Mein Traum vom Dulden : Eine deutsch-jüdische Begegnung der anderen Art 3925016791

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Mein Traum vom Dulden : Eine deutsch-jüdische Begegnung der anderen Art
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Michael Zeller Mein Traum vom Dulden Eine deutsch-jüdische Begegnung der anderen Art Edition Isele

Das Kleeblatt steht saftig im Grün, und es ist rund. Be­ scheiden hält es sich am Bo­ den unten, eifert nicht nach Höhe, wächst in die Breite, in dichtem familiärem Ver­ band. Es macht die Weidegründe fett und das Vieh, von dem sich die Menschen nähren. Im Mittelalter wurde Klee gegen Magenschmerzen verordnet, und auch dem giftigen Tierbiß sollte er seine Wirkung nehmen. In der christlichen Mythologie ist der Klee einer Frau zugeschrieben, der Mutter des Religions­ stifters: Maria. Wie mag eine Stadt sich anfühlen, die ein Kleeblatt als ihr Wappenzeichen hat? Keine Löwen und Stiere, keine Greifen und Adler, gekreuzte Lanzen und Spee­ re — worin eine Stadtgemeinschaft sonst gern ihren geschichtlichen Ehrgeiz ausdrückt, heraldische Kraft­ gebärden, die den Betrachter einschüchtem sollen, nach innen wie nach außen: Fürth wappnet sich mit einem Kleeblatt, ein unscheinbares Pflänzchen, zu dem man sich herabbücken muß, dafür nährend und gesund und manchmal sogar ein Bote des Glücks. Herkunft und Symbolwert dieses Wappenzeichens sind, wie sollte es anders sein, umstritten. Am nahe­ liegendsten vielleicht die Deutung, darin die dreige­ teilte Herrschaft über die Stadt als Sinnbild hinein­ zulesen. Mir gefällt es, in der Logik meines Traums vom Dulden, in dem Kleeblatt auch die drei neben­ einander bestehenden Religionen - Katholizismus, Judentum, Protestantismus - verkörpert zu sehen, im Sinne Lessings, »Drey und doch eins«, wie es 1766 auf einer Fürther Inschrift heißt. Doch niemand sei

Im Zeichen eines Kleeblatts

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gehindert, tiefer zu dringen in den Symbolgehalt der Dreizahl — hinah in mythische und märchenhafte Gründe —, und die Drei als geheiligte Zahl der Har­ monie aufzurufen, nicht nur der göttlichen Dreieinig­ keit der Christen, sondern weiterzugehen in die Grundformen menschlichen Wahrnehmens und Den­ kens: die Dreidimensionalität unserer Anschauung vom Raum — der Dreiklang unserer Denkbewegung, in These, Antithese, Synthese. Immer jedenfalls bildet in der Drei das harmoni­ sche und harmonisierende Ineinandergreifen des Ge­ schiedenen sich ab: in der Drei kommt es zum Aus­ gleich und zur Ruhe. In dieser Harmonie kann man ein Geschenk der Götter sehen wollen, doch es läßt sich auch als tägliche Aufgabe verstehen, als Arbeit und Herausforderung, über das eigene und das ande­ re zu einem Dritten zu gelangen, in dem das Mensch­ sein erst beginne. Ohne ins Schwärmen zu geraten, ganz nüchtern sage ich: auf meinen Wanderungen durch Fürth habe ich viele Anzeichen dafür gefunden, daß sich diese Stadt nicht zu Unrecht im Zeichen des dreiblättrigen Kleeblatts sieht. Bescheidenheit fand ich hier, menschliches Maß und, daraus erwachsend, das Gel­ tenlassen des anderen: Geduld und Duldsamkeit. Kein Wunder, daß diese Stadt, früher wie heute, eher im Schatten der Geschichte liegt. Im Geschichtspro­ zeß dringen die lauteren, die schrilleren Stimmen durch, zum Nachteil der Geschichte, zum Nachteil von uns allen. Fürth ist für mich eine wohltuende Insel. Ich kenne keine andere Stadt in Deutschland, die sich weicher anfühlte als sie.

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Die Häuser der Juden, er­ klärt mir der Freund,könne man an den Mesusen erken­ nen. Mesusen? Hast du dich nicht versprochen? Nein. Mesusen — so heißen die kleinen Schildchen, die am rechten Türstock in den Stein eingelassen sind, in Schulterhöhe etwa. Beim Betreten oder Verlassen des Hauses solltest du mit dem Finger darüberfahren oder sie vielleicht auch küssen, so eine Art Segen wohl, verstehst du? Beim Schlendern durch die Straßen von Fürth achten wir auf die fremden Zeichen, aber, wie es immer in solchen Situationen geht — jetzt finden wir kein einziges. So müssen wir den Umweg über die Synagoge nehmen. Dort, so der Freund, sei auf jeden Fall eine Mesuse angebracht, das wisse er ganz genau. Wir stehen vor dem wuchtigen Bau, frühe Grün­ derzeit. Bürgerpracht. Der gelbe Sandstein schim­ mert hell, frisch aufgearbeitet wie er ist. Das war einmal das jüdische Waisenhaus, klärt der Freund mich auf. 1942 haben sie die letzten Kinder abgeholt, fünfzig Kinder ungefähr und in den Tod geschickt. Und jetzt findet hier seit Kriegsende der Gottesdienst der jüdischen Gemeinde statt. Das sind aber doch keine alten Fürther Juden mehr, frage ich, von früher? Nein, es sind alles Juden aus dem Osten. Sie haben sich erst nach dem Krieg hier angesiedelt. Ich schaue die Fensterreihen hoch, mit zurückhal­ tendem Bauschmuck, und verspüre eine - ja: feierli­ che Neugier. Der Wunsch ist stark in mir, in diesem Haus an einem jüdischen Gottesdienst teilzunehmen.

Steine lesen

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Hier, guck: da ist eine. Eine was? Ach so. Deine Mesusen. Der Freund steht am rechten Türpfosten, fährt mit der Hand über das fein ziselierte Messingtäfel­ chen. Man könnte es leicht übersehen, so schmal sitzt es im Stein. Zu Hause schaue ich im Lexikon nach und erfahre, daß hinter dem Messingschild ein kleines, handbe­ schriebenes Pergamentröllchen steckt, mit Versen aus dem fünften Buch Mose. Jetzt muß ich auch noch die Bibel holen. »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben«, lese ich dort, »lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen, und sollst sie über deines Hauses Pfosten schreiben und an die Tore«. Bei meinen nächsten Wanderungen durch Fürth erfahre ich am eigenen Leib die Wahrheit des Satzes, daß man nur das erkennen kann, was man schon kennt. Und es entwickelt sich bei mir beinahe zur Sucht: das Ausspähen der Hauseingänge nach dem bedeutsamen, fremden Zeichen der Mesuse. Immer wieder unterbreche ich meine Gehrichtung, überque­ re die Straßen und wieder zurück, daß mir das Ziel, wenn ich denn eines habe, bisweilen aus dem Sinn gerät. >Steine lesen« nenne ich diese Manie für mich, eher unbewußt als absichtlich, und ich lasse davon auch nicht ab, obwohl ich kein einziges Mal fündig geworden bin auf meinen Gängen durch die Stadt. Denn ich sah etwas anderes: ungewöhnlich hochlie­ gende Klingelschilder, grob verputzte Löcher im Stein an der besagten Stelle. Am schlimmsten empfand ich die sorgfältigen, die perfekten Überarbeitungen des

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Sandsteins im Türstock, die hellere Schicht, die ab­ sticht vom nachgedunkelten Grau der Fassade. Ich kann nicht mit Sicherheit behaupten, daß sie das winzige Loch, in dem vielleicht einmal eine Mesuse saß, verbergen wollen. Bedrückend bleibt er, der Verdacht, hier seien fein säuberlich die Spuren von früher getilgt. Die Steine jedenfalls haben für mich alle Unschuld verloren. Mit dieser Schuld, im Stein verborgen, habe ich zu leben, jenseits aller persönli­ chen Verantwortung. Wir alle haben damit zu leben.

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Natürlich gibt es in Deutschland ältere jüdische Gemeinden, und dennoch ist die von Fürth ein Uni­ kum, ein historischer Glücks­ fall, ein Modell dafür, wie das Zusammenleben von Christen und Juden in Eu­ ropa auch hätte aussehen können. Die ersten Juden siedelten sich in Fürth seit dem ausgehenden Mittelalter an, und nie, bis in unsere Zeit hinein, ins Jahr des Unheils 1938, steht ein Pogrom in den Chroni­ ken. Nie wurden, in all den Jahrhunderten, die Juden vertrieben aus der Stadt, und sie waren hier auch nicht in ein Getto gepfercht. Sie lebten, Hauswand an Hauswand, schiedlich-friedlich, neben den christli­ chen Bürgern, waren rechtlich und politisch annä­ hernd gleichgestellt, besaßen das Stimmrecht und verfügten gemeinsam mit den anderen über die Ge­ schicke der Gemeinde. Einmal sogar, im 16. Jahr­ hundert, soll ein Jude der Bürgermeister gewesen sein. Der Grund liegt darin, daß der Marktflecken Fürth machtpolitisch gewissermaßen ein Vakuum darstellte, oder anders gesagt, statt einer Herrschaft gleich deren drei über sich walten hatte. Diese drei Herren von Fürth - der Domprobst von Bamberg, der Markgraf von Brandenburg-Ansbach und die Freie Reichsstadt Nürnberg - teilten sich die Gewalt und beäugten einander, wie das in der Natur der Dinge liegt, voller Eifersucht. Ständig kam es zu Reibereien zwischen ihnen — die Fürther Geschichte liest sich als eine Abfolge von Landeshoheitsprozessen beim Reichskammergericht, und die zogen sich in der

Ein Gang durch die Geschichte

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Regel über Jahre hin und beließen dann alles beim alten. Aus dieser machtpolitischen Neutralisierung zogen die Fürther Büger ihren Vorteil und sicherten sich weitgehende persönliche Freiheiten. Und auch die Juden konnten sich diesen glücklichen Umstand zunutze machen. Mochten die Bamberger oder der Markgraf von Ansbach in ihrem eigenen Herrschaftsbereich auf das rabiateste mit den Juden umgehen - in Fürth, auf gleichsam exterritorialem Gebiet —, mußten sie sie in Ruhe lassen. Dorthin schoben sie ihre Juden ab und ließen sich dafür freilich die ansehnlichen sogenann­ ten Schutzgelder zahlen. Die relative Freiheit der Fürther Juden, größer als sonst irgendwo in Deutschland, führte zu einem ste­ tigen Anwachsen der Gemeinde. Ihre erste Blütezeit beginnt ab 1600. Ein Rabbiner wird nach Fürth geholt, eine Synagoge gebaut. In der Ausübung ihrer Religion wird den Juden freie Hand gelassen, in die Wahl der Rabbiner und Gemeindevorsteher und Ge­ richte redet ihnen keiner hinein. Jüdische Abgeord­ nete bestimmen die lokale Politik mit, und oft genug können sie ihnen mißliebige Projekte zu Fall bringen. »Im Vergleich zu den staatsrechtlichen Verhältnissen der übrigen Juden in Deutschland«, urteilt ein Histo­ riker, »erscheint das Recht der Fürther Juden, in den Gemeindeangelegenheiten der Hofmark Fürth Sitz und Stimme zu haben, als das bedeutendste, weil hierin eine Auffassung sich kundgibt, die der dama­ ligen Zeit fremd war und fernlag, nämlich die, daß bei gleichen Belastungen im Gemeindeorganismus auch die gleiche Berechtigung einzutreten habe.« Diese günstige Rechtslage zog immer mehr Juden

