betrug wie gerade hier. Auch die kommunistische Jugend ist trotz ihres hohen Ideals und sexueller Aufklärung in dem Liebesverhältnis meistens nicht offen, treu und ehrlich, sie weiss nicht, welche Charaktereigenschaften eine harmonische Ehe voraussetzt. Oft zerbrechen die in dem Jugendverein zustande ge162

kommenen Ehen bald, oder sie schleppen wie in schwer beladener Wagen eine Zeitlang hin. „Na, Alfred," fragte ich unlängst einen solchen Ehemann, „wie geht es Dir? Was macht die Ehe?" „Ach weisst Du, solange wie man liebsten, lernt man sich nicht kennen, da zeigt sich nie einer dem andern so wie er wirklich ist!" lautete die Antwort. In der kommunistischen Jugend entgleisten besonders die 19 - 20jährigen Jungens. Sie denken gar nicht daran, sich an ein festes Liebesverhältnis zu binden, um dann eine Ehe zu schliessen. Man legt sich den Begriff Freie Liebe so aus, wie es in der Tierwelt geschieht, heute die, morgen jene. Weigert sich eine, mit sich so spielen zu lassen, dann wird sie mit dem Namen „Bürgerlich" versehen, worunter man so viel versteht, dass sie sich noch an die überlieferte Sitte gebunden fühlt, was eben gegen die vulgäre kommunistische Sittenansicht ist und deshalb als Schimpfwort gilt. Das so charakterisierte Mädchen muss dann ihr Liebesglück anderwärts suchen. Natürlich sind die Mädchen anderer Auffassung. Zwar sind auch sie nicht von Holz. Auch sind sie sich ihres Sexualbedürfnisses bewusst und wünschen dessen Befriedigung so hemmungslos wie die Jungens. Ihre Liebe ist hingebender, empfänglicher, duldsamer, ihr Familiensinn stärker als bei dem männlichen Geschlecht, der Wunsch Mutter zu werden, Kinder zu besitzen, das alles lässt den ehrlichen Willen nach dauerndem Eheglück entstehen. Diesen Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern zu erkennen und seine Unbestreitbarkeit zuzugeben, darum bemüht man sich in diesen Kreisen gar nicht. Da heisst es Mensch wie Mensch. Oft kamen die Mädchen zu mir und baten mich um ein Zimmer. Sie wollten ausser den Gruppensitzungen auch allein sein. Es dauerte aber nicht lange, als sich ein Junge nach dem anderen zu ihnen hereinschlich. Die Mädchen wollten als Genossinnen nicht unhöflich sein und sie hinausweisen, darum Hessen sie den Mädchenabend versanden. Wieder einmal wünschten sie ein Zimmer, aber mit der Bitte, ich möchte die Jungens nicht hereinlassen. Ich versprach ihnen, sie zu schützen. Gleich am ersten Abend wiederholte sich der gleiche Fall. Zwei ältere Burschen schlichen sich zur Tür und blieben einstweilen dort stehen. Auf meine Frage, was sie hier wollen, bekam ich die Antwort, sie hätten auch das Recht, hier zu sein, denn die Mädchen wären auch keine Extrawurst. Ich wies sie hinaus, und versuchte ihnen im Nebenzimmer klarzumachen, dass sie wirklich eine Extrawurst sind. Aber sie konnten es durchaus nicht begreifen. Die Mädchen waren in ihren Augen eben nichts anderes als sie. Natürlich gibt es unter ihnen auch Ausnahmenaturen. Diese müssen aber schon felsenfest sein, wenn sie von dieser Atmosphäre unberührt bleiben sollen. 163

Die Mädchen spielen auch in diesen Vereinen, ob kommunistisch, anarchistisch oder sonstwie aufgezogen, eine untergeordnete Rolle. Zwar werden auch sie wie die Jungen mit einer Wucht von Funktionen beladen, treten aber welche als Rednerinnen auf, so schäumt wohl das gefühlsmässige Begriffsvermögen hoch, aber der Geist dringt nicht zu dem Kern der Dinge. Als bedauernswert sehe ich es an, dass die meisten jungen Mädchen über ihre Frauenwürde in völliger Unklarheit leben und sich wie ein willensloses Spielzeug hingeben. Manchem Mädchen sind Ideale, oder das, was in dem oder jenem Verein erstrebt und geredet wird, ganz gleichgültig. Sie suchen einen Mann und wandern aus einem Verein in den anderen, bis einer an ihnen hängenbleibt. Die Bildungsarbeit ist in diesen Vereinen sehr brockenhaft. Die Einführung in den Marxismus, oder in die materialistische Geschichtsauffassung und andere Themen werden in 5 oder 6 Abenden erledigt. Gewöhnlich traut man sich nicht, die Kurse länger zu gestalten, weil nicht alle Teilnehmer aushalten möchten. Die meiste Zeit und Kraft wird auf die Bekämpfung der sozialdemokratischen Partei verwendet. Es geht in allen Versammlungen und Funktionssitzungen darum, wie man dem sozialdemokratischen Arbeiter das Vertrauen zu ihren Führern vereiteln könnte, ebenso das Vertrauen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter. Aber alles, was schon an Wegen und Taktiken ausgeknobelt wurde, führte bis heute nicht zum Ziel. Von all den strategischen Feldzügen, die durchgeführt werden sollen, sei als Beispiel nur der folgende angeführt: In einer Sitzung der Funktionäre unterrichtete ein vielleicht 22jähriger Instrukteur über eine funkelnagelneue Strategie. Diesmal sollte es aufs Ganze gehen, nicht nur gegen die Sozialdemokraten, sondern gegen alle in Deutschland existierenden Jugendorganisationen. Dort sollten sich zwei Männer einschleichen, um in aller Ruhe und unauffällig Freunde zu gewinnen, dann, wenn die Zelle gross genug erschien, im kommunistischem Sinne wirken. Auf diese Weise versprach man sich in zwei Jahren, wenn jeder Kommunist seine Pflicht erfülle, alle Organisationen zu erobern und Herr der politischen Lage in Deutschland zu werden. Als ich nach der Sitzung mit einigen darüber sprach und an der Durchführbarkeit dieses Planes zweifelte, staunten sie, weshalb das nicht möglich sein sollte. Da musste ich sie doch fragen, wieviele es unter ihnen gäbe, die soviel Wissen, Redegewandtheit und Takt besässen, um so wirken zu können, die anderen seien doch auch nicht von Pappe. Und ich habe auch Recht behalten. Aus ihren späteren Reden und Klagen war zu entnehmen, dass trotz er andauernden Anfeuerung und Aufpeitschung die Sache nicht klappte. Obwohl einige ältere Mitglieder darunter waren, denen man eine solche Leistung hätte zumuten können, doch die anderen waren unwissend, in der Organisationsarbeit 164

unerfahren und meistens erst kurze Zeit Mitglieder, die einander oft nicht einmal beim Namen kannten. Der Mitgliederwechsel war stark. Man bekam immer wieder neue Gesichter zu sehen. Die neuen Häschen fühlten sich wohl geschmeichelt, wenn sie schon nach vier Wochen eine Funktion aufgeladen bekamen. Als sie aber spürten, wie schwer solche Pflichten sind, und wenn ihnen die Tadel auf ihre Häupter prasselten, dann sprangen sie bald wieder ab. Denn die neuen Führer verlangten eine rasche Verwirklichung ihrer Pläne. Sie hatten zu beweisen, dass sie klüger, energischer, kurz gesagt, grösser sind, als ihre Vorgänger es waren! Man veranstaltete auch Jugendweihen. Vier Wochen vorher wurden Konfirmanden, Jungen und Mädchen, zum Unterricht eingeladen. Geschenke als Lockmittel wurden versprochen. Als Kursleiter fungierte immer ein älterer Jugendlicher. Da erfuhren die Kinder, was der Kommunismus sei, wie der Sowjetstaat aufgebaut werde, was eine Revolution bedeute, wie verdummend die Kirche wirkt und andere dem jungen Verstand fernliegende Dinge mehr. Das Hauptziel ist darin zu ersehen, dass man somit den Jugendvereinen einen Nachwuchs zu schaffen gedenkt. Nach der Einsegnung wird für die Konfirmanden ein Einführungsabend mit einer Ansprache, Musik und Gesang veranstaltet. Es wird über die kapitalistische Ausbeutung geredet, die Zukunft der Jugend in den grauenhaftesten Farben aufgerollt. Die Kinder, von denen der Einladung doch noch sechs oder acht von 25 gefolgt sind, staunen über den Mut, über die Redekunst und Geistesgrösse der jungen Redner. In den nachfolgenden Versammlungen muss das Eisen geschmiedet werden, solange es glüht, die Kinder staunen weiter, bis sie doch das Gähnen befällt, die Langeweile rückt heran, sie hören immer wieder dasselbe, lebensweite. Es kommen immer weniger, bis noch einer oder zwei übrig bleiben, die stark genug oder stumpf genug waren, diese Prozedur auszuhalten. So redet der Ehrgeiz den Nachwuchs wieder hinaus. In den Kindergruppen ist es ebenso. Dort werden die Kinder ausgefragt, wie ihr Lehrer heisst, ob er gut ist, richtig lehrt, prügelt usw.. Uber alle Lehrer, die schlagen, wird ein Verzeichnis geführt. Aber die Schwächen der Schüler bleiben unbesprochen, so dass diese stets wie Unschuldsengel erscheinen. Wie dieser Geist sich in der Schule auswirken mag, das kann man sich denken. Unlängst sagte mir einer von den damaligen Konfirmanden, der heute 22 Jahre alt ist, dass er sich noch erinnert, wie er auf der Bank sass und über die Weisheit eines älteren Genossen staunte und wie er sich wünschte, auch so ein Kerl zu werden. Das Leben sei aber anders verlaufen, als man es sich damals gedacht hat. So arten auch solche aus dem Idealismus geborenen Dinge in Kinderspiel aus, wo es nachher heisst: „Es war einmal!" 165

Wer hier den von der kommunistischen Idee vorausgesetzten Gemeinsinn zu finden glaubt, der täuscht sich. Einmal stellte ich der Gruppe Osten zwei Kellerräume, die früher als Wohnung dienten, zur Verfügung und zwar unentgeltlich, sobald sie dieselben renovieren lassen. Sie wollten kein Geld dafür ausgeben und die Arbeit lieber selbst machen. Lange wurde unter ihnen beraten, wer von ihnen diese Arbeit ausführen könne und wollte. Die Prominenten hielten sich für zu fein dazu. Dann fanden sich aber doch drei Mann von den Nichtrednern, diese nahmen sich der Sache an. Die Prominenten kamen bloss, um sie auf die Fehler aufmerksam zu machen. Erstaunt schauten sie mich an, als ich ihnen sagte, dass nur drei Mann von ihnen allen kommunistisch Gesinnten die rechten Kommunisten sind. Das bewirkte, dass es dann nicht mehr hiess: „Wir Kommunisten", sondern „Wir sind ein kommunistischer Jugendverein und wollen uns zu Kommunisten erziehen". Ebenso ist es mit der aller nur im Munde geführten Solidarität. Einmal kam ein 20jähriger Kommunist zugewandert. Er war einfach, aber sauber gekleidet. Sein Beruf war Tischler. Heimatlich stammte er aus dem Rheinland, wo sein Vater bei einem Grafen als Diener angestellt war. Dieser junge Kommunist fuhr mit einem ebenfalls jungen Genossen nach Russland. Sie wurden an der russischen Grenze angehalten und mussten nach Deutschland zurück. Sein Genösse ging ihm in Berlin verloren. Ohne Geld und hungrigen Leibes erkundigte er sich bei mir nach der kommunistischen Jugendorganisation, in der Hoffnung, dass er da Hilfe bekäme. Doch daraus wurde nichts. So gab ich ihm 20 Mark und schickte ihn in das Gewerkschaftshaus, wo er schlafen und sich satt essen sollte. Am andern Tag um 9 Uhr vormittags sollte er wieder bei mir sein, dann wollten wir sehen, was sich weiter tun lässt. So geschah es auch. Dass er in Berlin Arbeit erhalte, daran war nach der Demobilmachung gar nicht zu denken. Zu seinem Vater durfte er nicht, da der Graf dagegen war. Es blieb dennoch kein anderer Rat übrig, als dass er nach Hause fahre, wo er bekannt war, da bekam er eher Arbeit. Ich gab ihm 200 Mark, 170 Mark Fahrgeld und 30 Mark Zehrgeld. Aus Frankfurt am Main schrieb er mir begeisterungsvolle Briefe, wie er dabei sei, eine Soziale Arbeitsgemeinschaft zustandezubringen. Er kam dann in einer Erziehungsanstalt als Helfer an, wo ich ihn immer mit der von den Q u ä kern erworbenen Wäsche und Kleidung unterstützte. Eines Sonntag abend kamen zwei Mitglieder von der Gruppe Osten zu mir und baten mich, ob ich ihnen 200 Mark leihen könnte. Sie wären beauftragt, einen Saal zu mieten, hätten auch einen gefunden, doch verlange der Wirt sogleich eine Anzahlung, sie besässen das Geld nicht und die Kom. Zentrale sei geschlossen. Als ich ihnen das Geld auf den Tisch legte, fragte mich der eine, ob ich einen Schuldschein wünsche. „Was", gab ich verwundert zurück, „ihr 166

seid doch Kommunisten, die betrügen doch nicht!" Beschämt gingen sie davon. Am dritten Tag brachten sie mir das Geld zurück. „Na", fragte ich, „wollt ihr darüber eine Quittung haben?" Das verneinten sie kleinlaut. Während der Inflation war für verschiedene Zwecke leicht Geld aufzutreiben. Und es konnte mit geringem Geldwert unter hohen Zahlen manch Gutes geleistet werden. Meine Freunde auf dem Lande unterstützten mich, sobald ich etwas brauchte. So wurde es mir auch möglich gemacht, zwei Jugendliche nach der Volkshochschule in Dreissigacker zu schicken und die Kosten für sie zu tragen. Dazu suchte ich mir gerade welche aus der kommunistischen Jugend aus, einen Jungen und ein Mädchen. Dem Mädchen schickte ich sogar aus der Schweiz, als ich mich dort aufhielt, Taschengeld und bestritt das von meinem Honorar, das mir meine Verträge einbrachten. Als ich später noch einen Jungen oder Mädchen dahin zu bringen gedachte, agitierten die Kommunisten dagegen. Sie meinten, die Leute bekämen dort eine bürgerliche Gesinnung. Das war die falsche Meinung; Recht hatten sie nur sofern, dass die Jugendlichen dort das Leben mit anderen Augen zu sehen lernten, als die kommunistische Dogmatik es sah. Um die Volkshochschulfrage wird nun seit Jahren in den Volksschulkreisen gestritten. Die einen lassen die Schüler fünf Monate lang in Heimen wohnen und geistig schulen, die anderen errichten Heime wie Schlafstellen, wo die Schüler wohnen, gemeinsamen Haushalt führen, tagsüber auf Arbeit gehen und abends geistige Betätigung verrichten. Diese Richtung behauptet, ihre Arbeit sei in erzieherischer und geistiger Hinsicht für die Schüler, die meist Arbeiter sind, vorteilhaft, in dem sie durch ein längeres Zusammenwohnen und gemeinsamer Haushaltsführung zum Gemeinsinn erzogen würden und auch genügend Zeit hätten, das ihnen gebotene Wissen zu verdauen. Die erstere Richtung wird getadelt, dass es ein Fehler sei, die jungen Arbeiter aus der Arbeit herauszureissen, sie gingen dann nicht gern zu ihrem Beruf zurück, und sie würden aber in fünf Monaten mit so viel Wissen belastet, dass es ihnen wie ein Mühlrad im Kopf herumgeht. Zu diesem Streit das Richtige zu sagen, ist nicht so einfach. Wenn ich die Volkshochschulfrage von mir aus beurteilen soll, dann muss ich ohne Rücksichtnahme auf den oder jenen sagen, dass der wirklich nach irgendeiner Richtung begabte Jugendliche die eine oder andere Volkshochschule nur dann vorlieb nimmt, wenn ihm mehr Mittel nicht zur Verfügung stehen. Die weniger Begabten werden sich trotzdem mit ihr begnügen müssen. Ich bin aus den schlechtesten Schulverhältnissen hervorgegangen und doch habe ich mich ohne Lehrer und ohne Volkshochschule weitergebildet. Dass ich besser und schneller gefahren wäre, wenn wir in unserer Jugend167

zeit solche Bildungsgelegenheiten gehabt hätten, will ich gern zugeben. Eine gründliche Selbstbildung erfordert eine lange Zeit und Ausdauer. Was sind dabei fünf Monate? Derjenige, der das Zeug und die Mittel hat, höher zu klettern, braucht diese Schule nicht. Wer aber das Zeug hat, aber nicht die Mittel, der wird sich seines Missgeschicks durch sie noch bewusster, unzufriedener und unglücklicher. Die Volkshochschulen werden sich wahrscheinlich immer auf die Minderbemittelten aber doch kulturfähigen Elemente beschränken müssen und das betreiben, was man unter dem Begriff Allgemeinbildung versteht. Aber die Allgemeinbildung, die nach der Meinung der Volkshochschule sich im gesellschaftlichen und politischen Leben auswirken soll, wird von den sogenannten Bildungshungrigen wenig begehrt und noch nicht für so wertvoll anerkannt, wie es im Interesse des öffentlichen Lebens sein sollte. Auch der Arbeiter strebt immer mehr nach jener Bildung, die in sich die Möglichkeit nach besserer sozialer Stellung bürgt. Möge man ihm das verübeln oder nicht, er tut eben dasselbe, was die Angehörigen aller anderen Klassen auch tun. Bei der Beratung taucht immer wieder dieselbe Frage auf: „Ist das, was du da bekommen kannst, des Geldes wert?" Die Arbeiterbewegung verfügt heute schon über gut organisierte, planvoll und zielbewusst betriebene Bildungseinrichtungen, deren Absicht erkennen lässt, dass sie später noch besser ausgebaut werden, um den Bedürfnissen der Bildung Rechnung zu tragen. Zu diesen Einrichtungen hat die Arbeiterschaft mehr Vertrauen als zu allen ähnlichen Bildungsversuchen. Da haben die Tüchtigen und die Tüchtigsten einen sozialen Aufstieg zu erhoffen. Darauf kommt es ihnen vor allem anderen an. Mit den aus der Volkshochschule in Dreissigacker zurückgekehrten sieben Schülern, die aus Berlin stammten, habe ich folgende Erfahrungen gemacht: Der Leiter dieser Volkshochschule Weitsch bat mich, mich um sie zu kümmern. So kamen sie einigemal zu mir. Die Unterhaltung drehte sich jedesmal nur um das Dreissigacker und darum, wie sie dort gelebt und wie sie gearbeitet haben. Man merkte es ihnen an, wieviel ihnen an Gemeinsinn gegeben wurde. Das war aber auch das Positivste, das sie mitbrachten und das an ihnen am stärksten haftete. Alle anderen Stoffe, die ihnen gezeigt wurden, wirbelten durcheinander und waren schwer zu analysieren. Am kräftigsten hat Dr. Angermann es ihnen angetan. Sie erzählten, wie sie manchmal von den von ihm geführten Diskussionen wie verwirrt herauskamen. Es handelte sich dabei um philosophische Auseinandersetzungen. Noch verwirrender als auf die Jungens wirkte es auf die Mädchen. Mitleid erweckten sie, als man gewahr werden konnte, wie schwer es ihnen fiel, in ihren Beruf zurückzugehen. Sie suchten persönliche Beziehungen und hatten schon in Dreissigacker damit begonnen, 168

wer ihnen helfen könnte, eine andere höhere Schule zu besuchen. Sie waren vor Sorge und Unzufriedenheit mit ihrer Lage, nervös, bis einmal ein Mädchen mit ganzer Wucht ihrer inneren Erregung weinerlich herausplatzte: Man soll junge Leute lieber nicht dahin zitieren und sie unglücklich machen. Ihre Wünsche wurden allmählich von den Verhältnissen in das Unterbewusstsein gedrängt. Aber wieviel Uberwindung an innerem Schmerz hatte das bedurft!. Ich habe bereits angeführt, dass sich auch Anarchisten bei uns eingemietet haben. Man ist gewöhnt sich darunter schreckliche Menschen zu verstehen. Früher waren die Anarchisten Attentäter, heute sind sie zahm. Die anarchistische Idee setzt das edelste Menschengeschlecht voraus, eine klassen- und gesetzlose Gesellschaft soll es einst geben, wo jeder weiss, wie weit sein Recht geht und das des anderen, wo jeder seine Pflicht kennt und sie ohne äusseren Zwang erfüllt. Wer also schon in der heutigen Gesellschaft einer dieser Idee entsprechende Kleinzelle bildet, der muss jetzt schon sein Leben und Handeln in diesem Sinne einrichten und mit diesem Geist die bestehende Welt überwinden, wie es die Anarchisten nun auch erstreben. Solche Menschen sind aber leider die Anarchisten von heute noch nicht. Sie sind ebenso wie andere Menschen, egoistisch, herrschsüchtig, rechthaberisch und oft auch sehr gehässig gesinnt. Sie unterscheiden sich von den anderen Bestrebungen nur dadurch, dass sie ihrem Ideal zu genügen glauben, wenn sie keine feste Organisation mit Beitragspflicht mögen und das Wahlrecht verschmähen. Es kann kommen, reden und zuhören wer da will, und wer daran Interesse zeigt darf auch ein Scherflein zum Kampffonds beisteuern. So bekommt man ausser den Führern und Redelustigen fortwährend neue Gesichter zu sehen. Die ewig Suchenden, Undisziplinierten, die gern Probleme wälzen, hören, kommen und gehen. Stundenlange Debatten werden darüber geführt, wie das Leben einst werden soll. Die Gegenwartsaufgaben werden ignoriert und die, die an der Lösung der Lebensfragen praktisch arbeiten, kritisiert. In der anarchistischen Gruppe, die bei mir war, bewahrheitete sich das unschön klingende Sprichwort: „Zwei Hähne auf einem Misthaufen vertragen sich nicht!" Zwei redegewandte Führer führten einen ständigen Kampf miteinander um ein höheres Ansehen, Glauben und Treue unter ihrer Anhängerschaft. Jeder kam mit seinen Getreuen, und dabei ging es oft böse zu. Lump, Gauner und sonstige Titelationen flogen hin und her. Um sich die Köpfe einzuhauen, dazu fehlte manchmal nicht mehr viel dazu. Als ich einmal nach einem solchen Sturm einige fragte, ob sie auf diese Weise die bürgerliche Welt überwinden wollen, schüttelten sie bestürzt die Köpfe. Wenn ich die Gehässigkeit und Gemeinheit sah, da fragte ich mich jedesmal, welche Motive diese Menschen wohl zu den Führungsposten drängen, 169

war es die Menschenliebe und der Glaube an die Erhabenheit der Idee und die Uberzeugung von dem künftigen Lebensglück, oder war es der zügellose Ehrgeiz. Ich hatte bei allen solcher auftretenden Gestalten stets den Eindruck, dass sie einen Kreis von Menschen nur zur Befriedigung ihres Ehrgeizes und ihrer Eitelkeit brauchen. Unter dem Mäntelchen Ideal ist eben die innere Unwahrhaftigkeit für unerfahrene Menschen schwer erkennbar. Mit der anarchistischen Idee war auch das unvereinbar, wenn man sich eine Zeitung und andere Drucksachen liefern liess und dem Drucker nicht zahlte. Auch einer mit mir befreundeter Buchdrucker, der erst Anfänger war, sich Tag und Nacht plagte, um vorwärts zu kommen, glaubte ihnen und hat noch über 800 Mark zu bekommen. Andere büssten noch mehr ein. Einer von ihnen versuchte auch mich zu betrügen. Als ihm das mit einer Kleinigkeit gelang und ich nichts davon merken liess, dass ich das wusste, versuchte er es noch einmal mit mehr. Er wurde aber sehr klein, als ich ihm bewies, dass es eine Lüge sei, indem er sich bemühte, das zu scheinen, was er nicht ist. Unter ihnen wie auch unter den Kommunisten gibt es auch aufrichtig strebende Menschen mit starkem Gerechtigkeitsgefühl, aber meistens sehr weiche Naturen. Diese kommen, um für eine gerechte Sache mitzuwirken. Sie glauben, Menschen gefunden zu haben, wie die Idee sie voraussetzt. Doch sie finden sie bald ganz anders und überzeugen sich immer mehr. Dass innerlich so unwahrhafte Menschen so eine erhabene nicht zu verwirklichen sei, das ist für sie die furchtbarste Enttäuschung, die sie je erlebt haben! Welche von diesen sehr seltenen Naturen ziehen sich zurück und leben allein. Bei anderen ist der Idealismus so gross, ihr Glaube an die Menschen sinkt zum tiefsten Grade, die Verzweiflung treibt sie zur völligen Hoffnungslosigkeit, dass die Menschen je im imstande wären, ein solches Ideal zu verwirklichen. Das Leben erscheint ihnen sinnlos, es ist nicht wert, dass man es lebt, sie begehen Selbstmord. Wenn drei junge Kommunisten die Schusswaffen ergreifen und gemeinsam in den Tod gehen, oder andere ihr Leben ähnlich enden, so kann ich es mir nur aus solchen Geisteszuständen erklären. In einem solchen Zustand fand ich einen jungen Anarchisten. Es kostete Mühe, ihm neue Lebenshoffnung zu geben. Diese Fälle von Selbstmord der Jugendlichen, sind nicht in ihren Motiven zu verwechseln aus denen heraus gerade in der letzten Zeit öfter solche passieren. Da scheinen mir andere Beweggründe vorzuliegen, die in der Familie oder Schule zu suchen sind. Einzelne Selbstmordfälle lassen sogar darauf schliessen, als hätte sich in der modernen Jugendbewegung die Auffassung herausgebildet, dass der Selbstmord zu der Romantik des jugendlichen Menschen gehöre. Ausser den oben genannten und beschriebenen Gruppen gewährte ich meine Gastfreundschaft noch den „Sozialistischen Lebensreformern", dem 170

