Mediterranes Kaisertum und imperiale Ordnungen: Das lateinische Kaiserreich von Konstantinopel 3050064862, 9783050064864, 9783050064871

Das lateinische Kaiserreich von Konstantinopel war eine der interessantesten Kreuzfahrerherrschaften. Unter maßgeblicher

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Mediterranes Kaisertum und imperiale Ordnungen: Das lateinische Kaiserreich von Konstantinopel
 3050064862, 9783050064864, 9783050064871

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Konzeptionen des Kaisertums
I.1 Fürstliche Herrschaft und Herrschaft des städtischen Meliorats
I.2 Königliche Herrschaft
I.3 Kaiserliche Herrschaft
I.3.1 Das Überschreiten der Ranggrenze
Der Eroberungsgedanke
Der Wahlgedanke
Die päpstliche Zustimmung
Absetzungsmöglichkeiten
Die Zentralstadt
Rom
Konstantinopel
Andere Städte
Die Städte und ihr Römertum
Designation und Herkunft
I.3.2 Herrschaftsbereiche und Herrschaftsfunktionen
Außen und Innen
Heilsgeschichtliche Funktionen
Säkulare Funktionen
I.3.3 Kaiserliche Repräsentationskultur
Wege kaiserlicher Ritualdynamik
Falsche Kaiser
Die Kaiserkrönung
Ort und Koronator
Einzug, Akklamation und Salbung
Krönung und Insignienreichung
Laudes, Schilderhebung und Thronsetzung
Zeremonielldynamik
Sonderkrönungen: Festkrönungen, Selbstkrönungen,
Mitkaiserkrönungen
Die Abgehobenheit des Kaisers
Reichtum
Kleidung und Insignien
Porphyr und Purpur
Konnubium
Kaiserzeremoniell
Zeitsouveränität und Schweigen
Das Kaisertum und der Raum
Siegel und Münzen
Titel und Hierarchiegenese
I.4 Zwischenfazit: Mediterranes Kaisertum – Virtuelles Kaisertum
II. Imperiale Ordnungen
II.1 Realtypen imperialer Ordnungen
Byzanz vor 1204
Die Nachfolgereiche des Byzantinischen Kaiserreiches
Die arabischen Herrschaften
Das normannische Königreich
Das römisch-deutsche Reich
Die Seestädte
Spanische Reiche: Aragon und Kastilien
Das Königreich Jerusalem
Der Herrschaftsverband um das imperiale Königtum Ludwigs IX.
Die römische Kirche und das Papsttum
II.2 Dynamiken imperialer Ordnungen
II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen
III. Kaisertum und imperiale Ordnungen
III.1 Über oder zwischen den Religionen?
III.1.1 Sakralität
III.1.2 Der Umgang mit dem Anderen
III.1.3 Interne Kirchenpolitik
III.2 Herrschaftserfassung und Herrschaftsdurchdringung
III.2.1 Herrschaftserfassung
III.2.2 Herrschaftsdurchdringung
III.2.3 Mangel und Überfluss
III.3 Hegemonie und Koppelung
III.3.1 Abwehr
III.3.2 Koppelung
Konnubium
Lehnsrecht
Vertragsabschlüsse
III.4 Aggressivität als besonderes Kennzeichen?
Zusammenfassung
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Siglenverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Literatur
Register
Tafeln

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Stefan Burkhardt Mediterranes Kaisertum und imperiale Ordnungen

Europa im Mittelalter

Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik Herausgegeben von Michael Borgolte und Wolfgang Huschner

Band 25

Stefan Burkhardt

Mediterranes Kaisertum und imperiale Ordnungen

Das lateinische Kaiserreich von Konstantinopel

Die vorliegende Arbeit entstand als Qualifikationsschrift in dem durch Prof. Dr. Stefan Weinfurter geleiteten Teilprojekt „Mediterranes Kaisertum und imperiale Ordnungen zur Zeit Kaiser Friedrichs II. (ca. 1200–ca. 1250)“ im Rahmen des durch Prof. Dr. Michael Borgolte und Prof. Dr. Bernd Schneidmüller geleiteten DFGSchwerpunktprogramms 1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“.

ISBN 978-3-05-006486-4 eISBN 978-3-05-006487-1 ISSN 1615-7885 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH Ein Unternehmen von De Gruyter Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für Julia M.M.M.

Inhalt

Vorwort ..........................................................................................................11 Einleitung .......................................................................................................13 I. Konzeptionen des Kaisertums ....................................................................21 I.1 Fürstliche Herrschaft und Herrschaft des städtischen Meliorats.................... 23 I.2 Königliche Herrschaft .................................................................................... 26 I.3 Kaiserliche Herrschaft.................................................................................... 28 I.3.1 Das Überschreiten der Ranggrenze ................................................ 31 Der Eroberungsgedanke .................................................... 32 Der Wahlgedanke.............................................................. 42 Die päpstliche Zustimmung .............................................. 51 Absetzungsmöglichkeiten ................................................. 55 Die Zentralstadt................................................................. 57 Rom................................................................................... 58 Konstantinopel .................................................................. 63 Andere Städte.................................................................... 66 Die Städte und ihr Römertum ........................................... 69 Designation und Herkunft ................................................. 72 I.3.2 Herrschaftsbereiche und Herrschaftsfunktionen ............................ 81 Außen und Innen............................................................... 82 Heilsgeschichtliche Funktionen ........................................ 88 Säkulare Funktionen ......................................................... 97

8 I.3.3 Kaiserliche Repräsentationskultur................................................ 111 Wege kaiserlicher Ritualdynamik ................................... 111 Falsche Kaiser ................................................................. 113 Die Kaiserkrönung .......................................................... 117 Ort und Koronator ........................................................... 120 Einzug, Akklamation und Salbung.................................. 123 Krönung und Insignienreichung...................................... 131 Laudes, Schilderhebung und Thronsetzung .................... 140 Zeremonielldynamik ....................................................... 142 Sonderkrönungen: Festkrönungen, Selbstkrönungen, Mitkaiserkrönungen........................................................ 146 Die Abgehobenheit des Kaisers ...................................... 149 Reichtum ......................................................................... 152 Kleidung und Insignien ................................................... 154 Porphyr und Purpur ......................................................... 163 Konnubium...................................................................... 166 Kaiserzeremoniell ........................................................... 169 Zeitsouveränität und Schweigen ..................................... 177 Das Kaisertum und der Raum ......................................... 179 Siegel und Münzen.......................................................... 185 Titel und Hierarchiegenese ............................................. 195 I.4 Zwischenfazit: Mediterranes Kaisertum – Virtuelles Kaisertum ................. 205

II. Imperiale Ordnungen............................................................................... 217 II.1 Realtypen imperialer Ordnungen................................................................ 224 Byzanz vor 1204................................................................................... 224 Die Nachfolgereiche des Byzantinischen Kaiserreiches....................... 225 Die arabischen Herrschaften................................................................. 226 Das normannische Königreich.............................................................. 227 Das römisch-deutsche Reich................................................................. 228 Die Seestädte ........................................................................................ 229 Spanische Reiche: Aragon und Kastilien.............................................. 230 Das Königreich Jerusalem .................................................................... 231 Der Herrschaftsverband um das imperiale Königtum Ludwigs IX. ..... 232 Die römische Kirche und das Papsttum................................................ 233

II.2 Dynamiken imperialer Ordnungen ............................................................. 234 II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen .......................................... 241

III. Kaisertum und imperiale Ordnungen ..................................................... 257 III.1 Über oder zwischen den Religionen? ........................................................ 258 III.1.1 Sakralität.................................................................................... 259 III.1.2 Der Umgang mit dem Anderen.................................................. 263 III.1.3 Interne Kirchenpolitik................................................................ 277 III.2 Herrschaftserfassung und Herrschaftsdurchdringung................................ 286 III.2.1 Herrschaftserfassung ................................................................. 287 III.2.2 Herrschaftsdurchdringung ......................................................... 291 III.2.3 Mangel und Überfluss ............................................................... 306 III.3 Hegemonie und Koppelung....................................................................... 318 III.3.1 Abwehr ...................................................................................... 318 III.3.2 Koppelung ................................................................................. 340 Konnubium ..................................................................... 343 Lehnsrecht....................................................................... 350 Vertragsabschlüsse.......................................................... 355 III.4 Aggressivität als besonderes Kennzeichen? .............................................. 362

Zusammenfassung........................................................................................ 371 Anhang ......................................................................................................... 379

Abbildungsverzeichnis ...................................................................................... 380 Siglenverzeichnis............................................................................................... 383 Quellen- und Literaturverzeichnis..................................................................... 384 Quellen .............................................................................................. 384 Literatur .............................................................................................. 389 Register.............................................................................................................. 457 Tafeln ................................................................................................................ 465

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2012 von der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg als Habilitationsschrift angenommen. Mein Dank gilt in erster Linie den Sprechern des DFG-Schwerpunktprogramms 1173, Herrn Prof. Dr. Michael Borgolte und Herrn Prof. Dr. Bernd Schneidmüller, sowie dem Leiter des entsprechenden Teilprojektes, Herrn Prof. Dr. Stefan Weinfurter. Die Arbeitsform des SPP trug in ihrer gelungenen Verbindung aus akademischer Freiheit und lebendiger Gesprächskultur in erheblichem Maße zum Gelingen des Vorhabens bei. Herrn Prof. Dr. Michael Borgolte bin ich auch – zusammen mit Herrn Prof. Dr. Wolfgang Huschner – für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Europa im Mittelalter“ zu Dank verpflichtet. Für die vielen intensiven Diskussionen an interessanten Orten danke ich herzlich Frau Dr. Margit Mersch, Frau Dr. Ulrike Ritzerfeld und Herrn Dr. Stefan Schröder. Herzlich zu danken für ihre Gesprächsbereitschaft und Hilfe habe ich ebenso Herrn Prof. Dr. Günter Prinzing, der meine Forschungen immer wohlwollend begleitete, sowie Herrn Dr. Thomas Foerster, Herrn Prof. Dr. Georg Christ, Herrn Prof. Dr. David Jacoby, Herrn Prof. Dr. Alexander Beihammer und Herrn Prof. Dr. Jörg Peltzer. Mein großer Dank gilt auch den Projekthilfskräften Frau Leonie Exarchos M.A., Frau Teresa Röger, Frau Rabea Blinn, Frau Kira Augenstein, Frau Sandra Loersch und Herrn Christian Donatus Berrer. In der Phase der Drucklegung halfen Frau Nora Küppers, Herr Florian König und Frau Kerstin Schalber. Nicht zuletzt gilt mein herzlicher Dank Frau Stefanie Neuer M.A., Frau OStR Isolde Zachmann und abermals Herrn Dr. Thomas Foerster für ihre große Hilfe bei der Korrektur der Arbeit.

Einleitung

Im März 1256 spielte sich in der spanischen Stadt Soria ein seltsames Ereignis ab. Die Kommune Pisa wählte und erhob durch ihren Gesandten Bandino Lancia König Alfons X. von Kastilien-León in Romanorum regem et in imperatorem Romani imperii nunc vacantis.1 Eine weitere Seestadt, Marseille, schloss sich im September 1256 dieser „Wahl“ an.2 Bereits mehr als 50 Jahre früher war es zu einer ähnlichen Erhebung unter maßgeblicher Beteiligung einer Seestadt gekommen. Noch bevor Konstantinopel auf dem Vierten Kreuzzug erobert worden war, hatten sich die potentiellen neuen Machthaber auf die Wahl eines neuen lateinischen Kaisers geeinigt.3 Wie kommt es, dass ab 1200 plötzlich Seestädte über kaiserlichen Rang zu entscheiden haben?4 Was erklärt die stark fiktiven Elemente, insbesondere der ersten Wahl in Soria, die Schramm zu der Formulierung bewogen, das Ereignis habe wie ein Spuk angemutet und sei auch nur ein Spuk geblieben?5 Was ist „das Kaisertum“ im 13. Jahrhundert? Was ist „das Kaisertum“ überhaupt? Gibt es vielleicht auch mehr als eine verbindliche Vorstellung, mehr als nur ein Konstrukt „Kaisertum“? Um die genannten Fragen zu beantworten, soll zunächst versucht werden, die Konzeption „Kaisertum“ grob zu fassen. Hierbei gilt es zunächst weniger, eine oder mehrere Kaiserideen in den Vordergrund zu stellen.6 Vielmehr soll diesem Zweck die

1 Vgl. MGH Const. 2, Nr. 392, S. 491. Vgl. zur „Wahl“: Kaufhold, Interregnum (2000), 27–42; Meyer, Kastilien (2002), 127–135; Schlieben, Macht (2009), 170–176. 2 MGH Const. 2, Nr. 395, S. 498f. 3 Vgl. zur Wahl unten, Abschnitt ‚Der Wahlgedanke‘. Die Quellen sprechen hinsichtlich der neuen Machthaber meist von „Lateinern“, „Franken“ und „Griechen“. Diese Bezeichnungen wurden meist aufgrund der Sprache, aber auch der Religionszugehörigkeit der jeweiligen Gruppe vergeben Vgl. hierzu etwa Coureas, Elite (2000) und Favreau–Lilie, Gesellschaft (2001), insb. S. 56f. 4 Ein ähnlich gelagerter, aber doch unterschiedlicher Fall eines städtischen Mitentscheidungsanspruchs über die Kaiser- bzw. Königswürde ist das Verhalten Mailands im Thronstreit, als die Kommune Otto IV. massiv stützte; vgl. hierzu Hermes, Libertatis (1999), 19–26. 5 Schramm, Königtum (1952), 394. 6 Vgl. zu entsprechenden Untersuchungen etwa bereits Heidemann, Kaiseridee (1898), der den Bogen zeitgenössisch weit von Karl dem Großen bis Wilhelm I. spannt, und mit dem Schwerpunkt Prophetie Kampers, Kaiseridee (1896); vgl. auch Bloch, L’empire (1963); Schaller, Kaiseridee

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Einleitung

vergleichende Abgrenzung zu den anderen Stufen der Ranghierarchie hochadliger Herrschaft dienen. Nur in dieser differenzierenden Betrachtung zu „Fürsten“, kommunalen Amtsträgern und „Königen“ (und nicht „aus dem Kaisertum selbst heraus“) lassen sich die Eigenheiten der Konzeption „Kaisertum“ erkennen. Der Blick soll insbesondere auf die Überwindung der letzten Rangdifferenz zwischen „Königtum“ und „Kaisertum“ gerichtet werden: Wann und weshalb sahen sich verschiedene Herrscher als berechtigt an, kaiserlichen Rang zu beanspruchen? Welches sind die definierenden Elemente, die den Rangwechsel legitimierten? Welche Unterschiede bestehen in der Theorie der Herrschaftsausübung? Welche Elemente der Repräsentationskultur kennzeichnen kaiserliche Herrschaft gegenüber königlicher? Erst nach dieser Untersuchung soll das Kaisertum selbst untersucht werden, die Kontinuitäten, Brüche und Verflechtungen einer jahrtausendealten Konzeption. Im Zusammenhang mit diesen Fragen ist es sinnvoll, einige Begrifflichkeiten wenn nicht zu definieren, so doch voneinander abzugrenzen.7 Als Kaisertum soll die Institution transpersonal verstetigter kaiserlicher Herrschaft verstanden werden. Kaiserliche Herrschaft ist die Herrschaftsform, die durch einen Kaiser ausgeübt wird. Hegemoniales Königtum entspricht hingegen der verstetigten Herrschaftsausübung eines Königs, der einen wie auch immer gearteten Vorrang gegenüber Ranggleichen – anderen Königen – beansprucht. Kaisergleiches Königtum soll jene verstetigte königliche Herrschaft bezeichnen, die sich vor allem durch inszenative Mittel dem kaiserlichen Rang angleichen kann, ohne diesen legitim erworben zu haben. Das kaisergleiche Königtum entspricht somit gewissermaßen der Kategorie des imperialen Königtums, die bereits in der Forschung diskutiert wurde.8 Kaisergleiche Herrschaft aber ist nicht auf Könige beschränkt; auch andere Leiter eines Herrschaftsverbandes – etwa Fürsten oder konsul- / podestàartige Amtsträger – können kaisergleiche Herrschaft ausüben. „Imperial“ soll hingegen als Äquivalent zu „weit ausgreifend in Anspruch und Wirklichkeit“ gebraucht werden – ohne die im Wort mitschwingenden Konnotationen „kaiserlich“ oder gar „imperialistisch“. Kaiser ist derjenige, der zumindest in Anlehnung an eine bestimmte, allgemein anerkannte weltlich-geistliche Handlungssequenz hierzu erhoben wird, diesen Rang explizit beansprucht und inszeniert und darin von einem Teil des theoretisch beherrschten Herrschaftsverbandes anerkannt wird. Das Kaisertum stellt dabei eine Steigerungsform des Königtums dar, lässt sich auch mit einer Art „Großkönigtum“ gleichsetzen, denn der

(1974), zu Begriff und Methode S. 109f. Vgl. zu Diskussion und Kritik des Begriffs Angelov, Ideology (2007), 10f. und Heidemann, Heinrich VII. (2008), 1–19. 7 Vgl. zur Wechselwirkung von Kaisertum, Königtum und Reich allgemein Nelson, Kingship and Empire (1988). 8 Vgl. zum Begriff und seiner Verwendung mit anderer Intention Vorholzer, Kaisertum (1962), 175f.; Jäschke, Königskanzlei (1964), insb. S. 288f.; vgl. zum geschichtlichen Hintergrund Walther, Königtum (1976), 1–111.

Einleitung

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supraregnale Aspekt ist eines der wichtigsten verbindenden Elemente unterschiedlicher Kaiserkonzeptionen.9 Kaiserliche Herrschaft zeichnet sich – so wird noch zu zeigen sein – durch eine spezifische Wechselwirkung zwischen der kaiserlichen Würde und der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit ihren Herrschaftsstrukturen aus: Die Strukturen kaiserlicher Herrschaft scheinen mitunter eigentümlich unfassbar und nehmen jene virtuellen Charakteristika an, die Schramm als „spukhaft“ bezeichnete. Um sie dennoch fassen zu können, gilt es den Blick auf den engen, aber doch ungefestigten Zusammenhang zwischen Kaisertum und imperialen Ordnungsvorstellungen und Ordnungskonfigurationen zu richten.10 In der vorliegenden Arbeit wird hierzu auf die Analyseeinheit der imperialen Ordnung zurückgegriffen. Die sie definierenden Elemente imperialer Herrschaft müssen nicht immer sofort sichtbar sein, sie können auch im Zeitverlauf „abgesunken“ sein, in der Form eines „Imperialen Erbes“ – gleichsam unter der Oberfläche verborgen – weiterwirken und die verschiedenen Herrschaftskomplexe in höchst vielfältiger Weise beeinflussen. Um diese rhizomatisch verflochtenen Wechselwirkungen11 beurteilen zu können, gilt es, das hochmittelalterliche Mediterraneum mit seiner eng verflochtenen Vielfalt in den Blick zu nehmen. Hier liegen der Kern und der entscheidende „Motor“ der europäischen Ausformung der Kaiserkonzeptionen. Unter diesen könnte sich das schließlich konzeptionell dominierende römisch-deutsche Kaisertum gar als Sonderfall erweisen. Zur Untersuchung dieser Wechselwirkungen soll in dieser Arbeit nicht primär auf die Analyseeinheit „Reich“ rekurriert werden, die sich in vielfacher Hinsicht als unterkomplex erweist, sondern vielmehr ein neues Set an „Werkzeugen“ angewendet werden. Die Kategorie des „Reiches“ scheint nämlich ebenso wenig wie eine schlichte Berücksichtigung der „Kaiseridee“ geeignet, die hochgradig fragmentierte soziale Wirklichkeit des mittelalterlichen Mediterraneums mit ihrer kulturellen und religiösen Pluralität und die diachronen Dynamiken der entsprechenden Ordnungsvorstellungen zu erfassen. Entsprechend gilt es im zweiten Teil der Arbeit, die Kategorien der „Imperialen Ordnung“ und des „Imperialen Erbes“12 zu erproben. Mit diesen Analyseeinheiten lassen sich insbesondere auch die hochkomplexen Prozesse diachroner und synchroner Hybridisierung fassen, die Kultur und Gesellschaft des Mittelmeerraumes prägten.13 9 10 11 12

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Vgl. zu außermediterranen Konzeptionen des Kaisertums etwa: Lokowandt, Kaisertum (1989); Seiwert, Sakralität (2002); Ess, Kaisertum (2012). Vgl. zum Begriff Schneidmüller / Weinfurter, Ordnungskonfigurationen (2006). Vgl. Deleuze / Guattari, Rhizom (1977). Vgl. zur großen begrifflichen Bandbreite von „kulturellem Erbe“ etwa die Bände Smith‚ Heritage (2007) sowie die Sammelbände Murzyn, Heritage (2007), Lozny, Landscapes (2006) und Bartels / Küpper-Eichas‚ Heritage (2008). Die Metapher des „Erbes“ findet sich insbesondere in Bezug auf Süditalien. Vgl. etwa den Titel Flambard Héricher, Frédéric II (2001). Vgl. auch Foerster / Burkhardt, Tradition (2013). Vgl. zum Themenkomplex der Hybridisierung / Hybridität Bronfen / Marius, Kulturen (1997), insb. S. 11–19; Goetsch, Funktionen (1997) und Burke, Hybridity (2009). Vgl. zum „Kontaktraum“ Mittelmeer in der ganzen Bandbreite der Assoziationen die Sammelbände Arbel,

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Einleitung

Der Mehraufwand des Untersuchungsdesigns ist durch ein ausgesprochen interessantes Untersuchungsfeld zu rechtfertigen, das hilft, die Analyse mittelalterlicher Kaiserkonzeptionen aus ihrer Begrenzung auf das römisch-deutsche Reich und Italien zu lösen, sowie insbesondere auch die Ergebnisse byzantinistischer Forschungen zur Beantwortung der Fragestellung nutzbar zu machen. Zur vergleichenden Analyse bietet sich eine Vielzahl kaiserlicher und kaisergleicher Herrschaften an; in der vorliegenden Arbeit sollen neben dem römisch-deutschen und dem byzantinischen Kaisertum und seinen Nachfolgern kontrastierend das französische, normannische und kastilisch-leonische Königtum hinzugezogen werden. Darüber hinaus gilt es, auch einige Kreuzfahrerherrschaften wie das Königreiche Jerusalem vergleichend heranzuziehen. Ebenso wird auf bedeutende Seestädte, vor allem auf Venedig, Pisa und Genua einzugehen sein. Erneut sei in diesem Zusammenhang auf die Wortverwendung hingewiesen: Im Bewusstsein um die Problematik einer Vereinfachung weitaus komplexerer Wirklichkeiten wird in dieser Arbeit aus methodischen Gründen von „Byzanz“, „Frankreich“, „Spanien“, „Ost“ und „West“ gesprochen, ohne eine Einheitlichkeit der betroffenen Phänomene in Raum und Zeit implizieren zu wollen. Ebenso werden hier mit „Religion“ und „Kultur“ umfassende Begriffskombinationen gebraucht – auch hier im Bewusstsein, keine überzeugenderen Alternativen zur Verfügung zu haben.14 Im Zentrum des Vergleichs soll das sogenannte lateinische Kaiserreich von Konstantinopel stehen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit seien knapp die wichtigsten Ereignisse seiner Geschichte referiert:15 1198 rief Papst Innozenz III. zum Kreuzzug auf. Nach dem eher mäßig verlaufenen Dritten Kreuzzug sollten es nun – wie beim Ersten Kreuzzug – v. a. nichtkönigliche Hochadlige sein, die der Bewegung neuen Schwung verliehen. Größeren Zulauf fanden die Prediger in Nordfrankreich, wo unter anderen Graf Theobald von der Champagne, Graf Ludwig von Blois und Graf Balduin von Flandern und Hennegau und dessen Bruder Heinrich das Kreuz mit dem Ziel Jerusalem ergriffen. In Italien beteiligte sich vor allem Markgraf Bonifaz von Montferrat. Unter maßgeblicher Beteiligung des späteren Chronisten Gottfried von Villehardouin handelte eine Gesandtschaft der Kreuzfahrer mit den Venezianern unter Führung ihres Dogen Enrico Dandolo einen umfangreichen Vertrag über einen Seetransport des Heeres aus; die Gegenleistung der Kreuzfahrer sollte in mehr als 80.000 Mark Silber bestehen. Allerdings trafen 1202 weitaus weniger Kreuzfahrer als erwartetet in Venedig ein; es war abzusehen, dass sie ihre Verpflichtungen gegenüber der Seestadt nicht erfüllen konnten. Contacts (1996); Agius / Netton, Frontiers (1997); Burtscher-Bechter / Haider / MertBaumgärtner, Grenzen (2006) sowie Arend, Mare (1998) und insb. McCormick, Origins (2001). Beide Elemente verbinden Burkhardt / Mersch / Ritzerfeld u. a., Hybridisierung (2011). 14 Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden darauf verzichtet, Begriffe in Anführungszeichen zu setzen. 15 Vgl. hierzu im Folgenden etwa die Übersichtsdarstellungen bei Lilie, Byzanz (2004), 157–180; Ostrogorsky, Geschichte (2006), 360–405 und zur Frühphase v. a. Madden / Queller, Crusade (1997).

Einleitung

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Die Führer des Kreuzzuges einigten sich mit dem venezianischen Meliorat darauf, zur Tilgung der Schulden zunächst die zwischen Venedig und dem König von Ungarn umstrittene Stadt Zara für die Serenissima zurückzuerobern, was bis Ende 1202 geschah. In Zara traf um diese Zeit Alexios Angelos, ein byzantinischer Thronprätendent, ein. 1195 war dessen Vater, Kaiser Isaaak II. Angelos, durch seinen Bruder, den gleichnamigen Onkel des jungen Alexios) gestürzt worden, der als Alexios III. den Thron bestieg. Der junge Alexios bot dem versammelten Heer 200.000 Silbermark und weitere Unterstützung für den Kreuzzug an, wenn ihm die Kreuzfahrer beim Sturz seines Onkels helfen würden. Trotz heftiger Diskussionen und dem Widerstand Innozenz’ III. stimmten die Führer des Kreuzzuges schließlich zu. 1203 konnten Isaak II. Angelos und sein Sohn als Alexios IV. nach der Flucht Alexios’ III. als Kaiser in Konstantinopel eingesetzt werden. Bald wurde jedoch deutlich, dass Alexios IV. seine Verpflichtungen gegenüber den Kreuzfahrern nicht einhalten konnte oder wollte. Die Spannungen waren schon merklich gestiegen, als Isaak II. und Alexios IV. durch Alexios V. Murtzuphlos gestürzt und ermordet wurden. Der neue Kaiser lehnte jegliche Zusammenarbeit mit den Kreuzfahrern ab. In der Folge beschlossen die Führer des Kreuzfahrtunternehmens und die Venezianer im März 1204 in einem Vertrag (Partitio Terrarum Imperii Romaniae) die Eroberung der Stadt, die Einsetzung eines lateinischen Kaisers und die Aufteilung des byzantinischen Reiches (1 / 4 für den neuen Kaiser, 3 / 8 für das Heer und 3 / 8 für Venedig). Im April 1204 wurde die Stadt erobert und geplündert, Alexios V. floh. Nach Auseinandersetzungen zwischen Graf Balduin von Flandern und Markgraf Bonifaz von Montferrat wurde im Mai 1204 Balduin zum ersten lateinischen Kaiser gewählt und gekrönt. Während sich in Epiros und in Kleinasien mit Nikaia byzantinische Herrscher halten konnten, sollten auf dem Gebiet des übrigen ehemaligen byzantinischen Reiches folgende lateinische Herrschaften entstehen: das eigentliche lateinische Kaiserreich von Konstantinopel, das Königreich von Thessaloniki unter Bonifaz von Montferrat, das spätere Herzogtum von Athen, das Herzogtum Archipelago und das Fürstentum Achaia. Daneben gab es eine Vielzahl, mitunter der „Privatinitiative“ entsprungene kleinere Herrschaften.16 In den folgenden Monaten wurden die Vereinbarungen vom März 1204 im sogenannten Teilungsvertrag konkretisiert: Neben das neue Königreich Thessaloniki traten der venezianische Machtbereich (Peloponnes einschließlich Euböa, die Kykladen, der Westen Mittelgriechenlands, die Ionischen Inseln, Epiros und Illyrien) und die „dem Heer“ zuzuweisenden Gebiete (der Osten Mittelgriechenlands, Thessalien mit Makedonien westlich des Axios) sowie der unmittelbare kaiserliche Herrschaftsbereich in Kleinasien und den benachbarten Inseln;

16 Lock, Franks (1995), 5. Vgl. auch die Karte im Anhang der Arbeit.

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Einleitung

die engere Umgebung Konstantinopels wurde hingegen gesondert unter den drei Parteien (Kaiser, Venedig, „Heer“) verteilt.17 Diese Gebiete galt es herrschaftlich zu erfassen und zu einem größeren Ganzen zusammenzubinden, was allerdings aus verschiedenen Gründen nicht gelang. Insbesondere der Einfall der Bulgaren sollte sich als verhängnisvoll erweisen: Im April 1205 erlitt das Kreuzfahrerheer bei Adrianopel eine katastrophale Niederlage, Kaiser Balduin wurde gefangengenommen und kurze Zeit später ermordet. Kaiser Heinrich, Balduins Bruder, konnte das Reich nochmals stabilisieren. Nach dessen Tod 1216 sollte jedoch keiner seiner Nachfolger (Peter von Courtenay (1216–1217) und dessen Söhne Robert (1221–1228) und Balduin II. (1228–1261)) den langsamen, aber steten Niedergang stoppen können. 1261 eroberte der Kaiser von Nikaia, Michael VIII. Dukas Komnenos Palaiologos, Konstantinopel zurück, Balduin II. floh nach Süditalien. Damit endete die Lateinerherrschaft am Bosporus. Obwohl es sich beim lateinischen Kaiserreich um eines der faszinierendsten Gebilde des hohen Mittelalters handelt, fand es bislang erstaunlich wenig Berücksichtigung in der Forschung. Allein belgische Forscher schienen sich für „ihre“ Kaiser begeistern zu können.18 Verschiedene Gründe mögen hierfür ausschlaggebend sein: erstens ist es sicherlich die schlechte Quellenlage, die zur mangelnden Erforschung beitrug – von den Feinden der Feinde der Eroberer des byzantinischen Reiches von 1453 blieb eben nicht viel erhalten.19 Zweitens trat ein eigentümliches Desinteresse der Byzantinisten hinzu, galten für sie doch die lateinischen Eroberer als Barbaren.20 Drittens entwickelte die deutsche Forschung, die gerade im 19. und frühen 20. Jahrhundert viele Felder der Mediävistik prägte, praktisch kein Interesse für dieses „falsche“ Kaiserreich21 und auch die französischsprachige Forschung widmete sich lieber der ruhmreichen allerchristlichsten Majestät als dem Operettenkaiser am Bosporus.22

17 Gerland, Geschichte (1905), 30. 18 Als Beispiel wäre hier etwa der belgische Historiker Hendrickx zu nennen, der – wie aus dem Literaturverzeichnis ersichtlich ist – über fast zwei Jahrzehnte eine Reihe von Aufsätzen publizierte. Jüngst arbeitet Filip van Tricht über das lateinische Kaiserreich; vgl. etwa Tricht, Gloire (2000) sowie Tricht, Politique (2001) und neuerdings Tricht, Renovatio (2011). Vgl. aus dem englischsprachigen Bereich den Sammelband Van Aalst / Ciggaar, Empire (1990); anlässlich der 800. Jährung der Eroberung Konstantinopels erschien die grundlegende zweibändige Aufsatzsammlung Ortalli / Ravegnani / Schreiner, Crociata (2006). Vgl. für einen Überblick über die Forschungsliteratur Madden / Queller, Crusade (1997), 318–324. 19 Vgl. zu einer Übersicht der Quellen Hendrickx, Régestes (1988). 20 Ausnahmen bilden etwa die Abhandlungen von Günter Prinzing; vgl. Prinzing, Bedeutung (1972); Prinzing, Brief (1973); Prinzing, Kaisertum (1992). 21 Vgl. aber Norden, Kreuzzug (1898) und immer noch grundlegend Gerland, Geschichte (1905) und später im Rahmen der Behandlung der „Herrschaftszeichen“ Schramm, Kaisertum (1956) sowie Elze, Krönung (1982). 22 Vgl. als Ausnahme Longnon, Empire (1949).

Einleitung

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Gerade für die Erforschung von Kaiserkonzeptionen ist eine Berücksichtigung des Mittelmeerraumes jedoch unabdingbar. In den letzten Jahren setzte sich auch in der deutschsprachigen Mediävistik die Erkenntnis durch, dass der Mittelmeerraum jenseits von Italien, Sizilien und Jerusalem ein reiches Reservoir an Fällen bereitstellt, um neue Antworten auf traditionelle Fragen zu finden. Anhand dieser Fälle können auch Forschungsfelder, die ursprünglich in anderen Disziplinen erschlossen wurden, nun für die Geschichtswissenschaft nutzbar gemacht werden. In diesem Zusammenhang sei etwa auf transkulturelle Fragestellungen oder die Analyse von Hybridisierungsprozessen verwiesen.23 Darüber hinaus zeigt sich gerade im Mittelmeerraum die Problematik multipler religiöser Orientierungen weitaus schärfer als bei einer alleinigen Betrachtung „Westeuropas“: Die Eroberung von 1204 hat sich bis heute tief in das kulturelle Gedächtnis der Orthodoxie eingegraben und kann fast einen ähnlichen Stellenwert wie 1453 beanspruchen.24 In der westlichen Geschichtswissenschaft wird die Eroberung Konstantinopels äquivalent zur Eroberung Jerusalems auf dem ersten Kreuzzug gesetzt, gilt also auch hier als eines der Fanale in der Auseinandersetzung von Kulturen und Religionen.25 Verknüpfung und Trennung von Ost und West durch das Mittelmeer materialisieren sich geradezu im lateinischen Kaiserreich und in den Figuren der Kaiser. Eng hiermit verbunden ist nicht nur die Frage nach den Auswirkungen der lateinischen Herrschaft im ehemaligen Gebiet des byzantinischen Reiches: Trugen die Lateiner wirklich nichts zur Entwicklung der Ägäis bei? Waren sie wirklich rein destruktiv orientiert?26 Mindestens ebenso wichtig ist die Frage nach den Auswirkungen von 1204 auf die westlichen Herrschaftsordnungen. Obwohl diese nicht direkt in die Ereignisse am Bosporus involviert waren, wurden sie doch durch die dortigen Erschütterungen beeinflusst: Die Eroberung von Konstantinopel beschleunigte verschiedene Entwicklungen der Herrschaftskonzeptionen, die im 11. Jahrhundert eingesetzt hatten. Welche Folgen hatte also das spannungsreiche Zusammenspiel von lateinischem und orthodoxem Christentum sowie Islam für die Welt des Mittelmeerraumes? Lassen sich einige der 23 Vgl. zum Mittelmeerraum oben, Anm. 13. Vgl. auch die aus dem Schwerpunktprogramm 1173 hervorgegangenen Bände Borgolte / Schiel / Schneidmüller, Mittelalter (2008), Borgolte / Dücker / Müllerburg, Integration (2011) und Borgolte / Dücker / Müllerburg, Europa (2012). 24 Vgl. zu dieser Frage Külzer, Eroberung (2006). 25 Vgl. etwa die um Plastizität der Sprache bemühte Schilderung von Thorau, Kreuzzüge (2007), 99: „Drei Tage lang wurde die alte kaiserliche Metropole auf das schrecklichste von einer rasenden, ein fürchterliches Blutbad anrichtenden Soldateska geplündert“, mit S. 70 zur Schilderung der Eroberung Jerusalems: „Mordend und plündernd zogen die Kreuzfahrer durch die Stadt, um sich, noch ehe ihr blutiges Werk vollendet war, als fromme Pilger zum Dankesgebet in der Grabeskirche einzufinden“. 26 Vgl. zu diesen Wertungen Lock, Franks (1995), 9: „The Franks of the Aegean have certainly had a bad press. For many Byzantinists and classicists they have fitted conveniently into the declineand-fall model of the eastern Roman empire. According to extreme views, they pillaged and destroyed and contributed nothing to late medieval Aegean society“. Dort auch der Bezug auf Dölger, Kreuzfahrerstaaten (1956).

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Einleitung

aktuellen Probleme gar auf diese Zeit zurückführen? Gab es bereits im Mittelalter eine Grenze oder einen Gegensatz zwischen Ost und West? Welche Wirkung hinsichtlich einer Begegnung der Kulturen entfalteten bestimmte Strukturen – etwa Handel und Wirtschaft – in der langen Dauer? Die Beantwortung dieser Fragen soll vor allem dem zweiten Teil der Arbeit vorbehalten bleiben. An Quellen gilt es ein breites Spektrum an Chroniken, Urkunden, Briefen und Ordines zu berücksichtigen. Besonderes Augenmerk soll auf fünf Chroniken gelegt werden, die in unmittelbarem Zusammenhang zu den Ereignissen von 1204 stehen. Auf lateinischer Seite sind dies die altfranzösischen Chroniken des Robert von Clari (um 1170 – nach 1216), des Gottfried von Villehardouin (um 1160 – nach 1213) und seines Fortsetzers Heinrich von Valenciennes (um 1200); auf griechischer Seite verfassten Niketas Choniates (um 1150–1215) und Georgios Akropolites (1217–1282) jene Berichte, die das Geschehen aus byzantinischer Sicht schilderten und reflektierten. Diese Werke bieten gleichsam aus zwei Perspektiven tiefe Einblicke in das Wechselspiel von mediterranem Kaisertum und imperialen Ordnungen.

I. Konzeptionen des Kaisertums

Was aber ist „das Kaisertum“? Um diese Frage zu beantworten, sollen im Folgenden – diachron gleichsam aus der Tiefe einer jahrtausendealten Entwicklungsgeschichte schöpfend – einige Elemente stark gerafft, aber doch mit einem idealtypisierenden Anspruch, dargelegt werden. Zugleich gilt es jedoch, nicht dabei stehen zu bleiben, sondern weitere Möglichkeiten der typologischen Schärfung durch den synchronen Vergleich der Herrschaftskonfigurationen zu nutzen. „Das“ Kaisertum ist eine Fiktion.27 Es gibt ausgesprochen viele Auffassungen von Kaisertum und kaiserlicher Herrschaft, die nicht nur von Zeit zu Zeit, von Kulturraum zu Kulturraum, von „Volk“ zu „Volk“, von gesellschaftlicher Gruppe zu gesellschaftlicher Gruppe inhaltlich und terminologisch differieren.28 Gerade beim Kaisertum zeigen sich in besonders starker Ausprägung Charakteristika eines „hybriden Phänomens“: die Vermischung von immer bereits Vermischtem. Es ist kaum möglich, diese Komplexität stets adäquat abzubilden, Schwerpunktsetzung und Vereinfachung sind notwendig. Um im Folgenden analytische Schärfe zu gewinnen, gilt es zunächst – die Gefahren holistischer Begriffsbildung stets im Auge – von größeren Vergleichsgrößen auszugehen und erst im Detail sich in die Niederungen der nahräumlichen Verflechtung vorzutasten. Der Erfolg der Konzeption „Kaisertum“ in der langen Dauer könnte darin bestehen, dass es einem tief verwurzelten Bedürfnis entspricht, alle Macht, alle Ressourcen, alle Rechte und alle Problemlösungen einer Person zuzuordnen, von ihr Gerechtigkeit und eine Lösung aller unbefriedigenden Zustände zu erreichen. Das Kaisertum erweist sich

27 Vgl. zum Kaisertum der Antike Millar, Emperor (1984); Bernstein, Anfang (2012); Dreher, Grundzüge (2012); zum mittelalterlichen Kaisertum: Stengel, Abhandlungen (1965); Struve, Kaisertum (2004); Heidemann, Heinrich VII. (2008); Schneidmüller, Kaiser (2010); Schieffer, Konzepte (2006). Unter der genannten Prämisse – dem Wissen um die Pluralität der Kaisertumskonzeptionen – ist im Folgenden aus Gründen der Lesbarkeit trotzdem von „dem Kaisertum“ die Rede. 28 Schreiner, Kulturen (2001). Man kann im Begriff „Kaisertum“ durchaus auch die Last mittelalterlicher und (früh)neuzeitlicher Begriffsbildung sehen, die viele Herrschaftsformen – etwa auch die der chinesischen und japanischen „Kaiser“ – unter dem Begriff Kaisertum subsumierten. Möglicherweise waren es hier die Jesuiten, die begriffsprägend wurden.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

so offensichtlich als flexibel genug, um verschiedene Interessen und Traditionen hinter sich sammeln zu können. Diese Eigenschaften teilt das Kaisertum mit den beiden ähnlichen Konfigurationen weltlicher Herrschaft, dem Königtum und dem Fürstentum. Was unterscheidet aber das Kaisertum von diesen? Um diese Frage zu beantworten, soll nun die doppelte Rangdifferenz Fürstentum – Königtum – Kaisertum betrachtet werden. Der Rang ist es nämlich, der die Stellung bestimmter Funktionsträger im Herrschaftsgefüge des Mittelalters am treffendsten definiert.29 Rang ist immer verbunden mit einer bestimmten Rangordnung einer bestimmten Gemeinschaft, einer bestimmten sozialen und einer bestimmten personalen Identität.30 Eine Analyse der Rangposition erlaubt hierbei nicht nur eine Anbindung an jene mediävistischen Fragestellungen, die von Herrschaftssoziologie und Ethnologie profitierten – erinnert sei nur an die Ritualforschung oder die verschiedenen „ehrzentrierten“ Forschungen.31 Auch für eher traditionelle Ansätze ist eine rangzentrierte Perspektive offen – wie zur Untersuchung rechtlicher Fragen oder auch Fragen des Konnubiums. Als „Variablen“ der folgenden Betrachtung sollen jene Kriterien dienen, die den Zugang zum jeweiligen Rang definieren; zum anderen gilt es auch jene – vor allem funktionsgebundenen – Kriterien zu berücksichtigen, die Einfluss auf die Position des Herrschaftsträgers innerhalb seiner jeweiligen Rangstufe und auf seine Beziehungen gegenüber den Herrschaftsträgern anderer Rangstufen haben: Herrschaftsantritt, Herrschaftsbereich, Herrschaftsfunktionen und Herrschaftspraxis.

29 Vgl. Peltzer, Rang (2013). und bereits einige Gedanken in Peltzer, Personae (2011) und Peltzer, Introduction (2011), insb. S. 14f. 30 Röttger-Rössler, Rang (1989), 1–12. 31 Vgl. mit Bezug auf das Thema Ehre Görich, Ehre (2001).

I.1 Fürstliche Herrschaft und Herrschaft des städtischen Meliorats

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I.1 Fürstliche Herrschaft und Herrschaft des städtischen Meliorats Grundsätzlich steht eine Form fürstlicher Herrschaft32 am Beginn des Kaisertums: die Etablierung einer wie auch immer gearteten Anführerschaft und ihre Abgrenzung nach unten. Das Kaisertum ist letztlich nichts anderes als eine stark überhöhte Form des Fürstentums. Sowohl dem Kaisertum als auch dem Königtum steht nach dieser erfolgten Abschichtung eine mehr oder minder stark abgegrenzte, intern differenzierte und im Laufe der Zeit auch rechtlich fundierte Schicht der „Großen des Reiches“ gegenüber. Diese Schicht grenzte sich stark nach unten ab: in der Rangdifferenz zwischen „Fürsten“ und „Nichtfürsten“ und in der rechtlich und traditionell verankerten Begrenzung der Auf- und Abwärtsmobilität ist ein erster wichtiger Indikator für kulturelle Unterschiede zu sehen.33 So kann man etwa beobachten, dass es im byzantinischen Raum keine dem europäischen Fürstentum entsprechende Schicht gab. Die Nobilität war hier durch eine ausgesprochen starke vertikale Dynamik des Aufstiegs und Falls geprägt.34 Hingegen findet sich insbesondere im römisch-deutschen Reich des Hochmittelalters im Laufe der Zeit die Bestrebung, den fürstlichen Rang stärker als bislang von anderen Angehörigen des Adels, aber auch innerhalb der fürstlichen Schicht zu differenzieren, eine Tendenz, die man mit der „Abschichtung des Reichsfürstenstandes“ umschrieb.35 Wichtige Zugangsmöglichkeiten zum fürstlichen Rang sind in Geburtsrecht, Heirat und Ernennung zu sehen.36 Diese Zugangskriterien teilt das Kaisertum mit den Fürsten. Im Gegensatz zu Kaiser- und Königtum spielten für das Fürstentum jedoch Wahlen, Kriegsruhm und bestimmte Orte als Traditions- und Rechtsträger nur eine sekundäre oder gar tertiäre Rolle. Auch war der Bereich selbstständiger Herrschaftsausübung der „Fürsten“ im Gegensatz zu König- und Kaisertum eher regional begrenzt, weitab von großräumig-heilsgeschichtlichen Dimensionen. Gleichwohl konnten „Fürsten“ diese Funktionen anteilig ausüben, das Wissen um Herrschaftstechniken und Legitimationsstrategien speichern, weitergeben und eventuell auch im Eigeninteresse usurpierend anwenden. Mit anderen

32 Vgl. allgemein Weber, Einleitung (1998); mit dem Schwerpunkt auf den Prinzipat vgl. Kuhoff, Grundlagen (1998); vgl. für das Mittelalter Willoweit, Fürst (1999). 33 Vgl. Reuter, Nobles (2006); Bisson, Nobility (2000); Bisson, Lordship (1995). 34 Lilie, Einführung (2007), 118. Vgl. demgegenüber zu den „Fürsten“ der Kreuzfahrerherrschaften: Hiestand, Herren (1997); eher mit dem Schwerpunkt der Herrschergeschichtsschreibung vgl. Hoch, Jerusalem (2003), etwa 43–46 und 141–145. 35 Vgl. allgemein Mertens, Fürst (1998) und zum Zusammenspiel zwischen Friedrich II. und den Reichsfürsten Boshof, Reich (2003), insb. S. 27. 36 Vgl. etwa umsichtig mit Bezug auf die frühe Stauferzeit Weller, Weg (2005).

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I. Konzeptionen des Kaisertums

Worten: Erfolgreiche Fürsten konnten zum König- und Kaisertum tendieren.37 Auf diesen Aspekt ist noch später im Zusammenhang mit der Behandlung der imperialen Ordnungen einzugehen.38 Innerhalb einer durch Fürsten bzw. „Große“ geprägten Herrschaftskonfiguration dominierten zwar meist stark konsensual orientierte Ordnungsmuster.39 Dies schließt jedoch nicht aus, dass innerhalb der „fürstlichen Handlungsgemeinschaft“ die Position eines rangmäßig abgestuften Leiters akzeptiert wurde. Auch wenn ein Herrschaftsverband von einem König oder einem Kaiser geleitet wurde, blieben die Funktionsbedingungen konsensual-fürstlicher Mitherrschaft erhalten.40 Versuche der „Anführer“ jedoch, den neu erworbenen Rang auszubauen, abzusichern und die Modi der politischen Kommunikation hin zu stärker hierarchisierenden Formen zu verändern, konnten zu erheblichen Konflikten führen. Beobachten lässt sich dies vor allem dann, wenn sich die Tradition der eingelebten Handlungsmuster und das Erbe latent vorhandener Handlungspfade zu widersprechen beginnen, d. h. wenn ein Verband konsensual orientierter „Großer“ in ein imperial geprägtes Gebiet eintritt, das seit jeher durch stärker hierarchisierende Tendenzen gekennzeichnet war und der Leiter des Verbandes dieses Erbe annimmt. Als Beispiel sei auf die Normannen Süditaliens verwiesen, aber auch auf das Kernthema dieser Arbeit, das lateinische Kaiserreich.41 In gewissem Sinn gleichen sich städtisches Meliorat und Fürstenschicht. Allerdings ist bei den kommunalen Amtsträgern die Auf- und Abwärtsmobilität in einem zum Teil erheblichen Maße vorhanden – dies betrifft nicht nur Wahl und Abwahl, sondern auch die gewaltsamen Alternativen „Staatsstreich“, Aufstand und Verbannung, die ganze Geschlechter in einer strudelförmigen Bewegung hinabziehen konnten. Ähnlich wie im „Reichsfürstenstand“ zeigen sich jedoch insbesondere im hohen Mittelalter im städtischen Milieu Tendenzen, einen bestimmten „Stand“ der „ratsfähigen“ Bürger von der breiten Schicht der Stadtbewohner zu sondern.42 Die Kriterien des Zugangs zum städtischen Meliorat sind sicherlich zu einem nicht unerheblichen Teil in Abstammung und Heirat zu sehen; weitaus stärker wirkte jedoch der Wahlgedanke, der gegenüber allen Versuchen – etwa von kaiserlicher Seite –, ihn durch hierarchisch geprägte Ernennun37 Vgl. zum umstrittenen Beispiel Heinrichs des Löwen Ehlers, Heinrich der Löwe (2008), 191–193 (zur Eheschließung Heinrichs mit Mathilde) und zur Diskussion Körntgen, Königsherrschaft (2001), 172. 38 Vgl. Abschnitt ‚II. Imperiale Ordnungen‘. 39 Vgl. zur fürstlichen Repräsentationskultur Rösener, Leben (2008), 73–94; Spieß, Fürsten (2008), 79–118. Vgl. zur konsensualen Herrschaft unten, Anmerkung 1442. 40 Vgl. zum Verhältnis von Herrscher und Großen zur Zeit Ottos II. herrscherzentriert arbeitend Alvermann, Königsherrschaft (1998); vgl. grundsätzlich zum Reich im Hochmittelalter Schlick, König (2001). 41 Vgl. zu den Normannen Kreutz, Normans (1991); Loud, Age (2000); Falkenhausen, Untersuchungen (1967) und Burkhardt, Heritage (2013). 42 Vgl. grundlegend Grillo, Podestà (2003); vgl. zum Austausch der politischen Strukturen Comba, Podestà (2004), v. a. 109–114; vgl. für das System von Perugia etwa Giorgetti, Podestà (1993), 9– 50.

I.1 Fürstliche Herrschaft und Herrschaft des städtischen Meliorats

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gen zu ersetzen, dominierend blieb. Diesen Aspekt gilt es für das lateinische Kaiserreich im Auge zu behalten. Gerade im Bereich der hochmittelalterlichen Kommunen hatte die jeweilige Stadt als Traditions- und Rechtsträger überragende Bedeutung – eine Eigenschaft, die die städtische Landschaft Oberitaliens mit dem Konstantinopel des byzantinischen Kaisertums teilte.43 Auch der Kriegsruhm spielt eine gewichtige Rolle – ganz im Gegensatz zum landläufigen Bild des nur an der friedlichen Erwirtschaftung von Wohlstand orientierten homo oeconomicus avant la lettre. So konnten sich etwa im Bereich der Seestädte erfolgreiche Admirale mit einiger Berechtigung Hoffnungen auf hohe Leitungsämter machen, wie das Beispiel so manches Dogen zeigt. Mit verschiedenen Formen kaisergleicher Herrschaft teilten die Leiter größerer Kommunen die idealisierte Vorstellung, selbstständig und unabhängig eine großräumige Herrschaft auszuüben – auch „über viele Kommunen“, im Falle der Seestädte über „viele Völker“. Stark blieb jedoch bei den Leitern sowohl im Inneren der jeweiligen Stadt als auch in Bezug auf die Beziehungen zu den Amtsträgern der anderen Kommunen die Vorstellung, nur primus inter pares zu sein; ähnlich wie bei den Formen fürstlicher Herrschaft waren der kommunalen Ordnungskonfiguration stark konsensuale Tendenzen eigen, die auch zu erheblichen Widerständen gegen alle hierarchisierenden Bestrebungen kaiserlicher Herrschaft führen konnten. In der longue durée ergaben sich Anschlusspotentiale der städtischen Leitungsorgane an Formen und Legitimationsgrundlagen kaiserlicher Herrschaft. Dies betrifft vor allem die Tatsache, dass die Leiter der jeweiligen kommunalen Herrschaftsorganisation de jure kaiserliche Amtsträger waren – und zwar im doppelten Sinne: erstens durch kaiserliche Beauftragung, die – wenngleich man ihr keinen Einfluss auf die Verfassungswirklichkeit zuzugestehen bereit war – doch zum legitimatorischen Tafelsilber gehörte. Erinnert sei in diesem Zusammenhang zum einen an den Frieden von Konstanz, der etwa gegen Friedrich II. in Art einer Magna Charta in Stellung gebracht wurde44, zum anderen an die Wurzeln des venezianischen Dogats im byzantinischen Dukat45. Auf einer tieferen Ebene wirkte zweitens noch – und im Hochmittelalter mit zunehmend aktualisierender Kraft – die Erinnerung daran, dass das Kaisertum seine Wurzeln in einem städtischen Amt hatte und sich alle städtischen Amtsträger auf Augenhöhe begegnen sollten.46

43 Vgl. Keller, Wahlformen (1990); vgl. für die Gebiete nördlich der Alpen Schulz, Wahlen (1990). 44 Burkhardt, Autorität (im Druck). 45 Boholm, Doge (1990), 12f. Vgl. auch Zorzi, Venedig (1992), 13–30 mit kritischer Abwägung der legendären Überformung der venezianischen Frühgeschichte. 46 Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Der Wahlgedanke‘.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

I.2 Königliche Herrschaft Die zweite bedeutende Rangdifferenz, die die „fürstliche Schicht“ nach oben abgrenzt, ist jene zum Königtum. Noch problematischer als bei „Fürstentum“ und „Kaisertum“ erweist sich hinsichtlich des „Königtums“ die überbordende Bedeutungsvielfalt des Begriffskomplexes mit seinen changierenden Nuancen. Es ist hier nicht der Ort, eine (Entstehungs-)Geschichte des Königtums zu schreiben.47 Vielmehr sollen nur einige Punkte skizziert und auf die Frage der Differenz zum Kaisertum enggeführt werden. Eine königliche Stellung hebt sich von einer fürstlichen Stellung vor allem durch die Zugangsbedingungen, deren Inszenierung und ihre Funktionen ab: Zum mittelalterlichen König wurde man im Normalfall gekrönt. Die Krönung stellte eines jener Elemente dar, die den Zugang zum königlichen Rang strikt kontingentierten und den Koronatoren eine nicht unerhebliche Macht einräumten.48 Sicherlich konnte die Intention eines Fürsten, seinen Rang zu erhöhen – wie bereits oben angedeutet – auch zu Unruhe im Hochadel führen; entsprechend wichtig waren Legitimationsstrategien, die zum einen die eigene besondere Befähigung verdeutlichten, zum anderen auch den Adel integrieren konnten. Legitimierende Aspekte königlicher Herrschaft waren neben Abstammung und Heirat auch Wahl, die Herrschaft über bestimmte Landschaften, Orte oder Völker. Erinnert sei in Zusammenhang mit dem französischen Königtum an die große Bedeutung der Îlede-France mit der Hauptstadt Paris, der Grablege Saint-Denis und dem Krönungsort Reims, die gewissermaßen die stadtgewordene Herrschaft über die Franci symbolisierten.49 Hinzu tritt aber auch der Machtaspekt: nomen und potestas mussten sich nach mittelalterlichen Vorstellungen entsprechen; folglich konnte auch Waffenruhm und überragender Reichtum zur Beanspruchung königlichen Ranges führen.50 Als integratives Element gegenüber dem Hochadel ist zweifellos die – wenngleich mitunter zu einem formellen Akt herabsinkende – Königswahl anzusehen. All diese Elemente führen zu zwei Kennzeichen des königlichen Ranges, die er mit dem Kaisertum teilt. Auf der einen Seite bestand eine strikte Beschränkung und Erschwerung des Zugangs zu der Stufe des Königtums, auf der anderen Seite jedoch eine erhebliche Verminderung der „Abwärtsmobilität“: Als König muss man förmlich abgesetzt und / oder in einer Schlacht (mit Todesfolge) besiegt werden. Die Absetzung eines Königs ist häufig mit erheblichen institutionellen Hürden versehen – nicht nur muss die 47 Vgl. mit entsprechendem Übersichtscharakter etwa Dick, Mythos (2008); Schubert, König (1979), 1–203. Vgl. auch grundsätzlich Weiler, Politics (2006). 48 Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Die Kaiserkrönung‘. 49 Große, Frankenreich (2005), insb. S. 179–187. 50 Beumann, Nomen (1958); Mayer, Pontifikale (1967), S. 162 betont: „Die Krönung verlieh dem Herrscher nicht die königliche Macht als solche, wohl aber die Würde, derer er zur Aufrechterhaltung des Königsamtes bedurfte“. Vgl. grundsätzlich zum Beispiel eines Herrschaftsantritts Ertl, Regierungsantritt (2003).