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nach Fürth, aus allen Teilen Deutschlands - aus Frankfurt, Mainz, Hamburg, aus Wien und Prag. Buchdrucker nahmen die Arbeit auf, eine jüdische Hochschule, die dritte nach Prag und Frankfurt, wurde gegründet und brachte es bald zu hohem Ansehen: die jüdische Rechtsschule von Fürth war als Appellationsgericht in ganz Europa gefragt. Schabbatai Scheffel Horowitz, der hier fünf Jahre als Rabbiner tätig war, ehe er 1632 nach Frankfurt weiterzog, sagte Fürth nach, es sei zwar eine kleine Stadt, »aber in meinen Augen ist sie so groß wie Antiochia, da sich dort hervorragende, scharfsinnige und wissenskundige jüdische Gelehrte befinden«. Wie stark der Einfluß der Juden auf die Geschicke von Fürth damals war, läßt sich an einem Streitfall aus dem Jahr 1693 zeigen. Es gehörte zu den Aufgaben der Nachtwächter damals, als öffentlichen Normaluhren, das Ende der Nacht anzukündigen. Jeden Morgen, in aller Herr­ gotts Frühe, begrüßten sie den neuen Tag, gereimt: »Ihr lieben Christen, seid munter und wacht, der Tag vertreibt die dunkle Nacht«. Gegen der Wortlaut »Ihr lieben Christen« erhoben die Juden Einspruch, denn die Nachtwächter wurden doch schließlich auch aus ihrem Säckel entlohnt. Sie gingen vor Gericht mit ihrem Zorn, es kam zum Prozeß. Und siehe: der Domprobst von Bamberg entschied zugunsten der Juden. Der Spruch des Nachtwächters von den »lie­ ben Christen« ward kassiert. Trotz aller bürgerlichen Errungenschaften: auch in Fürth war und blieb das Zusammenleben von Juden und Christen immer labil. Aus dem 18. Jahr­ hundert sind mehrere Fälle von »Bücherverfolgun­

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gen« bekannt. Die Juden wurden beschuldigt, in ihren Schriften das Christentum zu schmähen. Die Verdächtigungen kamen dabei, wie so oft, von Juden selbst, Abtrünnigen, die zum Christentum konver­ tierten und sich bei ihren neuen Glaubensbrüdern und der Obrigkeit lieb Kind machen wollten. Ein Fall von vielen, zitiert nach der Chronik des Georg Tobias Christoph Fronmüller: »Am 30. April 1744 predigten die von Pfarrer Lochner berufenen lutherischen Missionare Stephan Schütz und Hansenius, Magister von Halle, unter großem Zulauf in der St. Michaels-Kirche als Juden- und Heidenbekehrer. Ein Jude Benjamin, welcher damals in Ansbach an­ sässig war und dort Christ werden wollte, erhob die Anschuldigung, daß in den jüdischen Gebetbüchern und talmudischen Schriften Lästerungen gegen die Christen enthalten seien. Deshalb wurden durch eine eigene Commission sämmtliche hebräische Werke, die in den Judenorten des Fürstenthumes aufgetrieben werden konnten und besonders in Fürth, zumal aus der Bibliothek des Rabbiners Baruch Kohn, im Sep­ tember 1744 weggenommen. Achtunddreißig anstös­ sige Stellen wurden aus den beschlagnahmten Werken ausgezogen und in mehrfacher Vernehmung einer Reihe von Juden, besonders den Rabbinern von Fürth und Schwabach, vorgehalten. Die Verhörspro­ tokolle gaben mehr den Anschein eines philosophi­ schen und theologischen Disputatoriums als den einer Criminaluntersuchung. Nachdem man ein halbes Jahr so fort verhört hatte, wurde den Betheiligten der Strafbeschluß mitgetheilt, wonach die Landjuden­ schaft 50.000 Gulden bezahlen mußte. Die Fürther kamen mit einem Beitrage von 10.000 Gulden davon.

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Dem Benjamin mußte eine Gratifikation von 400 Gulden ausgezahlt werden; er hatte 1600 Gulden verlangt. Die jüdischen Gebetbücher mußten umge­ druckt werden.« In diesem lakonischen Chronistenstil, aus der Per­ spektive eines Christen natürlich, ist die gesellschaft­ liche Dynamik aufgehoben, die das Zusammenleben von Christen und Juden, nicht nur in Fürth, bestimm­ te und anderswo immer wieder Anlaß zu gewaltsamen Ausbrüchen war, jedesmal und immer zu Lasten der jüdischen Minderheit. Sozialer Neid stand dabei re­ gelmäßig Pate, schlecht getarnt mit religiösem Glau­ benseifer. Auch in Fürth gab es selbstverständlich viele wohl­ habende Juden. Sie waren ja, wenn man es überspitzt so sagen will, zum Reichtum verdammt. Zum einen bildete das »Schutzgeld« die einzige rechtliche, stets gefährdete Sicherung ihrer Existenz. Und dann wa­ ren die Juden, wie man weiß, auf Handel- und Geld­ geschäfte beschränkt, da sie vom Handwerk und von der Landwirtschaft ausgeschlossen blieben. Landes­ weit handelten die Fürther Juden auf Messen und Märkten: mit Gewürzen, Tuchen und Seide, mit Spie­ geln, Juwelen, Gold und Schmuck, später auch mit Vieh. Und nicht wenige von ihnen wurden sehr reich dabei. Ihr Einfluß nahm zu. 1720 lag die Zahl der jüdischen Bürger bei 1500 und machte damit nahezu ein Viertel der gesamten Bevölkerung aus. Ein Jahr zuvor, 1719, war von dem Bamberger Domprobst ein »Reglement für gemeine Judenschaft in Fürth« erlassen worden, dessen Libe­ ralität in Deutschland seinesgleichen sucht. In ihm wurden Religionsfreiheit und eine eigene Gerichts­

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barkeit, die lange schon praktiziert wurde, noch einmal ausdrücklich festgeschrieben, in einem or­ dentlichen Vertrag, bei Zahlung eines »Schutzgel­ des«, das versteht sich. Die Freizügigkeit, die man den Juden in Fürth ließ, trug bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ihre Früchte. Von Fürth gingen entscheidende Anregun­ gen zur Emanzipation der deutschen Juden aus, und nicht nur intellektueller Art. Viele Ämter wurden hier zum ersten Mal von Juden erobert. Der erste jüdische Rechtsanwalt in Bayern stammte aus Fürth, der erste Landtagsabgeordnete, der erste Richter ebenso wie der erste Schulrektor — alles in den vierziger bis sechziger Jahren des letzten Jahrhun­ derts. Und dennoch blieb - ein Wunder fast - dabei der soziale Friede in Fürth gewahrt, wenn man dem bayerischen Bezirksgerichtsarzt Dr. Adolf Mair glauben darf. 1861 von seinem König zum Rapport gebeten über die Lebensumstände in der neu-bayerischen Stadt Fürth, meldete er nach München: »Rühmlichst her­ vorzuheben ist die achtungswerte Duldung, gegensei­ tige Opferwilligkeit und unbegrenzte Wohltätigkeit Produkt der kaum irgendwo wieder so vorhandenen Eintracht zwischen Katholiken, Protestanten und Ju­ den.« Und die Juden zahlten es der Stadt zurück, daß sie ihnen die freie Entfaltung ihrer Möglichkeiten gönnte (die im persönlichen Fall natürlich immer hart erkämpft sein mußten, gegen ständig waches Mißtrau­ en und enormen Neid): jüdische Bürger waren bis ins 20. Jahrhundert hinein die freigebigsten Stifter und Mäzene der Stadt. Die mit ihrem Geld geschaffenen

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Sozialeinrichtungen kamen selbstverständlich auch allen nichtjüdischen Mitbürgern zugute. Sie zinsen zum Teil bis heute noch, obwohl zwischen 1938 und 1945, durch die wahnhafte Rassenpolitik der Natio­ nalsozialisten, auch in Fürth unter die jahrhunderte­ lang bewährte Praxis der Toleranz ein Strich aus Blut gezogen worden ist.

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Stadtbild, mit Menschen

Fürth ist keine Stadt wie die anderen Städte in Deutsch­ land. Beim Schlendern durch die Straßen spürt man etwas ganz eigenes hier, ohne daß man es gleich

benennen könnte. Die Architektur der Stadt ist geprägt von einer Ensemble-Wirkung. Außer der mittelalterlichen Michaelskirche gibt es vor dem 19. Jahrhundert keinen überragenden Einzelbau, sei er sakral oder profan, der das Stadtbild dominierte. Auch dies eine wohltu­ ende Folge der dreigeteilten Herrschaft. Der Bamber­ ger Domprobst, der Markgraf von Ansbach und die Nürnberger Patrizier ließen es nicht zu, daß sich einer baulich profilierte und über den anderen stellte. Keine Zentralgewalt konnte dem Gemeinwesen archi­ tektonisch ihren Stempel aufdrücken. Da Fürth kein Stadtrecht besaß, brauchte es auch keine Stadtbefestigung, keinen Mauerring, der sich vor den Blick und um die Köpfe der Bürger legte. Es wehte der freie Wind der Pegnitz- und Rednitzwiesen durch den Marktflecken, mit wirtschaftlichen Folgen: kein Zunftzwang schränkte die Handwerker ein. Wenn ein Schreiner hier Ärger hatte mit der Bran­ denburger Zunftordnung, dann trat er zu der des Bambergers über. Viele Nürnberger Handwerker, die dem einschnürenden Zunftwesen ihrer Stadt entrin­ nen wollten, ließen sich im wirtschaftsliberalen Fürth nieder und wurden schnell wohlhabend hier. Das Fehlen eines einheitlichen Ausdruckswillens im Stadtbild brachte es mit sich, daß Reisende im 19. Jahrhundert in Fürth sich an Amerika erinnert fühl­