„Bund für Arbeiter-Wanderheime" und einer Jugendgruppe vom katholischen Jungborn. Die sozialistischen Lebensreformer setzten sich aus jüngeren und älteren Menschen zusammen, wovon welche an den Sozialismus, Kommunismus oder Anarchismus glauben und auch dementsprechend wählen, aber keine Kampfnaturen sind. Sie treiben allerlei der Gesundheit dienenden Sport, haben zu dem Zweck am Müggelsee zehn Morgen Landfläche gepachtet für 600 Mark jährlich, ziehen sonnabends gegen Abend mit Weib und Kind hinaus und kommen Sonntagabend wieder. Der Genuss von alkoholischen Getränken wird gemieden. Der Durst wird nur mit Wasser gestillt. Der Bund für Arbeiter-Wanderheime hat in Zühlsdorf eine Herberge gebaut, die er allen Jugendorganisationen zur Verfügung stellt. Ein Mitglied des Bundes, heute schon ein grauhaariger Mann, hatte vor dem Kriege ein Stück Land mit Wald gekauft und ein Stück davon dem Bunde kostenlos zu diesem Zweck geschenkt. Die Mitglieder, alles ältere Menschen, buckelten 120 Zentner Zement hinaus. Die katholische Jugend unterscheidet sich von den anderen Gruppen nur weltanschaulich, aber nicht äußerlich, auch nicht den wirtschaftlichen und politischen Forderungen. Schlimme Erfahrungen machte ich mit einer sogenannten wilden Wandergruppe. Junge, rohe, sinnlich veranlagte, alkoholliebende, undisziplinierte und geistig uninteressierte Burschen und Mädchen tun sich unter irgend einem Vereinsnamen zusammen. Sie nennen sich „Ostpiraten", „Indianerblut" und ähnlich. Von den Ostpiraten besuchten mich zwei Vertreter und fragten, ob sie zwei Abende in der Woche einen Raum bekommen könnten für ihre Zusammenkünfte. Ich wollte es wagen auch mit dieser Menschensorte mein Heil zu versuchen. Gleich der erste Abend war gut besucht. Man sah es mehr den Weiblein als den Männlein an, dass sie zu dem fünften Stand gehören. Der Abend fing mit Mandolinenmusik zum Tanz an, das Licht wurde ausgemacht, wie getanzt wurde, war nicht zu sehen. Ich trat energisch dazwischen und sagte den Leutchen, dass unsere Freundschaft enden müsse, wenn sie das so weitermachen wollten. Diese Wandervögelabart erkennt man schon in den Bahnzügen, die sich bemerkbar macht an ihrem frechen und rücksichtslosen Benehmen, und in den Wäldern und auf den Wiesen hausen sie wie die Heuschrecken. Bei ihren Zusammenkünften herrscht ihrer geistigen Stufe und moralischen Begriffen entsprechender Ton, wie man ihn alle Tage in manchen Kaschemmen am Schlesischen Bahnhof hören kann. Zum Vorsitzenden wird immer der Energischste und Schlagfertigste gewählt. Wird durch Schwatzen eines Anwesenden ein 171

Gespräch gestört, dann brüllt ihn der Vorsitzende gewöhnlich so ab: „Maxe ich habe Dir schon einmal gesagt, dass Du die Schnauze halten sollst! Wenn du nicht aufhörst, schlage ich Dir das Tintenfass auf den Schädel!" In allen Stadtbezirken Berlins gibt es verwandte Gruppen. Sie bilden einen Verband ihrer Art, besuchen sich gegenseitig und halten auch Vergnügen ab. Alles was da an Gedichten, Couplets und Liedern vorgetragen wird, dreht sich um das Geschlechtsleben in zotigster und gemeinster Weise. Solche Vergnügungsabende enden stets mit totaler Besoffenheit. Nur so war es schön! Ich bin mit ihnen insofern zufrieden gewesen, dass kein einziger von ihnen es wagte, mir zu widerstehen, wenn ich etwas anordnete, im Gegenteil, sie alle leisteten meinen Befehlen willig Folge. Als sie wieder einmal nach ihrem Vergnügen in den Heimräumen des Quergebäudes recht blau geworden sind, wurde es dort still und finster. Ich sollte glauben, dass sie bereits fort sind, ich ging aber gegen 12 Uhr über den Hof und klopfte an die Tür. Nichts rührte sich. Nun klopfte ich noch ein paarmal kräftiger. Dann erst machte einer auf. Unter dem Schein meiner elektrischen Taschenlampe sah ich, wie Weiblein und Männlein nebeneinander lagen wie die Heringe. Sie entschuldigten sich damit, dass sie morgen früh loswandern wollen. Ich bestand aber darauf, dass das Heim binnen zehn Minuten leer sein müsse. Das geschah auch ohne Widerspruch. Wusste ich doch wie feige diese Gesellschaft ist, trotz ihrer Frechheit, die sie sonst an den Tag legte. Nachdem ich sie dann doch ganz hinausgesetzt hatte, gingen sie in das Jugendamt und erzählten einem Beamten, sie hätten sich beim Kerzenlicht harmlos unterhalten und man hätte sie doch nicht dulden wollen. Ich musste herzlich lachen, als der Herr davon in einer Versammlung der Jugendgerichtshelfer erzählte. Später traf ich in einer Kneipe einige Ostpiraten. Sie waren anständig gekleidet und ruhig. Als sie mich erblickten, kamen sie auf mich zu, und wir schüttelten uns aufrichtig die Hände. Nach meinem Befragen, wie es ihnen gehe, was sie tun usw. meinten sie, sie wären nun vernünftig geworden und gaben selbst zu, dass das, was sie damals getrieben haben, Blödsinn gewesen sei. Wenn man mit so verschiedenartig eingestellten jungen Menschen zu tun hat, kann man so allerhand lernen. Wer aber zu dieser Arbeit nicht schon einen Schatz an Wissen, Taktgefühl und Intuition besitzt, wird es nicht erst lernen können. Menschliche Einstellung, Höflichkeit, dienende Liebe wirken überzeugend auf Menschen, dass man nur das Gute für sie tut und will, so weit die Kräfte reichen. Wie hätte man mir sagen können: „Wir denken immer, dass wir die echten Kommunisten sind, andere Menschen denken doch noch 172

Bei der wilden Wandergruppe, von der Holek spricht handelt es sich um eine Wilde Clique (WC), wie die Eigenbezeichnung dieses Berliner Jugendphänomens lautet. Von diesen Wilden Cliquen, die phänomenologisch betrachtet eine proletarische Variante der bürgerlichen Jugendbewegung, insbesondere des Wandervogel bildet, soll es gegen Ende der zwanziger Jahre mindestens 250 mit ca. 3000 Mitgliedern gegeben haben. Die höchsten Schätzungen liegen sogar bei 600 Cliquen mit ca. 15000 Mitgliedern, Unter kulturanalytischen Gesichtspunkten ist bereits die Eigenbezeichnung als Wilde Clique höchst signifikant. Zum einen verweist die Bezeichnung Clique, die man im Unterscheid zu Bund, Gruppe oder jugendbewegte Horde lesen muß, auf das soziokulturelle Herkunftsmilieu, zum anderen wird, vor dem Hintergrund der sich mit der Jugendpflege durchsetzenden Etikettierung autonomer Jugendgruppen als wild, auf das Prinzip der Selbstorganisation verwiesen. Darüberhinaus stellt die Bezeichnung ein dramaturgisches Werkzeug dar. Mit ihr wird die „Ungezähmtheit" ihrer Mitglieder suggeriert, ein zentrales Thema, das diese Gruppenkultur auf unterschiedlichster Ebene durchzieht und auch in den Namen der einzelnen Wilden Cliquen (WC Ostpiraten, WC Todesverächter, WC Rote Apachen) sowie in der Emblematik ihrer Cliquenfahnen (Schwarze Hand, Totenkopf usw.) zum Ausdruck kommt. Daß sich hier der Einfluß der zeitgenössischen Heftchenliteratur und des Films (Harry Piel-Filme z.B., die seinerzeit sehr populär waren) niederschlägt, ist offensichtlich. Für die Vertreter der Jugendbewegung stellten die Wilden Cliquen ein Surrogat der Jugendbewegung dar. Sie sahen sie als eine defizitäre, niedere Form ihrer eigenen Kultur an; volkskundlich können wir von der Behauptung „gesunkenen Kulturguts" sprechen. Den Jugendpflegern galten die Cliquen-Mitglieder, die die sich vor allem aus Ungelernten (Markthelfer, Laufburschen, Rollkutschen-Mitfahrer usw.) rekrutierten, als „Verwahrloste" und „Unerziehbare". Um so erstaunlicher ist es, daß es Holek allem Anschein nach gelungen ist, eine dieser Gruppen zu „befrieden".

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besser als wir!" Mit schlagfertigen Worten kann man sofort überzeugend und gewinnend wirken auf Köpfe, wo nur Glauben sitzt. Nur die Tat kann es schaffen! Da heisst es fragen und immer wieder fragen und die durch das praktische Leben erworbene Lebensweisheit zu korrigieren. Es heisst auf die hunderterlei Fragen, die man gestellt bekommt, gefasst zu sein, sich in allen Lebenslagen auf dem Laufenden zu halten. Die Gutmütigkeit, der Glaube, Wille, Hoffnung, Sehnsucht und die Phantasie überwiegen auch bei der heutigen Jugend das Verstandesvermögen und die Lebenserfahrungen, wie es in unserer Jugendzeit auch der Fall gewesen ist. Wer diesen natürlich Zustand der Jugend zu seinem persönlichen oder politischen Vorteil missbraucht, der macht sich eines Verbrechens an der Jugend schuldig. Zuallererst sollen wir der Jugend jenes Wissen geben, das sie befähigt, später Politik zu machen und zu erkennen, wo ihre tatsächlichen Lebensverhältnisse liegen, jene Bildung, die sie befreit von tierischen Instinkten, der Selbstsucht, des Hasses und anderer zum gemeinsinnigen Leben führende Entwicklung störende Untugenden. Sich bei einer solchen Arbeit immer wieder auf die Objektivität und Neutralität berufen, sind nur Verlegenheitsausflüchte. Beides sind nur relative Begriffe. Es gibt eben keine einwandfreie Objektivität. Sie ist immer ein Ergebnis jeweiliger materieller Lage, geistigen Begriffsvermögens, des Gemüts und der Lebenserfahrung der urteilenden Person und deshalb auch bei jeder Person anders. Mit der Neutralität verhält es sich ähnlich. Neutral heisst, entweder von der Sache nichts wissen oder sie nicht sagen wollen. Das alles führt nicht zu dem Ergebnis, dass ein wahrer Erzieher und Volksbildner als seine Aufgabe ansehen muss und wie es im Interesse des zu erziehenden und zu bildenden Menschen liegt, sondern es für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens erforderlich ist. Erziehen und bilden heisst Lebenswahrheiten suchen. Manche davon sind schon Jahrtausende alt und bekannt, sie werden bestehen bleiben solange wie die Menschheit leben wird, andere müssen erst gesucht und gefunden werden. Haben wir solche gefunden, so sind sie noch nicht Wahrheiten, weil wir persönlich sie anerkennen, sondern erst dann, wenn sie durch die Erfahrung des Allgemeinlebens die Betätigung erhalten haben. Darin sah ich von jeher meine Aufgabe. Wenn aber diese Arbeit, wie wir sie tun, zu wenige Ergebnisse bringen scheint, das Volksleben zu gering beeinflusst, so fällt die Schuld nicht auf uns, sondern auf die, die es noch nicht als ihre Pflicht begriffen haben, mitzuwirken. Vor lauter Eifer und Sorge um die deutsche Jugend hätte ich beinahe vergessen, auch noch ein anderes geschichtliches Ereignis einzuflechten, was die Leser mir aber doch auch verziehen hätten, wenn ich es verschwiegen hätte. Inzwischen feierte ich mit meiner Frau die silberne Hochzeit. Aus Deutschland, aus der Schweiz, Osterreich, Holland, Dänemark, Schweden und aus der 174

Tschechoslowakei bekamen wir viele Briefe und Telegramme von unseren Freunden. Das freute uns natürlich sehr. Die Feier dauerte zwei Tage, aber ohne Schlemmerei! So gut gestellt sind wir S.A.G. eher nicht, und wenn wir es halbwegs dazu hätten, täten wir es doch inmitten von Hungrigen. Uber vierzig hatten sich eingefunden. Aber die Freude ging mehr durch die Herzen als durch den Magen. Die Mitarbeiter benutzten meine Eigenart auch die meiner Frau als Stoff zu einer Theateraufführung, sie erledigten das auf eine kindliche naive Weise und freuten sich mit uns allen über die aufrichtige Herzenswärme. Der Eifrigste und Geschäftigste unter ihnen war ein Lehrer, der noch nicht lange bei uns mitgemacht hatte. Bei ihm kam aber der Eifer nicht vom Herzen. Ich hatte von ihm gleich den Eindruck, dass er zu jenen gehört, die die S.A.G. als Sprungbrett benutzen. Mein Eindruck wurde dann auch bestätigt, als er durch uns im Polizeipräsidium einen Posten bekam und sich nicht mehr bei uns sehen Hess.

Ein Bürschchen Eines Morgens erhielt ich von einer Lehrerin, die zugleich Jugendpflege betrieb, aus Bielefeld ein Telegramm. „Ein Junge kommt zu Ihnen, er braucht viel Liebe." Das war alles, was sie mir mitteilte. Gegen 8 Uhr klopfte es an die Tür. In der Meinung, dass es wohl der neue Gast sein wird, ging ich öffnen. Vor mir stand ein Bürschchen von ungefähr 15 Jahren mit gelocktem Bubikopf, im dunkelblauen Überzieher; „Sind Sie Herr Holek?" fragte er mich in trotziger Art. „Ja," gab ich zur Antwort. „Ist das hier die Soziale Arbeitsgemeinschaft?" fragte er in demselben Tone weiter. Das bestätigte ich ihm. „Ist das auch so eine Gemeinschaft, die an jungen Leuten herumpfuscht?" „Ja," sagte ich und musste meine Lachlust überwinden. Ich Hess ihn nun hereinkommen, bot ihm einen Stuhl an und lud ihn zum Kaffee ein und war gespannt, was aus dem Kerl noch herauskommt, doch bevor er sich setzte, schlug er sich in die Brust und sagte mit Nachdruck: „Ich dulde nicht, dass jemand Fremdes an mir herumpfuscht, ich will mich aus eigener Kraft entwickeln!" „Mensch," erwiderte ich ihm lächelnd, „solche Kerle suche ich ja!" Während unseres Frühstücks fragte ich ihn, wie es Fräulein Mertgen, die so freundlich war, ihn zu schicken, geht und was sie macht usw. Dann versuchte ich in vorsichtiger Weise zu erforschen, was ihn bewogen hat, nach Berlin zu kommen. So erfuhr ich, dass er hier die kommunistische Bewegung zu studieren beabsichtigt. Er besass noch etwas über 30 Mark bares Geld. Arbeit zu bekommen, dazu war zur Zeit in Berlin für ihn keine Hoffnung vorhanden. Unterstützungsbedürftige gab es genug und andere Möglichkeiten 175

Tschechoslowakei bekamen wir viele Briefe und Telegramme von unseren Freunden. Das freute uns natürlich sehr. Die Feier dauerte zwei Tage, aber ohne Schlemmerei! So gut gestellt sind wir S.A.G. eher nicht, und wenn wir es halbwegs dazu hätten, täten wir es doch inmitten von Hungrigen. Uber vierzig hatten sich eingefunden. Aber die Freude ging mehr durch die Herzen als durch den Magen. Die Mitarbeiter benutzten meine Eigenart auch die meiner Frau als Stoff zu einer Theateraufführung, sie erledigten das auf eine kindliche naive Weise und freuten sich mit uns allen über die aufrichtige Herzenswärme. Der Eifrigste und Geschäftigste unter ihnen war ein Lehrer, der noch nicht lange bei uns mitgemacht hatte. Bei ihm kam aber der Eifer nicht vom Herzen. Ich hatte von ihm gleich den Eindruck, dass er zu jenen gehört, die die S.A.G. als Sprungbrett benutzen. Mein Eindruck wurde dann auch bestätigt, als er durch uns im Polizeipräsidium einen Posten bekam und sich nicht mehr bei uns sehen Hess.

Ein Bürschchen Eines Morgens erhielt ich von einer Lehrerin, die zugleich Jugendpflege betrieb, aus Bielefeld ein Telegramm. „Ein Junge kommt zu Ihnen, er braucht viel Liebe." Das war alles, was sie mir mitteilte. Gegen 8 Uhr klopfte es an die Tür. In der Meinung, dass es wohl der neue Gast sein wird, ging ich öffnen. Vor mir stand ein Bürschchen von ungefähr 15 Jahren mit gelocktem Bubikopf, im dunkelblauen Überzieher; „Sind Sie Herr Holek?" fragte er mich in trotziger Art. „Ja," gab ich zur Antwort. „Ist das hier die Soziale Arbeitsgemeinschaft?" fragte er in demselben Tone weiter. Das bestätigte ich ihm. „Ist das auch so eine Gemeinschaft, die an jungen Leuten herumpfuscht?" „Ja," sagte ich und musste meine Lachlust überwinden. Ich Hess ihn nun hereinkommen, bot ihm einen Stuhl an und lud ihn zum Kaffee ein und war gespannt, was aus dem Kerl noch herauskommt, doch bevor er sich setzte, schlug er sich in die Brust und sagte mit Nachdruck: „Ich dulde nicht, dass jemand Fremdes an mir herumpfuscht, ich will mich aus eigener Kraft entwickeln!" „Mensch," erwiderte ich ihm lächelnd, „solche Kerle suche ich ja!" Während unseres Frühstücks fragte ich ihn, wie es Fräulein Mertgen, die so freundlich war, ihn zu schicken, geht und was sie macht usw. Dann versuchte ich in vorsichtiger Weise zu erforschen, was ihn bewogen hat, nach Berlin zu kommen. So erfuhr ich, dass er hier die kommunistische Bewegung zu studieren beabsichtigt. Er besass noch etwas über 30 Mark bares Geld. Arbeit zu bekommen, dazu war zur Zeit in Berlin für ihn keine Hoffnung vorhanden. Unterstützungsbedürftige gab es genug und andere Möglichkeiten 175

boten sich auch nicht. Das alles musste ihm zum Bewusstsein gebracht werden, bis er sich doch überzeugen liess, dass die Rückkehr in seine Heimat das Beste sein dürfte, was er dann auch tat. Der Junge schien eine übermässige Phantasie zu besitzen. Innerlich war er völlig undiszipliniert und deshalb unfähig, auf dem Wege der Ein- und Unterordnung sein Ziel zu erreichen. So musste ihm dies klar gemacht werden, dass durch die völlige Unabhängigkeit auch dann nicht viel zu erreichen sei, wenn man mit allen guten geistigen und eigenschaftlichen Gaben ausgestattet ist.Wie stark sein Geist und Charakter gewesen ist, war in der kurzen Zeit nicht möglich festzustellen. N u r das konnte man bei ihm merken, dass etwas vom geistigen Streben da war, leider aber nur in verwirrter Verfassung! Den geistigen Anstoss scheint er durch die Jugendbewegung bekommen zu haben. Die äusseren Mittel, wie Tänze usw., die der Jugendbewegung das Hauptgepräge verleihen, spielten bei ihm gar keine Rolle. Jemand soll ihm ins Ohr geflüstert haben, dass er ein begabter Junge sei, das verleitete ihn, sich jetzt schon wie ein angehender Künstler zu benehmen. Nach zwei Jahren tauchte der Bursche wieder auf. Er brachte zwei Erzählungen mit, die er selbst verfasst hatte. Die eine mit dem Titel „Wie seltsam!". Den Titel der anderen weiss ich heute nicht mehr. Beide Sachen waren phantasievoll und dramatisch aufgezogen, aber doch aus der Luft gegriffen und klangen lebensfremd. Sein Vorsatz war nun, Dramaturg zu werden. Aus dieser Absicht heraus hatte er auch einiges geschrieben und suchte nun jemanden, der ihm die Noten dazu schriebe. Mein Sohn, der als Maskenbildner für Bühne und Film Leute kannte, die ihm dabei behilflich sein konnten, führte ihn dann zu einer populären Schauspielerin, die alle Verbindungen mit Musikmenschen hatte. D a zeigte er sich auf sein Geisteskind hin sehr stolz, dass er ihr gegenüber mit seinem Stoff nicht herausrücken wollte, als sie es wünschte, denselben einmal zu lesen. Dazu benahm er sich noch sehr ungehobelt und grob, dass man ihn natürlich sitzen liess. Ich hatte das Vergnügen, mich fast jeden Tag mit ihm zu beschäftigen. Ihm ging es wie einem Vogel, der fliegen will, aber nicht kann, da seine Flügel zusammengebunden sind. Seine Wille, etwas aus sich zu machen, war gut. Aber was nutzte es, wenn ihm die grundlegende Bildung dazu fehlte. Was ihn noch bewegte, war das Interesse für die Kunst, Philosophie, Geschichte und Politik. Aber auch hier lebte er in völliger Verwirrung. Man empfand dabei eher die Lust, ihn eher ganz aufzugeben, da kaum zu hoffen war, hier je Ordnung in das Gehirn hineinbringen zu können. Alle Menschen, die mit ihm in Berührung kamen, gaben ihn als hoffnungsloses Subjekt auf. Teils, weil sie nicht genügend philosophisches Interesse an dem Fall fanden, und teil, weil sie nicht genügend Zeit hatten, sich mit ihm zu beschäftigen. Andere machten sich die 176

Sache ganz leicht. Sie schafften ihn sich vom Halse mit der Begründung, er sei ein Psychopath, es lohne sich nicht, mit ihm zu verkehren. So kamen wir beide unzählige Male in meinem Arbeitszimmer zusammen. Ich liess mir geduldig von ihm erzählen, soviel, wie er gerade Lust hatte. Zunächst gewann ich den Eindruck von ihm, als ob er durch Nietzsches Philosophien in die Begriffsverwirrung geraten sei. Denn auch er war in der Meinung befangen, dass nur die genialen Geister im Volksleben alles seien und dass alles, was sonst noch auf der Erde unter grübelt und krabbelt, nicht wert sei, dass es lebe. Bei solchen verworrenen Gesprächen tröstete ich mich im stillen mit Goethes Worten „Dass der Mensch irrt, solang er lebt" und dass gerade der junge Mensch viel und oft irrt und irren muss und dass besonders darin der Keim des Dranges nach geistigen Höhen aufzuspüren ist. Wo dies nicht ist, da gibt es nur ein gleichgültiges Hinnehmen des Lebens, wie es eben kommt. Es galt nun, meinen jungen Freund aufzuklären, dass wohl die Genies viel mehr sind als die, die da unter herumkrabbeln, die Felder pflügen, oder in den Fabriken Waren erzeugen, dass sie aber doch nicht alles seien. Um ihm dies zu beweisen, wählte ich Goethe als Beispiel, den er ja als einen Genius anerkennen musste. Auch Goethe, wie alle übrigen Genies, würden, wenn sie ihr Glück auf dem Nordpol oder unter den Eskimos versuchen wollten, mitsamt ihren Talenten verhungern. Bei uns könnten sie leben und schaffen. Das beweise, wie auch das Leben der Genies im Volksleben verwurzelt ist, wie eins das andere braucht, so dass also gar kein Grund gegeben ist, das unter den Füssen des Genies krabbelnde Volk so hochnäsig anzusehen. Die damals in der Kinderanstalt von der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Wilhelmshagen wohnende Familie von Nostitz-Wallwitz erklärte sich gern bereit, sich um den Burschen zu kümmern. Sie dachte sich die Sache so, dass er ihren Garten besorgen könnte und sich dabei weiterbilden sollte. Körperliche Arbeit mochte er aber nicht tun, dazu fühlte er sich zu genial veranlagt und meinte, wenn er das täte, würde er sich wie der kleinste Zwerg vorkommen. Sich geistig weiterzubilden, von Stufe zu Stufe aufbauend zu arbeiten, dazu war er zu undiszipliniert, auch schien es ihm ein zu langwieriger Weg zu sein. Er glaubte, es leichter und schneller zu etwas zu bringen. Konnte sich aber über dieses Etwas auch nicht klar werden. So lebte er in fortwährendem Zweifel, der zeitweise in Verzweiflung umschlug, so daß er, wenn er von dem oder jenem einen Groschen in die Finger bekam, sich durch Alkoholrausch einen sorglosen Tag machte. Dies liess ihn noch hoffnungsloser escheinen und meine Parteinahme für ihn wurde belächelt. Schliesslich gelang er Herrn von Nostitz-Wallwitz und Siemund-Schultze, ihn mit Geld zu versorgen und in die Schweiz zu schicken. Dort sollte er in 177