I.2 Königliche Herrschaft

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weltliche Elite integriert werden, auch die geistliche Führungsschicht des jeweiligen Herrschaftsbereiches gilt es zu berücksichtigen.51 Denn mit der Krönung waren und sind meist Fragen der Heilswirksamkeit berührt, sind doch die geistlichen Herrschaftsfunktionen eines Königs häufig intensiverer und extensiverer Natur als die eines Fürsten. Der König war in „westlicher“ Vorstellung nämlich derjenige, der den Schutz und die Förderung der Kirche in seinem Herrschaftsbereich zu übernehmen hatte. Erst an der Wende zur Neuzeit, im Rahmen der Reformation, sollten diese Funktionen auch ganz grundsätzlich und eigenständig von Fürsten übernommen werden.52 Die weltlichen Funktionen des Königtums zeichneten sich gegenüber fürstlicher und kommunaler Herrschaft weniger durch substantielle Unterschiede als vielmehr durch Unterschiede im Umfang aus: Die Konzeptionen königlicher Herrschaft zielten auf Räume, die jene fürstlicher oder kommunaler Herrschaft an Umfang und Tiefe übersteigen. Hiermit enden jedoch bereits die Gemeinsamkeiten: Die Konzeption Königtum umfasste nämlich eine große Bandbreite möglicher Ordnungskonzepte, was sich nicht nur in den Beziehungen zum Adel des jeweiligen Herrschaftsbereiches niederschlug, sondern auch in den Beziehungen zu ranggleichen Herrschern.53 Eine Aufgabe, die im Westen als spezifisch königlich gelten konnte, war das Richteramt, das in dieser Intensität weder von Kaisern noch von Fürsten wahrgenommen wurde.54

51 52 53 54

Schubert, Königsabsetzung (2005), 1–228 und 533–562. Zu verweisen ist allerdings auf die hier nicht behandelte Frage des Eigenkirchenwesens. Vgl. etwa Kintzinger, Kaiser (2002). Schubert, König (1979), 114–117.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

I.3 Kaiserliche Herrschaft Was unterschied aber darüber hinaus einen König von einem Kaiser? Eine Beantwortung dieser Frage wird durch die enorme synchrone und diachrone Bandbreite an Traditionslinien und Ausformungen der Konzeptionen des Kaisertums verkompliziert – mit anderen Worten: „Kaisertum“ blieb nicht gleich „Kaisertum“. Darüber hinaus unterliegt die kaiserkonzentrierte Forschungsgeschichte einem vielschichtigen und recht emotional geprägten Rezeptionsprozess.55 Eine genaue Betrachtung der Rangdifferenz, der unterschiedlichen Möglichkeiten ihrer Überschreitung, der Wirkräume und zugeschriebenen Funktionsbereiche kann jedoch einige – auch kulturell bedingte – Charakteristika verdeutlichen und so helfen, das Kaisertum genauer zu fassen. Ähnlich wie hinsichtlich des Königtums soll keine Geschichte des Kaisertums geschrieben werden; vielmehr sollen Entwicklungsstränge und Schichten skizziert werden. Die unterste erkennbare Schicht stellt ein Komplex verschiedener Herrschaftskonfigurationen dar, der in der älteren Forschung mit „altorientalisches Gott- oder Großkönigtum“ umschrieben wurde und unter dem etwa die Pharaonen Ägyptens56, die Herrscher Persiens57, aber auch Alexander der Große58 und die Diadochen59 subsumiert wurden. Überragende Bedeutung gewann dieser Traditionsstrang insofern, als die zeremoniellen und rituellen Formen sowie manche legitimierenden Ideenkomplexe dazu dienten, im Zuge der römischen Expansion das eigentlich auf ganz anderen Grundlagen beruhende Amt des Imperators zu umspielen.60 Deutlich werden gerade in diesen Prozessen die bereits in Bezug auf fürstliche Herrschaft geschilderten Entwicklungstendenzen einer Übernahme imperialen Erbes. Bekanntermaßen herrschte im antik-römischen Reich eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Königstitel vor, stark waren die konsensualen bzw. Gleichrangigkeit zum Ausdruck bringende Elemente der politischen Kultur. Entsprechend wurde auch das römische Amt des Befehlshabers auf kunstvolle Weise erweitert und modifiziert, wäh-

55 Vgl. etwa bereits Schieblich, Auffassung (1932); Arndt, Weißbart (1977); vgl. mit Schwerpunkt Friedrich II. Thomsen, Herr (2005); Thomsen, Modernität (2008) und Donne, Vater (2008); Kerner, Mythos (2004); Schneidmüller, Sehnsucht (2000). 56 Blumenthal, Göttlichkeit (2002). 57 Wiesehöfer, Persien (1993), insb. S. 53–89, 179–197 und 220–228; vgl. auch Wiesehöfer, Weltreich (2012) und allgemein Koch / Rehm‚ Das persische Weltreich (2006). 58 Lane Fox, Alexander der Große (1992), etwa 576–611; vgl. zum Großkönigtum Alexanders Demandt, Alexander der Große (2009), 353–362, zum Bild Alexanders im Mittelalter S. 419–432; vgl. insbesondere zu den Bewertungen Alexanders Seibert, Kreuzzug (1998); Gehrke, Alexander der Große (2005), 92–97; sowie in Hansen / Wieczorek / Tellenbach, Alexander der Große (2009) die Beiträge von Francisco Javier Fernández Nieto über die Geschichtsschreiber Alexanders des Großen und Wolfgang Will über den Mythos Alexander. 59 Vgl. etwa die Beiträge in Brodersen, West (1999). 60 Hierzu immer noch grundlegend Alföldi, Ausgestaltung (1934).

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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rend man sich zunächst gleichzeitig alle Mühe gab, die wahre Macht zu kaschieren.61 Die bis in die Neuzeit vorherrschenden, grundlegenden Legitimationsmuster des kaiserlichen Amtes, die ihm seine eigentümliche Spannung verleihen sollten, beruhten auf diesem Synkretizismus und wurden nur noch in Maßen verändert und angepasst. Die antik-römischen Autoren ließen das Kaisertum mit Caesar beginnen62 – zu Recht, wenn man bedenkt, dass mit dem Julier erstmals die für die weitere Geschichte des Kaisertums so bedeutende Kombination von hellenistischen und antik-römischen Elementen erfolgte.63 Kaum eine Gestalt wird aber so stark mit der Institutionalisierung des Kaisertums assoziiert wie Augustus.64 Unter ihm und seinen Nachfolgern kam es zu entscheidenden Verfestigungen des kaiserlichen Amtes. Der Referenzpunkt Oktavians war (vielleicht entgegen demjenigen Caesars) die wiederhergestellte römische Republik.65 Vespasian war es, der als erster Kaiser nachweislich ein geschlossenes Bündel an Kompetenzen erhielt.66 Das entscheidende Bindemittel der Amtskonzeption wurde die Sakralität – die unantastbare Heilswirksamkeit – des Kaisers67 durch die Kombination der römischen Amtsheiligkeit, wie sie sich etwa in der Sakralität des Volkstribuns fand, mit jener des pontifex maximus. Sie öffnete die Konzeption des Kaisertums – trotz des Festhaltens an altrömischen Idealen – für den Einfluss „hellenistischer“ Elemente des Sakralkönigtums, überhöhte sie zum „Gottkaisertum“. Möglicherweise ist gerade die Koppelung von augusteischem Prinzipat und hellenistischem Königtum die Geburtsstunde des antiken Kaisertums. Das Kaisertum unserer landläufigen Vorstellung könnte hingegen vor allem ein mittelalterliches Zuschreibungs- und Erinnerungsphänomen sein, ein Konstrukt des Papsttums. Aufgrund der oben geschilderten Sakralisierung des Amtes war nämlich die Verbindung zwischen Christentum und Kaisertum zunächst schwierig, beides „passte“ nicht recht „zusammen“. Im besten Fall war zunächst nur eine rein äußerliche Anerkennung der höchsten weltlichen Macht möglich.68 Konfliktpunkte gab es genug, wie etwa die vom Kaiser beanspruchte Göttlichkeit oder die staatsrechtliche Stellung des Kaisers als Haupt der Christenverfolger – Spannungen, die latent weiterwirkten und im langen Gedächtnis der 61 Vgl. Dreher, Grundzüge (2012), 95–103. Vgl. zur Reflektion des Wechsels von der Republik zum Prinzipat in der zeitgenössischen gelehrten Literatur Sion-Jenkis, Republik (2000), 127–201. 62 Vgl. Christ, Kaiserideal (2005), 178f. 63 Vgl. zu diesem Fusionsprozess Leppin, Kaisertum und Christentum, S. 153–156 und zum Widerstand dagegen Will, Caesar (1999), 174–176; Meier, Caesar (2004), 510–515 und 543–578. 64 Vgl. aus der reichhaltigen Literatur etwa Hurlet, Décennie (2007); Lyasse, Principat (2008); Kienast, Augustus (1999). 65 Vgl. zur Multidimensionalität der entsprechenden Bestrebungen Bringmann, res publica amissa (2002). 66 Levick, Vespasian (2005), 15–18; Pfeiffer, Zeit (2009), 15–18. 67 Vgl. zur Vielfältigkeit und den Quellen der kaiserlichen „Heiligkeit“ Hiltbrunner, Heiligkeit (1968). 68 Dies kommt etwa im bekannten Ratschlag des Neuen Testamentes zum Ausdruck, man gebe dem Kaiser, was des Kaisers ist (Mk 12,17; Lk 20,25; Mt 22,21).

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Kirche als Vorwürfe noch gegen Friedrich II. reaktiviert werden konnten.69 Darüber hinaus war aber für einen Kaiser im Christentum eigentlich kein Platz: Zwar wird Christus in Anlehnung an alttestamentarische Traditionen stets nur als König bezeichnet, ein christlicher Kaiser kann jedoch nicht über Christus stehen, der vielmehr die Position des „Königs der Könige“ einnimmt.70 Trotz der zentralen Figur Konstantins, die den Imperatoren im Zuge der Christianisierung den Eintritt in die Heilsgeschichte ermöglichte, blieb das Kaisertum über die folgenden Jahrhunderte ein – nicht nur von der Kirche – misstrauisch beäugtes Amt, das im Westen praktisch nur durch die Heiligung und Bändigung qua päpstlicher Verleihung seinen Schrecken verlor.71 Die Konstantinische Schenkung wusch gleichsam den Aussatz des Heidentums vom kaiserlichen Amt ab. Für die wechselhafte Beziehungsqualität von römisch-deutschen Kaisern und Päpsten sollten auf beiden Seiten vor allem drei Kaiser in prägender Erinnerung bleiben: Karl der Große72, Otto der Große73 und Friedrich II.74 Bei ihnen stand die imperiale Würde im Vordergrund, in ihrer Zeit wurde das Amt entscheidend geformt. Für viele andere römisch-deutsche Herrscher sollte jedoch der Königstitel immer wichtiger bleiben. Der Königstitel markierte im Reich des Mittelalters nämlich die klare Differenz zum fürstlichen Rang, veranschaulichte Überlegenheit an Macht und heilsgeschichtlichen Status. Der Kaisertitel brachte demgegenüber nur Hegemonie, ein die königliche Stellung überschreitendes Mehr an Macht zum Ausdruck.75 Das kaiserliche Amt blieb hier somit eigentümlich inhaltsleer, ja war ohne seinen königlichen Kern nicht denkbar. Dennoch konnte dieses höchste Amt zuzeiten erhebliche Prägekraft entwickeln: unter Otto III., im sogenannten Investiturstreit und unter Friedrich Barbarossa. Kennzeichnend für den westlichen Bereich war jedoch, dass sich die Traditionen der 69 Vgl. hierzu etwa die Pamphlete in der Endphase der Auseinandersetzung zwischen Friedrich II. und den Päpsten, in denen der Kaiser in eine Reihe mit kaiserlichen Kirchenverfolgern wie etwa Nero gestellt wird, etwa auf fol. 5r. der ‚Cronica’ des Giovanni Villani in der Handschrift Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom, Vat. Lat. 3822. 70 Auch in den Krönungsordines kommt dies durch die weitverbreitete Sequenz Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat zum Ausdruck. 71 Vgl. zu dem keineswegs geradlinigen Prozess der Integration der Konzeption Kaisertum in das christliche Weltbild Meier, Kaiser (2003). 72 Vgl. zum „Nachleben“ Karls allgemein Becher, Karl der Große (2004), 118–121; für die mittelalterliche Historiographie vgl. Schütte, Karl der Große (2004) und Lohrmann, Instrumentalisierung (2003); vgl. insb. auch Ratkowitsch, Karlsbild (2004). Vgl. für die multiplen Rezeptionsvorgänge Görich, Otto III. (1998). Vgl. für die hoch- und spätmittelalterliche Rezeption Karls des Großen Bastert, Christenheyt (2004); Saurma-Jeltsch, Karl der Große (2003); vgl. zur Materialisierung seiner Erinnerung Corsepius, Karlsthron (2005), insb. S. 374f. 73 Vgl. Fried, Otto der Große (2001), 537–544. Vgl. zur Rezeption Karls und Ottos auch Walther, Königtum (1976), 40; Becher, Otto der Große (2012), 256–271. 74 Giese, Kaiser (2007); Weiler, Stupor (2008); vgl. begriffsgeschichtlich orientiert für alle Kaiser bis zum Hochmittelalter Schmidt, Studien (1973). 75 Vgl. zum Hintergrund Schulze, Kaisertum (1991), 9–16. Vgl. dies anhand der Titulationes darlegend Foerster, Romanorum (2008).

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gelebten Handlungsmuster weitgehend losgelöst von den Komplexen des antiken imperialen Erbes entwickelten und nur zeitweise in Wechselwirkung zu diesem traten. In Byzanz nahm das Kaisertum bekanntermaßen eine andere Entwicklung. Stark blieben die spätrömisch-antiken Elemente in anscheinend ungebrochener Kontinuität.76 Dennoch unterlag das „östliche Kaisertum“ ebenso starken Veränderungen, die man in der Forschung mit dem Begriff der „Byzantinisierung“ umschrieb. Auch in Byzanz trat das Königtum in den Vordergrund: Durch eine „Umetikettierung“ des Imperators in den „Basileus“ konnte das römische Gottkaisertum verchristlicht werden und sich dem Davidskönigtum und dem Himmelskönigtum Christi angleichen.77 Kaisertum und Königtum flossen in Byzanz ineinander; entsprechend waren die Kaiserkandidaten zuvor keine Könige gewesen, während im Westen eine Sequenzierung der Rangstufen vorherrschte.78 Im Unterschied zum Westen markierte die Ernennung zum Basileus tatsächlich einen qualitativen Unterschied an Macht und heilsgeschichtlichem Status. Möglicherweise verhinderte jedoch auch in Byzanz die überragende Dominanz der Vorstellung eines Sakralkönigtums, die mit dem Basileus verbunden wurde, die genaue Ausarbeitung und die Verinnerlichung von Normen für eine genuin kaiserliche Herrschaft.79 Dennoch nahm der Kaiser in der byzantinischen politischen Kultur eine kaum zu überschätzende Position ein. Ja, man kann sagen, dass für byzantinische Theoretiker eine politische Organisation ohne kaiserliche Herrschaft nicht denkbar war.80 Der „Staat“ hätte – im Gegensatz zum Westen – ohne Kaiser im wahrsten Sinne des Wortes aufgehört zu existieren. Folglich musste das Kaisertum in Byzanz – ähnlich wie das Papsttum in Rom und idealiter das Westkaisertum – in geschlossener Reihe besetzt werden.81 Und dies war wiederum eine wichtige Ursache dafür, dass sich imperiales Erbe und imperiale Traditionen in Byzanz in weitaus stärkerem Maße als im Westen entsprachen.

I.3.1 Das Überschreiten der Ranggrenze Entscheidend für die Inanspruchnahme des Kaisertitels ist die Überschreitung der Ranggrenze. Diese Transgression ist nicht nur für den Bereich des westlichen Kaisertums 76 Vgl. eher traditionell verfassungsgeschichtlich orientiert, aber mit einigen Aussagen zur Kontinuität Bréhier, Institutions (1970), zum Kaiser insb. S. 1–88. 77 Grünbart, Fortdauer (2012), 203. Vgl. zu diesem Themenaspekt auch Hehl, Kaiser (2012). 78 In dieser Hinsicht traten auch alle lateinischen Kaiser Konstantinopels in typisch byzantinische Traditionen ein, auch sie wurden vor ihrer Kaiserkrönung keine Könige. 79 Vgl. unten, Anmerkung 229. 80 Vgl. andeutungsweise Angelov, Ideology (2007), 14. 81 Vgl. etwa Magdalino, Introduction (1994), insb. S. 3f. Vgl. zum Westkaisertum etwa die Aussage der Pisaner anlässlich ihrer Wahl Alfons’ X. (MGH Const. 2, S. 491): cognoverunt (…) bonum statum necnon etiam Romani imperii toto animo aspirantem, et imperium nimis vacasse et ab emulis dilaniatum.

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durch bestimmte Verhaltensmaßstäbe streng geregelt. Ein Blick auf die nackten Zahlen der Herrschaftsantritte byzantinischer Kaiser wirkt durchaus erhellend: 37 errangen die Krone durch Usurpation, 31 kamen als Söhne oder Enkel meist über den Weg einer Mitkaisererhebung an die Herrschaft, 26 erreichten den Thron durch eine „legale“ Prozedur, etwa durch Adoption, Wahl oder Ernennung durch den Amtsinhaber.82 Wichtig ist die Beobachtung, dass die Usurpatoren nur selten in der Lage waren, eine lang andauernde Herrschaft zu begründen. Spricht bereits diese Beobachtung für eine Dominanz des geregelten Amtsantritts, kommt noch hinzu, dass auch die Usurpation – wie noch zu zeigen sein wird – in Byzanz recht streng geregelt war. Die Durchlässigkeit der Ranggrenze, die Möglichkeiten und Regulierung ihrer Überschreitung unterscheiden sich von Zeit zu Zeit, von Kulturbereich zu Kulturbereich. Man kann zwei verschiedene Legitimationskomplexe identifizieren, die den Weg zur kaiserlichen Herrschaft ebnen: Eroberung und Wahl.83 Inszeniert wurden diese Elemente in bestimmten Erhebungssequenzen, die auch den göttlichen Willen zum Ausdruck bringen sollten. Dies zeigt sich bereits in den antiken Grundlagen des imperium: Es bezeichnete legitime Amtsgewalt der jährlich neu zu wählenden höchsten römischen Magistrate, die ihnen in einem sakralen Ritus übertragen wurde, der ihre königsgleiche Gewalt als von Jupiter abgeleitet auswies.84 Der Eroberungsgedanke Kaum eine andere Konzeption ist von ihren Fundamenten her gesehen ähnlich eng mit dem Kaisertum verbunden wie die Vorstellung des siegreichen Feldherrn.85 Dieser wurde durch seine Truppen zum imperator ausgerufen, was die Voraussetzung für die Bewilligung eines Triumphs durch den Senat war.86 Im Zeitverlauf verstetigte sich diese Grundkonstellation, erwies sich gar als „staatsprägend“ und „staatstragend“: Der römischen Reichsidee und den Konzepten ihrer höchsten Amtsträger war stets der Gedanke der siegreichen Expansion eigen.87 Diese Prägung von Amt und Reich sollte sich auch über das Ende der Römerherrschaft als ausgesprochen wirkmächtig erweisen. Die dauerhafte Verbindung des Prinzipats mit kriegerischen Inhalten mag vielleicht auch damit zusammenhängen, dass die römische Armee vor allem im westlichen Bereich der römischen Expansion zu einem der wichtigsten „Kulturbringer“ und „Träger der Romanisierung“ wurde.88 In der Spätantike verband sich die Basis der militärischen 82 Lilie, Kaiser (2008), 213–218 mit den Zahlen auf S. 214; Lilie, Einführung (2007), 133. 83 Vgl. mit dem Schwerpunkt späte Stauferzeit: Becker, Kaisertum (1975), 37–41, 59–61 und S. 83– 87; vgl. auch Thumser, Kaiser (2002). Vgl. zur Wahl insbesondere Kosuch, A deo electus (2005). 84 Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 11f. 85 Vgl. für die Spätantike Heim, Vox (1990). 86 Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 19. 87 Vgl. hierzu auch unten, Abschnitt ‚Außen und Innen‘. Vgl. v. a. McCormick, Victory (1986), insb. S. 4. 88 Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 46.

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Machtmittel mit dem Wahlgedanken zum Heerkaisertum.89 Dieses Legitimationskonstrukt deutete allerdings eher auf das Eintreten in eine (im Bürgerkrieg eroberte) etablierte Machtstellung hin als auf eine Neugründung: exercitus imperatorem facit.90 Die Vorstellung des Heerkaisertums steht nämlich in engem Zusammenhang mit der Vorstellung eines Eroberungsrechts. Dennoch sind beide Denkfiguren graduell voneinander zu scheiden: Heerkaisertum meint streng genommen die Rangerhöhung zu einer Kaiserherrschaft innerhalb eines Gemeinwesens durch eine siegreiche Streitmacht, während sich das Eroberungsrecht eher auf das Eintreten in die obersten Leitungsrechte eines eroberten fremden Gemeinwesens bezieht. Somit sind dem Gedanken des Heerkaisertums, das ja auf einem Wahlakt basiert, tendenziell stärkere konsensuale Elemente eigen als dem Gedanken des Eroberungsrechts. Beide Denkfiguren sollten in Ost und West unterschiedliche Wirkung entfalten: Neben die reguläre Kaisererhebung durch den Papst war bereits in karolingischer Zeit die Denkfigur eines hegemonialen Kaisertum getreten, dessen Prätendenten „nicht durch die Tür, das heißt Christus bezw. dessen irdischen Vertreter, sondern auf dem Wege der Eigenmacht zu Würde gelangen“ wollten.91 Stark war die Vorstellung einer auf Waffenruhm basierenden kaiserlichen Würde, die sich in der nomen-potestas-Theorie Bahn gebrochen hatte92: In dieser „heerkaiserlichen“ Perspektive basierte das Kaisertum eher auf dem Erreichen einer bestimmten Machtstellung als auf dem Erobern eines zentralen Ortes, der – wie Rom oder Konstantinopel – mit kaiserlicher Legitimität in Verbindung gebracht wurde.93 So hatten sich einige Könige – auch außerhalb des Frankenreiches – zu hegemonialen Kaisern, imperatores multorum populorum, ernannt.94 Diese Beispiele – etwa der angelsächsische König Edgar 973 – nahm die klassische Verfassungsgeschichte dankbar auf.95 Das erste Beispiel im spanischen Raum findet sich unter Alfons III. von Asturien (860–910), der sich in seinen Urkunden als Kaiser bezeichnet. Später sollten noch weitere spanische Könige aufgrund dieser Denkfigur den kaiserlichen Rang beanspruchen.96 Implizit findet sich die Konzeption des Heerkaisertums auch im Bereich kö-

89 Trotz der mitunter feststellbaren Belastung des Begriffs durch Überspitzungen in der deutschen Forschung soll an ihm in der vorliegenden Arbeit festgehalten werden, da er klar einen bestimmten Legitimationskomplex des Kaisertums zum Ausdruck bringt: die militärische Prägung des Kaisertums und die maßgebliche Rolle der Armee bei der Kaiserwahl. 90 Sophronius Eusebius Hieronymus, Epistulae, Nr. 146, S. 310. 91 Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 116. 92 Vgl. etwa Beumann, Nomen (1958), der auf S. 529–534 betont, dass sich in dieser Theorie potestas und nomen entsprechen mussten, da ansonsten die göttliche Weltordnung gestört schien. 93 Schieffer, Karolinger (2006), 103f. 94 Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 116. 95 Stengel, Kaisertitel (1965), 282–286 und Stengel, Imperator (1965). Vgl. zu England auch Drögereit, Kaiseridee (1952) sowie Vorholzer, Kaisertum (1962), 6–54. 96 Hüffer, Kaisertum (1931); Schramm, Königtum (1950); Hüffer, Kaiseridee (1954); Meyer, Kastilien (2002), 17–24; Caballero Kroschel, Reconquista (2008), 41–120. Vgl. zu Alfons dem Weisen

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niglicher Herrschaft, etwa bei der Begründung der normannischen Rangerhöhung.97 Generell ist jedoch zu sagen, dass eine Art „Heerkönigtum“ im 12. Jahrhundert in Europa eher ungewöhnlich geworden war, vielmehr galt es, die Rangerhöhung zum König durch übergeordnete Instanzen – Kaiser oder Papst – zu erlangen. In gewissem Sinn lässt sich auch das Kaisertum Karls des Großen hier einordnen. Die Grundlage des neuen Titels war sicherlich im Machtgewinn des Frankenreichs zu sehen. Als entscheidend sollte sich jedoch die zusätzliche doppelte Legitimation Karls durch den Ort Rom und vor allem die sakralen Qualitäten des Papsttums erweisen. Dass diese Elemente für den westlichen Weg zur Kaiserkrone künftig dominierend wurden, ist sicherlich auch durch die Tätigkeit kirchlicher Theoretiker bedingt.98 Für die Byzantiner war das Kaisertum Karls zunächst unverständlich und konnte erst später über die Fiktion einer Mitkaisererhebung in die byzantinische Gedankenwelt integriert werden.99 Zwei Aspekte hatten für Irritationen gesorgt: die maßgebliche Beteiligung des Papsttums (das aus byzantinischer Sicht keinerlei Mitwirkungsrechte an einer Mitkaisererhebung hatte) und die ausbleibenden Versuche des vermeintlichen Usurpators, sich in den Besitz der Hauptstadt zu setzen – das lateinische Kaisertum des 13. Jahrhunderts sollte trotz seiner katastrophalen Folgen für Byzanz verständlicher bleiben.100 Auch im byzantinischen Bereich kam es nämlich im Laufe der Zeit phasenweise zu einer starken Militarisierung des Kaisertums, die sich in der maßgeblichen Beteiligung des Militärs an der Kaisererhebung niederschlug. Insbesondere die arabische Expansion des 7. Jahrhunderts führte zu einem Übergewicht der byzantinischen Militärverwaltung gegenüber der zivilen Administration, wenngleich die Zivilverwaltung wohl weiterhin ein beachtliches Eigenleben führte.101 In Byzanz sollte es stets üblich bleiben, Usurpationen durch das Heer legitimieren zu lassen bzw. sich mit reiner Waffengewalt in den Besitz der kaiserlichen Würde zu versetzen. Möglicherweise ist die zeitweise sehr prominente Torques- oder Kettenkrönung zeremonieller Ausdruck dieses „Heerkaisertum“.102 Im Westen sollte dieser Weg immer stärker versperrt werden. Zwar konnten – wie noch zu zeigen sein wird – überragende Heerführer bzw. Oberhäupter mächtiger Herrschaftsverbände kaisergleichen Rang beanspruchen oder Entscheidungen von Thronstreitigkeiten auf königlicher Ebene durch Waffen gelöst werden. Mit Gewalt alleine

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Hüffer, Ende (1953); Steiger, Alfons der Weise (1947) und grundsätzlich Schlieben, Macht (2009). Elze, Königtum (1982). Vgl. zum Zusammenwirken von Herrscher und Geistlichkeit Petersohn, Kaisertum (1994), insb. S. 138–142. Lilie, Byzanz (2003), 174–192. Classen, Karl der Große (1985), insb. S. 82–87. Lilie, Einführung (2007), 157f. Alföldi, Insignien (1935), 51–54.

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war ein legitimer – d. h. allgemein anerkannter103 – kaiserlicher Rang aber nicht zu erlangen, zu stark institutionalisiert waren im Westen die legitimierenden Instanzen, allen voran das Papsttum. Und so verwundert es auch nicht, dass zwei Renaissancen des Heerkaisertums, die bei der traditionellen Verfassungsgeschichte viel Beachtung hervorriefen, kaum Wirkung zeitigten: Dies betrifft zum einen die Nachricht Widukinds von Corvey, Otto der Große sei nach der Lechfeldschlacht zum Kaiser ausgerufen worden, die trotz ihres fiktiven Charakters nicht einfach abzuwerten ist, sondern als Beispiel für die weiterhin erinnerte Vorstellung eines Heerkaisertum gelten kann.104 Zum anderen gab es auch zur Zeit Barbarossas offensichtlich Bestrebungen, heerkaiserliche Vorstellungen wiederzubeleben bzw. die kriegerische Eroberung als Legitimationsgrund des Kaisertums zu betonen: Die kriegerische Tatkraft der Karolinger und Ottonen sei es gewesen, so Friedrich in seiner fingierten Ansprache an die Römer 1155, die die Translatio Imperii von den Griechen auf die Deutschen bewerkstelligt hätte.105 Das Heer spielte gleichwohl noch in KO [= Krönungsordo] XI eine Rolle, wenn gebetet wurde: Exercitui Francorum Romanorum et Teutonicorum vitam et victoriam.106 In gewissem Sinn lassen sich auch die Vorgänge von 1204 im Sinne des Heerkaisertums deuten, ebenso stark ist jedoch der Aspekt des Eroberungsrechts.107 Die Teilnehmer des Vierten Kreuzzuges handelten eigentlich ab dem Zeitpunkt, als klar wurde, dass sie ihre Schulden an Venedig nicht würden tilgen können, kaum noch als Kreuzfahrer, sondern eher als Soldritter im Dienst Venedigs.108 Vor allem in den für die Rekonstruktion der Ereignisse maßgeblichen Schilderungen der westlichen Chronisten 103 104

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Vgl. zu der Definition der allgemeinen Anerkennung unten die Einleitung zum Abschnitt ‚I.3.2 Herrschaftsbereiche und Herrschaftsfunktionen‘. Vgl. Widukind, Sachsengeschichte, lib. 3, c. 49, S. 128: Triumpho celebri rex factus gloriosus ab exercitu pater patriae imperatorque appellatus est. Eine ähnliche Stelle findet sich zu Heinrich (lib. 1, c. 39, S. 58): pater patriae, rerum dominus imperatorque ab exercitu appellatus. Vgl. hierzu bereits Stengel, Kaiser (1910), 17–29 und Stengel, Kaisertitel (1965), 254–256. Vgl. zur heutigen Sichtweise Laudage, Otto der Große (2006), 171–180 und Keller, Ottonen (2006), 44. Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imperatoris. Ed. Waitz, lib. 2, c. 30, 136–139. KO XI, Nr. 9, S. 28. Vgl. äquivalent KO XIV, Nr. 46, S. 45: Exercitui romano et theutonico vita et victoria. Auf diese Gedankengänge deutet auch Villehardouin, (Conquête. Ed. Faral) hin, der in Kapitel 189 dem wiedereingesetzten Isaak II. Angelos die Worte an die Kreuzfahrer in den Mund legt: Et ne porquantvos l’avez tant servi, et moi et lui, que, se on vos en donoit trestot l’empire, si l’ariez vos bien deservi („Und dennoch habt Ihr ihm [scl. Isaaks Sohn Alexios IV.] so gut gedient, ihm und mir, daß Ihr, wenn man Euch das ganze Kaiserreich dafür gegeben hätte, es wohl verdient hättet“; Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 189, S. 192). Die Übersetzung Villehardouins folgt bis c. 263 dem Band Chroniken des Vierten Kreuzzugs. Ed. Gerhard E. Sollbach. So richtig Hendrickx, Chartres (1969), 64, wenngleich zu berücksichtigen ist, dass „Soldrittertum“ auch eine durchaus legitime Beschäftigung für andere Kreuzritter war, deren finanzielle Mittel aufgebraucht waren.

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finden sich jedoch Elemente der legitimatorischen Sublimation, der Kreuzzugsidee und der erstarkten Ritterkultur109: Die Eroberer folgten in ihren Bestrebungen, das byzantinische Reich zu erobern, gleichsam dem Vorbild Alexanders des Großen.110 All dies mochte den Gedanken der Eroberung befeuert haben. Bereits vor dem endgültigen Erfolg wurde das Fell des byzantinischen Bären verteilt.111 Die Grundlage des – erst später päpstlich sanktionierten – Kaisertum bildete eindeutig militärische Gewalt, und so legt auch der Teilungsvertrag vom März 1204 lakonisch fest: Inprimis, omnium armata manu, Christi invocato nomine, civitatem expugnare debemus.112 Die alleinige Betonung des Eroberungsrechts hätte gleichwohl ebenso wenig gegriffen wie die Betonung einer Wahl durch das Heer: Der neue Kaiser Balduin trat vielmehr in der Vorstellung der Zeitgenossen (wohl auch eines Teils der Byzantiner) in die Rechte eines Basileus ein.113 Für die weiteren Erörterungen ist es unumgänglich, knapp exkursartig zwei Fragen zu beantworten: Weshalb hatte der Basileus in den Augen der Lateiner seine Herrschaftsrechte verwirkt und war dies nach westlichen Maßstäben ausreichend für einen Austausch der Dynastie? Konkreter Anlass für die Eroberung Konstantinopels 1204 war die Nichterfüllung eines Besoldungsvertrages, der nach gängiger Rechtspraxis zur Selbsthilfe berechtigte.114 Hinzu trat jedoch die auch für byzantinische Verhältnisse 109 110 111 112 113

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Flori, Culture (2006). Vgl. Bräuer, Alexander der Große (2001), 9–16. Vgl. zu Alexander in Sangspruchdichtung und Meistergesang etwa Haustein, Form (2005), 88–90. Vgl. zum Vorbild Alexanders im Umfeld Friedrichs II. Kirsch, Friedrich II. (1974). Vgl. oben, den Abschnitt ‚Der Wahlgedanke‘ zur Wahl Balduins. De oorkonden der graven van Vlaanderen. Ed. Prevenier, Nr. 267, S. 555. Tricht, Gloire (2000), 212 betont, dass eigentlich kein neues Kaiserreich geschaffen, sondern nur die Dynastie ausgewechselt wurde („Le pacte de mars 1204, la base constitutionnelle du gouvernement latin en territoire byzantin, n’avait pas créé un nouvel état. L’empereur à élire par les croisés en vertu de cette convention était en effet le successeur de l’empereur byzantin et son empire était par voie de conséquence l’empire byzantine”). Das mag die Sicht der Lateiner widerspiegeln, aber kaum jene der griechischen Bevölkerung. Insgesamt gleicht diese Frage durchaus der Problematik der verschiedenen Dynastiewechsel in Süditalien. Vgl. hierzu grundsätzlich Burkhardt, Anfänge (2010). Vgl. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 208, 209 und v. a. c. 210, S. 8f.: Et pristrent li baron de l’ost un parlement, et li dux de Venise. Et distrent qu’il conossoient que cil ne lor attendroit nul convent, et si ne lor disoit onques voir; et que il envoiassent bons messages par requerre lor convenance et por reprover lou servise que il li avaient fait; et se il le voloit faire, preïssent le; et s’il nel volait faire, desfiassent le de par als, et bien li deïssent qu’il pourchaceroient le leur si come il porroient („Und die Barone des Heeres hielten eine Zusammenkunft mit dem Herzog von Venedig ab. Und sie sagten, sie sähen ganz klar, dass dieser [Kaiser Alexios IV.] ihnen gegenüber keine Verpflichtung einhalte und ihnen niemals die Wahrheit sage. Daher würden sie zuverlässige Boten schicken, um ihre Vertragsbestimmungen einzufordern und um ihm den Dienst vorzuhalten, den sie ihm geleistet hatten. Wenn er es tun wollte, sollten sie [= die Boten] es annehmen, und wenn er es nicht tun wollte, sollten sie ihm ihrerseits den Kampf ansagen und ihm klar sagen, dass sie sich das, was ihnen gebühre,

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überaus chaotische Thronfolge seit Isaak II. Angelos. Diese konnte in Verbindung mit dem den Lateinern eigentlich bekannten, aber die konkreten Spannungen doch verschärfenden, als herablassend und bedrohlich empfundenen byzantinischen Hofzeremoniell den Eindruck moralischer Verkommenheit und Unfähigkeit zur Herrschaft erwecken.115 Klar durchzieht diese Auffassung die Chronik Villehardouins116, sie stellt aber nur die Spitze des Eisbergs dar.

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verschaffen würden, wie sie könnten“). Für die Ausgestaltung des byzantinischen Söldner- und Soldatensystems vgl. Haldon, Service (1993). Vgl. zum Bericht Villehardouins zum Treffen zwischen den Gesandten der Kreuzfahrer und Alexios IV. unten, Anm. 757. Besondere Verbitterung löste in der Erinnerung Villehardouins nicht nur die Vertragsverletzung durch Alexios IV. aus, sondern auch die plötzliche (gleichwohl „typisch byzantinische“) Usurpation des Alexios V. Dukas Murtzuphlos, die Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 222, S. 20f. so gekonnt lakonisch schildert, mit klarem Gespür für die wichtigsten zeremoniellen Akte: Par le conseil et par le consentiment as autres, un soir, a la mie nuit, que l’empereres Alexis dormoit en sa chambre, cil qui garder le devoient, Morchufles demainement et li autre qui avec lui estoient, le pristrent en son lit et le gitterent en une chartre en prison. Et Morchufles chauça les hueses vermoilles par l’aïe et par le conseil des autres Grex, si se fist empereor. Aprés le coronerent a Sainte Sophie („Auf Anraten und mit Zustimmung der anderen nahmen eines Abends, um Mitternacht, als der Kaiser in seinem Gemach schlief, ihn diejenigen, die ihn bewachen sollten, Murtzuphlos selbst und die anderen, die bei ihm waren, aus seinem Bett und warfen ihn in ein Gefängnis. Und Murtzuphlos zog mit Hilfe und Billigung der anderen Griechen die hellroten hohen Schuhe an und machte sich zum Kaiser. Dann krönten sie ihn in Sankt Sophia“). Vgl. auch c. 223, S. 22 zur neben Blendung, Entmannung und Klostereinweisung zweiten typisch byzantinischen Art der „Vorgängerentsorgung“: Quant ce oï l’emperere Sursac que ses fils fu pris et cil fu coronez, si ot grant paor et li prist une maladie: ne dura mie longuement, si moru. Et cil emperere Morchuflex si fist le fil, que il avoit en prison, .II. foiz ou .III. empoisoner; et ne ploit Deu que il morust. Aprés cela, si l’estrangla en murtre et, quant il l’ ot estranglé, si fist dire pertot que il ere morz de sa mort; et le fit ensepellir com empereor honorablement et metre en terre; et fist grant semblant que lui pesoit). („Als der Kaiser Isaak [II. Angelos] erfuhr, dass sein Sohn im Gefängnis war und dass dieser da gekrönt worden war, hatte er große Furcht und eine Krankheit ergriff ihn. Und es dauerte nicht lange, dass er starb. Dieser Kaiser Murtzuphlos ließ dem Sohn, den er im Gefängnis hatte, zweimal oder dreimal Gift geben. Doch Gott gefiel es nicht, dass dieser starb. Danach erdrosselte er ihn meuchlings und ließ überall erzählen, dass er eines natürlichen Todes gestorben sei. Und er ließ ihn mit Ehren als Kaiser bestatten und in das Grab legen und tat sehr so, als ob er darüber bekümmert sei“). Vgl. auch die Aussage Villehardouins, Conquête. Ed. Faral, c. 271, S. 80 anlässlich seines Berichtes über die Blendung Alexios’ V. durch Alexios III.: Or oïez se ceste genz devoient terre tenir ne perdre, qui si granz crualtez faisoient li un des autres („Sagt nun, ob dieses Volk, das sich einander solche Grausamkeit antut, geeignet ist, Land zu besitzen”) und c. 272, S. 80 zur angeblichen Reaktion der Kreuzfahrer: Mult en fu grant parole entr’aus; et bien distrent que il n’avoient droit en terre tenir, que si desloialment traïsoit li uns l’autre („Davon wurde viel geredet unter ihnen und wohl sagen alle, dass jene, die einander so unloyal und verräterisch hintergehen, kein Recht hätten, Land zu besitzen“). Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 224, S. 22f. schreibt zu den oben geschilderten Ereignissen der Usurpation Alexios’ V.: Mais murtres ne puet estre celez: clerement fu seü prochainement des Grieus et des François que li murtres ere si faiz com vos avez oï retraire.

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Abgesehen von handfesten Gründen auf Seiten der Venezianer – Rache für die Verhaftung ihrer Bürger durch Manuel Komnenos, Interesse an günstigen Handelskonditionen117 – waren es vor allem kulturelle Entfremdungen und religiöse Gegensätze, die Byzanz zum Verhängnis wurden.118 Die zunehmende Entfernung zwischen „Byzanz“ und dem Westen hatte im 7. Jahrhundert mit den arabischen Einbrüchen begonnen und führte zum weitgehenden Abzug byzantinischer Kräfte aus dem lateinischen Europa und in der Folge auf beiden Seiten zum Verlust von herrschaftlichem Orientierungswis-

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Lors pristrent li baron de l’ost et li dux de Venise un parlement. Et si i furent li evesque, et toz li clergiez. A ce s’acorda tous li clergiez, et cil qui avaient le conmandement de, l’apostoille, et mostrerent as barons et as pelerins, que cil qui tel murtre faisoit n’avoit droit en terre tenir, et tuit cil qui estoient consentant estoient parçonier del murtre et, oltre tot ce, que il s’ estaient sotrait a l’obedience de Rome („Doch ein Mord kann nicht verborgen bleiben. Den Griechen und den Franzosen wurde bald klar, dass der Mord so begangen worden war, wie ihr es erzählen gehört habt. Daraufhin hielten die Barone des Heeres und der Herzog von Venedig eine Beratung ab. Und auch die Bischöfe waren dabei und die gesamte Geistlichkeit. Und darüber war sich die gesamte Geistlichkeit einig und diejenigen, die vom Papst den Auftrag erhalten hatten – und sie zeigten ihn den Baronen und den Kreuzfahrern –, dass derjenige, der einen solchen Mord beging, kein Recht habe, das Land zu besitzen, und dass alle diejenigen, die das billigten, Mordgehilfen seien, und dass sie sich außerdem dem Gehorsam Roms entzogen hätten“). Vgl. auch das folgende c. 225, S. 24: ‚Por quoi nos vos disons, fait li clergiez, que la bataille est droite et juste. Et se vos avez droite entention de conquerre la terre et metre a la obedience de Rome, vos arez le perdon tel cum l’apostoille le vos a otroié, tuit cil qui confés i morront.’ Sachiez que ceste chose fu granz confors as barons et as pelerins („‚Deshalb sagen wir Euch’, erklärten die Geistlichen, ‚dass der Kampf recht und gerecht ist. Und wenn Ihr die rechte Absicht habt, das Land zu erobern und es unter die Botmäßigkeit Roms zu bringen, werden alle von Euch, die darin gebeichtet sterben, den Ablass erlangen, den der Papst Euch gewährt hat.’ Ihr müsst wissen, dass dies eine sehr große Aufmunterung für die Barone und die Kreuzfahrer war“). Vgl. auch Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 72, S. 71: tant que li vesque et li clerc de l’ost parlerent ensanle, et jugierent que le bataille estoit droituriere et que les devoit bien assalir, car anchienement avoient esté chil de le chité obedient a le loi de Rome, et ore en estoient inobedient, quant il disoient que li lois de Rome ne valoit nient, et disoient que tout chil qui I crooient estoient chien; et disent li vesque que par tant les devoit on bien assalir et que che n’estoit mie pechiés, ains estait grans amnosnes („Schließlich sprachen die Bischöfe und die Geistlichen des Heeres miteinander und kamen zu dem Urteil, dass der Kampf rechtmäßig war und dass sie die Griechen sehr wohl angreifen dürften, da in früheren Zeiten diejenigen der Stadt dem Gesetz von Rom gehorcht hätten, nun aber ungehorsam seien und sagten, das Gesetz von Rom habe keine Gültigkeit, und sagten, dass alle, die daran glaubten, Hunde seien. Und es sagten die Bischöfe, dass man deswegen sie sehr wohl bekämpfen dürfe und es überhaupt keine Sünde, sondern eine besonders gutes Werk sei“). Die Übersetzung von Clari folgt bis c. 98 ebenfalls dem Band Chroniken des Vierten Kreuzzugs, Ed. Gerhard E. Sollbach. Vgl. Nicol, Byzantium (1988), 84–123. Vgl. hierzu aber etwa Kindlimann, Eroberung (1969), die den religiösen Gegensätzen einen eher geringen Stellenwert einräumt; Brand, Byzantium (1992) sieht im Vierten Kreuzzug letztlich das Ergebnis einer verfehlten byzantinischen Außenpolitik, vgl. insb. die Schilderung S. 232– 269.

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sen.119 Hinzu traten die religiösen Differenzen (angefangen mit dem Ikonoklasmus), die im sogenannten morgenländischen Schisma von 1054 gipfelten. Diese Entfremdungstendenzen waren durch die Kreuzzüge sogar verstärkt worden. Der engere Kontakt schärfte nicht nur das Bewusstsein für die gegenseitigen Unterschiede bei der Ausformung der christlichen Religion. Obwohl die Kreuzzüge letztlich byzantinischen Hilfeforderungen entsprangen, war der Basileus von ihrem Umfang auch überrascht und zur Vorsicht gemahnt.120 In lateinischer Perspektive wurde den byzantinischen Kaisern vorgeworfen, Kreuzzüge immer wieder zu behindern und eigentlich die Feinde der christlichen Heere zu unterstützen oder zumindest mit ihnen „Stillhalteabkommen“ abzuschließen.121 Zunächst hatte Byzanz demgegenüber jedoch das Bild einer christlichen Schutzmacht aufrechterhalten, gar teilweise die Lehnsoberhoheit bewahren und ausbauen können.122 Die Situation kippte um 1188, als Isaak II. Angelos wohl in der Tat den Durchzug des Kreuzfahrerheeres Barbarossas nicht unerheblich behinderte.123 Diese Animositäten gegenüber den Byzantinern wurden von lateinischer Seite um den latenten Vorwurf des Schismatikertums ergänzt, das im 12. Jahrhundert in verstärktem Maße als Ketzerei angesehen wurde.124 Schlechte und moralisch verkommene Herrschaft und Nähe zur Ketzerei – all diese Vorwürfe finden sich auch anlässlich der Absetzung Friedrichs II. auf dem Konzil von Lyon.125 Als Vollzugsorgan päpstlichen Willens sollte dort ein Kreuzfahrerheer agieren, und es ist durchaus möglich, dass entsprechende Gedankengänge latent von den Ereignissen 1204 übernommen wurden. 119 120 121 122 123 124

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Lilie, Einführung (2007), 143. Vgl. zum Ersten Kreuzzug aus byzantinischer Sicht Lilie, Byzanz (2004), 33–63. Vgl. zum Hintergrund Brand, Byzantines (1962). Dies zeigte sich etwa bei den Auseinandersetzungen um Antiochia. Vgl. hierzu Lilie, Byzanz (2004), 57–82. Eickhoff, Friedrich Barbarossa (1977), S. 38–43 zu den Abmachungen, S. 58–82 zu den Spannungen mit Byzanz und ihrer Lösung. Noch Alexios III. suchte – folgt man Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 143, S. 142 und 144 – diese Vorwürfe zu entkräften; er soll einen Boten geschickt haben, der den Kreuzfahrern die Nachricht des Basileus überbrachte: l’emperere Alexis vos mande que bien set que vos iestes la meillor gent qui soient sanz corone et de la meillor terre qui soit, et mult se mervoille por quoi ne a quoi vos iestes venu en sa terre ne en son regne: que vos estes crestïen et il est crestïens, et bien set que vos iestes meü por la sainte terre d’oltremer et por la sainte croiz et por le sepulcre rescore. Se vos iestes povres ne disetels, il vos dama volentiers de ses vïandes et de son avoir, et vos li vuidiez sa terre („der Kaiser Alexios [III.] lässt Euch sagen, er wisse wohl, dass Ihr die besten Leute seid, die nicht gekrönt sind, und von dem besten Volk und aus dem besten Land seid, das es gibt, und er fragt sich mit großem Verwundern, weshalb und mit welcher Absicht Ihr in sein Reich gekommen seid: Denn Ihr seid Christen und er ist ein Christ und er weiß sehr wohl, dass Ihr losgezogen seid, um dem Heiligen Land jenseits des Meeres und dem Heiligen Kreuz und dem [Heiligen] Grab zu Hilfe zu kommen. Wenn Ihr arm und bedürftig seid, wird er Euch gerne von seinen Nahrungsmitteln und von seinem Geld geben, und dann verlasst sein Land“). Vgl. zu Ketzerei / Schismatikertum Riley-Smith, Kriege (2005), 34–38. Friedrich wurden Eidbruch, Friedensbruch, Sakrileg und Häresieverdacht vorgeworfen; vgl. Wolter / Holstein, Lyon (1972), 114–118.

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Zumindest in der Perzeption westlicher Autoren verunsicherte die Eroberung Konstantinopels auch „die Ungläubigen“.126 Etwas umständlich kann man deshalb das lateinische Kaisertum als „Kreuzfahrerheerkaisertum“ bezeichnen, das das im Westen geradezu als „antichristlich“ angesehene Kaisertum ersetzen sollte. Zumindest aus Sicht der Kurie stellte das lateinische Kaisertum somit auch eine Art Gegenentwurf zum byzantinischen Kaisertum dar. Es gilt allerdings auch zu berücksichtigen, dass es 1204 nicht nur um die Rechtfertigung eines plötzlichen Herrschaftswechsels „aus heiterem Himmel“ ging, sondern dass die Kreuzfahrer bereits in diffuse kaiserliche Traditionen und Funktionen eingetreten waren: Schon längere Zeit vor der eigentlichen Eroberung Konstantinopels hatten sie den Thronprätendenten unterstützt, schließlich militärisch durchgesetzt und entscheidenden Einfluss auf die kaiserlich-byzantinische Politik genommen.127 Noch deutlicher wird diese Tatsache bei den Venezianern: Bereits seit Jahrhunderten waren sie die wichtigsten Verbündeten der Byzantiner gewesen und nahmen in zunehmendem Maße selbstständig jene Aufgaben wahr, die sie zuvor in kaiserlichem Auftrag erfüllt hatten.128 Gleichwohl ist der Bruch nicht zu unterschätzen, der mit dem Jahr 1204 eintrat.129 An dieser Stelle sei nur darauf verwiesen, dass von den lateinischen Kaisern die Andersartigkeit ihrer eigenen Herrschaft deutlich perzipiert wurde. So spricht Kaiser Robert in einer Urkunde recht klar von Besitzungen der Lateiner, die sie in tempore Grecorum hatten.130 Die neue Ordnungskonfiguration beruhte auch in kaiserlicher Sicht

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Vgl. Roberti Canonici S. Mariani Autissiodorensis Chronicon. Ed. Holder-Egger, 269: Constantinopolitane captionis fama totum Orientem circumvolans christiani nominis inimicos plurimum exterrebat. Sephadinus dominans in Damasco, Babilonia et Egypto adeo cum omnibus Sarracenis indoluit, ut maluissent occupatam esse Iherusalem a christianis quam Constantinopolim a Latinis; statimque inita treuga cum omnibus inimicis, ipse personaliter longe lateque discurrit, ut contra christianos confederet universos. Vgl. zur Rezeption in den islamischen Quellen grundsätzlich Beihammer, Kreuzzug (2008). Vgl. etwa den Bericht Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 194, S. 196 und 198 zu einer angeblichen Rede Alexios’ IV. an die Kreuzfahrer: Seignor, je sui emperere par Dieu et par vos („Ihr Herren, durch Gott und durch Euch bin ich Kaiser“) oder auch die Schilderung in c. 201, S. 204: Aprés, par le conseil des Grius et des François, issi l’empereres Alexis a mult grant conpaignie de Costantinople e por l’empire aquiter et metre a sa volenté. Avec lui en ala grant partie des barons, et l’autre il remest por l’ost garder („Danach ging der Kaiser Alexios [IV.] auf Rat der Griechen und der Franzosen mit einer sehr großen Schar aus Konstantinopel heraus, um sein Reich in Besitz zu nehmen und es seinem Willen zu unterwerfen“); Kreuzfahrer begleiteten ihn. Lane, Seerepublik (1980), 17–28 und 43–61. Lock, Emperors (1994). Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 267, S. 254.

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auf dem Einvernehmen des Kreuzfahrerheeres und seiner Leiter – das gemeinsam Eroberte sollte auch gemeinsam verwaltet werden.131 Das Heerkaisertum bildete auch beim Herrschaftsantritt Heinrichs 1205 / 06 neben dem Erbrecht (er war Bruder Balduins I.) eines der wichtigen legitimatorischen Elemente – es war ein Kaiser notwendig, der energisch den unmittelbar drohenden Bulgaren Einhalt gebieten konnte.132 Diese starken „militärischen Komponenten“, die dem lateinischen Kaisertum inhärent waren, standen nicht nur in der Tradition der römischen Antike. Auch der Kreuzzugsgedanke blieb bis unter Balduin II. (1228–1261) noch lebendig: Er setzte Ludwig IX. in Namur als Stellvertreter ein, da er sich selbst auf einer Art Kreuzzug in Konstantinopel befinde – ein Kaiserreich als Kreuzzug.133 Für die Byzantiner selbst standen die Kreuzfahrer in der Tradition jener „Barbaren“, die – wie Araber und Bulgaren – immer wieder versucht hatten, sich Konstantinopels zu bemächtigen.134 Sicher waren „Lateiner“ im Osten bekannt: schon längere Zeit verdingten sich Söldner aus dem Westen in Byzanz,135 besaßen Kaufleute der verschiedenen Seestädte ihre Dependancen am Bosporus.136 Allerdings hatten sich die Kreuzfahrer durch die vergangenen Züge als ausgesprochen bedrohlich erwiesen. Mit dem Vierten Kreuzzug gingen nämlich nach byzantinischer Interpretation die zwei größten, geradezu existenziellen Gefahren für den byzantinischen Staat eine Verbindung ein: die Bedrohung durch Schismatiker und das Zuhilferufen ausländischer Völkerschaften durch einen der Prätendenten in einem Thronstreit. Harsch abgelehnt wurde das lateinische Kai131

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Vgl. die spätere Spiegelung der Ereignisse in der Bestätigung der bisherigen Regelungen durch Kaiser Robert: omnem ordinationem, particionem et examinationem factam per partitores, qui fuerunt constituti per dominum B[alduinum], memorati Imperii Imperatorem, et per dominum Henricum Dandulum, condam Ducem Venetorum, ac dominum Bonifacium, Marchionem Montisferati, ceterosque Barones peregrinos ac omne comune tocius exercitus, qui Constantinopolitanum Imperium acquisuerit, inrevocabiliter confirmamus (Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 260, S. 227f.). Vgl. hierzu v. a. unten, Abschnitt ‚III.3.1 Abwehr‘. Möglicherweise ist die Wortwahl auch durch einen der Hauptadressaten – Ludwig IX. – bedingt, aber dennoch auch für die Auffassung Balduins aussagekräftig: (…) notum facimus quod, cum nos in imperio Romanie in servicio Jeshu Xpisti et sancte fidei ac Romane ecclesie commorari necessario habemus, ita quod in regno Francie, pro gerendi ac prosequendis negociis que in eodem regno habemus, nullatenus possimus personaliter interesse neque negocia prosequi que ibidem habebamus incepta (Layettes du Trésor II, Nr. 2954, S. 464). Im 9. Jahrhundert war es den Byzantinern gelungen, die Bulgaren zum christlichen Glauben zu bekehren und zur Anerkennung des Basileus als obersten ideellen Herrscher zu bewegen. Dies führte auch zu ständigen Versuchen der bulgarischen Herrscher – insbesondere unter Zar Symeon –, selbst den Kaiserthron zu besetzen. Vgl. Lilie, Einführung (2007), 144 und Ducellier‚ Byzanz (2000), 152–181. Vgl. zur Regierungszeit Basileios’ II. Strässle, Krieg (2006), 148–213 sowie Gjuzelev, Bulgarien (1993), 8–16; Prinzing, Bedeutung (1972), 1–92 und 100–154; vgl. zum Bild der Lateiner in Byzanz Gounaridis, Image (2006). Die Waräger waren keine „Lateiner“ im wörtlichen Sinne. Vgl. – auch für die Vielschichtigkeit des Begriffs Waräger – Blöndal, Varangians (1978), insb. S. 122–172. Martin, Venetians (1988), insb. S. 208–214.