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ten. »Fürth, ein Marktflecken, jetzt eine bedeutende Stadt mit 13.000 Bewohnern«, schreibt um 1840 der Reiseschriftsteller Gustav von Heeringen, »hat ein Ansehen, das dem neuer amerikanischer Städte am ähnlichsten sein mag; neue Häuser, vollkommen das Abbild der neuen Zeit, bieten einen auffallenden Gegensatz gegen die hohen, alten der im Osten ragen­ den Reichsstadt«. Die beiden Profanbauten, die in diesen Tagen das Stadtbild Fürths bestimmen, das Rathaus mit seinem hohen, dem Palazzo Vecchio in Florenz nachempfun­ denen Campanile, und das in neubarocker Pracht schwingende Theater — beide Gebäude sind Kinder des vergangenen Jahrhunderts und täuschen mit ih­ ren historisierenden Gesten einen Tatbestand vor, den es in Fürth nie gab. So wirken sie denn auch eher wie Kostüme, die eine späte Zeit über einen plötzlich als unzureichend empfundenen Körper wirft, zwei Kapriolen des Südens in heimischem Stein. Fürths Größe, seine Schönheit, ja seine Einzigar­ tigkeit liegt im geschlossenen Ensemble der Straßen­ züge, intakten Häuserfluchten mit stark rhythmisier­ tem Fassadenprofil. Wer heute durch die Blumen­ straße flaniert, die Mathilden-, Marien-, Hirschen-, Otto-, Schiller- oder Theaterstraße, der darf sein Auge an architektonischer Einheit laben, die nirgend­ wo, an keiner Ecke - ich schwöre es - zur Eintönigkeit absinkt. Wie Jahresringe kann man von ihnen able­ sen, wann sie aus einem Guß und doch mit genügend bürgerlicher Individualität des Einzelbaus, hochge­ zogen worden sind: dreistöckig zumeist, mit flachen fränkischen Erkern. Und im Erdgeschoß heute? Schmalbrüstige Läden, die Auslagenfenster zwischen

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eisengegossene korinthische Säulchen geklemmt, bie­ ten türkische Videos an oder Mokkatassen oder Au­ berginen. Hart daneben hingesetzt ein mächtiger, venezianisch anmutender Palazzo, mit Romeo- und Julia-Balkon, in unseren Tagen natürlich ein Bank­ institut. Da ich mir immer weniger ausreden lasse, daß Architektur auf die geistige und seelische Verfassung ihrer Benutzer zurückwirkt, glaube ich, daß sich in diesem demokratisch geprägten Ambiente die Duld­ samkeit der Fürther herausbilden konnte. Wer nicht tagtäglich den Kopf zu himmelanstrebenden Kathe­ dralen oder Palästen emporrecken muß, die ihn mit Kleinheit schlagen, schlagen sollen, sondern wer ge­ raden Blicks, die Füße fest am Boden, bei sich bleiben darf, der ist eher zu einem Nebeneinander von Gleich zu Gleich gesonnen, auch in seinem Verhalten einem Nächsten gegenüber. Hier sagt es sich leichter »Du« als an Bischofssitzen, in Fürstenresidenzen oder Pa­ trizierstädten. Und vielleicht ließ sich sogar der Gott der Schlachten von diesem menschlichen Maß des Fürther Stadtbilds milde stimmen: Fürth gehört zu den ganz wenigen Städten mit heute über 100.000 Einwohnern, die den Zweiten Weltkrieg so gut wie unbeschadet überstanden haben. Ich weiß zunächst nicht, warum sich mir in diesem Zusammenhang die Szene aufdrängt, die der Philo­ soph Ernst Glöckner erzählt, als er sich im Alter an seine Kindheit und Jugend in Fürth erinnert. Unab­ weisbar will sie jetzt jedenfalls weitergegeben sein. »Im März 1920«, schreibt Ernst Glöckner, »ver­ brachte ich die Osterferien in Fürth; ich war damals junger Doktor und seit einigen Monaten nach Heidel­

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berg übergesiedelt. Da gab es einen schönen sonnigen Frühlingsnachmittag, und ich saß gerade in meinem ehemaligen Gymnasiastenzimmer am Schreibtisch, als ich zu meinem Erstaunen tappende Schritte hörte. Kein Zweifel: meine Großmutter, die sonst kaum noch das Zimmer verließ, das wir ihr in den letzten Jahren ihres Lebens bei uns eingeräumt hatten, machte mir einen Besuch. Unsicher um sich spähend kam sie herein. Als sie mich erblickte, blieb sie stehen und sagte leise: >Schick mich net fort; laß mich a bißle bei dir!< Ich führte sie zu einem Stuhl und wollte mich plaudernd neben sie setzen, aber das ließ sie nicht zu. Ich mußte Weiterarbeiten; sie wollte nicht stören. Um sie nicht zu verscheuchen, tat ich ihr den Gefallen; sie saß mäuschenstill und sah nur eben vor sich hin. Aber in Wirklichkeit waren wir beide bei­ einander: sie war bei mir und ich bei ihr, genauso wie vor zwanzig Jahren; und wir wußten es beide. Nach einem Viertelstündchen erhob sie sich wieder und kehrte langsam in ihre Stube zurück. Mir war sonderbar zu Mute. Vierzehn Tage später wußte ich: sie hat Abschied genommen wie das Leben Abschied nimmt, wortlos und ohne Getue, aber unwi­ derruflich und ohne Wiederkehr.« ***

Ein anderes Beispiel für die Gestimmtheit von Men­ schen in Fürth — fast hätte ich keine Scheu, hier von Gemüt zu sprechen -, erlebe ich genau siebzig Jahre später, ebenfalls an einem »schönen sonnigen Früh­ lingsnachmittag« . Ein Blütenduft hing in den engen grauen Sraßen — wo mochte er hergeweht kommen? Nirgends war ein

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Strauch zu sehen. Die Sonne wärmte mehr als nur die Haut beim Flanieren durch die Stadt, mit offenen Sinnen und ohne Ziel. Ich stellte mich in einem Steh-Cafe ans Fenster und schaute auf das Geburts­ haus von Ludwig Erhard — ein bescheidener zweige­ schossiger Bau im Schatten des imperialen Rathauses von 1850: hier wurde der zweite Kanzler der Repu­ blik im Jahr 1897 geboren. Zwei Männer in Arbeitskitteln, Handwerker, ver­ plaudern schräg hinter mir bei einer zweiten Tasse Kaffee ih re Pau se. Tief und trocken ihre Stimmen. Der eine schiebt die Lederkappe hoch und kratzt sich am verschwitzten Haaransatz. »Wird Zeit«, meint er, »daß wieder mal ein ge­ scheiter Winter kommt!« Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken. »Ja«, stimmt der andere zu, »so ein November, wo es gescheit friert, so wie früher.« Draußen, vor dem Fenster, probierten junge Tür­ kinnen, Arm in Arm, die neuen Frühlingsfarben aus, wie sie das »City Center« vor die Kunden streute. Die Übereinstimmung, in der sich die beiden Handwerker befanden, senkte sich als gute Ruhe über das KaffeeLokal. In mir ein Lachen, ganz tief innen, das Stun­ den vorhielt. ***

Wer sich Stadtansichten von Fürth aus dem 19. Jahr­ hundert anschaut, der kann sich tatsächlich in ameri­ kanische Verhältnisse hinein versetzt fühlen. Über den Straßenzeilen erheben sich, dicht an dicht, hohe Schlo­ te - Errungenschaften der anbrechenden Industriali21

sierung: die Dampfmaschine hatte Einzug gehalten. Aber auch hier keine Gettoisierung: die handwerklich geprägte Stadt integrierte den neuartigen Energiespen­ der in die alte Baustruktur. Arbeit und Privatheit, Wohnung und Produktionsstätte blieben in diesem bürgerlich gestimmten Klima eng verflochten, griffen ineinander wie die beiden Hände, die tätig sich regen. Selbst ausgesprochen herrschaftlichen Wohnhäusern sind im Erdgeschoß die Comptoirs zugeordnet. Im Hof dann, in Backsteinbau, die Fertigungsbetriebe, Klein­ fabriken, hochspezialisiert. Manche technologischen Bevolutionen kamen seit­ her über die Stadt, die meisten Schornsteine sind geschleift inzwischen. Doch die alten Gehäuse, das bauliche Ineinander von Leben und Arbeit, von Kriegszerstörungen verschont, haben sich bis heute erhalten. Hinter nahezu jedem Haus, mit repräsen­ tativen Fassaden aus Sandsteinquadern (kein Ver­ blendbau natürlich, sondern massiv), öffnet sich ein Hof, in dem gewerkelt wird. Und hier, in Fürth, halten die Hinterhöfe noch, was sie versprechen. Wenn man sie betritt, spürt man sofort: sie leben. Keine mit Blumenkübeln aus Beton verhunzten Wohnidyllen für ein kinderloses Mittelstandsehe­ paar, das seine Sinnkrise mit fortschrittlicher Alt­ bausanierung betäuben will. Hier, in Fürth, ist der Hof noch ein Schauplatz von Handel und Wandel, Ort kleinbetrieblicher Wirtschaftsenergie — eine Off­ set-Druckerei, ein Schreiner, ein Glaser, eine Auto­ reparaturwerkstätte, ein Lager für Baustoffe. Hier lärmt es und stinkt es, es ist schmutzig, je nach Branche, jedenfalls kein Nostalgie-Museum mit ei­ nem vom Stadtbegrünungsreferat subventionierten

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Amselpärchen. Die meisten Höfe sind gepflastert. In manchen krüppelt ein Strauch an einer Mauer vor sich hin in festgetretener Erde, so ein mickriges Kellerpflänzchen, wie sich’s gehört. Aber es gibt auch Höfe hier von ganz anderer Art.