die Volkshochschule von Dr. Fritz Wartenweiler in Frauenfeld gehen. Da aber Wartenweiler wohl keinen Platz für ihn hatte, und ihn ohne Geld nicht behalten konnte, und man sich vorher nicht mit ihm in Verbindung gesetzt hatte, so stand der Bursche wieder blank da. Er wusste sich aber zu helfen. Er ging in Frauenfeld, St. Gallen und Zürich zu meinen Freunden und pumpte sie an. W e er deren Adressen erfuhr, wusste ich nicht. Von Zürich schrieb er mir eine Postkarte und bat um ein Paar Schuhe. Seine Adresse lautete auf ein Hotel. Ich antwortete ihm, Leute, die in einem Hotel wohnen könnten, brauchten solche Geschenke nicht. Von Frau Nostitz-Wallwitz forderte er telegaphisch das Geld für die Rückreise. Ich riet ihr aber, keins zu schicken, oder eben nur soviel, dass er bis zur deutschen Grenze kommen kann. Bald kam von ihm eine Nachricht, dass er in einer Münchener Buchhandlung eine Anstellung fände. Eines Tages durften wir uns wieder seiner Anwesenheit erfreuen. Er trieb sich nun ohne feste Wohnung und ohne festen Verdienst in Berlin herum und verdiente sich hin und wieder etwas Geld durch Berichterstattung an kommunistischen Zeitungen. War die Not am grössten, so war die Frau v. NostitzWallwitz am nächsten. Aus mir war nichts herauszuholen, obwohl er mich sehr oft besuchte und wir ernste Gespräche miteinander geführt haben. Mit dem Fahrgeld für die Strassenbahn rückte ich doch manchmal heraus. Die Zweifel über sich selbst und die Unzufriedenheit mit sich selber waren manchmal gross bei ihm. Das bewertete ich immer noch als ein gutes Zeichen. Denn Menschen, die so viel Mut aufbringen, sich mit sich selber auseinanderzusetzen, die braucht man noch nicht als hoffnungslos aufzugeben. So kam er einmal und teilte mir mit, dass ihn jemand für verrückt erklärt habe und wollte nun von mir hören, ob das wahr sei. Darauf sagte ich ihm, dass ich daran nicht glaube, dass er aber entweder eine starke Phantasie besitze oder einen psychopathischen Stich haben kann. Wir mussten uns nun erst miteinander verständigen, was Psychopathie ist und nach welchen Anzeichen man sie wahrnehmen kann. Dann kam er wieder einmal zu mir, setzte sich auf das Sofa und sann stumm vor sich hin. Man sah es ihm an, dass wer wieder unter einem Druck und in Verzweiflung war. Endlich fragte er, was ich dazu meine, ob das Leben wert sei, es zu leben und was ich dazu sagen würde, wenn in den Zeitungen stände, dass er sich das Leben genommen habe. Worauf ich ihm antwortete, dass ich das als eine feige Flucht vor dem Leben betrachten würde. Denn er habe sich das Leben nicht gegeben und habe daher auch nicht das Recht, sich dasselbe zu nehmen. Dabei unterliess ich es nicht, ihn zu erinnern, dass er es doch wagen wollte, sich aus eigener Kraft zu entwickeln usw. Es wollte ihm nicht einleuchten, dass es eine Feigheit wäre, wenn sich einer das Leben nimmt. Wieder einmal kam er, den Gruss nur so hinmurmelnd; hing seinen Uber178

zieher auf den Haken, setzte sich auf das Sofa und sprach, als wir bereits einige Worte gewechselt hatten, bewegt: „Morgen um zwölf mache ich Schluss!" Er tat mir zwar leid, doch durfte ich nun seine Worte nicht ernst nehmen, deshalb entgegnete ich: „Mensch, warum denn gerade um zwölf und nicht fünf Minuten früher oder später?" Er ging dann mit den Worten „Den Uberzieher können Sie jemandem schenken, ich brauche ihn nicht mehr", fort. Am anderen Tag kam ich nach dem Mittagessen in das neben meinem Arbeitszimmer gelegene Klubzimmer. Hier sass er am Tisch, in Gedanken versunken. „Wurm", rief ich ihm zu, „Ich denke Sie sind tot!?" Er winkte ab. Ich verstand. Er wünschte Ruhe, hatte wahrscheinlich die ganze Nacht nicht geschlafen und mit sich selber auf Tod und Leben gekämpft. Einige Wochen später teilte mir Frau v. Nostitz-Wallwitz mit, dass er ihr um Geld geschrieben hat. Sie wollte sich mit ihm bei mir treffen, was auch geschah. In meinem Beisein sagte sie ihm, dass sie ihm keine Geld geben könne, da er sich doch nur wieder einen guten Tag machen würde und übermorgen wieder blank dasässe. Wenn es ihm recht sei, würde sie ihn mit Lebensmitteln versorgen und auch, sobald er eine Wohnung gefunden habe, für einen Monat Miete zahlen. Dieser Vorschlag passte ihm jedoch nicht. Er wurde obendrein noch zornig und grob. Damit zerriss er den Faden meiner Geduld. Frau von Nostitz", sagte ich ernst und mit Nachdruck, „ich habe Sie schon oft gewarnt und gebeten, die Hände davon zu lassen. - Und Sie, Sie Wurm", bei diesen Worten wendete ich mich zu ihm „Sie haben uns schon soviel Geld gekostet wie noch kein anderer, aber Ihnen ist eben nicht zu helfen. Nun müssen wir es endlich darauf ankommen lassen, wie Sie sich durch das Leben schlagen werden. Entweder ringen Sie sich durch oder Sie gehen unter. Gehen Sie unter, so verliert die Welt an Ihnen gar nichts." Damit waren unsere Beziehungen abgebrochen. Anderthalb Jahr Hess er sich nicht mehr bei mir sehen. Nur durch Frau von Nostitz erfuhr ich, dass sie ihm hin und wieder einen Zuschuss zu der Miete gab, doch kein Geld ihm in die Hände. Nach dieser Zeit kam er dann aber doch wieder und besuchte mich. Seine Phantasie und Jugendverwirrung waren noch nicht ganz verrauscht, aber er schien nun doch mehr Kraft zu besitzen, seine Vorsätze zur Tat werden zu lassen. Seine Besserung nahm einen schnellen Lauf, so dass ich heute keinen Grund habe, mit ihm unzufrieden zu sein. In einem anständigen Zeitungsverlag hatte er eine Anstellung gefunden. Sein Verdienst ist zwar nicht gross, er kommt damit knapp aus. Auch liess er es sein, sich mit alkoholischen Getränken zu berauschen. Er liest gute Bücher, sammelt sie zur eigenen Bibliothek und freut sich über jeden Zuwachs, wobei ich, wie ich es kann, gern behilflich 179

bin. Bücher schreiben, wie vor neun Jahren, will er nicht mehr. Bücher schreiben, meint er heute, solle niemand, bevor er nicht vierzig Jahre alt ist und genügend Erfahrungen gesammelt hat. Auch das politische Leben mit seinen vielseitigen Auswirkungen sieht er nüchtern an und prüft sie auf ihren Vernunftsgrad. Propagandistische Demagogie wird gehasst. Jetzt handelt sichs noch bei ihm um die Frage, wie er sich durch Weiterbildung eine bessere wirtschaftliche Grundlage schaffen könnte. Heute kommt ihm das verworrene Leben seiner vergangenen Jahre selbst lächerlich vor. Das sind die Hauptausschnitte aus dem Leben dieses jungen Menschen. An ihm habe ich mehr gelernt, als an ein Dutzend anderen Fällen. Alle anderen Leute gaben ihn auf, ihnen wurde er lästig. Ein Fräulein sagte mir, da sie mit ihm nichts zu tun haben wollte, habe sie ihm die Tür gewiesen. So zu handeln ist allerdings leicht und bequem. Dazu braucht man wenig Kraft und keine besonderen Kenntnisse. Wehe euch, die ihr in solche Hände geratet! Ich habe einsehen gelernt, wie eine masslose Phantasie, Begriffsverwirrung und Psychopathie eng nebeneinander liegen können und wie vorsichtig man sein muss, um nicht daneben zu greifen. Als Gegenstück weise ich auf die Beschaffenheit eines anderen Jugendlichen hin. 16 Jahre alt, verliess er seine Lehrstelle bei einem Friseur in der Tschechoslowakei und kam als blinder Passagier nach Berlin. Hier trieb er sich in homosexuellen Kreisen herum, wurde von einem Mitarbeiter aufgegriffen und zu mir gebracht. Nachdem wir ihn drei Wochen lang verpflegt , verschwand er, kein Mensch weiss wohin. Nach Jahren taucht er plötzlich vor meiner Türe auf, schön gekleidet und noch fast zwei neue Anzüge und Leibwäsche in seinem Koffer. Er wollte wieder nach Berlin und seine Mutter gab ihm die letzten 500 Kronen mit auf den Weg. Kaum dass er die zwei Tage unterwegs war, war auch schon sein Geld weg. Das schien mir verdächtig. Mein Misstrauen verstärkte sich, als ich in seinen zweistündigen Erzählungen viele Widersprüche fand, was man ja nie erkennen lassen darf. Erst dann, wenn einer glaubt, sich so gut eingepuppt zu haben, dass er nicht zu sehen ist wie er wirklich sei, dann reist man ihm die Hülle herunter. Meine Frau und meine Söhne glaubten und freuten sich, dass aus dem Jungen noch ein ordentlicher Mensch geworden sei. Während er sich in unserer Wohnung im dritten Stock aufhielt, betrachtete ich mir seine Sachen, die er mir vorher gezeigt und bei mir liegengelassen hatte, etwas näher. Es waren Schriftsetzerarbeiten, meistens Plakate. Diese Arbeiten wollte er bei einem Drucker in Teplitz gelernt haben. Ausserdem lag ein Schulheft dabei, in dem er in tschechischer Schrift die Aufgaben geschreiben hatte. Nach seiner Angabe habe er einen tschechischen Kursus mitgemacht. Aber auf der Innenseite 180

war gleichfalls in tschechischer Sprache ein Stempel einer Gefängnisdirektion in Mähren aufgedrückt, mit dem Datum von vor sechs Monaten. Nun wusste ich, woher er die Sachen gelernt hatte. Als ich zum Abendbrot hinaufkam und ihn so schöne Dinge erzählen hörte, unterbrach ich ihn mit der Frage: „Was haben Sie wieder ausgefressen, dass Sie im Gefängnis sassen!?" Er bekam einen roten Kopf und schwieg. In meiner Schreibstube fragte er mich dann ganz schüchtern, woher ich weiss, dass er eingesperrt gewesen sei. Ich sagte ihm, dass es ihm ganz gleich sein könnte, woher ich das erfahren habe, die Hauptsache sei, ob das stimmt. Er fand dann Arbeit als Friseurgehilfe. Hatte aber keinen Mantel, Schere und sonstiges Handwerkszeug, natürlich auch kein Geld. Sollte ich ihm nun helfen oder nicht? Die Frage war keine leichte. In solchen fast hoffnungslos scheinenden Fällen steht man gewöhnlich wie ratlos da. Es drängt einen, den Glauben an die Menschen nicht ganz aufzugeben und eher zu hoffen, dass man gerade dadurch die Menschen wieder aufrichtet. Na, die Sache kostete nur etwas über 20 Mark! Dieser Bursche war gerade das Gegenteil von dem anderen. Kein geistiges Streben, keine Lebensprobleme bewegten seine Brust. Kavaliermäßig angezogen, Spazierstöckchen in der Hand, eine Zigarette im Mund und an seiner Seite ein schönes Mädchen, das alles war sein Lebensziel. Da wird das Helfenwollen zum Problem! Die Polizei aber schob ihn wieder ab, weil er damals wegen Umtrieben mit Homosexuellen ausgewiesen worden war, was ich jedoch nicht wusste. Somit hatte ich wieder einmal Lehrgeld bezahlt.

Arbeitslosigkeit im Klub Die Stabilisierung hatte eine Arbeitslosigkeit zur Folge. Auch von den Mitgliedern unseres Jugendklubs hatten etliche nichts zu tun. Das standen wir vor der Frage, auf welche Weise man sie wohl beschäftigen könnte, damit sie nicht verbummeln. Die nächste Gelegenheit, die sich uns bot, war, die Schuhe zu besohlen und einige Tischlerarbeiten zu machen. Die Berliner Frauenvereine und die Jugendämter sammelten Schuhe und brachten sie zu uns. Dr. Oswalt, der Stellvertreter von Siegmund-Schultze, dachte sich die Sache so, dass die Jungen so zwei Mark Taschengeld in der Woche erhalten sollten und hielt das für die Hauptsache, da sie auf diese Weise von der Strasse ferngehalten werden konnten. Es zeigte sich aber bald, dass es doch nicht so ging. Erstens hatten ihre Eltern dafür keinen Sinn und wollten, wenn schon ihre Jungen die ganze Woche gearbeitet haben, auch Geld sehen, 181

war gleichfalls in tschechischer Sprache ein Stempel einer Gefängnisdirektion in Mähren aufgedrückt, mit dem Datum von vor sechs Monaten. Nun wusste ich, woher er die Sachen gelernt hatte. Als ich zum Abendbrot hinaufkam und ihn so schöne Dinge erzählen hörte, unterbrach ich ihn mit der Frage: „Was haben Sie wieder ausgefressen, dass Sie im Gefängnis sassen!?" Er bekam einen roten Kopf und schwieg. In meiner Schreibstube fragte er mich dann ganz schüchtern, woher ich weiss, dass er eingesperrt gewesen sei. Ich sagte ihm, dass es ihm ganz gleich sein könnte, woher ich das erfahren habe, die Hauptsache sei, ob das stimmt. Er fand dann Arbeit als Friseurgehilfe. Hatte aber keinen Mantel, Schere und sonstiges Handwerkszeug, natürlich auch kein Geld. Sollte ich ihm nun helfen oder nicht? Die Frage war keine leichte. In solchen fast hoffnungslos scheinenden Fällen steht man gewöhnlich wie ratlos da. Es drängt einen, den Glauben an die Menschen nicht ganz aufzugeben und eher zu hoffen, dass man gerade dadurch die Menschen wieder aufrichtet. Na, die Sache kostete nur etwas über 20 Mark! Dieser Bursche war gerade das Gegenteil von dem anderen. Kein geistiges Streben, keine Lebensprobleme bewegten seine Brust. Kavaliermäßig angezogen, Spazierstöckchen in der Hand, eine Zigarette im Mund und an seiner Seite ein schönes Mädchen, das alles war sein Lebensziel. Da wird das Helfenwollen zum Problem! Die Polizei aber schob ihn wieder ab, weil er damals wegen Umtrieben mit Homosexuellen ausgewiesen worden war, was ich jedoch nicht wusste. Somit hatte ich wieder einmal Lehrgeld bezahlt.

Arbeitslosigkeit im Klub Die Stabilisierung hatte eine Arbeitslosigkeit zur Folge. Auch von den Mitgliedern unseres Jugendklubs hatten etliche nichts zu tun. Das standen wir vor der Frage, auf welche Weise man sie wohl beschäftigen könnte, damit sie nicht verbummeln. Die nächste Gelegenheit, die sich uns bot, war, die Schuhe zu besohlen und einige Tischlerarbeiten zu machen. Die Berliner Frauenvereine und die Jugendämter sammelten Schuhe und brachten sie zu uns. Dr. Oswalt, der Stellvertreter von Siegmund-Schultze, dachte sich die Sache so, dass die Jungen so zwei Mark Taschengeld in der Woche erhalten sollten und hielt das für die Hauptsache, da sie auf diese Weise von der Strasse ferngehalten werden konnten. Es zeigte sich aber bald, dass es doch nicht so ging. Erstens hatten ihre Eltern dafür keinen Sinn und wollten, wenn schon ihre Jungen die ganze Woche gearbeitet haben, auch Geld sehen, 181

zweitens zeigten die Jungen schon deshalb nicht viel Lust zur Arbeit. Die Arbeit nahm immer mehr zu. Die Frauenvereine schickten uns 50 - 100 Paar Schuhe. Nun kam mir das zugute, was ich in früherer Zeit gelernt hatte, als meine Kinder noch schulpflichtig waren und ich für sie jeden Sonntag die Schuhe besohlen und flicken musste. Mit den Frauen vereinen wurde ein Arbeitslohn von 1,80 Mark pro ein Paar Schuhe vereinbart. Dafür musste ich die Arbeit, das Leder und sonstiges dazu nötiges Material liefern. Ich musste mich, wenn die Arbeit bewältigt und der Preis eingehalten werden sollte, ganz anders einrichten. Es durfte dabei nicht gespielt, sondern musste wirklich gearbeitet werden. Auch das Leder durfte nicht zu teuer erkauft werden. Ich musste schliesslich so kalkulieren, dass kein Geld zugesetzt werden brauchte, abgesehen von den Räumen, die von der S.A.G. zur Verfügung standen. So vereinbarte ich mit den Jungens einen Tariflohn. Männerschuhe besohlen 60 Pfennige, Absatzflecke 10 und ein Riester auch 10 Pfennige. Ein arbeitsloser Schlosser wurde als Zuschneider angestellt. Seine Funktion war die, das zu jedem Schuh nötige Leder zuzuschneiden. Für 50-60 Mark und noch mehr wurde das Leder in ganzen Häuten gekauft. Die Jungens arbeiteten sich bald so gut ein, dass sie täglich fünf bis sechs paar Schuhe fertig machten, wogegen sie bei dem vorher erwähnten Taschengeld kaum ein Paar fertiggebracht hätten. Liederliche Arbeit musste noch einmal gemacht werden. Auf diese Weise haben wir gegen eintausend Paar Schuhe besohlt. Dieselben wurden von den Frauenvereinen an bedürftige Leute verschenkt. Auch die Quäker lieferten uns Schuhwerk und dazu noch abgetragene Kleidungsstücke für Männer, Frauen und Kinder. Meine Stube war nicht mehr nur Schreibstube, sondern auch Arbeits- und Lohnkontor und ausserdem ein Trödlerladen. Dabei erlebten wir auch manchen Spass. Einmal sollten wir durch Vermittlung der Quäker eine Kiste mit Schuhen aus Holland bekommen. Die Holländer schickten aber zwei Kisten ab. In die eine packten sie die linken und in die andere die rechten Schuhe. Gedacht war das nicht unklug! Wir bekamen wohl die Kiste mit den rechten Schuhen, die andere soll bis heute noch kommen. Wahrscheinlcih wurde sie unterwegs gestohlen. Den Dieben ging es natürlich ebenso wie uns, wir wussten nichts damit anzufangen. Zu der Schusterei kam noch eine andere Arbeit hinzu. Frau v. Siemens und eine Anzahl anderer ihr gleichen Frauen hatten sich vorgenommen, eine Dauereinrichtung für Arbeitslose zu gründen und zu finanzieren. Der gangbarste Artikel, glaubte man, seien Fussmatten aus Rohrbast und Schilf. Man suchte Räume und den, der die Herstellung übernähme. Schliesslich kam man damit zu mir. Ich hatte wenig Mut, diese Arbeit zu übernehmen. Denn ich habe sie nie kennengelernt, weder in einem Zuchthaus noch sonstwo. Ich wagte es aber 182

doch. Kaum hatte ich zugesagt, da kam ein Mann mit seiner Frau. Sie baten mich, ob ich ihnen etwas von den alten Sachen geben könnte. Beide sahen sehr ausgehungert aus und hatten auch nichts Gescheites auf ihren Leibern. Nachdem ich ihm gestattet hatte, sich auszusuchen, was sie brauchen konnten, klagte der Mann, dass er arbeitslos sei. Ich legte ihm nahe, dass er bei mir arbeiten könne, es sei zwar nicht viel, was er dabei verdienen kann, so sei es aber doch ein Zuschuss zu der Arbeitslosenunterstützung, die er von der Stadt bekomme. Als er davon erfuhr, dass Fussmatten gemacht werden sollen, sagte er mir freudig, dass er das könne. Wo er das gelernt hatte, danach brauche ich ihn nicht erst zu fragen, denn ich wusste nun schon, wer er ungefähr sei. Es war wie eine Vorsehung. Ich hatte nun ausser der Schusterei achtzehn Leute, Männer und Frauen beschäftigt. Ihr Verdienst sollte ein Zuschuss zu ihrer Arbeitslosenunterstützung sein.Den soeben erwähnten Mann machte ich, als ich mich tatsächlich davon überzeugt hatte, dass er etwas davon versteht, zum Werkmeister. Die Oberaufsicht behielt ich mir vor. Die Frauen sortierten den Bast und die Männer flochten die Zöpfe davon. Der Werkmeister, Bäcker von Beruf, machte mit einigen Burschen auf einem Bock die Matten fertig. Die Frauen bekamen 9 Mark Wochenlohn. Das Zöpfeflechten wurde im Akkord erledigt, 4 Pfennige für den laufenden Meter, für die Fertigstellung einer jeden Matte gab es 25 Pfennige. Der fleissigste und auch geschickteste war eben der Bäcker. Wenn er Zöpfe flocht, so schuf er soviel wie drei andere. Ich erlaubte ihm, auch Arbeit mit nach Hause nehmen zu können. So bekam er am Sonnabend auch über 40 Mark ausbezahlt. Die anderen verdienten 5 - 1 0 Mark. Unter ihnen befand sich ein Schornsteinfeger, der redete den anderen, nicht zu viel zu schaffen, der Magistrat müsse sich sowieso um sie kümmern. Ein anderer, der kaum für vier Mark Arbeit in der Woche lieferte, hätte alle Tage 4 Mark Vorschuss haben mögen, wenn er es von mir bekommen hätte. Sonnabend, wenn die Zöpfe abgenommen wurden, wollte der oder jener mehr Meterlängen haben, als sie tatsächlich erarbeitet hatten, so dass wir bis drei Mal nachmessen mussten, wobei sie oft nicht gar zu höflich wurden. Wenn wir nicht ganz auf der Hut waren, so wurden uns die fertigen und bereits bezahlten Zöpfe gestohlen und unter die noch zu bezahlenden gemischt. Bei der Lohnzahlung verschwand mir ein Fünfmarkschein vom Tisch. Niemand hat ihn verschwinden sehen und natürlich auch nicht genommen. Ein sehr schlimmes Unikum war aber trotz alledem der Bäcker, mein Werkmeister! So fleissig und geschickt er in der Arbeit war, so unzuverlässig zeigte er sich in seinem Charakter. Einmal kam er nicht zur Arbeit. Seine Frau kam und entschuldigte ihn, er sei krank. Ich gab ihm die Offerten von den Rohrbastgrosshandlungen, es soll gehen und sehen, wo die beste und billigste 183

Ware zu haben sei, aber er kam den Tag nicht wieder. Jemand ist ihm aber begegnet und hat auch gesehen,dass er betrunken war. Dann schickte ich ihn noch einmal. Nachmittags kam er wieder, aber betrunken, taumelte aus einem Raum in den anderen. Die anderen machten sich über ihren Werkmeister, auf den sie sowieso neidisch waren, lustig. Er wollte natürlich sein Ansehen und seine Autorität nicht preisgeben, und schon war der Streit da. Ich musste ihn schliesslich beim Schöpf nehmen, zum Tor hinausführen und ihm befehlen, dass er morgen, wenn er nüchtern geworden sei, wiederkommen solle. Am andern Morgen nahm ich ihn in meine Stube und machte ihm den Standpunkt klar, indem ich ihm mit Nachruck sagte, dass er zu jenen gehöre, die nur brav sind, solange sie kein Geld in die Finger bekämen. Wie ich nachträglich erfuhr, war er in Bäckerkreisen als Suffbruder bekannt. So wie bei uns machte er es überall. Nirgends, wo er bisher gearbeitet hatte, wollte man ihn wiederhaben. Er war nicht der erste, den ich von der Sorte kennengelernt habe. Denen ist das Trinken zur Gewohnheit und Leidenschaft geworden. Haben sie kein Geld und keinen Suff, dann arbeiten sie wie die Wilden. Das erste Geld aber ist ihr Unglück. Die grösste Sorge entstand uns mit dem Umsatz der Matten. In dem Warenhause, in dem wir sie loszuwerden hofften, besonders wenn wir mit der Empfehlung der Frau v. Siemens kamen, bot man uns 80 Pfennig für das Stück. Uns kam sie aber, auch wenn wir noch so gut eingearbeitet gewesen waren, auf zwei Mark das Stück. Die ersten im Tagelohn verfertigten Matten kamen uns sogar über 4 Mark zu stehen. Wo wir am Tage vorher als Käufer nach dem Preise fragten, wurden von uns drei Mark verlangt. Dies führte schliesslich dazu, dass die Mattenfabrikation aufgegeben werden musste, nachdem die Damen ungefähr 2500 Mark hineingebuttert hatten. Auch die Schuhsammlung hörte allmählich auf und damit auch das Schustern. Das letztere dürfte wohl von unseren Leistungen noch das Produktivste gewesen sein! Der nun durch diese Arbeit wieder in den Vordergrund gedrängte praktische Sinn trachtete nach einer andern praktischen und nützlichen Beschäftigung. Ich ging dazu über, eine Jugendwerkstatt einzurichten. Nach und nach wurden vier Hobelbänke mit anderen zur Schreinerei erforderlichen Werkzeugen angeschafft, je nach dem, wie man das Geld dazu bekam. Das war nicht nur für Knaben zwischen 12 - 14 Jahren gedacht, sondern auch für die Nachbarn, die Lust hatten, für ihren Haushalt etwas zu tun. Bei dem Handfertigkeitsunterricht kommt es mir nun nicht auf eine handwerkliche Ausbildung der Knaben an. Auch habe ich nicht kunstgewerbliches Können im Auge. Die Jungen fertigten das an, was in ihrem Haushalt brauchbar erschien. Sie beginnen mit dem Stullenbrett sowie auch mit dem Schlüsselbrett. Dabei sieht 184

man schon, wie sich der oder jener anstellt, ob er sich weiterführen lässt. Jedem steht der Weg bis zur kunstgewerblichen Leistung offen. So haben wir auch schon unter den Knaben welche gehabt, die schöne Kerbschnitzerarbeiten lieferten und sogar solche, die sich einen Bücherschrank und einen Schreibtisch bauten. O b der Junge dann zu einem Schlosser, Tischler oder sonstwo in die Lehre ging; alles, was er bei uns gelernt hatte, kam ihm auch dann zugute. Er gewöhnt sich ans Arbeiten und lernt überlegen und genau sein. Leider gibt es nur ganz wenige Eltern, die Verständnis dafür haben, die den pädagogischen Wert einsehen. Verlangt der Junge 50 Pfennige zum Holz, speist ihn die Mutter damit ab, dass sie den Kasten fix und fertig billiger im Warenhaus bekomme. Deshalb muss ich immer das Holz ohne Geld hergeben, wenn ich sehe, dass der Junge Lust und Geschick hat, etwas anzufertigen. Für derartige Zuschüsse reicht mein Lohn nicht aus, und sonst ist heutzutage für solche Zwecke schwer etwas aufzutreiben. Die Handfertigkeit wie auch die Gartenarbeit sind Beschäftigungen für die Jugend, die viel mehr pädagogische Möglichkeiten in sich bürgen als jede andere Betätigung, die noch viel mehr geschätzt, betrieben und die Jugend dafür begeistert werden müsste. Leider ist in einer Grosstadt wie Berlin fast kein Raum dafür vorhanden. Sportliche Betätigungen sind zu befürworten, aber nur insofern als sie der Gesundheitspflege dienen. Wie selten wird aber darin das richtige Mass eingehalten. Manche Leute gehen in ihrem Fanatismus für Jugendschutz soweit, dass sie sogar den Eltern verbieten möchten, Botengänge machen zu lassen. Aber im Sport kennen sie in der Leistung keine Grenzen. Da kann sich der Junge Lungenschwindsucht holen, kann durch Uberspannung seiner Kräfte nervös oder herzkrank werden. Sagt man diesen Jugendführern so etwas, dann gilt man in ihren Augen nur als altvaterisch und verknöchert. Möge man mich meinetwegen für derartig halten, ich sage doch, was ich sehe, nämlich das, dass auch Sportführung in den meisten Fällen mehr an der Stillung ihres persönlichen Ehrgeizes gelegen ist, als an der Gesundheit des Geführten. Vom Ehrgeiz getrieben, wollen sie der Welt zeigen, wie unter ihrer Leitung grosse Leistungen erzielt werden. Dieser Geist, der der Gesundheit der Jugend dienen soll, ist aber ungesund.