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sertum auch durch den Bulgarenzaren Kalojan Asen, der gegenüber Innozenz III. die Legitimität des lateinischen Kaisertums grundsätzlich in Zweifel zog und für sich selbst die Nachfolge im byzantinischen Reich und den kaiserlichen Rang in Anspruch nahm.137 Die lateinische Einnahme Konstantinopels blieb auch nicht ohne Einfluss auf die byzantinische Auffassung von Heerkaisertum und Eroberungsrecht. Deutlich konturiert wird die Denkfigur des Heerkaisertums bei Theodor Angelos Komnenos Dukas (1215 / 1227–1230), dem Halbbruder und Nachfolger Michaels I. Komnenos Dukas (1204– 1214), des Despoten von Epiros. 1217 geriet der lateinische Kaiser Peter (1216–1217), der niemals im lateinischen Kaiserreich ankommen sollte, in die Gefangenschaft Theodors, in der er auch starb.138 Nach siegreichen Feldzügen gegen die Lateiner und die Bulgaren ließ sich Theodor durch den Erzbischof von Ohrid 1227 im gerade eroberten Thessaloniki zum Kaiser krönen.139 Zwei Elemente schienen dieses Kaisertum Theodors zu speisen: zum einen der Sieg über Mächte, die – wie die Bulgaren und die Lateiner – für sich beanspruchten, durch kaisergleiche Herrscher geführt zu werden, zum anderen aber auch die Eingliederung dieser Gebiete – insbesondere Thessalonikis – in den eigenen Machtbereich und somit die Schaffung einer supraregnalen Stellung, die den kaiserlichen Rang gleichsam aufdrängte. Grundsätzlich war ein Heerkaisertum allerdings personengebunden. Für die Etablierung eines Kaisertums mit transpersonaler Perspektive waren noch weitere legitimierende Elemente notwendig; eines davon war die Wahl. Der Wahlgedanke Ein Vergleich von Konzepten und Erscheinungsformen der Kaiserwahl ist mit einigen Schwierigkeiten analytischer Art behaftet, die auch bei anderen Wahlen anzutreffen 137

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Gesta Innocentii. Ed. Gress-Wright, 266f.: Quibus ipse respondit, quod terra illa iustius possidebatur ab ipso quam Constantinopolis possideretur ab illis nam ipse recuperaverat terram quam progenitores eius amiserant, sed ipsi Constantinopolim occupaverant, que ad eos minime pertinebat. Ipse praeterea coronam regni legitime receperat a summo pontifice, sed ipse, qui se appellabat constantinopolitanum basileum coronam imperii temere usurpaverat a se ipso. Quare potius ad ipsum quam ad illum imperium pertinebat. Ideoque sub vero vexillo quod a beato Petro receperat, eius clavibus insignito, pugnaret fiducialiter contra illos qui falsas cruces suis humeris praeferebant. Provocatus igitur a latinis compulsus fuit ut defenderet se ab illis, deditque sibi victoriam insperatam pater qui superbis resistit, humilibus autem dat gratiam, ipsamque victoriam beato Petro apostolorum principi ascribebat, dictum autem imperatorem, ad consilium suum et mandatum summi pontificis, liberare non poterat quia debitum carnis exsolverat cum carcere teneretur. Später sollen byzantinische Große Kalojan angeblich die Kaiserkrone angeboten haben (vgl. unten, Anm. 1593). Vgl. hierzu auch Primov, Papacy (1962), 204–211. Vgl. zur Beanspruchung kaiserlichen Ranges durch die Bulgaren Lilie, Byzanz (2003), 223. Nicol, Despotate (1984), 1–8. Vgl. Stavridou-Zafraka, Ideology (2006), insb. S. 314f.

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sind: sei es die schwankende Terminologie der Quellen, sei es die unklare Sequenzierung der einzelnen Schritte in der Darstellung, seien es die Dynamiken, die bei der Betrachtung längerer Zeitabschnitte einen Vergleich erschweren.140 Die Kaiserwahl konnte direkt (wie in Byzanz) oder über die Königswahl (wie im Westen) erfolgen. Ihre Wurzeln hatte sie in der römischen Ämterlaufbahn und der auf dieser beruhenden Entstehung des Prinzipats.141 Denn die Legitimationsgrundlage eines imperator war die Bestellung durch Senat und Volksversammlung. Im Begriff des imperium populi Romani kam zum Ausdruck, dass Konsuln und Prätoren die Kriege im Auftrag und zum Nutzen des römischen Volkes führten.142 Prinzipiell sind somit dem Kaisertum – intensiver vielleicht als dem theoretisch stärker sakralisierten Königtum – beachtliche konsensuale Wurzeln eigen: Erst durch die Zustimmung des „Volkes“ war die Übernahme der höchsten Leitungsgewalt möglich oder, wie es Oktavian ausdrückt, per consensum universorum potitus rerum omnium.143 Autoritativ oder rein aufgrund erbrechtlicher Vorstellungen war es hingegen kaum möglich, kaiserliche Herrschaft anzutreten, der Herrschaftsverband musste die Konzeption Kaisertum mittragen.144 Über die wählende Körperschaft ist damit noch keine Aussage getroffen. Im Zeitverlauf entwickelten sich verschiedene Vorstellungen, wer dieses Gremium stellen durfte. Dies geschah häufig durch Reaktivierung von verschiedenen Schichten eines imperialen Erbes, die ganz unterschiedlich wiederbelebt und modifiziert wurden und als Tradition Wirkung erlangten. Von großer Bedeutung war die Denkfigur des Senats, der entweder – wie in Byzanz – eine einigermaßen ungebrochene Kontinuität aufweisen145, oder aber – wie im Westen – ganz unterschiedlich zusammengesetzten Wahlkörperschaften geistige Heimstatt bieten konnte: Gerade zur Zeit Barbarossas wurden sowohl die deutschen Fürsten als auch der restaurierte stadtrömische Senat mit dieser Körperschaft gleichgesetzt, eine direkte legitimatorische Konkurrenz (gleichwohl unterschiedlicher Durchschlagskraft) war die Folge.146 Im Bereich des westlichen Kaisertums hatte sich nämlich nach einigen anderen Modellen zu fränkischer Zeit147 seit Otto dem Großen die enge Verbindung zwischen ostfränkischem Königtum und Kaisertum durchgesetzt. Eine eigentliche Kaiserwahl gab es hier nicht, sie war vielmehr in die Königswahl externalisiert: Die Wahl des Königs war gleichsam „Zugangsvoraussetzung“ für die weiteren Schritte, die schließlich zur Kaiserkrönung führten. Die Königswahl konnte je nach Umständen eher den Charakter 140 141 142 143 144 145 146 147

Vgl. hierzu Büttner, Weg (2012), 46f. in Anlehnung an Reuling, Entwicklung (1990), 231f. Vgl. hierzu Schumacher, AVGVSTVS (2006). Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 12. Res Gestae 34.1. Seit Vespasian (69–79) findet sich keine formelle lex de imperio mehr. Vgl. hierzu Lubich, Kaiserliche (2010). Vgl. Beck, Senat (1972), etwa S. XII 18 und S. XII 25f. Petersohn, Kaisertum (2010), 80–109; Strothmann, Kaiser (1998), zur Barbarossazeit insb. S. 128–257. Vgl. auch Benson, Renovatio (1985), 340–359. Tellenbach, Grundlagen (1979), insb. S. 190–199.

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einer Nachfolgerdesignation oder aber durchaus jenen einer Richtungsentscheidung annehmen.148 Auf eine Akklamation konnte bei der Kaisererhebung im Westen allerdings nicht verzichtet werden. In Byzanz war sie sogar – wie wir gleich sehen werden – eines der wichtigsten Elemente. Hier kam gerade in den Akklamationen das Wahlrecht von Senat, Armee und Bevölkerung zum Ausdruck.149 Eine späte Nachwirkung der antiken Akklamationen, die durchaus legitimierenden Charakter hatten, war im Westen die Zurschaustellung des mittelalterlichen Kaisers gegenüber den Römern im Rahmen der Kaiserkrönung vor der Weihe durch den Papst.150 Dieses Element wurde möglicherweise angesichts der starken Spannungen zwischen Papsttum und Stadtrömern im 12. Jahrhundert aus dem kaiserlichen Erhebungszeremoniell eliminiert. Seit 1144 etablierte sich nämlich in Rom wieder ein Senat, der die Kaiserwahl für sich beanspruchte – eine für das Papsttum auch im Hinblick auf die Stadtherrschaft über Rom bedrohliche Konkurrenz. Die Theorie der stadtrömischen Wahl ist bereits unter Heinrich IV. zu finden.151 1128 hatten die Römer an Lothar III. eine förmliche Einladung zur Kaiserkrönung gesandt.152 Ihre ganze Schärfe erreichte die Auseinandersetzung aber unter den Staufern Konrad III. und Friedrich Barbarossa. Grundsätzlich war die Idee der stadtrömischen Kaiserwahl nicht von der Hand zu weisen. So konnte in einem Brief des sogenannten Wenzel an Barbarossa auch gefragt werden: Quę lex, quę ratio senatum populumque prohibet creare imperatorem?153 Hier stießen die verschiedenen Kaiserkonzeptionen, die ja auch verschiedenen zeitlichen Ebenen des imperialen Erbes154 entsprangen, recht hart aufeinander: eine antikisierende Idee des Kaisertums der Stadtrömer und eine letztlich der kirchlich-päpstlichen Prägung entspringende Konzeption des römisch-deutschen Kaisertum.155 Die Auseinandersetzungen waren mit Barbarossa keineswegs beendet. Anlässlich der Anerkennung der Wahl Ottos IV. durch Innozenz III. suchten die Römer ihre Beteiligung an der Kaisererhebung klar zu inszenieren.156 Und auch künftig – etwa beim Romzug Heinrichs VII. – sollten sie versuchen, ihren Anspruch gerüstet durchzusetzen.157 Eine Krönung in Rom blieb selten friedlich.

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Vgl. zur Königswahl Büttner, Weg (2012), hier 49. Lilie, Einführung (2007), 135. Belege für das 11. Jahrhundert finden sich bei Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 196. Vgl. aber zu den Gegentendenzen Jordan, Kaisergedanke (1938), 110f. Udalrici Babenbergensis Codex, Nr. 237, S. 415. Das Briefbuch Abt Wibalds von Stablo. Ed. Martina Hartmann, Nr. 383, S. 808. Vgl. zum Begriff unten, Abschnitt ‚II.2 Dynamiken imperialer Ordnungen‘. Dieser Konflikt zeigt sich auch hinsichtlich der vielleicht mit einem gewissen Unverständnis aufgenommenen Aufforderung der Römer an Barbarossa, im Triumph in Rom einzuziehen (vgl. unten, Anm. 607). Seinem Sohn Heinrich VI. sollten solche Gedanken verständlicher sein (vgl. unten, Anm. 494). Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 276. Vgl. den Krönungsbericht in MGH Const. 4, 2, Nr. 797, S. 797.

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Gelebte Tradition und aktiviertes Erbe klafften – wie in anderen Fällen auch – im Westen auseinander. Das Problem widerstreitender Wahlrechte zwischen Aristokratie, Senat und Stadt stellte sich im byzantinischen Konstantinopel in dieser Schärfe nicht, da die Stadt selbst als Trägerin des Kaisertums galt und ihre führende Schicht zugleich auch im Senat saß.158 Die „stadtrömische Wahl“ war in Byzanz recht zwanglos Bestandteil gelebter Ordnung. Aber auch die Kaiserwahl in Byzanz war einer langen Entwicklung unterworfen. Idealtypisch lässt sich folgender Ablauf festhalten: Senat oder Heer taten ihre Meinung kund und sobald sich der Kandidat die kaiserlichen Insignien anlegen ließ, galt er als gewählt. Dann wurde er auf einen Schild gehoben und dem Volk zur Akklamation präsentiert.159 Eine über die Jahrhunderte beibehaltene Besonderheit der byzantinischen Kaisererhebung war, dass der zum Basileus Gewählte zuvor nicht einen Titel tragen musste, der mit dem westlichen Königstitel wirklich vergleichbar wäre – mochte er auch äquivalente Würden innehaben.160 Dem „Prinzip der freien Wahl“ widerspricht nur scheinbar die Idee des „Gottesgnadentums“, die insbesondere das Königtum und die Königswahl auszeichnet.161 Der vermeintliche Gegensatz ließ sich auflösen, wenn man das wählende Organ als inspiratione Dei handelnd ansah.162 Gerade dies zeigt aber auch deutlich die Ambivalenz des „Gottesgnadentums“: Zum einen konnte es sicherlich den Herrscher als „gottgewollt“ legitimatorisch absichern und gegen Kritik immunisieren163; falls jedoch eine den Kaiser legitimierende personale oder korporative Institution als mit göttlichem Odem beseelt angesehen wurde, konnte sie die kaiserliche Herrschaft durchaus schwächen. Eine eigentümliche Verbindung der Vorstellungen von Eroberungsrecht, Heerkaisertum und Wahl stellt die „Schaffung“ des lateinischen Kaisers 1204 dar. An der Notwendigkeit, einen Kaiser in Konstantinopel einzusetzen, bestand offensichtlich kein Zweifel.164 Im März schlossen die Leiter des Kreuzfahrerheeres mit Venedig einen Vertrag ut unitas et firma inter nos possit esse concordia, et ad omnem materiam scandali

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Vgl. Kazhdan, Senate (1991). Vgl. für die in der vorliegenden Arbeit behandelte Zeit Ostrogorsky, Kaisersalbung (1955). Lilie, Einführung (2007), 138–140. Vgl. zum Gegensatz von dem Wahlgedanken römisch-republikanischer Prägung und dem hellenistisch-orientalischem Gottkönigtum Lilie, Einführung (2007), 136. Kern, Gottesgnadentum (1973), 86–89; vgl. zur Wahl im Reich Schneidmüller, Gott (2002), insb. S. 195–197. Vgl. auch Hendrickx, Institutions / Pouvoir (1974), 92. Vgl. Lilie, Einführung (2007), 136, nach dem „der Gottkaiser nur sich selbst verpflichtet, niemandem sonst Rechenschaft schuldig oder überhaupt von einem anderen beurteilbar [war]“. Laut Gunther von Pairis, Hystoria Constantinopolitana. Ed. Orth, c. 20, S. 163 war dies notwendig ne absque principe quasi acephali remanerent. Lock, Franks (1995), 36 meint lakonisch: „An emperor was elected by the victorious crusaders because that was the political system which they found in place in Constantinople in 1204”.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

evitandam165. Was für Streit sorgen konnte und welche Auseinandersetzungen es zu vermeiden galt, war nicht wenig: die Verteilung der Beute und die Abgrenzung der künftigen Machtsphären.166 Was in dieser Vereinbarung gleichsam im Duktus der Geschäftsbedingungen über eine venezianische Staatsgaleere abgeschlossen wurde167, ist einzigartig für den Bereich der Weltgeschichte: die vertragsmäßige Schaffung eines Kaiserreiches einschließlich der entsprechenden obersten geistlichen Gewalt und der Abgrenzung von weltlicher und sakraler Sphäre.168 Das lateinische Kaiserreich war in gewissem Sinn eine typische Schöpfung des 13. Jahrhunderts und vielleicht auch nur in diesem Jahrhundert möglich.169 Vielleicht war es der „rationale Geist“ der Seehandelsstadt, der das lateinische Kaiserreich so „modern“ erscheinen lässt?170 Der Wahlmodus hatte etwas von einem per compromissum eingerichteten Schiedsgericht 171 mit starken Reminiszenzen an die Konsulwahlen 165 166 167

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RIN 7, Nr. 205, S. 361. Carile, Partitio (1965), 126 spricht von „i problemi inerenti ad una occupazione stabile dell’impero di Romania: la posizione dei veneziani; l’autorità imperiale e la spartizione dei possedimenti; l’organizzazione ecclesiastica e i beni della Chiesa“. Vgl. zum Handel der Seestädte und der Übernahme politischer Verantwortung im Zuge der Kreuzzüge Nicol, Byzantium (1988), 68–83; vgl. ebenso die Beiträge in Jacoby, Trade (1997) und Favreau-Lilie, Handelsniederlassungen (2005). In den Schiffsverträgen wurden die Risiken genau kalkuliert und nach Bruchzahlen verteilt. Man könnte in den Bruchzahlen des Vertragstextes aber auch einen Anklang der Aufteilung Venedigs in Stadtsechstel sehen, der auch auf die Kolonien Venedigs (etwa Kreta) angewandt wurde. Vgl. zu Kreta etwa Kretschmayr, Geschichte (1920), 22f. Ihren Grund hatte die Beteiligung der Venezianer bekanntermaßen in den Schulden der Kreuzfahrer, die diese nicht begleichen konnten. Allerdings war bereits während der Verhandlungen in Venedig festgelegt worden, dass den Venezianern ein Anteil an den während des Kreuzzuges zu erwartenden Eroberungen zukomme; vgl. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 23, S. 24, der den Dogen sprechen lässt: ‚Et tant feromes nos plus, que nos metromes .L. galees armees par l’amor de Dieu, par tel convenance que, tant con nostre compaignie durra, de totes conquestes que nos ferons par mer ou par terre, la moitié en avrons et vos l’autre.’ („‚Und darüber hinaus werden wir um Gottes Liebe fünfzig bewaffnete Galeeren stellen unter der Bedingung, dass wir, solange unsere Gemeinschaft dauern wird, von allen Eroberungen, die wir auf dem Meer oder an Land machen werden, die eine Hälfte haben werden und Ihr die andere Hälfte haben werdet’“). Gerland, Geschichte (1905), 1. Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 94, S. 92 schildert die komplizierte Wahlmännerwahl des Dogen, die durchaus auch an die späteren venezianischen Verfahren erinnert (vgl. hierzu auch unten, Anm. 172). Die Tendenz der Venezianer zur Rationalisierung zeigt sich auch in den anderen Bestimmungen der Partitio und ihrer Folgeverträge; insbesondere ist hier auch eine starke Neigung zur Monetarisierung zu erkennen, die – gepaart mit der ständigen Finanznot der Kaiser – dem lateinischen Kaiserreich seinen eigentümlichen „materialistischen“ Charakter verlieh. Dies wird bereits dadurch deutlich, dass bei den Wahlmännern eine Parität von 6:6 herrschte. Vgl. RIN 7, Nr. 205, S. 361f.: Debent etiam sex homines eligi pro parte vestra, et sex pro nostra, qui iuramento astricti. Dieses Prinzip der Schiedsgerichtsbarkeit wird bis zum Loswurf

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Oberitaliens172 und zeigt zugleich deutlich, dass die höchsten Leitungsgewalten der Christenheit in der Vorstellung der Zeit scheinbar nur noch durch Wahlmänner bestimmt werden konnten.173 Abseits des Wahlmodus wird im Vertrag mit keiner Silbe erwähnt, weshalb dieses Gremium überhaupt zu einer Kaiserwahl befugt war; nur das Eroberungsrecht wird kurz angedeutet.174 Ebenso finden hinsichtlich der Festlegungen der Patriarchenwahl die legitimierende Gewalt geschweige denn das Papsttum keine Erwähnung; vielmehr regiert auch hier der Modus des „gerechten Teilens“ einer als Ganzes zu verteilenden Beute.175 Die gefundenen, weitreichenden Regelungen waren

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durchgehalten: Si vero sex in una parte et sex in alia concordaverint, sors mitti debet et, super quem sors ceciderit, debemus pro imperatore habere. Relativiert wird das Schiedsprinzip jedoch durch das Prinzip der Mehrheitswahl; die sanior pars wird jedenfalls nicht mehr erwähnt. Vgl. Keller, Kommune (1988), insb. S. 588–594. Gerland, Geschichte (1905), 4 zieht den Vergleich zu den Wahlen Venedigs. Vgl. zur mittelalterlichen Papstwahl Melloni, Konklave (2005), 11–56; vgl. auch Reuling, Entwicklung (1990), etwa S. 258 zur Wahl Lothars III. Eine gewisse Reminiszenz an die Papstwahl bzw. die Wahl des römischen Königs zeigt sich auch in der Tatsache, dass bei der Wahl Balduins Geistliche die Funktion der Wahlmänner ausüben sollten (Gerland, Geschichte [1905], 4) und darin, dass die Wähler in der Palastkapelle des Wahlortes (ebd., S. 6) eingeschlossen wurden. Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 6, S. 788f. schildert genüsslich das für ihn ungewohnte Treiben, wobei er mit den byzantinischen Klischees gegenüber den lateinischen Christen spielt: δεῆσαν δὲ καὶ βασιλέα χρισϑῆναι, εἰς τὸν μέγιστον νεὼν παραγίνονται τῶν ὁπαδῶν τοῦ Χριστοῦ∙ ἐκεῖσε γὰρ συνερχόμενοι περὶ τῶν πρακτέων σφίσιν ἐβουλεύοντο. καὶ τὰ μὲν πρῶτα κατά τι πάτριον ἔϑιμον κρατῆρας τέσσαρας στιχηδὸν ἐσκέπτοντο διαϑέσϑαι, ὧν εἷς τὴν ἀναίμακτον ϑυσίαν στέγειν ἤμελλε, καὶ οἵτως ἐνδοῦναι τοῖς ϑυηπόλοις ἐφ’ ἑκάστῃ κλήσει τῶν εἰς ἀρχὴν ἐπιλεγέντων αἴρειν ἑνα τῶν σκύφων καὶ προσύγειν αὐτοῖς∙ ἐκεῖνος δ’ ἦν ὁ τῶν λοιπῶν εἰς τὴν ἀρχὴν προκριϑησόμενος, ὁ καὶ λαχὼν τὸ ποτήριον τὸ τοῦ ϑείου σώματος καὶ αἵματος τοῦ Χριστοῦ μέτοχον. δόξαν δὲ τῷ Βενετίας δουκὶ τῷ Δανδοῦλῳ εἰς ψῆφον ἀπολυϑῆναι τὴν πρόβλησιν („Nun mussten sie auch einen Kaiser salben. Sie fanden sich in der großen Kirche der Jünger Christi ein, in der sie zusammenzukommen und zu beraten pflegten. Nach irgendeinem von ihren Vätern ererbten Brauch gedachten sie zuerst vier Kelche in einer Reihe aufzustellen, von denen einer den Leib und das Blut Christi bergen sollte. Priester sollten jedes Mal, wenn der Name eines der Wahlwerber aufgerufen würde, diesem einen der (verhüllten) Kelche reichen. Jener sollte dann unter ihnen als zum Herrscher gewählt gelten, in dessen Becher sich das unblutige Opfer finden würde. Aber der Dux von Venetia Dandulos schlug vor, man solle über die Wahl abstimmen“). Die deutsche Übersetzung der Historia folgt dem Band Die Kreuzfahrer erobern Konstantinopel. Ed. Franz Grabler. Die Frage der Qualifikationen möglicher Kandidaten wird unten, im Abschnitt ‚Designation und Herkunft‘ behandelt. Vgl. oben, Abschnitt ‚Der Eroberungsgedanke‘. Allerdings bleibt die Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre erhalten. RIN 7, Nr. 205, S. 362: Sciendum etiam, quod clerici, qui de parte illa fuerint, de qua non fuerit imperator electus, potestatem habebunt ecclesiam sancte Sophie ordinandi, et patriarcham eligendi ad honorem Dei, et sancte Romane ecclesie et imperii. Zum eigentümlichen Fehlen „kirchlicher“ Erwägungen vgl. treffend Gerland, Geschichte (1905), 1: „Nachdem die fromme Partei abgezogen war, waren nur Männer wie Nivelon de Chérisy von Soissous oder Konrad Krosigk von Halberstadt übrig geblieben, das alles Leute, die gewohnt waren, ihre Politik nicht

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durch alle Seiten, vor allem durch den gewählten Kaiser selbst zu beschwören; Änderungen am „Verfassungszustand“ waren nur nach Zustimmung einer entsprechend dem Wahlgremium zusammengesetzten Kommission möglich.176 Jeder neue lateinische Kaiser musste diesen Verfassungszustand bestätigen.177 Deutlicher vielleicht als in anderen Herrschaftsgebieten manifestierte sich im lateinischen Kaiserreich das Prinzip konsensualer Herrschaft178 in einem – gleich dem Kardinals- oder dem werdenden Kurfürstenkollegium179 – perpetuierten Wahlgremium. Klar erkennbar wird bei der ersten Wahl 1204 ebenso, dass die „Vetomacht“ Venedig nicht bereit war, Bonifaz von Montferrat als Kaiser zu akzeptieren – zu hohes soziales Kapital „in alter Währung“ konnte auch schädlich sein.180 Anstatt seiner wurde Balduin von Flandern gewählt, allerdings nicht ganz einmütig.181 Die Zustimmung Bonifaz’ zum Wahlmodus erreichte man durch Zugeständnisse, die für eine angemessene Stellung des bei der Wahl Unterliegenden sorgen sollten. Durch die Regelung, dass Letzterer den kleinasiatischen Teil des byzantinischen Reiches und die griechische Halbinsel als Lehen erhalten solle, wurde seine beachtliche, fast mitkaiserliche, sicher jedoch königliche Stellung festgeschrieben.182 Eine interessante Schilderung seiner Wahl bietet der Nachfolger Balduins, Kaiser Heinrich. Nach der verlorenen Schlacht von Adrianopel wurde er in Rodosto unter etwas chaotischen Umständen, aber durch alle wichtigen Gruppen des Reiches zum Re-

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von kirchlichen Gesichtspunkten allein bestimmen zu lassen und unter Umständen selbst einem Innocenz zu trotzen“. Vgl. zu Konrad von Krosigk etwa Tebruck, Kreuzfahrer (2008), zur Wahl Balduins S. 36. RIN 7, Nr. 205, S. 363: Insuper imperator iurare debet, quod firmas et stabiles partitiones et dationes, que facte fuerint, irrevocabiliter habebit secundum ordinem superius dixtinctum. Si vero aliquid in istis omnibus fuerit addendum vel minuendum, in potestate et discretione vestra et vestrorum sex consiliatorum, et domini marchionis et eius sex consiliatorum consistat. Vgl. etwa die Urkunde Heinrichs vom Oktober 1205: Longnon, Recherches (1939), Nr. 74. So auch Carile, Partitio (1965), 129: „i crociati ed il doge, deciso di costituire un impero latino in terra di Romania, si preoccupano di instaurare un sistema feudale, in cui l’autocrazia imperiale, senza limiti formali, del βασιλεύς di Bisanzio, cedesse il posto alla sovranità limitata, anche formalmente, di un monarca feudale”. Sicherlich sind jedoch die Unterschiede im eigentlichen Perpetuierungsprozess zwischen den Wählern des lateinischen Kaisers und dem Kardinals- bzw. Kurfürstenkolleg groß. Gerland, Geschichte (1905), 2 zu den Gründen: „Die Montferrat standen schon seit längerer Zeit in Beziehung zu Byzanz. Es war nicht ausgeschlossen, daß sie im Osten fester einwurzelten und eine Herrschaft errichteten, die in der Hand eines italienischen Fürsten den Venetianern unbequem werden konnte". Vgl. zur Frage des Zusammenhanges zwischen sozialem Kapital und Wahl am Beispiel der Wahlen von Erzbischöfen Burkhardt, Stab (2008), 113–128. Hendy, Catalogue 4 / 2 (1999), 654 weist als zusätzlichen Grund gegen Bonifaz auch auf die Nachbarschaft von Bonifaz’ italienischem Machtbereich zu Genua hin und darauf, dass Balduin von den Venezianern wohl als der an Ressourcen Mächtigere angesehen wurde. Vgl. die Schilderung bei Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, 93–95. Vgl. hierzu auch unten, Abschnitt ‚III.2 Herrschaftserfassung und Herrschaftsdurchdringung‘.

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genten bestimmt.183 Nach seinem Bericht wünschten ihn Fürsten, Barone und totus populus Francie in Constantinopolitano Imperio als Kaiser. Es sei dann vor allem der apostolische Legat Benedikt gewesen, der Patriarch Morosini und die Venezianer von seiner Wahl überzeugt habe.184 Dem Nachfolger des überraschend verstorbenen Heinrichs, Peter von Courtenay, wurde der Thron des lateinischen Kaiserreiches zusammen mit seiner Frau Jolante (der Schwester Balduins und Heinrichs) durch die Barone des Reiches „angeboten“.185 Noch in Rom, wo er durch Papst Honorius III. gekrönt wurde, hatte er zusammen mit seiner Frau eine Urkunde ausgestellt, in der er bestätigte, dass er beschwören ließ, alle Übereinkünfte zwischen den bisherigen Kaisern und den Baronen sowie den Venezianern zu bekräftigen. Insbesondere die Klausel tam cum scriptis, quam sine scriptis öffnete einer weiteren „Konsensualisierung“ des lateinischen Kaiserreiches Tür und Tor.186 Auch bei der wählenden Bestellung187 des Seuastocrator et Baiulus Imperij Romanie Conon von

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Vgl. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 385, S. 194: Ensi sejornerent l’endemain et l’autre jor aprés, et atornerent lor afaire. Et fu receüz Henris, li frere l’empereor Baudoins, en la seigneurie, come baus de l’empire, en leu de son frere („So hielten sie sich dort am folgenden Tag und am darauf folgenden Tag auf und trafen verschiedene Entscheidungen und Heinrich, der Bruder des Kaisers Balduin, wurde in der Herrschaft, als Regent des Reiches, anerkannt, anstelle seines Bruders“). Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 176, S. 41: Verum cum Principes et Barones et totus populus Francie in Constantinopolitano Imperio commorantes de obitu Imperatoris essent certificate, et jugiter videretur Johannicius cum multitudine magna Blacorum et Commannorum universam discurrere Romaniam, et castella civitasque destruere circumquaque, petebant instanter caput habere et rectorem, qui de consilio domini Benedicti, venerabilis Cardinalis, apostolice Sedis Legati ad Patriarcham accedentes, postulaverunt ab eo, ut nobis daret coronam, presertim cum nullus esset in Imperio Romano, cui de jure dari oportet, nisi nobis. Patriarcha vero una cum populo Venetorum, licet in principio contra nos disputaret, tamen ad persuasionem domini venerabilis Cardinalis, apostolic Sedis Legati, cuius patrocinium et favorem semper invenimus gratia sua nobis et toti Imperio non modicum esse paratum; et ad nostrum et Baronum nostrorum instantiam dominica post Assumptionem beate Marie nos in Imperatorem benigne et coronavit et inunxit. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 138. Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 249, S. 195: scilicet legalem societatem et omnia pacta et conuentiones et ordinationes atque honorificentias, que et quas fecerunt tam cum scriptis, quam sine scriptis, dominus Balduinus, tunc Comes Flandre, qui in Imperio Constantinopolitano fuit predecessor tunc predecessoris et Bonifacij Marchionis Montisferrati, et alij Comites et Barones cum Henrico Dandulo, bone memorie inclito uiro, et postea dominus Henricus, tum moderator Imperij, qui noster extitit in Imperio predecessor, fecit cum nobili uiro, dicto Marino Geno, tunc Potestate in Romania, et alijs Potestatibus Venetorum, qui ibidem per tempora fuerunt. Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 256, S. 215: et aliorum quam plurimum, Francigenarum et Venetorum, pro se ac pro suis Venetis dixit: „Nos predictum dominum Co[nonem] Baiulum esse uolumus in Imperio Romanie”.

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Béthune erfolgte eine Bestätigung der Rechte der Venezianer, sogar in doppelter Form188. Aussagekräftig für den Zustand des lateinischen Kaiserreiches ist die Tatsache, dass zum Nachfolger Peters, der auf dem Weg ins lateinische Kaiserreich getötet worden war, durch die Barone dessen Sohn Philipp gewählt wurde, dieser aber auf den Thron verzichtete.189 Philipp handelte so ganz ähnlich wie der Sohn Bonifaz’ von Montferrat, Wilhelm, der nach dem Tod seines Vaters auch wenig Neigung zeigte, das Königreich von Thessaloniki zu übernehmen – der Osten verlor seine Anziehungskraft.190 Kaiser wurde Philipps Bruder Robert, das Kaiserreich verkam also in gewissem Sinne zur Apanage für Nebenlinien. Auch Robert hatte wie alle Kaiser zuvor die Übereinkünfte zwischen seinen Vorgängern, dem Markgrafen Bonifaz und den Baronen mit den Venezianern bestätigt.191 Anlässlich der Wahl des Regenten Johann von Brienne sind intensive Verhandlungen belegt, wie sie aber möglicherweise auch bei vorherigen Kaiserwahlen erfolgten.192 Das Ergebnis der Verhandlungen war ein elaborierter, auf hohem lehnsrechtlichem Niveau stehender Vertrag, der sich bemühte, möglichst alle Eventualitäten einzuschließen.193 Johann wurde volle kaiserliche Macht übertragen, er musste allerdings ebenso wie seine Vorgänger den Verfassungszustand des lateinischen Kaiserreiches beschwören.194 Die 188

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Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 256, S. 214: (…) iurauimus ad sancta Dei euangelia, quod nichil de iure, quod habent dominus Dux Venetorum et Potestas et Veneti in Imperio Romanie, uel Baiulatum habere nolumus, nisi per eorum licentiam und S. 215: Insuper iurauimus, quod iustitiam Venetis, sicut et Francigenis, per totum bona fide ac sine fraude seruabimus. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 144. Gerland, Geschichte (1905), 117 / Anm. 1. Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 260. Vgl. auch die Bestätigung der Handlungen des Conon von Béthune in Hendrickx, Régestes (1988), 146. Vgl. grundsätzlich Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 168, Nr. 169 und Nr. 170. Vor allem die Rolle Gregors IX. ist nicht zu unterschätzen. Vgl. hierzu die Ausführungen Gregors IX. in Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856)I, Nr. 273, S. 265f. Die Gesandten der Barone des lateinischen Kaiserreiches bezeichnet Johann als nuntii[s] Baronum Imperii Constantinopolitani, qui plenam et liberam potestatem habebant, ab eisdem Baronibus sibi datam, faciendi et ordinandi de dicto Imperio, quicquid ipsis videretur expediens. Vgl. hierzu Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 273, S. 266–269. Vgl. Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 273, S. 267: et quia idem Balduinus minoris etatis est, propter debilem statum Imperii dominus Rex Johannes habebit Imperium et coronabitur in Imperatorem, et erit Imperator ad totam vitam suam, et plenariam habebit potestatem et plenarium dominium, tanquam Imperator, ad totam vitam suam; et quidquid faciet tam in aquisitis, quam in aquirendis, firmum et stabile in perpetuum permanebit, salvis justis tenentis, quas moderni Latini vel successors sui tenuerunt a tempore Latinorum; vgl. auch ebd., S. 269: Rex vero, quando coronabitur, super sacramenta

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Venezianer handelten erneut genau festgelegte Bedingungen aus, die insbesondere ihre Transportleistung für Johanns Armee betrafen.195 Auch hieran mag man ermessen, dass sich jeder lateinische Kaiser in einer Art „venezianischem Schraubstock“ befand. Nach dem Tod Johanns wurde der Thron durch die Barone entsprechend dem früher abgeschlossenen Vertrag Balduin II. angeboten.196 Balduin musste sich jedoch gegenüber den Baronen des lateinischen Kaiserreiches verpflichten, überhaupt nach Konstantinopel zu kommen – erneut ein Hinweis auf den desolaten Zustand der Herrschaft am Bosporus.197 Bei den letzten beiden behandelten Fällen zeigt sich klarer als zuvor der maßgebliche Einfluss des Papsttums auf die Besetzung des lateinischen Thrones. Hiermit ist ein weiteres wichtiges Element der Kaisererhebung angesprochen. Die päpstliche Zustimmung Ganz im Gegensatz zu Byzanz198 war die päpstliche Verleihung die Grundlage des westlichen Kaisertums, war der genuine Inhalt des Amtes, wie bereits festgestellt, kirchlich definiert. Entsprechend ergaben sich auch starke Mitbestimmungsrechte des Papsttums an der jeweiligen Kaisererhebung, musste die kirchliche Leitung doch – so eine gängige Argumentation – dafür Sorge tragen, dass würdige und fähige Kandidaten

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jurabit se servare, manutenere et defendere Imperium, jura Imperii et honores et approbatas consuetudines Imperii, bona fide ad opus suum, quamdiu vivet, et ad opus Balduini et suorum post ipsius decessum, salvis Juribus et honoribus Venetorum et Ecclesiarum. Es folgte auch eine zusätzliche Sicherheitsvereinbarung zwischen Johann und den Venezianern (Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 278, S. 289): inter eos discordia verteretur super illo capitulo, quod ex parte dictorum Ducis et Venetorum petebatur, s. de concessione facienda et iuranda de eorum possessionibus terrarium, quas habuerunt et ad presens habent in Imperio Romanie, in tali concordia fuerunt et ita inter se firmauerunt, quod illa confirmatio, promissio seu concessio a domino Rege eis facta, uel facienda, uel in futurum, cum erit coronatus, confirmanda, nullum domino Regi uel Imperio faciebat preiudicium ultra id, quod eis venit pro suis tribus partibus, quas habere debent de octo partibus nisi alias de iure habere debent. Et si de iure habere debent ultra tres partes de octo partibus, non faciat ipsi domino Duci vel Venetis preiudicium; hoc etiam adito, quod per hoc in nullo diminuatur illud, quod antique tempore Grecorum Veneti habebant, et de illo adhuc habent, vel habere debent, ex scripto vel non scripto. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 171. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 183. Auch Gregor IX. übte sanften Druck auf Balduin II. aus; vgl. hierzu Les registres de Grégoire IX. Ed. Auvray 2, Nr. 3938, Sp. 805: Cum in proximo futuro martio redire Constantinopolim juramento prestito tenearis, et mora tua in regno Francie ad presens sit magis Constantinopolitano imperio fructuosa, quam si illuc in martio predicto transpires, non obstante juramento prefato, terminum ipsum usque ad augustum proximo venturum duximus prorogandum. Vgl. auch Les registres de Grégoire IX. Ed. Auvray 2, Nr. 3939, Sp. 805f. Vgl. zum Vorleben Gregors Brem, Papst Gregor IX (1911). Vgl. Winkelmann, Rolle (1978) und grundsätzlich Ensslin, Frage (1947); vgl. zu einem Beispiel für das Verhältnis von Patriarch und Basileus um 1000 Lilie, Caesaropapismus (2007).

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die Kaiserkrone erhielten.199 Dem widersprach auf der anderen Seite vor allem das Prinzip der freien Wahl, wie es von unterschiedlichen Körperschaften – den Fürsten oder den Stadtrömern – vertreten wurde. Gerade in der Frage der päpstlichen Mitbestimmung trafen die unterschiedlichen Prinzipien entspringenden Konzeptionen des kaiserlichen Amtes harsch aufeinander – sei es zur Zeit Barbarossas, sei es im Thronstreit. 200 War zunächst unter den Karolingern das dynastische Designationsrecht dominierend, so eröffneten bereits in fränkischer Zeit die verschiedenen strittigen Bewerbungen um die Kaiserkrone dem Papsttum einen Handlungsspielraum, der sich schließlich zu einem maßgeblichen Mitgestaltungsanspruch auch bei einmütigen Kaiserdesignationen entwickelte.201 Die Etablierung der päpstlichen Zustimmung stabilisierte das westliche Kaisertum nicht unerheblich: Die Durchsetzung der päpstlichen Kaisersalbung schuf eine weitere Kontrollinstanz, die verhindern konnte, dass potentielle Usurpatoren die Ranggrenze überschritten. Umgekehrt ermöglichte die Verbindlichkeitserklärung der Salbung dem Papst bereits in gewissen Grenzen die Auswahl darüber, wer den Schutz der gesamten Kirche ausüben sollte. Die Intensität, mit der die päpstlichen Zustimmungsrechte geltend gemacht wurden, steht in einer erkennbaren Wechselwirkung zur kirchlichen Prägung des kaiserlichen Amtes. Das Approbationsrecht hatte seine Wurzeln in den Grundsätzen über kirchliche Ordinationen, wurde aber auch durch verschiedene Ausformungen der Translationstheorie beeinflusst.202 Allein das Papsttum konnte nämlich im Westen die Kontinuität zum antiken Kaisertum gewährleisten. Eine zentrale Stellung nahm in der legitimierenden Argumentationskette die Konstantinische Schenkung ein203: Sie hebelte in letzter Konsequenz nicht nur die Ansprüche der deutschen Fürsten und der stadtrömischen Kommune aus, sondern immunisierte auch das westliche Kaisertum gegen Ansprüche aus Byzanz.204 Diese Argumentationsmuster fanden ihren Ausdruck im Zeremoniell: Der Tendenz nach sollten die Mitwirkungsmöglichkeiten von Fürsten und Stadtrömern auf rein 199 200 201 202

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Vgl. zur ersten mittelalterlichen Kaiserkrönung Becher, Kaiserkrönung (2002); vgl. auch Kempf, Papsttum (1954), insb. S. 84–105; Miethke / Bühler, Kaiser (1988), 13–33; vgl. für die Zeit um 1300 Miethke, De potestate (2000), etwa S. 88–90. Kempf, Papsttum (1954). Vgl. auch Unverhau, Approbatio (1973), insb. S. 150–278. Vgl. Giese, Nachfolgeregelung (2008), etwa S. 480–483; Dirkens, Salbung (2000), 134f. Vgl. die Aussagen Innozenz‘ III. in der Bulle Venerabilem: Unde illis principibus ius et potestatem elegendi regem in imperatorem postmodum promovendum recognoscimus, ut debemus, ad quos de iure ac antiqua consuetudine noscitur pertinere; presertim cum ad eos ius et potestas huiusmodi ab apostolica sede pervenerit, que Romanum imperium in persona magnifici Karoli a Grecis transtulit in Germanos. Sed et principes recognoscere debent et utique recognoscunt, quod ius et auctoritas examinandi personam electam in regem et promovendam ad imperium ad nos spectat, qui eam inungimus, consecramus et coronamus. (MGH Const. 2, Nr. 398, S. 505f.). Fuhrmann, Schenkung (1966), 63f.; Laudage, Alexander (1997), 44–50. Vgl. zur Einordnung insbesondere auch Miethke, Schenkung (2008), insb. S. 35–59. Vgl. aber für die Wirkung der Konstantinischen Schenkung im byzantinischen Raum Angelov, Donation (2009), insb. S. 117–126.

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formelle Elemente beschränkt werden.205 Auf dieser Linie liegt auch die Bezeichnung des Kaiserkandidaten im KO XVIII als rex in imperatorem electus206: Scheinen diese Elemente auf den ersten Blick eine Bestätigung der staufischen Kaisertheorie zu sein, erweisen sie sich bei näherer Betrachtung vor allem als Ausdruck des päpstlichen Approbationsrechts.207 Bei Rahewin findet sich die berühmte, auf einem Schreiben Barbarossas beruhende Stelle, dass per electionem principum a solo Deo regnum et imperium nostrum sit208. Diese Aussage sollte in ähnlicher Form später in dem Weistum von Rhense und dem Reichsgesetz Licet iuris auftauchen.209 Im 13. Jahrhundert schien die Auseinandersetzung jedoch zunächst vor dem Hintergrund des Thronstreites zugunsten der kurialen Traditionen entschieden zu sein. Deren Anspruch konnte sich bis zur Vorstellung verdichten, dass die Kaiserwahl Sache des Papstes sei, wie es etwa Honorius Augustodunensis formulierte.210 Von diesen Gedanken war es nicht mehr weit zu der noua et inusitata commutatio, die Gervasius von Tilbury in seinen ‚Otia imperialia‘ beklagt: ut papa (…) dominum urbis ac imperialis sedis se monstrat et imperator sub nomine dominationis pape minister dicitur, et in temporalibus apostolorum executor hic, ille uicarius Christi et apostolorum successor nominatur.211 So erklären sich auch die verschiedenen Bestrebungen der Päpste, andere Herrscher anstelle Friedrichs II. einzusetzen.212 Eine bedeutende Stütze dieser päpstlichen Ambitionen waren die verschiedenen Königskronen, die der Papst aufgrund lehnsrechtlicher Bindungen zu verleihen beanspruchte: Die spanische Halbinsel war gleich mehrfach betroffen,213 und auch bei der „Wahl“ Alfons X. durch Pisa war die (vermeintliche) Zustimmung des Papstes ein tragendes Element im Legitimationsfundus der Seestadt.214 Gewissermaßen paradigma205 206 207

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Dies spiegelt sich auch im Zeremoniell des KO XVIII wider. KO XVIII, Nr. 1, S. 72. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 270 und 271: „Derselbe Innozenz III., der den neuen Ordo herrichten ließ, hat in der Bulle Venerabilem von 1202 das Recht der Fürsten eligendi regem in imperatorem postmodum promovendum, also auch die Anwartschaft des Gewählten, anerkannt, aber zugleich auch sein, des Papstes, Recht examinandi personam electam in regem et promovendam ad imperium betont, das ihm zukommen müsse, da er jenen salben und krönen solle“. Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imperatoris. Ed. Georg Waitz, lib. 3, c. 11, S. 179. Vgl. hierzu Miethke / Bühler, Kaiser (1998), 46–48. Vgl. Honorius Augustodunensis, Summa gloria. Ed. Julius Dieterich, c. 17, S. 71: Qui Constantinus Romano pontifici coronam regni imposuit et ut nullus deinceps Romanum imperium absque consensus apostolici subiret, imperiali auctoritate censuit; vgl. auch ebd., c. 21, S. 73: Imperator Romanus debet ab apostolico eligi, consensu principum et acclamatione plebis in caput populi constitui, a papa consecrari et coronari. Gervasius von Tilbury, Otia Imperialia. Ed. S.E. Banks / J.W. Binns, lib. 2, c. 18, S. 450. Vgl. Trautz, Richard (1969), insb. S. 33f.; Kempf, Absetzung (1974), insb. S. 358f. Vgl. Herbers, Geschichte (2006), etwa S. 157f. und S. 193. Vones, Geschichte (1993), 116. Vgl. etwa MGH Const. 2, Nr. 392, S. 491: de concessione Romane pontificum.

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tisch wirkte für die lateinischen Herrscher im Mittelmeerraum des 12. und 13. Jahrhunderts wohl die Beziehung des Papsttums zum normannischen Königtum.215 Gerade in Süditalien zeigte sich, dass christliche Herrscher den Legitimationsbemühungen ihrer neuen Stellung am besten entsprechen konnten, wenn sie die päpstliche Lehnshoheit akzeptierten und sich dem Kampf gegen „Heiden“ widmeten. Die dabei lehnsrechtlichen Vorstellungen entspringenden päpstlichen Mitbestimmungsansprüche veränderten auch die Auffassung der Kurie gegenüber der Kaiserkrönung und dem kaiserlichen Amt im Allgemeinen. Diese Vorstellungen wurden wiederum ganz selbstverständlich auf das lateinische Kaisertum übertragen.216 Auch die Errichtung des lateinischen Kaiserreiches 1204 bedurfte der päpstlichen Approbation. So bat Kaiser Balduin I. Papst Innozenz III. um die Bestätigung der Partitio.217 Während für Heinrich keine entsprechende Anfrage bekannt ist, aber wohl vorausgesetzt werden kann, hat sich für Peter Äquivalentes erhalten: die Bitte an Honorius III. um die päpstliche Krönung.218 Auf die Wahl Johanns von Brienne übte wohl Gregor IX. entscheidenden Einfluss aus, denn mit Johann verband er die Hoffnung, den auch von ihm als ausgesprochen bedroht angesehenen Zustand des lateinischen Kaiserreiches zu verbessern.219 In seiner Darstellung kam ihm jedenfalls eine Art Approbationsrecht zu, das auch durch die Barone anerkannt wurde. Zugleich bot die Wahl Johanns für Gregor eine willkommene Gelegenheit, nicht nur einen treuen Gefolgsmann zu versorgen, sondern auch das lateinische Kaiserreich gegen Einflussnahmen von Seiten Friedrichs II. abzuschirmen.220 Diese enge Verbindung ist allerdings insofern nicht außergewöhnlich, als Kreuzfahrerherrschaften per se in Konnex zum Papsttum standen: Zu Kreuzzügen rief der Papst auf. 215 216 217 218 219

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Vgl. allgemein Buisson, Formen (1960), 151–184; Hoffmann, Langobarden (1978); Burkhardt, Anfänge (2010). Vgl. zur Translatio Imperii Brezeanu, Translatio (1975). Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 22. Vgl. unten, Abschnitt ‚Die Kaiserkrönung‘. Vgl. Lettre de Grégoire IX. Ed. Van den Gheyn, 231f.: Unde cum status eiusdem imperii debilitatus enormiter tot adversis et diversis impulsibus quateretur, quod vix crederetur diu posse subsistere, nisi provideretur a Domino [de] gubernatore qui tanto congrueret honeri et honori, baiulus princeps et barones eiusdem imperii sibi et imperio salubriter consulere cupientes, karissimum in Christo filium nostrum N., Iherosolimitanum [regem] illustrem, in Imperatorem concorditer elegerunt, nobis et fratribus nostris suis nunciis et litteris humiliter supplicantes et instanter ut eidem imperio efficaciter succurentes dictum regem ad suscipiendum onus et honorem oblatum inducere dignaremur. Gregor rief denn auch zur Unterstützung des lateinischen Kaiserreiches auf: Quocirca universitatem vestram rogamus, monemus et exhortamur attente per apostolica scripta mandantes quatinus singuli hec in vestris diocesibus publicantes, eos qui cum predicto rege ire voluerit in subsidium imperii Romani ac saltem per annum ibidem morari, denuncietis eadem indulgentia et libertate gaudere quam haberent si transfretarent in subsidium terre sancte (Ebd., S. 232). Vgl. zu den Belegen der Wahl auch oben, Anm. 192. Vgl. zum Ausgreifen Friedrichs II. Hiestand, Friedrich II. (1996), 141.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Absetzungsmöglichkeiten Eine Untersuchung der Mitwirkungsansprüche bei der Kaiserbestellung impliziert auch die Frage nach der Möglichkeit, einen Kaiser friedlich oder gewaltsam aus dem Amt zu entfernen. Prinzipiell ist eine Kaiserabsetzung nur ein Sonderfall der Absetzung eines weltlichen Herrschers.221 Auch die Absetzung eines Kaisers steht mit den entsprechenden geschichtlichen Ereignissen und den sie legitimierenden Diskursen in einer engen Wechselwirkung, ist also keineswegs losgelöst von der politischen Wirklichkeit zu betrachten. Dies gilt es besonders zu betonen, da stets die Gefahr besteht, Auseinandersetzungen um Kaiser zu „Endkämpfen“ von Universalmächten zu stilisieren, wie es insbesondere bei Friedrich II. und in eingeschränktem Maße bei Ludwig IV. geschah. Idealtypisch können zwei verschiedene Vorgehensweisen bei der Absetzung eines Kaisers unterschieden werden: eine mehr oder minder ungeregelte Usurpation und ein in gewissen Grenzen formalisiertes Verfahren. Anscheinend lassen sich beide Erscheinungsformen auch unterschiedlichen Kulturräumen zuordnen: So ist die Usurpation v. a. im Einflussbereich des byzantinischen Kaisertum zu finden, während sie im Westen praktisch nicht auftritt, dort sind – wenn überhaupt – geregelte Absetzungsverfahren vorherrschend.222 Die westliche Kaiserherrschaft zeichnet sich nämlich durch eine eigentümliche Stabilität aus; nur ein römisch-deutscher Kaiser – Friedrich II. – wurde abgesetzt. Was ist der Grund für diese unterbliebenen Depositionen? Prinzipiell sind Usurpationen umso wahrscheinlicher und umso erfolgreicher, je einfacher mögliche Vetopositionen im Gang der Absetzung zu überwinden sind und je weniger stark institutionalisiert die Wahlkörperschaft ist. 223 Ein, wenn nicht der entscheidende „Vetospieler“ im Westen war das Papsttum, das seinen Einfluss auf Herrscherabsetzungen bis 1200 zum Teil erheblich ausbauen konnte. So übte es eine nicht unbedeutende stabilisierende Funktion aus, zwang die opponierenden Parteiungen (wenngleich nicht immer erfolgreich), den Weg eines geregelten Verfahrens zu gehen. Hinzu trat eine zunehmende Institutionalisierung der Wahlkörperschaften insbesondere im 12. und 13. Jahrhundert. Beide Entwicklungen zeigen sich besonders deutlich beim Kaisertum, das zum einen durch eine sehr enge Koppelung mit dem römisch-deutschen Königtum und zum anderen von erheblichen päpstlichen Einwirkungsmöglichkeiten auf die Kaiserwerdung geprägt war. Bei einer Kaiserabsetzung mussten die wichtigsten beteiligten Akteure – Fürsten und Papst – gemeinsam handeln. Erstere hatten allerdings nur die Legitimation, einen römisch-deut221 222 223

Vgl. zur Königsabsetzung etwa Schubert, Königsabsetzung (2005); Rexroth, Absetzung (2006), 35–42; Schieffer, Gregor VII. (2009). Vgl. aber zur weiteren Dimension der Absetzung eines Kaisers Pauler, Dum esset (1995). Vgl. zu den Usurpationen in der Spätantike Elbern, Usurpationen (1984), insb. S. 144–149. Vgl. auch Flaig, Kaiser (1992) und Szidat, Usurpator (2010); vgl. auch die Beiträge Paschoud / Barnes, Usurpationen (1997). Vgl. zum Vetospielertheorem, das von George Tsebelis entwickelt wurde, die theoretische Unterfütterung in Tsebelis, Veto Players (2002), insb. S. 19–63.

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schen König abzusetzen resp. einen neuen zu wählen – und dies bereits mehrfach (wie bei Heinrich IV. und Rudolf von Rheinfelden) getan. Hierdurch konnten sie das kaiserliche Amt durch Entzug des königlichen Amtes gleichsam entkernen und in die Sphäre der Virtualität überweisen, denn die Kompetenz, einen Kaiser abzusetzen, kam ihnen nicht zu. Die alleinige Berechtigung zur Kaiserabsetzung beanspruchte das Papsttum seit Gregor VII.224 Bis zur Absetzung Friedrichs II. hatten die Päpste jedoch – selbst unter den Bedingungen des Alexandrinischen Schismas – diese Waffen nicht eingesetzt. Entscheidend für die Vorgänge in Lyon 1245 war wohl auch, dass das Papsttum an der Absetzung des Basileus und an der Etablierung eines lateinischen Kaisertums 1204 beteiligt gewesen war. Das byzantinische Kaisertum nahm eine ganz andere Entwicklung. Ein Blick auf die Statistik spricht für die byzantinischen Herrscher Bände225: Wie bereits erwähnt, errangen ca. ein Drittel der byzantinischen Kaiser den Thron durch Usurpation. Zwischen 306 (Konstantin I.) und 1453 (Konstantin XI.) gab es 94 Herrschaftsperioden regierender Kaiser und Kaiserinnen. Von diesen Herrschern starben 54 am Ende ihrer Herrschaft auf natürliche Weise, fünf verloren ihre Krone durch äußere Feinde und immerhin 36 wurden gestürzt. Interessanterweise unterscheiden sich auch die Jahre der durchschnittlichen Herrschaftsdauer: Etwa gleich „stabil“ sind Spätantike und die Zeit nach 1204 mit ca. 15 Jahren, während in mittelbyzantinischer Zeit die Basileis nur ca. 10 Jahre herrschten. Was erklärt jedoch die im Vergleich zum Westen höhere Instabilität der Kaiserherrschaft des Ostens? Sicherlich waren die Byzantiner von der gottgegebenen Stellung des Kaisers zutiefst überzeugt – jenseits aller modernen rationalen Kalkulationen.226 Nach den Aussagen von Hans-Georg Beck überlebten im byzantinischen Kaisertum allerdings auch geistige Traditionen der römischen Antike227 und gerade die antiken Kaiser waren aufgrund der instabilen Legitimationsbasis und der zunächst geringen Inszenierung der kaiserlichen Abgehobenheit praktisch stets durch Usurpationen aus den Provinzen bedroht.228 Eine Folge dieser Kontinuitäten sei die große Instabilität kaiserlicher Herrschaft in Byzanz gewesen, da auch die Würde des Basileus als ein öffentliches Amt angesehen worden sei, dessen Inhaber jederzeit absetzbar war. Die byzantinische Kai-

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Vgl. mit kanonistischem Schwerpunkt und Konzentration auf das Kaisertum Hageneder, Recht (1963). Vgl. im Folgenden: Lilie, Kaiser (2008). Lilie, Einführung (2007), 137. Vgl. aber zur genuin byzantinischen Transmission antiker Bestände Beck, Res Publica (1970). Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 32: „Sie stellten ein strukturelles Problem der römischen Monarchie dar, zum einen weil ein Imperium immer mit Verselbständigungs- oder Abspaltungstendenzen an seiner provinzialen Peripherie zu kämpfen hat, zumal wenn die dortigen Statthalter aus der traditionellen Elite stammen (…). Zum anderen war ein amtierender Kaiser durch nichts weiter legitimiert, als durch die Anerkennung seiner Herrschaft seitens des Heeres, des Senats und der hauptstädtischen Bevölkerung“.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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seridee mit ihren autokratisch-exaltierenden Elementen habe dazu gedient, die instabile Stellung des Basileus abzusichern.229 Dagegen gab es aber auch starke, charismatische Elemente sakralköniglicher Vorstellungen, die dazu führen konnten, dass sich Usurpatoren aus der Schicht des Hochadels dazu berufen fühlten, anstelle des Basileus die Herrschaft zu beanspruchen. War eine Usurpation erfolgreich, dann lag im Erfolg selbst ihre Rechtfertigung, sonst hätte Gott sie nicht zugelassen.230 Auf der Vorstellung von Herrschersakralität beruhende Legitimationsmuster konnten somit auch nicht unwesentlich dazu beitragen, Kontingenz zu erhöhen und Herrschaft zu destabilisieren.231 In Byzanz fehlten nämlich zwei wichtige, die westliche Kaiserherrschaft stabilisierende Elemente: Zum einen gab es kein anerkanntes Wählergremium, zum anderen nahm der Patriarch nicht die Position ein, die mit jener des Papstes im Westen zu vergleichen gewesen wäre. Der Weg zur Kaiserkrone war im Vergleich zum Westen relativ einfach zu beschreiten.232 Wenige institutionalisierte Vetospieler, viele potentiell berechtigte Wähler und eine enge, gleichsam „ungefederte“ Koppelung des weltlichen und geistlichen Bereiches führten zu dieser sehr speziellen Instabilität kaiserlicher Herrschaft in Byzanz. War eine Usurpation nicht in letzter Konsequenz erfolgreich, bestand zudem die Gefahr einer dauerhaften Abspaltung von Reichsgebiet. Eine solche Abspaltung tritt allgemein insbesondere in der Spätphase von Herrschaftsorganisationen auf.233 Meist blieben diese gescheiterten Usurpatoren – auch wenn sie kaiserlichen Rang beanspruchten – im Stadium des Fürsten- oder Königtums befangen, konnten nur virtuelle Züge des Kaisertums entwickeln. Ein Beispiel ist etwa in Isaak Komnenos, dem „Kaiser von Zypern„ (1185–1191) zu sehen.234 Auch die lateinische Eroberung kann – zumindest aus byzantinischer Sicht – im Sinne einer solchen gescheiterten Usurpation verstanden werden.235 Um legitimer Kaiser zu werden, war die Erfüllung weiterer Kriterien notwendig. Die Zentralstadt Gerade das Beispiel Byzanz zeigt, dass eine bestimmte Machtstellung, überragender Waffenruhm und eine wie auch immer geartete Wahl nicht ganz ausreichten, den kaiserlichen Rang zu erwerben und dauerhaft zu erhalten. Unabdingbar schien hierzu auch die Herrschaft über einen Ort zu sein, der als Quelle kaiserlicher Autorität angesehen wurde. Neben der gleichsam „vergeistigten“ symbolischen Dimension der Lokation als 229 230 231 232 233 234 235

Angelov, Ideology (2007), 11 bzw. Beck, Jahrtausend (1994), 52–59, 78–86; vgl. auch Lilie, Einführung (2007), 136. Vgl. zur kaiserlichen Abgehobenheit unten, Abschnitt ‚Die Abgehobenheit des Kaisers‘. Lilie, Einführung (2007), 137. Angelov, Ideology (2007), 13. Vgl. unten, Abschnitt ‚Die Kaiserkrönung‘. Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 34f. Vgl. zu ihm Rudt de Collenberg, Empereur (1968). Cheynet, Pouvoir (1990), 463–473.