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»Unbefugten Zutritt verbo­ ten« warnt es über dem Hofeingang. Das Schild so verrostet, kaum lesbar mehr, daß es mich zur Probe reizt. Altes Pflaster zieht mich hinein. Ich stehe in einem Karree von Häusern - Grau in allen Tönen. Die Quader der Sockel, aus weichem Sandstein, bröselnd, weißgrau bis schwarz, keine Nuance ausgelassen. Das Grau der Fürther Häuser - wer das beschreiben könnte... Darüber die Schieferschindeln, in Rautenmuster an­ gebracht, um die Fensterstöcke herausgebrochen. Taubenkot hellt ihr Anthrazit auf. Schwarz gepechte Holztore, wie blinde Augen. Ob sie überhaupt noch zu öffnen sind? Vergitterte Fenster, verrammelte Ver­ schlüge. Vor einem Fenster Sperrholzplatten statt Glas. Kein Zeichen von gegenwärtigem Leben, kein Laut. Nur Tauben. Sie nutzen die Weite des Hofs für ihr Segeln, oder sie tippeln ruckend übers Gestein wer sollte sie hier stören? —, oder sie jagen einander die Firste hoch. Wäscheleinen vor den Fenstern. An einer baumelt Jeans-Bläue im Dutzend. Quer über den Hof, von Haus zu Haus, elektrische Leitungen. Eine Dieselzapfsäule steht in der Ecke, daneben eine Blechwanne. »Obst« lese ich, in Frakturbuchstaben auf das Mauerwerk gedruckt, ausgeblaßtes Schwarz. Ein Parkverbotsschild, die Farbe längst abgeplatzt. »Holz- und Sägewerksbesitzer Dr. Stauffer« steht an einer Tür ohne Klinke. »17-18 Uhr für Sonder­ wünsche«. Wann hatte hier jemand zuletzt Sonder­ wünsche, überlege ich: 1950? 1920? Oder gar 1890? Oben, in den Gauben, entdecke ich ordentliche

Vergessene Zeichen

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Gardinen. Über mir, im Rücken, knarrt ein Fenster. Ich zucke zusammen. Bin also doch nicht ganz allein hier. Beobachtet mich jemand schon die ganze Zeit über? Kein Laut sonst, außer dem Gurren der Tau­ ben. Ein Platz, ins Träumen zu geraten, aus der Zeit zu fallen. Die Gegenwart wird dünn, frühere Zeit­ schichten scheinen durch, schieben sich übereinan­ der. Lustvolle Schauer laufen mir über den Rücken, Kindheitsängste, Kindheitswonnen, Altes, Uraltes je­ denfalls. Und das inmitten einer kleinen Großstadt, keine Minute vom Grünen Markt entfernt mit seinen wuchtigen Bürgerhäusern aus dem Barock. Die Rück­ seite der Geschichte, Kehrseite des Abendlands. Ein Orient hat den anderen abgelöst. Ich schließe die Augen, höre den Tauben zu und stelle mir vor, daß hier, genau hier, wo Mendel Kohn, Vorgänger jenes unauffindbaren Dr. Stauffer, seinen Zwirn verkauf­ te, heute Yildirim Simsek mit den Seinen wohnt und lebt, von Anatolien statt von Jerusalem träumend.

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Ohne eigene Atmosphäre ist der Hinterhof, durch den ich auf meinem Weg zur Is­ raelitischen Kultusgemein­ de komme. Zwar blühen Tulpen hier und Stiefmüt­ terchen, und ein Ahorn hängt vom Nachbargrund­ stück schwer über das Gemäuer. Aber auch der Blumenschmuck wirkt wie zufällig hier, will sich nicht eigens zeigen. Im Büro des Rückgebäudes: Fotografien der bis­ herigen Regierungschefs von Israel an den Wänden. Ich bin mit zwei Mitgliedern der jüdischen Gemeinde verabredet, einer Dame, einem Herrn, beide im Ren­ tenalter. Wir gehen in den Versammlungsraum Tisch an Tisch, hochgestellt die Stühle. An der Stirn­ seite ein Podium mit dem Präsidiumstisch, die Fahne Israels darauf - so schmucklos, wie die Säle für geschlossene Gesellschaften in einem Gasthaus sind. Um nicht in der Leere des weiten Raumes zu ertrin­ ken, richten wir uns in einer Ecke ein. Der Einsatz unseres Gesprächs ist von Vorsicht bestimmt. Kein versteckter Argwohn, sondern die offen gestellte Frage, was die Absicht meines Besuches sei. Seit den jüngsten Wahlerfolgen der Rechtsradikalen hätten sie die Anweisung, sich ihre Gesprächspartner vorher genau anzuschauen. Ich schäme mich, daß in Deutschland jüdische Menschen schon wieder Anlaß, berechtigten Anlaß zu solcher Sorge haben. So halte ich es auch jetzt, beim Schreiben, für geraten, die Namen meiner beiden Gesprächspartner zu verändern. Simon, wohl nicht mehr weit entfernt von seinen Achtzig, ein zierlicher Mann. Er spricht mit dem harten polnischen Akzent und zieht die Verben nach

Ester und Simon

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vorn in Subjektnähe, als er mir über den gegenwär­ tigen Stand der jüdischen Gemeinde in Fürth berich­ tet. Der graue Anzug unterstreicht seine Person, die ganz in der Unscheinbarkeit aufgehen will — vielleicht sogar mit Absicht? Selbst sein vom Alter ausgearbei­ tetes Gesicht mit den tiefen Furchen verliere ich immer wieder im Laufe unserer Unterhaltung. Es sei schwer für sie hier, die zehn Männer zusam­ menzubekommen, ohne die ein jüdischer Gottesdienst nun einmal nicht durchführbar sei. Auch deshalb habe man das Freitagsgebet auf den Samstagvormit­ tag verlegt. Manchmal seien sie auch dann noch zu wenig, aber der Rabbi Chaplin, von den amerikani­ schen Truppen aus der Südstadt, ein Colonel oder Captain, jedenfalls habe er zwei Streifen auf den Schultern, ein sehr orthodoxer Jude übrigens — Rabbi Chaplin bringe meist ein paar seiner Soldaten mit, um die Reihen der Gläubigen zum Minjan, der gottes­ dienstfähigen Gemeinde, aufzufüllen. Ihr eigener Rabbi, Rabbi Appel, sei erst vor kur­ zem aus Israel zu ihnen gekommen und versorge andere jüdische Gemeinden im süddeutschen Raum mit. Er stamme aus der Bukowina und spreche genü­ gend deutsch. »Wissen Sie, wir sind eine liberale Gemeinde hier«, wirft Ester ein. Sie ist eine gepflegte Dame um die Siebzig. Rot auf den Lippen, das hellblonde Haar mit Sorgfalt gerichtet. Ein schmuckes Kostüm. »Wir sind nicht orthodox in Fürth. Die Orthodoxen in Israel sind mir genauso fremd wie Ihnen. Aber die Religion ist doch wichtig für uns — sie hat uns immerhin die zweitausend Jahre in der Diaspora zusammengehal­ ten und überleben lassen.«

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Auch Ester spricht das harte Deutsch des Ostens, allerdings viel abgeschliffener als Simon. Wie groß denn ihre Gemeinde sei, einschließlich derer, die nicht zur Synagoge kommen, will ich wis­ sen. Das sei nicht so leicht zu sagen, meint Ester. Viele lebten teils in Israel, teils in Fürth, kämen eines Tages wieder, blieben für immer fort. Eine genaue Zahl ließe sich schwer geben. Ich spüre, daß Ester meiner Frage ausweichen will. Simon, der ihre Worte mit einer kleinen Eifer­ sucht belauert, weil er viel lieber selber plaudert als zuhören zu müssen — beide sind per Sie übrigens -, Simon bestätigt meinen Verdacht. Die Partei der Rechtsradikalen um diesen Schönhuber habe bei der letzten Kommunalwahl in Fürth vier Stadträte durch­ gebracht. Sie müßten vorsichtig sein als Juden hier, um nicht wieder das Ziel antijüdischer Propaganda oder gar von Übergriffen zu werden. Die beiden alten jüdischen Menschen nehmen die Umtriebe der Rechtsradikalen sehr ernst, in Fürth wie in der gesamten Republik. »Wenn Sie sich damit begnügen wollen: wir sind eine relativ kleine Gemeinde, allenfalls hundert. Da­ mit diese Schönhubers nicht wieder große Augen bekommen...« Wie sie beide denn ausgerechnet in Fürth hängen­ geblieben seien, ist meine nächste Frage. »Hat das etwas mit der großen jüdischen Tradition dieser Stadt zu tun?« Seit 1945 sei er schon hier, und natürlich aus schierem Zufall, beeilt sich Simon, Ester zuvorzu­ kommen. Ester lehnt sich zurück und läßt Simon

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seine Lebensgeschichte erzählen, fast ohne ein Zei­ chen von Ungeduld. Er stamme aus Polen, aus Lodz. 1942 kam er nach Auschwitz, mit seiner Frau und dem kleinen Kind. (Daß er Frau und Kind seit Auschwitz nicht mehr gesehen hat, erwähnt Simon nicht eigens, es läßt sich aus dem weiteren Gespräch erschließen.) Dann sei er, 1943, nach Landsberg verlegt worden, Landsberg am Lech, »kennen Sie es? Dort mußten wir Bunker graben, unterirdische Gänge für Messerschmidt. Die Baufirma hieß ...« Simon kommt nicht mehr auf den Namen. Und dann, 1945, nach der Befreiung, habe er im Lager einen Anschlag gelesen, daß in Fürth Lebens­ mittelkarten an Juden verteilt würden. Und da sei er hierhergefahren — »no, und da bin ich geblieben bis hejt«. In den fünfziger Jahren habe er ein Visum für die USA erhalten, aber zur gleichen Zeit auch hier seine Taxi-Lizenz — eigentlich handele er ja mit Tex­ tilien -, und seine Frau habe er damals auch schon gekannt — »und, no, so bin ich geblieben hier bis hejt«. Doch viele Juden seien nach dem Krieg wieder fortgegangen von Fürth, nach Israel und in die Ver­ einigten Staaten, fünf- oder sechshundert bestimmt. Auch Ester stammt aus Polen, aus Oberschlesien. Auch sie hat Auschwitz überlebt. Zunächst sei sie in Polen geblieben, und erst in den sechziger Jahren, als das Leben in Polen nicht mehr zu ertragen gewesen sei, nach Deutschland gekommen. »Und wieso nach Fürth?« »Der Bruder einer Nichte meines Stiefvaters lebte hier.« Ester mit ihren wachen Augen sieht, daß ich lä-

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cheln muß. Aber sie lacht nicht mit. Ihr Gesicht bleibt ernst. »Ja, unsere Familie hat gut zusammengehalten. Das war sehr wichtig für uns, wissen Sie.« Sie habe mittlerweile sogar schon etwas Heimatge­ fühl entwickelt, erzählt sie weiter. Ihre Kinder lebten längst in Israel, und sie fliege jährlich einmal zu ihnen, mindestens einmal — aber leben dort? Nein. Niemals. Die Sprache sei ihr fremd, das Ivrit, die Kultur, das ganze. Sie sei, auch in Polen, in der westlichen Kultur großgeworden. Und seit sie hier lebe, habe sie viel über die imposante jüdische Ver­ gangenheit von Fürth erfahren, und wenn sie so durch die Straßen gehe, die Rosenstraße, die Königswarterstraße hinab —, dann spüre sie noch etwas von jüdischem Leben hier, auch wenn es vergangen sei, für immer. Ich frage sie nach Jakob Wassermann. Natürlich sei er ihr ein Begriff. Ja, sie wisse, daß er aus Fürth stamme, ein großer Schriftsteller, sie kenne auch sein Geburtshaus, in der Alexanderstraße. »Aber ich kannte ihn schon früher, als Mädchen, zu Hause, da habe ich seinen >Caspar Hauser< gele­ sen, in polnischer Übersetzung, wissen Sie.« Wir plaudern ein bißchen über Wassermann. Ich empfehle Ester vor allem sein Buch »Mein Weg als Deutscher und Jude«, als das beste, was ich zu diesem Thema gelesen hätte. Und einige seiner Romane seien derzeit wieder als Taschenbücher im Handel. Sie kaufe sich keine Bücher mehr, wehrt Ester ab, sie leihe sie sich nur noch in Bibliotheken aus. »Bücher gewinnt man lieb, wissen Sie. Man kann sich so schwer von ihnen trennen, wenn man ...«