In Wien und in Prag Ausser all den zuletzt aufgezählten Dingen tat die S.A.G. in ihren Räumen noch eine andere gute Sache. Sie gewann durch den seit 1919 bestehenden Versöhnungsbund Beziehung nach England, Holland, Schweiz, Amerika usw. zu gleichgesinnten Menschen und zu der Mitwirkung der Quäker. Auf diese Weise wurde sie instandgesetzt, bekam Geld und Lebensmittel, und konnte Ar185

man schon, wie sich der oder jener anstellt, ob er sich weiterführen lässt. Jedem steht der Weg bis zur kunstgewerblichen Leistung offen. So haben wir auch schon unter den Knaben welche gehabt, die schöne Kerbschnitzerarbeiten lieferten und sogar solche, die sich einen Bücherschrank und einen Schreibtisch bauten. O b der Junge dann zu einem Schlosser, Tischler oder sonstwo in die Lehre ging; alles, was er bei uns gelernt hatte, kam ihm auch dann zugute. Er gewöhnt sich ans Arbeiten und lernt überlegen und genau sein. Leider gibt es nur ganz wenige Eltern, die Verständnis dafür haben, die den pädagogischen Wert einsehen. Verlangt der Junge 50 Pfennige zum Holz, speist ihn die Mutter damit ab, dass sie den Kasten fix und fertig billiger im Warenhaus bekomme. Deshalb muss ich immer das Holz ohne Geld hergeben, wenn ich sehe, dass der Junge Lust und Geschick hat, etwas anzufertigen. Für derartige Zuschüsse reicht mein Lohn nicht aus, und sonst ist heutzutage für solche Zwecke schwer etwas aufzutreiben. Die Handfertigkeit wie auch die Gartenarbeit sind Beschäftigungen für die Jugend, die viel mehr pädagogische Möglichkeiten in sich bürgen als jede andere Betätigung, die noch viel mehr geschätzt, betrieben und die Jugend dafür begeistert werden müsste. Leider ist in einer Grosstadt wie Berlin fast kein Raum dafür vorhanden. Sportliche Betätigungen sind zu befürworten, aber nur insofern als sie der Gesundheitspflege dienen. Wie selten wird aber darin das richtige Mass eingehalten. Manche Leute gehen in ihrem Fanatismus für Jugendschutz soweit, dass sie sogar den Eltern verbieten möchten, Botengänge machen zu lassen. Aber im Sport kennen sie in der Leistung keine Grenzen. Da kann sich der Junge Lungenschwindsucht holen, kann durch Uberspannung seiner Kräfte nervös oder herzkrank werden. Sagt man diesen Jugendführern so etwas, dann gilt man in ihren Augen nur als altvaterisch und verknöchert. Möge man mich meinetwegen für derartig halten, ich sage doch, was ich sehe, nämlich das, dass auch Sportführung in den meisten Fällen mehr an der Stillung ihres persönlichen Ehrgeizes gelegen ist, als an der Gesundheit des Geführten. Vom Ehrgeiz getrieben, wollen sie der Welt zeigen, wie unter ihrer Leitung grosse Leistungen erzielt werden. Dieser Geist, der der Gesundheit der Jugend dienen soll, ist aber ungesund.

In Wien und in Prag Ausser all den zuletzt aufgezählten Dingen tat die S.A.G. in ihren Räumen noch eine andere gute Sache. Sie gewann durch den seit 1919 bestehenden Versöhnungsbund Beziehung nach England, Holland, Schweiz, Amerika usw. zu gleichgesinnten Menschen und zu der Mitwirkung der Quäker. Auf diese Weise wurde sie instandgesetzt, bekam Geld und Lebensmittel, und konnte Ar185

beitslose oder zu Invaliden gewordene Menschen monatelang speisen. So wurde auch das getan, was gegenwärtig am notwendigsten erschien und was die Menschlichkeit erfordert. Erwägungen, ob und wann grössere und heilbringende Ideen verwirklicht werden sollten, schoben wir einstweilen auf oder wir überliessen es den des praktischen Sinnes braven Illusionisten. Nach dieser so erlebnisreichen Zeit sollte sich endlich auch mein langersehnter Wunsch erfüllen, meinen ältesten Sohn in Wien zu besuchen, Wien, das Herz des einstigen österreichischen Staates zu sehen. Unterwegs gedachte ich in Aussig an der Elbe in Nordböhmen, wo ich 20 Jahre meines Lebens zugebracht und wo noch vier von meinen Geschwistern leben, meine Fahrt für einige Tage zu unterbrechen. Ferner wünschte ich die hunderttürmige Hauptstadt Prag, die Mutter Tschechiens (Matiee ceska), wie die Tschechen sie besingen, zu sehen, wo ich zwar schon zwei Mal gewesen war, aber doch nur einige Stunden. Da aber zu dieser Reise mein Geld sehr knapp war, musste ich mir anders zu helfen suchen. Ich setzte mich mit den Arbeiterorganisationen in Aussig und mit meinen Freunden in Prag und Wien in Verbindung. So sprach ich dann in Aussig und in den drei umliegenden Orten in sechs Versammlungen über die Geschichte der Arbeiterbewegung in Nordböhmen aus meinen Erinnerungen, wofür ich kleine Honorare bekam. Die 12 Tage, die ich hier verweilte, nützte ich mit Besuchen meiner gleichalterigen politischen Freunde von damals aus. Auf derselben geistigen Stufe, wie ich sie vor dreissig Jahren verlassen hatte, fand ich sie wieder. Gealtert, die Gesichter verzerrt, griessgrämig, ratlos in die Verhältnisse schauend, hoffnungslos in die Zukunft gebeugt, so sassen sie da. Die tschechischen und die deutschen Genossen miteinander unzufrieden, organisatorisch getrennt, verschiedener Meinung über politische und taktische Fragen, über den Weg zur politischen Macht, keiner wollte an den Misserfolgen schuld sein, man schob die Schuld dem oder jenem Führer zu und schimpfte über sie. So kommt es, wenn die Menschen in ihrer Jugend nicht gründlich denken gelernt haben und auch später es für bequemer halten, sich von der Meinung anderer führen zu lassen. Dann bleibt eben nichts anderes übrig, als durch das Grab die Erlösung zu erhoffen. In Wien sprach ich im Settlement, Versöhnungsbund, im Volksheim, im Sozialdemokratischen Bildungsinstitut, in einer Gewerkschaft, in sozialdemokratischen Versammlungen und im Verein für Jugendgerichtshilfe. Ein jeder Vortrag musste immer dem Zweck des Vereins Rechnung tragen . So sprach ich über „Geschichte der Arbeiterbewegung in Osterreich", „Wie habe ich mich als Arbeiter weitergebildet", „Völkerversöhnungsarbeit", „Soziale Arbeit", „Jugendschutz" usw., das waren die zu behandelnden Gegenstände. Das Volksheim, in dem ich sprach, war eine Volksuniversität. Wie der Lei186

Wenzel Holek, 1919

ter mir sagte, machten die Arbeiter 53 Prozent der Hörerschaft aus. Wie ich mich noch anderwärtig erkundigte, hatte ich den Eindruck, als ob die Allgemeinbildung unter der Wiener Arbeiterschaft mehr Anerkennung gefunden hatte als in Berlin. Die Volksheime, deren es in allen Stadtbezirken gibt, bestehen ja schon über dreissig Jahre. Sie wurden von Prof. Hartmann gegründet. In Prag holte mich mein Freund Pitter mit seinen Gesinnungsfreunden Tue und den beiden Schwestern Hornhofer ab. Pitter betrieb ungefähr dieselbe soziale Arbeit wie wir in Berlin. Er ging, wie mir schien, grundsätzlich und methodisch noch tiefer als wir. Man kann ihn einen christlichen Kommunisten nennen. Ausser der Klubarbeit hielt er in der russischen Kirche jeden Sonntag abend eine Andacht und eine Ansprache ab. An einem Wochentag gegen Abend stellte er sich auf irgendeinem Marktplatz auf einen Stuhl und redete zur Masse. Einzelne, aus der Masse gewonnene, bildeten den Kern der Bewegung. Diese mussten aber auf den Genuss von alkoholischen Getränken verzichten und noch andere Regeln einhalten. Gerade als ich bei ihm war, sprach er auf einem solchen Marktplatz zu der Menge, es war ein Dienstag abend. Seine Rede begann mit den Worten: „Meine lieben Freunde! Am letzten Sonntag feierte man überall den Namenstag des heiligen Wenzel. Man ass Gänsebraten, Knödel mit Sauerkraut, trank Bier, Schnaps und Wein und glaubte somit den Namen eines Mannes zu heiligen, der erhaben über solche Schlemmereien stand. Wisst Ihr, wer der heilige Wenzel gewesen ist? Er war der erste Abstinent und bemüht, sein Volk in diesem Geiste zu führen und zu erziehen." Mehr konnte ich nicht hören, weil mich Tue, der Sekretär des deutschen Versöhnungsbundes zu einem Vortrag über Völkerversöhnungsarbeit abholte. In einer von Pitter einberufenen Versammlung erzählte ich aus meinem Leben, musste aber tschechisch reden, was ja noch leidlich ging. Fand ich einzelne tschechische Worte nicht schnell genug, sagte ich es in deutsch und Pitter übersetzte es. Am Tage führte mich mein Freund Pitter herum und zeigte mir die wichtigsten historischen Sehenswürdigkeiten. Die erste war das alte Rathaus mit seinen Türmchen und historischen Bildern, vor dem Rathaus die Statue von Johan Hus. In dem aus gelben Steinfließen bestehenden Bürgersteig vor dem Rathause waren in zwei Reihen 27 Kreuze aus roten Fließen eingelegt und zwei Schritt davon ein grosses Kreuz, auch in roter Farbe. Mein Freund erzählt mir mit erfurchtsvollem Gesichtsausdruck, dass hier im Jahre 1621 und zwar am 12. Juni 27 tschechische Herren hingerichtet worden sind. Das grosse Kreuz zeigt die Stelle des Scharfrichters und die anderen, dass da die Verurteilten standen. Dann drehte er sich nach Huss um und erklärte mit Begeisterung: „Sehen Sie, wie das tschechische Volk von der Macht des klerikalen Adels und der katholischen Kirche unterdrückt zu 188

seinen Füssen liegt, sich aber unter dem Einfluss seines Geistes wieder erhebt. Neben uns stand ein sehr altes Ehepaar und hörte auch zu. Sie wandten sich dann mit den Worten von uns ab: „Aber recht war es nicht, dass die Revolution die heilige Maria Mutter Gottes von hier wegschaffte!" Die Katholiken hatten nämlich noch in der Vorkriegszeit aus Protest gegen das Husdenkmal eine ebenso grosse Statue der Maria gegenübergestellt. Von hier gingen wir über die Steinbriicke nach dem Hradschin. In der Mitte der Brücke sieht man den Johann von Nepomuk mit fünf Sternen über dem Haupt. Der soll vom König Wenzel dem Vierten von dieser Stelle aus in die Moldau geworfen worden sein, weil er als Beichtvater nicht verraten wollte, was dessen Frau ihm gebeichtet hatte. Die aus dem 14. Jahrhundert stammende Burg ist architektonisch nicht besonders. Imposanter erscheint die daneben stehende Kirche mit dem hohen Turm und mit den vielen Grüften der früheren böhmischen Könige. Ein Habsburger König war nicht dabei. Die Tschechen hatten ihn nach der Revolution gewiss hier nicht mehr geduldet. Unter dem hohen Kirchengewölbe fühlte man sich viel kleiner als unter dem Himmelszelt. Daran merkte man, wie es doch die katholischen Kirchenväter verstanden hatten, auch durch den Bau der Räume den Menschen ihre Nichtigkeit zu suggerieren. Mein Freund war kein nationaler Chauvinist und doch merkte ich, wie leicht er sich begeistern konnte, wenn er mir die vergangenen Dinge erklärte. Ich konnte es ihm nachfühlen, weil ich in meinem reiferen Jugendalter eine ganze Reihe Bücher über die Hussitenbewegung, über ihre Kriegszüge, Strategien, über Johann Ziska und seine Kriegskunst, wie auch über Johann Hus, sein Wirken für das Volk und den Kampf gegen die damalige römisch-katholische Reaktion und über seinen Tod in Konstanz gelesen hatte. Alles, was ich hörte und sah, brachte mir zum Bewusstsein, dass in dem Stolz der Tschechen auf ihre Vergangenheit doch eine Berechtigung liegt. Ihre Vorfahren kämpften doch für Recht und Freiheit. Mit einer solchen ruhmreichen Vergangenheit können sich die Deutschen des alten Österreichs nicht rühmen. Diese Deutschen haben ausser im Jahr 1848 als Volk fast keine Geschichte gemacht. Sie waren von jeher von der Habsburgischen Monarchie begünstigter und so mitregierender Stamm, der um diesen Preis wiederum die deutschen Habsburgischen Herrscher stützte. Der Adel, die Stütze des Thrones und Altars, war auch überwiegend deutsch. Unter den Fittichen der deutschen Monarchie fühlte sich der Adel wie das Deutschtum geschützt und bevorzugt. Sie stiegen und fielen beide mit der Monarchie. Das Gerede von dem Anschluss des jetzigen österreichischen Staates an Deutschland kommt mir bei den einen als unaufrichtig und bei den anderen als zu grosser Idealismus vor. Unter den Deutschen des ehemaligen 189

Österreichs wird noch lange nicht der Wunsch auslöschen, nach dem früheren Zustand zurückzukehren. Würde man sie vor die Wahl stellen, ob sie den Anschluss an Deutschland oder an das frühere Osterreich wiederhaben wollten, sie würden gewiss das letztere wählen. Nun sind die Tschechen die Herren im Hause! Die wollen weder mit den Habsburgern noch mit tschechischen Königen Geschichte machen. Sie haben erreicht, was sie seit Jahrhunderten sehnsüchtig erstrebten. Das Tschechische Staatsrecht. Natürlich sind die Tschechen nach ihrer grossen Errungenschaft nicht weniger chauvinistisch wie es früher die Deutschen waren. Auch sie möchten alles tschechisieren, wie die Deutschen am liebsten alles germanisiert hätten. Beides ist ein Unrecht und hat nichts mit der Venunft zu tun. Beide Teile sollten sich mit den geschichtlich gegebenen Tatsachen abfinden und Existenzrecht für beide schaffen. Wenn die Tschechen nach dem Fall der Monarchie den deutschen Adel enteigneten und nun die Landgüter parzellieren, so war nicht die soziale Einsicht der Beweggrund dazu, sondern die politische Voraussicht, dass sie für immer einen politischen Feind im Lande hatten, sobald sie ihm nicht die wirtschaftliche Macht genommen hätten. In rein tschechischen Wohngebieten wirkt sich der Nationalstolz noch nicht so aus wie in den mischsprachigen, wo die Tschechen in Minoritäten leben, wie z.B. in Nordböhmen, Aussig, Teplitz usw. Die fühlen sich jetzt als der herrschende Stamm. Hier spielt sich das Leben reibungsvoller ab als sonstwo. Da vergelten die Tschechen den Deutschen gern das, was sie früher durch sie gelitten haben. Wann und wie diese beiden Volksstämme zur Vernunft gelangen, sich vertragen und ihr Leben auf dem Prinzip der Gleichberechtigung aufbauen können, wird sehr viel von der Vernunft der Volksführer und regierenden Männer abhängen. Das waren so die Eindrücke, die ich aus meinem früheren Vaterlande mitbrachte. Als ich nach Hause kam, wurde mir die Einbürgerungsurkunde zugestellt. Meine Frau und ich sowie meine beiden jüngsten Söhne wurden Preussen. Die Sache sollte 500 Mark kosten, wurde aber dann auf 250 Mark ermässigt. Ich zahlte den Preis, weniger um mich, als um die beiden Jungen. Sie waren in der Tschechoslowakei fremd, kannten die Sprache nicht und hätten dort Soldat spielen müssen. Auf dem Polizeirevier wirkte die Einbürgerung wie ein Ereignis. Die Beamten sahen mich sofort für voller an. Als ich nach einigen Tagen einem von ihnen begegnete, sagte er mir, dass man sich als Preusse wohl ganz anders fühlt. „Na und wie!" antwortete ich ihm.

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Menschliche Naturen Unser früherer Mitarbeiter und mein Freund Hublow schrieb mir, er sei in Freiburg i. Breisgau im Gefängnis mit einem Sträfling bekannt geworden. Er hatte 6 Jahre und 6 Monate Strafe zu verbüsen, es sollte ihm aber für die restlichen sechs Monate Bewährungsfrist gewährt werden, sobald er eine Stelle nachweisen könnte, die sich seiner annehme. Er fragte mich in seinem Briefe, ob ich diesen Fall übernehmen möchte. Er habe dem Manne meine Biographie zu lesen gegeben und er möchte zu niemand anderen als zu mir. Von der Heilsarmee, an die man ursprünglich gedacht, wollte er nichts wissen. Begeistern konnte ich mich für die Sache nicht gerade. Ich antwortete meinem Freund, dass ich um ähnliche Fälle nicht in Verlegenheit sei, er soll sehen, seinen Mann irgendwo anders unterzubringen. Aber eines Tages war eben der Mann da. Es war ein mittelgrosser Mensch mit einem ziemlich breiten Kopf und Gesicht und mit fuchsartigem Gesichtsausdruck, 35 Jahre alt, in Dresden geboren. Er kam mir so unverhofft und so unerwünscht wie eine Wasserwelle, vor der ich ratlos stand und nicht wusste, wie ich sie zu leiten beginnen sollte. Die allernächste Frage war die: Hat er Geld, was soll er tun, um zu leben und wo soll er wohnen! ? So überraschend wie seine Ankunft war, so hinreisend zeigte sich auch sein Redestrom, so dass man sich sehr zusammennehmen musste, um nicht mitgerissen zu werden. Er erzählte wie ein Buch zwei Stunden lang, oft mit dramatischer Darlegung, um die Sache eindrucksvoller und glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Und es blieb weiter nichts übrig, als sich über seine Äusserungen zu wundern, mit dem Kopf zu schütteln und hin und wieder „Ist es möglich" zu sagen. Er ist auch im Kriege gewesen, ist mit seinen Vorgesetzten zusammengeraten, wurde über ihr ungerechtes Handeln empört und schliesslich auch handgreiflich und kam ins Gefängnis. Auch nach dem Kriege kam er ins Gefängnis, wusste aber nicht warum. Der Gefängnisdirektor war ein Schweinehund. Er gab ihm zu wenig und zu schlechtes Essen. Das machte ihn einmal so rasend, dass er den Aufseher niederschlug. Alles, was er da erzählte, wimmelte von Widersprüchen.Aber es wäre sinnlos gewesen, sich mit ihm über die Wahrhaftigkeit dessen, was er sagte, auseinanderzusetzen. Mit seiner Renommage mit dem Aufseher, vermutete ich nur seine schlaue Absicht, mir zu zeigen, was für ein Draufgänger er sei, dass er zu allem imstande ist und deshalb auch ich vor ihm Angst haben sollte. Aus seinem früheren Lebens war nichts zu erfahren. Nur soviel Hess er in seiner Redseligkeit durchblicken, dass er auch Berlin kenne, indem er seine Mütze abnahm und sagte: „Sehen Sie, ich brauche niemanden zu belästigen und um Gnadenbrot zu bitten, ich brauchte nur zu meinen Freundem am Alexander Platz zu gehen, meine Mütze hinhal191

ten und zu sagen, helft, so und so geht es mir. Aber das will ich nicht. Ich will ein anderes Leben beginnen!" Damit gab er mir zu erkennen, wer er ungefähr war und ich freute mich im stillen, es erfahren zu haben. Da er nun einmal hier war, fragte ich mich schliesslich, was er anfangen und wo er schlafen soll. Sein Vorsatz war, abends in den Gastwirtschaften mit Salzstangen und Pfannkuchen zu hausieren. Da glaubte er so fünf bis sechs Mark täglich verdienen zu können. Das schien mir kein übler Gedanke zu sein. Dieses Geschäft war mir nicht unbekannt und es bedurfte auch nicht viel Betriebskapital. Als wir aber an die Verwirklichung dieses Planes gingen, da bekannte er erst Farbe, dass er nur noch sechs Mark besitze und diese dazu nicht reichen. Denn dazu hatte er einen Korb, eine weisse Schürze und eine Mütze nötig und die Ware musste auch gleich bezahlt werden. So blieb mir nichts anderes übrig, als mit 20 Mark einzuspringen. Schlafen sollte er auf dem Sofa in meinem Arbeitszimmer, bis sich eine Schlafstelle für ihn fände. Das Geschäft ging tatsächlich so, wie wir es vorausgesetzt hatten. Es mischte sich aber etwas anderes darein. Einmal wollte er ein falsches Dreimarkstück und das andere Mal wieder ein falsches Geldstück angedreht bekommen haben. Ich hatte den Eindruck, als spekuliere er, dass ich es ihm ersetze, deshalb reagierte ich darauf nur mit einer Warnung, ein andermal besser aufzupassen. Da er im Gefängnis die Buchbinderei erlernt hatte, und ich mich an den Büchern, die er mir zeigte, überzeugen konnte, dass er sauber und auch gut arbeitet, sah ich die Möglichkeit, ihm zu einer weiteren Verdienstmöglichkeit zu verhelfen. Ich kaufte eine Buchbinderpresse mit den nötigen Brettern, eine Heftlade und das übrige Buchbinderwerkzeug. Alles zusammen kostete mich rund 80 Mark. Er sollte am Tage die Buchbinderei betreiben und abends die paar Stunden mit den Salzstangen hausieren, bis genügend Buchbinderarbeit und auch Geld vorhanden ist. Zu diesen Auslagen kamen auch noch die für das Papier. Damit er sich noch schneller erholt, vermittelte ich ihm von der Arbeitslosenspeisung des Jugendamtes, die bei uns für arbeitslose Jugendliche eingerichtet war, das Essen; so bekam er sein Mittagessen und am Nachmittag auch Kakao. Es währte nicht lange, da bekam er gleich im Nebenhause eine Schlafstelle bei einem jungen Ehepaar. Die Sache schien sich zur Zufriedenheit zu entwikkeln. Die letzte Sorge war die, ihm auch soviel Kunden werben zu können, damit er auch immer zu tun habe. Er selbst machte sich auch sehr bald in der Nachbarschaft bekannt. Durch sein klebriges Benehmen, seinen Redefluss und dadurch, dass er sich von verschiedenen Wissensgebieten einige Brocken angeeignet hatte und vor unwissenden und leichtgläubigen Menschen damit rennomierte, was oft bis in die Zauberei mündete, hielt ihn ein jeder für einen 192

sehr gescheiten Kopf. Er wagte es sogar, zu den Vorträgen des Akademisch Sozialen Abends zu gehen und als Diskussionsredner aufzutreten. Vor allen anderen schien ihm viel daran zu liegen herauszubekommen, was speziell mich wohl am stärksten interessiert. Denn er war pfiffig genug, als dass es ihm entgehen konnte, wie abwartend ich mich ihm gegenüber verhielt. Eines morgens kam er freudevoll zu mir, mit einer langen Liste von Notizen, die er sich am Abend vorher in der Diskussion des Akademisch Sozialen Abends gemacht hatte. Er glaubte nun den Weg zu mir gefunden zu haben, weil er mich in der Diskusion reden hörte, in der Hoffnung, dass wir eine gemeinsame Sache vertreten. Den Herren sollte das nächste Mal der Kopf gehörig gewaschen werden, meinte er. Er stutzte aber nicht wenig, als ich ihm sagte, dass mich das, was und wieviel er wisse, gar nicht interessiere, dass für mich nur das in Frage komme, wie er sich im Leben durch sein Handeln zeige. Das sei das sicherste Barometer, das uns anzeigt, wie der Mensch tatsächlich ist. Nachdem die Buchbinderei eingerichtet war, fand er an dem Hausieren mit den Salzstangen keinen Gefallen mehr und gab es auf. Er wollte sich nun nur noch mit dem Einbinden von Büchern beschäftigen. Aber da war es, wie ich merkte, mit der Lust nicht weit her. Er lief mehr herum als er arbeitete. Die Kunden, denen er immer meinen Namen nannte, um ihr Vertrauen zu gewinnen, kamen mit Beschwerden, dass er die Arbeit zu versprochener Zeit nicht geliefert hat. Und so musste ich den Burschen nach einem jeden solchen Fall ins Verhör nehmen. So gefährlich, wie er sich am Anfang unserer Bekanntschaft tat, war er auch nicht. Eines morgens - ich kochte gerade in der Küche Leim ab - kam er wieder zu mir, stellte sich wie zusammengebrochen, demutsvoll und sprach mit wehmutsvoller Stimme: „Vater Holek, das Leben ist doch nicht so leicht, wie ich es mir dachte!" „Was!" sagte ich barsch, „Sie scheinen die bürgerliche Freiheit nicht zu vertragen. Hinter Ihnen muss, wie ich sehe, immer der eiserne Zwang stehen, wenn Sie arbeiten sollen!" „Ja, es ist schwerer als ich es mir vorstellte!" jammerte er weiter, „ich habe Ihr Vertrauen missbraucht und — „Woher wollen Sie wissen", fuhr ich ihm ins Wort, „dass Sie mein Vertrauen hatten? Sie täuschen sich!" „Ich habe Schulden, dann — „Schulden!" rief ich ihm verwundert zu, „Wozu Schulden? Sie haben zu essen, eine billige Wohnung. Sie brauchen nur zu arbeiten. Ich sehe schon, Sie sind einer von jenen, die nur im Gefängnis leben können!" Er entfernte sich, ohne ein Wort zu entgegnen. Es war schon nachmittags vier Uhr und der Kerl hatte sich noch nicht sehen lassen. Die Bücher standen noch so in der Presse eingespannt wie am Morgen. Die Sache schien mir verdächtig. Deshalb schickte ich meinen Sohn zu seiner Logierfrau, er sollte se193