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Erinnerungsort, als „Idee“, war ebenso die konkrete „zentralörtliche Funktion“ mit ihren Institutionen, ihren Traditionen und ihrem Erbe von Bedeutung: Auch nach dem Zerfall eines Imperiums blieben verschiedene Speicher und Medien des imperialen Wissens erhalten. Bauten, Statuen, Bilder, Rechtssammlungen, Urkunden und Personengruppen bewahrten die Erinnerung an die Legitimationskonstrukte und Praktiken kaiserlicher Herrschaft. Sicherlich erhielt sich das imperiale Erbe der „Zentralstädte“ nicht unverändert, sondern wurde durch seine Träger und Rezipienten bei Bedarf aktualisiert und angepasst. Aber auch die Rezipienten blieben vom imperialen Erbe nicht unbeeinflusst. Zum einen entwickelte die Zentralstadt aufgrund der mit ihr verbundenen Ideen oder aufgrund ihrer zentralörtlichen Funktionen eine große Attraktivität gegenüber potentiellen Kaiserkandidaten und Usurpatoren. War die Stadtherrschaft einmal erreicht, konnte sie jedoch eine geradezu „vergiftende“ Wirkung zeitigen und den Prätendenten weitab von rationalem Kalkül zu imperialer Herrschaftsausübung verleiten, die – ohne jegliche Verstärkung der realen Machtmittel – recht rasch in die Sphäre der Fiktion abrutschen konnte.236 Zentraler Indikator für die eigentümliche Verbindung von theoretischer Überspannung und zuzeiten auftretender praktischer Machtlosigkeit sind die heftigen Auseinandersetzungen, die diese Zentralstädte häufig erschütterten. Sie waren oft nur schwer unter Kontrolle zu bringen und bedrohten nicht selten das Leben des Kaisers oder eines Kandidaten auf den Kaiserthron existenziell. Rom Rom war geradezu der legitimatorische Urgrund des Kaisertums.237 Bereits in der Spätantike hatte Rom – bedingt durch die funktional erforderlichen Mitkaisererhebungen – allerdings seinen Stellenwert als Metropole für alle Provinzen verloren: In Konstantinopel, Trier, Arles, Aquileia, Mailand und Ravenna bzw. Thessaloniki, Nikaia und Antiochia wurden zum Teil temporäre Kaiserresidenzen gegründet.238 Hier blieb überall noch längere Zeit die Erinnerung an eine Zeit als kaiserliche Residenz präsent, formte das imperiale Erbe die regionalen Traditionen. Sicherlich war auch die Eroberung Roms 410 n. Chr. ein nicht unerheblicher Grund für die abnehmende Bedeutung der ewigen Stadt, war doch nun auch der Mythos der Unbesiegbarkeit dahin, der stattdessen auf

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Vgl. zu Fiktion und Virtualität unten, Abschnitt ‚I.4 Zwischenfazit: Mediterranes Kaisertum – Virtuelles Kaisertum‘. Vgl. etwa zur Bedeutung der Stadt Gowing, Empire (2005), insb. S. 132–159 zur Architektur. Vgl. zur Bedeutung Roms im Rahmen der symbolischen Kommunikation des antiken Kaisertums Benoist, Rome (2005). Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 39. Vgl. auch zur Weiterwirkung der Traditionen um die Kaiserresidenzen etwa Fried, Friedrich (1993), 354f. Vgl. zum spätantiken Ravenna monumental Deichmann, Ravenna (1969–1989), insb. Bd. 3, S. 49–75 zu den Palästen. Vgl. zu den Bauten die Beiträge in König / Bolognesi Recchi-Franceschini, Palatia (2003).

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Konstantinopel überging.239 Dennoch sollte die Stadt Rom als Trägerin der Romidee bzw. von verschiedenen Romideen das ganze Mittelalter hindurch überragende Bedeutung bewahren.240 Der eigentümliche Hybridcharakter der Kaiseridee und der mit ihr verbundenen Legitimationskomplexe zeigte sich auch in den Bauten: Neben die antiken Überreste traten vor allem St. Peter und die Lateranbasilika als potentielle Krönungsorte und die mittelalterlich überformten Zentralorte der weltlichen Macht, der Palatin und das Kapitol.241 Auch für das Kaisertum Karls des Großen stellte die Stadt Rom den entscheidenden Katalysator dar:242 nicht nur durch die Eigenschaft Roms als Residenz des Papstes, sondern auch durch die Möglichkeit einer Reaktivierung des antiken Erbes bzw. der legitimierenden Anschlusskommunikation.243 Bereits im Umfeld der Kaiserkrönung berichten die Lorscher Annalen, Karl der Große sei unter anderem deshalb zum Kaiser ausgerufen worden, da er Rom selbst, wo die Kaiser ihren Sitz gehabt hätten, und die übrigen Kaiserstädte in Italien, Gallien und Germanien – Ravenna, ArIes, Trier – in seinem Besitze gehabt habe.244 Eine überragende Rolle sollte Rom auch für das Kaisertum Ottos III.245 und für das aller Staufer246 gewinnen. Gegenüber dieser geballten legitimatorischen Macht, die sich aus antiken und aus christlichen Quellen speiste, blieben alle Versuche einer eigenständigen Begründung kaiserlicher Herrschaft lange Zeit recht erfolglos. Das sogenannte romfreie Kaisertum konnte erst dann an Kraft gewin-

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Vgl. etwa die berühmte Klage des Hieronymus: capitur urbs, quae totum cepit orbem (Sancti Eusebii Hieronymi epistulae. Ed. Hilberg, 127,12, S. 154). Vgl. den Überblick bei Schneider, Rom (1959). Petersohn, Kaisertum (2010), 27–35 und 82–84. Vgl. etwa Löwe, Religio (1974), insb. S. 12–20; vgl. zu den Begrifflichkeiten Classen, imperium (1952), insb. S. 117–121. Vgl. zu den vielfältigen Rezeptionsprozessen auch bereits Pfeil, Romidee (1929); Beumann, Romkaiser (1952). Annales Laureshamenses. Ed. Pertz, c. 34, S. 38: Et quia iam tunc cessabat a parte Graecorum nomen imperatoris, et femineum imperium apud se abebant, tunc visum est et ipso apostolico Leoni et universis sanctis patribus qui in ipso concilio aderant, seu reliquo christiano populo, ut ipsum Carolum regem Franchorum imperatorem nominare debuissent, qui ipsam Romam tenebat, ubi semper Caesaras sedere soliti erant, seu reliquas sedes quas ipse per Italiam seu Galliam nec non et Germaniam tenebat; quia Deus omnipotens has omnes sedes in potestate eius concessit, ideo iustum eis esse videbatur, ut ipse cum Dei adiutorio et universo christiano populo petente ipsum nomen aberet. Vgl. aber auch zur vielfältigen Weiterwirkung, die sich bis zur „Idee Rom“ steigern konnte Erdmann, Reich (1943), 426; vgl. auch kritisch Görich, Otto III. (1995), insb. S. 187–274 und Althoff, Otto III. (1996), 100–125. Vgl. hierzu Thumser, Rom (1995), 231–343; vgl. ebenso Thumser, Friedrich II. (1996); vgl. zu den Staufern Petersohn, Kaisertum (2010), insb. S. 320–439 zu Barbarossa; vgl. aber auch Johrendt, Barbarossa (2010), 106f.

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nen, als die universale Dimension kaiserlicher Herrschaft – die ja vielleicht auch mit den Ansprüchen auf Italien gleichzusetzen ist – obsolet geworden war.247 Das Krönungszeremoniell brachte die zentrale Bedeutung Roms durch die Akklamationen der Stadtrömer klar zum Ausdruck: „einen römischen Kaiser können nur die Römer, nicht die Franken machen“248. Die Krönungsordines wurden allerdings immer wieder den jeweiligen Gegebenheiten und Erfordernissen angepasst:249 Mit der Zeit erschien das päpstlich-kirchliche Zeremoniell entscheidender als die stadtrömischen Akklamationsakte. Die starken Spannungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit entluden sich häufig gerade bei den Krönungen: Nur selten konnte der idealtypische Verlauf der Krönungsstationen eingehalten werden, die Kaiserkrönung Barbarossas fand wie so manche anderen mittelalterlichen gar „überfallartig“ ohne Beteiligung der Stadtrömer statt.250 Ihren formalisiert-institutionalisierten, höchst dauerhaften Ausdruck fand die Auffassung einer römischen Grundlage des westlichen Kaisertums in der Einführung des Titels Rex Romanorum, dem sich auch die Kurie nicht widersetzte. Der neue Titel entsprach zum Teil auch ihren Denktraditionen, hatte doch bereits Papst Johannes VIII. im Jahre 879 proklamiert, dass der König von Italien Anwärter auf das Imperium sei.251 Mit dieser Würde war darüber hinaus auch eine Einflusswahrung der Päpste bei der Vergabe des Kaisertums verbunden: „erst auf dem Weg über den ‚römischen König‘ wird man Kaiser, die Brücke zum Imperium ist Italien„252; Italien war besser zu kontrollieren als Deutschland. In dieser Hinsicht wäre der Titel eines rex Teutonicus für das Papsttum tendenziell viel gefährlicher gewesen. So blieb aber über die Jahrhunderte die Herrschaft über Italien Legitimationsgrund für das Kaisertum.253 Der Weg über das italienische Königtum und die Kaiserkrönung in Rom sicherte aber ebenso den oberitalienischen Städten und der Stadt Rom Möglichkeiten der Einflussnahme, auch wenn sie mitunter nur in der Blockade des Krönungsweges bestanden.254 Ja, die italienischen Städte konnten insbesondere in Zeiten eines Machtvaku247 248 249 250 251 252 253

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Diese Änderung ist erst ein neuzeitliches Phänomen und mit Maximilian I. anzusetzen; vgl. zur mittelalterlichen Dimension des romfreien Kaisertums Epperlein, Kaisertum (1967). Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 26. Büttner, Weg (2012), 145, 165 und 168. RI IV 2,1, Nr. 319. MGH Ep. VII, Nr. 163, S. 133. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 274; vgl. auch zur weiteren Bedeutungsdimension Beumann, König (1981), 79–84; vgl. auch empirisch Buchner, Titel (1963). Dieser ideelle Herrschaftsanspruch darf jedoch nicht mit realer Herrschaft gleichgesetzt werden. Vgl. etwa für die Zeit Ottos des Großen Keller, Entscheidungssituationen (1999). Hier ist auch das Phänomen des Mitkaisertums Ludwigs II. einzuordnen, der zum imperator Italiae gekrönt wurde (Mierau [2010], 52). Verbildlicht ist der „Hirsebrei“ der oberitalienischen Städtelandschaft auf dem Weg zum „Schlaraffenland“ des römischen Kaisertums in der Bildchronik Balduins von Trier. Vgl. dazu Margue, Weg (2009).

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ums – basierend auf den Regalien – die Vorstellung entwickeln, selbst Träger und Verwalter kaiserlicher Herrschaft zu sein.255 Erneut finden wir hier eine rhizomartige Verflechtung, die erklären helfen kann, weshalb Pisa für sich in Anspruch nehmen konnte, Kaiser zu wählen. Umgekehrt verhinderte die enge Verknüpfung der Gebiete nördlich und südlich der Alpen letztlich lange Zeit die Entfaltung eines legitimatorisch eigenständigen – vielleicht durchsetzungsfähigeren – deutschen Königtums: ein römischdeutscher König war immer nur die Minderform des römischen Kaisers.256 Das entscheidende Bindeglied zwischen dem antiken und dem mittelalterlichen römischen Kaisertum war aber die Patriciuswürde.257 Sie war durch Stephan II. 754 an König Pippin III. verliehen worden und ging später im karolingischen Kaisertum auf.258 Unter den Saliern sollte der Titel wieder politische Wirksamkeit entfalten, um in staufischer Zeit schließlich aus der Geschichte zu verschwinden.259 Die Würde des Patricius stellte die eigentliche Grundlage für zwei, wenngleich heftig umstrittene rombezogene Herrschaftsansprüche des westlichen Kaisers dar: seinen noch unter Friedrich Barbarossa eingeforderten Einfluss auf die Papstwahl und die Stadtherrschaft in Rom. Grundsätzlich kam dem Patricius nämlich als „Schutzherrn der römischen Kirche“ einst das Recht zu, „bei der ordentlichen Papstwahl den letzten Ausschlag zu geben“260. Darüber hinaus wurde der Patricius als „Schutzherr der Römer“ zumindest in stadtrömischer Sicht mit einer Art Stadtherrn gleichgesetzt, konnte also aus seiner Würde reale Herrschaftsrechte in Rom ableiten. Die Ausübung einer realen kaiserlichen Stadtherrschaft und vor allem die Anlage einer kaiserlichen Residenz in Rom hätte allerdings das Verhältnis zum Papsttum nicht unwesentlich beeinflusst, da nach der Konstantinischen Schenkung Rom nicht mehr Kaisersitz sein sollte, nachdem es Sitz der Apostelfürsten geworden war.261 Entsprechend findet sich auch im Zeremoniell der Kaiserkrönung keine Thronsetzung. Möglicherweise ist der Wegfall des Krönungszuges in KO XVIII damit zu erklären, dass das Papsttum auch nur den Ruch einer Inszenierung kaiserlicher Stadtherrschaft zu verhindern suchte. Die faktische Stadtherrschaft war allerdings bereits durch die Versprechen

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Burkhardt, Autorität (im Druck). Vgl. zur Situation in Italien grundsätzlich Keller, Blick (2006). Umgekehrt war aber – wie bereits erwähnt – der eigentliche Kern des Kaiseramtes die königliche Gewalt. Vgl. für die Frühzeit Deér, Praxis (1977). Vgl. zur Patriciuswürde Fried, Imperium (2006), 5f. mit Anm. 8. Vgl. etwa Petersohn, Kaisertum (2010), 12f., 21f. und 41f. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 158. Constitutum Constantini. Ed. Fuhrmann, Nr. 18, S. 94f.: Unde congruum prospeximus, nostrum imperium et regni potestatem orientalibus transferri ac transmutari regionibus et in Byzantiae provincia in optimo loco nomini nostro civitatem aedificari et nostrum illic constitui imperium; quoniam, ubi principatus sacerdotum et christianae religionis caput ab imperatore caelesti constitutum est, iustum non est, ut illic imperator terrenus habeat potestatem.

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eingeschränkt, die Otto I. anlässlich seiner Krönung dem Papst gab.262 Dies hielt jedoch auch etwa Otto III. nicht davon ab, zumindest inszenativ eine Stadtherrschaft in Rom anzustreben.263 Hinzu trat seit 1144 ein zusätzliches Element, das die Stadtherrschaft in Rom, die Kontinuitätswahrung zur Antike und die Kaiserwahl beanspruchte: der Senat der Stadt Rom. Das Verhältnis von stadtrömischem Senat und römischem Kaisertum war ambivalent: zum einen erlaubte die kommunale Institution dem Kaiser, Einfluss auf die ewige Stadt zu nehmen und den Senat auch gegen den Papst in Stellung zu bringen. Zum anderen bedrohte der Senat aber – zumindest in mittelstaufischer Zeit – die Legitimationsgrundlagen des Kaisertums. Diese Gefahr für Papst und Kaiser konnte letztlich dadurch abgewendet werden, dass der Senat gleichsam in die Podestàverfassung integriert, also auf „unverfängliche“, (nicht Kaiser- und Papsttum betreffende) Aufgabenbereiche beschränkt wurde.264 Im fortgeschrittenen 13. Jahrhundert kam es hingegen zu einer eigentümlich hybridisierenden Weiterführung der verschiedenen Stränge, indem letztlich Karl I. von Anjou zum Senator der Stadt Rom ernannt wurde und somit gewissermaßen anstelle des nicht mehr vorhandenen Kaisers die Stadtherrschaft antrat.265 Die Frage, wie römisch der römische König und Kaiser war, ist nicht einfach zu beantworten.266 Zumindest zeremoniell und ganz persönlich wurde er mehrfach romanisiert: Einhard konstatiert und legitimiert bei Karl dem Großen die Veränderung der Kleidung, die Anpassung an römische Gewandungsgewohnheiten. 267 Am Tage der Krönung musste der Kaiser zum Römer werden. KO XIV schrieb hinsichtlich des zu Krönenden vor: rasus enim esse debet – er musste also die Barttracht der (rasierten) Römer annehmen.268 Fremdheit und kontinuitätswahrende Eingliederung zeigen sich auch deutlich in der bei Otto von Freising überlieferten angeblichen Ansprache der Römer an Friedrich Barbarossa: Hospes eras, civem feci. Advena fuisti ex Transalpinis partibus, principem constitui. Quod meum iure fuit, tibi dedi.269 Letztlich blieb dies 262 263 264 265 266 267

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Otto übertrug laut MGH Const. 1, Nr. 12, S. 24 civitatem Romanam cum ducatu suo et suburbanis suis atque viculis omnibus et territoriis ejus montanis ac maritimis, litoribus ac portubus. Vgl. zur Einordnung des Ottonianum Althoff, Ottonen (2005), 115. Vgl. oben, Anm. 245. Petersohn, Kaisertum (2010), 180f. und 360. Vgl. Herde, Karl I. (1979), 42–44. Vgl. hierzu auch unten, Abschnitt ‚Die Städte und ihr Römertum‘. Vgl. Einhard, Vita Karoli. Ed. Holder-Egger, c. 23, S. 28: Aliquoties et gemmato ense utebatur, quod tamen nonnisi in praecipuis festivitatibus vel si quando exterarum gentium legati venissent. Peregrina vero in dumenta, quamvis pulcherrima, respuebat nec umquam eis indui patiebatur, excepto quod Romae semel Hadriano pontifice petente et iterum Leone successore eius supplicante longa tunica et clamide amictus, calceis quoque Romano more formatis induebatur. In festivitatibus veste auro texta et calciamentis gemmatis et fibula aurea sagum adstringente, diademate quoque ex auro et gemmis ornatus incedebat. Aliis autem diebus habitus eius parum a communi ac plebeio abhorrebat. KO XIV, Nr. 6, S. 37. Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imperatoris. Ed. Waitz, lib. 2, c. 29, S. 136.

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zwar „Gekräusel an des Wassers Oberfläche“.270 Die von allen Kaisern über die Jahrhunderte energisch verteidigte Idee eines römischen Charakters ihrer Herrschaft sollte jedoch weder von ihrem mangelhaften Einfluss auf die städtische Verwaltung noch von dem praktisch nicht vorhandenen antik-römischen Wesen ihrer Würde angefochten werden. Einmal mehr zeigt sich darin die eigentümliche Virtualität des Kaisertums, die eben nicht mit Wirklichkeit, aber auch nicht mit reiner Fiktion gleichzusetzen war. Konstantinopel Für das byzantinische Kaisertum war Konstantinopel in zweifacher Hinsicht zentral, ja zentraler als Rom für den westlichen Kaiser.271 Die Herrschaft über die Stadt Konstantinopel machte – vereinfacht gesprochen – zusammen mit dem Anlegen der roten Stiefel den Kaiser.272 Der Erwerb der Hoheit über Konstantinopel vereinte somit viele der Elemente westlichen Kaisertum in sich: die Wahl zum römischen König, den Zug durch Italien und die Krönung durch den Papst in Rom. Gleichsam war eine Art Automatismus vorgeprägt, der im Westen in Bezug auf Rom immer nur als eine Art „herrschernahe Hilfskonstruktion“ auftaucht: Die Herrschaft über Konstantinopel war konstitutiv für die Kaiserherrschaft. Die Stadtherrschaft war jedoch ambivalent, Konstantinopel machte nicht nur, sondern stürzte auch Kaiser: Zwar war die Akklamation durch Senat und Bevölkerung von Konstantinopel zusammen mit jener der Armee eines der wichtigsten Elemente zur Legitimation des Herrschaftswechsels. Allerdings wurden auch viele der Kaiser durch Aufstände der Stadtbevölkerung gestürzt.273 Neben dem materiellen Substrat, das die Metropole für die kaiserliche Herrschaft bereitstellte, waren die Idee Konstantinopel und ihre die gewaltige Strahlkraft der Stadt nicht zu unterschätzen. Für die Byzantiner war Konstantinopel über die Jahrhunderte „Ikone in Stadtform“: Sie war das Zentrum des Reiches, das in seiner virtuellen Dimension die Welt umfasste – wer Konstantinopel beherrschte, beherrschte also die Welt. Entsprechend konnte Niketas Konstantinopel auch als die „Kaiserin und Herrscherin aller Städte“274 bezeichnen. Die Identität von Kaiser und unmittelbarem Stadtherrn führte darüber hinaus dazu, dass das Kaisertum im Osten in ganz anderer Weise als jenes im Westen eine unmittelbare Verbindung zu einem noch „lebendigen“ – wenngleich vielfach veränderten – Römertum hatte, der Ostkaiser in gewissem Sinn der „römischere“ 270 271 272 273 274

Ullmann, Canossa (1973), 289. Vgl. zur Bedeutung von Konstantinopel etwa Beck, Konstantinopel (1972); Alexander, Strength (1962); vgl. zur byzantinischen Sicht auf Rom Dölger, Rom (1953), und zur generell vergleichenden Einordnung der Stadt Ward-Perkins, Constantinople (2000). Vgl. zu der kaiserlichen Farbe auch unten, Abschnitt ‚Porphyr und Purpur‘. Lilie, Einführung (2007), 136. Vgl. zu dem Beispiel Justinian und dem Nika-Aufstand: Mazal, Justinian I. (2001), 351–355. Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 13, S. 829: Βασιλὶς οὐσα καὶ πασῶν ὑπερκειμένη πόλεων.

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beider Kaiser war. Ausdruck fand diese enge Bindung des Basileus an seine Metropole vor allem in den für die verschiedenen Zeremonien so wichtigen Baukomplexen. An dieser Stelle ist nur auf den alten Kaiserpalast, den Blachernenpalast und die wichtigsten Kirchen, die Hagia Sophia und die Apostelkirche zu verweisen, die wichtige Fixpunkte im Kaiserritual waren.275 Umso dramatischer waren der Verlust der Stadt an die Kreuzfahrer und ihre Plünderung. Choniates meint, die Kreuzfahrer hätten Konstantinopel deshalb so verwüstet, da sie sich hierdurch selbst ein Denkmal errichten wollten.276 Neben den materiellen Schäden gilt es in der Tat auch die symbolische Dimension des Schadens277 und seine verfassungsgeschichtlichen Auswirkungen zu beachten: Für Theodor I. Laskaris etwa bestand das Problem, dass eines der zentralen, die Kaiserherrschaft legitimierenden Elemente weggefallen war: die Stadtherrschaft über Konstantinopel.278 Diese Stadtherrschaft hatte seit jeher die Spreu der Gegenkaiser vom Weizen des wahren Basileus getrennt. Nach 1204 bestand diese den wahren Kaiser definierende Möglichkeit nicht mehr und mehrere größere, kleinere und kleinste Kaiser kämpften gegeneinander. Die durch den Verlust der Stadt erwachsenden Schwierigkeiten mag man ermessen, wenn man sich eine hochmittelalterliche westliche Kaiserkrönung ohne Ablauf der Zeremonien in Rom vorzustellen sucht. Entsprechend gewannen in den byzantinischen Rumpfstaaten andere legitimierende Elemente wie Salbung, die Dynastie und das „wahre“ Patriarchat an Gewicht. Das Ziel der Rückeroberung hatte für alle Prätendenten der wahren Basileuswürde jedoch oberste Priorität.279 Die Verehrung für die Stadt selbst intensivierte sich nach 1204 nochmals, gewann fast jene religiösen Züge, die 275 276

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Lock, Franks (1995), 39. Vgl. ebenso zum Kaiserzeremoniell Majeska, Emperor (1997). Vgl. hierzu auch unten, Abschnitt ‚Das Kaisertum und der Raum‘. Vgl. Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 15, S. 838f.: οἱ μὲν γὰρ πάλαι τῆς μάχης κρατοῦντες, ἀνϑρώπινα φρονοῦντες οὐδʼ ἀϑάνατα μίση τηρεῖν δοκιμάζοντες, διὰ ξύλων καὶ βραχέων λίϑων ἀνίστων τρόπαια, ὅπος ὀλίγον χρόνον διαμεμενηκότα παρέρχηται, ὡς μηδὲ φιλίας ὑπομνήματα ὄντα ἀλλʼ ἔχϑρας καὶ προχύσεως αἱμάτων ἐμπυρεύματα νυνὶ δὲ πόλεων κατασκαφαἰ καὶ τοῦ παντὸς ἀφανίσεις δείγματα τῆς νίκης πρὀς τῶν βαρβάρων ἔξεύρηνται, οἷς ϑεόϑεν εἰς μαστίγωσιν ἐκδεδόμεϑα („In früheren Zeiten dachten die Sieger menschlich; unsterblichen Hass zu hegen hielten sie nicht für recht. Nach der Schlacht errichteten sie das Siegeszeichen aus Holz und wenigen Steinen, dass es nach kurzem Bestand wieder zerfalle und vergehe, da es ja nicht ein Denkmal der Freundschaft, sondern ein Erinnerungsmal an Feindschaft und Blutvergießen war. Nun sind diese Barbaren, denen Gott uns zur Züchtigung ausgeliefert hat, darauf verfallen, Städte niederzureißen und alles zu zerstören, um ihren Sieg darzutun“). Vgl. Külzer, Eroberung (2006), insbes. 632 zum Stellenwert von 1204 im kulturellen Gedächtnis. Vgl. auch zur Bedeutung von Kunstwerken am Beispiel eines Mosaiks im Kaiserpalast in Byzanz. Vgl. auch Trilling, Soul (1989), insb. S. 31. Vgl. etwa Trampedach, Kaiserwechsel (2005), 276f. Vgl. Angelov, Reactions (2006), insb. S. 296f.; vgl. aber zu einer Möglichkeit für die Herrscher von Nikaia, Konstantinopel friedlich zurückzugewinnen Stolte, Vatatzes (1990). Vgl. auch zu Epiros: Nicol, Despotate (1984), 4 und Stavridou-Zafraka, Ideology (2006), insb. S. 312.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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etwa die Verehrung Jerusalems im Westen hatte.280 Aber auch nach der Rückeroberung wirkte der Schaden nach: Viele der Orte des Kaiserzeremoniells waren schwer in Mitleidenschaft gezogen, die Möglichkeiten zur Ausübung der traditionellen Zeremonien – wie etwa Prozessionen und die sie begleitenden Gottesdienste – durch die Verluste an Preziosen und Paramenten schwierig. 281 Auch im Westen genoss Konstantinopel seit Jahrhunderten sagenhaften Ruhm.282 Dieser speiste sich jedoch schon bald nicht mehr primär aus kaiserlichem Glanz, sondern es war der ökonomische Reichtum, der gerühmt und begehrt wurde.283 Einen weiteren wichtigen Attraktivitätsfaktor stellte der Reliquienschatz der Stadt am Bosporus dar.284 Konstantinopel hatte schon immer potentielle Eroberer magisch angezogen, die Kreuzfahrer stellten nur insofern eine Ausnahme dar, da ihnen die Eroberung gelang.285 Bedeutend erscheint darüber hinaus aber, dass Konstantinopel nicht nur geplündert, sondern selbst unter den Siegern aufgeteilt wurde. Sicherlich gab es auch für die venezianischen Eroberer Beweggründe, die auf der Rolle Konstantinopels als wirtschaftlicher und politischer Zentralort beruhten.286 Spätere venezianische Chroniken 280 281 282

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Vgl. Lock, Franks (1995), 39; Angold, Government (1975), 29–33; Ahrweiler, experience (1975), 21–40. Vgl. zur Konzeptionalisierung von Konstantinopel als himmlisches Jerusalem Carile, Constantinople (2006). Talbot, Restoration (1993), insb. S. 244–249 zu den Zerstörungen und 249–252 zum Wiederaufbau zentraler Gebäude; vgl. zum Status quo ante: Berger, Processions (2001). Ein letzter Abglanz findet sich kurz vor der Eroberung der Stadt Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 128, S. 130: que il ne pooient mie cuidier que si riche ville peüst estre en tot le monde, cum il virent ces halz murs et ces riches tours, dont ele ere close tot entor a la reonde, et ces riches palais, et ces haltes yglises, dont il i avait tant que nuls nel poïst croire se il ne le veïst a l’oil, et le lonc et le lé de la ville, qui de totes les autres ere soveraine. Et sachiez que il n’i ot si hardi cui la car ne fremist („Sie [die Kreuzfahrer] konnten sich nämlich nicht vorstellen, dass es in der ganzen Welt eine so mächtige Stadt geben könnte, als sie diese hohen Mauern und diese mächtigen Türme sahen, von denen sie rundum umschlossen war; und diese überaus prächtigen Paläste und die hohen Kirchen, von denen es so viele gab, dass niemand es glauben kann, der es nicht mit seinen eigenen Augen gesehen hat; und die Länge und die Breite der Stadt, die Königin aller anderen Städte ist. Und wisset, dass es keinen auch noch so tapferen Mann gab, dem der Körper nicht erschauderte“). Vgl. etwa zum Bild Konstantinopels in isländischen Königssagas Foerster, Vergleich (2009), 163f. Vgl. zur späteren Realität, die möglicherweise hinter den Erwartungen zurückblieb Jacoby, Economy (2006). Vgl. die überblickende Beschreibung bei Ebersolt, Constantinople (1951). Vgl. auch zu den Nachrichten über die Reliquienschätze Konstantinopels im Westen allgemein Klein, Objects (2004) und Klein, Byzanz (2004), insb. S. 234–277. Vgl. zur eigentlich unwahrscheinlichen Eroberung, die auch von den Kreuzfahrern wohl nicht zu erwarten war, den militärischen Hintergrund bei Kolias, Aspects (2006) und zu den Befestigungen Konstantinopels sowie vorangegangenen Belagerungen Tsangadas, Fortifications (1980). Vgl. zur Vorgeschichte etwa Madden, Venice (1993), zur Zentralfunktion Konstantinopels als vielfältiger Knotenpunkt für die venezianischen Personennetzwerke vgl. Jacoby, Quarter (2001);

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berichten, dass man auf Seiten der Serenissima in Erwägung gezogen habe, den Regierungssitz vom Rialto an den Bosporus zu verlegen.287 Wenngleich diese Nachricht mit Vorsicht zu werten ist, zeigt sie doch die hohe Bedeutung Konstantinopels und die Auswirkungen der längeren Abwesenheit des Dogen aus seiner Stadt. Nicht zu unterschätzen ist jedoch auch der symbolische Aspekt der Herrschaft über Konstantinopel: die Teilung des ehemaligen Reichszentrums unter den Siegern und die hiermit verbundene Teilhabe an der kaiserlichen Herrschaft.288 Schon deshalb ist nach der Auswirkung der byzantinischen Kaisertraditionen, die in Konstantinopel „gespeichert“ waren, auf die neuen Machthaber zu fragen, nämlich nach den die die Eroberung von 1204 überlebenden Bauten, Kunstgegenständen, Gelehrten, Archiven. Waren die lateinischen Kaiser und die sie begleitenden Adligen so tief in „westlichen“ Traditionen verankert, dass sie nichts annahmen? In praktisch allen Urkunden der lateinischen Kaiser wird Konstantinopel nur urbs regia genannt.289 Dies entspricht einer auch im Westen seit Otto von Freising bekannten byzantinischen Tradition.290 Gleichwohl weist diese Bezeichnung in westlichen Quellen auf eine andere Bedeutungsdimension Konstantinopels hin: Mit der Herrschaft über die Stadt verband man unter den Kreuzfahrern wohl nie jene Ideen, die Rom auszeichneten – etwa eine mögliche Legitimierung von Weltherrschaftsansprüchen.291 Dieser Befund steht in engem Zusammenhang mit der Einschätzung des byzantinischen Kaisertum, wurde doch auch der Basileus kaum als gleichwertig zum Westkaiser angesehen – und diese Gleichwertigkeit sollte auch der lateinische Kaiser von Konstantinopel nie erlangen. Andere Städte Auch andere Städte des Mittelmeerraumes konnten wie die bisher behandelten „Kaiserstädte“ als Träger eines imperialen Erbes fungieren, Herrschaftskonzeptionen speichern und in der Hand eines entschiedenen Mannes aktivierbar machen.292 Dies scheint insbesondere für die Städte des ehemaligen byzantinischen Machtbereiches zu gelten. So beschreibt Akropolites, wie in einigen Städten nach der Eroberung Konstantinopels eigene

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Jacoby, Settlers (2001) und zur weiteren strategischen Lage Dotson, Venice (2003), insb. S. 121f. und zu den vielfältigen Austauschbeziehungen McNeill, Venice (2009), 1–45. Vgl. Gerland, Geschichte (1905), 58 / Anm. 3. Heyd, Geschichte 1 (1879), 316f.; Marin, Community (2003); vgl. auch kritisch: Jacoby, Government (2006), 60f. Jacoby, Presence (2001), insb. S. VI 144–VI 149; Marin, Community (2003). Vgl. neben anderen Urkunden auch ein Schreiben Kaiser Heinrichs an Innozenz III.: RIN 8, Nr. 132 (131), S. 240. Lock, Franks (1995), 39. Ebenso wird Konstantinopel auch in einem Brief griechischer Prälaten als urbs regia bezeichnet (Hendrickx, Régestes [1988], Nr. 70). Lock, Franks (1995), 39: „There was no connotation of Constantinople as the symbol of universal rule in any twelfth century western writer”. Vgl. zu den Städten des Westkaisertums auch unten, Abschnitt ‚Das Kaisertum und der Raum‘.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Herrschaftsbereiche entstanden.293 Einen Sonderfall stellt hierbei sicherlich Thessaloniki dar: Diese Stadt war nicht nur in der Spätantike Tetrarchenresidenz, sondern auch im byzantinischen Reich nach Konstantinopel die zweitwichtigste Kommune gewesen.294 Mit ihr schien sich ein besonderes Verständnis kaiserlicher Würde zu verbinden, das sowohl Bonifaz von Montferrat anzog, als auch Theodor I. Laskaris dazu brachte, sich nach der Eroberung Thessalonikis zum Kaiser krönen zu lassen.295 Ähnliche Tendenzen finden sich in anderen ehemaligen Gebieten des byzantinischen Reiches. Hier war das imperiale Erbe sicherlich verschüttet und zum Teil durch andere Schichten überlagert worden, mit diesen aber auch eine untrennbare Verbindung eingegangen. Jene neuen Schichten hatten jedoch nicht den Stellenwert der Städte an sich herabgesetzt, sondern vielmehr mit neuen und sogar „imperialeren“ Inhalten gefüllt. So wurde beispielsweise Palermo zu einem wichtigen Zentrum innerhalb der mittelmeerumspannenden imperialen Ordnung verschiedener arabischer Herrschaftskonfigurationen.296 Mit der normannischen Eroberung bestärkte wohl auch das imperiale Erbe der Stadt die neuen Herren darin, den Königstitel anzunehmen, da Sizilien – wie Alexander 293

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Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 7, S. 12: ἐν γὰρ τῇ συγχύσει τῆς Κωνσταντίνου ἁλώσεως ἄλλοϑεν ἄλλος ἡγεμόνες εἶναι τυχόντες ἢ καὶ οἱ τῶν ἄλλων προύχοντες ὡς οἰκείαν ἀρχὴν τὴν ὑφʼ ἑαυτοὺς ἐποιοῦντο χώραν, ἢ ἐξ αὐτῶν εἰς τοῦτο ὁρμήσαντες ἢ καὶ παρὰ τῶν οἰκητόρων μετακληϑέντες εἰς τὴν τῆς χώρας δεφένδευσιν („In den Wirren bei der Einnahme Konstantinopels kamen nämlich von allen Seiten die verschiedensten Provinzgouverneure oder solche, die irgendeine Macht über andere ausübten, und machten das jeweils unterworfene Gebiet zu ihrem eigenen Herrschaftsbereich. Dazu waren sie entweder aus eigener Initiative gekommen, oder sie waren von den Einwohnern zur Verteidigung ihres Landes gebeten worden“). Die deutsche Übersetzung der Chronik folgt Georgios Akropolites, Die Chronik. Ed. Wilhelm Blum. Vgl. andeutungsweise Bakirtzis, Continuity (2003), 46 und insbesondere Rautman, Observations (1990) zu den kaiserlichen Palästen. Vgl. zur reichen Sakraltopographie Thessalonikis Janin, églises (1975), 341–419. Vgl. zur wichtigen Funktion Thessalonikis als kaiserliche Münze und somit Stätte symbolischen und ökonomischen Kapitals Morrisson, Emperor (2003). Vgl. zum Königreich Thessaloniki auch Wellas, Kaiserreich (1987). Vgl. etwa Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 21, S. 33: ʽΟ δὲ Κομνηνὸς Θεόδορος, ὃ πρὸ μικροῦ ὁ λόγος ἱστόρησε, μὴ ϑέλων μένειν ἐν τῇ οἰκεία τάξει ἀλλὰ τὰ τῆς βασιλείας σφετερισάμενος, ἐπειδὴ τῆς Θεσσαλονίκης γέγονεν ἐγκρατὴς πολλήν τε χώραν τῆς ʽΡωμαΐδος ἐκ τῆς κεκρατημένης παρὰ τῶν ʼΙταλῶν ὑφʼ ἑαυτὸν ἐποιήσατο, ἔτι δὲ καὶ τῆς παρὰ τῶν Βουλγάρων κεχειρωμένης, πορφυρίδα τε ὑπενδύεται καὶ ἐρυϑρὰ περιβάλλεται πέδιλα („Der Komnene Theodor, von dem vor kurzem schon die Rede war, war nicht bereit, in seinem bisherigen Rang zu verbleiben und hatte sich die Kaiserwürde zuerkannt: nachdem er Herr über Thessaloniki geworden war und große Gebiete des Rhomäerreiches, die die Italiener beherrscht hatten, sowie solche, die die Bulgaren unterjocht hatten, in seine Gewalt gebracht hatte, umgab er sich mit dem Purpurmantel und legte die roten Schuhe an“). Vgl. zu der arabisch-normannischen Mischkultur, die durch diese schichtenförmigen Ablagerungen entstanden ist Tronzo, Cultures (1997); Johns, Administration (2002); Metcalfe, Muslims (2003); Schubert / Binous, Kunst (2004), und generell zum Kontext Lewis, Araber (1995), 82– 212.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

von Telese berichtet – einst selbst ein Königreich gewesen sei.297 Anders liegt der Fall der Kreuzfahrerherrschaft Jerusalem. Hier war es nicht die zentralörtliche Funktion der Stadt im Rahmen einer imperialen Ordnung, die das latent vorhandene imperiale Erbe anreicherte. Ja, Jerusalem selbst war in seiner Bedeutung unter arabischer Herrschaft stark herabgesunken. Die zweifache „imperialisierende“ Wirkung Jerusalems auf die Kreuzfahrerkönige beruhte auf einer eigentlich nur mit Rom zu vergleichenden Hybridisierung geistlicher und weltlicher Elemente: zum einen auf der heilsgeschichtlichen Stellung der Stadt, zum anderen jedoch auf dem aktualisierten imperialen Erbe byzantinischer Zeiten durch die Wiedereingliederung des Königreiches in das byzantinische Machtgefüge.298 Auch in den Seestädten finden sich zwei Komplexe, die in loser Verbindung mit den bisherigen Ausführungen zur legitimierenden Funktion von Zentralstädten stehen. Dies betraf zunächst die Kapitale selbst, ihre legitimierende Funktion für die Leiter der Stadtkommunen ist selbsterklärend: Die führende Schicht der Stadtbewohner war mit der Wahlkörperschaft praktisch identisch, mit dem Verlust der Stadtherrschaft wäre auch das Ende der jeweiligen Seeherrschaft besiegelt gewesen. Weitaus wichtiger ist die Tatsache, dass die einzelnen Städte selbst zum Abbild der Herrschaftsorganisation und imperialen Ordnung, zum Speicher von Traditionen und Handlungspraxis wurden, die aus sich selbst heraus wieder legitimierend wirken konnten. Beim Zusammenschrumpfen des jeweiligen realen Herrschaftsbereiches konnte dieser in der städtischen Erinnerung in virtueller Form weiterexistieren. Von großer Bedeutung für die Seestädte waren diesbezüglich Kirchen und Paläste. Hier fanden die entscheidenden Hybridisierungsprozesse statt, die zu einer ganz eigenen Art der Geschichtsschreibung, der Vorstellungen von großräumiger Herrschaft und dem Rang des Leiters der jeweiligen Herr297

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Vgl. Burkhardt, Heritage (2013), 153 und Alexandri Telesini Abbatis Ystoria. Ed. DeNava / Clementi, lib. II, c. 2, S. 23f.: Horum itaque amica atque laudanda suggestio, cum infra semet ipsum multipharie tractando versaretur, velletque exinde certum ratumque habere consilium Salernum regreditur; extra quam non longe convocatis ad se aliquibus ecclesiasticis peritissimis, atque competentioribus personis, nec non quibusdam principibus, comitibus, baronibus, simulque aliis qui sibi sunt visi probatioribus viris, patefecit eis examinandum secretum et inopinatum negotium; ac illi, rem ipsam sollicite perscrutantes, unanimiter tandem uno ore laudant, concedunt, decernunt; ymmo, magnopere precibus insistunt ut Rogerius dux in regiam dignitatem apud Panhormum, Sicilie metropolim, promoveri debeat, qui non tantum Sicilie paterna hereditate, verum etiam Calabrie, Apulie, ceterarumque terrarum, que non solum ab eo bellica obtinentur virtute, sed et propinquitate generis antecedentium ducum iure sibi succedere debent. Nam si regni solium in eadem quondam civitate ad regendum tantum Siciliam certum est extitisse, et nunc ad ipsum per longum tempus defecisse videtur, valde dignum et iustum est ut in capite Rogerii diademate posito, regnum ipsum non solum ibi modo restituatur, sed in ceteras etiam regiones, quibus iam dominari cernitur, dilatari debeat. Vgl. zur Sicht auf das Königtum Rogers II. auch Wieruszowski, Roger II. (1963). Vgl. Boas, Jerusalem (2001), insb. S. 30–23 zum zeremoniellen Aspekt der Stadt; Gaube, Jerusalem (2005); vgl. zu den lateinischen Traditionen aber Nader, Burgesses (2006), v. a. S. 197–204 und zum angedeuteten Zusammenhang: Mayer, Pontifikale (1967), etwa 174–176.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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schaftsorganisation führten.299 Gerade um 1200 waren in Venedig und Pisa entsprechende Entwicklungen im Gang, die dazu führten, dass diese Städte die Nähe zu kaiserlichen Ordnungsvorstellungen suchen. Die geschilderten Speicherungs- und Hybridisierungsprozesse brauchten nämlich einen Kristallisationspunkt und fanden ihn in der Ähnlichkeit der eigenen Herrschaftsorganisation und Stadt mit Rom.300 Wie der Weltherrschaftsanspruch des Kaisers einen Anspruchsraum darstellte, den man ausfüllen konnte301, so bildete auch Rom das Modell, anhand dessen Konzepte großräumiger Herrschaft entwickelt und konkretisiert werden konnte. Die Städte und ihr Römertum Neben der zweiten großen Traditionslinie, der Denkfigur von der „Herrschaft über viele Völker“, stellte die Kontinuitätsbehauptung zur römischen Antike den wichtigsten Legitimationsgrund kaiserlicher Herrschaft dar.302 Diese Anknüpfung konnte aber auch seit der Kaiserkrönung Karls des Großen zu starken Spannungen in der Beziehungen zwischen Ost und West führen. Die Gebetstexte der römischen Gottesdienste hielten die Fiktion eines ungeteilten römischen Reiches unter einem römischen Kaiser aufrecht, obwohl die Realität bereits in der Spätantike anders aussah. Wenn es aber nur einen Kaiser geben durfte, eine typisch mittelalterliche Vorstellung kaiserlicher Herrschaft und kaiserlichen Ranges, musste dem jeweiligen anderen der kaiserliche Rang abgesprochen, d. h. er musste letztlich auf königlichen Rang herabgedrückt werden. Ein Mittel hierzu war die Monopolisierung des Rombezuges im eigenen Kaisertum. Entscheidend war letztlich, welcher Rombezug sich als der „wahre“, höherwertige erwies. Gerade die Auseinandersetzungen des sogenannten „Zweikaiserproblem“ zeigen dies deutlich. Wichtige „Qualitätskriterien“ der eigenen Legitimation waren etwa das Alter des Kaisertums, die geschlossene Kaiserreihe, die reale Herrschaft über Rom, die Weihe in Rom oder die Rechtgläubigkeit des Kaisers.303 Ihren Fixpunkt fanden die Auseinandersetzungen um das wahre Kaisertum in der Lehre von den vier Weltreichen und der Denkfigur der translatio imperii, die „Welt“ und imperium verband, zugleich aber auch den „Alleinvertretungsanspruch“ verschär299

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Vgl. generell für den Bereich Venedig Muir, Ritual (1981); Fenlon, City (2007); Fortini Brown, Self-Definition (1991) und die Beiträge in Maguire / Nelson, San Marco (2010); vgl. für den Städtebau Schulz, Urbanism (1991); vgl. zur wichtigen Funktion der Heiligen Frugoni, City (1991). Fried, Imperium (2006), 26f. zu Pisa. Vgl. unten, Abschnitt ‚Außen und Innen‘. Im Westkaisertum tritt auch die Kontinutätsbehauptung zu Karl dem Großen mitunter stark hervor. Vgl. hierzu oben, Anm. 72. Vgl. zum sogenannten Zweikaiserproblem Ohnsorge, Zweikaiserproblem (1947); Brezeanu, Zweikaiserproblem (1978); Lilie, Zweikaiserproblem (1985) und kritisch Hehl, Kaiser (2012), 274–281.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

fen konnte. Mit dem vierten Weltreich – dem römischen – ende auch die irdische Welt, diesem Reich käme also heilsgeschichtliche Funktion zu. Interessanterweise spielte diese Lehre jedoch – wie Karl Ferdinand Werner feststellte – in Frankreich und England eine eher untergeordnete Rolle.304 Ein Grund könnte in der unterschiedlichen ortsgebundenen Auffassung über die Reichweite und die Kontinuität des Imperiums gelegen haben. Faktisch alle Quellenbelege des Westens sprechen für ein Wissen um die Andersartigkeit des Römischen Reiches der Vergangenheit gegenüber jenem der Gegenwart. Dem aufmerksamen und historisch versierten Zeitgenossen mochte ja nicht entgangen sein, dass manches in der eigenen Zeit nicht mehr mit dem antiken Römerreich übereinstimmte.305 Auch war ein Großteil der europäischen Königreiche unabhängig von einer Legitimation durch den Westkaiser, losgelöst von römischen Traditionen, entstanden.306 Davon unberührt mag jedoch die Vorstellung eines orbis romanus, einer latinitas und einer grundsätzlichen Kontinuität des Imperiums geblieben sein, dessen nominelles Haupt der römische Kaiser war. Sicherlich gab es auch gegenteilige Meinungen, und gewiss sind die konkrete Ausgestaltung des Verhältnisses der einzelnen Elemente zueinander und die Schlussfolgerungen, die man hieraus zog, von Autor zu Autor verschieden.307 Auch für die byzantinischen Kaiser war die Nachfolge im Römerreich nicht hinterfragbar. Die Bezeichnung „byzantinisch“ wurde erst durch französische Forscher im 17. Jahrhundert geprägt. Die Byzantiner selbst bezeichneten sich als Ῥωμαῖοι, die Einwohner der βασιλεία τῶν Ῥωμαίων.308 Diese Selbstbezeichnung ist auch Ausdruck dafür, dass die Herrschaft über das Gebiet des ehemaligen Römischen Reiches nie aufgegeben wurde, wenngleich sie in zunehmendem Maße virtuell wurde. Der Kern des „Zweikaiserproblems“ war somit wohl weniger die Führung des Kaisertitels durch die 304 305

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Werner, Imperium (1979), X 47. Vgl. auch Grünewald, Kaisertum (1968), 85. Vgl. die Belege bei Werner, Imperium (1979), X 44f. / Anm. 1, 2 und 3. Vgl. auch beispielhaft Ottonis Episcopi Frisingensis Chronica sive Historia de duabus civitatibus. Ed. Hofmeister, lib. 4, cap. 31, S. 223: Et sicut ibi regno ad Medos translato solo nomine mansit imperium, sic et isto ad Grecos seu ad Francos derivato Urbis tantum antiquae dignitatis ac nominis manet vestigium. Werner, Imperium (1979), X 57. Vgl. etwa die Verschränkung von Sprache, Recht, Reich und römischer Kirche bei Huguccio, ad Decretum Gratiani Dist. I, c. XII „Ius Quiritum”: Preterea quicumque utuntur lingua latina dicuntur Romani; unde et lingua latina romana dicitur, ut de con. di. iiii. retulerunt. Et ideo Romani hic intelliguntur omnes latini; unde et hoc iure omnes astringuntur latini. Item, saltem ratione romani pontificis subsunt romano imperio. Omnes enim christiani subsunt apostolico et ideo omnes tenentur uiuere secundum leges romanas, saltem quas approbat ecclesia (Huguccio Pisanus, Summa Decretorum. Ed. Přerovský, 55f.). Vgl. hierzu auch Kirfel, Weltherrschaftsidee (1959), 36: „Von Weltherrschaft im Sinne des alten römischen Reiches ist hier also nicht mehr die Rede. Die Geltung des römischen Rechts war zur Zeit Huguccios keine Selbstverständlichkeit mehr. Er suchte sie zu begründen und führte als entscheidende Argumente die gemeinsame Sprache und besonders die Universalität der Kirche an“. Vgl. hierzu Lock, Franks (1995), 2.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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westlichen Herrscher an sich als vielmehr deren „Alleinvertretungsanspruch“ auf Nachfolge im Römerreich. Der Rombezug der lateinischen Kaiser schien hingegen eher schwach ausgeprägt zu sein. Die Herrschaft über Konstantinopel könnte ihnen genügt haben, Geld ihnen wichtiger als Legitimationspotential gewesen sein.309 Dies war möglicherweise durch zwei Faktoren bedingt, die eng mit den Entstehungsbedingungen der lateinischen Herrschaft verbunden waren: Erstens handelte es sich bei den lateinischen Kaisern um Adlige, die dem französischen Kulturraum zugeordnet werden konnten.310 Dort waren jedoch der Bezug auf das Kaisertum und Kontinuitätsbehauptungen zum römischen Reich weitaus schwächer ausgeprägt als im römisch-deutschen Reich. Wichtiger erwiesen sich in diesem Kulturbereich die Karlstradition und das prägende Vorbild des französischen Königtums.311 Diese Tatsache fand auch ihre Entsprechung im Siegelbild. 312 Zweitens war es gerade das Papsttum – die zentrale legitimierende Kraft des lateinischen Kaisertum –, das kein Interesse an einem weiteren, sich auf römische Ursprünge und Kontinuitäten berufenden Herrscher hatte, der immerhin ein gewisses Potential hatte, als Konkurrent in Erscheinung zu treten.313 Für die Kommunen Italiens war die romanitas der eigenen Stadt und ihrer Führungsschicht hingegen ein wichtiger Legitimationsgrund. Noch im 14. Jahrhundert scheint Rom zwar kein explizit angeführtes Paradigma für die venezianische Stadtgemeinde gewesen zu sein. Betont wurden vielmehr die Gleichsetzung von Venezianern und Troja309

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Vgl. etwa das Staunen des Niketas (Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 7, S. 860f.) über das Einschmelzen verschiedener antiker Statuen (man beachte insbesondere die Formulierung „ihres eigenen Volkes“), das vor dem Hintergrund der Bemühungen westlicher Kaiser um den Glanz antiker Spolien – etwa eines Karl des Großen in Aachen oder eines Otto des Großen in Magdeburg – allzuverständlich erscheint: Οὐδὲ μὴν τῆς ʽὑαίνης τε καὶ λυκαίνης τὰς χεῖρας ἀπήγαγον, ἃς ʽΡῶμος καὶ ʽΡωμύλος ἐϑήλασαν∙ στατήρων δὲ βραχέων, καὶ τούτων χαλκῶν, τὰ παλαιὰ σεμνώματα τοῦ γένους ἀπέδωκαν καὶ καϑῆκαν αὐτὰς εἰς τὸ χωνευτήριον („Die Lateiner ließen ihre Hände auch nicht von der Hyäne und der Wölfin, welche Rhomos (Remus) und Rhomylos (Romulus) gesäugt hatte. Für wenige Statere, noch dazu kupferne, gaben die Lateiner altehrwürdige Denkmäler ihres eigenen Volkes preis und steckten sie in den Schmelztiegel“). Ebenso interpretiert Niketas das Einschmelzen einer Helenastatue (Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 9, S. 864): εἶπον δʼ ἂν ὡς καὶ ἀντίποινα τοῦ τὴν Τροίαν ᾐϑαλῶσϑαι πυρὶ ταῖς σαῖς σχετλίως φρυκτευϑέντι φιλότησιν οἱ Αἰνειάδαι οὗτοι πυρί σε κατέκριναν. ἀλλʼ οὐκ ἐᾷ με τὸ χρυσομανὲς τῶν ἀνδρῶν διανοήσασϑαί τι τοιοῦτον καὶ φϑέγξασϑαι („Ich würde auch sagen, die Söhne des Aineias (Aeneas) verurteilten dich zum Feuertode zur Vergeltung für den Brand Troias, den deine Liebe furchtbar entzündet, aber die rasende Gier dieser Leute nach dem Gold lässt nicht zu, dass ich solche Gedanken ausspreche“). Vgl. die Übersicht bei Longnon, compagnons (1978). Vgl. Burkhardt, Barbarossa (2010). Vgl. unten, Abschnitt ‚Siegel und Münzen‘. Die Päpste sollten dem lateinischen Kaiser auch den römischen Kaisertitel verweigern. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Titel und Hierarchiegenese‘.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

nern und die alte Freiheit Venedigs von aller Jurisdiktion und jedem Herrschaftsanspruch; Venedig sei sogar älter als Rom.314 Mit dem Fall Konstantinopels 1204 gab es aber Stimmen, die in Venedig die Verteidigerin der novella Romania sahen.315 Weitaus stärker ausgeprägt waren diese Tendenzen bereits um 1100 in Pisa316. Zentral für die in der vorliegenden Arbeit zu untersuchende Thematik ist, dass die Vorstellungen der eigenen romanitas es nicht nur erleichterten, Konzeptionen großräumiger Herrschaft zu übernehmen, sondern auch eins zu werden mit dem Volk der Römer, dass es also möglich war, den eigenen Herrschaftsverband zu imperialisieren, dessen Leiter zu verkaiserlichen und damit letztlich auch den Anspruch zu erheben, über Kaiser zu entscheiden. Designation und Herkunft Eng mit dieser „geistigen Verwandtschaft“ (der „Ansippung“ an das „Römertum“) verbunden ist die „reale Verwandtschaft“, die eine Art Erbrecht begründete. Grundsätzlich unterschied sich das Kaisertum hinsichtlich des Stellenwertes von Dynastien und Verwandtschaft praktisch nicht von den entsprechenden Konzepten königlicher Herrschaft.317 Auf einer allgemeinen Ebene betrifft dies die „ethnische Zugehörigkeit“, die – obgleich häufig Konstrukt – doch zum Teil erhebliche Wirkung zeitigte. Denn der ethnische Faktor ist zumindest in Bezug auf das byzantinische Kaisertum nicht zu vernachlässigen. Ein griechischer Kaiser sollte in den Augen der byzantinische Elite auch Grieche sein.318 Problematisch war nicht nur das Verhältnis zwischen „griechischen“ Byzantinern und „Armeniern“.319 Undenkbar schien es, einen Lateiner als Kaiser zu akzeptieren – eine nicht unerhebliche Hypothek für die flandrischen Usurpatoren.320

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Marx, Venedig (1980), 326–329. Sie erkennt auf S. 332 eine „anti-römische, in jedem Fall antiimperiale Komponente“, die „einen Rückbezug der venezianischen Historiographie auf das spätantike Rom nur unter der Prämisse einer deutlichen Abgrenzung, wenn nicht gar einer impliziten Gegnerschaft, zuließ“. Marx, Venedig (1980), 333f. Marx meint jedoch nur eine „kulturhistorische und, damit eng zusammenhängend, die spirituelle Mission der Lagunenstadt“ zu erkennen, „niemals jedoch eine wie auch immer rhetorisch verbrämte ‚translatio imperii’“. Vgl. hierzu grundlegend Scalia, Romanitas (1972); Seidel, Dombau (1977); Salvatori, Pisa (2002); von der Höh, Erinnerungskultur (2006), vor allem S. 399–412; Mitterauer / Morrissey, Pisa (2007), 226–248. Darwin, Traum (2010), 99 schreibt vom dynastischen Prinzip als Lösungsversuch bestimmter Probleme zu einer bestimmten Zeit. Lock, Franks (1995), 39. Vgl. etwa zu Kaiser Leo V. Turner, Origins (1990), 172f. Vgl. auch unten, Abschnitt ‚II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnung‘. Vgl. zu den hingegen gar nicht so seltenen westlichen Kaiserinnen etwa Macrides, Marriages (1992), 270–280; Hill, Women (1999), 199–204.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Im westlichen Kaisertum kam dem Faktor der „ethnischen Zugehörigkeit“ in zweierlei Hinsicht eine Bedeutung als Zugangskriterium zur römisch-deutschen Königswahl zu: Zum einen betraf dies die „Stammeszugehörigkeit“, die insbesondere zu Zeiten von „Dynastiewechseln“ oder bei Wahlen von Gegenkönigen Einfluss auf die Kandidatenauslese haben konnte.321 Zum anderen traten insbesondere im späten 13. Jahrhundert und im sogenannten Interregnum Stimmen hinzu, die die Wahl eines „nichtdeutschen“ Königs ablehnten.322 Ganz ähnliche Diskussionen finden sich im Süditalien des 12. und 13. Jahrhunderts, wo nicht nur „landfremde“ Franzosen, sondern auch insbesondere die im Gefolge Heinrichs VI. ins Land gekommenen Deutschen auf zum Teil heftigen Unwillen der sizilischen Großen trafen.323 Im lateinischen Kaiserreich spielten diese Diskurse auch eine Rolle, wenngleich sie stets auf dem Niveau des Sublimen blieben und nur im Vorfeld der Wahl Balduins I. klar sichtbar wurden: Die drei größten wählenden Gruppen der „Franzosen“, „Lombarden“ und „Venezianer“ lieferten sich zunächst ein heftiges Ringen um die Bestellung des neuen Kaisers und Auseinandersetzungen um Kompensationsleistungen für diejenigen, deren favorisierter Kandidat unterlegen war.324 Auch die kleineren Gruppen folgten diesen „protonationalen“ Konfliktlinien, während sich die griechischen Bevölkerungsteile vielleicht eher an den persönlichen Qualitäten Bonifaz’ von Montferrat – eventuell auch an seiner Frau, der ehemaligen byzantinischen Kaiserin Margarethe / Maria – orientierten.325 Diesen „protonationalen“ Diskurslinien widersprachen in gewissem Sinn die Vorstellungen eines Kaisergeschlechts, das zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Völkern als Träger des Kaisertums wirkte. Schon dieser Befund zeigt, dass das Kaisertum neben dem Gedanken der Wahl offensichtlich sehr stark durch den Gedanken der dynastischen Weitergabe, wie er sich bereits in ottonischer Zeit zeigte, geprägt war. Dieser offenbarte sich nicht nur in Kaiserdynastien oder den Vorstellungen von einem Adlergeschlecht326, sondern auch in der Denkfigur der Adoption, die im antik-römischen Bereich ausgesprochen wichtig war und auch im byzantinischen Kaisertum große Bedeu-

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Noch beim Wechsel zu Lothar III. schien dieses Kriterium eine größere Rolle zu spielen (vgl. Althoff, Lothar III. (2003), 201–205) während es in späterer Zeit wohl weniger wichtig wurde. Roscheck, Kandidaturen (1984), 16–36 und S. 248f. Runciman, Vesper (1976), 12f. und S. 215–242. Vgl. für den weiteren Verlauf im Süden Haberkern, Kampf (1921). In Art. 5 der Vereinbarung von 1204 wurde festgelegt, dass ein Kollegium von 12 Wahlmännern wählen sollte, qui iuramento astricti eam personam eligere debent de exercitu, quam credent melius scire tenere et melius posse tenere et melius scire ordinare terram et imperium ad honorem Dei, et sancte Romane ecclesie et imperii (RIN 7, Nr. 205, S. 361f.). Vgl. Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 6, S. 175, c. 7, S. 177. Vgl. zur Adlermetaphorik, die auch Anschluss an antike Traditionen ermöglichte Giese, Adler (2010), 323–356.