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Wie tief die Erfahrung des Abschieds in ihr lebt Abschied als prägender Lebenseindruck. Immer wie­ der holt er sie ein. Dazu sind keine Antisemiten hierzulande nötig, aber sie verstärken ihn natürlich, untermischen ihn wieder mit einer höchst gegenwär­ tigen Angst. Simon hatte sich zurückgezogen aus unserer Un­ terhaltung. Literatur interessiert ihn wohl wenig. Er ist, als Geschäftsmann, ein Mensch der Praxis. Jetzt, da Ester schweigt, belebt sein Gesicht sich wieder. »Scheene neue Häuser ham se gebaut, neue scheene Häuser hier, von de Überschüsse aus de jiddische Stiftungen...« Und er nennt die bekannten Namen der jüdischen Mäzene aus Fürth: Nathan, Berolzheimer, Neumann, Königswarter. Aus den Einkünften ihrer Stiftungen sei das Geld zusammengekommen, mit dem die Stadt gerade vier Häuser mit Sozialwohnungen habe errich­ ten können. Bis heute arbeite das Kapital weiter, das einstmals jüdische Bürger gestiftet hätten, »und nicht für die Steuer ham se’s gegeben, wie ist heute üblich, einfach so ham se’s gegeben«. Ob das die Leute vom Schlag eines Schönhuber wohl wüßten? Aber sie, als jüdische Gemeinde, hätten natürlich keinen Einfluß auf die Verteilung dieser Gelder. Das erledige die Stadt. »Und jetzt ham se eben vier neue Häuser gebaut damit.« Der Name Schönhuber — und was mit ihm zusam­ menhängt an schlimmen Erinnerungen —, dieser Na­ me drückt schwer auf Ester, ich kann es sehen. »Es war 1942«, erinnert sie sich, leise. »Wir oberschlesischen Juden wurden zusammengetrieben, dreißigtausend Menschen, Alte, Junge, Frauen, Kin­ 31

der, in ein Fußballstadion. Wir standen den ganzen Tag über in der glühenden Sonne. Aber das will ich nicht erzählen. Meine Kinder in Israel fragen mich immer wieder: Warum habt ihr euch das alles gefallen lassen damals? Ihr wart jung und mehr als sterben konntet ihr doch nicht. Warum habt ihr euch das gefallen lassen? Die Bewacher von der SS, die das Fußballstadion umstanden, waren hundert Leute. Nein, weniger, fünfzig, höchstens fünfzig. Und wir, wir waren dreißigtausend. Und wir haben uns nicht gerührt, sind stehengeblieben, Stunden um Stunden. Wir haben es einfach nicht geglaubt, daß die Deut­ schen so etwas tun könnten, die Deutschen mit ihrer großen Kultur. Für uns in Polen waren die Deutschen das kulturelle Vorbild, wissen Sie. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen«, sagt sie und schaut mir in die Augen dabei. Es ist keine Redensart. »Ich will Ihnen nichts erzählen, was Sie schon wissen.« Mit heftigem Nicken bestätigt sie Simon. »Zu uns nach Hause kam ein Bekannter damals, ein junger Mensch, wo hatte fliehen können aus Treblinka. Er hat uns erzählt, daß de Dejtschen mit de Maschinen­ gewehre einfach so in de Juden reinschießen, so mit de Gewehre einfach. Wir haben ihn gehalten für einen Schlemihl, was will sich wichtig machen. Wir hätten können fahren nach Auschwitz mit der Straßenbahn, in einer Viertelstunde. Den Polen hätten wir’s schon zugetraut, aber de Dejtschen...« Zu dritt sitzen wir an dem kleinen Tisch, eng beieinander, die beiden Juden aus Polen, Insassen von Auschwitz und jetzt Fürther Bürger, und ich, der Deutsche, Sohn der Täter. Jeder von uns hängt, für einen knappen Augenblick, seinem eigenen

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Schweigen nach. Hier sagen Worte gar nichts mehr. Beim Hinausgehen sehe ich im Vestibül des Vor­ derhauses die lange Ehrentafel für Fürther Juden, die als deutsche Soldaten und Offiziere zwischen 1914 und 1918 gefallen sind, in Stein gemeißelt. Draußen, auf dem Bürgersteig, sticht die Sonne auf einen deutschen Alltag von angenehm werktägli­ cher, nicht hektischer Betriebsamkeit herab - Fürth kurz vor dem Mittagessen.

*** Beim Mittagessen, einer Portion fränkischem Spargel im Wirtshaus »Walhalla«, lese ich die Worte nach, mit denen Thomas Mann seinem Kollegen Jakob Wassermann die Sorge vor einem Antisemitismus in Deutschland ausreden wollte. »Deutschland«, be­ hauptet Thomas Mann überzeugungsstark in seinem Brief von 1921, »Deutschland, kosmopolitisch wie es ist, alles aufnehmend, alles zu verarbeiten bestrebt, ein Volkstum, in dem Nordheidentum und Südsehn­ sucht sich ewig streiten, westliche Bürgerlichkeit und östliche Mystik sich vermischen — sollte es ein Boden sein, worin das Pflänzchen Antisemitismus je tief Wurzeln schlagen könnte? Wie ich bin und lebe, muß ich so fragen...« Nach dem Essen bin ich wieder mit dem Freund verabredet. Wir schlendern durch den Park, im Rücken die Umrißlinie der Stadt mit dem überall gegenwärtigen florentinischen Campanile des Rat­ hauses, vor uns die weiten Wiesen des Espan im Pegnitzgrund. Das Gras steht schon wieder so hoch, daß spielende Kinder darin bis zu den Hüften einge-

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sunken sind. Genau diesen Punkt, wo wir jetzt stehen, hatte Hermann Glocker im Sinn, als er in seinen Lebenserinnerungen schreibt: »Hier hat man den schönsten Blick auf die Stadt. Langgestreckt und klar silhouettiert, von den beiden Türmen der Michaelskirche und des Rathauses überragt, liegt sie da: weder lieblich, noch großartig, sondern in schlichter bür­ gerlicher Einfachheit. Sie hat mich nie begeistert, ist mir aber immer recht gewesen; nie habe ich sie mir romantischer oder interessanter gewünscht.« Um 1880, holt der Freund uns aus dem Schauen zurück, hätten an die dreitausend Juden in Fürth gelebt, ein Zehntel etwa der damaligen Bevölkerung. Aber in diesen Jahren, als die Gründerzeit einen großen wirtschaftlichen Aufschwung für das Deut­ sche Reich brachte, habe es eine Umschichtung unter ihnen gegeben. Die wohlhabenden Juden seien in lukrativere Städte weggezogen, nach Nürnberg etwa oder nach München. Dafür seien die Ostjuden nach­ gerückt, aus Galizien, aus Rußland. Es sei zu erheb­ lichen Spannungen in der Gemeinde gekommen, in sozialer, kultureller und religiöser Hinsicht, wenn man überhaupt noch von einer Gemeinde hätte reden können. Doch die Gründerzeit sei auch die Stunde der großen jüdischen Mäzene gewesen, von Männern, längst über den engen Fürther Rahmen hinausge­ wachsen, weitläufige Figuren, in der Hoch-Zeit der Assimilation, die dennoch, oder vielleicht eben des­ halb, ihre Wurzeln hier nie vergaßen. Heinrich Berolzheimer zum Beispiel, der Bleistiftfabrikant, habe lange in Amerika gelebt und dort die Zweigfabrik des väterlichen Betriebs zu einem der bedeutendsten Un­ 34

ternehmen der Bleistiftbranche seinerzeit hochge­ bracht. Dann sei er zurückgekommen nach Fürth und habe hier eine reiche philantropische Tätigkeit ent­ faltet: er stiftete das Berolzheimerianum, das mit seiner Volksbücherei, der Lesehalle und Vortragsräu­ men eine Pflegestätte der Erwachsenenbildung wur­ de. Bis heute ist im Berolzheimerianum die Fürther Stadtbibliothek untergebracht. Oder der Hofrat Al­ fred Nathan, Rechtsanwalt von Beruf, den eine heim­ tückische Krankheit in den Rollstuhl zwang. Er hat sich deshalb mehr in Meran als in Fürth aufgehalten. Aber hier, in seiner Vaterstadt, habe er eine knappe halbe Million Reichsmark für ein Wöchnerinnen- und Säuglingsheim gespendet, weil Fürth um die Jahrhun­ dertwende eine hohe Säuglingssterblichkeit aufwies. Dieser Alfred Nathan sei übrigens eine schillernde Figur gewesen, ein Lebemann großen Stils, und ne­ benbei, in seinen stilleren Stunden, habe er sogar Gedichte geschrieben, mehrere Bändchen, eines trage - in unnachahmlicher Synthese von Fürhter Mundart und dem Jiddischen — den Titel »Klaane Scherzlich«. Wenn er das einmal bei einem Antiquar in die Finger bekäme.., lächelt der Freund über die Wiesen hinweg in Richtung des Stadtteils Ronhof, wo das Stadion der Spielvereinigung Fürth liegt. 1933 war die Zahl der Juden schon auf zweitau­ send zurückgegangen. Fünfzehnhundert von ihnen retteten sich in die Emigration, indem sie ihren Be­ sitz, wie das damals hieß, »arisieren« ließen — die unverschämte Umschreibung von Enteignung. Fünf­ hundert Juden seien hiergeblieben, sie seien alle umgekommen. Sein Vater habe die Zerstörung der Synagoge im

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November 1938 miterlebt, als ein Junge von zehn Jahren, erzählt der Freund. Nachts wurden die jüdi­ schen Menschen auf die »Fürther Freiheit« getrieben und die Frauen und Kinder von den Männern abge­ sondert. Aus ihren Betten seien sie gerissen worden von den braunen Schergen. Kinder, oft nur im Schlaf­ anzug oder Nachthemd, froren in der Novembernacht und drängten sich jammernd an ihre Mütter. Oft habe ihm der Vater erzählt, wie er die Kinder schreien hörte: »Mir ist kalt, Mutter, mich friert...« Bis heute noch klinge ihm das im Ohr. Die Männer habe man, perfiderweise, ausgerechnet ins Berolzheimerianum gebracht, um dieses mit jüdischem Geld geschaffene Bildungs-Institut zu verhöhnen. Von dort seien sie nach Dachau gekommen. Mit der »Arisierung« ihres Besitzes — viele Juden seien Textilhändler gewesen — hätten sie wieder freikommen und ins Ausland ent­ weichen können. Für diese »Arisierung« hätten die Juden sogar noch eine Verwaltungsgebühr an den neuen Staat entrichten müssen. Die armen Juden aber, die nichts zu »arisieren« hatten... Sein Großvater übrigens, sagt der Freund und bleibt stehen, hebt die Schultern in schierer Hilflo­ sigkeit, sein Großvater sei als Sozialdemokrat auch nach Dachau gekommen. Eine kleine Erleichterung für den Enkel vielleicht heute, Fürther von Geburt und Neigung, der seine Stadt liebt und sich dennoch für sie schämen muß. Denn es gibt eine Art von Geschichte, die niemals vergeht und niemals verges­ sen sein darf - der Zukunft zuliebe.