hen, ob er da ist. Er war aber über alle Berge. Er hatte sich noch den besseren Anzug angezogen, Hess den Arbeitsanzug in der Wohnung und flog fort. Der Frau soll er noch 20 Mark gestohlen haben. Das konnte ich glauben oder auch nicht. Denn sie und ihr Mann waren ebenso unzuverlässige Menschen wie ihr Schlafbursche. Der Mann hatte auch schon wegen Diebstahls einige Male Bekannschaft mit dem Gefängnis gemacht. Als seine Flucht in unserem Umkreis bekannt wurde, meldete sich ein Beschäftigter nach dem anderen, die von ihm um 10 oder 15 Mark angepumpt wurden. Kurz, die Gesamtsumme betrug 85 Mark. Eine Anzeige bei der Polizei zu machen, fiel mir nicht ein. Habe ich doch schon in eineigen Fällen vorher erfahren, dass die Polizei wohl eine Anzeige gefälligst aufnimmt, sich aber nicht weiter um solche Kleinigkeiten kümmert, und eine Vergeltung nach dem Buchstaben des Strafgesetzes war auch nicht der Zweck meiner Arbeit. Ich schrieb zunächst an seinen Vater in Dresden, der dort als ein reicher Rentner leben sollte, um ein vollständiges Bild von ihm zu bekommen. Ich schilderte ihm den ganzen Sachverhalt seines Sohnes, so wie es sich zugetragen hatte. Aus seiner Antwort ersah sah ich, dass ich es nicht mit einem reichen Rentner, sondern mit einem Sozialrentner zu tun habe, aber doch mit einem ehrlichen Menschen. Sein Sohn, den er schon seit 19 Jahren nicht zu sehen bekommen hatte, kam bei seiner Flucht zu ihm. Er soll wie ein von Reue zusammengebrochener Sünder vor seiner Tür erschienen sein. „Lieber guter Vater! Neunzehn Jahre lang habe ich mich, ich ungeratener Sohn, bei Dir nicht sehen lassen. Verstösse mich nicht und lasse mich über Deine Schwelle!" Der Vater hatte keinen Platz für ihn, seine Wohnung war zu klein. Er gab ihm aber von seiner spärlichen Rente fünf Mark und ein Paar getragene Schuhe. Dann zeichnete mir sein Vater seine Familienverhältnisse auf. Er habe als junger Mann in Dresden eine junge Fabrikarbeiterin kennengelernt. Sie sei eine leichte Ware gewesen, das habe er erfahren, hätte sie aber trotzdem geheiratet, in dem Glauben, aus ihr eine ordentliche Frau zu machen, sie zu retten. Jedoch habe er sich getäuscht. Sie blieb unwirtschaftlich, liederlich, faul und trieb sich hinter seinem Rücken mit anderen Männern herum, und hatte auch Neigung zum Diebstahl. Ihr Sohn sei wahrscheinlich durch sie erheblich belastet. Er habe ihn zweimal in die Lehre gebracht. Aber jedesmal wurde er wegen Diebstahl entlassen. Dann sei er verschwunden und habe sich jetzt erst Wiedersehen lassen. Nur durch die Gerichtserkundigungen erfuhr er, wo sein Sohn stecke. Der Vater war, wie ich aus seinem Schreiben entnehmen konnte, sehr gottesfürchtig und hoffte, dass Gott den Menschen noch auf andere Wege lenken würde. Als ich in meinem zweiten Brief seine Hoffnungen anzuzweifeln wagte, schrieb er mir, dass wir einen Menschen nie ganz aufgeben sollten. 194

Schon in der zweiten Woche darauf erhielt ich von einem Studenten einen Brief, in dem er mitteilte, er habe einem Manne K... zehn Mark geliehen, der ihm eine Briefmarkensammlung als Pfand hinterlassen hätte, die ihm aber nichts nütze, da er das Geld brauche, ich soll dem Mann, der ja bei mir wohne, dazu veranlassen, ihm das Geld zu schicken. Der Mann habe sich ihm als Weltreisender vorgestellt, er käme gerade aus Japan und sei in Geldverlegenheit geraten. Bald darauf bekam ich wieder einen Brief von einem Herrn aus Grossenhain. Der hat dem K... unter irgendeinem Vorwand die Briefmarkensammlung anvertraut und fragte nun bei mir nach dem Manne an. Lange dauerten diese Schwindeleien dieses Burschen nicht, schon am Ende der vierten Woche wurde er in Potsdam verhaftet. Von dort erhielt ich von ihm folgenden Brief: Lieber Herr Holek! Wie habe ich Sie doch so sehr enttäuscht! und bewiesen damit, dass ich „Vater" und „Mutter" Holeks Liebe nicht verdiente. Dass ich durch die letzten zehn Jahre Sträflingsleben, für die Freiheit, so wie sie heute beschaffen ist, überhaupt untauglich geworden bin. Und doch, O, dass Sie mir ins Herz sehen könnten, um zu erkennen, wie unsagbar ich gelitten, seit jener Stunde, da ich von Ihnen, lieber Vater Holek, nimmer verstanden, oder wohl auch nicht ernst genommen wurde. So liess ich alles hinter mir. Warf alles fort. Die Art, in der das geschah, wird Ihnen wohl gleich gesagt haben, dass ich den Kopf verlor. Ihre kurz vorher gerichteten Worte aber gaben meinem Wollen eine andere Richtung und ein anderes Ziel. Nicht nach Freiburg über die Grenze sollte mein Weg gehen. Ach, mein „Ich" vermochte selbst hier nicht mehr seelenlos zu sein und mich wundert nur, dass ich Erinnerungen daran habe, dass ich nicht als Schmerzverrückter erkannt und längst festgesetzt wurde. Meine Schuld? Sie besteht wohl am meisten darin, dass ich Ihnen lange nicht offen genug den Grad und den Umfang meiner geheimen Leiden (Essen, Anlehnungs- und Stärkungsbedürfnis, Verlangen nach Zuneigung) gestand. Heute weiss ich genau, dass ich damit selbst auf die Katastrophe hinarbeitete. Selbst meine krankhafte Esslust wusste ich meisterhaft zu verschleiern, dass auch Sie und die Ihren auf nichts, als auf ein paar Andeutungen angewiesen waren. Mein Körper war in jenen Wochen schwer heruntergekommen. Meine ganze Lebensform schien mir entsetzlich, Umgebung, Verhältnisse, Menschen als verkörperter Wahnsinn. Ich kannte mich nicht mehr aus. Aus der Vergangenheit zur Gegenwart fehlte der Übergang, beziehungsweise die Entwicklungsperiode zu Heute. Aber was will ich eigentlich? Mich Ihnen hier als Opfer der Verhältnisse bejammern? Nein! Ihr Mitleid wachrufen, um von Ihnen nicht aufgegeben zu werden, um vielleicht später sogar noch einmal so allerhand Hilfe erhalten zu können? Nein, lieber Herr Holek! Mich treibt der Schmerz über den Verlust „Vater" 195

und „Mutter" Holeks Zuneigung. Denn die Tränen und Worte Mutter Holeks in der ersten Stunde unserer Aussprache brennen in mir. Ich kann sie nicht auslöschen. Dennoch will mir eine Bitte um Verzeihung für mein undankbares Verhalten nicht über die Lippen, denn es würde missverstanden werden. Wollen sie mir aber etwas Liebes tun (vorausgesetzt, dass Ihre Verachtung für mich nicht allzugross ist), so lassen Sie mir etwas von meinen Büchern zukommen, falls diese nicht für Schadenersatz mit allem anderen verwendet werden. Da ich mit 40 Pfennig in der Tasche verhaftet wurde, werde ich wohl auch sobald nicht schreiben können, vielmehr froh sein, wenn ich durch Gefängnisarbeit noch ohne einige Zusatznahrungsmittel verdiene. Was ich weiterhin beginne, erfasst mein Gehirn noch nicht. Meine Strafe wird jedenfalls auch jetzt wieder in Jahren ausgedrückt, was andere mit Monaten bekommen. Ich muss da erst den Punkt meiner Einstellung suchen. Da vorläufig die Behandlung eine erträgliche ist, weiss noch niemand etwas von der Bestie in mir. Und von meinen Taten als früherer Gefangener ist ζ. Z. weder dem Untersuchungsrichter noch sonst jemanden etwas bekannt. Ist meine Bitte nicht zu weitgehend, wäre ich freilich herzlich froh zu wissen, ob ich wohl auch etwas von meiner Wäsche bei Frau Leffelmacher (seine Wohnung) erhalten könnte. Beides, Bücher wie auch die Wäsche liegt mit aber nicht so sehr am Herzen, als Sie sehen zu dürfen. Und das werden Sie mir wohl nicht gewähren. Ich bin kein Feigling! Und eben deshalb möchte ich meine Strafe, so wie ich sie verdiene, lieber aus Ihren wie aus Mutter Holeks Augen lesen. Ihr unglücklicher, undankbarer Alfred K... Den Vergleich zwischen dem, was ich zu diesem Fall gesagt habe und dem, was er da schreibt, überlasse ich dem Leser. Auf diesen Brief antwortete ich, dass ich ihm wohl verziehen hätte, doch Mitleid könnte ich nicht mit ihm haben, auch dann nicht, wenn ich ihn in Henkers Händen wüsste, weil er an seinem Schicksal doch selbst die Schuld trage. Darauf bekam ich von ihm noch einen Brief, in dem er uns noch einmal für alles dankte und sich selbst entschuldigte, dass es auch bestohlen hätte. Ferner bedauerte er in ironischem Sinne, dass an mir ein Gefängnisinspektor verloren gegangen sei und meinte, ob ich denn dann nicht wüsste, dass bei jedem Menschen die Zeit komme, wo er sich bessere und alles Vergangene hinter sich lasse. Mich persönlich hatte er nicht bestohlen. Wenn er das auch in seinem Briefe behauptete, so verstand ich es so, dass er dadurch mich mit in seine Prozessgeschichte verwickeln wollte, überzeugt, dass ich ihn als Zeuge entlasten könnte. Seine und meine Briefe gingen doch durch die Hände des Untersuchungsrichters. Sein Glaube, dass auch für ihn die Zeit kommt, wo er von sei196

nen Charakterschwächen erlöst würde, kann auch nur Aberglaube sein. Es war gerade Weihnachten als mich die Grippe zum Zweikampf herausforderte. Sie war diesmal stärker als ich und warf mich ins Bett. Am zweiten Feiertag liess meine Frau einen jungen Mann herein und führte ihn zu mir. Er war ein Tscheche und kam aus Mähren, ohne Geld und Lebensmittel, Reisepass hatte er auch nicht. Ein Schüler der Volkshochschule der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Wilhelmshagen - 25 km von Berlin - begegnete ihm und gab ihm meine Adresse. Das machte die Polizei und andere Menschen auch. Auf meine Frage, wie er ohne Pass über die Grenze gekommen sei, sagte er, er habe sich einigen Grenzbewohnern, die gerade die Strasse entlang gingen, angeschlossen und kein Mensch hätte sie nach Papieren gefragt. Das konnte ich ihm glauben. Denn seine unbeholfene Ausdrucksweise und seine Schüchternheit zeigten mir, dass er zu dem mir längst bekannten Menschenschlag, wie er im Mährenlande typisch ist, gehört, wo die Menschen noch religiös-sittlich wie auch von ländlichen Traditionen gebunden sind. Was sollte ich mit ihm tun? Er verstand nur wenige Worte Deutsch. Ich gab ihm schliesslich drei Mark, mein Sohn fünf. Meine Frau gab ihm zu essen und hiess ihn bleiben. Auch wir hatten Weihnachten erlebt, wo es uns nicht besser ging als ihm. Mein Frau und Söhne gaben sich die grösste Mühe, sich mit ihm zu verständigen. Die warme Stube und menschliche Aufnahme Hessen sein Gesicht erstrahlen - er wusste nicht wie ihm geschah. Am nächsten Tag vermochte ich mich mit ihm näher zu beschäftigen. Vielleicht wäre ich sonst noch einen Tag länger liegen geblieben. Mit dem Manne musste aber etwas geschehen! Zu Hause hatte er meistens bei Bauern gearbeitet. Nun gab es dort nichts zu tun. Deshalb wollte er es in der Fremde versuchen. Als er über die Grenze gelangte, packte ihn schliesslich die Sehnsucht, das grosse Berlin und das kaiserliche Schloss zu sehen. Er ist auch Soldat gewesen, aber trotzdem noch ungeschliffen, dass seine kindliche Naivität einem Vergnügen bereiten konnte. Was er über sein Soldatenleben erzählte, bewies, dass es heute nicht besser gestellt ist wie im alten Osterreich. Wir gingen dann miteinander zum tschechischen Konsulat in der Hoffnung, dort für ihn eine Fahrkarte für die Rückreise und einen Passierschein über die Grenze zu bekommen. Er bekam aber statt dessen eine Portion Grobheiten. Er müsste wissen, dass man ohne Erlaubnis die tschechoslowakische Republik nicht verlassen dürfte, das sei sogar strafbar usw. „Kommen Sie", sagte ich zu ihm, „lassen Sie das Fräulein reden!" Jemand hatte mir Wp Mark für Unterstützungszwecke geschenkt. So wurde ich in den Stand gesetzt, ihm eine Fahrkarte zu kaufen. Hin und wieder bekam ich von ihm ein Schreiben, in dem er über dies oder jenes Auskunft verlangte. Nach einem Jahr tauchte er abermals auf und zwar 197

wieder ohne Geld und Pass. Diesmal sollte es ihm aber nicht so glatt gehen. Ich sagte ihm mit vollem Ernst und mit Nachdruck, dass er doch belehrt worden sei, dass er so nicht in die Fremde gehen darf, er sei ja kein sechzehnjähriger Junge mehr, sondern ein erwachsener Mensch, um dies zu begreifen. Und doch gab ich ihm nochmals 2 Mark mit den Worten, er solle nun sehen wie er weiter komme, auch dürfe er nicht mehr wie das vorige Mal, in meinem Arbeitszimmer schlafen. Er staunte nicht wenig über diese Wendung. Sein Vorsatz war nach Bremen zu gehen, um auf einem Schiff zu arbeiten, oder sich von den Franzosen als Legionär werben zu lassen. Seine Pläne schienen mir aussichtslos. Bemühte mich schliesslich, ihm die Sache mit der Fremdenlegion auszureden. Aber seine Antwort war immer dieselbe: „Schlechter als zu Hause kann es mir dort auch nicht gehen!" Vier Wochen sah ich ihn nicht. Dann kam er wieder und brachte zwei seiner Landsleute mit, die einmal im Zirkus Sarrasani gearbeitet hatten und sich nun der Hoffnung hingaben, wieder dort anzukommen. Der Zirkus lag aber jetzt gerade in Dortmund. Alle drei hausierten mit Brennholz und schlugen auf diese Weise ihr Leben in Berlin durch. Keiner von ihnen hatte eine Pass. Um einen Aufenthaltsschein für sechs Wochen zu erhalten, brachte jeder einen Fragebogen vom Polizeipräsidium, die sie bei mir ausfüllen wollten. Da sag ich wie human die Republik doch ist. Früher wurde man ganz einfach über die Grenze geschoben. Nach zwei Tagen kam mein Freund allein. Er wollte es bei Sarrasani als Stallknecht auch versuchen, aber die Fahrt nach Dortmund kostete 17 Mark. Er fragte mich, ob ich sie ihm leihen wollte. Dazu hatte ich nicht gerade viel Lust. Wäre schliesslich auch gleich bereit gewesen, wenn es auch etwas nützte. Um ihn in den Glauben zu versetzen, dass das Geld nie stets bereit daliegt, wenn jemand kommt, solle er am anderen Tag wiederkommen. Bis dahin wollte ich mir die Sache überlegen und sehen, ob es mir gelingt das Geld dafür aufzutreiben. Es fiel ganz zu seinen Gunsten aus. Ich glaubte auch dieses Mal wieder. Nach vierzehn Tagen erhielt ich einen Brief aus Mecklenburg. Mein Freund teilte mir mit, dass er es bei Sarrasani nur zwei Tage hätte aushalten können. Alles sei verlaust gewesen. Nun arbeite er bei einem Bauern, wo er solange bleiben wollte, bis es ihm möglich wurde, nach Bremen zu können. Im Juni erreichte mich ein Brief aus Koblenz. Er war schon ein Legionär und wartete nun auf den nächsten Transport, der ihn nach Marseille bringen sollte. Er hatte den Weg von Mecklenburg nach Koblenz zu Fuß zurückgelegt, von Marseille sollte es dann weiter nach Sidi-Bei-Abbis gehen, wo Waffenübungen stattfin198

den sollten. Auch weiterhin hatte er mich auf dem laufenden gehalten und berichtet wie es ihm ging. Die Behandlung war gut-besser als in dem Heer der Tschechoslowakei, und über die Verpflegung hatte er auch keinen Anlass zu klagen. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, welche Beweggründe es wohl gewesen sein mögen, die ihn so gewaltsam dahin trieben. Die Arbeitsnot allein konnte es nicht sein. Hatte er vielleicht ein Mädchen unglücklich gemacht, oder hat er eine Straftat begangen? Seine Eltern, bei denen ich mich erkundigte, verneinten dies. Von Sidi-Bei-Abbis berichtete er nur Gutes und war sehr begeistert über die Seefahrt. Entgegen dieses, was ich über die Fremdenlegion gehört und gelesen habe, versicherte er mir, dass das wohl früher so gewesen sein mag, heute jedenfalls sei es anders. Früher hätte das Heer der Fremdenlegion viel aus Verbrechern bestanden. Jetzt würde über einen jeden Legionär eine Personalbeschreibung geführt und ihr eine Photographie beigelegt. Es sei während seiner Anwesenheit vorgekommen, dass Vorgesetzte solche heraussuchten, gegen die Klagen geführt wurden und die etwas verbrochen hatten, um sie abzuschieben. Er sehnte sich nur noch danach, recht bald ins Feld ziehen zu können, damit ihm Gelegenheit gegeben wäre, sich durch Tüchtigkeit auszuzeichnen. Ich aber blieb trotz dieses schönen Berichte misstrauisch. Setzte auch voraus, dass es wohl, wenn man die Leute mehr nach dem Inneren des Landes gebracht haben wird, anders kommen wird. Im November sollte jeder Legionär 1000 Frank bekommen. Dann wollte er bei mir seine Schuld begleichen. Aber ich bekomme seitdem weder einen Brief noch Geld von ihm. O b er seiner Abenteuerlust bereits zum Opfer gefallen sein mag? Was kommen einem nicht alles für Dinge über den Weg gelaufen! Zu mir kommt ein mittelgroßer Mann, schüchtern und fragt mit weicher fast unhörbarer Stimme, ob ich Herr Holek sei. Seine Frage bejahend heisse ich ihn auf dem Sofa Platz nehmen. Ein Herr, den ich nur dem Namen nach kenne, soll ihn zu mir empfohlen haben. Während er mir das erzählt, öffnet er seine Aktentasche, nimmt eine Hand voll Papiere heraus und zeigt mir einen Aufsatz, der unter seinem Namen geschrieben war. Und in einem fort redet er weiter, wie schwer es heutzutage sei, etwas loszuwerden, dabei fährt er sich alle zwei Minuten stöhnend über die Stirn: „Ach entschuldigen Sie meine Nervosität!". Obwohl ich weiss was er will, lasse ich ihn aber geduldig bei seinem Erzählen den grossen Bogen machen, bis er es selbst sagt. Den Haupttrumpf versuchte er zuallererst auszuspielen: Er wohnt bei einer alten Frau in der Danziger Strasse, die hat selber nicht viel, aber sie ist so gut und teilt mit ihm alles. Wenn man also schon mit ihm kein Mitleid haben sollte, so möge man es 199

wenigsten mit ihr haben. Mit dieser Schlauheit eines Mannes glaubte er etwas zu erreichen. Ich zweifle nicht daran, dass es ihm schlecht geht, das sehe ich an seiner abgemagerten Gestalt. Deshalb reiche ich ihm drei Mark hin mit der Bemerkung: „Sie hätten statt Schriftsteller Schauspieler werden sollen!" Pfarrer Herman Kutter aus Zürich übermittelte mir einen Brief einer deutschen Schriftstellerin. Sie befand sich in einem Pensionat in Süddeutschland. Sie bat um Unterstützung oder Darlehn und zwar gleich einige tausend Mark. Da er aber der Sache nicht recht traute und auch nicht gewillt war, mit dem Gelde so ohne weiteres herauszurücken, wenn er auch welches übrig gehabt hätte, betraute, er mich mit dieser Angelegenheit, der Sache noch einmal auf den Grund gehen zu wollen. Ich schrieb ihr also. Zunächst interessierte es mich, von ihr zu erfahren, was für eine Schriftstellerin sie sei, ob sie nicht zu jenen gehörte, die es so machen wie die Fleischer, die aus alter Wurst frische erzeugen, in dem sie dieselbe durch den Wolf drehen und neue Würze daran tun. Ferner wollte ich über die Geldangelegenheit etwas näheres erfahren. Sie antwortete mir sehr empört, dass Kuttner so indiskret sein konnte, mich in ihre Angelegenheit einzuweihen. Dann konnte sie den Sinn dessen nicht fassen, dass er ihr meine Biographie schickte. Entsetzt lehnte sie die Zumutung ab, sich einfacher und billiger einzurichten, da das ihrem schriftstellerischen Rufe einen Abbruch bringen würde. Nach mehrmaligen Hin- und Herschreiben überliessen wir sie doch ihrem Schicksal. Die zuletzt beschriebenen und unerfreulichen Fälle sollen nun bei dem Leser nicht den Eindruck erwecken, als wären sie die Hauptarbeit bei uns. Wer erzieherisch, volksbildnerisch und sozial wirken will, wie wir es tun, der muss eben all diese Arbeiten, auch solche Fälle, mit in Kauf nehmen. Machmal lohnt es sich, manchmal auch wieder nicht. Sich durch einen Misserfolg zum Pessimisten machen zu lassen, wäre Unsinn! Wie oft wurde ich gefragt, ob ich denn nicht ein solcher geworden sei. Das passiert nur jenen Leuten, die so etwas mit überschwenglichem Idealismus beginnen, mit Dingen und Menschen nicht so rechnen, wie sie sind, sondern so, wie sie sie sich persönlich wünschen. Ebenso ist es mit der Methode, nach der fortwährend so eifrig gefragt und gesucht wird. Liegt darin nicht die Gefahr der Festgefahrenheit! Führt sie nicht zu der Schablone, die einen ganz so zu behandeln wie die anderen.! Die Menschen als lebendige Wesen, sind verschieden, jeder anders, und dieses Anders zu erkennen und entwickeln helfen, wenn eine Entwicklung erwünscht ist, erfordert wiederum umstellungsfähige Wesen. Auch unsere Grundsätze, an denen wir mit krampfhaftem Aberglauben hängen, werden von den vielen Böckleins und Eigenarten bald da, bald dort angefressen, so dass es oft eine Verwirrung gibt. Ich habe nur ein Ziel. Ich brauche nur die Kraft des einen und des anderen zu

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erkennen, um das Ziel zu erreichen, oder sich ihm wenigstens zu näheren. N a c h de Legard ist ein jeder neugeborene Mensch ein noch nie zuvor dagewesener Lebensprozess, was auch mit der Praxis übereinstimmt. Wie es heisst, ist auch der Mensch ein Produkt seiner Umgebung und seiner Verhältnisse, das stimmt zum grossen Teile auch. Die unermessliche Differenziertheit der menschlichen Naturen in den sozialen Verhältnissen lassen die Pädagogen nicht zur Ruhe kommen. Nirgends auf der Welt gibt es so viele Meinungsverschiedenheiten unter ihnen, wenn es sich um grundsätzliche methodische Fragen handelt. Unter den Volksbildnern ist es nicht viel anders.

Volksbildnerische Arbeit Die Soziale Arbeitsgemeinschaft hat auch eine Abendschule (man nennt sie eigentlich Abendvolkshochschule, was mir anmassend erscheint - aber doch modern klingt!) also eine Volkshochschule in Wilhelmshagen mit einem Kinderheim, Psychopatenheim und einer Haushaltsschule eingerichtet. Aus der Abendschule seien hier einige Programmpunkte angeführt: Vorträge: Wie habe ich mich als Arbeiter weitergebildet? Warum gibt es so viele Arbeitslose? Die moderne Technik und ihre Zukunftsmöglichkeiten. Kurse: Die politischen Ideen und die gegenwärtigen Parteien in Deutschland; Wohnungsnot, Bodenspekulation und Siedlungsmöglichkeiten; Deutschland und seine Nachbarn; Berlins städtebauliche Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung des Wohnungswesens; Volksbildung und soziale Arbeit. Ferner gibt es Kurse für Englisch, Französisch und andere praktische Dinge. Auch die volksbildnerische Arbeit hat mit sehr viel Schwierigkeiten zu rechnen. Die geistig führenden Kreise sehen, wie die mangelhafte Bildung des Volkes in allen Lebenslagen den Fortschritt hemmt. Sie bemühen sich, diesen Zustand durch Vorträge, Kurs und Bibliotheken zu beheben. Aber es geht verzweifelnd langsam vorwärts. D a s Volk will den Segen der Bildung nicht einsehen, sich gut oder falsch führen zu lassen ist bequemer! Manche lassen sich an den Haaren heranziehen und laufen dann wieder davon. Andere kommen guten Willens, bröckeln aber auch wieder einer nach dem anderen ab, wenn sie merken, dass die selbstbildnerische Arbeit doch nicht so leicht ist, wie sie glaubten, und dass der Weg nach dem gewünschten Ziel unabsehbar lang ist. Ja, und was sollen ihnen die sogenannten Geisteswissenschaften wie Philosophie, Entwicklungslehre, Geschichte, Nationalökonomie usw. bei ihrem Schraubstock oder Hobelbank nützen? Sie bleiben doch nur solange sie leben Arbeiter, ob sie das wissen oder nicht. So bleiben also nur jene übrig, die sich aus den Inneren heraus dazu getrieben fühlen, dies und jenes zu erfahren und 201

erkennen, um das Ziel zu erreichen, oder sich ihm wenigstens zu näheren. N a c h de Legard ist ein jeder neugeborene Mensch ein noch nie zuvor dagewesener Lebensprozess, was auch mit der Praxis übereinstimmt. Wie es heisst, ist auch der Mensch ein Produkt seiner Umgebung und seiner Verhältnisse, das stimmt zum grossen Teile auch. Die unermessliche Differenziertheit der menschlichen Naturen in den sozialen Verhältnissen lassen die Pädagogen nicht zur Ruhe kommen. Nirgends auf der Welt gibt es so viele Meinungsverschiedenheiten unter ihnen, wenn es sich um grundsätzliche methodische Fragen handelt. Unter den Volksbildnern ist es nicht viel anders.