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tung hatte.327 Denn im byzantinischen Bereich hatte die Dynastie einen hohen Stellenwert, war das Reich in der Praxis weit davon entfernt, eine Art Wahlmonarchie zu sein.328 Die Vater-Sohn-Folge, aber auch die Erbfolge innerhalb einer Familie war allerdings stets durch das dominierende Leistungsprinzip und die generelle Instabilität der byzantinischen Gesellschaft bedroht.329 Ebenso erwies sich die reine Nachfolgerdesignation als recht unzuverlässig. Nicht nur in Bezug auf das Kaisertum an sich, sondern auch hinsichtlich der Nachfolge im Kaiseramt war der byzantinische Bereich durch eine überragende Vielfalt geprägt. Möglicherweise führte gerade diese stetige Bedrohung der Vater-Sohn-Folge dazu, dass man einen verlässlichen Modus der Herrschaftssukzession durch die klare Inszenierung der Kategorie des Porphyrogennetos herauszustellen und abzusichern suchte.330 Die Herkunft der byzantinischen Kaiser wurde durch die starke Betonung des Purpurgeboren-Seins geradezu bildhaft vor Augen geführt. Um jedoch auch Flexibilität schaffen und die Kontingenz reduzieren zu können, empfahlen sich Heiratsverbindungen mit der Erbfolge des Schwiegersohnes oder eben die Adoption.331 Verbunden waren beide Akte unter Umständen mit einer Mitkaisererhebung.332 Niketas schildert etwa Theodor I. Laskaris, „der durch seine Abkunft hervorragte und durch seine Verschwägerung mit dem Kaiser [Alexios III. Angelos] zu Ruhm und Ansehen gelangt war“333. Durchaus üblich war ebenso die Heirat des neuen Kaisers mit der Witwe seines Vorgängers.334

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Vgl. allgemein zum byzantinischen Recht Macrides, Kinship (1990); Pitsakis, adoption (1998). Die Adoption konnte auch in einer spannungsreichen Wechselwirkung zum Prinzip der Wahl treten, vgl. für die Antike Lambrecht, Kaiser (2006). Vgl. zum Stellenwert der Dynastien und Familien grundlegend Lilie, Einführung (2007), 138: „Insgesamt gesehen, hat es unter den 89 Kaisern in Byzanz nur 15 gegeben, die keinerlei familiäre Beziehungen zu einer früheren Dynastie aufbauen oder eine eigene gründen konnten, und diese 15 regierten mit einer Ausnahme signifikant kürzer als andere Kaiser mit familiärem Hintergrund (…) Für viele Kaiser war der Anschluss an die frühere Kaiserfamilie wünschenswert, einmal wegen der von ihr kontrollierten Macht, aber wohl auch wegen des Nimbus, von dem ihre Mitglieder auf später noch umgeben waren“. Vgl. auch Hunger, Dynastieproblem (1994), für die Zeit bis ins 13. Jh. S. 271–279. Generell scheint es so zu sein, dass die Auf- und Abwärtsmobilität in der byzantinischen Gesellschaft aufgrund der geringeren Institutionalisierung von (wie im Westen) abgeschlossenenen Schichten stärker ausgeprägt als im Westen war. Dagron, pourpre (1994). Vgl. auch Lilie, Byzanz (2003), 236. Vgl. zu den Heiratsverbindungen allgemein Macrides, Marriages (1992); Frankopan, Kinship (2007). Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Sonderkrönungen: Festkrönungen, Selbstkrönungen, Mitkaiserkrönungen‘. Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 13, S. 828: ὡς γένει εὐπρεπέστατος καὶ κήδει βασιλείῳ περίδοξος. Lilie, Einführung (2007), 138.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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In den verbliebenen byzantinischen Gebieten sollten sich auch nach 1204 praktisch nur jene Herrscher durchsetzen können, die über verwandtschaftliche Bindungen an frühere Herrscherdynastien verfügten.335 Gleichwohl konnte sich die Verwandtschaft auch als Problem erweisen, dann nämlich, wenn ein anderer, noch lebender Prätendent die eigenen Ansprüche überstrahlte. Sicherlich hatte man hier mit Blendung, Entmannung, Klosterhaft, Verbannung oder schlicht Mord Mittel und Wege gefunden, diese Ansprüche zu beseitigen.336 Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang etwa der 1203 geflohene Kaiser Alexios III., der sich geradezu als eine Art „transkulturelles Faustpfand“ jener Mächte erwies, die in Konkurrenz zum lateinischen Kaiser imperialen Rang beanspruchten: Theodor I. Laskaris sah sich zunächst nur als Statthalter seines Schwiegervaters (Alexios III.) und führte deshalb konsequent allein den Titel eines Despoten.337 Bonifaz von Montferrat erlaubte auf Fürsprache seiner Frau Margarethe, Alexios III. nach Thessalien zu kommen. Bonifaz hatte somit hier – wie auch mit den Söhnen Margarethes – ein weiteres, aber weitaus effektiveres Druckmittel gegen den lateinischen Kaiser Balduin in der Hand, um seine Interessen durchsetzen zu können. Allerdings drohte Bonifaz dieses Pfand bald aus den Händen zu gleiten: Alexios schien all jene diplomatische Gerissenheit zu verkörpern, welche die Lateiner an den Byzantinern immer fürchteten, und suchte sich durch verschiedene Bündnisse mit griechischen Machthabern wahrscheinlich wieder in den Besitz einer gewissen kaiserlichen Würde zu setzen. Schließlich schob Bonifaz Alexios zusammen mit dessen Gattin nach Italien ab. Diese „Deportation“ eröffnete zwar für Theodor I. Laskaris den Weg zur Kaiserkrönung.338 Theodors Schwierigkeiten waren jedoch keineswegs beendet: Alexios III. kehrte nämlich nicht nur aus dem italienischen Exil zurück, sondern verband sich auch mit dem damals größten Feind Theodors, dem seldschukischen Sultan Ghiyath ad-Din Kai-Chusrau I.339 Ganz ähnlich wie zuvor Bonifaz von Montferrat diente Alexios nun dem Sultan als Mittel, um auf den lateinischen Kaiser Druck auszuüben. Auch generell kam dem Faktor „Verwandtschaft mit dem Kaiserhaus“ in Byzanz keine geringe Bedeutung zu.340 Soziales Kapital ging hier mit symbolischem Kapital eine bedeutende Verbindung ein.341 Die Kaiserähnlichkeit wurde auf diese Weise breit 335 336

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Vgl. Gerland, Geschichte (1905), 34f. Hiermit einher ging die „Ver-titelung“ der Herrschernamen, wie sich etwa in der Würde des „Großkomnenen“ zeigte. Vgl. für den westlichen Bereich etwa Bund, Thronsturz (1979), 171f., 189–191, 226–229, 338– 343, 533–544, 593–595, 759–765. Vgl. auch unten, Abschnitt ‚III.4 Aggressivität als besonderes Kennzeichen?‘. Entmannung und Klosterhaft dienten letztlich dazu, die genealogische Potenz zu beseitigen. Gerland, Geschichte (1905), 104. Gerland, Geschichte (1905), 105f. Vgl. im Folgenden Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 8–10, S. 74–77. Gerland, Geschichte (1905), 114. Vgl. grundlegend Schreiner, Réflexions (1991), v. a. S. 192f. Vgl. zum sozialen und symbolischen Kapital in der Tradition Pierre Bourdieus und zur Anwendung auf Phänomene des Mittelalters Burkhardt, Stab (2008).

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gestreut und war ein wichtiger Grund für die Pluralisierung der Kaiserwürde nach 1204. Aber auch dem Kaiser half die Verheiratung der eigenen Kinder mit den Angehörigen anderer wichtiger Familien und Persönlichkeiten dabei, die kaiserliche Machtbasis zu verbreitern. So erschien das byzantinische Reich ab dem 12. Jahrhundert geradezu als von einem Familienclan regiert, an dessen Spitze die Kaiserfamilie der Komnenen stand.342 Leitende Stellen in der Verwaltung wurden mit Verwandten des Kaisers besetzt, was vorher in Byzanz nicht üblich gewesen war.343 Die Dominanz verwandtschaftlicher Vorstellungen ging in Byzanz soweit, dass man auch die Beziehung zu anderen Herrschern durch die Ordnungsvorstellung einer familia regum zu fassen suchte.344 Ein Abschnitt im sogenannten „Zeremonienbuch“ des 10. Jahrhunderts gibt Einblicke in die byzantinische Sicht der Rangfolge benachbarter Mächte: der Papst führt den Titel eines „geistlichen Vaters“, „geistliche Kinder“ sind jene Herrscher, die mit Byzanz durch Heiratsbeziehungen verbunden waren (Bulgarien, Großarmenien, Alanien). Als unabhängig, aber eng beigeordnet, finden sich die „geistlichen Brüder“ Sachsen, Bayern, Italien, Deutschland und Frankreich. Gerade anhand der letzten Gruppe wird der geistige Abstand bzw. der Mangel an Kontakten deutlich, der zwischen dem byzantinischen Reich und dem westlichen Europa klaffte. Offensichtlich näher stand dem Kaisertum eine nicht bezeichnete Gruppe, die unter anderem auch Seestädte und ehemalige Stützpunkte – Venedig, Salerno, Neapel, Amalfi und Gaeta – umfasste.345 Hier schlägt sich das imperiale Erbe in seiner hybridisierten Form nieder. Deutlich wird an dieser „nicht unbedingt konsequent[en]“346 Liste deshalb nicht nur der hohe Stellenwert verwandtschaftsorientierter Vorstellungen, sondern auch die große Bedeutung des jeweils zugebilligten Ranges; an der generell übergeordneten Stellung des Basileus (eine Art pater familias) bestand keinerlei Zweifel. Dieses wirkmächtige Zusammenspiel zwischen Verwandtschaft und Rang, aber auch der Widerstreit unterschiedlicher Rangvorstellungen zwischen Ost und West zeigte sich ebenso bei den Protesten Liudprands von Cremona gegen seine Behandlung am byzantinischen Hof, als man ihm bedeutete, der Gesandte des bulgarischen Zaren stünde aufgrund der Hochzeit des Bulgarenherrschers mit einer byzantinischen Prinzessin letztlich über ihm – eine

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Lilie, Macht (1984), insb. S. 38–47; vgl. zu den separatistischen Tendenzen infolge dieser Politik ebd. und Oikonomides, décomposition (1992), XX 22; Jacoby, Byzantium (2001), VIII 2f.; vgl. zur Aristokratie dieser Zeit Cheynet, Pouvoir (1990), 261–286. Diese Entwicklung ähnelt frappierend der späten Herrschaft Friedrichs II.; vgl. hierzu Stürner, Friedrich II. 2 (2009), 488–496. Vgl. hierzu grundlegend Dölger, Familie (1940), und ergänzend zu Implikationen in der Realität Krautschick, Familie (1989). Vgl. zum geistigen Hintergrund Ostrogorsky, Emperor (1956), hier zur Familie der Könige S. 11–13; Lilie, Byzanz (1994), 131–134. Lilie, Einführung (2007), 145f. spricht diesbezüglich von „italienischen ‚Klientelstaaten’ des Reiches“. Vgl. zu Analyse des Zusammenspiels von Theorie und Praxis des Zeremonienbuchs Kresten, Staatsempfänge (2000). So treffend Lilie, Einführung (2007), 146.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Auffassung, die in Übereinstimmung mit dem Rang des geistlichen Kindes aus Bulgarien über dem geistlichen Bruder aus Sachsen stand.347 Das westliche Kaisertum war wegen des ihm zugrundeliegenden römischen Königtums durch eine Art Widerstreit zwischen den Prinzipien Erbrecht und Wahl gekennzeichnet. Stark war jedoch auch hier die Vorstellung einer dynastischen Verortung des Kaisertums, eines Anspruchs auf Weitergabe durch verwandtschaftliche Bindungen. Die höchste Ausformung des Konstrukts Verwandtschaft ist das direkte Erbrecht, das sich im westlichen Kaisertum als ausgesprochen wirkmächtig erwies: Nicht nur unter den Karolingern und Ottonen, sondern auch unter den Saliern und den staufischen Herrschern war der Erbgedanke in Bezug auf das Kaisertum prominent.348 Im Gegensatz zum byzantinischen Kaisertum war die Sukzession im westlichen Kaisertum – trotz immer wieder eintretender Konflikte – ausgesprochen stabil: so gab es hier keinen klaren Fall, in dem ein präsumtiver Thronfolger etwa zusammen mit dem amtierenden Kaiser beseitigt wurde.349 Zwei Faktoren bestimmten im westlichen Kaisertum diese Stabilität: die Möglichkeit, einen Nachfolger mit hoher Erfolgsaussicht durch die Wahl zum römischen König vivente imperatore gleichsam zu designieren350 und der Einfluss des Papsttums, das – auch aufgrund seiner Affinität zur Durchsetzung von Verfahrensförmigkeit – ein Interesse daran hatte, den gewählten römischen König auch zum Kaiser zu erheben. Entsprechend finden sich in westlichen Traditionen auch keine der Adoption und dem Purpurgeborensein entsprechenden Kategorien.351 Als einziger lateinischer Kaiser, der dies beanspruchen konnte, betonte Balduin II. seine Purpurgeburt.352 Möglicherweise ist hierin ein Hinweis auf die zunehmende Byzantinisierung des lateinischen Kaisertums zu erkennen, wie sie ebenso in den Urkunden und Siegeln Balduins II. zum Ausdruck kommt.353 Stark war jedoch im Westen die Vorstellung von der besonderen 347 348 349 350 351

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Liudprandi Relatio de Legatione Constantinopolitana. Ed. Becker, c. 19, S. 185f. Vgl. zur Gesandtschaft Liudprands selbst und den dort geschilderten „Aspekte[n] des Fremden” Rentschler, Liudprand (1981), 9–80. Vgl. zu den Entwicklungen in der salischen Zeit Weinfurter, Jahrhundert (2004), 25–48; zum sogenannten Erbreichsplan Heinrichs VI. Vones, Confirmatio (2002) und Thumser, Wille (2006) und zum Hintergrund Foerster, Prophet (2010). Sicherlich starben Thronfolger im Kindesalter. Es ist jedoch weitaus wahrscheinlicher, natürliche Umstände statt eines Verbrechens als Todesursache anzunehmen. Vgl. hierzu Büttner, Weg (2012), 50–53, der auf S. 52 betont, dass „die Erhebung der Söhne zu Mitherrschern stets unter Beteiligung und Zustimmung der Großen und zwar zumeist in problematischen oder unkalkulierbaren Momenten der Herrschaft geschah“. Ähnliche Gedankengänge gab es allenfalls bei der Thronfolge Ottos I. und eingeschränkt bei derjenigen Ottos II. Vgl. zu deren Herrschaftsantritt Keller / Althoff, Zeit (2008), 148–166 und 239–243. Explizit finden sich diese Konzeptionen in der Vita Mathildis reginae (posterior). Ed. Pertz, cc. 6 und 9, S. 287 und 289. Vgl. Burkhardt / Mersch / Ritzerfeld u. a., Hybridisierung (2011), 501f. Vgl. hierzu auch Longnon, Empire (1949), 178. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Siegel und Münzen‘.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

Auszeichnung, einem Geschlecht bzw. einer Familie kaiserlicher Vorfahren zu entstammen. Sie begründete auch eine gewisse „Kaiserfähigkeit“ der Nachkommen – vielleicht der reelle Grund für die Entwicklung der Vorstellung von einem Kaisergeschlecht.354 Diese Grundbedingung verwandtschaftlicher Verknüpfungen teilte das Kaisertum mit den verschiedenen Formen königlicher, fürstlicher, aber auch kommunaler Herrschaft.355 Eigenartig ist etwa die Widerspiegelung der Idee einer prosapia imperialis, die bei der Wahl Alfons X. durch die Kommune Pisa zum Ausdruck kommt: wegen seiner doppelt kaiserlichen Herkunft aus der recta linea, aus dem Haus des Herzogtums Schwaben, auf das sich das imperium erstrecke, und von Manuel Komnenos, könne er beide Reiche in einer Hand vereinen.356 Der starke Bezug auf das Erbrecht schien geeignet, der Vorstellungswelt auf der Iberischen Halbinsel zu entsprechen.357 Auch die Prätendenten auf den lateinischen Kaiserthron unterlagen dieser Bedingung. Allerdings gilt in Bezug auf ihr Verhältnis zu Designation und Dynastie, dass „westliche“ Vorstellungen von Schichten byzantinischer Elemente überlagert und zum Teil ergänzt wurden. Die Anforderungen, die 1204 an den lateinischen Kaiser von Konstantinopel gestellt wurden, waren denkbar allgemein gehalten.358 Es ist zwar möglich, dass auch Balduin von Flandern unter den Bedingungen einer freien Auswahl zum Römischen König und Kaiser des (westlichen) römischen Reiches gewählt worden wäre. Wahrscheinlich scheint es jedoch nicht, denn war er auch „der Vornehmste der

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Die Verwandtschaft mit regierenden oder ehemaligen Kaisern war auch im byzantinischen Machtbereich eines der wichtigsten Rangkriterien einer Familie. Vgl. hierzu abwägend Frankopan, Kinship (2007), insb. das Fazit S. 32–34. Vgl. für den Faktor „Verwandtschaft“ im normannischen Salerno Drell, Kinship (2002); vgl. allgemein zur Thematik in Abgrenzung zu anderen Erscheinungsformen den Krieger, Verwandtschaft (2009). Vgl. MGH Const. 2, Nr. 392, S. 491: vos cognoverunt esse natum de progenie domus ducatus Sueuie, ad quam de privilegio principum et de concessione Romane ecclesie pontificum imperium iuste et digne dignoscitur pertinere et successive ad vos, qui ex ea domo descenditis recta linea, et per vos, cum succedatis excelso Manueli olim Romanie imperatori, imperia abusive divisa in unum videantur posse colligi et in vobis divinitus cohuniri, sicut tempore Cesaris et Constantini christianissimi fuit unum. Vgl. zur Interpretation Meyer, Kastilien (2002), 128f., der sehr richtig auf den Kunstgriff des „Herzoghauses Schwaben“ verweist, mit dem das Problem „Staufer“ umgangen wurde. Vgl. auch die Aussage der Marseiller Gesandtschaft, die betonte, Alfons X. sei besonders geeignet, da er de stirpe imperiali tam Romana et Constantinopolitana quam Yspana entstamme (MGH Const. 2, Nr. 395, S. 498). Meyer, Kastilien (2002), 131 meint hierzu: „Die kastilischen Bemühungen, sich sowohl dem byzantinischen als auch dem staufischen Kaisertum anzunähern, wurden von außen wahrgenommen und anerkannt“. Die Marseiller wollten – auch dies ein Indikator für die Stärke erbrechtlicher Vorstellungen – Alfons und seine Erben anerkennen: tam sibi quam filio eius et heredi in hoc honore succedenti (MGH Const. 2, Nr. 395, S. 498). Meyer, Kastilien (2002), 129. Vgl. oben, Anm. 324.

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französischen Grafen“359, so war er doch nur Graf. Ähnliches lässt sich für den anderen Prätendenten, Bonifaz von Montferrat, sagen. In outremer galten jedoch andere Maßstäbe.360 So waren beide, Balduin und Montferrat, mit dem Raum vor Ort vertraut, beide galten als erfahrene Heerführer – Schlüsselqualifikationen für die Leiter eines Kreuzzugsunternehmens.361 Auch Kaiser Peter von Courtenay war erfahrener Kreuzfahrer und Heerführer.362 Später sollte ihm Johann von Brienne, der ehemalige Regent des Königreiches von Jerusalem, folgen. Entscheidend für die Kaiserwahl im lateinischen Konstantinopel wurde jedoch das jeweilige soziale Kapital und die damit verbundene Richtungsentscheidung: So entsprach Balduin eher der frankophilen Parteiung des Kreuzfahrerheeres, während Bonifaz als staufischer Parteigänger und Vertreter der Lombarden galt.363 Deutlich erkennbar wird dies an der Anbindung der Dynastie Balduins an die Herrscherfamilie Frankreichs: Die Frau Kaiser Balduins I., Marie von Champagne, war Enkelin König Ludwigs VII. von Frankreich; Kaiser Peter von Courtenay war der Neffe König Ludwigs VI. von Frankreich, sein Vetter somit Philipp II. Augustus. Die Familie der Montferrat war auf vielfältige Weise bereits mit dem byzantinischen Machtbereich und

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Gerland, Geschichte (1905), 1. Vgl. zu Balduins Abstammung und bisherigem Lebensweg Wolff, Baldwin (1952), 281–288. Auf die wohl nicht ganz fiktiven Kalkulationen Enrico Dandolos hinsichtlich der Wahl des ersten Kaisers wies Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 6, S. 789 hin: πηρὸς γὰρ ὢν οὗτος τὰς ὄψεις, καὶ τοῦ κλήρον κατὰ τοῦτο τῶν ἀρξόντων διαγραφείς, ἠβούλετο χειρίζειν τὴν βασιλείαν τὸν τὸ ἦϑός τε ἱλαρώτατον καὶ μὴ τὸ φρονεῖν ἀρχικώτερον, τὸ δʼἐν μείζονι παρʼ ἐκείνῳ μᾶλλον σπουδῇ, καὶ τὴν ἰδίαν χώραν κληρούμενον τῶν τῆς Βενετίας ὅρων διισταμένην κατὰ πολύ, ὡς εἴ ποτε διχονοήσειαν ἀλλήλοις βασιλεὺς καὶ Βενέτικοι, μὴ εἴη ἐκ τοῦ σχεδὸν βασιλεῖ δυνάμεις πλείους οἰκειακὰς μεταπέμπεσϑαι ἢ γοῖν εὐμαρῶς εἰσιέναι τὰ Βενετίκων ὅρια καὶ ταῦϑʼ ὁπωσδὴ κατατρέχειν καὶ σίνεσϑαι, ἃ δὴ πάντα ᾔδει πρὸς ἰσχύος ἔχοντα δρᾶν τὸν Βονιφάτιον μαρκέσιον ἐκ Λαμπαρδίας τὴν γένεσιν ἔχοντα („Da er blind und deshalb verhindert war, selbst gewählt zu werden, wollte er, dass ein heiter-umgänglicher und nicht herrschsüchtig-ehrgeiziger Mann das Kaisertum erhalte, noch mehr Wert aber legte er darauf, dass der zu Wählende sein eigenes Land weit weg vom Gebiete der Venetiker habe, damit er, sollte es einmal zu einem Zerwürfnis zwischen den Venetikern und ihm kommen, nicht gleich aus der Nähe Verstärkung von seinen eigenen Leuten holen oder mit Leichtigkeit in das Gebiet Venetias einbrechen, es durchstreifen und verwüsten könnte, was alles - wie er wusste – der Markesios Boniphatios aus Lambardia zu tun imstande gewesen wäre“). Vgl. zu Balduin und seiner Einordnung in den Hintergrund seiner Familie und der anderen Inhaber des lateinischen Kaisertitels etwa Ciggaar, Counts (1990). Vgl. ebenso zu Bonifaz Brader, Bonifaz (1907). Er hatte nicht nur an der Seite Philipps II. Augustus am 3. Kreuzzug teilgenommen, sondern auch an den Albigenserkriegen und kämpfte in der Schlacht von Bouvines. Vgl. Longnon, Empire (1949), 153f. und Nicol, Fate (1988), 377–380 zu den Umständen seines Todes. Vgl. etwa Madden / Queller, Crusade (1997), 25f.

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dem Kaiserhaus verbunden.364 Darüber hinaus gab es Bindungen zum staufischen Haus: Bonifaz von Montferrat war bereits vor der Eroberung Konstantinopels durch Philipp von Schwaben als Beschützer des Prinzen Alexios eingesetzt worden365; diese Art „Designation“ durch den römisch-deutschen Herrscher beförderte durchaus den Rang des Markgrafen in Richtung Kaisertum.366 Kurz nach der Eroberung Konstantinopels unterstützte er seine Ansprüche auf den Kaiserthron durch die Heirat mit Margarethe / Maria von Ungarn, der früheren Gattin des Isaak II. Angelos.367 Auch das spätere Projekt einer Heirat von Bonifaz’ Tochter Agnes mit Kaiser Heinrich konnte die Ansprüche der Montferrat auf einen kaisergleichen Rang festigen.368 Bedeutend für die Kaiserwahl war jedoch letztendlich das Placet Venedigs – einmal mehr spielte die Serenissima das Zünglein an der Waage: für sie war Bonifaz nicht nur ein gefährlicher Konkurrent in Norditalien, sondern auch zu eng mit dem byzantinischen Kaiserhaus verbunden, zu stark schien sein Rückhalt in Konstantinopel.369 Möglicherweise hätte der Markgraf als Brückenbauer zwischen Ost und West fungieren können. Sein Scheitern präjudizierte im Rückblick auch das Misslingen des lateinischen Kaiserreiches. Erst einmal etabliert, überwogen im lateinischen Kaiserreich die dynastischen Elemente, wenngleich das Reich prinzipiell eine Wahlmonarchie blieb. Neben seiner allgemeinen Eignung war es nämlich vor allem seine Eigenschaft als Bruder Balduins I., 364

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Die Herrschaftsrechte Bonifaz‘ auf Thessaloniki wurden aus einer angeblichen Verleihung des Königsranges durch Kaiser Manuel I. Komnenos an Bonifaz‘ Bruder Rainer anlässlich dessen Hochzeit mit einer Tochter Manuels begründet. Vgl. hierzu Lock, Franks (1995), 37 und Linskill, Poems (1964), 227 und 309. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 112, S.114: Et il fit son tré tendre enmi l’ost, et li marchis de Monferrat le suen delez en cui garde le roi Phelippe l’avoit conmandé, qui sue seror avoit a fame („Und er [scl. Alexios] ließ sein Zelt in der Mitte des Heerlagers aufschlagen und der Markgraf von Montferrat, in dessen Obhut der König Philipp, der dessen Schwester zur Gemahlin hatte, ihn gegeben hatte, das seinige daneben“). Man sollte jedoch nicht soweit gehen, einen staufischen Plan zur Beseitigung des byzantinischen Kaisertums zu unterstellen. Vgl. für die Zeit Heinrichs VI. Pokorny, Kreuzzugsprojekt (2006). Für manche Griechen war Bonifaz der eigentlich rechtmäßige Herrscher. Vgl. etwa den Bericht Villehardouins anlässlich der Auseinandersetzungen zwischen Bonifaz und Kaiser Balduin um Thessaloniki: Et lors comencent li Grieu a lui a torner par l’acointement de l’empereris, et, de tote la terre de la entor, a une jornee ou a deus, venir a sa merci (Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 279, S. 88; „Dann begannen die Griechen, da sie um die Kaiserin [Maria / Margarethe] wussten, sich ihm [Bonifaz] zuzuwenden und ergaben sich seiner Herrschaft aus allem Land eine oder zwei Tagesreisen ringsumher“). Auch deshalb schlussfolgert Lock, Franks (1995), 37: „Boniface’s own marriage in May / June 1204 (certainly after Baldwin’s coronation on 16 May) with Margaret of Hungary, the widow of the Byzantine emperor Isaac II Angelos, must have had more to do with his expectations in Thessalonika and Greece than with any belated hope of gaining the imperial throne. He certainly used his wife’s former position and her children by Isaac to bolster his own position with the Greeks and to exploit his new kingdom”. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 60. Vgl. oben, Anm. 180.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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die Heinrich die Würde eines lateinischen Kaisers einbrachte.370 Verstärkt wurde dieser Trend unter den Nachfolgern Heinrichs Obwohl stets die Barone wählten, erhielt derjenige den Kaiserthron, dem er in der regulären Erbfolge zugefallen wäre.371 Dies bedingte auch im lateinischen Kaiserreich eine ähnlich überragende Bedeutung der jeweiligen Kaiserwitwe bzw. Kaisertochter als Trägerin von Herrschaftsansprüchen wie die Königin im Königreich Jerusalem.372 Hier wie dort war nämlich der reproduktive Erfolg der jeweiligen Monarchen durchaus eingeschränkt, da ein entsprechendes „Springen“ in die Seitenlinien wie in den Reichen des Westens „mangels Masse“ nicht möglich war oder aber, weil sich die meist in der Heimat zurückgebliebenen engsten Verwandten nicht aufraffen konnten, das Erbe anzutreten – ein typisches Problem der Kreuzfahrerherrschaften. Dann schlug die Stunde der Wähler und die Stunde der Frauen als Trägerinnen von Rechten. 373

I.3.2 Herrschaftsbereiche und Herrschaftsfunktionen Es gibt also – soviel ist festzuhalten – einige Wege, die Rangschwelle zu überschreiten und Kaiser zu werden. Der Vielfältigkeit der Wege entspricht die Vielfältigkeit der Traditionen. Diese Vielfältigkeit führt aber auch zu einer gewissen Uneindeutigkeit: „Kaiser“ ist nicht gleich „Kaiser“. Dennoch erkennt man gemeinsame Elemente der Legitimation: So wurde beispielsweise die große Rolle militärischen Erfolges und insbesondere der Herrschaft über bestimmte Zentralorte deutlich. Beide Legitimationskomplexe blieben im byzantinischen Kaisertum stark ausgeprägt und zeitigten auch bei der Etablierung des lateinischen Kaisertums Wirkung. Eine legitimatorische Grundkonstante war die Wahl: Ein Kaiser wurde direkt oder indirekt gewählt, wobei dynastische Elemente eine vorentscheidende Wirkung entfalten konnten. Die Frage des Wahlgremiums ist – trotz gewisser Verfestigungstendenzen im römisch-deutschen Bereich – jedoch gerade wieder im 13. Jahrhundert im Fluss begriffen. Der Hauptunterschied zwischen „Ost“ und „West“ zeigt sich beim Anteil des Papsttums: Vor allem aufgrund seines Einflusses erlangte das römisch-deutsche Kaisertum eine Stabilität, die das byzantinische nie aufweisen konnte. Spezifizieren und erweitern wir deshalb auf den Bereich des Hochmittelalters und das Westkaisertum: Legitimer Kaiser ist derjenige, der diesen Titel beansprucht, auf anerkannte Weise – unter Zitation aus einem Fundus allgemein anerkannter 370 371 372 373

Heinrich nannte sich während seiner Regentenzeit auch häufig „Bruder des Kaisers“. Vgl. unten, Abschnitt ‚Titel und Hierarchiegenese‘. Auf Heinrich folgten der Mann seiner Schwester Jolante, Peter von Courtenay, auf Peter dann seine Söhne Robert und Balduin II. Vgl. hierzu Mayer, Pontifikale (1967), etwa S. 200f. zu der Heirat Friedrichs II. mit der Erbin des Königreichs Jerusalem, Isabella. Jaspert, Jerusalem (2005), 64; vgl. generell Phillips, Konfliktlösungen (2001).

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legitimatorischer Elemente – den kaiserlichen Rang erwirbt und hierin von einem Papst anerkannt wird. Ein wichtiges Element könnte auch die Anerkennung durch den französischen oder englischen König darstellen. Denn entscheidende Charakteristika des Kaisertums sind ein zumindest die auctoritas betreffender Vorrang gegenüber anderen Königen und eine Art Ranggleichheit mit dem Papsttum in verschiedenen Funktionsbereichen.374 Um die Charakteristika kaiserlicher Herrschaft besser fassen und zugleich auch das lateinische Kaisertum einordnen zu können, gilt es nun, einige Punkte zu betrachten, die – in enger Wechselwirkung mit verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen – die Spezifika kaiserlicher Herrschaft, vor allem im Unterschied zur königlichen Herrschaft, ausmachten. Außen und Innen Kaiserliche Herrschaft scheint sich dadurch auszuzeichnen, dass sie insbesondere die Differenz von „Außen“ und „Innen“ auflöst.375 Königliche Herrschaft ist stets auf ein regnum, einen bestimmten, mehr oder minder abgrenzbaren Bereich königlichen Wirkens beschränkt.376 Dies gilt auch grundsätzlich für die Formen hegemonialen und kaisergleichen Königtums. „Außen“ und „Innen“ sind hier recht klar zu scheiden377, selbst wenn das regnum die Formen eines Imperiums im modernen Sinn annimmt. Ein regnum muss also nicht großräumige Herrschaftsansprüche subsumieren, kann sich jedoch zu einem Imperium „aufblähen“. Kaisertum und kaiserliche Herrschaft sind hingegen seit römischer Zeit per definitionem auf ein Imperium bezogen, und einem Imperium ist wiederum die Vorstellung großräumiger Herrschaft inhärent. Diese großräumige Herrschaft kann aber immer noch als Teil eines größeren Ganzen („Welt“) verstanden werden. Werden diese Herrschaftsansprüche realisiert, kann man – ebenso wie bei einem einen Großraum umfassenden regnum – von hegemonialer Herrschaft sprechen. In ihrer höchsten theoretischen Ausformung wird die Grenze zwischen „Außen“ und „Innen“ jedoch in der Sphäre der Virtualität aufgehoben: Das Imperium umfasst dann in der Theorie die gesamte Welt, der Kaiser übt in seinem Anspruch Weltherrschaft aus.378 Erstaunlicherweise ist diese virtuelle Überhöhung mitunter umso stärker ausgeprägt, je geringer die reale Macht 374 375

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Stürner, Wesen (2003), 15–19. Vgl. zum Gehalt der auctoritas im 13. Jahrhundert auch Burkhardt, Autorität (im Druck). Vgl. zum Komplex der „Außenpolitik“ / Außenbeziehungen im Mittelalter exemplarisch Berg, England (1987), 1–17 sowie Berg, Imperium (1988); Huffman, Politics (2000), sowie die Beiträge in Berg / Kintzinger / Monnet, Politik (2002), insb. Jaspert, Wort (2002), 272–274, Kintzinger, Kaiser (2002), 136. Jäschke, Reichskonzeptionen (1982); Beumann, Unitas (1987), insb. S. 569–571. Dies bedeutet nicht, dass die Zeitgenossen zwischen Innen- und Außenpolitik unterschieden, das Bewusstsein für den eigenen Herrschaftsbereich und den Beginn fremder Herrschaft war gleichwohl da. Vgl. hierzu Jostkleigrewe, Politik (2010), 4f. Vgl. hierzu Burkhardt, Barbarossa (2010).

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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ist.379 Die Probleme bei der Interpretation kaiserlicher Herrschaft könnten darin liegen, dass das Kaisertum zu sehr an diesen virtuellen Ansprüchen gemessen wird.380 Die Reichsgrenze ist im politischen Sinne der Ort, an dem Virtualitätskonstrukte kaiserlicher Herrschaft einer Probe unterzogen werden: Wird die Grenze auch in der theoretischen Reflexion anerkannt oder negiert?381 Welchen Status hat dann der Raum jenseits der Grenze? Wie wird dort Macht ausgeübt? In römischer Auffassung war dieser Raum der Bereich der „Barbaren“. Dieses diffuse Konstrukt eines „Barbarenlandes“ muss jedoch nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, sondern kann auch durchaus hoch entwickelte Kulturen umfassen.382 Wie wird diese Tatsache theoretisch verarbeitet? Eine Möglichkeit lieferte die augusteische Ära mit ihrer Verbindung von Römern, römischem Kaisertum (in der Nachfolge des Augustus) und Weltherrschaft. Sie findet eine ihrer klassischen Formulierungen in dem Vers Vergils: tu regere imperio populos, Romane.383 Unbegrenzt in Raum und Zeit schien das imperium sine fine der Römer, der domini rerum, dem Volk in der Toga.384 Man hob hier die Grenze als Kategorie auf, immunisierte so das virtuelle Konstrukt gegen rationale Überprüfung. Auf eine andere Möglichkeit hat Robert Holtzmann hingewiesen. Er suchte das Verhältnis von Weltherrschaftsgedanke bzw. -anspruch und der „vollen Souveränität der westeuropäischen Staaten“ zu eruieren, den er im Gegensatz von potestas (der wirklichen Amtsgewalt) und auctoritas (dem höheren Rang und Ansehen) zu finden glaubte.385 Mit anderen Worten: auch durch die Aufhebung der Kategorie der realen Amtsgewalt kann kaiserliche Herrschaft in die Sphäre der Virtualität überführt werden. Ein solches Denken war umso einfacher, da dem Mittelalter klare Dichotomien fremd gewesen zu sein schienen: Ein Kaiser konnte de iure immer noch über das Rö379 380 381 382

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Vgl. für China etwa Ess, Kaisertum (2012). Vgl. zur Virtualität auch unten, Abschnitt ‚I.4 Zwischenfazit: Mediterranes Kaisertum – Virtuelles Kaisertum‘. Vgl. zur Thematik der Grenze die Anmm. 13 und 451. Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 34 verweist etwa auch auf das Perserreich. Vgl. zum Barbarendiskurs in den spätantiken Quellen Rummel, Habitus (2007), 65–82, in Byzanz etwa Lechner, Hellenen (1954), 73–128; vgl. aber zu den Beziehungen über die „Grenzen“ hinweg Claude, Begründung (1989); vgl. auch Goffart, Theme (1989). P. Vergilius Maro, Aeneis. 5. und 6. Buch. Ed. Binder / Binder, lib. 6, v. 851, S. 144. P. Vergilius Maro, Aeneis. 1. und 2. Buch. Ed. Binder / Binder, lib. 1, v. 278ff., S. 28: his ego nec metas rerum nec tempora pono: imperium sine fine dedi (…) fovebit Romanos, rerum dominos gentemque togatam. Vgl. zu Interpretation und Hintergrund Mehl, Imperium (1994), 431–464. Vgl. auch Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 7f., nach dem der Weltbegriff der Römer „keine geographische Größe im Sinne des Globus, sondern kulturspezifisch konnotiert [war]: Das Imperium definierte die Grenzen der Welt und damit der herrschenden Zivilisation und ihrer Einflussgebiete“. Auch durch die umgebenden „Satellitenherrschaften“ reichte das Imperium „immer über die niemals klar definierten Grauzonen des Gebiets hinaus, das die Römer in Form von Provinzen ihrer direkten Herrschaft unterstellt hatten“. Vgl. auch etwa Holtzmann, Dominium (1942), 191–200.

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mische Reich in seiner einstigen Ausdehnung herrschen, auch wenn der Bereich realer Macht damit nicht übereinstimmte. Ähnliche Denkfiguren findet man in Byzanz (Könige als „Stellvertreter“ des Basileus, die familia regum)386 oder in der römischen Kirche mit ihren Titularbistümern – ganz zu schweigen von den Gedankengängen der Konstantinischen Schenkung.387 Neben diesen Ansprüchen konnten auf einen bestimmten Raum bezogene Herrschaftsansprüche anderer Instanzen aufgestellt und anerkannt werden. Eine Parallele wäre etwa die aus der Landesgeschichte bekannte Problematik vielfältiger Überlappungen von Herrschaftsansprüchen auf regionaler Ebene. Was von diesen theoretisch möglichen Rechten jeweils eingefordert oder was davon auch abgelehnt wurde, war durchaus eine Art flexibles „Tagesgeschäft“; wo und wie schließlich auch reale Herrschaft entfaltet wurde, ist wiederum eine andere Frage. Sicherlich sind jedoch die Weltherrschaftsansprüche in ihrer virtuellen Dimension auch nicht zu unterschätzen, etwa wenn sie zur Legitimation kriegerisch-politischer Konflikte herangezogen wurden. Das Abschütteln kaiserlicher Oberherrschaft konnte einen Aufständischen beispielsweise in die Nähe des Schismatikertums rücken; so schrieb etwa Bernhard von Clairvaux an Kaiser Lothar III., es sei die Aufgabe des Vogtes der römischen Kirche, gegen Schismatiker vorzugehen und seine Krone gegen den sizilischen Usurpator [Roger II.] zurückzufordern.388 Wichtiger als eine wie auch immer geartete reale Weltherrschaft (im Sinne geschlossener Gebietsherrschaft) scheint für Kaiser oder kaisergleiche Potentaten aber eher der inszenatorische Charakter großräumiger Herrschaft gewesen zu sein, der sich in der Stellung über viele Könige oder viele Völker auskristallisierte.389 Über die Qualität und Tiefe der eigentlichen Herrschaft, etwa ob sie vereinheitlichende Tendenzen implizierte oder Idealen der „Toleranz“ folgte, wird hiermit nichts ausgesagt. Bereits zu republikanischer Zeit hatte es im römischen Reich die Übergabe besiegter Reiche an Könige von Roms Gnaden gegeben390, andere Herrschaftsgebiete wurden mehr oder minder lose der Hoheit Roms bei- und untergeordnet. Diese beiden Elemente der römischen imperialen Ordnung391 blieben nicht ohne Folgen auf die römischen Weltherrschaftsvorstellungen : Die Machtausübung Roms im 2. Jahrhundert vor Christus forderte nämlich von den hegemonialisierten hellenistischen Mächten eine enge Abstimmung ihrer Außenpolitik, weshalb stets zahlreiche Gesandtschaften vor dem Senat vorzusprechen wünschten.392 386 387 388 389 390 391 392

Vgl. Lilie, Einführung (2007), 142–146. Vgl. als eine der jüngeren Publikationen: Fried, Donation (2007). Vgl. den Brief Bernhards von Clairvaux an Kaiser Lothar III. (Bernhard von Clairvaux, Werke. Ed. Winkler, 335): est tamen, – securus dico –, advocati Ecclesiae arcere ab Ecclesiae infestatione schismaticorum rabiem. Vgl. demgegenüber Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 117: „Imperium ist tatsächliche Macht über Völker und Könige“. Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 19; Vgl. Dahlheim, Gewalt (1977), etwa S. 272. Vgl. zum Begriff der „imperialen Ordnung“ unten, Abschnitt ‚II. Imperiale Ordnungen‘. Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 23.

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Entsprechend verfestigte sich diese Vorstellung – letztlich der huldigenden Provinzen – zu einem festen Bild. In der Spätantike war die Vorstellung supragentiler Herrschaft dadurch gestärkt worden, dass die römischen Kaiser Teile der gentilen Verbände innerhalb der Reichsgrenzen als foederati in den bedrohten Grenzregionen ansiedelten.393 Zunehmend konnten diese Verbände die Bedingungen diktieren, sodass die Oberherrschaft des Kaisers in die Sphäre der Virtualität abdriftete. Theoretisch anerkannten die germanischen Königreiche der Völkerwanderungszeit aber noch längere Zeit die Überordnung des römischen Kaisers, wie sich auch an ihren Münzprägungen ablesen lässt.394 Die byzantinischen Kaiser folgten den spätantiken Traditionen, suchten jedoch die kaiserlichen Ansprüche auf großräumige Herrschaft nicht vollständig in der virtuellen Sphäre zu belassen, sondern zumindest ansatzweise in die Realität zu überführen: Durch Geschenke an umliegende Machthaber wurde das Reich von einem Kranz abhängiger „Klientelstaaten“ umgeben.395 Die inszenierungsfähige Anerkennung der generellen Überordnung des Basileus schien jedoch auch hier weitaus wichtiger zu sein als die reale Machtausübung, die in diesen Modi gar nicht möglich war. Die Kategorie der Grenze wurde so auch hier aufgehoben, ebenso die Frage nach der potestas, wo auctoritas genügt. Wichtig blieb jedoch die klare Kennzeichnung des supraregnalen und supragentilen Ranges des Basileus. Entsprechend dieser Traditionen konnte auch der Chronist Akropolites über Johannes Dukas schreiben: „Johannes hatte also vor kurzem das Szepter der Kaiserwürde erhalten. Er sah, daß die Herrschaft der Rhomäer ganz und gar darniederlag, und konnte es nicht ertragen, daß er über nur so wenige als Kaiser herrschte: daher eröffnet er nach Ablauf von zwei Jahren einen Krieg gegen die Italiener“.396 Mit der Etablierung einer supraregnalen Stellung lässt sich auch das Kaisertum des Theodor Komnenos Dukas erklären, der sich 1227 nach seiner Eroberung Thessalonikis zum Kaiser krönen ließ.397 Auch im Westen war die Vorstellung einer supraregnalen und supragentilen Herrschaft tief in den Konzeptionen vom Kaisertum verwurzelt.398 Für die Kommune von Pisa schien Mitte des 13. Jahrhunderts die vermeintliche hegemoniale Stellung eines Königs einer der Hauptgründe, ihm die Kaiserwürde zuzusprechen, denn Alfons X. war

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Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 42. Lilie, Einführung (2007), 142. Vgl. zu den Geschenken Schreiner, Geschenke (2004), v. a. S. 265–268. Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 22, S. 88: ̒Ο μὲν οὖν βασιλεὺς ʼΙωάννης ἄρτι τῶν σκήπτρων ἐπειλημμένος καὶ κομιδῇ ἐν στενῷ οὖσαν τὴν τῶν ̒Ρωμαίων τεϑεαμένος ἀρχήν, οὐκ ἀνασχόμενος ἐν πολλοστοῖς βασιλεύειν, δύο παραδραμόντον ἐνιαυτῶν μάχην ποιεῖται μετὰ τῶν ʼΙταλῶν. Vgl. oben, Anm. 139. Vgl. etwa zur Zeit Friedrich Barbarossas Töpfer, Reges (1974); vgl. zur Kompetenz von Königserhebungen, die sich die Kaiser mit den Päpsten teilen mussten, Hirsch, Recht (1962).

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für sie excelsiorem super omnes reges399. In den Herrscherlaudes kommt die Idee der Herrschaft über viele Völker bereits frühzeitig zum Ausdruck.400 Davon blieb auch das Zeremoniell nicht unbeeinflusst: So wird im ersten Gebet der Kaiserweihe „Deus in cuius manu“ der Wunsch geäußert, dass die Herrschaft des Kaisers „alle Königreiche überstrahle“.401 Konrad II. wurde 1027 in Anwesenheit der Könige von Burgund und Dänemark gekrönt.402 Die hegemoniale Position konnte sich auch in anderen Medien und Arenen niederschlagen. Hier sei nicht nur an die Miniaturen ottonischer Herrscher mit den huldigenden Provinzen erinnert. Ebenso versinnbildlichte die Stellung von Hilfskontingenten durch Nachgeordnete die kaiserliche Position. Insbesondere bei den Versuchen Friedrichs II., Mailand niederzuschlagen, waren Kontingente „aus aller Herren Länder“ involviert, die den Staufer nicht nur militärisch unterstützten, sondern auch sein großräumiges Einflussgebiet – wenngleich nicht seinen Herrschaftsbereich – zum Ausdruck bringen sollten.403 Auch der lateinische Kaiser benötigte nach westlicher Vorstellung für wahres Kaisertum, das sich durch supraregnales Herrschertum auszeichnete, mindestens einen König, den König von Thessaloniki, unter sich. Hinzu traten mehrere Herzogtümer und kleinere Herrschaften.404 In der virtuellen Sphäre wurde somit ein Kaisertum nach westlichen Vorstellungen „maßgeschneidert“. Gleichwohl beanspruchte der lateinische Kaiser keine Weltherrschaft in byzantinischer Nachfolge.405 Dies kam auch in der Selbsttitulatur zum Ausdruck.406 Vom Papsttum wurde eine universale Gleichrangigkeit des lateinischen Kaisers praktisch nicht anerkannt, der Papst nannte ihn fast durchweg

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MGH Const. 2, Nr. 392, S. 491. Bereits die vorherige (Ebd., S. 490f.) Nennung der Königstitel Alfons‘ zeigt, dass er zum Zeitpunkt der Wahl eine supraregnale – praktisch kaisergleiche – Stellung innehatte: dominus Alfonsus dei gratia rex Castelle, Toletus, Legionis, Gallethie, Sibilie, Cordube, Murscie et Gienne. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 99. Vgl. etwa KO IV, Nr. 1, S. 10: Deus in cuius manu corda sunt regum inclina ad preces humilitatis nostrae aures misericordiae tuae, et imperatori nostro famulo tuo ill. regimen tuae appone sapientiae, ut haustis de tuo fonte consiliis et tibi placeat et super omnia regna praecellat. Wipo, Vita Chuonradi imperatoris. Ed. Bresslau, 36. Matthaeus Parisiensis, Chronica majora. Ed. Luard, ad a. 1238, S. 485f. und 491f. Annales Placentini Gibellini. Ed. Pertz, ad a. 1238, S. 479. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚III.2.1 Herrschaftserfassung‘. Vgl. etwa den Brief Heinrichs an seinen Bruder Gottfried, in dem er seinen Herrschaftsbereich folgendermaßen umschreibt: (Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 176, S. 37): Quantum honorem quantamve gloriam terra Flandrie et Hainonie, totaque progenies nostra in eternum in captione Constantinopolitani Imperii sit adepta, non solum in terram nostram, verum etiam per quatuor mundi climata, divina potentia credimus esse delatum. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Titel und Hierarchiegenese‘ und Brezeanu, Zweikaiserproblem (1978), 256–258. Vgl. dagegen aber Tricht, Gloire (2000), 226f.

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Constantinopolitanus imperator407. Diese Titulierung ist auch Folge einer allmählichen Änderung der päpstlichen Kaisertheorie: Statt entsprechend der Lehre von der translatio imperii an einem Reich festzuhalten, wurde nun in zunehmendem Maße der Theorie der divisio imperii folgend das Vorhandensein zweier Kaiserreiche anerkannt – unter Hintanstellung von deren universellen Ansprüchen. Was der lateinische Kaiser hingegen postulierte, war Hegemonie im Bereich des ehemaligen byzantinischen Reiches.408 Aber auch diese war nicht einfach zu erlangen und zu verteidigen, da er durch den Teilungsvertrag unter anderem den Venezianern eine nicht unerhebliche Beteiligung am Kaiserreich eingeräumt hatte. Auch der Doge postulierte großräumige Herrschaft: Enrico Dandolo führte etwa den Titel Venetie, Dalmatie atque Crovatie dux.409 Ein wichtiger Aspekt supragentiler Herrschaft wurde bislang eher weniger berücksichtigt: Die Herrschaft über viele Völker und die Vorstellung großräumiger Herrschaft war nämlich auch mit der Herrschaft über viele Religionen verbunden.410 Dies musste jedoch nicht automatisch zu einer wie auch immer gearteten „Toleranz“ oder einer Stellung des Herrschers zwischen bzw. über den Kulturen und Religionen führen.411 Der Kern der Herrschaft blieb meist recht streng „rechtgläubig“ der lateinischen bzw. orthodoxen Kirche verbunden. Die Herrschaft über viele Religionen trug vielmehr, im Gegensatz zu einer realen Machtstellung, ähnlich inszenativen bzw. inszenierbaren Charakter wie die supraregnale Stellung. Der Grund für diesen kaiserlichen Anspruch lag auch hier in der Herkunft aus der römischen Zeit: Die Ausweitung des Imperium führte automatisch zu einer Herrschaft über viele Religionen, die durch eine Art „negative Toleranz“ integriert wurden. Mit der Christianisierung kam es zum Zwiespalt: Zum einen blieb die Herrschaft über viele Religionen untrennbar mit dem Kaisertum verbunden, zum anderen jedoch wurde nun vom Kaiser die Sorge um die christliche Religion erwartet. Auch spätere Ausweitungen einer großräumigen Herrschaft im Mittelmeerraum führten zur Herrschaft über und zum Kontakt mit anderen Religionen, brachten die jeweilige Herrscher – wie etwa Alfons VII. – in Kaisernähe.412 Folgte der jeweilige Leiter der Herrschaftsorganisation jedoch dem römischen Ideal der religiösen Neutralität, setzte er sich – wie die Normannen Siziliens und in ihrem Gefolge auch Friedrich II.