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Die Frage nach dem Herzen einer Stadt ist die Frage nach ihrem Mittelpunkt. Selbst der kühnste Bauherr kann kein Zentrum schaf­ fen, vom Reißbrett aus. Ein Zentrum muß wachsen, über Jahrhunderte oft. Doch Zentren können auch wandern... In Fürth haben die drei miteinander konkurrie­ renden Herrschaften die Ausbildung eines baulichen Mittelpunkts verhindert. Man mag das als einen Man­ gel betrachten. In meinem Traum vom Dulden haben mehrere Zentren ihren Platz. Sie lassen dem, der die Stadt benutzt, größere Freiheit. Jeder kann sich sein eigenes Zentrum wählen. Für mich bildet der alte Jüdische Friedhof das Herz von Fürth. Seine Lage, inmitten der Altstadt, dürfte ebenfalls ein Unikum in Deutschland sein, besonders in seinem heutigen Zustand. Man stelle sich das vor: im Zentrum einer kleinen Großstadt heute, direkt vor dem gelungenen Neubau der Fürther Stadthalle — ein weites, welliges Gelände, von einer mannshohen, häßlichen Mauer umgeben, gekrönt von zwei Bahnen Stacheldraht an manchen Stellen. Nur Bäume sieht man ragen, Stamm an Stamm, und dunkel. An ein paar wenigen Ecken kann man sich, auf Zehen stehend, an ein Gitter gedrängt, einen Bück stehlen: auf Gräber. Doch die Steine lassen sich nicht in die Gesichter schauen. Mit ihrer blinden Rückseite weisen sie die Blicke ab. Die Nazis haben natürlich auch diesen Ort der Toten geschändet, das war ihnen Ehrensache. Die Steine umgeworfen, zer­ brochen, zum Teil an Steinmetzen verschachert. Der

Eine Stadt und ihre Herzen

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enge Baumwuchs, untypisch für einen jüdischen Fried­ hof, deckt die großen Löcher, die durch den Vandalis­ mus des braunen Pöbels entstanden sind. »Der Juden­ friedhof« , erinnert Hermann Glöckner sich an die Tage der Jahrhundertwende, »der Judenfriedhof bildete in dem staubigen Blaugrau der größtenteils mit Schiefer verkleideten Häuser eine Art Naturschutzpark und war in seiner Art so romantisch, wie nur je einer von Ruisdael gemalt worden ist. Die von Unkraut um­ wucherten, verwitterten Grabsteine waren eingesun­ ken, umgefallen oder neigten sich nach allen Seiten; uralte Baumkrüppel behaupteten sich zwischen wild­ wachsendem Sträuchergestrüpp; die Hauptwege waren in Ordnung gehalten, aber keine Blume zierte die absichtlich verwahrlosten Ruhestätten; da und dort lag ein gepflegter, d.h. noch von regelmäßigen Besuchen kündender Steinhaufen. Mein Freund Blüth hat mir die Sache später erklärt. Er meinte, der Brauch stam­ me aus der Zeit der Wüstenwanderung. Da habe man die Grabstätten mit Steinhaufen zugedeckt, um sie vor den wilden Tieren zu bewahren, und jeder Vorüberge­ hende sei verpflichtet gewesen, diese schützende Last zu vermehren.« ***

Fragte man einen jungen Fürther nach dem Herzen seiner Stadt, wird er vermutlich das »City Center« nennen, und er wird es, in korrekter deutscher Hoch­ lautung, >Zitty Zenter< aussprechen. Dieses Einkaufs­ zentrum aus unseren Tagen kann man wirklich als den Versuch bezeichnen, der Stadt einen Mittelpunkt zu geben.

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City Center: schon der Name steht für sein Pro­ gramm. In Amerika würde man »Mall« dazu sagen, und von dort ist die Anlage auch inspiriert. Trotz seiner großen Dimensionen hat das City Center etwas Leichtes, Behelfsmäßiges, scheint jederzeit verschieb­ bar, von keiner repräsentativen Gebärde beschwert. Der Betonkern als Gerüst verschwindet hinter Leicht­ metallen, ist überflutet von hellen Farben und dem Licht, das das Glasdach durchläßt. Innen flimmert Grün, das Grün des Kleeblatts als Gegenfarbe zu dem lastenden Grau der Stadt. Auf vier Etagen, ober- und unterirdisch, die Verkaufsebe­ nen des modernen Container-Marktplatzes, verbun­ den durch ein System von Rolltreppen und Aufzügen. Automatisierte Bewegung, stetes Unterwegssein, end­ los vervielfältigt durch Spiegeleffekte, in denen der Kunde sich selbst und den Waren immer wieder begegnet, kein Entrinnen. Bewegung ohne Ziel - das Unterwegssein selbst. Keine Sitzplätze, keine Bänke - dafür ist der Platz hier zu teuer. Eine Mannschaft von einladend fröhlichen Men­ schen, die jungen Körper in schmucke weiße Overalls verpackt, lassen an einem Stand in Plastikbechern Limonade testen - ein bewährtes Produkt, aber jetzt die »Leicht«-Version, die kalorienschonende. In ei­ nem weiten Bogen - aus Respekt? aus Vorsicht? — halten sich die Testpersonen, aus allen Altersgrup­ pen, fern von der jugendlichen Fröhlichkeit, den winzigen Plastikbecher in der Faust, nippen, weichen zurück und drängen sich doch auch heran. Über das ganze Gelände ein Tonschleim gegossen, vollkommen unidentifizierbar, die Gebetsmühle zeitgenössischer Unterhaltungsmusik, die nicht ins Ohr soll — ins Blut

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soll sie dringen, soll Laune machen, Knickerseelen sprengen. Nur ein wenig der Szenerie entrückt, kommt mir die Veranstaltung des City Centers wie die Gesell­ schaft auf einem Ausflugsdampfer vor. Ja, der größte Charme dieser Anlage ist für mich der Anschein von Vorläufigkeit. Das Ganze hat deshalb auch etwas durchaus Befreiendes an sich. Vor unseren Kindes­ kindern werden wir uns nicht zu verantworten haben dafür — bis sie groß sind, wird sich dieses Herz schon wieder selbst verzehrt haben: das Glas zersprungen, das Leichtmetall der Verkleidung abgeplatzt, das Betongerüst dem Spiel einer Eisenbirne überlassen — eine vollkommen andere Art des Umgangs mit Gebäu­ den, den wir erst noch lernen müssen.

***

Es ist ein angenehmer Frühlingsabend, nicht kalt, nicht warm, als ich hierher zurückkehre. Das bunte Leben des City Centers ist Punkt 19 Uhr jäh erlo­ schen. Moderne Zentren haben ihren Stundenplan. Um mich eine irreale Leere. Die Stille ringsum ist zu hören, so dicht hängt sie in der Straße. So leer und still und sauber alles - eine Sauberkeit, um die uns die vergangenen Epochen beneidet hätten - mit ihrem Kot und den Abfällen in den Straßenrinnen. Wissen wir eigentlich immer so genau, wonach wir uns zu­ rücksehnen, wenn wir die Sterilität unserer moder­ nen Städte beklagen? Die alten Fotografien von da­ mals, die uns dazu verführen, sie haben einen Nacht­ eil: sie riechen nicht... Auf der Fassade des City Centers mit seinen vor­ 40

geblendeten Platten aus Sandsteinzement entdecke ich die alte Tafel dann, die darauf hinweist, daß an dieser Stelle früher das Geburtshaus des »berühmten Schriftstellers Jakob Wassermann« stand. Da hier sonst nichts weiter zu vermuten ist, werfe ich einen Blick in das »Spielcenter Tip Top« nebenan. Auch Literatur ist Spiel, nicht zum geringsten. Ein junger Mann auf hohem Hocker bedient mit zwei Fingern die sargähnliche Kiste zwischen seinen Knien, die ihm mit ein paar Blinkzeichen dankt und ihn, wenn die Auto­ matenmuse ihn küßt an diesem Frühlingsabend drau­ ßen, mit einem selbstbezahlten Freispiel beschenkt. Ich bummle die Alexanderstraße abwärts; hier also sah und hörte und roch sich Jakob Wassermann ab 1873 in die Welt hinein, als Sohn eines armen jüdischen Kolonialwarenhändlers. Die Glocken von »Unserer Lieben Frau« schwingen zum Abendläuten aus, immer reicher werdend ihr Klang, die Straße füllend, da sie nichts zu übertönen haben hier. Die­ selben Glocken hörte auch Wassermann damals. Sie begleiteten seine Kindheit und gaben ihr etwas Frem­ des mit, ein Stück Sehnsucht nach dem Anderen. Waren es diese Glocken, die er in seinem Fürth-Ro­ man »langsam strömen« läßt »wie dunklen Wein aus grünem Glas«? Jetzt stehe ich vor dieser katholischen Kirche, dem kühlen, etwas steif gegliederten Rotsandstein-Tem­ pel. Erst im frühen 19. Jahrhundert, nachdem Fürth bayerisch geworden war, konnte die kleine katholi­ sche Gemeinde von Fürth an den Bau einer eigenen Kirche denken. »Die Erbauung einer katholischen Kirche dahier ist im Werke«, heißt es in einem Zir­ kulare aus dem Jahr 1819. »Wir Lutheraner sollten 41

gemeinschaftlich mit der hiesigen israelitischen Ge­ meinde unsere brüderliche Gesinnung gegen unsere katholischen Glaubensgenossen dadurch öffentlich bewähren, daß wir zur Förderung der guten Sache und zur Ausführung des Kirchenbaus freiwillige Be­ träge unter uns bestimmen.« Vor dem Ergebnis dieser guten Sache stehe ich in dieser Frühlingsabendstunde und lasse ihr Läuten in mich gehen, als eine Erinnerung an die Möglichkeit von religiöser Toleranz. Was einmal möglich war, ist immer möglich. Was einmal erreicht wurde, bleibt Aufgabe für die Zukunft.