Volksbildnerische Arbeit Die Soziale Arbeitsgemeinschaft hat auch eine Abendschule (man nennt sie eigentlich Abendvolkshochschule, was mir anmassend erscheint - aber doch modern klingt!) also eine Volkshochschule in Wilhelmshagen mit einem Kinderheim, Psychopatenheim und einer Haushaltsschule eingerichtet. Aus der Abendschule seien hier einige Programmpunkte angeführt: Vorträge: Wie habe ich mich als Arbeiter weitergebildet? Warum gibt es so viele Arbeitslose? Die moderne Technik und ihre Zukunftsmöglichkeiten. Kurse: Die politischen Ideen und die gegenwärtigen Parteien in Deutschland; Wohnungsnot, Bodenspekulation und Siedlungsmöglichkeiten; Deutschland und seine Nachbarn; Berlins städtebauliche Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung des Wohnungswesens; Volksbildung und soziale Arbeit. Ferner gibt es Kurse für Englisch, Französisch und andere praktische Dinge. Auch die volksbildnerische Arbeit hat mit sehr viel Schwierigkeiten zu rechnen. Die geistig führenden Kreise sehen, wie die mangelhafte Bildung des Volkes in allen Lebenslagen den Fortschritt hemmt. Sie bemühen sich, diesen Zustand durch Vorträge, Kurs und Bibliotheken zu beheben. Aber es geht verzweifelnd langsam vorwärts. D a s Volk will den Segen der Bildung nicht einsehen, sich gut oder falsch führen zu lassen ist bequemer! Manche lassen sich an den Haaren heranziehen und laufen dann wieder davon. Andere kommen guten Willens, bröckeln aber auch wieder einer nach dem anderen ab, wenn sie merken, dass die selbstbildnerische Arbeit doch nicht so leicht ist, wie sie glaubten, und dass der Weg nach dem gewünschten Ziel unabsehbar lang ist. Ja, und was sollen ihnen die sogenannten Geisteswissenschaften wie Philosophie, Entwicklungslehre, Geschichte, Nationalökonomie usw. bei ihrem Schraubstock oder Hobelbank nützen? Sie bleiben doch nur solange sie leben Arbeiter, ob sie das wissen oder nicht. So bleiben also nur jene übrig, die sich aus den Inneren heraus dazu getrieben fühlen, dies und jenes zu erfahren und 201

zu erleben, die sogar die Überzeugung haben, dass Wissen eine Macht sei, dass alle Schwierigkeiten im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben zu überwinden wären, wenn es nur ein Kraut gegen die Trägheit der anderen gäbe. Einer von meinen Nachbarn ist Maurer und stammt vom Lande. In der Inflationszeit kam er bei einer Bank als Diener an. Da fortwährend neue Beamten eingestellt wurden, sah er für sich die Möglichkeit, auch ein Beamter werden zu können. Er besuchte abendweise eine kaufmännische Privatschule, lernte rechnen, Englisch, Französisch und anderes mehr und paukte bis spät nachts und auch sonntags. Als er glaubte bald am Ziele zu sein, kam die Stabilisierung der Währung, Beamte wurden abgebaut, seine Pläne zerronnen in nichts; als Diener war sein Verdienst zu gering, so ging er wieder zu seinem Handwerk zurück. Das war aber zugleich der Schluss mit dem Lernen! Er hätte es sicher nicht geschafft. Die Hoffnung auf eine höhere Stellung war das Hauptmotiv. Ist es bei den Bürgerlichen anders? Wer glaubt noch daran, dass dort immer nur die geistige Vererbung, höhere geistige Veranlagung und innere Berufung und nicht der Wunsch nach einer besser bezahlten sozialen Stellung das Motiv ist! Die ideelle auf Seelenverfeinerung hinzielende und das Gemeinwohl fördernde Bildung, für diese Bildung ist weder in der Arbeiterschaft noch in der bürgerlichen Klasse eine Majorität zu finden. Gesellschaftlicher Schliff erscheint wohl nach aussen als Kulturbeflecktheit, hat aber mit dem Sinn dieser Bildung wenig zu tun. Ich habe den Fall mit dem Maurer gebaucht, weil er uns zeigt, wo Bildungsmöglichkeiten liegen. So wie er denkt und handelt, denken viele. Das erfahre ich immer wieder, wenn die Bildungsfrage auftaucht. Da nun auch das Wort Kultur gefallen ist, wird es nichts schaden, wenn ich mich auch darüber äussere, in welchem Sinne ich diesen Begriff behandle. In der Arbeiterklasse wie auch in der bürgerlichen wird dieser Begriff meistens missverstanden. Beide verwechseln vielfach den Begriff Zivilisation, die äussere Feinheit mit dem der Kultur, der seelischen Feinheit, die das Fundament eines Kulturlebens ist. Das Missverständnis besteht ferner noch darin, dass in der Arbeiterschaft geglaubt wird, als könnte man da eine funkelnagelneue proletarischen Kultur aus eigener Kraft schaffen, wogegen die Bürgerlichen glauben, dasss sie schon eine Kultur haben, und sich stolz als Träger dieser Kultur betrachten. Kultur ist ein Gut wie Bildung, bewegliche wie unbewegliche Güter sind. Wir besitzen nur verschiedene Kulturgüter. Nun kommt es aber darauf an, was für ein Leben wir aus diesen Gütern aufbauen. Der Aufbau wird ebenso ausfallen, wie unsere Gesinnung beschaffen ist. Das Leben wird gemeinnützig, wenn die innere seelische Feinheit und die von dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe beherrschte Gesinnung da ist. Ist die Gesinnung 202

Die Soziale Arbeitsgemeinschaft hat in der Blütezeit der Volkshochschulbewegung drei Formen der Volkshochschularbeit entwickelt: die Abendvolkshochschule, die aus den Abendkursen hervorging, die „Jugendhochschule der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost", die der Vermittlung von berufsrelevanten Kenntnissen und von Allgemeinwissen diente, sowie das Volkshochschulheim im Ulmenhof, der Außensiedlung der SAG in Berlin-Wilhelmshagen. Laut Weyer zielten Überlegungen dahin, den Absolventen der Volkshochschule im Ulmenhof eine spätere Anstellung als Sozialarbeiter zu ermöglichen. Vgl. Adam Weyer, Kirche im Arbeiterviertel, Gütersloh 1971, S. 41-42. nur individualistisch, so kann es nur ein individualistisches Leben geben, wie wir es gegenwärtig leben. Im ersteren Falle gäbe es ein innerlich gemeindliches gebundenes Leben, also ein Kulturleben im wahrsten Sinne des Wortes. Im zweiten Falle ist jedes einzelne Glied der Gesellschaft auf sich selbst eingestellt, was es hat, hat es und wie es sein Leben durchbringt, ist seine persönliche Angelegenheit, das geht die Gesellschaft nichts an. Jeder besitzt von den Kulturgütern soviel, wie weit eben sein Geld reicht. So haben wir - kürzer ausgedrückt - eine Klassenkultur. N u r die Museen und andere Einrichtungen tragen ein gemeinsameres Gepräge, sofern sie der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. Was ist es aber nun, was ein Volk zum gemeinschaftlichen Leben verbinden soll? D e r materielle Wohlstand allein kann es nicht sein. Es muss etwas sein, das über allen steht, in allen innerlich wirkt, ein Gott, wenn alle an ihn glauben, eine Religion, wenn alle sie besitzen und wie es einmal gewesen sein soll, es kann aber auch eine Idee, ein Ideal sein. Die Arbeiterbewegung hat ein Ideal. Sie ringt ihrem Ideal entsprechend nach einer gerechten Umgestaltung des gesamten gesellschaftlichen Lebens und arbeitet an der Verfeinerung der zum gemeindlich gebundenen Leben erforderlichen Gesinnung, sie kann mal aus ihrer Gesinnung heraus, aus den nun vorhandenen Kulturgütern ein Leben nach dem Bilde ihres Ideals schaffen. Sie braucht nur an das Vorhandene anzuknüpfen. In Wirklichkeit tut sie es ja auch. Bei der Mitarbeiterschaft kam es - angeregt durch Dr. Ostwalt - zur Diskussion über die Frage „Was ist ein Settlement und welche sind seine Aufgaben?" Ich fühlte mich nach den stattgefundenen Aussprachen veranlasst, in den „Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft" schriftlich darüber zu

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äussern. Und da ich bisher über den Zweck und Nutzen der Sozialen Arbeitsgemeinschaft so wenig gesagt habe, wird es vielleicht den Lesern recht sein, wenn ich hier den Aufsatz folgen lasse.

Zur Diskussion über die Aufgaben und Ziele des Settlements Jede Bewegung hat ihre Motive, Aufgaben und ein Ziel. Das Wort Settlement heißt auf deutsch Siedlung. Nun gibt es auf der Welt allerlei Siedlungen. So wird eine Wohnsiedlung hinter der Stadtmauer das Motiv des gesunden Wohnens haben.. Die Settlements haben aber bisher zu ihrer Siedlung gerade jene Stadtviertel gewählt, in denen das Wohnen am ungesundesten und das ganze Leben am häßlichsten ist. Was einem Settlement den Charakter einer besonderen Siedlung aufdrückt, das kann nicht auf dem Weg irgendwelcher Form des Handelns oder materieller Interessen gesucht werden, sondern in dem Psychologischen oder Ideellen. In einem Heft der „Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft" aus der ersten Zeit ihres Bestehens erzählt Siegmund-Schultze, wie er mit einer Reihe von Studenten nach Berlin-Ost gezogen ist, und was sie da alles an Wohnungselend, sittlicher und geistiger Not kennengelernt haben. Je mehr sie davon erfuhren, um so mehr erwachte in ihnen das Schuldgefühl. Wenn auch sie persönlich sich nicht als die Alleinschuldigen fühlten, so sahen sie doch ein, wie groß die Schuld derjenigen war, die im Volke als die geistig gebildete Schicht gelten und die als solche die Leitung auf allen Gebieten des Lebens in Händen haben. Man kann also sagen, daß in den Gründen der Sozialen Arbeitsgemeinschaft erst nach der soziologischen Erkenntnis das Schuldgefühl aufgetaucht sei. Nun braucht man kein besonderer Psychologe vom Fach zu sein, um zu wissen, daß nicht erst durch Erkenntnisse das Schuldgefühl vom Himmel herabgezaubert wird, sondern daß daß es von Kindheit an in unserem Unbewußten mehr oder weniger steckt und daß ihm nur noch einige andere Triebe wirkend vorausgehen, bis sie es zum Schweigen bringen. Daß unser Schuldgefühl sich regt und es uns bewußt wird, hängt zunächst von der Stärke unseres Gerechtigkeitsgefühls ab, ihm folgt das Mitleid, und wie sich leicht an dem Leben und Wirken von großen Männern und Frauen nachweisen läßt, wirkt das ästhetische Gefühl entscheidend mit. Zunächst wirkt eine beobachtete ungerechte Handlung auf unser Gerechtigkeitsgefühl, ihm folgt das Mitleid mit jenen, die das Unrecht ertragen müssen, und das ästhetische Gefühl läßt uns die Häßlichkeit des Lebens wahrnehmen. Nun tritt, von den Gefühlserregungen angeregt, der Verstand in Funktion. Er forscht nach den Ursachen dieser un204

äussern. Und da ich bisher über den Zweck und Nutzen der Sozialen Arbeitsgemeinschaft so wenig gesagt habe, wird es vielleicht den Lesern recht sein, wenn ich hier den Aufsatz folgen lasse.

Zur Diskussion über die Aufgaben und Ziele des Settlements Jede Bewegung hat ihre Motive, Aufgaben und ein Ziel. Das Wort Settlement heißt auf deutsch Siedlung. Nun gibt es auf der Welt allerlei Siedlungen. So wird eine Wohnsiedlung hinter der Stadtmauer das Motiv des gesunden Wohnens haben.. Die Settlements haben aber bisher zu ihrer Siedlung gerade jene Stadtviertel gewählt, in denen das Wohnen am ungesundesten und das ganze Leben am häßlichsten ist. Was einem Settlement den Charakter einer besonderen Siedlung aufdrückt, das kann nicht auf dem Weg irgendwelcher Form des Handelns oder materieller Interessen gesucht werden, sondern in dem Psychologischen oder Ideellen. In einem Heft der „Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft" aus der ersten Zeit ihres Bestehens erzählt Siegmund-Schultze, wie er mit einer Reihe von Studenten nach Berlin-Ost gezogen ist, und was sie da alles an Wohnungselend, sittlicher und geistiger Not kennengelernt haben. Je mehr sie davon erfuhren, um so mehr erwachte in ihnen das Schuldgefühl. Wenn auch sie persönlich sich nicht als die Alleinschuldigen fühlten, so sahen sie doch ein, wie groß die Schuld derjenigen war, die im Volke als die geistig gebildete Schicht gelten und die als solche die Leitung auf allen Gebieten des Lebens in Händen haben. Man kann also sagen, daß in den Gründen der Sozialen Arbeitsgemeinschaft erst nach der soziologischen Erkenntnis das Schuldgefühl aufgetaucht sei. Nun braucht man kein besonderer Psychologe vom Fach zu sein, um zu wissen, daß nicht erst durch Erkenntnisse das Schuldgefühl vom Himmel herabgezaubert wird, sondern daß daß es von Kindheit an in unserem Unbewußten mehr oder weniger steckt und daß ihm nur noch einige andere Triebe wirkend vorausgehen, bis sie es zum Schweigen bringen. Daß unser Schuldgefühl sich regt und es uns bewußt wird, hängt zunächst von der Stärke unseres Gerechtigkeitsgefühls ab, ihm folgt das Mitleid, und wie sich leicht an dem Leben und Wirken von großen Männern und Frauen nachweisen läßt, wirkt das ästhetische Gefühl entscheidend mit. Zunächst wirkt eine beobachtete ungerechte Handlung auf unser Gerechtigkeitsgefühl, ihm folgt das Mitleid mit jenen, die das Unrecht ertragen müssen, und das ästhetische Gefühl läßt uns die Häßlichkeit des Lebens wahrnehmen. Nun tritt, von den Gefühlserregungen angeregt, der Verstand in Funktion. Er forscht nach den Ursachen dieser un204

Wenzel Holek mit Friedrich Siegmund-Schultze (links), um 1926

gerechten und unangenehmen Erscheinung. Wir gewinnen so eine Einsicht und Erkenntnis. Und dann? Mit der steigenden Erkenntnis steigt auch das Schuldgefühl in uns auf. So spielte sich auch bei den ersten S.A.G.ern der seelische und geistige Prozess ab. Man kann das Schuldgefühl, weil es uns angenehmer klingt und weil unser Gehör schon daran gewöhnt ist, Gewissen nennen. Reden wir denn nicht vom persönlichen, religiösen und gesellschaftlichen Gewissen? Das Gewissen hat in der Menschheitsgeschichte eine große Rolle gespielt gegenüber der Gewissenlosigkeit. Auf der einen Seite wirkten immer die sittlichen Kräfte, wie Gerechtigkeitsgefühl, Mitleid, Liebe und ästhetischer Sinn zusammen gegen die niedrigen Triebe , wie Egoismus, Herrschsucht, Gewalt und Gewissenlosigkeit. Diejenigen, die sich durch das erstgenannte Triebleben auszeichnen, sind eben das Gute mahnende und ausgleichend wirkende gesellschaftliche Gewissen. Weiter oben habe ich gesagt, daß wir das Schuldgefühl oder Gewissen von unserer Kindheit an in unserem Gewissen tragen, und daß es uns erst später durch eine Reihe vorläufiger Triebe in unser Gewissen geführt wird. Das wäre ein einseitiges Verfahren, wenn wir nicht auch unsere Umwelt mit in Erwägung ziehen wollten. Ein in reicher Familie aufwachsender, von allem Unangenehmen behüteter Mensch, der übrigens noch unter dem Einfluß der lebens- und weltanschaulichen Ideologie seiner Eltern und seines Gesellschaftskreises steht, wird sich schwer eines Schuldgefühls, oder eines Gewissens, wie wir es nennen, bewußt. durch die Erziehung im Elternhause und durch die übrige Umwelt werden die im Unbewußten haftenden Gefühlstriebe festgehalten, oder sie werden verdrängt, falls sie sich ins Bewußtsein hinaufwagen möchten. Erst später können die mit sittlichen Kräften Begnadeten, wenn sie vom Strome des Lebens draußen erfaßt werden und von ihrer Umwelt sich losgelöst haben, ihr Gefühlsleben auswirken lassen. Das ist die Naturgeschichte all jener, die das gesellschaftliche Gewissen bilden. Können wir es uns anders erklären als so? Saint Sinon, ein Graf, Kropotkin, ein Fürst, Marr, Lasalle, Owen, Abbe und viele andere stammten aus wohlhabenden Familien. Sie haben keine materielle Not und aus ihr entspringendes Unrecht erfahren und sich doch der Amen, Unterdrückten und Entrechteten angenommen. Sie haben für die gedacht und gekämpft. Sie haben Theorien aufgestellt über ein neues und gerechteres gesellschaftliches Leben. Waren es früher nur Einzelne, die im Gegensatz zu ihrer Mitwelt anders fühlten, dachten und anders handelten, waren es nur einzelne Gewissen, so hat sich dieses Gewissen bis heute zu einem sehr großen Gewissen entwickelt. Die Zahl der Intellektuellen, die für eine Erneuerung des Lebens fühlen, denken und handeln, wird immer größer. Dazu gehört auch der S:A.G.-Kreis, alle, die

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schon durch die S.A:G. gegangen, noch hier sind und noch kommen werden. Es ist nicht der Erwerbstrieb, der die studierende Jugend und die Intellektuellen zu uns führt. Möge er hier und da anderwärts bei Einzelnen mitsprechen, bei uns nicht. Die meisten S.A.G.er hätten es ebensowenig nötig, sich um die Arbeiter in Berlin-Ost zu kümmern, sie könnten auch nur an sich denken, wie so viele von ihren Standes- und Klassenangehörigen. Aber sie werden von ganz anderen Beweggründen zu uns gebracht als vom Erwerbstrieb. Sie treibt der seelische Prozess, wie oben von ihm die Rede war, das Leben aus unmittelbarer Nähe kennen zu lernen und an der Abhilfe der Not mitzuwirken, ferner der Umstand, einen Maßstab zu gewinnen für die in der Atmosphäre hängenden Reformideen. Damit aber, daß wir für den in ein Settlement neu Eintretenden einige Triebs- und Gefühlsregungen als Voraussetzung des Schuldgefühls anerkennen, ist keineswegs gesagt, daß das Schuldgefühl aufhört, ein Motiv für das Settlement zu sein. Wenn das Schuldgefühl und das Gewissen identisch sind, und wenn das Settlement oder die S.A.G. zu dem gesellschaftlichen Gewissen gehören soll, muß auch das Gewissen oder das Schuldgefühl der Mittelpunkt ihres Strebens und Wirkens sein, denn sie hat den seelischen Prozess, den der Einzelne erst durchzumachen hat, schon lange hinter sich. Sonst würde es ihr so gehen, wie es dem einzelnen Menschen im Leben geht, daß er die Schuld für seine Tat leugnet, obwohl er vorher wußte, daß er anders hätte handeln sollen. Während also das Gewissen für ein Settlement die höchste sittliche Instanz sein soll und muß, trifft dies auf die Soziale Arbeitsgemeinschaft noch viel mehr zu. Im Settlement wollen die Gebildeten für die Arbeiter etwas tun. In der Sozialen Arbeitsgemeinschaft sollen aber die Gebildeten und die Arbeiter ohne Unterschied des religiösen oder politischen Bekenntnisses an bestimmten im Volksleben nötigen Aufgaben gemeinsam arbeiten. Diese Aufgaben bestehen aber nicht in theoretischen Erwägungen, sondern in Ausübung irgendwelcher praktischer Arbeit, wie z.B. Jugenderziehung usw. Denn wenn die S.A.G. zu einer ihrem Gewissen entsprechenden Gesinnung erziehen will, so kann sie das nur auf dem Wege der praktischen Betätigung, der persönlichen Berührung. Daraus könnte nun der Schluß gezogen werden, daß für die Gebildeten wie für die Arbeiter ein und dasselbe Motiv gelten müßte, an dem Leben der Sozialen Arbeitsgemeinschaft teilzunehmen. Und doch ist dem nicht so. Auch der Arbeiter trägt in seinem Unbewußten ein ebensolches Schuldgefühl oder Gewissen wie der Gebildete. Sein Schuldgefühl wirkt sich zwar inund außerhalb der Familie aus, aber keinesfalls fühlt er sich schuldig oder verantwortlich für die Gestaltung des Volkslebens. Seine Bildung und sein Einfluß sind zu gering, als daß er sich verantwortlich fühlen könnte dann, wenn

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das Volksleben eine vernunftwidrige Gestaltung erfährt. Deshalb sieht er die Schuld stets bei jenen, die durch ihre Bildung die Leitung in den Schulen, Gemeinden, im Staat, und in der Wirtschaft in der Hand halten. Ihn könnte nur der Vorwurf treffen, daß er an seinem unebenbürtigen Schicksal selbst schuld sei, indem er es geduldig trägt. Aus dieser, aus dem Schicksal gefolgten psychologischen Einstellung, leuchtet wohl ein, daß es ganz undenkbar ist, daß der Arbeiter nach BerlinOst ginge, um dort bei den Bürgerlichen Freundschaft zu suchen. Das erlaubt ihm schon erstens sein Kulturstand, zweitens sein aus seinem Schicksal geborenes Minderwertigkeitsgefühl nicht. Demnach wird es also wohl immer die Aufgabe der Gebildeten sein, von sich aus die Gründung einer solchen Siedlung vorzunehmen, d.h. zu dem Arbeiter zu gehen. Eine solche Siedlung ist aber kein Zweck, sondern das aus dem lebendig gewordenen Willen entstandene Mittel zur Pflege volksgemeinschaftlicher Gesinnung, also: eine durch sittliche Gesinnung innerlich gebundene Gemeinschaft, die eine Förderin eines wahren Kulturlebens sein will. Diese Gesinnung als die innere Kraft eines wahren Kulturlebens vermißt man oft oben ebenso wie unten. Oben gibt es wohl oft eine Familienkultur, aber im übrigen Leben sind nur Kulturgüter und Kulturbesitz zu finden, weil die individualistische Verfassung und Denkweise innerlich nicht verbindend, sondern trennend wirkt. In der bürgerlichen Klasse ist dieses Trennende nicht so leicht zu merken, weil statt seiner oft der Erhaltungstrieb und das Klassenoder Standesinteresse eine innere Verbundenheit vortäuschen; aber in dem Verhältnis von oben und unten zeigt sich uns eine breite Kluft. Das ließ die Arbeiterschaft auf den Gedanken kommen, sich eine eigene, eine proletarische Kultur zu erschaffen. Es fragt sich nur, wie die Arbeiterschaft dieses Kunststück fertigbringen will, ohne an den Bestand der vorhandenen Kulturgüter anzuknüpfen! Sieht man in dem Sozialismus und in der Demokratie mehr als ein Parteiprogramm, eine Gesinnung, dann hätte wohl die Arbeiterschaft jene Kraft, die zu einem gemeindlichen und innerlich verbundenen Leben, dem wahren Kulturleben führt. Die Gesinnung reicht zu dem Aufbau eines Kulturlebens noch nicht aus. Dazu gehören auch Mittel ,das sind die Kulturgüter. Diese müßte die Arbeiterschaft sich erst selbst schaffen. Das kann sei nicht. Sandale, Kniehose, Windjacke, Bubikopf usw. sind noch lange keine Kulturgüter! Es bleibt also nichts anderes übrig, als die aus dem Haßgefühl aufgekommene Meinung, in der bürgerlichen Klasse tauge alles nichts, zu überwinden und sich das, was an wirklichen Kulturgütern in der bürgerlichen Welt vorhanden ist, zunutze zu machen. Den Kulturspleen, den es auch hier gibt, und an dem Arbeiter naiver208

weise oft genug hängenbleiben, lasse man liegen. Somit wäre den Arbeitern in einer Siedlung die Gelegenheit gegeben, mit ihrem Kulturstreben sich denjenigen anzuschließen, die des gleichen Strebens sind. Da läge für sie ein Motiv, Glieder und Mitträger einer solchen Siedlung zu sein. Doch wir wissen, daß es selbst unter den Gebildeten vorerst nur wenige sind, die in diesem Sinne kulturfähig sind, und dürfen uns gar nicht wundern, wenn es in der Arbeiterschaft noch weniger gibt Deshalb ist die Aufgabe der Kulturfähigen die, die weniger Kulturfähigen erst kulturfähig zu machen. Diese Arbeit kann nicht mit Waffen getan werden, sondern nur durch Kleinarbeit am Einzelnen. Das erfordert viel Zeit, Opferwilligkeit, Geschick, Besonnenheit und Ausdauer. Das wissen wir alle aus Erfahrung. Dazu gehört auch noch das viel gebrauchte Wort „Neutralität". Eine solche Siedlung kann sich keiner politischen Partei anschließen, ja nicht einmal mit ihr sympathisieren, wenn ihr Wirken im öffentlichen Leben im Widerspruch mit dem Gewissen der Siedlung steht. Neutralseinwollen klingt sehr angenehm, wenn nur nicht immer so etwas wie eine Heuchelei dahinter gewittert werden könnte. Sachlich sein steht uns besser, d.h. die Wahrheit kennen und anerkennen, wo sie auch stehen mag. Es bleibt jetzt noch die letzte Frage zu beantworten übrig, und zwar die: Soll die Siedlung durch ihr Gewissen in der Öffentlichkeit mit ihrer Meinung wirken? Sie wirkt schon dadurch in die Breite, daß die durch die Siedlung gegangenen Gebildeten in die verschiedensten Ämter gelangen und gemachte Erfahrung und erworbene Meinung dort wie auch anderwärts zu verwerten suchen. U n d auch die Arbeiter wirken im Sinne der Siedlung in ihren Kreisen weiter. Das kann aber nicht genug sein. Die Siedlung selbst muß bestrebt sein, sich über alle ihr zugänglichen Lebensgebiete eine Meinung zu erarbeiten, die Ergebnisse ihrer Forschung zusammenzutragen, sie jedem, der Einsicht wünscht, zur Verfügung zu stellen, sei er ein neuer Siedler oder sie er ein Minister. In dem, was ich bisher gesagt habe, ist auch schon das Ziel sichtbar. Sollen die Settlements eine geistige Bewegung sein, so müssen sie als solche auch ein Ziel haben. Denn es gibt kein Ziel ohne Bewegung, oder umgekehrt. Natürlich hat eine Bewegung auch eine Aufgabe. Die habe ich schon beschrieben. Die Aufgabe hat immer eine greifbare Gestalt, das Ziel ist nur eine Vorstellung. U n d so kommt es darauf an, auf welches von beiden mehr Gewicht gelegt wird. Unser Ziel ist eine Volksgemeinschaft. Unsere Aufgabe ist, die der Erreichung dieser Volksgemeinschaft im Wege liegenden Hindernisse wegräumen zu helfen. Wann dies erreicht sein wird, wissen wir nicht, und es wäre müßig, darüber zu theoretisieren, weil es in der Zukunft liegt. Sichtbarer und 209

greifbarer sind die Aufgaben. Sie sind groß, aber klein ist noch die Zahl derer, die sich an sie heranwagen.