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Prinzing, Brief (1973), 404. Tricht, Gloire (2000), 214 und v. a. Brezeanu, Translatio (1975), 615. De oorkonden der graven van Vlaanderen. Ed. Prevenier, Nr. 267, S. 555. Vgl. unten, die Abschnitte ‚II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnung‘ und ‚III.1 Über oder zwischen den Religionen?‘. Vgl. zur Hinterfragung des Toleranzbegriffs exemplarisch für den normannischen Bereich Houben, Tolerierung (1993); Houben, Möglichkeiten (1994) und Koller, Toleranz (1998). Vgl. zum politischen Hintergrund Houben, Integration (2005). Vgl. die Selbstbezeichnung Alfons’ VI. von Kastilien-León als „Kaiser beider Religionen“ und Imperator, constitutus super omnes Hispaniae nationes (Herbers, Geschichte (2006), 141) und zum weiteren Kontext Reilly, Kingdom (1998).

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– dem Vorwurf aus, kein rechtgläubiger Christ zu sein.413 Diese zunehmende Verhärtung ist sicherlich eines der Kennzeichen des 13. Jahrhunderts und folgte einer Verfestigung der Papstkirche.414 Heilsgeschichtliche Funktionen Eine der Hauptfragen, die bezüglich des Kaisertums zu beantworten ist, ist diejenige nach seiner religiösen Legitimation und der Erfüllung heilsgeschichtlicher Funktionen. Auch dieser Aspekt unterscheidet sich je nach Kulturraum und entsprechender Tradition erheblich.415 Diese Unterschiede können jedoch auch einen Anhaltspunkt für eine moderne Typenbildung bieten. So kann man von einem „vollwertigen“ Kaisertum wohl vor allem dann sprechen, wenn der Herrscher gewisse Rechte innerhalb der Gesamtkirche beansprucht. Bereits in seinen antiken Wurzeln sind dem kaiserlichen Amt – oder vielmehr: der losen Kombination verschiedener Ämter im Prinzipat – verschiedene Quellen der Sakralität inhärent: Dies betrifft nicht nur die Amtssakralität, die dem Inhaber der tribunizischen Gewalt zukam, sondern auch die immer wieder in der Ausübung des höchsten Priesteramtes „verdiente“ Sakralität und Heilswirksamkeit.416 Hinzu trat als Steigerungsform nicht nur die Vergöttlichung verstorbener, sondern auch die Verehrung lebender Kaiser als Gott.417 Die Verklärung des Kaisers widersprach zwar der senatorischen Auffassung prinzipaler Herrschaft; sie blieb allerdings seit Caesar nur als „Unterströmung“ in der Amtskonzeption erhalten, noch unter Oktavian wies sie dezente Formen auf und sollte wohl erst unter Commodus langsam die Oberhand gewinnen.418 Die Vergottung hatte in Rom erhebliche Widerstände zu überwinden, galt sie doch als Ausdruck eines „persischen Despotentums“.419 Dieses in der Antike vorgeprägten negativen Interpretationsschemata sollten weiterhin prägend bleiben, die allzu starke Sakralisierung kaiserlicher Herrschaft wurde stets kritisch beäugt. Darüber hinaus führte die 413 414 415

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Vgl. die Bezeichnung Rogers II. als semipaganus tirannus beim Annalista Saxo. Ed. Waitz, 774. Vgl. zu den Vorwürfen gegenüber Friedrich II. oben, Anm. 125. Vgl. etwa Weinfurter, Wandel (2009), 360. Vgl. als Überblick Schreiner, Herrschaft (1985); Erkens, Herrschaft (2002); vgl. zu den Wurzeln der Sakralität Streck, Sakralkönigtum (2002); Dux, Genese (2005); Blumenthal, Göttlichkeit (2002). Vgl. zum chinesischen Kaiser z. B. Seiwert, Sakralität (2002) und zu afrikanischen Herrschern Ritz-Müller, Macht (2005). Scheid, Auguste (1999); vgl. zu dem Thema erschöpfend Stepper, Augustus (2003); vgl. zum symbolischen Aspekt Cain, Kaiser (2002). Clauss, Kaiser (2001), 217–465. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 29: „Die auctoritas, die den ersten Prinzeps nach eigenem Geständnis über alle anderen erhob, hat einen religiösen Anstrich gewonnen, – so wie sein Ehrentitel Augustus ebenfalls sakral ist“. Vgl. auch Meyer-Zwiffelhoffer, Visionär (2006), insb. S. 196–201. Vgl. auch grundsätzlich Kolb, Herrscherideologie (2001), 38–46. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 14. Vgl. zu den Austauschprozessen grundsätzlich Canepa, Eyes (2009).

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Christianisierung dazu, dass die Grenze zur Sphäre des Göttlichen im Mittelalter weitaus schärfer als in der Antike gezogen wurde.420 Dennoch sollte sich die inszenative Orientierung des Kaisertums am „hellenistischen Königtum“ langfristig als einflussreich erweisen, war damit doch der Boden für eine erneute „Verköniglichung“ des dann christlichen Kaisertums bereitet.421 Mit der Schwächung der drei Sakralitätsquellen (Amtssakralität, verdiente Sakralität, Vergöttlichung) im Zuge der Verchristlichung der römischen Ämterstruktur nahm die Vorstellung einer Sakralität des Kaisers nicht ab, sondern erschloss sich weitere Quellen, die allerdings aus dem bisherigen Reservoir gespeist wurden.422 Zum einen führte die Verdichtung und Verfestigung des Corpus des römischen Rechtes zu einer rechtlichen Absicherung der kaiserlichen Stellung, die – etwa über die Figur des Majestätsverbrechens – einer Sakralisierung gleichkam.423 Zum anderen ergab sich ein Sakralitätsgewinn des Kaisers auch aus der Reorientierung der Inhaber kaiserlicher Gewalt am alttestamentarischen Königsamt.424 Neben dieser alttestamentarischen gab es noch eine andere, gleichsam neutestamentarische Traditionslinie, die etwa Origines ausführt, wenn er schreibt, dass Gott „die Völker in der Weise auf seine Lehre vorbereitete, dass sie unter die Herrschaft des einen römischen Kaisers kamen“425. Diese spätantiken Entwicklungslinien der Sakralität wirkten im byzantinischen Raum recht ungebrochen weiter.426 Im westlichen Bereich hingegen trat zunächst die Sakralität des Königtums in den Vordergrund und überstrahlte gleichsam das kaiserliche Amt.427 Dem Kaiser sollte hier nie mehr an Sakralität zukommen als einem ottonischen Sakralkönig.428 Der Kaiser war sakral, da er auch automatisch König war. Erst als mit dem sogenannten Investiturstreit 420 421

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Alföldi, Ausgestaltung (1934), 30. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 29f.: „Überhaupt konnte der abstrakte, aus der Wirkung von kosmischen und transzendentalen Kräften abgeleitete Königsbegriff der hellenistischen Philosophie seine Wirkung auf diese Kreise nicht verfehlt haben. Das Wunschbild des Weltenheilandes, welches die Kulturwelt in der Zeit der Bürgerkriege in seinem Banne hielt, haben sogar die Häupter der antimonarchischen Partei mit ihrer eigenen Tätigkeit in Verbindung zu bringen gesucht“. Vgl. hierzu etwa auch im breiteren Zusammenhang: Leeb, Konstantin (1992); vgl. auch Meier, Kaiser (2003), insb. S. 129–131, sowie Martin, Selbstverständnis (1984), 115–120; Bringmann, Imperium (1998). Vgl. zur Entwicklung des Rechts knapp Stein, Recht (1997), 31–42. Grünbart, Fortdauer (2012), 203. Origenes, Die Schrift vom Martyrium. Ed. Koetschau, c. 30, S. 158: εὐτρεπίζοντος τοῦ ϑεοῦ τῇ διδασκαλίᾳ αὐτοῦ τὰ ἔϑνη, ἵν᾽ ὑπὸ ἕνα γένηται τῶν Ῥωμαίων βασιλέα. Diese Argumentationslinie hat weniger mit dem Königsamt zu tun als vielmehr mit der Stellung des Kaisers, der den Raum beherrscht, in dem sich das Heilsgeschehen ereignet: „Es geschah zur Zeit des Kaisers Augustus“. Vgl. Matschke, Sakralität (2002) und umfassend Dagron, Emperor (2007). Vgl. zum wichtigen westgotischen Bereich Bronisch, Reichsideologie (2005). Boshof, Vorstellung (2005). Vgl. auch Erkens, Sakralkönigtum (2005).

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I. Konzeptionen des Kaisertums

die Vorstellungen des Sakralkönigtums im römisch-deutschen Reich an Wirkkraft verloren429, begann man – insbesondere unter Friedrich Barbarossa – römischrechtliche Vorstellungen zur Befestigung der herrscherlichen Position heranzuziehen430. Hiermit einher konnten auch Vorstellungen einer Amtsheiligkeit des Kaisers gehen, wenngleich es vor allem das Reich war, das unter Barbarossa heilig wurde.431 Letztlich blieben diese Bemühungen jedoch Episode: Am wirkungsvollsten sollte sich die „delegierte Heiligkeit“ des Kaisers als Beauftragten und Geweihten des Papstes erweisen. In gewissem Sinn stärkte der Wechsel von der kaiserlichen Vergöttlichung zur Idee des Auserwähltseins des Kaisers sogar die Vorstellung der kaiserlichen Monarchie.432 Alfons Stickler wies jedoch scharfsinnig darauf hin, dass die Schwierigkeiten des Mittelalters mit dem Kaisertum vor allem darauf beruhten, dass sich zwei Ideen untrennbar vermischten und gegenseitig durchdrangen, die eigentlich unvereinbar waren433: das klassische römische Kaisertum und die heilsgeschichtliche Funktion des Kirchenvogtes. Das Kaisertum des Westens war somit viel stärkeren Spannungen innerhalb seiner Amtskonzeption ausgesetzt als das Kaisertum des Ostens. Insbesondere hinsichtlich der Sakralität führten die Unterschiede zur Änderungen der Funktionsbereiche, die dem Kaiser innerhalb des göttlichen Heilsplans – oder etwas bescheidener: innerhalb der Kirche – zugestanden wurden. Dies betraf die Ausgestaltung der weltlichen Schutzherrschaft, mögliche Eingriffe des Kaisers in die Kirche, aber auch die Klärung der „Folgepflicht“ des Kaisers gegenüber der Kirche. Die Inszenierung des friedlichen Verhaltens des Kaisers gegenüber der Kirche war bereits Bestandteil des Krönungszeremoniells: der Papst fragte den Elekten drei Mal, ob er mit der Kirche Frieden halten wolle.434 Ein Kaiser sollte sich nach Meinung des Papsttums aber nicht nur im negativen Sinne friedfertig verhalten, sondern die Kirche auch aktiv unterstützen. Der Grad der Aktivität sollte jedoch im Ermessen der Päpste liegen und hier ergaben sich im Rahmen zunehmender institutioneller Verdichtung Schwierigkeiten. Dies zeigte sich vor allem bei zwei Seiten der Kirchenvogtei.435 Sorgte die weltliche Schutzherrschaft des Kaisers im byzantinischen Raum kaum für größere Diskussionen, sollten sich im Bereich der lateinischen Kirche päpstliche und kaiserliche 429 430 431 432

433 434 435

Vgl. Büttner, Weg (2012), 743. Dilcher, Kaisergedanke (2000); Dilcher, Renovatio (2003); und für die breitere Betrachtung der staufischen Epoche Dilcher, Herrschaft (2009). Diese Vorstellung rekurrierte auf römisch-antike Traditionen, die auch in Byzanz lebendig geblieben waren, vgl. Koch, Wege (1972); vgl. auch Weinfurter, Reich (2005). Vgl. Lilie, Einführung (2007), 136: „Auch wenn der Kaiser im Christentum nicht mehr Gott sein konnte, wie in der späteren römischen Kaiserzeit, so galt er jetzt als von Gott besonders auserwählt und damit über ‚normale’ Menschen hinausgehoben, wie er es früher als Gott war. Ja vielleicht sogar noch mehr, denn während er früher ein Gott unter vielen war, war er allein jetzt auserwählt, denn per definitionem konnte es nur einen Kaiser geben“. Stickler, Imperator (1954), 209. KO XIV, Nr. 6, S. 37. Vgl. zur Kirchenvogtei grundlegend Goez, Imperator (1983) und Schludi, Advocatus (2010).

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Parteiungen heftige Auseinandersetzungen liefern. Im sogenannten Investiturstreit war das Kaisertum zunächst nur indirekt betroffen, handelte es sich dabei doch neben allen anderen Dimensionen insbesondere um Besitzstreitigkeiten zwischen dem Königtum und der Reichskirche. Das Kaisertum kam abgesehen von der Tatsache der „Personalunion“ vor allem dadurch ins Spiel, dass es als Absicherung des Königtums und seiner Rechte dienen konnte.436 Die zweite große Auseinandersetzung, jene des 12. Jahrhunderts, war hingegen eng mit dem Kaisertum verbunden: die Streitigkeiten zwischen Barbarossa und Alexander III. um den Besitz der Petrusregalien.437 Diese Konflikte, die ihr Spiegelbild in den Kämpfen des Kaisers mit den italienischen Kommunen fanden, waren vor allem Ausdruck des Wettstreits um ökonomische Ressourcen, wenngleich sich mit ihnen auch Implikationen für die zugrunde liegenden Ordnungsvorstellungen verbanden. In gewissem Sinn sollten sich beide Streitigkeiten im Bereich des lateinischen Kaiserreiches wiederholen. Hier überformte die lateinische Kirchenorganisation auch in ihren konfligierenden Traditionen das imperiale Erbe der orthodoxen Kirche.438 Weitaus größere Sprengkraft konnte die geistliche Seite der Kirchenvogtei entwickeln. Sie wurde in zwei Fällen virulent: Im byzantinischen Raum waren es vor allem Entscheidungen zur Rechtgläubigkeit, die den Kaiser forderten, zugleich aber auch in seiner persönlichen Integrität existenziell bedrohen konnten.439 Im westlichen Bereich waren die Versuche des Kaisers, auf kirchliche Entscheidungen Einfluss auszuüben oder sie zumindest im Sinne eines „Reformprogramms“ zu betreiben, spätestens seit salischer Zeit im Schwinden begriffen. Bereits im Investiturstreit wurde die Vorstellung des Königs und Kaisers als rector ecclesiae scharf kritisiert, schließlich auch aus den Ordines entfernt und die herrscherliche Stellung auf die eines defensor beschränkt.440 Kirchenpolitische Wirksamkeit entfaltete der Kaiser hier vor allem bei seinen mehr oder minder erfolgreichen Versuchen, klärend in Papstschismata einzugreifen, wenn er missionierend tätig sein441 oder – in kirchlichem Auftrag – auf Kreuzzug442 gehen sollte. Die kaiserlichen Eingriffsrechte im Falle eines Schismas und die im Kern dieser Kompetenz stehende Befugnis zur Einberufung eines Konzils, zur Teilnahme daran oder gar dessen Leitung berührten wie kaum ein anderer Punkt die Stellung des Kaisers in der Kirche. Ursprünglich galt: Der Kaiser steht nicht nur bischofsgleich neben, sondern auch über den Bischöfen.443 Wenngleich sich die kirchliche Seite umgehend bemühte, 436 437 438 439 440 441 442 443

Dies erweist sich etwa in der Defensio Heinrici IV. regis des Petrus Crassus. Vgl. hierzu Ullmann, Foundations (1977), 38. Laudage, Alexander (1997), insb. S. 242–248. Vgl. unten, Abschnitt ‚III.1 Über oder zwischen den Religionen?‘. Vgl. etwa zur “kaiserlichen Häresie” Leos III. Dagron, Emperor (2007), 183f. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 247. Vgl. zur Mission Angenendt, Kaiserherrschaft (1984), 1–5, 274–315. Vgl. hierzu Riley-Smith, Kriege (2005), 20f., aber auch Jones, Eclipse (2007), 340–352. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 107f.

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den bischofsgleichen Rang des Kaisers zu relativieren, blieb diese Idee wirkmächtig. Auch deshalb konnte Karl der Große Konzilien versammeln.444 Für Barbarossa und für jeden sonstigen Kaiser bestand somit in der Berufung auf Karl den Großen auch die Möglichkeit, an die vergangenen Zeiten des Sakralkönigtums anzuschließen. Allerdings hatte bereits Gratians Decretum die Kompetenzen des Kaisers in der Kirche stark beschnitten.445 Entsprechend stießen auch die Versuche Friedrich Barbarossas, das Alexandrinische Schisma maßgeblich zu seinen Gunsten zu beeinflussen, auf heftigen Widerstand; ebenso sollte sein Enkel Friedrich II. keinen (offiziellen) Versuch unternehmen, den Papst abzusetzen bzw. harschen Einfluss auf die Papstwahl zu nehmen. Auf zwei Ausflüsse des „heilswirksamen“ kaiserlichen Wirkens sei noch kurz hingewiesen: Bereits im 12., gerade aber auch im 13. Jahrhundert wurde sowohl die Ketzerbekämpfung als auch die Leitung von Kreuzzügen dem Bereich der besonderen kaiserlichen Kompetenzen zugewiesen bzw. von den römisch-deutschen Kaisern als verbliebene Möglichkeiten zur „gesamtkirchlichen Bewährung“ wahrgenommen.446 Insbesondere Friedrich II. suchte auf beiden Feldern zu reüssieren, beide Male jedoch ohne Erfolg für seine heilswirksame Stellung, vielmehr führte sein eigenständiger Kreuzzug zum ersten schweren Konflikt mit dem Papsttum, fand er sich selbst bald als Ketzer abgesetzt. 447 Die Stellung des lateinischen Kaisers gegenüber der geistlichen Gewalt war im Vergleich zum Basileus in vielerlei Hinsicht verschieden. Im lateinischen Kaiserreich sollte man nie darüber diskutieren, ob dem lateinischen Ostkaiser Einfluss auf die Leitung der römischen Kirche zustünde. Allzu klar waren die Abhängigkeiten und Machtgefälle. Das bedeutet jedoch keineswegs eine wie auch immer geartete Vereinfachung der Beziehungen zum Papsttum oder eine vollkommene Problemfreiheit, stellten doch nicht nur die Besitzstreitigkeiten einen Quell ständiger Unruhe dar.448 Insbesondere Kaiser Heinrich sollte sich – wie noch darzustellen sein wird – der große Einfluss des lateinischen Kaisers auf die Prinzipien der Rechtgläubigkeit und die Reform seiner „Landeskirche“ beweisen. Sicherlich lassen sich einige Parallelen zum byzantinischen Bereich finden: Der Basileus hatte sich stets als Schutzmacht des Christentums verstanden und hatte seit Jahrhunderten eigentlich eine Art „orthodoxen Kreuzfahrerstaat“ in ständiger, häufig existentieller Bedrohung durch „ungläubige“, mehr oder minder „barbarische“

444 445 446

447 448

Vgl. Schieffer, Karolinger (2006), 99f. Vgl. die verschiedenen Ausführungen in D. 96. Vgl. zur Ketzerbekämpfung Köhler, Ketzerpolitik (1913). Vgl. zu der Kreuzzugsidee unten, Anmm. 514 und 515. Beide Funktionsbereiche finden sich in der Substanz auch in Byzanz, wenngleich dort die Idee des Heiligen Krieges fremd blieb. Vgl. Dennis, Defenders (2001), insb. S. 32. Stürner, Friedrich II. (2005), 17–19; Althoff, Demut (2008), 231–242. Vgl. unten, Abschnitt ‚III.1.3 Interne Kirchenpolitik‘.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Feinde geleitet.449 Die byzantinischen Missionare wirkten nicht nur im eigentlichen Reichsgebiet, sondern auch weit darüber hinaus.450 Im lateinischen Kaiserreich lebten diese Elemente byzantinischer Herrschaftsvorstellungen fort, wobei es zu einer Hybridisierung mit westlichen Vorstellungen über die spezifischen Bedingungen einer Kreuzfahrerherrschaft, einer Art „Missionsgebiet in Frontstellung“ kam.451 Das Papsttum stützte das lateinische Kaisertum vor allem deshalb, damit es in zwei Aufgabenbereichen tätig wurde, die in Zusammenhang mit den bereits genannten Funktionen eines westlichen Kaisers standen, jedoch spezifischer waren: die Unterstützung der lateinischen Kirche bei der Union mit der orthodoxen Kirche und die Gewährleistung wirksamer Hilfe für die Sicherung Palästinas. Für den lateinischen Kaiser war die Lage durch dieses eher begrenzte Erwartungsspektrum jedoch nicht einfacher: Er sah sich bei seiner Erfüllung nämlich nicht nur dem Papst gegenüber, sondern auch dem lateinischen Patriarchen von Konstantinopel. Dieser war Stellvertreter des Papstes, durfte den ihm untergebenen Erzbischöfen das Pallium verleihen und leitete somit gleichsam die Kirche vor Ort.452 Zugleich war er jedoch nicht nur Vertreter des Papstes, sondern – gleichsam inoffiziell, kanonistisch „gebrochen“ durch das nur mit Venezianern besetzte Wahlgremium (Kapitel von St. Sophia) – auch Vertreter Venedigs. Die mangelnder Repräsentanz entspringende Ablehnung des ersten lateinischen Patriarchen Morosini durch die Franken Konstantinopels machte sich in den typischen Formen symbolischer Kommunikation bemerkbar: Der fränkische Klerus verweigerte ihm nicht nur die Teilnahme an seinem Introitus, sondern auch die Obödienz.453 Im Gegensatz zum westlichen Bereich war das lateinische Kaiserreich somit von einer unklareren Zuordnung der höchsten Gewalten gekennzeichnet, was dem Kaisertum jedoch nicht zum Nachteil gereichen musste. Allerdings war es aufgrund dieser Konstellation und der daraus entstehenden realpolitischen Konflikte für beide Seiten schwieriger, den Eindruck heilswirksamen Handelns, der eine gewisse verklärte Abgehobenheit der eigenen Haltung voraussetzt, zu erwecken. Auch deshalb erscheint das lateinische Kaisertum in den Quellen wohl weitaus „weltlicher“ und „moderner“, als es das westliche, aber auch das byzantinische Kaisertum jemals sein konnten.

449 450 451

452 453

Lock, Franks (1995), 2. Beck, Mission (1972), IV 660–673. Vgl. zu den Kirchen in den Kreuzfahrerherrschaften Hamilton, Church (1980), insb. S. 86–112, der allerdings das lateinische Kaiserreich nicht behandelt. Vgl. zur Frage der Grenzen die Beiträge in Bartlett, Medieval frontier societies (1989); Housley, Societies (1995); Ellenblum, Borders (2002); vgl. zur Situation der Kreuzfahrerherrschaften Schwinges, Identität (2004). Gerland, Geschichte (1905), 16 / Anm. 2. Gerland, Geschichte (1905), 74. Vgl. zum weiteren Verlauf unten, Abschnitt ‚III.1 Über oder zwischen den Religionen?‘. Vgl. zur symbolischen Kommunikation Stollberg-Rilinger, Kommunikation (2004); Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte (2005); und Stollberg-Rilinger, Zeremoniell (2000).

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I. Konzeptionen des Kaisertums

Von der Stellung des Kaisers und seiner Funktionserfüllung in der Kirche blieb auch die generelle Auffassung über das Verhältnis der höchsten Gewalten nicht unbeeinflusst. Abseits aller Besitzstreitigkeiten und Geplänkel um unerwünschte und unbequeme Kirchenmänner ist es vielleicht gerade auch die Auseinandersetzung mit dem Papsttum um eine eigenständige kaiserliche Rolle „in der Welt“, die als Indikator für die Beanspruchung imperialer Herrschaft jenseits aller Virtualität dienen kann.454 Die Frage, wer die höchste Leitungsfunktion innerhalb der jeweiligen „Landeskirche“455, aber auch innerhalb der Christenheit innehatte, wurde erstmals im „Investiturstreit“ intensiver diskutiert. Im 13. Jahrhundert stellte sich eigentlich nicht mehr primär die Frage, welche Rolle dem Kaiser in der Kirche zukam, und auch die Rangfolge war spätestens mit Venedig 1177 geklärt worden.456 Vielmehr ging es nun um die Spezifizierung der päpstlichen Eingriffsrechte in den sich langsam ausdifferenzierenden und abgrenzenden weltlichen Bereich. Zur Legitimierung der unterschiedlichen Auffassungen wurde nun auch auf die Begründungsmöglichkeiten kaiserlicher Herrschaft rekurriert. Im Mittelpunkt der Versuche, das Problem rational – und das heißt im 13. Jahrhundert vor allem rechtlich – zu lösen, stand (neben anderen – hier nicht ausgeführten – Denkfiguren457) die Zitation oder Ablehnung lehnsrechtlichen Gedankenguts, insbesondere in der Sonderform der vasallistischen Bindung von Mann und Herr. Im Krönungszeremoniell des römischen Kaisers kam streng genommen kein Lehnsoder Unterordnungsverhältnis gegenüber dem Papst, sondern vielmehr eine Art Ehrenvorrang des Bischofs von Rom zum Ausdruck: Der Kaiser ehrte den vicarius Petri und beachtete die päpstliche Stadtherrschaft in Rom, etwa durch Fußkuss und Bügeldienst; an den entscheidenden Stellen wurde jedoch die kaiserliche Würde durch das Absetzen der päpstlichen Krone gewahrt. Ebenso muss der Schwur des Kaisers iuro fidelitatem nicht primär im Sinne eines Vasalleneides interpretiert werden.458 Bei späteren Treffen der höchsten geistlichen und der höchsten weltlichen Gewalt konnte das kaiserliche Verhalten ohne weiteres als Anerkennung eines bestimmten Ehrenvorranges interpretiert werden.459 In Byzanz stellte sich die Frage nach einer im Zeremoniell zum Ausdruck kommenden Überordnung des Patriarchen eigentlich nie mit der aus dem Westen bekannten Schärfe. Der generelle Primat des Basileus wurde kaum je in Frage gestellt – umgekehrt hatte der Kaiser keinen Anlass, es an Zeichen der Hochachtung gegenüber dem Patriar454 455 456 457 458 459

In gewissem Sinn ist dies ja auch ein Indikator für die Machtstellung eines Herrschers, nämlich ob er sich eine Auseinandersetzung mit dem Papsttum überhaupt leisten kann. Vgl. zum Begriff Johrendt, Papsttum (2004), 6–9. Weinfurter, Papsttum (2002), 96f. Vgl. zur Gesamtdimension Weinfurter, Venedig (2002). Vgl. etwa für Friedrich II. Görich, Friedensverhandlungen (2007), 626–632 und für die spätmittelalterliche Geschichtsschreibung auch Sarnowsky, Hochmut (2002), 76–79. Vgl. etwa zum Bild von Vater und Sohn Schludi, Advocatus (2010). Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 235–238. Vgl. den Überblick bei Hack, Empfangszeremoniell (1999), 493–548.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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chen mangeln zu lassen. Wahrscheinlich war es auch die päpstliche Forderung nach Unterwerfung und Eingliederung in die römische Hierarchie, die – für den Basileus vollkommen inakzeptabel – die Problematik der religiösen Auseinandersetzungen im lateinisch-orthodoxen Schisma verschärfte.460 Die päpstlichen Ansprüche lagen für einen Basileus (und auch für den orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel) gewissermaßen jenseits der eigenen Vorstellungskraft. Im Bereich des lateinischen Kaiserreiches stellte sich diese Rangfrage ebenso nicht – allerdings unter ganz anderen Umständen: Nicht nur in geistlicher, auch in weltlicher Hinsicht waren die lateinischen Kaiser in einem Maße von päpstlicher Hilfe abhängig, das implizit den Eindruck eines Mann-Herrn-Verhältnisses erwecken musste. Direkte persönliche Kontakte zwischen lateinischem Kaiser und Papst ergaben sich nicht nur bei Krönungen in Rom.461 Gerade Balduin II. scheint Gregor IX. auch häufiger getroffen zu haben. Welche Folgen hatte aber die „Doppelung“ der Kaiser für die westliche Welt? Einen ersten Hinweis gibt die Rolle, die der lateinische Kaiser auf dem Konzil von Lyon spielte: Zwar war der lateinische Kaiser an den großen letzten Auseinandersetzungen zwischen Friedrich II. und Innozenz IV. weitgehend unbeteiligt. Dennoch spielte er – in Schweigen gehüllt – auf der Kirchenversammlung eine im symbolischen Sinne nicht unbedeutende Rolle als Teil eines „gleichrangigen Umstandes“, eine Art Lehnsgericht, das über einen Kaiser mitzurichten hatte.462 In diesem gleichsam vasallistischen Verhältnis zwischen lateinischem Kaiser und Papst wird wohl auch das kuriale Ideal der Zuordnung kaiserlicher und päpstlicher Gewalt deutlich. Bei all dem ist gleichwohl zu beachten, dass die Sprache des Zeremoniells nicht dekontextualisiert war, sondern vielmehr abhängig von Zeit, Orten und Personen. Zuvor unverfängliche Symbole bzw. Symbolhandlungen konnten bei Änderungen des gesellschaftlichen Umfeldes rasch verfänglich bzw. in der Auseinandersetzung der höchsten Gewalten als Argument gebraucht werden, wie es sich etwa bzgl. des berühmten Bildes im Lateranpalast oder des Zeremoniells von Sutri zeigte: Sie erregten erst in der gespannten Situation im Umfeld der Kaiserkrönung Barbarossas Anstoß, während sie zuvor lange Zeit anscheinend unbeachtet geblieben waren.463 Was im Zeremoniell bereits für heftige Auseinandersetzungen sorgen oder tiefste Eintracht demonstrieren konnte, sollte sich dann erst recht auf der Ebene der Briefwechsel und der Traktate zum vollen Konflikt entfalten oder eine segensreich befriedende Wirkung zeitigen. In diesem Zusammenhang sei nur etwa an die energischen Briefwechsel um Besançon 1157, die Streitschriften eines Petrus Crassus oder des Ale460 461 462 463

Haldon, Byzanz (2006), 192–196. So wurde Peter in Rom gekrönt. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Ort und Koronator‘. Vgl. zu Anwesenheit Balduins II. auf Konzil von Lyon Wolter / Holstein, Lyon (1972), 71, 74 und zu den Auswirkungen S. 133f. Laudage, Alexander (1997), 77f.; vgl. auch zu Sutri Scholz, Symbolik (2002). Der Hauptstreitpunkt war vor allem die Frage nach einer lehnrechtlich verstandenen Zuordnung von Kaisertum und Papsttum.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

xandrinischen Schismas und insbesondere die berühmten Pamphlete des „Endkampfes“ Friedrichs II. erinnert.464 Die Schriftstücke galten insbesondere der nationalen Geschichtsschreibung älterer Prägung als Ideale kaiserlichen Handelns, das die Selbstständigkeit des eigenen Verantwortungsbereiches verteidigt und „nicht nach Canossa geht“.465 Möglicherweise wurden die Konflikte zwischen Kaiser und Papst aber mitunter überbewertet, auch wegen ihrer zum Teil spektakulären rhetorischen Gestaltung. Es gibt nämlich auch – dies sollte nicht vergessen werden – genügend Beispiele für Formen der friedlichen Kooperation zwischen Kaiser und Papst, in denen sich die Kaiser „ohne Murren“ in die ihnen zugedachte Rolle eines „Untergeordneten“ fügten. Dies war vor allem dann der Fall, wenn der Kaiser päpstlicher Legitimationsressourcen bedurfte – man denke nur an die Anfangszeit Ottos IV. oder Friedrichs II.466 Die Spielräume für die Entfaltung imperialer Herrschaft waren dann begrenzt. Bei den lateinischen Kaisern überwog – gleichsam dem Zeremoniell entsprechend – auch in den Briefen der Modus des friedlichen Einvernehmens: Balduin I. brachte recht klar seine Devotion gegenüber dem Papst zum Ausdruck, wenn er sich miles suus, cum devota semper obsequii voluntate oscula pedum nannte.467 Hier zeigt sich deutlich das bereits oben angedeutete päpstliche Ideal eines gefälligen Kaisertum: ein Kaiser, der dem Papst gegenüber folgsam, ohne universale Ansprüche und Begehrlichkeiten in Italien und dem Patrimonium Petri, in Sorge um die Kirche und für die Sache des Kreuzes handelt.468 Dass dieses Kaisertum nicht stärkere Konturen gewinnen und Vorbildwirkung entfalten konnte, lag sicherlich an zwei Charakteristika: Zum einen war der Zentralort dieses Kaisertum (Konstantinopel) in theoretischer und praktischer Hinsicht „falsch“ bzw. zu ungewohnt für die Erfüllung einer kaiserlichen Rolle im westlichen Sinne, zum anderen war der Kaiser kaum das Paradigma eines kräftigen weltlichen Arms, sondern vielmehr machtloser Bittsteller. Überspitzt formuliert, taugte dieser Kai-

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Vgl. etwa Schaller, Rundschreiben (1964); Herde, Pamphlet (1967); Folz, Kaiser (1905). Vgl. grundsätzlich zur Thematik der Öffentlichkeit im Mittelalter Melve, Sphere (2007). Vgl. etwa Klenke, Bismarck (2006). Hucker, Otto IV. (2003), v. a. S. 183–201; Kölzer, Beginn (2007), 610f. Beide Herrscher waren zumindest bis zu ihrer Kaiserkrönung sehr bemüht als diensteifrige Gefolgsleute des Papstes zu erscheinen. RIN 7, Nr. 152, S. 253. Vgl. etwa die dankbaren Ausführungen Kaiser Heinrichs gegenüber Innozenz III. im September 1208 in RIN 11, Nr. 202 (207), S. 333f.: Grates infinitas vobis referimus de honore a vobis exhibito G. famulo nostro et de negotiis nostris a vobis obtentis litteras vestras gratanter suscepimus et devote. Rogamus omnimodis Deum, ut vos, quem ad honorem suum et ecclesie ipsius erexit pastorem, in sua constituat sede sanos et incolumes diutius permanere et conservet nobis vos famulum suum vosque, cuius preces efficacissime sunt apud Deum, rogate pro nobis, ut ipse nobis pro ipso dimicantibus opem conferat salutarem et vitam diutinam et victoriam nobis donet. Volumus ut ecclesia Romana nos habeat mandatorum executores suorum, quia nos non sumus eius domini, sed ministri.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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ser für die Kirche nicht, um die höchste Leitungsgewalt zu spezifizieren, weder als Werkzeug noch als Schreckensbild. Die Funktion des Kirchenschutzes wurde demgegenüber bereits seit längerer Zeit auch durch Mächte wahrgenommen, die an die Stelle der kaiserlichen Gewalt traten, kaiserliche Aufgaben übernahmen und hierin durch die Kurie anerkannt wurden. Hierbei handelte es sich nicht nur um die normannischen Herrscher Süditaliens des 11. und 12. Jahrhunderts, die in einer durchaus eigenwilligen Art dem Papsttum immer wieder unterstützend und Schutz gewährend zu Hilfe eilten, was in päpstlicher Sicht als Ausfluss einer normannischen Lehnsnahme interpretiert wurde.469 Insbesondere die französischen Könige entwickelten sich zu geradezu paradigmatischen christlichen Herrschern – Papst und Kirche nicht nur durch Worte protegierend, sondern auch mächtig genug, um Schutz zu gewähren und gegen die Feinde des Pontifex vorzugehen. Ludwig IX. konnte sowohl hinsichtlich seiner Tätigkeit als Kreuzfahrer als auch in seinem Engagement gegen häretische Bestrebungen als durchaus kaisergleich gelten.470 Eine ähnliche Rolle konnte auch von Venedig gespielt werden – man denke nur an den Frieden zwischen Kaiser und Papst 1177.471 Beide Seiten blieben sich aber dennoch fremd, vor allem, da die Seerepublik auch in der heilsgeschichtlichen Dimension auf ihrer Eigenständigkeit innerhalb der lateinischen Kirche bestand und letztlich die Kooperation mit dem Papsttum nur im Rahmen opportuner Koalitionen verfolgte. Mit diesen Mächten galt es künftig die Frage von Rang und Funktionen zu klären; das Kaisertum hingegen war weitgehend aus dem Fokus der Auseinandersetzung getreten. Säkulare Funktionen Neben diesen sakral angehauchten heilsgeschichtlichen Funktionen war das Kaisertum aber auch weltliche Ordnungsmacht. Seine weltlichen Ordnungsfunktionen blieben aber aus zweierlei Gründen im Westen unklar: zum einen war es das Königtum, das viele der Herrschaftsfunktionen wahrnahm, die z. B. im Osten durch das Kaisertum ausgefüllt wurden.472 Zum anderen blieb das „Mehr“ an kaiserlichen Herrschaftsrechten nur ausgesprochen diffus in seiner Wirkung, war mehr virtueller Anspruch als Faktor der

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Vgl. bereits klassisch Deér, Papsttum (1972), 126–163; Hoffmann, Langobarden (1978); Enzensberger, Wilhelm (1980), v. a. S. 396f. Vgl. jedoch zur hohen Bedeutung des Königtums im französischen Bereich Schneidmüller, Tradition (1979), etwa S. 200–204; Werner, Königtum (1979), insb. S. V 213; Ehlers, Monarchie (1993), 179–183; vgl. zum Hintergrund und zur weiteren zeitlichen Perspektive Moeglin, Kaisertum (2010), 296–318. Vgl. Fortini Brown, Self-Definition (1991), 523–525. Vgl. hierzu oben, Abschnitt ‚I.2 Königliche Herrschaft‘. In Byzanz erscheinen die auf einen Kaiser zulaufenden großen politischen Strukturen geschlossener als im Westen, wo mehrere Könige als Ordnungsmächte auftraten.

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politischen Wirklichkeit.473 Gleichwohl bedeutete Beides jedoch nicht, dass die kaiserlichen Verpflichtungen keinen Anlass zum Konflikt boten. Vielmehr waren zwei Charakteristika des Kaisertums spannungsverschärfend: Erstens band der intensivere Bezug zu antiken Herrschaftsvorstellungen das Kaisertum stärker an Vorstellungen eines abstrakten Gemeinwohls. Da diese Ziele aber auch stark religiös aufgeladen waren, blieben zweitens theoretische und praktische Übergriffe in die geistliche oder von der geistlichen Sphäre nicht aus. Eine der Hauptaufgaben des römischen Kaisers und der von ihm befehligten Armee bestand in der Befriedung im Inneren (pax Romana) und der Sicherung nach außen (securitas orbis).474 Der Kaiser war traditionell seit römischer Zeit unbesiegbarer Feldherr.475 Seit Karl dem Großen wurde dieser Anspruch unter dem Epitheton magnus pacificus gefasst.476 Die Schaffung eines befriedeten Großraumes – der Schutz des imperium – war dann auch über die Jahrhunderte die edelste, ja definitorische Aufgabe eines imperator.477 Im Westen trat jedoch eine Verkomplizierung des Gesamtgefüges durch die immer größere Eigenständigkeit bzw. Dominanz des königlichen Amtes ein. Sicherlich teilten die Kaiser die Aufgabe der Friedenswahrung mit den Königen, waren auch die Ideale der Fürstenspiegel – wie etwa das des „gerechten Richters“ – identisch.478 Gleichwohl unterschied sich die kaiserliche Friedensstiftung in mehrerer Hinsicht von der königlichen. Hier ist zum ersten der Bezugsrahmen zu nennen. Ganz parallel zu der oben behandelten Frage der Weltherrschaft war der dem Anspruch nach zu schützende Wirkbereich des Kaisertums ein weiträumiges Herrschaftsgebiet, das im Falle mancher Konzepte die „Welt“ umfassen konnte, während ein König letztlich immer nur für sein räumlich beschränktes regnum zuständig war.479 Entsprechend zeigten sich auch ähnliche Phänomene auf der geistlichen Ebene: War der König Ansprechpartner und Schützer der „Landeskirche“ seines jeweiligen regnum, so war der Kaiser vom Anspruch her für einen größeren Raum – in der höchsten Ausformung: für die Christenheit – zuständig. Diesbezüglich konnte die Friedenswahrung jedoch rasch expansive Tendenzen entfalten, indem der Wirkungsraum auch über die Glaubensgrenzen hinaus entfaltet und mit dem Thema der Mission verknüpft wurde.

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Dies zeigt sich auch daran, dass sich die Konflikte Barbarossas in Italien um die Regalia und nicht um „Imperialia“ entspannten. Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 46. Alföldi, Insignien (1935), 90f. Vgl. zur Intitulatio Anton, Solium (2002), 244. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Friedens- und Kaiseridee Struve, Utopie (1977) und für die Überhöhung in der Zeit Friedrichs II. Möhring, Weltkaiser (2000), 209–268. Vgl. etwa die Beispiele in Fürstenspiegeln des frühen und hohen Mittelalters, zu den älteren Idealen Schulte, Speculum (2001), insb. S. 252–256. Vgl. Kaiser, Selbsthilfe (1983), insb. S. 57–59.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Zweitens entsprachen diesen hohen Anforderungen nicht die Mittel, die den Kaisern zur Verfügung standen, als ihr hohes Amt und ihre Verpflichtungen geformt wurden. Dem Kaiser fehlten häufig die rechtlichen Instrumente, der entsprechende, direkt unterstellte Verwaltungsapparat, die militärischen Kräfte und die materiellen Ressourcen, die sich häufig in der Hand der weltlichen und geistlichen Großen sowie der Städte befanden. Die notwendigen Aufwendungen der Landfriedenswahrung mussten etwa allzu oft aus den Mitteln bestritten werden, die mit dem königlichen Rang verknüpft waren, der im Westen auch in ganz materieller Hinsicht Voraussetzung des Kaisertums war.480 Diese mangelnde Ressourcenausstattung führte im Westen dazu, dass das kaiserliche Amt auf der konzeptionellen Ebene in eigenartiger Art und Weise überformt wurde: Die Kernbestände altrömischen Kaisertum wurden tendenziell soweit entschärft und in die virtuelle Sphäre überführt, dass eine Überprüfung an der Realität faktisch unmöglich war. Hier sei auf die bereits angesprochene Differenzierung von Holtzmann verwiesen, der die potestas des Kaisers von seiner auctoritas unterschied.481 Da die reale und sanktionsbewehrte Amtsgewalt (potestas) oft genug beschränkt war, versuchte der Kaiser als Inhaber des höchsten und angesehensten weltlichen Ranges in manchen Funktionsbereichen dieses Defizit durch auctoritas oder dignitas zu ersetzen.482 Gleichwohl blieb das ferne Ideal erhalten und in theoretischen Schriften sowie Rechtssammlungen als „Erbe“ stets aktivierungsfähig, um – mit einer entsprechenden Machtposition abgesichert – seine mitunter „vergiftend-berauschende“ Wirkung entfalten zu können.483 Die Frage, ob zum Kompetenzbereich des Kaisertums auch die Schiedsrichterfunktion gehörte, die in engem Zusammenhang mit hohem Ansehen stand, ist in der Forschung unterschiedlich beantwortet worden. Karl Ferdinand Werner führte wichtige Kritikpunkte zu dieser Auffassung an, dennoch mag man diese kaiserliche Funktion und die Traditionslinie, in der sie steht, nicht von der Hand weisen. Im Idealfall konnte der Kaiser seine supraregnale Stellung in neutraler Weise zur Wirkung bringen.484 In Theorie und Praxis wurde er jedoch in dieser Funktion rasch durch das Papsttum übertrumpft: Das Papsttum war in der geistlichen Sphäre verankert und war in der Lage, eine entsprechende Autorität und vor allem den Schein der Neutralität in Anspruch nehmen, während eine entsprechende Tätigkeit des Kaisers sehr schnell als bedrohliche 480 481 482 483 484

Vgl. als Übersicht Gernhuber, Landfriedensbewegung (1952); Angermeier, Landfriedenspolitik (1974); Wadle, Wahrung (2009). Vgl. für Oberitalien auch Voltmer, Formen (1987), 109–114. Vgl. auch etwa Holtzmann, Weltherrschaftsgedanke (1939). Vgl. hierzu auch Burkhardt, Autorität (im Druck). So die Formulierung bei Benson, Renovatio (1985), 359. Vgl. zur Schiedsrichterfunktion Mitteis, Verträge (1957), 578: „Das Kaisertum als Träger der christlichen Solidarität übte das arbitrium rerum aus“. Leroux, Royauté (1892) spricht auf S. 286 von der „primauté de jurisdiction“, die dem Kaiser zugestanden habe. Werner, Imperium (1979), X 51 / Anm. 1 negiert eine mögliche schiedsrichterliche Funktion des Kaisers etwas gezwungen und legt die falsche Kategorie an, wenn er ebd. von mangelnder „territorialer Zuständigkeit“ spricht. Vgl. hierzu auch Burkhardt, Barbarossa (2010), 149f.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

weltliche Dominanz empfunden werden konnte. Der entscheidende Schub für die schiedsrichterlich-friedensstiftende Funktion des Papsttums könnte mit dem Ausbruch des deutschen Thronstreites und dem Ausfall der kaiserlichen Gewalt einhergegangen sein.485 Dem byzantinischen Kaisertum blieben die Machtmittel noch längere Zeit im Nahbereich unmittelbarer Verfügbarkeit. Entsprachen sich so einerseits Ideal und Wirklichkeit kaiserlicher Herrschaft, verschärfte sich jedoch andererseits der Druck auf den Basileus, den Paradigmen zu entsprechen, auch als er dies mangels Möglichkeiten nicht mehr konnte.486 Eine Art Schiedsrichterfunktion kann man bei ihm nicht feststellen. Stärker ausgeprägt war diese anscheinend wieder beim lateinischen Kaisertum, das sich einmal mehr durch eine Art Zwischenstellung zwischen Ost und West auszeichnete: Mit dem westlichen Kaisertum teilte es die schwächere Macht, mit dem östlichen jedoch die klaren Kompetenzen, die ihren Ursprung allerdings eher im Wirkbereich der fürstlich-königlichen Macht hatten und möglicherweise nur in der Anfangsphase des Kaisertums großräumige Konzepte inkorporierten.487 Klar inszenierte Sieghaftigkeit und die Abwehr äußerer Gefahren waren auch eine königliche Verpflichtung. In besonderem Maße galt dies für das Kaisertum, war doch der militärische Erfolg bei den antiken Imperatoren der wichtigste Kernbereich der Herrschaftskonzeption.488 Sie fanden etwa in den nur den Imperatoren zukommenden Triumphen, in der Purpurgewandung oder den völkerüberwindenden Epitheta wie Germanicus ihren Ausdruck.489 In ihrer verchristlichten Form bestand die Sieghaftigkeit fort. Bereits frühzeitig waren etwa die gallikanischen Laudes (Laudes Gallicanae) in das Krönungszeremoniell übernommen worden, die für Papst, Kaiser und Heer um „Leben und Sieg“ baten und den Kaiser mit dem triumphierenden König der Könige verschmelzen ließen.490 Ebenso wurden im byzantinischen Bereich entsprechende Epitheta weiterverwendet und modifiziert. Im 12. Jahrhundert könnte darüber hinaus die Tradition des Triumphzuges wieder aufgekommen sein.491 Sein weitaus prominenteres Pendant war der triumphale Einzug 485 486 487 488 489 490 491

Vgl. Kempf, Papsttum (1954), etwa S. 134–151; Laufs, Politik (1980), etwa S. 186–194 und zur Konkurrenz des Papstes mit anderen schiedsrichterlichen Gremien Kempf, Innocenz III. (1985), 73, 86; Krieb, Vermitteln (2000), 76–228. Vgl. etwa McCormick, Victory (1986), 191f. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚III.2.1 Herrschaftserfassung‘. Vgl. Christ, Kaiserideal (2005). Vgl. hierzu grundlegend Kneissl, Siegestitulatur (1969). Ein spätes Beispiel für die Nachahmung des antiken Phänomens stellt auch die Benennung des Werkes Gunthers mit Bezug auf den Überwinder Barbarossa dar: der Ligurinus. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 96–101. Vgl. etwa die Bitte Domino nostro invictissimo Romanorum Imperatori et semper Augusto salus et victoria. Diese Formel findet sich in fast allen Ordines der Kaiserkrönung. Vgl. zur Tradition des Triumphzuges grundlegend Beard, Triumph (2007); Versnel, Triumphus (1970).

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eines Herrschers in eine besiegte Stadt, wozu insbesondere die Italienzüge der römischdeutschen Kaiser Anlass gaben.492 Mit dem Zeremoniell an sich war es nicht getan – vielmehr wurde der Triumph durch Medienwechsel perpetuiert: Urkunden und Briefe kündeten von dem Sieg, im Falle Heinrichs VI. wurde dem Herrscher auch eine illuminierte Handschrift angetragen.493 Auch eine stellvertretend-objektivierte Zurschaustellung des besiegten Gegners lässt sich etwa anhand des berühmten Beispiels des Carroccio beobachten, den Friedrich II. schließlich auf dem Palatin aufstellen ließ.494 Wichtig für die Inszenierung eines glanzvollen Kaisertum und potentieller Sieghaftigkeit war die Größe – und Vielvölkerqualität – des Heeres. Auf diesem Wege konnte sich Konrad III. in die Nähe kaiserlicher Würde erheben, wenn Odo von Deuil über den Aufbruch Konrads zum 2. Kreuzzug schrieb: Ut autem verum fatear, valde imperialiter egressus est et navali apparatu et pedestri exercitu495. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch, dass gerade ein großes Heer wegen der zu erwartenden allgemeinen „logistischen“ Probleme und seinem Symbolwert als „potentieller Alternative zum Kompromiss“ den Widerstand der Herrschaftsunterworfenen nicht unbedeutend anfachen konnte. Das Kaisertum geriet so leicht in die Gefahr, mit der Tyrannei kriegerischer Gewaltherrschaft gleichgesetzt zu werden, und rasch an Glanz zu verlieren.496 Die Sieghaftigkeit konnte aber auch gerade dadurch zum Ausdruck kommen, dass der Kaiser auf eine schlagkräftige Streitkraft verzichtete und sich allein mit „fremdländischem Prunk“ schmückte – eine manifest perpetuierte Huldigung der Provinzen, die keiner Waffengewalt mehr bedurfte.497 Ähnlich erwies sich auch das bewusste Zurücklassen militärischer Begleitung als eine der wirksamsten Inszenierungen kaiserlicher Friedensstiftung und Übermächtigkeit. So soll etwa Kaiser Heinrich Euböa nur mit kleiner Begleitung besucht haben – trotz der Meldungen, dass ein Anschlag auf ihn geplant sei.498 492

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Vgl. etwa zum Einzug Heinrichs VI. in Palermo Jericke, Imperator (1997), 9 / Anm. 17 und Ertl, Otto von St. Blasien (2001); für die Antike: Lehnen, Adventus (1997), insb. S. 105–196; Dufraigne, Adventvs (1994), 15–83 und MacCormack, Change (1972). Vgl. zum byzantinischen Bereich etwa Mango, Way (2000). Vgl. zum Liber ad honorem augusti etwa Petrus de Ebulo, Liber ad honorem Augusti. Ed. Kölzer / Becht-Jördens; Stähli, Liber (1996) und Kraft, Bilderbuch (2006). Auch die Bilderhandschrift Balduins von Trier ist hier – für die Zeit Heinrichs VII. – anzuführen; vgl. Margue, Der Weg zur Kaiserkrone (2009). Vgl. das Schreiben Friedrichs II. an die Römer: HB 5,2, S. 760–762. Odo von Deuil, La croisade de Louis VII. Ed. Waquet, 32. Man beachte den Bezug auf die Seemächtigkeit, der auch in der vorliegenden Arbeit ein wichtiges Kriterium machtvoller Herrschaft ist; vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚III.3.1 Abwehr‘. Dies trifft wohl auf die Italienzüge Friedrich Barbarossas zu. Vgl. hierzu Berwinkel, Verwüsten (2007). Vgl. die Schilderung des Zuges Friedrichs II. 1235 nach Deutschland in Gotifredi Viterbiensis Continuatio. Ed. Waitz, ad a. 1235, S. 348. Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, c. 683, S. 116: Li cuens des Blandras avoit ja ordené comment li empereres devoit estre ocis. Et avoient

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Von dem bewussten Verzicht auf Waffengewalt ist es nicht weit in die Sphäre der Virtualität. Ähnlich wie hinsichtlich der Weltherrschaftsansprüche konnte es klüger sein, die eigene Sieghaftigkeit mangels Ressourcen oder Fähigkeiten nicht auf die Probe zu stellen, sondern gleichsam in der stillen Kammer vergangenen Waffenruhms zu belassen. Die Wechselwirkung von Theorie und Realität ist jedoch komplizierter. Sicherlich erstarrten viele der Siegesepitheta und der Zeremonien zur reinen Form, wurden Teil eines imperialen Erbes. Sie konnte jedoch dann wieder ganz neues Gewicht gewinnen, wenn sie gleichsam auf der Ebene der pragmatischen Schriftlichkeit durch Usurpatoren oder Aufsteiger übernommen wurden und diese den Nachweis zu erbringen suchten, dass sie in besonderer Weise für das kaiserliche Amt geeignet waren.499 Hier lässt sich etwa die Parallele zu Karl dem Großen, seiner Übernahme des absoluten Imperatorentitels und der rühmenden Bezeichnungen magnus et pacificus ziehen.500 Ebenso schmückte die Kommune Pisa Alfons X. mit den klassischen Epitheta triumphator und invictissimus.501 Hier zeigt sich klar eine später noch eingehender zu thematisierende Verbindung zwischen imperialer Ordnung und kaiserlichem Rang: Ein bestimmtes erworbenes Machtniveau ermöglicht es, traditionell mit dem Kaisertum verbundene Formen aufzunehmen, kaiserliche Aufgaben zu erfüllen und so kaiserlichen Rang zu beanspruchen. Umgekehrt konnte sich ein Herrscher bei andauernden Niederlagen – auch in der Sphäre pragmatischer Schriftlichkeit – kaum noch glaubwürdig mit den Epitheta der Sieghaftigkeit schmücken. Problematisch wurde die kaiserliche Machtlosigkeit insbesondere dann, wenn der Herrscher real unmittelbar bedroht wurde oder sogar „bei Nacht und Nebel“ fliehen musste. Militärische Niederlagen waren nämlich für einen Kaiser – den invictus oder invictissimus – schwerwiegender als für einen König. Dies bezog sich nicht nur auf die unmittelbare physische Bedrohung. Fast genauso verhängnisvoll war der „Imageschaden“, den eine ganze imperiale Herrschaftskonfiguration erlitt. Erinnert sei nicht nur an die verlorene Schlacht von Cotrone 982 und an die Schlacht von Legnano 1176, in de-

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dit que il estoit venus auques a escari, car il n’avoit o lui que .xxx. chevaliers. Si le prenderont quant il dormira en son lit („Der Graf von Blans-Dras hatte schon vorbereitet, wie der Kaiser getötet werden solle. Und sie hatten gesagt, dass er schon fast nachlässig gekommen sei, denn er hatte nur dreißig Ritter bei sich. Sie haben ausgemacht, dass sie ihn im Bett schlafend fassen wollten“). Vgl. zu den Funktionsmechanismen im Zusammenhang mit Usurpationen Lilie, Herrschaftsrepräsentation (2012), 332f. Vgl. zur Aktivierung von Wissensbeständen in anderem Zusammenhang Blattmann, Materialität (1994). Vgl. oben, Anm. 476. MGH Const. 2, Nr. 392, S. 490. Man muss kaum wie Schramm, Königtum (1950), 107, Anzeichen eines antiken Imperatorenkonzeptes bemühen. Sowohl im spanischen Raum (Meyer, Kastilien [2002], 128) als auch im Bereich des fränkisch-römisch-deutschen Kaisertums waren die entsprechenden Epitheta weit verbreitet. Bei Alfons X. liegt die Betonung wohl stärker auf dem „Heidenkampf“.