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Die Südstadt von Fürth jenseits der Bahnlinie Nürnberg-Frankfurt gele­ gen, das einstige »Glas­ scherbenviertel«, so genannt nach der früher hier ansässigen Spiegelindustrie. Ihre Altlasten drücken die Stadt bis heute. Die Werte von Quecksilber sind immer noch erschreckend hoch, hundert Jahre, nach­ dem der letzte Spiegel in Fürth damit belegt wurde. In der nächsten Zeit werden deshalb einige Häuser abgerissen werden müssen. Und sonst? In der Südstadt findet man, statt des in Deutschland mittlerweile heimisch gewordenen »Hair Dressing Studios«, noch das Wort »Frisör« über der Ladentür, mit »ö« natürlich, hinter der man sich, statt sich einer keralogischen Haarspitzenthera­ pie zu unterziehen, schlicht die Haare schneiden lassen kann. Am südlichen Stadtrand von Fürth breitet »Victory Village« sich aus. Dieses »Dorf des Sieges« bildet seine eigene Welt. Die Flößaustraße markiert die Grenze. Eck an Eck stoßen hier der »Texas Pub« und »Vickys Country and Rock Bar« an das »Fränkische Pilsstüberl«. Die Wirtshausschilder weisen unter­ schiedliche Biersorten aus, sie stammen aber, wie der Kenner weiß, aus einer Brauerei. Die Kasernen längs der Steubenstraße sind deut­ scher Herkunft, von vor dem Ersten Weltkrieg noch. Knatterte nicht das Sternenbanner im vorbildlich blauen Himmel heute - man müßte schon genau die Schilder und Aufschriften studieren, um herauszube­ kommen, wer hier sein Kriegslager aufgeschlagen hat. Auch die zahlreichen Grillroste auf dem Streifen

Dorf des Sieges

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Grün zwischen den Wohnblocks verraten jetzt nicht, ob an den Sommerabenden auf ihnen ein Barbecue oder Bratwürstel zubereitet werden. Doch, etwas befremdet mich. Ich spüre es beim Gehen durch das Militärgebiet der Amerikaner, vor­ bei an der William O. Darby-Kaserne, in der die Erste Panzerdivision liegt: die Autos fahren anders. Sie schleichen beinahe, rollen leise dahin auf weichen Pneus. Es ist nicht so sehr eine Frage der Geschwin­ digkeit. Die Automatik der amerikanischen Wagen erspart das ruckweise Kuppeln, das bei uns den Fahrvorgang so unruhig wirken läßt und ihm den Anschein von Aggressivität gibt, und oft genug mehr als den Anschein. Mit dieser Überlegung stehe ich vor dem langge­ streckten Flachbau der High School, auch sie sternenbannerbeweht. Jugendliche sitzen auf dem Rasen davor, in der Sonne, plaudern, lachen. Pause offen­ bar. Ich betrete die Schule, setze mich im Schulhof zwischen die kids, ohne daß jemand Notiz nimmt von mir. Sie holen sich ihren hot dog an einer Bude, vor der ein Tisch steht mit Ketchup und anderen dubio­ sen Gewürzsoßen in knetbaren Plastikflaschen. Das Klingelzeichen. Die Freiheit hat ein Ende. Langsam leert sich der Hof. Jungen und Mädels, Schwarze und Weiße, südamerikanisch und asiatisch geprägte Köpfe, vereint unter der einen Baseballkap­ pe. Ich folge den kids ins Foyer mit der deutschen, mit der amerikanischen Flagge. An der gegenüberlie­ genden Wand hinter Glas die Sporttrophäen, die die Schule angesammelt hat. Ein Hausmeister im Blau­ mann, eine Türklinke und einen Schraubenzieher in den Händen, quert das bunte Jungvolk. Aus seinem 44

Bärengang schließe ich, daß er ein Deutscher ist. Die schrillen Schreie vom Übermut der Pause auf dem sonnigen Hof verlieren sich in den dunklen Gängen zu den Klassen. Zum zweiten Mal die Klingel. Ein paar Nachzügler hasten vorbei, einen Pappbe­ cher mit Kaffee balancierend. Dann ist Ruhe. Jetzt schreiten Erwachsene durch das Foyer, ein Buch, ein paar Blätter baumeln ihnen salopp in der Hand. Die Stunde des Lehrers. Nie wirkt er majestätischer viel­ leicht als in dieser Szene. Innerlich applaudiere ich ein wenig so für mich, da steht einer dieser gefährlich gestählten, schlanken, grauäugigen Mittvierziger vor mir, einen Schokoladenriegel zu Ende kauend. Ob er mir helfen könne, fragt er, streng eher als hilfswillig. Nein, sage ich und bedanke mich. Ob ich denn eine Anmeldung habe, setzt er nach. Der Schokoladenriegel ist niedergekaut inzwischen und behindert die Amtsmiene nicht länger, sich voll zu entfalten. Nicht nötig, sage ich, ich bin bereits am Gehen. Sie brauchen eine Anmeldung, insistiert er. Kom­ men Sie bitte. Ich traue mich nicht, sein großzügiges Angebot auszuschlagen. Er führt mich zur Treppe, zu einer Gruppe Kollegen, stellt meinen Fall kurz dar, ver­ schwindet, ohne Gruß. Eine kaffeebraune Frau über­ nimmt mich. Lacht mich an, kehlig. Das Lachen kommt aus dem ganzen Oberkörper. Es steckt an. Ich lache mit und denke mir schon, das war’s dann also, genug der Anmelderei. Als hätte sie meine Gedanken gelesen: schlagartig Ernst in ihrem Gesicht. Ein Kon­ trollblick auf mich, ins Gesicht, in die Augen, tief. »Was tun Sie hier?« fragt sie scharf. Mit dieser

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gutturalen Stimme sollte sie lieber den Blues singen und nicht solche Fragen stellen. Ist ja eine Schande für die Stimme. Das verrate ich ihr aber nicht, sondern sage artig mein Verslein auf. Die braune Frau macht die einzig passende Bemerkung zu diesem Vers und wischt mit einem »O.k.« die ganze Szene weg. Schulen sind und bleiben eben Schulen. Mit dieser tiefen Einsicht stehe ich wieder auf der Straße, vis ä vis die Wohnblocks des »Siegesdorfs«. Wohin jetzt eigentlich? Ja, richtig, die Jakob Wassermann-Straße wollte ich doch suchen hier draußen. Warum die Fürther ausgerechnet diese Straße im amerikani­ schen Feldlager nach Wassermann benannt haben, war mir ein Rätsel. Gleich wird es gelöst sein. Sie sieht nicht anders aus als ihre Umgebung. Rechts die Zahnklinik der Armee. Links Wohnblock an Wohnblock, zweistöckig, mit ausgebauten Mansar­ den. Was hatte ich denn erwartet? Die Ruhe fällt mir auf hier, trotz der Kinder auf den Schaukeln und Wippen. Solch eine Stille zur Mittagsstunde! Zwei Tauben auf dem Pflaster fallen auf mit ihrem Lärm. Ein Schwarzer poliert seinen Mercedes Benz, der Transistor schnurrt auf Kam­ merton. Ein Nato-Grün-Braun-Gescheckter trägt wippenden Schritts ein Dienstschriftstück von hier nach dort. Dazwischen rollt lautlos ab und an eine Limousine vorbei. Kaum zu glauben, daß das alles hier, Ergebnis des letzten Kriegs, mit einem neuen Krieg zu tun haben sollte. Doch ganz hat sich der deutsche Ordnungsfuror nicht aus dem amerikanischen Siegesdorf vertreiben lassen: Abfallcontainer für Weißglas/Grünglas/Braun-

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glas/Metall/Dosen/Altpapier - o Gott, was werden die Amerikaner sich kringeln über so viel bürokratisier­ tes Umweltbewußtsein! Doch die Fürther Stadtväter bewiesen Takt. Um einen Kulturschock zu vermei­ den, ist die Beschriftung für die unterschiedlichen Abfallsorten nur in Deutsch gegeben. Als die Jakob Wassermann-Straße von der John F.Kennedy-Straße gekreuzt wird, kehre ich um. Jetzt erwarte ich endgültig keine literarischen Erleuchtun­ gen mehr. Ein Kino gehört noch zum Siegesdorf, ein Einkaufsmarkt, ein Imbißstand. Dann ist Schluß. Die Tankstelle mag im Grenzland liegen, aber der Sport­ platz auf der anderen Seite der Schwabacher Straße ist einwandfrei deutsch, wie ich sehe. Hier wird der gute alte runde Fußball gekickt und nicht das komi­ sche krumme Ei und schon gar nicht die martialische Baseballkeule geschwungen. Wieder in Fürth also. Aber so simpel ist es nicht mehr mit den Grenzen heutzutage, gottlob. Als ich, knapp diesseits der Flößaustraße, in der »Kornblume« einkehre und mir zu Mittag einen Teller Erbsensuppe bestelle, sitzen am Stammtisch unter den Fürther Eingeborenen zwei Schwarze, der hellere könnte aus Hawaii kommen. Man trinkt Weizenbier und redet deutsch. Nur wenn die Ureinwohner die Schnupfta­ baksdose kreisen lassen, pressen sich die beiden Dunk­ len zurück an die Lehnen ihrer Stühle und lassen die köstliche Prise an sich vorübergehen.

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Der legendäre Ronhof ist von der Innenstadt aus leicht zu Fuß zu erreichen. Auf der Ludwigsbrücke überquert man die Pegnitzauen, auf denen zu jeder Zeit Privatmannschaften dem Fußball hinterherjagen. Der Ronhof? Muß ich es wirklich erklären? Hier ist die Heimat der Spielvereinigung Fürth. Heute spielen die Fürther in der vierten Liga, und ihre sportliche Legende wird nur noch schwach am Leben gehalten von ihrem letzten weltbekannten Anhänger, Henry Kissinger, Global-Stratege aus Fürth und Wa­ shington, doch der soll, wie ich höre, mittlerweile auch von ihnen abgefallen sein. Ja , es gab Zeiten, da schnalzten die Fußballfreun­ de in ganz Deutschland mit der Zunge, wenn vom Fußball der Spielvereinigung Fürth gesprochen, nein: geschwärmt wurde. Seither allerdings sind ein paar Jährchen ins Land gegangen... Ich lasse das Fußballstadion mit der imposanten Vergangenheit zunächst rechts liegen und biege in das Villenviertel ein. Großzügig gebaute Häuser, aber ohne jeden abweisenden Protz, in dieser Frühlings­ zeit besonders freundlich mit den blühenden Büschen der Vorgärten. Die letzte Straße läuft auf einen Acker aus. Gemüsebeete, von Plastikplanen überwölbt. Ich tippe auf Kohlrabi. Jenseits des Feldes, hinter einer Hecke, steht das gedämpfte Dröhnen der Stadtauto­ bahn zwischen Fürth und Nürnberg. Ab und an ein Huschen im jungen Grün. Hier draußen hat Charly Mai sich niedergelassen, einer der elf »Fußballgötter«, die 1954 in der