Urlaubs- und Vortragsreisen in der Schweiz Wie ich schon anfangs erzählt habe, brachte ich während der ersten Jahre meinen Urlaub mit den Klubjungen auf dem Lande zu. Dann erst wurde ich freier und konnte auf einige Wochen dahin gehen, wo es mir passte. Die meisten meiner Urlaubszeiten verbrachte ich in der Schweiz. Mein Bekannten- und Freundeskreis ist dort schon so gross geworden, dass meine Urlaubszeit nicht ausreicht, sie alle zu besuchen. Die Bekanntschaften und Freundschaften kamen schon bei meinen früheren Arbeiten in Leipzig zustande. Dort war der Mitarbeiterkreis ziemlich gross. Zu ihm gehörten auch studierende Schweizer und so war dem auch in Berlin. Wären nicht sie gewesen, würde ich nicht solche Reisen gemacht haben. Denn in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft kennt man keine Gehaltsstufen, sondern nur Existenzminimums. Würden die Staatsund sonstigen Beamten so leben wie wir, dann hätten die Staatsbürger viel weniger Steuern zu zahlen. Da es sich schwer einrichten lässt, von einem Existenzminimum etwas zu erübrigen, sind wir immer auf die Gastfreundschaft anderer Menschen angewiesen. Zahlen sie uns noch das Fahrgeld, dann sind wir froh und dankbar. Das war aber nicht der alleinige Grund, weshalb ich lieber in die Schweiz ging, als irgendwo anders in Deutschland blieb. Ich mag eben die Schweizer gern. Sie kommen einem erst ein bißchen kauzig vor, sogar die Intellektuellen lassen die Scheingelehrtheit und den hofrätigen gesellschaftlichen Schliff vermissen, wie er in diesen Kreisen bei uns in Deutschland so üblich ist. Der Schweizer macht aus sich nicht mehr, als was er ist. Ich wenigstens fühle mich da viel weniger der Gefährlichkeit lächelnder Höflichkeit ausgesetzt, wie bei uns, von der man oft nicht weiss, ob es nicht doch nur ein diplomatischer Blick sei. Dass auch den Intellektuellen in der Schweiz dieser Charakterzug eigen ist, kommt wohl daher, dass aus dem Mittelstand und auch aus der Arbeiterschaft ein nicht geringer Teil des Nachwuchses in die geistigen Berufe dringen. Dazu mag wohl auch noch der Dialekt beitragen, der von unten bis zu den obersten Stellen gesprochen wird und so der ganze gesellschaftliche Verkehr ein demokratisches Gepräge bekommt. Die Leute, mit denen ich da verkehre, sind Pfarrer, Lehrer oder sie üben einen anderen geistigen Beruf aus. Sie gehören meistens dem Aufbaukreise an. Der Aufbaukreis ist etwas, was wir in Deutschland nicht kennen. Seine Angehörigen kommen von der akademischen Jugend her. Er gibt eine Zeitung heraus, die wöchentlich unter dem Titel erscheint, „Der Aufbau", die im Sinne der sozialdemokrati210

greifbarer sind die Aufgaben. Sie sind groß, aber klein ist noch die Zahl derer, die sich an sie heranwagen.

Urlaubs- und Vortragsreisen in der Schweiz Wie ich schon anfangs erzählt habe, brachte ich während der ersten Jahre meinen Urlaub mit den Klubjungen auf dem Lande zu. Dann erst wurde ich freier und konnte auf einige Wochen dahin gehen, wo es mir passte. Die meisten meiner Urlaubszeiten verbrachte ich in der Schweiz. Mein Bekannten- und Freundeskreis ist dort schon so gross geworden, dass meine Urlaubszeit nicht ausreicht, sie alle zu besuchen. Die Bekanntschaften und Freundschaften kamen schon bei meinen früheren Arbeiten in Leipzig zustande. Dort war der Mitarbeiterkreis ziemlich gross. Zu ihm gehörten auch studierende Schweizer und so war dem auch in Berlin. Wären nicht sie gewesen, würde ich nicht solche Reisen gemacht haben. Denn in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft kennt man keine Gehaltsstufen, sondern nur Existenzminimums. Würden die Staatsund sonstigen Beamten so leben wie wir, dann hätten die Staatsbürger viel weniger Steuern zu zahlen. Da es sich schwer einrichten lässt, von einem Existenzminimum etwas zu erübrigen, sind wir immer auf die Gastfreundschaft anderer Menschen angewiesen. Zahlen sie uns noch das Fahrgeld, dann sind wir froh und dankbar. Das war aber nicht der alleinige Grund, weshalb ich lieber in die Schweiz ging, als irgendwo anders in Deutschland blieb. Ich mag eben die Schweizer gern. Sie kommen einem erst ein bißchen kauzig vor, sogar die Intellektuellen lassen die Scheingelehrtheit und den hofrätigen gesellschaftlichen Schliff vermissen, wie er in diesen Kreisen bei uns in Deutschland so üblich ist. Der Schweizer macht aus sich nicht mehr, als was er ist. Ich wenigstens fühle mich da viel weniger der Gefährlichkeit lächelnder Höflichkeit ausgesetzt, wie bei uns, von der man oft nicht weiss, ob es nicht doch nur ein diplomatischer Blick sei. Dass auch den Intellektuellen in der Schweiz dieser Charakterzug eigen ist, kommt wohl daher, dass aus dem Mittelstand und auch aus der Arbeiterschaft ein nicht geringer Teil des Nachwuchses in die geistigen Berufe dringen. Dazu mag wohl auch noch der Dialekt beitragen, der von unten bis zu den obersten Stellen gesprochen wird und so der ganze gesellschaftliche Verkehr ein demokratisches Gepräge bekommt. Die Leute, mit denen ich da verkehre, sind Pfarrer, Lehrer oder sie üben einen anderen geistigen Beruf aus. Sie gehören meistens dem Aufbaukreise an. Der Aufbaukreis ist etwas, was wir in Deutschland nicht kennen. Seine Angehörigen kommen von der akademischen Jugend her. Er gibt eine Zeitung heraus, die wöchentlich unter dem Titel erscheint, „Der Aufbau", die im Sinne der sozialdemokrati210

sehen Idee geschrieben wird, die sogar deutsche Reichstagsabgeordnete zu ihrem Mitarbeiterkreis zählt. Der Aufbaukreis ist keine politische Partei, aber viele von ihm sind Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei. Dazu gehört auch Prof. Ragaz. Warum diese Leute ausserhalb der sozialdemokratischen Organisation einen eigenen Kreis bilden, hat nur einen weltanschaulichen Grund. Die Sozialdemokratie ist atheistisch freundlich, der Aufbaukreis ist aber religiös-sozial gerichtet. Und da er in der sozialdemokratischen Parteiorganisation keine Berücksichtigung findet, pflegt er seine diesbezüglichen Bedürfnisse in eigenen Zusammenkünften und Konferenzen zu decken. Seit 1911 kam ich erst 1921 in die Schweiz und bin im ganzen sieben Mal da gewesen. Als ich 1921 in die Schweiz kam, fand ich auch in dem Aufbaukreise deutschfreundliche und gegnerische Leute, die über den Krieg, über dessen Ausgang, über die Kriegsschuld und in den Gedankengängen über die Kriegszahlungen Deutschlands an die Siegerstaaten verschiedener Meinung waren. Unter den, den Deutschen zugeneigten, war Pfarrer Kutter in Zürich der deutschfreundlichste. Von ihm hatte ich den Eindruck, dass er das schwere Schicksal Deutschlands aufrichtig mittrage. Wir konnten uns nur nicht über die Ursache der Niederlage einig werden. Er glaubte noch immer fest an den Dolchstoss der Sozialdemokratie. Dass auch er so dachte, konnte ich verstehen. Hätte er, wie ich, während des Krieges in Deutschland gelebt, die Not und das Elend des hinter der Front stehenden Volkes gesehen, würde er sicher so wie ich gedacht haben. Noch schwerer belehrbar waren die deutschunfreundlichen. Recht hatten sie wohl darin, dass der militärische und nationale Geist den Krieg herbeigeführt und trotz seiner Niederlage sein Haupt wieder erhebt. Doch was die Kriegsschuld und die Zahlungshöhe betraf, war ich in allen diesbezüglichen Gesprächen anderer Meinung als sie. Sie behaupteten kurzweg, Deutschland allein träfe die Schuld am Krieg. Ich war der Meinung, dass alle kriegführenden Staaten mehr oder weniger die Schuld treffe. Ferner hiess es: „Deutschland muss zahlen und kann auch zahlen!" Das war natürlich eine ganz unbegründete Meinung. Aber sie kam aus einem übergefühlsmässigen Pazifismus. Ob Deutschland die ihm zugedachten Kriegslasten seiner wirtschaftlichen Lage nach tatsächlich imstande ist zu tragen, dafür gab es keinen Raum. Vom rechtlichen und menschlichen Standpunkte aus gesehen, sah man da alles das, was der Versailler Friedensvertrag bestimmte, als so etwas, wie eine gerechte Strafe an und als ein wohlverdientes Schicksal des deutschen Volkes, dass es nun geduldig tragen muss, weil es sich so dumm hat führen lassen. Wer Prof. Friedrich Foersters Zeitschrift und seine sonstigen Publikationen kannte, der wusste auch, wo diese Meinungen gewachsen sind. Wer jedoch ei211

nigermassen volkswirtschaftlich geschult war, der wusste, dass nach dem gegenwärtigen Stand des Volksvermögens, nach der Zerrissenheit der internationalen Handelsbeziehungen und Beschneidung des deutschen Gebietes, solche Lasten untragbar seien, der wusste auch, dass es der alle Vernunft tötende Chauvinismus und Siegestaumel gewesen ist, der diesen Unsinn produzierte und dass er nur eingesehen wird, wenn er auch in weltwirtschaftlichen Beziehungen seine störenden Wirkungen erkennen lässt, der wusste ferner, dass die Männer, die diesen Vertrag unterzeichneten, sich der Lage bewusst waren, aber nichts anderes tun konnten, als zu unterschreiben. Und der weitere Verlauf der Dinge hat gezeigt, dass jene, die so gedacht haben, recht behielten. Der Versailler Vertrag wurde durch den Dawesplan, dann durch den Joungplan indirekt revidiert. Eine weitere Revision ist wahrscheinlich, weil die weltwirtschaftlichen Triebfedern dazu treiben. Wenn Prof. Foerster in seinen Schriften den preussischen chauvinistischen und militärischen Herrengeist rücksichtslos geißelte, so konnte man das verstehen, es fragte sich nur, wieviel damit erreicht wird. Ich hielt an dem Standpunkt fest, dass der, der als Schiedsrichter wirken will, weder die Sünden der einen noch der anderen Partei aufzählen darf, sondern alles, was die Versöhnung stören könnte, meiden müsse und meinte, dass man durch die fortwährenden Enthüllungen an dem Geiste der alten Richtung, den französischen Chauvinisten auf ihre Mühle Wasser leitet und ihre übertriebenen Forderungen nur rechtfertige. Bedauerlicherweise unterlag ein ganzer Teil der Aufbauleute Foersters Suggestion, sogar auch Prof. Ragaz in der ersten Nachkriegszeit. Mein Dr. Eberhard Vischer, den ich schon in Leipzig 1912 als Studenten kennenlernte und dessen Gast ich jedes Mal, wenn ich in die Schweiz kam, sein durfte, war deutschfreundlich und in der Beurteilung der gesamten politischen und wirtschaftlichen Lage mit mir einer Meinung, ebenso sein Vater, Prof. Vischer in Basel. Dr. Vischer war Richter in Basel und hatte seine Wohnung in Arlesheim Baselland. Seine Frau ist eine weitbekannte Frauenrechtlerin. Dr. Vischer gehörte mit zu dem Aufbaukreis, Mitglied der sozialdemokratischen Partei war er nicht, aber dafür ein begeisterter Genossenschaftler. In der Schweiz wie auch in Deutschland war mein Urlaub immer mit der Abhaltung von Vorträgen und Zusammenkünften kleinerer Kreise verbunden, wo über soziale Arbeit, Erziehungs- und Volksbildungsfragen, über Kirche und Religion, Politik und wirtschaftliche Fragen geredet wurde. In den Jugendvereinen sprach ich meistens über den Zweck und Nutzen der Jugendvereine, oder über den Sinn der Jugendbewegung. In der Schweiz kam ich sehr herum, bald war ich in Basel, bald in Biel, Bern, Zürich, Schaffhausen, St. Gallen usw. 212

Einmal lud mich auch mein, seit 1911 bekannter alter Freund nach Biel ein, wo er als Architekt tätig und von der Bundesbahn angestellt war. Er gehörte zu dem Aufbaukreis, war ausserdem Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und sehr radikal gesinnt. Es war jener, der 1919 zu mir in das Zimmer hereingesprungen kam und sich wunderte, dass ich draussen die Revolution nicht mitmachte. Er, seine Frau und ich trafen uns auf dem Bahnhof in Basel und fuhren dann nach Biel. Der Zug hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als schon das Gespräch auf den Krieg und Deutschland kam. „Deutschland hat Schuld an dem Kriege, es kann und muss zahlen!" so ging das den ganzen Weg bis nach Biel. Die Frau teilte natürlich die Meinung ihres Mannes. Das kann gut werden, dachte ich bei mir, das sind deine Gastgeber. Wir vertrugen uns aber dann doch ganz gut. Der Mann hatte sich etwas früher beruhigt als seine Frau. Bei ihr dauerte es einige Tage, ehe ich mich ihres freundlichen Blickes erfreuen durfte. In Zürich hielten die links stehenden Jugendvereine eine Konferenz ab, die einer Beschlussfassung zugestimmt hat, dass sie sich fast ganz mit meiner Meinung über die Verhältnisse in Deutschland und Frankreich deckte. Darüber erboste sich der Herausgeber und der Redakteur des „Aufbaues" so sehr, dass er schrieb: „Wer diese Beschlussfassung herbeigeführt habe, müsse in den letzten dreissig Jahren geschlafen haben und nichts von dem Geist der deutschen Geschichte wissen. Deutschland habe den Krieg verschuldet, müsse zahlen und könne auch zahlen usw. Ich setzte mich hin und schrieb ihm, dass sein Pfarramt ihn doch eher dazu verpflichte, die Menschen zu versöhnen, statt sie zu verhetzen. Auch er müsse geschlafen haben, sonst müsste er wissen, dass es in Deutschland auch einen anderen Geist gibt, dem durch solche unbegründete Redereien die Arbeit nur erschwert würde. Sein Gerede, dass gezahlt werden muss und kann, sei durch nichts bewiesen. Er soll sich erst einige Jahre hinsetzen und die Nationalökonomie studieren und dann erst über derartige Fragen mitreden. Wie ich von seinem Schulfreunde in Bern erfahren habe, wollte er mir im Aufbau antworten. Aber ich Hess ihm sagen, dass ich kein Interesse daran hätte, mich mit ihm vor der grossen Öffentlichkeit auseinanderzusetzen, dass ich ihm nur als Freund gesagt habe, was an seinem Artikel gerade mir nicht gefallen hat. Damit war die Sache für mich erledigt. In Frauenfeld sass bei einem Pfarrer ein kleiner Kreis. Hier wurde auch von den Verhältnissen in Deutschland gesprochen. Ein junger Pfarrer aus der Gegend des Bodensees, dessen Vater ein Schneidermeister war, erzählte uns, wie auch er bei der Pfarrhilfe für Deutschland tätig gewesen sei und was er mit den deutschen Pfarrern und deren Frauen erlebt habe. Sie seien Mal als Gäste in die Schweiz geladen worden. Die Schweizer Pfarrer und Gastgeber hätten aber 213

nicht wenig über die feinen Kleider und Schmuck der deutschen Herren und Damen gestaunt, so dass man sich fragte, ob denn das wirklich die notleidenden Pfarrer seien. Dazu hätten sie sich noch so prahlerisch gelehrt gezeigt, dass sich die Gastgeber in ihrer Schlichtheit neben ihnen wie dumme Buben vorkamen. In demselben Orte sass ich im Konvikt mit mehreren Lehrern der Kantonsschule beim Mittagessen als Gast meines langjährigen Freundes Dr. Greyerz. Neben uns sassen die Schüler. Wie gewöhnlich, so auch hier, wurden die deutschen Verhältnisse besprochen. Der Leiter des Konvikts (auch Lehrer) zog scharf über die deutschen Kapitalisten her, sie seien profitgierig, bekämen nie genug, nun kämen sie noch mit der Forderung, den Arbeitstag von acht Stunden auf neun zu verlängern. Bezüglich der Profit- und Machtgier war das für mich nichts Neues und ich hatte gar keinen Anlass, die deutschen Kapitalisten zu verteidigen. Aber eine andere Frage war z.Z. die, ob die Verlängerung der Arbeitszeit nicht eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit sei. Es müsste z.B. erst festgestellt werden, wieviele Stunden pro Tag das deutsche Volk für die eigene Lebenshaltung arbeiten müsse. Sind acht Stunden dazu erforderlich, was geschieht dann, wenn ausser der eigenen Lebenshaltung noch andere Ausgaben entstehen, wie Kriegsentschädigungen, militärische Besatzungen, Passivität in der Handelsbilanz usw. Da sei ein Ausgleich nur so möglich, indem man entweder die Lebenshaltung herabsetzt oder, wenn man das nicht will, länger arbeiten. Vor einer solchen Frage stehe Deutschland nun. Gäbe es diese Beweggründe nicht, dann könnte man es nicht verstehen, warum die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag zu der Ermächtigung der Regierung zugestimmt hatte, die Arbeitszeit um eine Stunde zu verlängern bis sich die wirtschaftliche Lage ausgeglichen hat. So problematisch wie diese Frage sich herausstellte, so war es in den intellektuellen Kreisen in der Schweiz wie in Deutschland mit der rationalisierten Arbeitsmethode, Arbeitsteilung und mechanisierten Produktionsweise. Wenn in diesen Kreisen immer wieder beklagt wird, wie durch die Rationalisierung Menschen arbeitslos werden, wie der Arbeiter mechanisiert und geistlos wird, so könnte der einfache Arbeiter, der sich unmittelbar davon betroffen fühlt, dankbar sein. Nun ist aber die Rationalisierung so alt wie die Menschheit selber. Von jeher waren die Menschen bestrebt, durch Verbesserungen ihrer Werkzeuge leichter und mehr zu produzieren als vorher. Und der erfinderische Geist wird nicht ruhen, bis er die ganze Produktionsweise auf die höchste Stufe gebracht hat. Da nützt alles jammern nichts. Wir können nicht zurück zur handwerklichen Produktion. Wenn die Erfindungen Not und Elend bringen, dann tragen nicht sie die Schuld daran, sondern das Wirtschaftssystem. Wir müssen vielmehr darüber nachdenken, wie es zu machen sei, dass sie zum Segen aller Menschen wirken. 214

Dies besagt, dass die so sehr beklagte Mechanisierung des Arbeiters auch nicht aus der Welt zu schaffen ist. Es gibt aber noch andere Dinge, die den Arbeiter noch unglücklicher machen. Und zwar ist es seine unsichere und oft schlechte Existenz. Er kann nicht sagen, wenn er morgens von zu Hause fortgeht, ob er aus irgendwelchem Grunde nicht doch entlassen wieder nach Hause kommt. Wie ein Hund an der Kette hängt auch er jahraus, jahrein an seiner Arbeit, ohne einmal eine andere Gegend, oder ein anderes Land zu sehen. Seine Wohnung ist unschön, lichtarm. Der Monat ist schnell um, die Sorge um die Aufbringung der Miete plagt ihn von Monat zu Monat. Hat er Kinder, so kommt noch die Sorge um diese dazu. Grau, hoffnungslos liegt seine Zukunft vor ihm! Wie er sein Leben beendet, ob natürlichen Todes, oder gewaltsam, ist seine Angelegenheit. Die Invalidenrente, die er zu beanspruchen hat - das weiss er - ist zum Leben zu wenig und zum Verhungern zu viel. Das alles zermürbt ihn mehr als die Maschine. Das ist die Quintessenz aus meinen Ausführungen in solchen Kreisen. In einer von Prof. Stehelin in Basel in seiner Wohnung einberufenen Versammlung, an der ungefähr 30 Mann teilnahmen, hatte ich über die gegenwärtige Lage der Kirche zu reden. Nachdem ich den trostlosen Kirchenbesuch in manchen deutschen Städten geschildert hatte, und die Schuld für diesen Zustand der Kirche selbst zuschrieb, weil sie es schon lange aufgegeben hat, die Verteidigerin der Wahrheit zu sein, wo diese auch stehen möge, und infolgedessen auch nicht mehr die Führerin des Lebens sei, stand ein alter pensionierter Herr auf, bezweifelte die Richtigkeit meiner Ausführungen und hatte so manches an den Arbeitern auszusetzen. Nach ihm ergriff ein deutscher Student der Theologie das Wort. Er behauptete, dass die deutschen Arbeiter selbst schuld seien, wenn man von bürgerlicher Seite ihnen nicht gut gesinnt sein könne, denn sie wollten die bestehenden Zustände mit Gewalt stürzen. Auf die Frage, wo sie so etwas getan hätten, wies er auf die Attentate auf den Kaiser in den siebziger Jahren. Ich konnte ihm nichts besseres raten, als noch einmal die Geschichte zu studieren. Denn es war jedem in Deutschland längst bekannt, dass die Sozialdemokraten mit diesen Attentaten nichts zu tun hatten, nur er wusste es nach fünfzig Jahren noch nicht! Ein Professor der Nationalökonomie deckte die beiden Herren so gut zu, dass ich es nicht besser hätte tun können. Da merkten die beiden erst, um wieviel sozialer die Schweizer gesinnt sind, als sie. Einmal ist mir auch in der freien Schweiz etwas passiert, was mir in Deutschland noch nicht vorgekommen ist. Mein Freund, Dr. Pestalozzi in Schaffhausen, wünschte, dass ich seinem Freundeskreis etwas erzählen soll. Aber meine Einreiseerlaubnis ging zu Ende. Frau Pestalozzi und die Tochter ihres Hausherren, der Stadtrat war, und ich gingen zur Kantonpolizei, um 215

Verlängerung meines Aufenthalts zu erbitten. Von einem der anwesenden Herren nach dem Grund gefragt, gab ich an, dass ich über Erziehungsfragen sprechen soll. „Haben Sie das studiert?" fragte er mich mit misstrauischem Blick. Ich war platt! Alles Reden nützte nichts. Ich bekam keine Erlaubnis. Nun setzten wir durch das Telefon den Stadtrat in Bewegung. Wir waren noch keine zehn Minuten zu Hause, da kam schon ein Polizist und brachte mir den Schein. Der Vortrag war gerettet! - Als ich zum zweiten Mal beim Pfarrer Kutter junior in Beggingen, dicht an der Badischen Grenze, vierzehn Tage zu Gaste war, regnete es fast jeden Tag schon mehrere Wochen lang, so dass die Bauern mit der Heuernte nicht beginnen konnten, und darüber verzweifelten. Sie in der Kirche fortwährend zu trösten, wachse sich zur Langweiligkeit aus, meinte der Pfarrer. Man sollte mit den Bauern auch mal etwas anderes machen. Sie seien zwar ein urwüchsiges, verstocktes Volk, aber es könnte vielleicht mit ihnen doch gehen. So wurden sie auf einen Sonnabend abend zum Vortrag eingeladen. Ich sollte über das Verhältnis zwischen Stadt und Land reden. Das konnte ich machen, weil ich einige Bücher über die Agrarfrage gelesen und schon einmal über dieses Thema in Pommern gesprochen habe. Die Versammlung war gut besucht. Ich versuchte, den Bauern zu erklären, wie sie durch genossenschaftlichen Zusammenschluss und durch rationalisierte Bearbeitung des Bodens, rationalisierte Viehzucht und Ausschaltung des Zwischenhandels, wie auch durch bessere landwirtschaftliche Bildung ihre Lage heben könnten. Sehr viel helfen würde ihnen dabei, wenn sie mit den in den Städten, in Konsumvereinen organisierten Konsumenten in Beziehung treten möchten. Der moralische Nutzen wäre dann der, dass die ländliche und städtische Bevölkerung sich nicht so feindlich gegenüberständen, wie es heute der Fall ist. Es gab nachher eine rege Aussprache. Die Bauern traten mit einer Menge Fragen auf. Der aufgezeichnete Weg wurde anerkannt. Es zeigte sich, dass auch der Bauer lebendig werden kann, wenn man ihm den Punkt seines wahren Interesses zeigt.