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ren Folge Otto II. bzw. Friedrich Barbarossa unter Lebensgefahr fliehen mussten.502 Schwierig wurde es für einen Kaiser insbesondere dann, wenn es dem Gegner gelang, die Insignien der kaiserlichen Unüberwindlichkeit zur Inszenierung des eigenen Triumphs heranzuziehen – man denke nur an die Eroberung von Vittoria mit der Verhöhnung und Ökonomisierung der kaiserlichen Präziosen503 oder die Schlacht von Bouvines mit der Eroberung des kaiserlichen Adlers, die in einer langen Reihe mit dem berühmten Verlust der Legionsadler gegen die Parther / Sassaniden steht504. Eine solche Situation war nicht nur für das Ansehen des Herrschers höchst nachteilig, sondern auch für den gesamten Herrschaftsverband bedrohlich. Allerdings wurde im Westen kein vom Schlachtglück nicht gesegneter Kaiser abgesetzt, sondern meist – wie der auf die Harzburg abgedrängte Otto IV. – unterschwellig entmachtet. Ganz im Gegensatz hierzu zeigt sich erneut der byzantinische Raum. Auch hier blieb die antike Verpflichtung zur kaiserlichen Sieghaftigkeit weitgehend erhalten. Allerdings war ausbleibender militärischer Erfolg im byzantinischen Bereich nicht nur ein herrschafts-, sondern auch ein lebensbedrohender Faktor: Erfolglose Kaiser wurden häufig abgesetzt und ermordet, wenn es ihnen nicht gelang, durch geschickte Inszenierung den eigenen Idealen in der Sphäre der Virtualität zu entsprechen.505 Entsprechend könnte sich etwa das Verhalten der Komnenen nach der Schlacht von Manzikert 1071 erklären: Abwartende Passivität war sinnvoller und für das eigene Ansehen (durch Virtualisierung) immer noch förderlicher als eine weitere Niederlage zu riskieren.506 Schillernd zwischen Ost und West zeigt sich das lateinische Kaiserreich: Trotz der schwierigen Lage, die es den Kaisern kaum erlaubte, Waffenruhm zu erwerben, wurde doch nur Robert von Courtenay faktisch abgesetzt.507 Man schien sich damit abgefunden zu haben, den Ansprüchen nicht genügen zu können oder sie aufzuschieben und in virtuelle Sphären zu externalisieren. Vielleicht erwiesen sich aber gerade die Niederlagen, die zwei Kaiser mit dem Leben bezahlten, als besonderer Ausdruck verehrungsvoller Sieghaftigkeit: der Tod auf dem Schlachtfeld als Paradigma höchster Ritterlichkeit und das damit implizit verbundene Märtyrertum – wie im Westen bei Barbarossa – als größter Erfolg eines Kreuzfahrers. Diese geradezu hagiographische Tradition kaiserlichen Waffenruhms konnte sich allerdings generell nicht durchsetzen.

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Vgl. RI II,2 Nr. 874b und Nr. 874c zu Cotrone und RI IV,2,3, Nr. 2182 zu Legnano. Salimbene de Adam, Cronica. Ed. Scalia, ad a. 1247, S. 308 zu den kaiserlichen Schätzen, ihrem Verkauf und der Verspottung der kaiserlichen Insignien. Vgl. auch Chronicon Parmense ab anno MXXXVIII usque ad annum MCCCXXXVIII. Ed. Bonazzi, ad a. 1248, S. 18. Vgl. zur Schlacht die Schilderung bei Kienast, Deutschland 3 (1975), 569–580. Lilie, Kaiser (2008), insbesondere 229–233. So kann man überspitzt die Ausführungen von Lilie, Byzanz (2003), 330f. zu Alexios I. Komnenos lesen. Vgl. unten, Abschnitt ‚II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnung‘.

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War nun aber das Kaisertum aufgrund seiner Grundlagen eine besonders aggressive Konzeption? Die Wurzeln des Kaisertums waren durchaus kriegerischer Natur, da sie in der antagonistischen Grundstruktur der römischen Aristokratie gründeten, die militärischen Ruhm um jeden Preis zu erlangen suchte und deshalb Kriege auch ohne Anlass im heutigen Sinne führte.508 Auch mit der Christianisierung und dem Ende des römischen Reiches änderte sich wenig, wurde das Kaisertum doch zunächst durch eine fränkische, später eine sächsische Kriegerelite wiederbelebt und getragen, die sich kaum durch friedliche Mäßigung auszeichnete.509 Dieser Hintergrund bedingte eine mitunter recht harte Form „kaiserlicher“ Kriegsführung, die jedoch kaum in direktem Zusammenhang mit der Konzeption stand. Der blutige Exzess, der genozidartigen Charakter annehmen konnte, war eine archaische, nach der Christianisierung meist „Reitervölkern“ und „Barbaren“ zugeschriebene Art von imperialer Machtausübung, die Integration durch Gewalt gewährleisten sollte und auf die man auch entsprechend reagieren konnte.510 Im Zusammenhang mit dem Thema der vorliegenden Arbeit sei nur an Basileios II. erinnert, der sich anlässlich seiner Abwehr der Bulgaren „Bulgarenschlächter“ nannte – ein Titel, der in Erinnerung blieb: der Bulgarenzar Kalojan soll sich in Erinnerung an die vergangenen Ereignisse auf seinem im wahrsten Sinne des Wortes verheerenden Zug durch Nordgriechenland „Rhomäertöter“ genannt haben.511 Vergleiche ließen sich zu den Awarenkriegen Karls des Großen oder den Ungarnkriegen Ottos I. ziehen.512 Sie trugen dazu bei, dass beide Herrscher kaiserlichen Rang beanspruchen konnten. Kennzeichnend bleiben für diese Kriegszüge jedoch ihr – in der Selbstsicht – defensiver Charakter und die Tatsache, dass sie an der diffusen Übergangszone der imperialen Grenze gegen „Barbaren“ geführt wurden. Im Westen scheint die Bedeutung der Sieghaftigkeit des Kaisers und seiner kämpferischen Bewährung im Hochmittelalter durch Elemente einer ritterlichen Kultur gesteigert worden zu sein.513 Sie konnte sich bis zur Verpflichtung des Kaisers und anderer Monarchen zur unmittelbaren Teilnahme im Gefecht steigern. Diese Forderung, die etwa Barbarossa, aber auch Otto IV. zum Teil mehrfach in unmittelbare Lebensgefahr brachte, war und blieb aber einem in spätnormannischen Traditionen stehenden Friedrich II. ebenso fremd wie den byzantinischen Kaisern514: Die Traditionslinien konnten 508 509 510 511 512 513 514

Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 19f. Vgl. auch zur Langzeitwirkung der Anpassungsprozesse Scharff, Kämpfe (2002), 215–224. Vgl. aber auch generell zu diesen Prozessen Jaeger, Entstehung (2001). Vgl. auch Anke / Révész / Vida, Reitervölker (2008), 22–27 und 100–105. Vgl. Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 13, S. 23: ̒Ρωμαιοκτόνον δὲ ὠνόμαζεν ἑαυτόν. Vgl. zu den vorangehenden byzantinischen Bulgarenkriegen Strässle, Krieg (2006). Vgl. Pohl, Awaren (2002), 312–323 und Bowlus, Battle (2006), insb. die Einordnung in den weiteren Kontext auf S. 163–173. Vgl. zum Wechselverhältnis Keupp, Bann (2008), 99–114 und zum Kontext Lubich, Kaiserliche (2010). Vgl. aber etwa zu Nikephoros Phokas Lilie, Byzanz (2003), 239.

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sich recht unterschiedlich entwickeln. Aber auch Friedrich II. wurde – wie die Hautevilleherrscher vor ihm – durch die zweite Strömung erfasst, die das Kaisertum zusammen mit dem Königtum kriegerischer machen sollte: die Kreuzzugsbewegung.515 Sicherlich waren Kreuzzüge keine spezifisch kaiserliche Aufgabe. Sie wurden ohne kaiserliches Zutun initiiert und durchgeführt: Die Züge Barbarossas und Friedrichs II. konnten kaum den Charakter eines Paradigma entwickeln. Ja, man könnte die These aufstellen, dass erst nach dem Scheitern der unter Leitung der französischen Könige stehenden Kreuzzüge die unliebsam gewordene Aufgabe den römischen Kaisern zugeschoben wurde.516 Doch brachte ein Kreuzzug, der Vierte, bekanntermaßen gar ein Kaiserreich hervor. Bezüglich des lateinischen Kaisertums ist eine Kombination mehrerer Entwicklungen zu konstatieren, die zu einer Verstärkung des Gedankens der kämpferisch-tapferen Tatkraft führte und die den Kaiser als Ritter forderte. Nikolas Jaspert unterscheidet drei Faktoren, die das ritterliche Bewusstsein bedingten: Familienbewusstsein, Ehrvorstellungen und Lehnswesen.517 Das Familienbewusstsein spielte im Zusammenhang mit den lateinischen Kaisern vor allem dadurch eine Rolle, dass Familienangehörige der flandrischen Kaiser bereits vor 1204 auf Kreuzzügen im byzantinischen Reich unterwegs waren; ja im flandrisch-französischen Raum schien diesbezüglich eine regelrechte Familientradition zu bestehen.518 Die bereits stark ausgeprägte Vorstellung vom bewaffneten „Heidenkampf“ fand ihre Verstärkung in den ritterlichen Idealen, die ebenso im westfranzösischen Raum ausgesprochen lebendig waren. Das lateinische Kaiserreich versammelte nicht nur Männer, die durch diese Traditionen geprägt waren, sondern entwickelte sich auch selbst zu einer Hochburg der Pflege ritterlich-höfischer Vorstellungen, wie sich an den umtriebigen Troubadouren zeigte. Deren Tätigkeit ist nicht zu unterschätzen, bildeten Troubadoure über ihre Dichtung doch ein wichtiges Element bei der Genese und dem Erhalt ritterlicher Ideale.519 Hinzu trat noch die Funktionslogik des 515

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Vgl. zum Themenkomplex Kreuzzug – ritterlich-höfische Welt Hiestand, Kreuzzug (1986); vgl. zum Zusammenhang mit Friedrich II. Hiestand, Friedrich II. (1996), insb. S. 129–133; vgl. zu den verschiedenen Überformungen der Kaiseridee durch den Kreuzzug Friedrichs II. Hechelhammer, Verwendung (2002); vgl. auch Hechelhammer, Kreuzzug (2004), insb. S. 31– 40 zur Vielfältigkeit der Motivlagen. So ließe sich Jones, Eclipse (2007), 349 weiterdenken. Der Bezug der Kreuzzugsbewegung zum Kaisertum war durch die Bannung Heinrichs IV. 1095 blockiert worden. Jaspert, Kreuzzüge (2010), 18 Man denke in diesem Zusammenhang nur an die flandrischen Grafen oder die späteren Kaiser aus dem Hause Courtenay, deren Ahnen und „Kollegen“ faktisch alle in verschiedene Kreuzzugsunternehmen involviert waren. Vgl. Ciggaar, Counts (1990); vgl. auch Hendrickx, Baudoin IX (1971) und allgemein Ciggaar, Mercenaries (1981). Dies wird insbesondere an der Figur des Raimbaut de Vaqueiras deutlich. Vgl. zu ihm Hopf, Bonifaz (1877); Diez, Leben (1882); Linskill, Poems (1964) und zum breiteren Konnex Troubadoure-Kreuzzüge Ranawake, Ottenton (1989); Saouma, Croisade (1996); Dijkstra, Troubadours (1989); Puckett, estoire (1989).

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Lehnswesens: Wenngleich die Wirksamkeit lehnsrechtlicher Regelungen in jüngerer Zeit kritisch hinterfragt wurde, erwiesen sich doch die personalen Abhängigkeiten und Querverbindungen sowie die um den Vorstellungskomplex von „Rat und Hilfe“ bzw. „Schutz und Schirm“ gruppierten Leitvorstellungen als potentiell konfliktintensivierend. Rasch konnten sich Auseinandersetzungen zwischen zwei oder mehreren Personen zu Konflikten ganzer Personenverbände entwickeln, die sich in „ritterlicher Treue“ verbunden fühlten.520 Diese verschiedenen Traditionsbestände lagerten sich am lateinischen Kaisertum an, überformten andere Kontinuitätslinien und prägten den Weg seiner Entwicklung in nicht unbeträchtlicher Weise, indem eine gewisse kriegerische Unruhe Einzug hielt. Generell sind es allerdings nicht nur kriegsbezogene Aufgaben, die mit der Konzeption Kaisertum verbunden wurden. War die Rechtswahrung und -sprechung eine Verpflichtung, die Kaiser, König, Fürst und Konsul verband, so scheint die Gesetzgebung und die Anlage von Gesetzessammlungen und Rechtsbüchern zeitweise als eine genuin kaiserliche Funktion angesehen worden zu sein.521 Sicherlich gibt es auch Beispiele königlicher Gesetzgebung und Rechtssammlungen.522 Doch auch hier stand häufig die Imitation kaiserlichen Wirkens im Vordergrund, wie sich etwa in der Rechtssammlung Alfreds des Großen oder in den Siete Partidas Alfons X. zeigt. Auch die Rechtssammlungen Ludwigs des Heiligen sind in diesem Kontext zu verorten.523 Die kaiserliche Majestät sollte laut antikem Gedankengut legibus armatam vollzogen werden, dem Mittelalter galt der Kaiser des Liber Augustalis als Vater und Sohn der Gerechtigkeit.524 Entsprechend nimmt es auch nicht wunder, dass Rechtspflege und Gesetzgebung zu den Hauptaufgaben eines Kaisers gezählt wurden. 525 Jeder, der kaiserlichen Rang beanspruchen wollte, musste sich ihrer annehmen – man denke nur an die Kapitulariengesetzgebung Karls des Großen.526 Ebenso hatte Gregor VII. in seinem 520 521 522 523

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Vgl. hierzu auch unten, Abschnitt ‚Lehnsrecht‘. Vgl. Gagnér, Studien (1960), S. 115f.; Klinkenberg, Theorie (1969), 160–162 und 182f. Vgl. auch Möller, Kaiserrecht (2012). Vgl. als Überblick auch Signori, 13. Jahrhundert (2007), 122–129. Vgl. als Überblick Wolf, Gesetzgebung (1996) und grundlegend Pennington, Prince (1993); vgl. zu Alfred Abels, Alfred (1998), 274–284 und zum Hintergrund Brauer / Cecini / Dücker, Rückblickend nach vorn gewandt (2011), 120–126, zu den Siete Partidas Scheppach, partidas (1991), insb. S. 32–66 zur Einordnung und Interpretation und im engeren Zusammenhang Berges, Kaiserrecht (1964) sowie Schlieben, Macht (2009), 133–138 und zu den Ordonanzen Ludwigs des Heiligen Le Goff, Ludwig der Heilige (2000), 601–605. Der berühmte erste Satz aus dem Prooimion der Institutionen lautet ausführlich: Imperatoriam maiestatem non solum armis decoratam, sed etiam legibus oportet esse armatam, ut utrumque tempus et bellorum et pacis recte possit gubernari et princeps Romanus victor existat non solum in hostilibus proeliis, sed etiam per legitimos tramites calumniantium iniquitates expellens, et fiat tam iuris religiosissimus quam victis hostibus triumphator; vgl. zum Liber Augustalis MGH Const. 2, Supplementum, I, 31, S. 185: iustitie patrem et filium. Vgl. insb. Dilcher, Kaisergedanke (2000). Vgl. hingegen Krause, Kaiserrecht (1952), 15. Vgl. die vielschichtigen Beiträge in Mordek, Studien (2000).

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Dictatus papae die Gesetzgebung als päpstliches Reservatrecht definiert. Wenngleich dies kirchliche Gesetze betraf, zeigen die restlichen Sätze doch den engen Konnex zur Übernahme kaiserlicher Funktionen und Repräsentationsformen.527 Ein weiteres, wenngleich noch etwas residuales Beispiel bietet Friedrich Barbarossa, der befahl, die Habita in das Corpus Iuris Civilis aufzunehmen.528 Das wohl prominenteste Beispiel im hier behandelten Zeitraum stellt der im Auftrag Friedrichs II. abgefasste Liber Augustalis dar.529 Im byzantinischen Raum blieb die Kontinuität zur Spätantike bezüglich Rechtspflege und Gesetzgebung weitgehend ungebrochen: Hier war der Kaiser theoretisch dem Gesetz nicht unterworfen, sondern verkörperte es in seiner Person, hier war die Rechtssetzung ganz selbstverständlich Teil der kaiserlichen Aufgaben.530 Im Westen stand hingegen zunächst vor allem Konstantin I. als paradigmatischer erster christlicher Herrscher531 im Fokus der Aufmerksamkeit; Justinian, der Kaiser der Rechtssammlung und Wiedererrichtung der Kaiserherrschaft532, trat möglicherweise erst im Laufe der „Wiederentdeckung des römischen Rechts“ im 12. Jahrhundert wieder in den Vordergrund – vielleicht erstmals als es um die (Re-)Integration Italiens ging. Gerade das römische Recht konnte nämlich dazu dienen, weiträumige Herrschaften zu stützen und zu legitimieren, es stellte eines der im imperialen Erbe verankerten Fundamente vieler imperialer Ordnungen dar. Es gewann vor allem dann an Einfluss, wenn es durch Interessenkongruenzen zwischen Herrschern und Rechtsgelehrten aktiviert wurde.533 Allerdings blieben der Kaiser und das Recht in einer eigentümlich virtuell-idealen Sphäre gefangen. Weder sollte der Kaiser wirklich gestaltenden Einfluss auf das römische Recht gewinnen, noch das römische Recht unmittelbare Geltung in den jeweiligen „Einzelstaaten“ erlangen. Denn der Kaiser wurde häufig von dritter Seite ins Spiel gebracht, 527

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Das Register Gregors VII.. Ed. Caspar, Nr. 7, S. 203: Quod illi soli licet pro temporis necessitate novas leges condere, novas plebes congregare, de canonica abbatiam facere et e contra, divitem episcopatum dividere et inopes unire. Gleich darauf folgt Nr. 8, S. 204: Quod solus possit uti imperialibus insigniis. Die Habita wurde auf Befehl Barbarossas hinter C. 4, 13, 5 eingereiht. Friedrich II. inkorporierte dem Codex seine Krönungsgesetze von 1220 auf 11 Stellen verteilt. Hingegen fand die Authentica Sacramenta puberum, ein Teil des ronkalischen Landfriedens, spontane Aufnahme hinter C. 2, 27 (28), 1 (Weimar, Corpus [1999], 275). Stürner, Konstitutionen (1996), insb. S. 264; van Eickels, Legitimierung (2008), 394–397. Lilie, Einführung (2007), 161 und Simon, Princeps (1984), insb. auch S. 487–490 zur praktischen Seite. Vgl. auch grundlegend Wyduckel, Princeps (1979), etwa S. 44f. Vgl. zu den Rechtssammlungen Lilie, Byzanz (2003), 222. Vgl. hierzu Leeb, Konstantin (1992), 143–176. Vgl. zur Problembehaftung einer Vorbildhaftigkeit Konstantins Olbrich, Kaiser (2008) und abwägend Demandt, Konstantin der Große (2008). Vgl. zur Einordnung Konstantins in die antike Kaiserpanegyrik Ronning, Herrscherpanegyrik (2007). Vgl. zu Konstantin in Byzanz Berger, Legitimation (2008). Vgl. zum Hintergrund Mazal, Justinian I. (2001), 86–194, 253–306. Man erinnere sich nur an die vier durch Friedrich Barbarossa erlassenen Gesetze von Roncaglia: die leges Regalia, Omnis iurisdictio, Palacii et pretoria und Tributum.

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die Aufgabe der Gesetzgebung ihm angetragen: Ohne näher auf die verschiedenen Forschungstraditionen eingehen zu können, sei nur darauf verwiesen, dass es wohl vor allem die Romanisten waren, die den Kaiser eine gewisse Zeit gleichsam systemisch als Denkfigur benötigten. In dieser Funktion verschwand der Kaiser aus den Traktaten, als die Rechtswissenschaft gelernt hatte, römisches Recht auch ohne den Kaiser anzuwenden.534 Große Bedeutung sollte auch das Lehnsrecht für das hochmittelalterliche Kaisertum erlangen: „Auch Lehnsrecht ist Kaiserrecht“.535 Sicherlich war das Lehnsrecht im Westen ein allgemeines Phänomen, standen häufig auch Könige und Fürsten an der Spitze der jeweiligen „Lehnspyramide“. Kennzeichnend für den kaiserlichen Rang war jedoch – etwa in staufischer Zeit mit der sich entfaltenden Heerschildordnung – die Stellung des Kaisers an der Spitze des jeweiligen Lehnsverbandes, die Tatsache dass er „keinen über sich duldet“. Im Kontext der vorliegenden Arbeit erweist sich lehnsrechtliches Gedankengut in dreierlei Hinsicht als bedeutend: Erstens erklärt es die Schärfe der Auseinandersetzungen, mit der sich das römische Kaisertum gegen eine päpstliche Lehnsmannschaft wehrte – Stichwort Besançon536 – und die Versuche des Papsttums, wahrscheinlich durchaus in Imitation der kaiserlichen Position, die Lehnshoheit über verschiedene europäische Königreiche zu erlangen. Zweitens imitierten verschiedene europäische Könige – allen voran der französische – das Kaisertum insofern, als sie sich im Nahbereich ihrer Macht an die Spitze des jeweiligen Lehnsverbandes setzten und keine ähnliche Macht neben und über sich duldeten.537 Drittens schließlich entwickelte sich das Lehnsrecht zum „Exportschlager“: Nicht nur die verschiedenen Kreuzfahrerherrschaften, sondern auch verschiedene später eroberte Gebiete des Mittelmeers wurden lehnsrechtlich organisiert.538 Das Lehnsrecht schien folglich auch die einzige Möglichkeit, ein lateinisches Kaiserreich von Konstantinopel „denkbar“ zu machen und somit zu organisieren. Diese Tendenzen waren im Raum des östlichen Mittelmeeres jedoch keineswegs ungewöhnlich. Auch im Bereich des byzantinischen Reiches finden sich lehnsrechtliche Vorstellungen.539 Gab es nun aber auch im Bereich des unmittelbaren Gestaltungsraumes kaiserlicher Herrschaft bestimmte Elemente, die sich von „regulärer“ königlicher oder fürstlicher Herrschaft unterschieden? Anders ausgedrückt: Machte es für einen adligen Laien einen 534 535 536 537 538 539

Kienast, Deutschland 2 (1975), 417–479. Dilcher, Kaisergedanke (2000), 165–167. Vgl. zum Lehnsrecht die Beiträge in Dendorfer / Deutinger‚ Lehnswesen (2010) und Spieß, Lehnswesen (2002), 15–59 und für die Zeit Barbarossas Dendorfer, Roncaglia (2010). Vgl. noch immer grundlegend Heinemeyer, beneficium (1969). Vgl. Baldwin, Government (1986), 259–303, insb. S. 261; Baldwin, Case (1988), insb. S. 197f.; Bradbury, Philip Augustus (1997), 228. La Monte, Monarchy (1932); Topping, Institutions (1949); Jacoby, féodalité (1971). Als ein Beispiel ist Kreta unter venezianischer Herrschaft zu nennen. Vgl. Kazhdan, State (1993).

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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grundsätzlichen Unterschied, ob er einem Kaiser oder einem König „im politischen Tagesgeschäft“ gegenübertrat? Für die absolute Herrschaft eines Einzelnen galt und gilt Byzanz geradezu als Paradigma. Zwar kommt in solchen Bildern auch ex negativo eher die Sehnsucht mancher Teile der Geschichtsschreibung nach einem „starken Mann“ zum Ausdruck. Allerdings hat diese Ansicht insofern eine Berechtigung, als die Machtmittel vor allem finanzieller Art im byzantinischen Raum in der Tat in kaisernaher (wenngleich nicht kaiserlicher) Verfügungsgewalt blieben. Für den Bereich des westlichen Kaisertum kann man die Frage hingegen weitgehend verneinen. Sicherlich gestanden die theoretischen Schriften dem Kaiser eine Stellung weit oberhalb der Position eines Laienadligen zu. In der Realität unterlag jedoch die kaiserliche Herrschaft den Bedingungen jeder anderen Form hochmittelalterlicher Herrschaft und es scheint kaum möglich, Aussagen betreffs der Differenzen „materieller Herrschaft“ zwischen Königen und Kaisern herauszudestillieren. Von Bedeutung könnte jedoch ein Unterschied sein: Im Gegensatz zum Königtum war das Kaisertum im Grunde eine städtische Konzeption. Zu beachten ist hier zum einen die Tatsache, dass die Schwerpunkte des römischen Kaiserkultes und der mit dem Kaisertum assoziierten Bauten und Schriften aufs engste mit der städtischen Kultur verbunden waren. Zum anderen bündelte das antike Kaisertum gleichsam kommunale Kompetenzen und beruhte – wie bereits gesehen – legitimatorisch auf der Herrschaft über eine Zentralstadt.540 Sicherlich traten im Verlauf des Mittelalters Änderungen im Konnex von Kaisertum und Städtewesen ein. Generell kann jedoch sowohl im Osten als auch im Westen davon ausgegangen werden, dass Städte wichtige Zentren kaiserlicher Herrschaft blieben, wenngleich sich ihre Funktion im und ihre Beziehung zum Gesamtsystem selbstverständlich änderten. Gerade im Westen setzte die entscheidende Rekonfiguration / Renaissance der kaiserlichen Paradigmen – die Aktivierung des imperialen Erbes – in einer eigentümlich veränderten Gesamtsituation ein, kann man doch die fränkische Herrschaft kaum als stadtzentriert bezeichnen. Bereits unter den Ottonen ist jedoch von einem auch städtisch geprägten Kaisertum zu sprechen, denn die Schwerpunkte der Herrschaftstheorie und -repräsentation lagen in den Bischofsstädten, man denke nur an Köln, Mainz, Magdeburg oder Bamberg, in späterer Zeit Speyer.541 Betrat der Kaiser gar Italien, tauchte er in das imperiale Erbe einer faktisch lückenlos städtisch geprägten Landschaft ein, wurde von Bauwerken, Rechten, Gesetzen und Traditionen umfangen. Ober- und Mittelitalien waren die Kontinuitätsträger des antiken Kaisertums. Die Spannung zwischen beiden Traditionssträngen – dem südalpinen, eher antik geprägten und dem nordalpinen, eher „fränkisch„ geprägten – sollte sich jahrhundertelang auf die westliche Kaiser540 541

Benoist, Rome (2005); vgl. zu der Beziehung von Kaiser und Städten generell Dahlheim, Funktion (1982), 68f. Vgl. zur Situation etwa Hirschmann, Stadt (2009), 4f.; vgl. auch die Beiträge in Escher / Hirschmann, Zentren (2004).

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konzeption auswirken.542 Sicherlich sind dies keine dem Kaisertum allein vorbehaltenen Elemente. Auch für die europäischen Könige hatten Städte ausgesprochen wichtige Funktionen – man denke nur an Paris oder Reims. Im Hochmittelalter sollte sich jedoch die Herrschaft über Städte kaum je zu einem tragenden Element der königlichen Herrschaftsvorstellung entwickeln wie dies in Oberitalien für das Kaisertum der Fall war. Eine Ausnahme bilden möglicherweise die Kreuzfahrerherrschaften. Hier stellten die Städte nicht nur ein Zentrum der materiellen Herrschaft dar, sondern waren auch Träger akkumulierter Herrschaftstraditionen – eine Funktion, die auch Palermo für das normannisch-sizilische Königtum ausgeübt haben könnte.543 Der byzantinische Osten war sicherlich noch städtisch beeinflusst, allerdings gab es hier Spannungen zwischen den in unterschiedlichem Maße städtisch geprägten Landschaften. Städte bestimmten allerdings aus zwei Gründen nicht in dem Maße wie im Westen die Entwicklung der Kaiserkonzeptionen: Zum einen unterlag das Gebiet des byzantinischen Reiches Änderungen der räumlichen Ausdehnung, die häufig auch katastrophalen Charakter der Kontraktion trugen und deshalb die einzelnen Regionen kaum wie Italien im Westen zum Kontinuitätsträger werden konnten. Zum anderen hatte Konstantinopel als Zentrum des Reiches einen ganz anderen Stellenwert als etwa Rom für das westliche Kaisertum. Die unmittelbare und dauerhafte Herrschaft über die urbs regia war gleichsam conditio sine qua non des byzantinischen Kaisertums. Im Gegensatz dazu war die Herrschaft über Rom (bzw. Aachen für die römische Königskrönung) für das westliche Kaisertum überspitzt formuliert nur zuzeiten des Krönungszuges wichtig.544 Und auch sonst gab es im Westen kaum eine Stadt, deren dauerhafter Besitz und unmittelbare Beherrschung für den Kaiser wichtig gewesen wäre. Eine Ausnahme mögen die Versuche Friedrich Barbarossas und Friedrichs II. dargestellt haben, die lombardischen Städte zu unterwerfen. Wenngleich diese Versuche zu einem guten Teil auch macht- bzw. finanzpolitisch motiviert waren, verbanden sie sich doch mit bestimmten Konzeptionen kaiserlicher Herrschaft, schärfte das Kaisertum gerade auch in Oberitalien seine definitorischen Elemente.545 Umgekehrt blieb die kommunale Herrschaftsform noch lange Zeit auf die Figur des Kaisers angewiesen. Über die Ausübung kaiserlicher Herrschaftsrechte wurden die Städte zum Teil in die Nähe kaiserlicher Ord542 543

544 545

Knöpp, Stellung (1928). Vgl. hierzu auch Weinfurter, Herrschaftsvorstellungen (2010) und grundsätzlich Burkhardt, Autorität (im Druck). Vgl. allgemein die Beiträge in Hartmann, Städte (1995); vgl. zu den Ansiedlungen in den Kreuzfahrerherrschaften generell etwa Riley-Smith, Gründung (2005), insb. S. 47–49; Nader, Burgesses (2006); vgl. zu Süditalien Oldfield, City (2009), insb. S. 263–265 und Burkhardt, Heritage (2013), 153. Vgl. hierzu oben, den Abschnitt ‚Die Zentralstadt‘. Vgl. Stürner, Deutschland (2002); Haverkamp, Städte (1982); Schulte, Friedrich Barbarossa (2004); Opll, Expeditio (2002); Dartmann, Legitimation (2008); Görich, Misstrauen (2005); Fasoli, Federico II (1976); Voltmer, Formen (1987); Cammarosano, Federico II (1995); Voltmer, Kommunen (2002); Weber, Kommunikation (2008) und mit Bezug auf Mailand: Hermes, Libertatis (1999). Vgl. ebenso Burkhardt, Autorität (im Druck).

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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nungsvorstellungen und Repräsentationsformen gebracht. Um diese Aspekte besser beurteilen zu können, sei im Folgenden ein Blick auf die kaiserliche Repräsentationskultur geworfen.

I.3.3 Kaiserliche Repräsentationskultur Bereits mehrfach wurde bisher deutlich, dass es in nur sehr begrenztem Maße „materielle“ Elemente gab, die das „Mehr“ des Kaisertums im Unterschied zum Königtum klar definieren. Wie weiter oben bereits angedeutet, scheint es vielmehr so zu sein, dass die Inszenierung des kaiserlichen Ranges, etwa in Bauten, in Ritual und Zeremoniell, eine bedeutende Rolle als Distinktionsmerkmal spielte. Gerade deshalb lassen sich auch über die Analyse der kaiserlichen Repräsentationskultur konzeptionelle Elemente des Kaisertums fassen.546 Zugleich erlaubt es eine Analyse der dynamischen Veränderung dieser Elemente, das heißt ihrer Hybridisierung, Rückschlüsse auf die Veränderungen der gesellschaftlichen Gegebenheiten zu ziehen, die sich auch in der Konfiguration der höfischen Gesellschaft widerspiegelten.547 Wege kaiserlicher Ritualdynamik Anhand einer Untersuchung des Kaiserzeremoniells lässt sich auch eine Antwort auf die Frage geben, wann das Kaisertum als Konzeption entstand.548 In seiner westlichen und östlichen Ausprägung führte es spätantike Traditionen weiter, die jedoch recht stark durch unterschiedlichste Traditionen und Einflüsse überformt worden waren. Diese spätantiken Traditionen stellten wiederum ein Hybridisat verschiedenster Elemente der antiken Welt in all ihren Schattierungen dar. Häufig wird die Phase einer entscheidenden Verdichtung der Kaiserkonzeption bei Diokletian (284–305) angesetzt. Bei ihm meinte man die Aufnahme „hellenistischorientalischer Traditionen“ und die daraus folgende Überwucherung des „rational“ organisierten und sich etwa unter Augustus bieder gerierenden Prinzipats zu erkennen.549 Die Forschung der letzten Jahre kritisierte diese These, schoss aber vielleicht über das 546

547 548 549

Vgl. zur Thematik grundsätzlich Althoff, Macht (2008) und Althoff / Stollberg-Rilinger, Spektakel (2008). Vgl. auch zum breiteren Kontext Wenzel, Repräsentation (2005), 9–20; vgl. stellvertretend für die reiche Literatur die Beiträge in Ragotzky / Wenzel, Repräsentation (1990). Vgl. für den kaiserlichen Bereich Michalsky, ponte (1997), insb. S. 140–146 und für die Antike etwa Ando, Ideology (2000), 206–335. Bosl, Hofgesellschaft (1998); Bumke, Kultur (2005); vgl. für Süditalien Kölzer, Königshof (2006); für das Reich im 12. Jh. Laudage, Hof (2006); Rodley, Court (2003); Kazhdan / McCormick, World (1997); Tronzo, Court (1997). Vgl. grundsätzlich zum kaiserlichen Zeremoniell: Ronning, Herrscherpanegyrik (2007), 65–106, 226–286. Vgl. zu einem Vergleich zwischen Ost und West im 12. Jahrhundert Anca, Repräsentation (2010). Vgl. hierzu kritisch Alföldi, Ausgestaltung (1934), 5. Vgl. etwa auch ebd. den angeführten Gegensatz von Romana libertas und servitus Persica.

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Ziel hinaus und ebnete die Brüche unter Diokletian allzu sehr ein.550 Gerade unter ihm lassen sich nämlich Veränderungen im Auftreten des Kaisers feststellen, die sich auch im Kaiserornat niederschlugen. Eingang fanden hier Perlen, Edelsteine und Diademe – die Zeichen des „orientalischen Großkönigtums“.551 Hinzu trat möglicherweise eine stärkere Inszenierung der herrscherlichen Abgehobenheit etwa qua Proskynese, die sich für die Geschichtsschreibung der OstWest-Beziehungen als zentral erweisen sollte. Denn gerne wurde und wird hinsichtlich der herrscherlichen Stellung in pejorativer Absicht die Kontinuitätslinie von der Antike zu „Byzanz“ gezogen552 und mit der Meistererzählung vom freiheitsliebenden Okzident und dem knechtend-tyrannischen Orient verknüpft, die durch die Jahrhunderte erstaunliche Wirk- und Lebenskraft entfaltet(e) und auch in der Ritualforschung ihren Widerhall fand. Erinnert sei nur an die Beschreibungen Ottos III., der sich – gleichsam vergiftet von byzantinischen Einflüssen – von der guten, deutschen Herrschaftspraxis abgewendet und wahnhaften Jünglingsallüren gefrönt habe.553 Sicherlich sind viele dieser Thesen zu hinterfragen, aber es scheint doch einen grundlegenden Unterschied zwischen „Ost“ und „West“ gegeben zu haben, gewisse, kulturraumbezogene Ungleichgewichte, etwa wie viel „Abgehobenheit“ einem Herrscher zugestanden wurde.554 Im „Osten“, in Byzanz, konnte die Formensprache – vielleicht auch wegen der räumlichen Zentrierung in Konstantinopel – mit stärkerer Stimme sprechen, konnten sich spätantike Bestandteile des Zeremoniells, wenngleich stark gewandelt, länger halten. Demgegenüber wurden im westlichen Bereich entsprechend der Funktionsbedingungen konsensualer Herrschaft nur geringere Versinnbildlichungen kaiserlicher Suprematie akzeptiert. Auf diese Frage ist im Folgenden besonderes Gewicht zu legen. Allerdings entwickelte sich das Kaiserzeremoniell nicht in unterschiedlichen, voneinander abgeschotteten Blöcken. Ein Ansatz, der auch die Verschränkungen und Austauschbeziehungen berücksichtigt, kann den Blick für gemeinsame Wurzeln, unterschiedliche Entwicklungen und gegenseitige Beeinflussungen schärfen. Es gab immer wieder Zeiten intensivierten Kontaktes, in denen z. B. die westlichen Formen der Kaiserrepräsentation durch „hellenisierende Tendenzen“ beeinflusst wurden, wie auch umgekehrt „der Westen“ Byzanz prägte.555 Diese Hybridisierungsprozesse waren aufs 550 551 552 553

554 555

Kolb, Herrscherideologie (2001), 21f. Kolb, Herrscherideologie (2001), 49f. Domaszewski, Geschichte (1914), 320 bezeichnet das Hofzeremoniell Diokletians als eine „groteske Mischung, die man eben byzantinisch nennt“. Vgl. etwa die angebliche Angewohnheit Ottos III., einsam zu speisen: Die Chronik des Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung. Ed. Holtzmann, lib. 4, c. 47, S. 187: solus ad mensam quasi semicirculus factam loco caeteris eminenciorci; vgl. auch die Wertung bei Giesebrecht, Geschichte 1 (1881), 719f. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Die Abgehobenheit des Kaisers‘. Vgl. etwa zu Theophanu Von Euw / Schreiner‚ Begegnung (1991).

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engste mit veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten und daraus entspringenden legitimatorischen Bedürfnissen verbunden. Dennoch darf man über eine Betrachtung der Querverbindungen nicht vergessen, den Blick auch auf die eigenständigen Entwicklungsdynamiken, die Rezeptions- und Modifizierungsprozesse im Zeitverlauf zu lenken. Dies wird insbesondere im westlichen Bereich deutlich. Hier kristallisieren sich im 12. und 13. Jahrhundert zwei überragende Vorbilder kaiserlicher Herrschaftsrepräsentation heraus: Hoch idealisiert wurde Karl der Große quer durch die gelehrte Tradition zitiert, eher unterschwellig – etwa über die Ordines – wirkte Otto der Große.556 Denn möglicherweise ist der entscheidende Punkt in der Genese des mittelalterlichen westlichen Kaisertum mit Otto I. auch ähnlich zeremoniell markiert wie für die Spätantike mit Diokletian: In bewusster Aufnahme des Vorbilds Karls wurde die Kaiserkrönung Ottos wohl in Absprache zwischen den kaiserlichen und den päpstlichen Gesandten vollzogen.557 Otto III. mag kurzzeitig die römisch-antike Qualität des Kaisertums in Anlehnung an byzantinische Traditionen herausgestellt haben, formende Kraft auf die Ausgestaltung des westlichen Kaiserzeremoniells konnten diese Rezeptionsprozesse aber nicht entfalten.558 Gab es auch zu salischer Zeit einige beachtliche Entwicklungen des Kaiserzeremoniells, finden sich die entscheidenden Markpunkte wohl erst im 12. Jahrhundert: Unter Lothar III. und Friedrich Barbarossa erfuhr insbesondere die Frage nach der Zuordnung von Kaisertum und Papsttum ihre ritualzentrierte Behandlung in der Frage des Stratordienstes. Eine erneute Steigerung der Ausdrucksformen des kaiserlichen Amtes findet sich unter Friedrich II.: Unter ihm fand der ganze Formenreichtum normannischer Königsherrschaft Eingang in die kaiserliche Repräsentation, wurde aber auch offensichtlich der päpstliche Ornat paradigmatisch für die kaiserliche Prunkkleidung.559 Falsche Kaiser Was aber sind die entscheidenden Elemente, die die kaiserliche Repräsentation ausmachen? Wer sind die „Ritualmacher“ hinter den Kulissen, die auch für den Transfer dieser Elemente sorgen können? Wie ist der Konnex zwischen Ritual und Legitimität und zwischen Virtualität und Realität beschaffen? Eine Annäherung an Antworten kann die Betrachtung zweier falscher Kaiser – des sogenannten falschen Balduins und des sogenannten falschen Friedrichs, Tile Kolup – geben. Falsche Herrscher können nämlich als Indikator für die Wirkung von Vorstellungen kaiserlicher Herrschaft dienen. Ohne Möglichkeit, sich auf etablierte Strukturen oder Ressourcen zu stützen, war ihr einziges 556 557 558 559

Vgl. neben der oben in Anm. 72 genannten Literatur auch Hoffmann, Karl der Grosse (1919); Keller, Ottonen (2000); Bastert, Heros (2001); Ratkowitsch, Karlsbild (2004); Schütte, Karl der Große (2004). Laudage, Otto der Große (2006), 185. Vgl. demgegenüber zu Recht kritisch Althoff, Otto III. (1996), 120–122. Keupp, Wahl (2010), 235–246.

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Kapital die Kraft ihrer vorgegebenen Person, der „Schein des Äußeren“. Gerade „Hochstapler“ ermöglichen somit auch eine geschärfte Erfassung der zeitgenössischen Vorstellung von kaiserlicher Herrschaft und ihrer maßgeblichen repräsentativen Elemente.560 Hierbei soll der falsche Balduin im Vordergrund stehen.561 An der Wende des Jahres 1224 / 1225 geschah in der Gegend um Tournai und Valenciennes Aufsehen Erregendes. Graf Balduin von Flandern und Hennegau, Kaiser des lateinischen Kaiserreiches, schien zurückgekehrt. Dabei war er doch 20 Jahre zuvor, nach der verlorenen Schlacht von Adrianopel, in bulgarischer Gefangenschaft gestorben – nach einem Gerücht endete sein Kopf als Trinkgefäß des bulgarischen Zaren Kalojan. Ein abgerissener Eremit weigerte sich zunächst standhaft, seine kaiserliche Identität zu enthüllen, ließ sich dann aber doch durch den regionalen Adel vom Gegenteil überzeugen. Ja, er sei aus bulgarischer in sarazenische Gefangenschaft geraten, anschließend zum Islam konvertiert und deshalb vom Papst zu einer siebenjährigen Buße verurteilt worden, die nun erfüllt sei.562 Rasch fand er Anerkennung, vor allem bei den Städten, aber auch beim englischen König und den Herzögen von Brabant und Limburg. Es entspann sich ein regelrechter Bürgerkrieg gegen die ungeliebte Gräfin von Flandern, Balduins Tochter Johanna, und den sie unterstützenden französischen König Ludwig VIII.563 Der König von Frankreich empfing den Kaiser und stellte ihm Fragen zu dessen Vorleben: Nein, er äußerte sich weder zu seinem Lehnseid an Philipp II. Augustus, noch zu seinem Ritterschlag, noch zu seiner Heirat mit Maria von der Champagne. Auch seine geographischen Kenntnisse bezüglich der eigenen Heimat waren höchst lückenhaft. Der anwesende Bischof von Beauvais meinte in dem vermeintlichen Kaiser einen Hochstapler zu erkennen, der bereits einmal inhaftiert worden war, weil er vorgegeben habe, Graf Ludwig von Blois zu sein – ein Adliger, der auf dem Schlachtfeld von Adrianopel gefallen war.564 Die „kaiserliche“ Entourage erklärte seine Zurückhaltung bei der Befragung durch den König jedoch damit, dass er dies als der kaiserlichen Würde abträglich ansah. Unglücklicherweise war der Kaiser am nächsten Tage nicht mehr auffindbar. Er wollte mit seinen treuesten Anhängern zum Kölner Erzbischof Engelbert von Berg fliehen; an den Ufern des Rheins verließ er jedoch auch seine Begleiter – unter Mitnahme der Reisekasse.565

560 561 562 563 564 565

Vgl. grundlegend Lecuppre, imposture (2005); Schwinges, Verfassung (1987); Struve, Utopie (1977). Vgl. zu ihm Wolff, Baldwin (1952), 294–301, der die recht umfangreiche Quellenlage exzellent aufbereitet hat, weshalb im Folgenden vor allem auf seinen Aufsatz verwiesen sei. Vgl. ebenso Schwinges, Verfassung (1987), 179f. mit einer Übersicht zu den Quellen auf S. 201. Wolff, Baldwin (1952), 295f. Wolff, Baldwin (1952), 296. Wolff, Baldwin (1952), 297f. Wolff, Baldwin (1952), 298.

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Einige Zeit später wurde er in der Nähe von Besançon gefasst, in Ketten und zwischen zwei Hunden in Flandern umhergeführt und hingerichtet.566 Eine der wichtigsten Tatsachen, an die der falsche Balduin bei seiner „Hochstapelei“ anknüpfen konnte, war der mysteriöse Verbleib Balduins I. in bzw. nach der Schlacht von Adrianopel, der bereits bei zeitgenössischen Chronisten für verschiedene Spekulationen sorgte.567 Der Bulgarenzar Kalojan hatte selbst nicht unerheblichen Anteil daran, dass auch die physische Existenz des lateinischen Kaisers in die Sphäre der Virtualität verklärt wurde. In seine Gefangenschaft war Balduin nämlich geraten, und zunächst suchte Kalojan den flandrischen Grafen als eine Art Faustpfand für Verhandlungen zu gebrauchen, ließ ihn dann aber – wohl eher unüberlegt – ermorden. Sich des Nachteils seines Handelns bewusst, erweckte er noch längere Zeit den Eindruck, Balduin sei noch am Leben, bevor er schließlich zugab, der lateinische Kaiser sei in Gefangenschaft gestorben.568 Der falsche Balduin machte sich diese Verwirrung wohl zu Nutzen. Jacques de Guyse berichtet davon, dass viele Menschen in Flandern und Hennegau am Tod Balduins I. zweifelten.569 Schon allein daran wird deutlich, dass der falsche Balduin über gewichtige Hintermänner verfügt haben muss. Gezielt gebrauchte der Kaiser den ganzen Fundus des Zeremoniells: Pfingsten 1225 trug er eine Krone, schlug zehn Männer zu Rittern, verteilte Lehen, stellte Urkunden aus als imperator Constantinopolitanus et comes Flandriae und besiegelte sie mit seinem kaiserlichen Siegel.570 Er bereiste purpurgewandet Flandern und ließ sich ein Kreuz vorantragen – Lille, Brügge und Gent

566 567 568 569

570

Wolff, Baldwin (1952), 298f. Vgl. zu den Quellenstellen zu Balduins Tod Gerland, Geschichte (1905), 92 / Anm. 3. Gerland, Geschichte (1905), 91f. Vgl. auch S. 93 / Anm. 2 zu den Nachforschungen Heinrichs zum Verbleib seines Bruders, die Anlass zu weiteren Spekulationen – und eben auch dem Vorgehen des falschen Balduin – gaben. Iacobi de Guisia Annales Historiae Illustrium Principum Hanoniae. Ed. Sackur, lib. 20, c. 1, S. 259: Paucis evolutis mensibus inimicis Leviatan suscitantibus volaverunt rumores per totam Flandriam, quod Balduinus imperator vivebat, et quod manus Sarracenorum evaserat, et quod in brevi ad Flandriam reverteretur. Unde multi sexus utrisque agitabantur, nescientes cui credere, ambigui efficiebantur; et in tantum excrevit illorum opinio, ut rex Francie et Philippus Namurcensis, imperatoris frater, cogerentur comunitatibus Flandrie atque Hanonie litteras eis ostendere de morte Balduini atque suorum, quas Henricus, eius frater, qui successerat sibi in imperio Constantinopolitano, ipsis transmiserat, mortem dicti Balduini continens. Sed litteras audientes et sigilla litterarum videntes, multi eorum dicebant huiusmodi litteras fore subrepticas et confictas. Vgl. Chronica Albrici Monachi Trium Fontium a Monacho novi Monasterii Hoiensis interpolata. Ed. Scheffer-Boichorst, 915: duobus fere mensibus regnavit, crucem ante se ferri quasi imperator fecit, coronam in die pentecostes tulit, decem novos milites creavit, novas cartas sigillavit et feoda divisit. Die Intitulatio findet sich bei Albert von Stade, Annales. Ed. Lappenberg, 358: Sed ipse se imperatorem Constantinopolitanum et comitem Flandriae appellavit, habens sigillum eodem titulo innotatum.

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öffneten ihm die Tore.571 Der falsche Balduin musste folglich entweder selbst sehr gut mit den korrekten diplomatischen und zeremoniellen Techniken der Zeit vertraut sein oder über einschlägig versierte Helfer – etwa ehemalige Kanzleiangehörige – verfügen. Für mächtige Förderer, denen der falsche Balduin als mögliches Wucherpfand gegen den französischen König gerade recht kam, spricht auch, dass angeblich sowohl König Heinrich III. von England als auch Herzog Heinrich von Brabant den falschen Balduin anerkannten; Heinrich III. soll ihm sogar ein Bündnis gegen den König von Frankreich vorgeschlagen haben.572 Drei Faktoren lassen sich hier erkennen, die dem falschen Balduin eine Inanspruchnahme des kaiserlichen Ranges ermöglichten: die Anknüpfung an virtualisierte Leitfiguren, professioneller Sachverstand, der den gezielten Gebrauch bestimmter symbolischer Kommunikationsformen – insbesondere eines Siegels – erlaubte und die Protektion durch Verbündete, vor allem Gegner des jeweils legitim regierenden Herrschers und Städte, die jedoch tunlichst im Hintergrund blieben und keinesfalls stützend eingreifen wollten. Blicken wir hier kontrastierend knapp auf den falschen Friedrich.573 Tile Kolup stand in einer bereits etablierten Tradition. Im Jahr vor seinem Wirken hatte sich bereits ein Eremitenbruder – man beachte die Parallelen zum falschen Balduin – im Elsass als Friedrich II. ausgegeben. Tile konnte in Köln nicht reüssieren, jedoch in Neuss – möglicherweise unter Protektion des Kölner Erzbischofs – sogar Hof halten. Auch hier fanden sich rasch Unterstützer, selbst manche nobiles et barones terre ein. Auch er gebrauchte ein Siegel, das ihn als Kaiser auszeichnete, stellte Urkunden aus und schrieb Briefe. Bis nach Oberitalien soll sein Ruf gedrungen sein. Auch fand Kolup die Unterstützung mancher Städte des Elsass. Bei der Ankunft König Rudolfs brach die Stellung des falschen Friedrich jedoch ebenso rasch zusammen wie jene des falschen Balduins, und Tile wurde bei Wetzlar als Ketzer und Zauberer verbrannt.574 Die Anklagepunkte deuten auf die eigenartige und zugleich hochgefährliche Magie hin, die von Hochstaplern ausging. Auch in diesem Fall wird deutlich, dass erneut ein virtualisiertes Vorbild vorlag: Ganz so wie der verschwundene Balduin galt auch Friedrich II. – als im fernen Süden abwesender Kaiser – eigentlich schon längere Zeit als „lebend und nicht lebend“.575 Auch bei Tile erstaunt der Sachverstand, mit dem den Erwartungen der Menschen an einen Kaiser entsprochen wurde. Die Hauptwirkung entfaltete offensichtlich erneut ein zentrales Zeichen kaiserlicher Herrschaft: das Siegel. Es war ja gerade auf transpersonale Herrschaft ausgerichtet, konnte also auch einem nicht Berechtigten Herrschafts571 572 573 574 575

Wolff, Baldwin (1952), 297 mit Anm. 145 und 146. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 157. Vgl. Heidemann, Kaiseridee (1898), 22–24 und grundsätzlich Kalle, Tile (1968). Vgl. Struve, Friedriche (1988), insb. S. 319f. mit einer ausführlichen Quellenübersicht in Anm. 9. Vgl. Salimbene de Adam, Cronica. Ed. Scalia, 251, 349, 505, 784 zum berühmten Sibyllenzitat Vivit et non vivit.

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ausübung erlauben. Ebenso ist abermals von Bedeutung, dass es gerade Städte waren, die dem falschen Kaiser Unterstützung gewährten – wahrscheinlich eine Folge der Tatsache, dass das Kaisertum weiterhin eine spezifisch städtische Konzeption blieb. Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für das Kaisertum ziehen? Zum einen sicherlich, dass beide Hochstapler in einem bestimmten Raum und zu einer bestimmten Zeit Kaiser waren. Sie waren reine Form und die Quelle ihrer Legitimation lag in virtuellen Sphären. Insofern trafen für sie zwei Charakteristika zu, die das Kaisertum in seiner höchsten Ausprägung allgemein auszeichnen. Den „Praxistest“ bestanden sie jedoch – ebenso wie viele virtualisierte Formen des Kaisertums – nicht.576 Eine Erfolgsvoraussetzung des Kaisertums war nämlich, dass es sich – gekoppelt mit einer entsprechenden imperialen Ordnung – keine Entscheidungen aufzwingen ließ und so lange warten konnte, bis die Konditionen des „Praxistests“ den eigenen Präferenzen entsprachen. Oder aber es suchte sich aus den entsprechenden Konflikten herauszuhalten und abzukapseln. In beiden Fällen bewegte es sich in einer eigenen, einer imperialen Zeit.577 Problematisch wurde es erneut, wenn man daran ging, die Virtualität in Realität zu transferieren und die Bedingungen durch externe Faktoren diktiert werden. Die Kaiserkrönung Als ein Element der Zeremonien, bei denen Virtualität und Realität verbunden wurden, kann im westlichen Bereich die Kaiserkrönung gelten. Sie war wohl das bedeutendste Ritual im Zusammenhang mit dem Kaisertum.578 Grundsätzlich kamen in der Krönung für alle klar erfassbar die bereits behandelten legitimatorischen Grundlagen des Kaisertums und seine Hauptaufgaben, deren Erfüllung man erwartete, zum Ausdruck. Der Gehalt der Krönung zeigt sich in mehreren Dimensionen: Erstens war die Kaiserkrönung der entscheidende Akt der Rangerhöhung eines Königs, bei dem auch die Rangdifferenz möglichst klar gekennzeichnet werden musste, da die inszenierte Rangdifferenz neben dem Titel „Kaiser“ das einzige klare Element war, das einen König von einem Kaiser unterscheidbar machte. Aber auch die kuriale Theorie sah die Kaiserkrönung seit ca. 1200 als den entscheidenden Akt der Übertragung kaiserlicher Gewalt an.579 Zweitens verhinderte das recht strikt geregelte Verfahren die nicht legitimierte Ranggrenzenüberschreitung. Dies trug wiederum zur Befriedung des „Wegs zur Krone“ und zur Stabilisierung des Kaiseramtes bei: Der potentielle Kaiser musste so viele Vetomächte integrieren – von denen er keine Zustimmung erzwingen konnte –, dass sich weder Gewaltanwendung noch Usurpation als gangbare Wege erwiesen. Aufgrund der

576 577 578 579

Vgl. zur Virtualität unten, Abschnitt ‚I.4 Zwischenfazit: Mediterranes Kaisertum – Virtuelles Kaisertum‘. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Zeitsouveränität und Schweigen‘. Vgl. bereits Diemand, Ceremoniell (1894). Vgl. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 267.

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Notwendigkeit, diese Kräfte einzubinden, zeigte sich das Kaisertum gerade im Ritual der Krönung explizit als konsensuale Konzeption. Im byzantinischen Bereich war eine solche Bedeutungsdimension der Krönung nicht gegeben.580 Dennoch ist auch hier die Markierung der Ranggrenzenüberschreitung mit der Krönung keineswegs ohne Belang. Zwar war das Krönungszeremoniell nicht im Einzelnen festgelegt und änderte sich im Zeitverlauf immer wieder, man kann jedoch grob zwei Akte unterscheiden: In einem ersten Schritt akklamierten Vertreter des Senats, der Armee und der Bevölkerung Konstantinopels dem neuen Kaiser in Sprechchören und priesen ihn, danach wurde ihm vom Patriarchen die Krone aufs Haupt gesetzt.581 Wenngleich der kirchlichen Krönung keine „rechtliche“ Bedeutung zukam, war sie letztlich der entscheidende Akt, der auch die Usurpation legitimierte, ihm gegenüber konnten die anderen Elemente zurücktreten. Insgesamt zeigte sich der Weg zur Kaiserkrönung in Byzanz weniger geregelt als im Westen, für eine Usurpation brauchte man vereinfachend formuliert nur ein Paar Purpurstiefel, Zugang zum Kaiserpalast und einen willigen Patriarchen. Ob und inwieweit sich ein Usurpator durchsetzen konnte und er den Konsens der Herrschaftsunterworfenen genoss, zeigte sich meist erst in den folgenden Auseinandersetzungen. Die Zeremonien zum Herrschaftsantritt des Basileus werden recht ausführlich im Zeremonienbuch des Konstantin Porphyrogennetos geschildert.582 Wenngleich diese Quelle kaum als authentische und unveränderliche Grundlage des byzantinischen Kaiserzeremoniells angesehen werden kann, vermittelt sie doch einen Eindruck, welch einzigartige Stellung man dem Basileus zugestand. Kein anderer Amtsinhaber konnte sich diese Zeremonien in mehrerer Hinsicht „leisten“; die Differenz zwischen Basileus und nächsthöherem Ranginhaber wurde gleichsam monopolisiert. Auch die noch erhaltenen Krönungsmosaiken kann man in diesem Sinne interpretieren, sie sollten die Inszenierung der Ranggrenze im Bild dauerhaft verstetigen. In eindeutiger Weise kommt gerade bei ihnen aber noch ein weiteres wichtiges Element des byzantinischen Kaisertum zum Ausdruck, das auch im Krönungszeremoniell veranschaulicht wurde: die Gottesunmittelbarkeit kaiserlicher Herrschaft. Der Basileus konnte sich deshalb als a Deo coronatus betrachten, da der Patriarch ihn nur im Namen Gottes krönte – eine Vorstellung, die sich auch in den zur kirchlichen Krönung gesungenen Herrscherlaudes wiederfindet.583 Die Herrschaft qua Gnade Gottes stand der Vorstellung und Inszenierung einer deutlichen Ranggrenze mitunter aber auch diametral entgegen: Im Zweifelsfall konnte Gott seine Gnade entziehen und auch andere zur Herrschaft berufen. Diese Spannung durchzog das gesamte byzantinische Kaisertum.