Ein Mann — ein Mythos

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Schweiz Fußballweltmeister wurde — für Deutsch­ land. So hieß das damals noch in aller Offenheit. Dieser elf Männer waren begabte Fußballspieler und wurden, Gunst der Stunde, mehr: Figuren der Zeit­ geschichte. Der Hausherr kommt mir entgegen, im neuesten Trainingsdreß der hiesigen, weltweit operierenden Sportartikelfirma. Schlank und drahtig. Obwohl die Fotografien, von denen ich sein Gesicht her kenne, bald vierzig Jahre alt werden, weiß ich sofort: Das ist er! Ja, natürlich habe er Zeit, wenn er damit »unse­ rem Fürth« einen Dienst erweisen könne. Charly Mai hatte mir am Telefon gleich einen Termin zugesagt. Daraufhin zog ich die alten Bücher der Kindheit noch einmal hervor, aus einem abgelegenen Teil der Rega­ le. Die Staubballen darauf so dick wie nirgends, zum Schämen. Aber nicht wegen des Drecks. Wegen des Abgestorbenseins der eigenen Kindheit geniere ich mich vor mir selbst: unter Staub liegt sie begraben. Bei jeder der alten Schwarten, die ich herausziehe, muß ich ans offene Fenster treten, das Staubgewölle abblasen, dann die Bürste ansetzen, so fest klebt der Schmutz auf dem Anschnitt, anschließend die Hände waschen. Fast möchte ich gleich unter die Dusche gehen, als die Reinigungsprozedur abgeschlossen ist. Aber dann ist doch die Neugierde stärker. Erst muß ich lesen, lesen. Dieser Sonntag im Juli, 1954: er gehört zu meinen ältesten historischen Erinnerungen. Ich könnte die Situation genau beschreiben, das Zimmer, als wir, die Mutter, zwei Buben, um den Volksempfänger herum­ saßen, der große Bruder durfte schon ins Wirtshaus 49

gehen, wo ein Fernsehgerät aufgestellt worden war. Ich habe sie noch im Ohr, die Stimme Herbert Zim­ mermanns, ab- und überkippend, sein langer Schrei, mit dem er Helmut Rahns Torschuß zum 3:2 über die Ungarn in unserer Stube Wirklichkeit werden ließ: »Tooor ... Toooor-------Tooor für Deutschland!« Die Ungarn - so fremde Menschen, auch Bern eine andere Welt — wo lag die Schweiz? So richtige, lebenspralle Wirklichkeit wurde für mich, den knapp Zehnjährigen, das »Wunder von Bern« aber erst, als ich das Buch von Fritz Walter geschenkt bekam mit dem lakonischen Titel »3:2«. Wie ich dieses Buch verschlang — so habe ich nie mehr gelesen seither. Rundherum, mit feuchtem Finger. Die letzten Seiten geschafft, und gleich wieder von vorne, oder weiter, noch einmal. Ja, ich habe beim Lesen förmlich in Glück gebadet. Woher dieses Glück sich speiste, kann ich heute wohl ahnen, von ferne, und belasse es auch lieber dabei. Was soll man daran rühren? Es war so, zu seiner Zeit, neun Jahre nach dem Ende dieses Kriegs. Das »Wunder von Bern« jedenfalls ist eine Gefühlskerbe in meiner Biografie geworden, ob ich es mag oder nicht. Jetzt erkenne ich den Mann auf Anhieb wieder, von dem ich anhand ein paar kleinformatiger Schwarz-Weiß-Bildchen weiß, wie er vor nahezu vier­ zig Jahren aussah: schweißverklebte Haare in der Stirn, das weiße Leibchen mit dem Adler, knielang die schwarze Hose, bizarr gestreckt der Körper im Zweikampf, Arm an Arm, mit einem Ungarn. Danach dann, in der Hocke, das Siegerlächeln, ein Mann erschöpft und blaß und fadennaß, denn es regnete ja, wie wir wissen, an jenem 4. Juli 1954 im Wankdorf50

Stadion zu Bern, da Deutschland, wir alle, Fußball­ weltmeister wurden. Natürlich ist das Gesicht von Charly Mai heute das Gesicht eines Mannes in den Sechzigern. Scharf sind die Kanten eingeschnitten um den Mund, ein Schwei­ ger-Mund, und die schmale Figur verrät beim Gehen die Zerbrechlichkeit ihrer Jahre. Auch Fußballgötter altern eben, als Personen. Ein Wunder langt für ein Leben. Doch ihre Legende ist unberührt davon. Das geräumige Wohnzimmer, in dem wir uns hin­ setzen, ist dunkel und engt mich ein, übermöbliert wie es ist. Der Chow-Chow Bubi erwidert mein Fremdeln, blafft mich an, gibt keine Ruhe, wird ausgesperrt vom Herrchen, findet einen Schlupf zurück, blafft mich wieder an, beknurrt meine Hand, zum vorsichtigen Streicheln ausgestreckt. Wegen Bubi gehen wir in den Keller hinab: ein Party-Keller seligen Angedenkens, mit wuchtiger Hausbar, Eiche. An den holzverschalten Wänden die Wimpel und die Fotografien mit den großen Taten von einst, all den vertrauten Gesichtern. Hier fühle ich mich sofort am Platz. Zunächst wollen, das ist klar, die alten Zeiten angesprochen sein. Deshalb sitzen wir beide ja hier beisammen, das verbindet uns, über die Generation hinweg. Ich frage Charly Mai nach dem weiteren Verlauf seiner Karriere, die sich für mich im Dunkel verlor. Ich weiß gerade noch, daß Mai 1958 Fürth verließ und zu Bayern München wechselte. Was ich eigentlich erfahren will von ihm an diesem Nachmittag, ist sein Verhältnis zu Fürth, der Stadt, in der er geboren wurde, eine Karriere machte, die bis heute mit dem Namen der Spielvereinigung Fürth

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verbunden ist, und in die er endlich, nach siebzehn Jahren in München, zurückgekehrt ist, in der er sich niedergelassen hat, mit seiner Frau und einem ChowChow statt Kindern, einen Steinwurf nur von jenem Fußballstadion entfernt, in dem er sechzehn Jahre lang Fußball spielte, von Kindesbeinen an, und von wo ihm an den Wochenenden der Wind die Schreie der wenigen Fans, auf die die Anhänger dieses einst­ mals so berühmten Vereins geschrumpft sind, in den Garten trägt. Heute geht er nur noch selten hin in dieses Stadion, und wenn, dann hauptsächlich, um die alten Freunde von damals zu treffen. »Sonst sieht man sich ja kaum mehr«, sagt er. »Und viele sind schon weggestorben.« Ich höre aus seinen Worten Distanz zum Verein, spüre auch, daß er sich darüber nicht äußern mag vor einem Fremden. Seine Legende, wie er sie sich zurechtgelegt hat, kann ihre Schmerzstellen nicht verbergen. Bitterkeiten brechen auf. In den zwei Stunden, die wir uns unterhalten, lacht Mai nur mit den Augen, nie mit dem Mund. Er ist ein Mann von trockener Art, hart, kantig, unbeugsam, so wie man das auch seiner Spielweise nachsagt, als defensiver Außenläufer. In dem epochalen Ungarn-Spiel hatte er deren gefährlichsten Torschützen auszuschalten, Sandor Kocsis. »Er hat kein Tor gemacht bei mir«, stellt Charly Mai nüchtern fest, »heut ist er tot, der Kocsis... Man war ja so auf seinen Mann gedrillt, daß man das Spiel selbst gar nicht so richtig mitbekommen hat.« Er sagt oft »man«, wenn er von sich selbst spricht, und macht damit deutlich, ohne es ausdrücklich zu betonen, daß Fußball damals noch ein Mannschafts­

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sport war. Man sagte nicht »ich«, man sagte »wir«. Das hatte einen hohen Identifikationswert, gerade für die Deutschen in den frühen fünfziger Jahren, nach jenem, ihrem Krieg. Selbstverständlich kommen wir an diesem Punkt auf den Trainer zu sprechen, auf Sepp Herberger. »Respektsperson!« stellt Mai fest, als knappen Kom­ mentar, »absolute Autorität!« Es klingt ganz unper­ sönlich - das ist eine Geschichte, über die er zu oft schon gesprochen und nachgedacht hat, als daß es noch lebendig wirken könnte. »Er hatte schon seine Lieblinge, der Chef. Der Rahn war einer, und der Fritz Walter natürlich. Der Rahn, der konnte um 6 Uhr in der Früh im Hotel rumbrüllen, dann hieß es nur: Na ja, der Boss, der Helmut. Wenn das ein anderer von uns gemacht hätte...« Das Gesicht von Charly Mai bleibt unbewegt da­ bei, ich kann auch jetzt keine Regung darin erken­ nen. Die Stimme schwingt in ihrer normalen Lage, und die Augen sind von der Brille geschützt. »In Schweden«, frage ich, »1958, bei der nächsten Weltmeisterschaft , waren Sie nicht mehr dabei?« »Da bin ich ausgebootet worden«, antwortet er, im gleichen Ton. »Da war der Herberger eben eigen. Ich hatte Ärger hier im Verein, mit den Fürthern, mit dem Trainer. Ein Ungar, ausgerechnet. Dem war ich zu offensiv. Bis es mir zu dumm wurde. Da bin ich weggegangen, nach München, zu den Bayern. Und diesen Streit mit dem Trainer und den Vereinswechsel, das hat der Herberger mir nicht verziehen. Da war ich draußen...« Ärger im Verein? Ich hake nach, bohre tiefer.

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»Sie haben damals alle geschlafen im Verein. Sportlich war das ja noch einmal eine große Zeit für die Spielvereinigung, in den fünfziger Jahren. Drei­ mal haben wir um die deutsche Meisterschaft mitge­ spielt. Der Ronhof war voll. Wir hatten dreißigtau­ send Zuschauer bei unseren Spielen hier. Da saßen sie alle auf dem hohen Roß, die alten Herren vom Vorstand, haben nicht an die Zukunft gedacht, nichts investiert.« Heftig winkt er ab. »Und heute... die Folgen sieht man ja, heute.« Warum denn ausgerechnet nach München, will ich von ihm wissen. Inzwischen hat uns seine Frau Kaffee hingestellt und einen Teller mit Rosinenbrot. Ob er nie daran gedacht habe, nach Nürnberg zu gehen, zum Club? Ob alte Rivalitäten zwischen Fürth und Nürnberg mitgespielt hätten? Nein, nein, wehrt Charly Mai ab. Das sei immer übertrieben worden, von außen. Er habe sich sehr gut mit den Nürnberger Spielern verstanden, mit dem Max Morlock natürlich vor allem, der ja auch in Bern dabei war. Bis heute seien sie befreundet. Aber der Max habe gesagt: Charly, habe er gesagt, Charly (es klingt wie >Tschalli