Nachgedanken über Religion und Politik In den Versammlungen von Studenten, die meistens durch die Professoren zustandekamen, nahmen gewöhnlich Theologen teil und nur selten einer aus einer anderen Fakultät. Es gibt unter den Theologen immer eine Anzahl Studenten, die sozial mehr interessiert sind, als Juristen, Philosophen u.a. Das bringt schon ihr zukünftiges Pfarramt mit sich. Ferner dürfte es wohl noch die Sorge um die Zukunft der Kirche sein. Man muss sich über ihre Lage informieren und hören, ob und wie die Schwierigkeit zu überwinden ist. In dem Sinne ist jedes Programm zugeschnitten. 216

Verlängerung meines Aufenthalts zu erbitten. Von einem der anwesenden Herren nach dem Grund gefragt, gab ich an, dass ich über Erziehungsfragen sprechen soll. „Haben Sie das studiert?" fragte er mich mit misstrauischem Blick. Ich war platt! Alles Reden nützte nichts. Ich bekam keine Erlaubnis. Nun setzten wir durch das Telefon den Stadtrat in Bewegung. Wir waren noch keine zehn Minuten zu Hause, da kam schon ein Polizist und brachte mir den Schein. Der Vortrag war gerettet! - Als ich zum zweiten Mal beim Pfarrer Kutter junior in Beggingen, dicht an der Badischen Grenze, vierzehn Tage zu Gaste war, regnete es fast jeden Tag schon mehrere Wochen lang, so dass die Bauern mit der Heuernte nicht beginnen konnten, und darüber verzweifelten. Sie in der Kirche fortwährend zu trösten, wachse sich zur Langweiligkeit aus, meinte der Pfarrer. Man sollte mit den Bauern auch mal etwas anderes machen. Sie seien zwar ein urwüchsiges, verstocktes Volk, aber es könnte vielleicht mit ihnen doch gehen. So wurden sie auf einen Sonnabend abend zum Vortrag eingeladen. Ich sollte über das Verhältnis zwischen Stadt und Land reden. Das konnte ich machen, weil ich einige Bücher über die Agrarfrage gelesen und schon einmal über dieses Thema in Pommern gesprochen habe. Die Versammlung war gut besucht. Ich versuchte, den Bauern zu erklären, wie sie durch genossenschaftlichen Zusammenschluss und durch rationalisierte Bearbeitung des Bodens, rationalisierte Viehzucht und Ausschaltung des Zwischenhandels, wie auch durch bessere landwirtschaftliche Bildung ihre Lage heben könnten. Sehr viel helfen würde ihnen dabei, wenn sie mit den in den Städten, in Konsumvereinen organisierten Konsumenten in Beziehung treten möchten. Der moralische Nutzen wäre dann der, dass die ländliche und städtische Bevölkerung sich nicht so feindlich gegenüberständen, wie es heute der Fall ist. Es gab nachher eine rege Aussprache. Die Bauern traten mit einer Menge Fragen auf. Der aufgezeichnete Weg wurde anerkannt. Es zeigte sich, dass auch der Bauer lebendig werden kann, wenn man ihm den Punkt seines wahren Interesses zeigt.

Nachgedanken über Religion und Politik In den Versammlungen von Studenten, die meistens durch die Professoren zustandekamen, nahmen gewöhnlich Theologen teil und nur selten einer aus einer anderen Fakultät. Es gibt unter den Theologen immer eine Anzahl Studenten, die sozial mehr interessiert sind, als Juristen, Philosophen u.a. Das bringt schon ihr zukünftiges Pfarramt mit sich. Ferner dürfte es wohl noch die Sorge um die Zukunft der Kirche sein. Man muss sich über ihre Lage informieren und hören, ob und wie die Schwierigkeit zu überwinden ist. In dem Sinne ist jedes Programm zugeschnitten. 216

In solchen Versammlungen zu reden, war nicht leicht. Denn ich stand einer Welt gegenüber mit entgegengesetzten Vorstellungen. Ich ging von der Praxis des Lebens aus und forderte von der Religiosität praktische Auswirkung im Leben. Die Welt aber, die ich vor mir hatte, war geschult und gewöhnt, sie als eine reine Glaubens- und Geistesangelegenheit anzusehen, die über dem irdischen Leben steht, aber mit seinen Nöten, Mühsalen, Schicksalen und Kämpfen nichts zu tun hat. Wenn mancher von den Zuhörern mit der Meinung kam, die Religion sei eine Herzenssache, so musste ich fragen, warum denn so mancher Pfarrer sich mit der tiefsten Theologie, Philosophie und Religionsphilosophie den Kopf zerbricht, oder gar über die letzten und tiefsten Geheimnisse von der Sendung Jesu grübelt? Oder wenn die Rede von der Arbeiterschaft und Religion war. Sind es nicht auch die anderen, die gar nicht daran denken, ihr soziales Verhalten dem sittlichen Inhalt der Religion entsprechend so zu gestalten, dass jeder eine Gerechtigkeit erfährt? Hat sich nicht bis hinauf die Meinung eingebürgert, als sei die Kirche nur eine Erbauungsstätte, eine Dekoration des gesellschaftlichen Lebens? Diese und ähnliche Fragen standen immer zur Diskussion. Doch die allerwichtigste Frage war die „Wie denken Sie sich eine Erneuerung des relgiösen Lebens?" Was sollte ich dazu sagen? Sollte ich die Zukunft deuten können, wissen, was in hundert Jahren oder noch später kommt? Ejn auf Erneuerung hinzielendes Wollen ist wohl hier und da jetzt schon zu merken, aber es kann sich nicht entwickeln in dem irdischen voll von Gegensätzlichkeiten erfüllten Leben von heute. Was nützt auch den besten von allen ihr guter Wille, Nächstenliebe zu üben, gegen jedermann gerecht zu sein, nicht zu lügen, nicht falsch zu schwören usw., wenn der mephistophelische Geist des heutigen individualistischen Gesellschaftslebens diesen Willen bei unzähligen Gelegenheiten immer wieder zerbricht. Jesus hat es versucht, die Gebote seines Vaters unter den Menschen zu verwirklichen. Man hat ihn gekreuzigt. So ernst, wie er die Religion als Lebensprinzip genommen, nahm es auch Franz von Assisi. Auch er ist damit gescheitert. Und ich kenne gegenwärtig noch lebende Menschen, die es ebenso versuchen, aber auch sie setzen sich nicht durch, trotzdem sie sich von dem Egoismus völlig frei gemacht haben. Sie - und wenn es noch Tausende ihresgleichen gäbe - kommen gegen den Riesen, den Unfrieden stiftenden, lügnerischen, diebischen und machtgierigen Egoismus nicht an. Ihr Werk erfreut sich gegen früher nur insofern eines besseren Loses, dass sie nicht gekreuzigt werden wie Jesus, dafür aber als mitleidswürdige Narren angesehen werden. Ich habe sogar unter den Geistlichen welche gefunden, die meinten, dass das, was Jesus gelehrt und von den Menschen gefordert hat, heute nicht zu verwirklichen sei. Es gäbe weder eine christliche noch eine weltliche Ethik. Wer an der Macht sei, erachte das, was er tut, als sittlich. Die Benachteiligten 217

kämpfen um diese Macht. Erringen sie sie, halten auch sie das, was sie tun, als sittlich, wenn es auch den anderen nachteilig ist. So bleibt also die Person Jesu, wie er war und wirkte, seine Bergpredigt und das, was er sonst lehrte, ein erstrebenswertes Ideal für alle jene Menschen, die ebenso wie Jesus ein gerechtes Leben auf Erden zu gestalten wünschen. Man muss schon denjenigen recht geben, die behaupten, dass die Verwirklichung dessen, was Jesus wollte, heute nicht geht. Es ginge dann, wenn das gesellschaftliche, rechtliche und wirtschaftliche Leben auf dem gemeinsinnigen Prinzip aufgebaut wäre. Auf diesem Boden wäre auch eine Erneuerung des religiösen Lebens möglich und seine Beständigkeit gesichert, weil nur der von Gott gewollte Geist innerlich verbindend wirken könnte und weil eine Wechselwirkung zwischen den gerechten, gesellschaftlichen Verhältnissen und persönlichen, sittlichen Kräften sich auslösen müssten. Anders ist es auf der Welt von heute. Da ist jeder Staatsbürger auf sich selbst gestellt. Man kümmert sich um ihn, ob er getauft, amtlich getraut und begraben ist, polizeilich angemeldet, die Gesetze befolgt usw. Wo er arbeitet, wie sein Lohn ist, ob er davon leben kann, wie er wohnt, ob er für sein Alter etwas spart, wie er sein Leben endet, ob natürlichen Todes oder ob die Not ihn zwingt, sich zu erhängen, das alles sind seine persönlichen Angelegenheiten. In solchen Verhältnissen und in solcher Existenzunsicherheit fühlt sich jeder gezwungen, auf ehrliche oder unehrliche Weise zu erhäschen, was er kann, um seine Zukunft zu sichern wie auch die seiner Nachkommenschaft. Die Folge davon ist, ein Krieg des einen gegen alle oder umgekehrt. Nächstenliebe, Gerechtigkeitssinn, Mitleid werden Unsinn! Wer aus sittlicher Einsicht nicht mitmacht, der kommt unter die Räder. Selbst sehr religiöse Menschen, die alles, was Jesus von uns fordert, glauben und zu tun versuchen, ertappen sich oft dabei, wie sie doch dagegen Verstössen. Ihnen steht allerdings die Entschuldigung zur Seite, dass Jesus unerreichbar sei. Wir geben den Armen von unserem Brot, schenken ihnen Kleider, Schuhe und Wäsche, die zu tragen wir uns schämen, wir geben nicht mehr, als was unser Erhaltungstrieb, was uns die Sorge um das eigene Leben in der Gegenwart und Zukunft erlauben. Es fällt uns gar nicht ein, unsere Bedürfnisse so einzuschränken zugunsten anderer. Und die Gutgestellten oder die Reichen, die nicht so sehr wie wir um ihre Zukunft besorgt zu sein brauchen und die tun, als läge ihnen viel an der Erhaltung der Kirche und Religion, tun oft noch weniger als die Ärmeren. Wenn in solchen Verhältnissen kein Mensch die Religion so ernst nehmen will oder nicht ernst nehmen kann, wie Jesus sie nahm, warum wundern wir uns dann, dass die Religion zur blossen Sitte verflachen konnte. Deshalb brauchen wir uns auch darüber nicht zu wundern, wenn bei uns in Entscheidungen über wichtige Lebensfragen kein Mensch mehr sich um Rat an die Kirche wendet. 218

Sie glaubte, besser zu fahren, wenn sie sich in die Angelegenheiten der Menschen nicht hineinmischt, zu den Auseinandersetzungen nichts sagt, und so kam es also, dass der, der nichts zu sagen versteht, sich nichts zu sagen getraut, unbeachtet bleibt. In diesem Sinne habe ich die Lage der Kirche und deren Verhältnis zu dem Gegenwartsleben dargelegt und den Schluss daraus gezogen, dass in solcher Lebensorganisation eine erste im praktischen Leben sich auswirkende Religion unmöglich sei, das heisst nicht so möglich, wie Jesus sie sich mit dem Leben verflochten vorstellte. Zweitausend Jahre schon leuchtet dieses Ideal der Menschheit voran. Und wer von uns weiss, wann es verwirklicht sein wird? So wie das mischsoziale Ideal im christlichen Geiste schon lange auf eine Verwirklichung wartet, so ist es auch mit allen übrigen Idealen, mit den nationalen, sozialdemokratischen, kommunistischen und anarchistischen Idealen. Eins ist erhabener als das andere. Deren überzeugte Anhänger glauben an die Verwirklichung ihres Ideals, stellen Theorien auf, wie die Lebensorganisation sein soll, mühen sich ab, mit ihren Ideen in die Köpfe und Herzen anderer einzudringen und so der Erreichung ihres Zieles näher zu kommen, oft mit grossen Opfern, wie die ersten Christen. Hinter ihnen steht jene Menge, die das Reich der Gerechtigkeit sich auch wünscht, deren kindlichen Hoffnungen es nicht schnell genug geht. Dann kommen jene, die in der Gerechtigkeit ihren Untergang sehen und sie mit erlaubten und unerlaubten Mitteln zu verhindern suchen. Aber das grösste Hindernis in der Verwirklichung dieser Ideen sind jene, die das stärkste Interesse an der Gerechtigkeit haben sollten. Sie wissen auch nicht, dass ihre Idee, das Ideal, der Ausdruck höchster Sittlichkeit sei, dass sie Menschen feinster sittlicher Stufe voraussetzt, Menschen, frei von allen egoistischen und sonstigen tierischen Trieben. Sie wissen nicht, dass das von ihnen gewünschte Reich der Gerechtigkeit nur erst aufgebaut und gehalten werden kann, bis sie innerlich dazu fähig sind, dass das jetzt schon nur in dem Masse geschehen kann, indem sie ihre Gesinnung von unsittlichen Schlacken gereinigt haben. Das war der wahre Grund dafür, warum aus dem Christentum nicht das wurde, was die Urchristen aus ihm haben wollten. Und er ist der Grund auch dafür, dass die Verwirklichung der Ideen den Idealen so weit hinterherhinken. Unsere tierische und träge Natur schleppt sich Jahrtausende hinter dem Ideal hinterher. Wir wollen etwas, das wir nicht können. Dies einzusehen und zuzugeben, daran hindert uns unsere Eitelkeit und unser persönlicher Ehrgeiz. Wir überschätzen uns, indem wir meinen, weise und sittlich stark genug zu sein, schon heute das voll und ganz vollbringen zu können, was einst werden soll. Wir gestehen es auch dann noch nicht ein, wenn wir merken, wie wir in einer Gemeinschaft oder Organisation versagen, wo wir wissen sollen, wie weit un219

ser Recht geht und das der anderen. Nun wird der Leser gewiss auch hören wollen, wie ich über Politik denke, da er wohl schon gemerkt haben wird, dass ich in meiner Arbeit an ihr nicht vorbeigegangen sein kann. Gewiss nicht. Ich habe in meiner Arbeit viele politische Gespräche gehört, logische und unlogische und mich selbst an unzähligen beteiligt. Was lag mir aber an dem Namen der oder jener Partei, an deren Programm, wie, wann und ob es durchführbar sei, in dem Sinne wie Bellamy das Leben in der Zukunft schilderte? Die Erhabenheit der Idee mit ihren sittlichen Forderungen, wie der Mensch, der sich zu ihr bekennt und sie zu verwirklichen erstrebt, heute schon sein muss, zu zeigen, war der Sinn meines persönlichen Wirkens, frei von jedem bodenlosen Optimismus und entwurzelten Idealismus. Denn ich bin mir darüber völlig klar, dass dieselben Kräfte, die das religiöse Leben nicht zu dem werden lassen, wie es seinem Sinne nach sein sollte, auch im politischen Leben ebenso wirken. Wirtschaftliche, politische und rechtliche Benachteiligung der einen durch die anderen, Gier nach wirtschaftlicher und politischer Macht, Habsucht. Herrschsucht, herrischer Ehrgeiz und Stolz, Unwahrhaftigkeit, Hass und die tierischen Eigenschaften heissen, sie sind immer noch im Gemüt vieler Angehöriger aller Stände und Klassen von unten bis hinauf zu finden. Neid, Gehässigkeit, Verleumdungen, Raufereien, Mord und Totschlag sind ihre Früchte. Verwandte Interessengruppen bilden politische Parteien. Jede von ihnen ringt nach politischer Ubermacht, um so möglichst grossen Anteil von dem gesamten Volkseinkommen sich zu sichern, und sich von steuerlichen Pflichten zu entlasten. Andere, die durch solche Handlungsweise ihr Recht aufs Leben bedroht sehen, müssen sich durch Gegenwirkung schützen. Nun kann man die politischen und kulturellen Kämpfe - so bedauerlich wie sie auch sein mögen - noch verstehen, wenn die daraus entspringenden Motive ihnen tatsächlich zugrunde liegen. Verstehen besonders auf jener Seite, wo nicht allein die wirtschaftliche und politische Macht, sondern auch noch ein Ideal für eine gerechte Gestaltung des künftigen Lebens als Motiv gilt. Aber nicht verstehen kann man Parteibildungen, die solcher Motive rar sind. Die junge Generation protestiert gegen die Welt der Erwachsenen. Angefangen hat es schon vor dem Kriege in der Jugendbewegung. Das frühere Jungseinwollen will nicht mehr genügen. Man will an der Gestaltung des Volkslebens durch Gesetze mitbestimmen. Und warum sollen da nicht, wenn der Idealismus der Erwachsenen so gross war, dass sich die Tore der gesetzgeberischen Häuser den 20jährigen öffneten! Heute hat man es als angesehener junger Politiker nicht nötig, ein Jahrzehnt in einer Partei als Praktikant zu sitzen, der Majorität der Erwachsenen sich

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unterzuordnen, Erfahrungen und Kenntnisse zu sammeln, scharfsinniges und logisches Denken wie auch sonstige Führereigenschaften zu zeigen. Alle solche Proben sind heute nicht nötig. Man braucht nur zu können, sich behaglich mitzuteilen, und so viel versprechen, wie man der politischen Dummheit zumuten kann. Dann kann man einen eigenen politischen Laden aufmachen. Aber noch mehr als dies wirkt, wie man nun schon sehen kann, eine andere Erscheinung: der akademische Nachwuchs erlebt von Jahr zu Jahr stärkeren Uberschuss, die Aussichten auf Existenzmöglichkeiten werden immer geringer, der Wettbewerb immer schwerer, die akademische Bildung bietet nicht mehr so ein gesichertes Leben wie früher, und da entsteht, was in der Natur geschah, - ein Kampf ums Dasein. Die stärkeren Individuen behaupten sich, die Durchschnitts-Menschen - diese machen ja auch unter den Akademikern die Mehrheit aus - unterliegen in dem Kampfe, d.h. in dem freien Wettbewerb, wie er sich bisher abgespielt hat. Um so zahlreicher die akademisch gebildeten Individuen werden, um so unzureichender wir der Existenzboden für sie, und um so schwerer wird auch der Wettbewerb, das erzeugt sehr leicht den Gedanken, wenn man sich auf dem bisherigen natürlichen Wege nicht mehr behaupten kann, sich auf eine andere Weise durchzusetzen, man denkt an die Diktatur. Die Diktatur heisst aber dann nichts anderes als gewaltsamer Kampf der akademischen Individuen untereinander - ein Kampf ums Dasein anderer Art. Der Staat und die Gemeinden beschäftigen heute Millionen von Beamten und Angestellten. Um diese Posten geht es. Ist es nicht durch freien Wettbewerb, schliesslich auch nicht durch Parlamentarismus zu erreichen, so soll dieser Kampf ums Dasein durch das Mittel der Diktatur entschieden werden. Die Herrenmenschen-Theorie ist grau. Nietzsche würde sich gewiss freuen, wenn er sehen könnte, wie seine Theorie endlich einmal ein wenig politische Gestalt bekommen hat, aber er würde sich vielleicht auch sehr wundern, wenn er erkennen müsste, dass diejenigen, die seine Theorie verwirklichen möchten, kein so vollkommenes Geschlecht sind, wie er sichs wünschte. Die akademische Bildung macht es nicht aus. Mir ist schon so mancher junge Mensch begegnet, der sich von solchen grauen Gedankengängen hat bestechen lassen. Aber war es nur der zügellose Ehrgeiz und eitle Phantasie, die sie daran glauben Hess, aber nicht die Qualität an Charakterstärke, hohen geistigen und sittlichen Gaben. Auch mir ist in meiner Arbeit der Begriff Führer und Masse nicht unbekannt geblieben. Habe oft grosse Differenzen in den geistigen Veranlagungen, Charaktereigenschaften und der menschlichen Gesinnung vorgefunden. Und doch fühlte ich mich nie veranlasst, das Eine oder das Andere anders zu schätzen als es verdiente. Das Volk ist ein lebendiger Organismus. Da gibt es Füh221

rer und Geführte. Wäre die Masse nicht, könnte es keine Führer geben. So wie die Masse nichts dafür kann, dass sie Masse ist, so ist es kein persönliches des Führers, Führer zu sein, wenn die Natur ihn mit allen dazu nötigen Gaben ausgestattet hat. Nun gibt es aber doch auch unter den Führern qualitative Unterschiede. Ein Volksführer soll nach meiner Auffassung so beschaffen sein: Er soll durch Scharfsinn, vielseitige Kenntnisse, sozial-sittliche Gesinnung, Uneigennützigkeit, Treue, Wahrhaftigkeit, Mut und Tatkraft die Geführten überragen. Das ist der alte Führer, und das ist es, was ihn zum Führerposten hinaufhebt. Das sind auch meine Leitgedanken gewesen in meiner Arbeit. Und da ich stets die Sache so sah, war mein Bestreben, den jungen Leuten jenes grundlegende Wissen zu bieten, das sie später zum objektiven Denken befähigen sollte.

Bildnachweise S. 13, 51 S. 75 S. 113 S. 187 S. 205 222

EZA 626/ II 27,9 EZA 626 Privatarchiv Settlementprojekt/ Rolf Lindner EZA 626/II 27,9 EZA 626/ II 27,8

rer und Geführte. Wäre die Masse nicht, könnte es keine Führer geben. So wie die Masse nichts dafür kann, dass sie Masse ist, so ist es kein persönliches des Führers, Führer zu sein, wenn die Natur ihn mit allen dazu nötigen Gaben ausgestattet hat. Nun gibt es aber doch auch unter den Führern qualitative Unterschiede. Ein Volksführer soll nach meiner Auffassung so beschaffen sein: Er soll durch Scharfsinn, vielseitige Kenntnisse, sozial-sittliche Gesinnung, Uneigennützigkeit, Treue, Wahrhaftigkeit, Mut und Tatkraft die Geführten überragen. Das ist der alte Führer, und das ist es, was ihn zum Führerposten hinaufhebt. Das sind auch meine Leitgedanken gewesen in meiner Arbeit. Und da ich stets die Sache so sah, war mein Bestreben, den jungen Leuten jenes grundlegende Wissen zu bieten, das sie später zum objektiven Denken befähigen sollte.

Bildnachweise S. 13, 51 S. 75 S. 113 S. 187 S. 205 222

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Wunderwirtschaft DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren Herausgegeben von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst 2. Auflage 1996. 240 Seiten. 260, zum Teil farbige Abbildungen. Broschur. ISBN 3-412-08396-8

Entgegen der weitverbreiteten Stereotypisierung der DDR als Mangelgesellschaft werden in diesem BilderLesebuch nicht nur die Versorgungskrisen und Engpässe behandelt, sondern auch die Farbigkeit und Vielfältigkeit sowohl der Gegenstände wie der Lebensstile aufgezeigt. Mangelerfahrungen gelten zudem als Ursache für angeblich DDR-typische mentale Prägungen wie Gier, Genußsucht und Anspruchsdenken. Es wird angenommen, daß es aufgrund des beschränkten Angebots an Konsumgütern zu einer weitgehenden Homogenisierung und Egalisierung von Lebensstilen und Lebenslagen in der DDR gekommen sei. Demgegenüber stehen die Selbstbilder der Konsumenten als pfiffige Jäger und Sammler, als Initiatoren komplizierter sozialer TauschNetzwerke und als widersetzige und anspruchsvolle Kunden. Mit diesem Band soll daher auf soziale, geschlechts- und generationsspezifische Unterschiede in Lebensstilen und Lebensweisen der 60er Jahre aufmerksam gemacht werden. In dieser Zeit gab es interessante Versuche, eine eigenständige sozialistische Produktkultur auszuprägen. Zugleich fand ein ständiger Ost-West-Diskurs über Lebensstandard, Ästhetik und Verkaufskultur statt, der auch durch den Mauerbau nicht unterbrochen wurde.

"Ein hervorragender Ausstellungskatalog mit lehrreichen Aufsätzen zum Thema." (TAZ)

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN Theodor-Heuss-Str. 76, D - 51149 Köln

Skizzen aus der Lausitz Region und Lebenswelt im Umbruch Herausgegeben vom Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Sorbischen Institut Bautzen (Alltag & Kultur, Band 3) 1997. 312 Seiten. 25 s / w Abbildungen. ISBN 3-412-06997-3

Die Lausitz, sächsische und brandenburgische Braunkohlenregion am östlichen Rande Deutschlands, geriet in der Vergangenheit vor allem durch die geplanten und vollzogenen Abbaggerungen und Umsiedlungen einiger Dörfer in die Schlagzeilen der Presse. Daß dieser ökologisch und sozial umstrittene Abbau von Braunkohle zum Teil in einem Gebiet vollzogen wird, das als „sorbisches Siedlungsgebiet" ausgewiesen ist, macht die Problematik um so brisanter. Die sorbische Kultur werde zerstört, so argumentieren die einen. Die Braunkohlenindustrie garantiere Arbeitsplätze, argumentieren die anderen. Dieses Lesebuch vereint eine Reihe von anschaulichen Essays, die sich der Region und ihren Problemen ethnographisch nähern, ohne sich vorschnell auf eindeutige Antworten einzulassen. Subjektiv erlebter Alltag und lebensweltliche Erfahrungshorizonte, die nur vor dem Hintergrund der sozialen und ökonomischen Veränderungen nach der Wende zu verstehen sind, stehen im Mittelpunkt der Texte. Ein fotografischer Essay, der Raum und Landschaft in eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Aufnahmen dokumentiert, rundet die ethnographischen Skizzen visuell ab.

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