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Vgl. zum Erhebungsritual des byzantinischen Kaisers Yannopoulos, couronnement (1991). Lilie, Einführung (2007), 135. Vgl. auch Trampedach, Kaiserwechsel (2005), 278f. Vgl. Constantine VII Porphyrogenitus, De ceremoniis aulae byzantinae 1. Ed. Reiske, lib. 1, c. 91–95. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 18.

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Entsprechende Tendenzen nahm das Kaisertum im Westen – auch in Abgrenzung zu päpstlichen Theorien – immer wieder auf, vor allem den Titel a Deo coronatus, sie konnten sich allerdings nicht als allein bestimmend durchsetzen.584 Dies zeigt sich bei einem genaueren Blick auf den westlichen Krönungsritus. Der Begriff der Krönung bezieht sich im Westen, wie bereits für den byzantinischen Raum geschildert, sowohl auf die Gesamtzeremonie beim Herrschaftsantritt als auch im engeren Sinne auf das „Aufsetzen der Krone“.585 Krönungen konnten verschiedene Elemente mit unterschiedlicher zeitlicher Sequenzierung beinhalten wie aus dem jeweiligen Krönungsordo ersichtlich wird: u. a. Petitio und Promissio, Befragung des Volkes, einleitende Benediktionen, Salbung, Insignienübergabe, Krönung, Übergabe weiterer Insignien, Akklamation, Krönungsmahl. Gab es hierbei signifikante Unterschiede zwischen Königskrönung und Kaiserkrönung? Markierten diese Unterschiede auch verschiedene Legitimationsmuster? Bedeutend ist in diesem Zusammenhang auch die Frage nach dem Koronator: Wer krönte den Kaiser? Musste es immer ein Papst sein? Eine der Hauptquellen zur Beantwortung dieser Fragen sind die Krönungsordines. Es stellt sich grundsätzlich die Frage, wie aussagekräftig diese als Quelle für die Ideenkomplexe im Zusammenhang mit dem Kaisertum sind.586 Die Ordines können wohl als hoch signifikant eingestuft werden, da sie zum einen als Bestandteil der Pontifikalien in einer erstaunlichen Vielzahl von (zum Teil differierenden) Abschriften vorhanden sind587 und man also davon ausgehen kann, dass diese Quellen die Vorstellungen des Klerus von einem idealen Kaisertum vielleicht stärker prägten als alle sonstigen Quellen zusammen. Zum anderen wurde auf ihre Abfassung besondere Sorgfalt verwendet, da die Kaisererhebung einer der wenigen Akte war, bei denen Kaisertum und Papsttum ihre Herrschaftskonzeptionen im rituellen Medium austauschten und sich auf einen bestimmten Status quo einigten.588 Mit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert scheint sich das Zeremoniell der westlichen Kaiserkrönung zu stabilisieren, hieran könnte sich auch die generelle Verfestigung der kaiserlichen Konzeptionen zeigen.589 Im Folgenden sollen deshalb vor allem anhand der Ordines einzelne Elemente der Kaiserkrönung geschildert werden. Aus Platzgründen wird kein vollständiger Abriss angestrebt, vielmehr

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Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 117f. Schnith, Krönung (1999). Vgl. grundsätzlich Schramm, Ordines (1930). Vgl. Büttner, Weg (2012), etwa S. 17. So etwa auch KO, S. VII: „Bei der Kaiserkrönung vereinigten sich die Träger der höchsten geistlichen und weltlichen Gewalt zu einer gemeinsamen Feier, deren geistliche und weltliche Elemente im gesprochenen Wort, in Gesten und Handlungen, in Zeichen und Gewändern das Verhältnis beider Gewalten zueinander deutlich zum Ausdruck brachten“. Vgl. Elze, Kaiserkrönung (1968), 373 / Anm. 60 in Anlehnung an Pfaff, Diskussion (1959), 305: „Erst vom 13. Jh. an kann man für das Zeremoniell der Kaiserkrönung von der ‚großen Beharrlichkeit und dem unübertroffenen Konservatismus’ der Kurie sprechen“.

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sollen nur einzelne aussagekräftige Elemente Ranggrenzenüberschreitung klar markieren.590

Behandlung

finden,

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Ort und Koronator Betrachten wir zunächst den Krönungsort. Dieser war bei der Kaiserkrönung weitaus wichtiger als bei vielen anderen (Königs-)Krönungen. Man denke nur an die Möglichkeit eines römisch-deutschen Herrschers, sich „am falschen Ort“ krönen zu lassen591, während eine Kaiserkrönung außerhalb Roms zumindest im hohen Mittelalter undenkbar war592. Hinsichtlich der Lokalitäten und ihrer Sequenzierung, etwa der Krönungskirche und dem Ablauf der Prozessionen, bestanden hingegen größere Variationsmöglichkeiten. Allzu oft wurden nämlich durch innerrömische Auseinandersetzungen nicht nur die feierliche Atmosphäre, sondern auch der Ablauf der vorgeschriebenen Handlungen empfindlich gestört, ja die Kaiserkrönung an sich häufig bedroht. Bei der Durchführung der einzelnen Akte musste somit eine größere Variationsmöglichkeit gegeben sein. So wurden etwa nicht alle Kaiser in St. Peter geweiht.593 Wie bei jeder Königskrönung wurde auch bei Kaiserkrönungen mit dem Ort eine Vorentscheidung über den Koronator getroffen. Der römische Kaiser hatte das gesamte Hochmittelalter keine Alternative – er war auf den päpstlichen Konsens angewiesen. Andere Herrscher strebten eine Krönung durch den Papst jedoch aus mehr oder minder freien Stücken an.594 Eine Berücksichtigung ihrer Motive kann den Blick für die vielschichtigen Bedeutungszusammenhänge der päpstlichen Krönung schärfen. Für die Könige, die um eine päpstliche Krönung ersuchten, spielte sicherlich die Stärkung der eigenen Legitimation eine Rolle – sowohl gegen äußere als auch gegen innere Gegner. So lassen sich etwa die päpstlichen Krönungen der Normannenherrscher im 12. Jahrhundert und König Peters II. von Aragon im 13. Jahrhundert erklären.595 Eng hiermit verbunden sind die Lehnsnahmen des eigenen Reiches aus päpstlicher Hand, die auch in der päpstlichen Krönung ihren inszenativen Ausdruck finden konnten. Schließlich bestand über eine päpstliche Krönung auch die Möglichkeit, den eigenen Rang ein

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Es geht also darum, darzustellen, wie es Elze, Kaiserkrönung (1968), 366 ausdrückt, „wie man sich den Hergang dieser feierlichen Handlung, bei der Papst und Kaiser zusammenwirken und der Welt ein sinnfälliges Bild vom Verhältnis der beiden höchsten Gewalten zueinander geben sollten, in Rom um diese Zeit vorstellen konnte“. Diese Krönungen wurden jedoch häufig – wie etwa bei Friedrich II. – am „richtigen Ort“ wiederholt. Aachen blieb dominant. Im Frühmittelalter war eine Kaiserkrönung auch in Aachen möglich, während in der frühen Neuzeit Karl V. auch in Bologna gekrönt werden konnte. Schneidmüller, Kaiser (2007), 11f. Vgl. zu einem Beispiel aus dem skandinavischen Raum Kaufhold, Norwegen (1997), 317–319. Herbers, Geschichte (2006), 193.

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gewisses Stück in Richtung kaiserlichen Rang zu verschieben.596 Gleichwohl beinhaltete eine Krönung durch den Papst über die Verstetigung dieser Krönungstraditionen auch die Gefahr, den Herrschaftsantritt zu verkomplizieren bzw. dem Papsttum allzu viel Einfluss einzuräumen. Manche dieser Krönungen mögen denn auch eher der Initiative Roms entsprungen sein. In diesem Spannungsfeld von besonderer Legitimation und drohender Einschränkung bewegte sich auch die Kaiserkrönung. Im Normalfall war es jedoch der ranghöchste Kleriker im jeweiligen Herrschaftsbereich, der bei einer Königskrönung eine führende Position einnahm. So wurde etwa der König von Jerusalem durch den Patriarchen in der Hauptkirche der Stadt und des Königreiches – der Grabeskirche – gekrönt.597 Ähnliches galt auch für die Könige von Frankreich mit dem Erzbischof von Reims und die normannischen Könige mit dem Erzbischof von Palermo.598 Eine ähnliche Funktion wie Reims, ja teilweise wie Rom nahm für eine gewisse Zeit offensichtlich die spanische Stadt León ein. Hier konnten sich kaiserliche Traditionen ablagern, die gleichsam „papstfrei“ auf der Iberischen Halbinsel entstanden waren. Die Stadt entwickelte sich zu einer Trägerin bestimmter Kaiserkonzeptionen. Später sollte ein Teil dieses Erbes durch Toledo übernommen werden. Nun trat eine Hybridisierung der verschiedenen Kaiserkonzeptionen ein, wurde das iberische Kaisertum durch römische Formen überlagert: Der noch zu erwähnende sogenannte „Ordo von Konstantinopel“ geht auf das „Pontifikale der Römischen Kurie“ zurück und wurde in Spanien zu einem an die dortigen Verhältnisse angepassten Kaiserordo umgewandelt: „Rom„ wurde durch „Toledo„ ersetzt, „Petrus“ durch „Maria“, der Papst durch den Erzbischof und drei Kardinalbischöfe durch zwei spanische Bischöfe.599 Bis in das 13. Jahrhundert hatte sich aber auch in Spanien die Einsicht durchgesetzt, dass für ein legitimes Kaisertum ein päpstlicher Koronator unabdingbar war. Entsprechend wurde im Vertrag, den Alfons X. mit Pisa nach seiner „Wahl“ abschloss, auch die Krönung Alfons’ recht genau festgelegt.600 Gerade diese Planungen zeigen erneut die wichtigen Stabilisierungsfunktionen der päpstlichen Kaiserkrönung: Dem Papsttum kam der Status eines „Vetospielers“ zu, es herrschte Einigungszwang. All dies gilt es auch für das lateinische Kaisertum im Hinterkopf zu behalten. Denn für das byzantinische Kaisertum war eine Herrschereinsetzung außerhalb Konstantinopels ebenso undenkbar wie für das römische Kaisertum eine Krönung außerhalb 596 597 598 599 600

Diese Motivlage mag bei den normannischen Königen eine Rolle gespielt haben. Vgl. hierzu Burkhardt, Heritage (2013), 153f. und 160. Mayer, Pontifikale (1967), 155. Bur, origines (1997); vgl. zu den normannischen Krönungsordines und der Bedeutung Siziliens Elze, Königtum (1982) und Elze, ordines (1973). Vgl. hierzu Schramm, Königtum (1950), 135 und Elze, Krönung (1982), VII 844. MGH Const. 2, Nr. 393, S. 492: Et quod tempore nostre coronationis Romam vel ad dominum papam, secundum quod alterum magis de consilio nostro, ipsius comunis Pisarum et aliorum fidelium imperii et regnorum nostrorum processerit, veniemus magnifice et potenter, ut nostrum decuerit maiestatem.

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Roms gewesen. Der Schock von 1204 saß auch ritualdynamisch gesehen sehr tief, und man meint hinsichtlich des Herrschaftsantritts der Kaiser von Nikaia zu erkennen, dass erst allmählich das Trauma der Eroberung überwunden wurde.601 Dennoch blieb auch aus Gründen einer legitimen Kaiserkrönung die Rückeroberung Konstantinopels ein wichtiges Element der politischen Agenda. Ganz anders zeigte sich demgegenüber der etwas formlos-unstetige Charakter des lateinischen Kaiserreiches. Zunächst war nicht festgelegt, wer den Kaiser wo krönte. Hier wirkte die Macht des Ortes und die Macht des Faktischen: Die erste Krönung Balduins von Flandern fand in der gerade eroberten Stadt durch ranghohe Bischöfe des Kreuzfahrerheeres statt. Diese eigenständige Form der Kaiserkrönung – dem iberischen Kaisertum nicht unähnlich – unterlag jedoch rasch ebenfalls „Romanisierungstendenzen“. Der bald eingesetzte lateinische Patriarch von Konstantinopel, dessen Bestellung letztlich durch das Papsttum kontrolliert wurde602, sollte fortan die Kaiser krönen. Wohl mit der Absicht einer Stärkung der eigenen Legitimation verbunden, erstrebten insbesondere die späteren Kaiser eine Krönung in Rom durch den Papst. Das Papsttum suchte diese Tendenzen jedoch zu beschränken, um insbesondere den Rang des lateinischen Kaisers klar von dem des Westkaisers zu sondern. So führt etwa der Casus Sancti Galli aus, dass der Krönungsort der Westkaiser die Peterskirche in Rom sei, im Gegensatz dazu jedoch S.Lorenzo für die Kaiser von Konstantinopel vorgesehen sei603 – wenn sie, wie man ergänzen möchte, nicht in Konstantinopel selbst gekrönt wurden. Insofern glich der lateinische Kaiser einem westlichen König, der in Rom durch den Papst gekrönt wurde. So krönte etwa Innozenz III. 1204 Peter von Aragon in Rom zum König – allerdings in S.Pancrazio und nicht in St. Peter.604 Bei Karl I. von Anjou näherte sich das Krönungszeremoniell 1266 hingegen bedeutungsschwer der Kaiserkrönung an. Dies war nicht so sehr durch die Tatsache einer päpstlichen Krönung an sich bedingt; jene Entscheidung war gewissermaßen durch die Eigenschaft Karls als päpstlicher Lehnsmann vorgeprägt. Vielmehr waren 601 602 603

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Angelov, Ideology (2007), insb. S. 351–416. Santifaller, Beiträge (1938), 17–24. Vgl. Conradi de Fabaria Casus Santi Galli. Ed. von Arx, c. 8, S. 171: Innocencio viam universe carnis ingresso, Honorium, suum successorem, pro regni adiens negociis, imperatorem Constantinopolitanum, qui interim, eo in civitate manente, promovendus in imperatorem eo loci cum magno venerat apparatu, ne apud sanctum Petrum consecraretur, allegacionibus impedivit quam plurimis, dicens: eo pro Romani statu imperii ibi manente, non licere imperatorem consecrari, nisi de voluntate principum principis. Veniente imperatore Constantinopolitano, cum assurgeretur sibi a cardinalibus et a cunctis Romane dignitatis optimatibus, abbas gloriosissimus, loco sedens Romani principis, non movebatur, indignantis animi signans effigiem, ac si non legatorie, sed possessionaliter locum solii teneret imperialis. Consecratus est autem imperator non in ecclesia beati Petri, sed in ecclesia beati Laurencii extra muros. Qui cum coronatus, in civitatem dum vellet peragrare toto conatu, ne fieret elaboravit et a optavit. Herrn Prof. Dr. Jochen Johrendt (Wuppertal) sei für diesen Hinweis gedankt. Elze, Krönung (1982), VII 843.

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Zeremoniell und Ort ungewöhnlich: Fünf Kardinäle krönten Karl; im Gegensatz zu allen anderen Koronanden wurde ihm ebenso wie dem römischen König die Peterskirche als Ort der Rangerhöhung eingeräumt.605 Sicherlich war Karl Senator von Rom und gewiss lag die Peterskirche im Machtbereich der ihn stützenden Orsini. Dennoch war die Ortswahl an sich bedeutungsschwer. Der sizilische König konnte also Rechte beanspruchen, die einem Kaiser von Konstantinopel niemals eingeräumt wurden. Dies führte wohl dazu, dass Karl von Anjou zu seiner Zeit als einzigartig mächtig galt, während der lateinische Kaiser von Konstantinopel sich in westlichen Augen im Rang eher einem König anglich, der in seiner Hauptstadt durch eine Art Metropoliten seines Königreiches gekrönt wurde. In griechischen Augen stimmte zwar der Ort Konstantinopel, doch hatte der lateinische Kaiser ein entscheidendes Manko: das eigene Bekenntnis und die Krönung durch einen lateinischen Schismatiker. In Bezug auf eine eindeutige Inszenierung der Ranggrenzenüberschreitung qua Ort und Koronator war das lateinische Kaisertum in gewissem Sinn eine Sackgasse – es blieb ein Kaisertum zweiter Klasse. Einzug, Akklamation und Salbung Der erste bedeutende Akt des Krönungszeremoniells war die zum Krönungsort führende Prozession. In Anlehnung an die Antike, als der Princeps an der Stadtgrenze eingeholt wurde, findet sich auch bei der mittelalterlichen Kaiserkrönung der Einzug des zu Krönenden, wenngleich diese Handlung kein Bestandteil des liturgischen Krönungszeremoniells ist.606 Etwas vom antiken Zeremoniell des Imperatoreneinzugs mag noch in der Schilderung Helmolds von Bosau durchscheinen, der berichtet, die Römer hätten Barbarossa aufgefordert, in der Art eines antiken Kaisers zur Krönung in Rom einzuziehen: auf einem goldenen Wagen, in Purpur gewandet und hinter einem Tross aus Gefangenen und Beute.607 Wirkt wohl bereits hier noch das imperiale Erbe nach, so könnte es sich auch bei den 1014 genannten 12 Senatoren, die dem Kaiser das Geleit gaben und die auch später, Anfang des 13. Jahrhunderts, noch – wenngleich ohne Zahl – genannt werden, um einen fernen Widerschein jener 12 Liktoren handeln, die den Kaiser in der Antike zu begleiten pflegten.608 Während die Forderungen der Römer gegenüber Barba605 606 607 608

Vgl. Elze, Krönung (1982), VII 843 / Anm. 5. Sein Sohn Karl II. sollte nach einem abgewandelten Kaiserordo gekrönt werden. Vgl. Schramm, Mitra (1954), 80f. Vielleicht war ja dies auch bereits bei Karl I. der Fall. Vgl. die Zusammenstellung der Quellen bei Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 183 / Anm. 11. Helmold von Bosau, Slawenchronik. Ed. Schmeidler, lib. 1, c. 80, S. 151: Regem propter imperiale fastigium Romam venientem decet venire more suo, hoc est in curru aureo, purpuratum, agentem pre curribus suis tyrannos bello subactos et divitias gentium. Vgl. zu 1014 Die Chronik des Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung. Ed. Holtzmann, lib. 7, c. 1, S. 396: anno autem regni eius tercio decimo et die dominica ac XVI. Kal. Marcii Heinricus Dei gratia rex inclitus a senatoribus duodecim vallatus, quorum VI rasi barba, alii prolixa mistice incedebant cum baculis. Vgl. auch die Stelle in KO XVIII, Nr. 2, S.

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rossa Fiktion blieben, konnte das imperiale Erbe in anderen Fällen – etwa anlässlich des Sieges Friedrichs II. bei Cortenuovo – durchaus in die Sphäre der Wirklichkeit übergehen.609 Dass die Rückgriffe nicht stärker waren, hatte sicherlich auch mit der Vermischung weltlicher und geistlicher Elemente zu tun, die das Kaiseramt auszeichnete: Die Antike blieb als Vorbild stets präsent, wurde aber von der eigentümlich konservativen Sphäre der liturgischen Vorschriften umwunden. Der Weg des künftigen Kaisers und die an den verschiedenen Stellen zu vollziehenden Rituale unterlagen somit einer eingeschränkten Dynamik. Der zu Krönende ritt durch die Porta Collina bei der Engelsburg ein und wurde dort durch den Klerus Roms mit Kreuzen und Weihrauchfässern empfangen.610 Dem Kandidaten wurden bei seinem Einzug in Rom (zumindest im 11. Jahrhundert) das Reichskreuz, die heilige Lanze und (durch den prefectus Urbis) ein Schwert vorangetragen.611 Deutlich zeigt sich hier der sakrale Charakter des Kaisertums. Ein wichtiges Element bei der Einholung des Königs waren die an verschiedenen Stellen abzulegenden Eide. Der zu Krönende sollte insgesamt vier Eide leisten: Drei Mal schwor er den Römern, ihre guten Gewohnheiten zu achten und die Pachtverträge zu schonen612; dem Papst leistete er den Schutzeid613. Diese Eide waren Ausdruck der kaiserlichen Stadtherrschaft. Auf dem Weg zu St. Peter huldigten dem Kaiser Griechen und Juden in ihrer Sprache.614 Sinnfällig wurde hier – wie an kaum einer anderen Stelle – die Universalität des Kaisertums zum Ausdruck gebracht. Auf der obersten Stufe der Freitreppe vor der Peterskirche sollte der zu Krönende durch den Papst empfangen und zu Kuss und Umarmung zugelassen werden.615 Das Adoptionszeremoniell durch Mantelumhüllung und Brustkuss machte den Kaiser zum defensor ecclesiae.616 Beim folgenden Einzug des Kaisers zur Silbernen Pforte werden nur der lateranensische Pfalzgraf und der Primicerius der römischen Richter erwähnt, über das Gefolge des künftigen Kaisers wird keine Aussage getroffen.617 Allerdings zog der zu Krönende wohl kaum alleine weiter.

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72 (vom Anfang des 13. Jahrhunderts): Cum autem pervenerit ante basilicam in platea que Cortina vocatur, dextrandus est a senatoribus usque ad gradus predictos, ubi eo descendente tradendus est equus, cui rex insederat, illis. Vgl. zu Friedrich II. und dem Carroccio oben, Anm. 494. Elze, Kaiserkrönung (1968), 366. Vgl. KO XIII, Nr. 2, S. 34: imeratorem ante portatur crux plena ligno dominico et lancea sancti Mauritii und KO XVIII, Nr. 1, S. 62: prefecto urbis gladium preferente. KO IV, Nr. 57–59, S. 47. Mit dem KO XIV, Nr. 3, S. 37 trat zum traditionellen Schutzeid (vgl. KO I, Nr. 1, S. 2) noch ein Treueid des Kaisers hinzu, womit sich die Kaiserkrönung der Bischofsernennung anglich, aber auf den sonst üblichen Gehorsamseid wurde verzichtet: electus iurat fidelitatem domino pape. Vgl. zu Heinrich V. Annales Romani a. 1044–1184. Ed. Pertz, ad a. 1111, S. 474: Ante portam a Iudaeis, in porta a Graecis cantando exsceptus est. Elze, Kaiserkrönung (1968), 366. Vgl. hierzu Schludi, Advocatus (2010), 48f. Elze, Kaiserkrönung (1968), 367.

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Im lateinischen Kaiserreich wird nur anlässlich der Krönung Balduins I. – und dies auch nur sehr knapp – der Ablauf der kaiserlichen Prozession geschildert. Ein erstes Element war die Einholung des Kaisers aus dem Bukoleon-Palast zur Krönungskirche, der Hagia Sophia – in Anlehnung an die traditionellen byzantinischen Krönungsorte, aber auch übereinstimmend mit der Prozession der westlichen Kaiserkrönung.618 Westlichen, französischen Elementen ist hingegen das folgende Einzugszeremoniell entnommen: Ein hoher Vasall trug das kaiserliche Banner, ein weiterer das Schwert, der höchste die Krone, und dessen Arme wurden dabei durch zwei Bischöfe gestützt:619 Deutlich zeigt sich hier die Parallele zu der Krönungszeremonie im Königreich Jerusalem.620 In Bezug auf die weiteren Stationen konnte die Krönungszeremonie des lateinischen Kaisers an byzantinische Traditionen anknüpfen. Aus der Schilderung des Berichtes – und dem Fehlen entsprechender Quellen zu späteren Krönungen – ist jedoch nicht klar ersichtlich, ob es ein festes „Skript“ gab, das die Elemente kaiserlicher Legi-

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Vgl. Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 96, S. 93f.: Et quant li haut homme furent trestot laiens, si prisent jour de l’empereeur coroner; et quan che vint au jour, si monterent et li vesque et li abé et trestout li haut baron et Venicien et Franchois, si s’en alerent u palais de Bouke de Lion. Adont si en amenerent l’empereeur au moustier Sainte Souphie, et quant il furent venu au moustier, si mena on l’empereur en un destour du moustier, en une cambre („Als die hohen Adligen alle da waren, bestimmten sie einen Tag, um den Kaiser zu krönen. Und als dieser Tag gekommen war, bestiegen sie ihre Pferde, und die Bischöfe und die Äbte und alle hohen Barone, Venezianer wie Franzosen, begaben sich zum Bukoleon-Palast. Dann führten sie den Kaiser zu der Kirche Sankt Sophia. Als sie zu der Kirche gekommen waren, führten sie den Kaiser beiseite in einen Raum“). Die traditionelle byzantinische Empfangsprozession zu Ehren des neuen Basileus nahm freilich einen anderen Verlauf (Eichmann, Kaiserkrönung [1942], 180). Vgl. für den Westkaiser etwa die Schilderungen der Kaiserkrönung Heinrichs V. 1111 in den Annales Romani a. 1044–1184. Ed. Pertz, 474, nach denen der Papst dem Kaiser eine Prozession signiferos cum bandis, scrinarii, iudices und stratores und eine große Volksmenge auf den Monte Mario entgegengeschickt habe. Vgl. Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 96, S. 94: si comme on le mena devant l’autel, se li porta li cuens Loeis sen gonfanon emperial, et li cuens de Saint Pol li porta s’espee, et li marchis li porta se corone, et doi vesque soustenoient les deus bras le marchis qui le corone portait, et doi autre vesque adestroient l’empereeur („Als man ihn vor den Altar führte, trug der Graf Ludwig [von Blois] das kaiserliche Banner und der Graf de Saint-Pol trug sein Schwert und der Markgraf trug seine Krone und zwei Bischöfe hielten die beiden Arme des Markgrafen hoch, der die Krone trug; zwei weitere Bischöfe gingen neben dem Kaiser“). Das Tragen der kaiserlichen Krone durch den bei der Kaiserwahl unterlegenen Bonifaz von Montferrat machte für alle die Anerkennung der kaiserlichen Herrschaft durch den Markgrafen sinnlich erfahrbar. Vgl. die Krönung des Königs von Jerusalem, die in Anlehnung an den sogenannten Westfränkischen Ordo durchgeführt wurde: „zwei Barone tragen Krone und Reichsapfel, der Seneschall das Szepter, der Konstabler die Fahne“ (Mayer, Pontifikale (1967), 197). Laut KO XVIII, Nr.1, S. 72 trug der Stadtpräfekt dem zum westlichen Kaiser zu krönenden König ein entblößtes Schwert voraus: prefecto urbis gladium preferente.

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timation so veranschaulichte, wie dies im westlichen Krönungszeremoniell der Fall war.621 Generell sind zwei Fragen von besonderer Bedeutung für die Gestaltung der inszenativen Elemente des Weiteren kaiserlichen Krönungszeremoniells: die Frage nach dem Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt im lehnsrechtlichen Sinne und die Frage, ob einem Kaiser auch geistliche Qualität im liturgisch-kanonistischen Sinne zukam. Blicken wir zunächst auf eine mögliche lehnsrechtliche Interpretation des Verhältnisses von Kaiser und Papst im Westen: Vor der Kirche leistete der Kaiser dem Papst Marschalls- und Stratordienst. Dann bestieg er sein Pferd und ritt neben dem Papst eine bestimmte Wegstrecke.622 Diese beiden Dienste konnten in unterschiedlicher Art und Weise gewertet werden: Sah man sie auf kaiserlicher Seite als Ausdruck der Ehrerbietung gegenüber der geistlichen Gewalt, konnten sie von Angehörigen der Kurie durchaus im Sinne eines Lehnsverhältnisses des Kaisers gegenüber dem Papst aufgefasst werden, das seinen Grund im beneficium der Kaiserkrone hatte. Entsprechend dieser Multivalenz ergaben sich mitunter auch heftige Konflikte um die Deutung jener Formen, die ihren Höhepunkt bekanntermaßen im Vorfeld und nach der Kaiserkrönung Friedrich Barbarossas – Stichworte Sutri und Besançon – fanden. Die Kaiserkrönung selbst blieb jedoch von solchen Auseinandersetzungen frei.623 Hier schien die klare Inszenierung des engen Zusammenwirkens von geistlicher und weltlicher Macht wichtiger zu sein. In mehrfacher Hinsicht konnte es so erscheinen, als ob der zum Kaiser zu Krönende während der Krönungszeremonie geistliche Würden gewänne: während der vorbereitenden Handlungen in S. Maria in Turribus wurde der künftige Kaiser canonicus S. Petri, in der Vormesse wurde der künftige Kaiser vom Papst wie ein Diakon zum Kuss zugelassen.624 Der Kaiser leistete bei der Messe Subdiakonsdienste, indem er dem Papst Wein und Wasser reichte.625 Schramm stellte diesbezüglich einen Widerspruch zwischen den Zeichen und der Intention des Ordo fest: Die dem Kaiser mit den anderen liturgischen Gewändern zugestandene und gleich noch zu behandelnde Mitra war eigentlich Sinnbild des bischöflichen Ranges, während der Ordo den zu Krönenden unter den Grad eines Presbyters herabdrückte.626

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Möglicherweise stand die Krönung Balduins in viel stärkerem Maße in byzantinischen Traditionen als von Clari und den anderen Kreuzfahrern verstanden. Hinweise finden sich im weiteren Verlauf des Zeremoniells, das weiter unten geschildert wird. Elze, Kaiserkrönung (1968), S. 370. Vgl. gleichwohl zur Annahme mancher Chronisten, dass auch die Krönung spannungsgeladen sein konnte etwa das Beispiel der päpstlichen Fußkrönung. Diese Erzählungen analysiert Bojcow, Kaiser (2005). Elze, Kaiserkrönung (1968), 367f. Elze, Kaiserkrönung (1968), 370. Schramm, Mitra (1954), 86. Allerdings ersetzte der KO XX am Ende des 13. Jahrhunderts in Bezug auf die mitra das clericalis durch ein pontificalis (Nr. 54, S. 121).

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Eine Grundvoraussetzung für die Eignung eines Kaisers aus dieser Perspektive war sicherlich seine Rechtgläubigkeit. Dem kaiserlichen Glaubensbekenntnis kam in Byzanz im Rahmen des Krönungszeremoniells zentrale Bedeutung zu. Während die kaiserliche Rechtgläubigkeit im Westen erst mit der intensivierten Ketzerbekämpfung in den Vordergrund trat627, musste der Kaiser in Byzanz nachweislich orthodox sein. Die einzigartige heilsgeschichtliche Funktion des Basileus, die ihn auch von allen Königen unterschied, kam hierin klar zum Ausdruck. Sicherlich war das Glaubensbekenntnis des Kandidaten, das auf einer der großen Porphyrrotae im Petersdom absolviert wurde, auch im westlichen Kaisertum bedeutend. Wichtiger schien hier jedoch die Ablegung der Schutzversprechen des Kaisers, insbesondere die Wiederholung des Pippinschen Schutzversprechens, gegenüber der Römischen Kirche gewesen zu sein.628 Hierdurch fand die heilsgeschichtliche Funktion des Kaisers, die Koppelung von imperium und sacerdotium während der Krönungsfeierlichkeiten ihren zeremoniellen Ausdruck. Dieser Schutz war aber nicht nur mit Pflichten, sondern theoretisch auch mit Rechten verbunden – der Papst war ebenso dem Kaiser gegenüber zu Wohlverhalten verpflichtet. Glaubensbekenntnis und Schutzversprechen berechtigten zum Empfang der Salbung. Die Kaisersalbung orientierte sich an der Königssalbung, die bis auf biblische Vorbilder zurückging.629 Im Westen finden sich die ersten Beispiele ihrer Anwendung wohl im Zusammenhang mit der Königserhebung im spanischen, englischen und irischen Bereich.630 Entscheidende Wirkung für die westliche Tradition könnte – trotz der in jüngerer Zeit geäußerten Kritik – jedoch die Königssalbung Pippin III.s 751 entfaltet haben.631 Der genaue Konnex zwischen den Benediktionen des geistlichen und weltlichen Bereiches – insbesondere die Frage, inwiefern die Bischofsweihe ein Vorbild für die Königsweihe abgab – ist in der Forschung noch nicht endgültig geklärt.632 Jedenfalls war die Verbindung von Salbung und Krönung zunächst offensichtlich nicht so eng wie später. Vielmehr differierte die Bedeutung der Salbung gegenüber der Krönung je nach Ort und Zeit – so blieb etwa die Salbung im französischen Raum der wichtigere Akt gegenüber dem Aufsetzen der Krone.633

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Gleichwohl war die Befragung über den Glauben und insbesondere die Trinitätslehre ein bedeutender Bestandteil des Kaiserkrönungszeremoniells (Eichmann, Kaiserkrönung [1942], 201). Elze, Kaiserkrönung (1968), S. 367. Erstmals wird die Salbung in 1 Sam. 10,1 erwähnt: „Da nahm Samuel den Ölkrug und goss Saul das Öl auf das Haupt, küsste ihn und sagte: Hiermit hat der Herr dich zum Fürsten über sein Erbe gesalbt“. Vgl. abwägend Erkens, Suche (2004); Hack, Herkunft (1999). Vgl. als Überblick Dirkens, Salbung (2008). Vgl. zur kritischen Einordnung Angenendt, Königserhebung (2004) und Semmler, Dynastiewechsel (2003), insb. S. 1–57. Jedenfalls entwickelte die Königssalbung offensichtlich wieder Vorbildfunktion für die Bischofs- und Priestersalbung; vgl. hierzu Anton, Salbung (1999). Büttner, Weg (2012), 741f.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

Die Salbung sollte dem weltlichen Herrscher „beim Herrschaftsantritt eine sakrale Sonderstellung von Gott und durch das Priestertum“ verleihen und zugleich seine Legitimation verstärken.634 Nach dem so genannten „normannischen Anonymus“ stünden die Könige über den Geistlichen, ihre „Stellung, Heiligung und Macht“ sei „größer und heiliger“, weshalb sie über diese herrschen sollten.635 Die salbungsbasierte Heiligkeit des Kaisers füllte die antiken Bezeichnungen sacer oder sanctus mit neuem Inhalt. Diese Heiligkeit konnte – wie unter Ludwig II. geschehen – auch gegen den ungesalbten Basileus in Stellung gebracht werden.636 Ab dem sogenannten Investiturstreit wurde dieses Legitimationskonstrukt jedoch in zunehmendem Maße bestritten. Ihren Fixpunkt fand die Gegenargumentation in der intensivierten Abstreitung des sakramentalen Charakters der Salbung.637 „Von den Weihen behielt allein die der Geistlichkeit ihren Sakramentscharakter, König und Kaiser wurden aus diesem Kreis ausgeschlossen“638. Der Ausschluss materialisierte sich in der Art des verwendeten Öls – Oleum beim König, Chrisam beim Bischof.639 In Frankreich konnte sich diese Entwicklung nicht durchsetzen, da hier das „Himmelsöl“ alle theologischen Differenzierungen überstrahlte.640 Ein wesentlicher Unterschied zwischen Königs- und Kaisersalbung war zunächst die Hauptsalbung des Kaisers im Gegensatz zur längeren Zeit aufrechterhaltenen Händesalbung des Königs, durch die sich ersterer den Bischöfen anglich.641 Später kehrte sich dieses Verhältnis um: der Kaiser wurde „theologisch korrekt“ nicht am Haupt gesalbt, während die Könige entgegen dieser Auffassung die Hauptsalbung für sich in Anspruch nahmen.642 Das Gesagte schlug sich auch in den Ordines nieder: Im KO X ist die Stellung des Kaisers zeremoniell nicht allzu stark elaboriert: zum einen wird der Kaiser nicht durch den Papst alleine geweiht, sondern durch die Bischöfe von Albano, Porto und Ostia. Der Kaiser wird somit also bei der Weihe auf Königsrang „herabge-

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Diósi, Kaisersalbung (2002), 136–140. Büttner, Weg (2012), 742 in Interpretation von Die Texte des normannischen Anonymus. Ed. Pellens, 130, 134, 141, 143. Vgl. MGH Ep. VII, S. 389: Nam Francorum principes primo reges, deinde vero imperatores dicti sunt, hii dumtaxat, qui a Romano pontifice ad hoc oleo sancto perfusi sunt. Ebd. heißt es auch: In qua etiam Karolus Magnus, abavus noster, unctione huiusmodi per summum pontificem delibutus primus ex gente ac genealogia nostra pietate in eo habundante et imperator dictus et christus Domini factus est, praesertim cum saepe tales ad imperium sint asciti, qui nulla divina operatione per pontificum ministerium proposita solum a senatu et populo nichil horum curantibus imperatoria dignitate portiti sunt. Diósi, Kaisersalbung (2002), 142–148. Büttner, Weg (2012), 744. Honorius Augustodunensis, Summa gloria. Ed. Dieterich, c. 33, S. 79. Vgl. zu einem Beispiel aus Norwegen Foerster, Vergleich (2009), 166. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 84f. Vgl. zur königlichen Hauptsalbung Büttner, Weg (2012), 744f.

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drückt“.643 Zum anderen wird der Kaiser – wie bereits erwähnt – auch nicht am Haupt mit Chrisam, sondern nur am rechten Arm und zwischen den Schultern mit geweihtem Öl gesalbt.644 Der entscheidende Grund für diese Modifikationen könnte darin gelegen haben, dem Kaiser inszenativ die harsche Ausgestaltung seiner Kirchenvogtei mittels einer salbungsbasierten Legitimation zu erschweren. Gleichwohl sollten erst in spätstaufischer Zeit – vor dem Hintergrund einer immer differenzierteren und wirkmächtigeren Kanonistik – die feinen liturgischen Abschichtungen und Unterschiede im Zeremoniell realisiert werden. Klar kommt noch im KO XX die Kirchenvogtei im ersten Salbungsgebet Deus cuius est omnis potestas et dignitas zum Ausdruck, wo es heißt, der Kaiser sei nach Gottes Willen constitutus ad regendam ecclesiam645. Sicherlich widersprach dieses Gebet eigentlich der allgemeinen, etwa an der Entwicklung der Salbung ablesbaren Tendenz der päpstlichen Ritualmacher, das Kaisertum aus dem kirchlichen Bereich auszuschließen. Hier zeigte sich jedoch, dass altehrwürdige liturgische Formeln – dem grundsätzlichen Traditionalismus der sakralen Sphäre entsprechend – eine erhebliche Persistenz aufweisen konnten. Generell wurde die Salbung im Zeremoniell nun aber zur Nebensache. Das Kaisertum verlor ebenso im Übrigen Krönungszeremoniell seinen quasibischöflichen Rang, wie umgekehrt das Papsttum immer stärker verkaiserlicht wurde.646 Man kann somit formulieren, dass hinsichtlich der Salbung zwei Entwicklungen zusammenfielen, die den Stellenwert des Kaisertums im 13. Jahrhundert definierten: Zum einen nahm der Charakter der Salbung als heilswirksame Begabung des Kaisers ab. Im Gegensatz zu anderen europäischen Königen wurde der Kaiser ab dieser Zeit nicht mehr zu einem „neuen Menschen“. Zum anderen wachte das Papsttum jedoch scharf darüber, die Kaisersalbung als sein ausschließliches Vorrecht zu bewahren, verstärkte so die Exklusivität des kaiserlichen Ranges und erhöhte die Schranken der Rangdifferenz. Im Rahmen des Krönungszeremoniells diente die Salbung weiterhin auch dazu, die Erhebung zum Kaiser in kirchlichen Händen zu belassen. In Byzanz war die Kaisersalbung lange Zeit nicht sehr prominent; der Hauptgrund ist simpel: Die orthodoxe Kirche kannte auch in Bezug auf Bischöfe und Priester eigentlich keine Salbung. Allerdings gibt es aus dem zehnten Jahrhundert doch ein Beispiel für die Salbung eines Kaisers: Dem Patriarchen Polyeuktos wurde vorgeworfen, Johannes Tzimiskes, der seinen Vorgänger eigenhändig erschlug, zum Kaiser gekrönt zu ha643

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Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 140 vermutet als Grund Vereinheitlichungstendenzen: „Ein liturgischer Grund könnte darin gefunden werden, die Weihe des bischofsgleichen Königs an die des wirklichen Bischofs anzupassen; auch im deutschen Königsordo von 960 sind es drei Bischöfe bezw. Erzbischöfe, die als die Königsmacher hervortreten (unus archiepiscopus, alius archiepiscopus, metropolitanus), später die drei benachbarten rheinischen Erzbischöfe, die den drei Kardinalbischöfen von Albano, Porto, Ostia entsprachen“. Elze, Kaiserkrönung (1968), 368. KO XX, Nr. 19, S. 110. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 280.

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ben, worauf dieser erwidert haben soll: „Wie das Salböl bei der heiligen Taufe alle davor begangenen Sünden auslöscht, so löschte das Salböl der Kaiserkrönung den von Tzimiskes begangenen Mord“647. Bekannt ist dieser Gedanke, dass die Salbung aus dem zu Krönenden einen neuen Menschen macht, auch aus dem ottonenzeitlichen Westen. Im 13. Jahrhundert nahm der Stellenwert der Salbung im byzantinischen Bereich zu, insbesondere im Kaiserreich von Nikaia.648 Die unmittelbaren Vorbilder hierfür sind wohl weniger im Umfeld des westlichen Kaisertum zu suchen – wo ja wie gerade gesehen die Salbung an Bedeutung verlor – als vielmehr in zwei anderen Räumen: Zum einen wurde offensichtlich auch der bulgarische Zar Kalojan im Auftrag Innozenz’ III. 1204 zum König (bzw. wie er selbst beanspruchte: zum Kaiser) gesalbt.649 Zum anderen fand sich ein Paradigma im durch französische Königstraditionen geprägten Bereich, zu dem ja auch und gerade das lateinische Kaiserreich zählte. 650 Dies zeigt implizit die Formulierung des Niketas, die Lateiner „zogen nach Byzanz und salbten Erres, den Bruder des Balduinos, des ersten lateinischen Beherrschers von Konstantinopel, zum Kaiser“651. Der Verlust Konstantinopels hatte eine tief greifende Störung des byzantinischen Rangsystems bewirkt: Bislang hatte immer das Prinzip gegolten, dass derjenige legitimer Basileus war, der sich im Besitz der Hauptstadt befand. Vielleicht suchte man den Ausfall dieses Kriteriums durch die Salbung aufzuwiegen. Doch rasch bemächtigten sich auch die Konkurrenten der Kaiser von Nikaia dieser Legitimationstechnik.652

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Lilie, Caesaropapismus (2007), 394. Vgl. etwa Heisenberg, Unionsverhandlungen (1923), 7f. Vgl. RIN 7, Nr. 3, S. 9–11. Der erste nachweislich gesalbte Herrscher ist Michael IX. Palaiologos 1295; vgl. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 20 in Zitation von Georgios Pachymeres, De Andronico Palaeologo (MPG 144), lib. 3, c. 1, S. 216. Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 16, S. 847: αὐτοὶ δʼἐπανίασιν ἐς Βυζάντιον, καὶ εἰς βασιλέα χρίουσι τὸν ʼΕρρῆν, ὃς ἦν αὐτοκασίγνητος Βαλδουίνου τοῦ πρώτος ἐκ Λατίνων τῆς Κωνσταντίνου κατάρξαντος. Vgl. die Schilderung der Schwierigkeiten in Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 21, S. 33f., mit denen sich Theodoros I. Angelos Komnenos Dukas auf seinem Weg vom Despoten zum Basileus konfrontiert sah, und deren Lösung: ἀντιστάντος αὐτῷ ἐπὶ τούτῳ στερρότατα τοῦ μητροπολίτου Θεσσαλονίκης Κωνσταντίνου τοῦ Μεσοποταμίτου, ὃν καὶ πολλαῖς κακουχίαις καὶ ἐξορίαις διὰ ταῦτα ὑπέβαλε τῶν κανονικῶν ἐϑῶν ἀντεχόμενον. ὁ δὲ Βουλγαρίας ἀρχιεπίσκοπος Δημήτριος τὸ βασιλικὸν περιδιδύσκει τοῦτον διάδημα, ὡς ἔφασκεν, αὐτόνομος ὢν καὶ μηδενὶ εὐϑύνας ὀφείλων δοῦναι, καὶ διὰ ταῦτα ἐξουσίαν ἔχειν βασιλέας χρίειν οὕς τε ἂν καὶ ὅπου καὶ ὅτε βούλοιτο („Dagegen [scl. gegen seine Kaiserproklamation] leistete Konstantinos Mesopotamites, der Metropolit von Thessaloniki, härtesten Widerstand; und wiewohl sich dieser an die kanonischen Vorschriften hielt, belegte ihn Theodor mit vielerlei Schimpf, ja sogar mit der Verbannung. Demetrios hingegen, der Erzbischof von Bulgarien, krönt ihn mit dem Diadem des Kaisers, da er, wie er sagte, autonom und niemandem Rechenschaft schuldig sei und deswegen die Macht habe, wo und wann er es immer wolle, einen Mann seiner Wahl zum Kaiser zu salben“).

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Im Gegensatz zum westlichen Bereich erhielt in Byzanz die Kaisersalbung nie jenen Charakter eines exklusiven Alleinstellungsmerkmals. Auch die lateinischen Kaiser wurden wohl wie selbstverständlich gesalbt. Für Balduin I. hat sich in der Chronik Robert Claris auch eine vage Beschreibung erhalten. Leider deutet er den Vorgang nur an, und man kann keine weiteren Schlüsse – insbesondere bezüglich der Kopfsalbung – ziehen, jedoch scheint die Salbung des lateinischen Kaisers nicht in außergewöhnlicher Art und Weise, sondern vielmehr nach Art der französischen Könige vollzogen worden zu sein.653 Dies ist auch zu erwarten, da die Salbung durch westliche Bischöfe vollzogen wurde, die über entsprechende westliche Ordines verfügten. Die Vorbilder der Salbung des lateinischen Kaisers lagen deshalb wohl primär im Bereich des westlichen Europa – dem Reich, England und Frankreich – aber auch mit dem Königreich Jerusalem war ein bedeutendes Paradigma vorhanden.654 Krönung und Insignienreichung Bevor wir uns der eigentlichen Krönung zuwenden, sind noch einige andere Elemente des inszenativen Herrschaftsantritts zu nennen, die Aussagen über die Vorstellungen vom Kaisertum erlauben. An erster Stelle ist hier die Kleidung bzw. der Ornat zu nennen. Im Westen wurde der zu krönende römische Kaiser in S. Maria in Turribus mit den kaiserlichen Gewändern bekleidet: Tunika, Dalmatika, Pluviale, Mitra, Strümpfe und Schuhe; bereits zuvor hatte der Erwählte Amikt, Albe und Zingulum erhalten.655 Wie Schramm festgestellt hat, entsprachen Amikt, Albe, Zingulum, Tunika, Dalmatika und Pluviale der geistlichen Gewandung eines Presbyters; Mitra, Strümpfe und Schuhe standen jedoch nur dem Bischof zu, mit dem der Kaiser auch die Ausstattung mit Ring

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Vgl. Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 96, S. 94f. Clari weist nur auf eine Salbung an Arm(en), Brust und Schulterblättern hin, wenn er beschreibt, dass des Kaisers Oberkörper entkleidet wurde: Et quant li empereres vint devant l’autel si s’agenoulla, et puis se li osta on le mantel et puis le palle; si remest en pure le cote, se li descousi on le cote des bautons d’or par devant et par derriere, si qu’il fu tous nus puis le chaint en amont, et puis si l’enoinst on. Quant il fu enoins, se li recousi on le cote as boutons d’or, et puis se le revesti on le palle, et puis le mantel li frema on seur l’espaulle („Als der Kaiser vor den Altar kam, kniete er sich nieder. Dann nahm man ihm den Mantel und danach das Pallium ab, so dass er nur noch die Tunika anhatte. An dieser löste man vorne und hinten die Knöpfe von Gold, so dass er vom Gürtel aufwärts völlig nackt war. Danach salbte man ihn. Als er gesalbt war, knöpfte man die Tunika wieder mit den Knöpfen aus Gold zu. Dann legte man ihm das Pallium an und dann wurde ihm der Mantel über seine Schultern gelegt“). Ganz ähnlich verweist Schramm, König 1 (1960), 160, auf das Beispiel des französischen Königs, dessen Tunika so geschnitten war, dass sie vorn und hinten bis zum Gürtel aufgeknöpft werden konnte. Mayer, Pontifikale (1967), 163. Elze, Kaiserkrönung (1968), 367. Vgl. über die geistlichen Gewänder des Kaisers Schramm, Mitra (1954), 84.

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und Stab gemein hatte.656 Die Bischofsgleichheit der Zeichen sucht KO XIV dadurch zu relativieren, dass er betont, der Papst mache den Kaiser zum clericus.657 Die kaiserliche Mitra ist in einigen bildlichen und schriftlichen Zeugnissen nachgewiesen.658 Vielleicht gehörte sie seit Otto I. zu den kaiserlichen Insignien. Sie harmonierte mit der Form der Reichskrone, unter deren Bügel ihre beiden Hörner Platz fanden. Erwähnung fand die Verbindung von Krone und Mitra allerdings erst bei der Krönung Ottos IV. durch Innozenz III.659 Die Kombination beider Insignien stand für dennoch klar ersichtlichen Charakter des Kaisertums zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Sie entsprach somit von ihrer Grundkonzeption her den übereinanderliegenden Kronen der Tiara. Die Mitra war auch eine Art Privileg des Kaisers. Allerdings gab es auch weitere Herrscher, die die Mitra trugen: der Herzog von Böhmen im 11. Jahrhundert kraft päpstlicher Verleihung, vielleicht der normannische König von Sizilien als päpstlicher Legat; auch König Peter II. von Aragon hatte bei seiner Salbung und Krönung durch den Papst in Rom wie der Kaiser eine Mitra empfangen.660 Vom lateinischen Kaiser ist – wie auch vom Basileus oder dem französischen König – kein Mitrengebrauch überliefert. Im Anlegen der kaiserlichen Gewandung zeigt sich recht deutlich der Unterschied zwischen Ost und West: In Byzanz zog der Basileus im vollen Ornat zur kirchlichen Krönung und brachte damit auch zum Ausdruck, dass er bereits zuvor vollgültiger Kaiser war; im Westen wurde der Kandidat erst durch die päpstliche Ausstattung mit den entsprechenden Zeichen Kaiser. Bei den Krönungen im lateinischen Kaiserreich661 erfolgte ähnlich wie im weströmischen Zeremoniell in einem Nebenraum die Einkleidung mit den kaiserlichen Insignien: Purpurhosen, Purpurschuhe, Tunika mit Goldknöpfen, und ein von Clari als pallium bezeichneter Loros.662 656 657

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Schramm, Mitra (1954), 84. KO XIV, Nr. 19, S. 40. Dies deutet Schramm, Mitra (1954), 85 folgendermaßen: „Hier möchte man auf eine die Rechte des Kaisers mindernde Tendenz des Ordo schließen: auf Grund der Tradition beließ er es bei dem bischofsähnlichen Scrutinium, und deshalb konnte er dem Kaiser die Mitra und das, was ihn sonst dem Bischof annäherte, nicht vorenthalten; aber er gibt der Einkleidung die Deutung, daß der Kaiser nur „klerikergleich“ werde. Dieses Zugeständnis, zu dem sich die päpstliche Theorie schon seit Gregor VII. nicht mehr bereitfand, war ja das mindeste, was aus solcher Einkleidung gefolgert werden mußte“. Vgl. zur Darstellung der Mitra bei Petrus de Ebulo: Petrus de Ebulo, Liber ad honorem Augusti. Ed. Kölzer / Becht-Jördens fol. 105r mit der Erläuterung S. 74. Vgl. für weitere Beispiele Schramm, Mitra (1954), 68–74. Vgl. Annales Ceccanenses. Ed. Pertz, ad a. 1209, S. 298: Oddo coronatus imperator vestitus imperialibus vestimentis sacratis, miratus et coronatus. Schramm, Von der Trabea triumphalis, S. 45f. und Schramm, Mitra (1954), 74–81. Vgl. hierzu auch Brightman, Coronations (1901), 385–387. Es ist wohl Elze, Krönung (1982), VII 840, zuzustimmen, dass es sich bei diesen Gewändern um den erbeuteten Kaiserornat der bisherigen Basileis handelte. Seine Aussage, dass Clari auf den „Akt der Bekleidung (…) keinen Wert“ gelegt habe, ist hingegen wohl zu überdenken; weshalb schildert sonst der Chronist die Einkleidung in dieser Ausführlichkeit?

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Im westlichen Kaisertum fand die Kaiserkrönung im engeren Sinne ursprünglich am Hauptaltar von St. Peter statt. Später fand die Salbung am Mauritiusaltar statt, die Insignienreichung am Hauptaltar.663 Allerdings erfolgte die Übergabe der Herrschaftszeichen bei der westlichen Kaiserkrönung alleine durch den Papst – im Gegensatz zur Königskrönung, bei der alle anwesenden Bischöfe gemeinsam handeln.664 Dies konnte im Sinne einer päpstlichen Verleihung des kaiserlichen Amtes aufgefasst werden. Die Insignien umfassten im Westen die Krone mit der bereits erwähnten mitra clericalis, Szepter, Sphaira, Schwert und am Anfang noch den Ring. Richten wir unseren Blick zunächst auf die Krone. Im Lauf der Jahrhunderte erhielt der Begriff „Krone“ eine starke Dimensionserweiterung, bezeichnete schließlich auch die transpersonale Institution der Königsherrschaft.665 An dieser Stelle soll keine generelle Abhandlung zu Kronen und dem Kronengebrauch erfolgen, sondern der Blick nur auf einige allgemeine und für das Thema relevante Aspekte gelenkt werden. Die Krone ist eines der ältesten Zeichen herrscherlicher Würde, die auf eine jahrtausendealte Tradition zurückblicken kann. Ihre Analyse bereitet jedoch methodische Schwierigkeiten: Sicherlich sind Siegelbilder und andere bildliche Darstellungen als Indikatoren für wirkliche Kronen mit Vorsicht zu genießen. Allerdings erlauben sie zusammen mit den noch vorhandenen Objekten eine Bewertung der Wirkung, die der Kronenträger hervorrufen wollte, die beabsichtigte Anlehnung an das jeweilige Vorbild. Betrachten wir mögliche Formen. Bei aller Unsicherheit im Detail lässt sich festhalten: Ihre auch für die folgenden Jahrhunderte prägende Gestalt erhielt die Krone ähnlich wie das kaiserliche Amt wohl in der Antike.666 In Byzanz behielt die Krone weiterhin eine zentrale Stellung als kaiserliches Zeichen.667 Im Zeremonienbuch des Kaisers Konstantin Porphyrogennetos wird Leo I. 457 nur mit Purpurgewand und Krone geschmückt.668 Es sind jedoch verschiedene Kronenarten zu unterscheiden, die auch einer gewissen Dynamik der Entwicklung unterlagen und deren Formen und Bezeichnung nur sehr schwierig zu analysieren sind. Unter einem Diadem verstand man wohl ursprünglich das Stirnband, das die Perserkönige trugen. Im byzantinischen Bereich traten Diadem, Kaiserhelm, Bügelkrone und Kamelaukeon über die Jahrhunderte in eine 663

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Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 227 meint hierzu: „Die politische Absicht, die mit dem Altarwechsel gefördert werden soll, geht dahin, den Unterschied zwischen Papst und Kaiser noch weiter zu Gunsten des Ersteren zu betonen, die Salbung noch weiter abzuschwächen, indem man sie an einen Nebenaltar rückt. Wenn dagegen die weltliche Insignienreichung an den Hauptalter wandert und zur Hauptsache wird, so ist es das Papstkaisertum, das den ideellen Vorteil von dem Wechsel hat: der ‚entgeistlichte’ Imperator empfängt die Insignien seiner Würde am Altar von Sankt Peter“. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 210. Classen, Corona (1964), insb. S. 100f. Vgl. etwa die Übersicht bei Koenen, Symbol (1996). Vgl. zur Krone etwa Hendy, Catalogue 4 / 1 (1999), 165–167. Constantine Porphyrogénète, Le Livre des Cérémonies 2. Ed. Vogt, c. 47 (38), S. 2f.

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komplizierte Wechselwirkung, deren Entwicklungsstränge kaum noch entwirrt werden können.669 Im Osten wurde das Kamelaukeon zum zentralen Zeichen kaiserlicher Würde. Es findet sich auch in Sizilien.670 In Anlehnung an spätantikes Brauchtum hatte sich in Byzanz darüber hinaus auch lange Zeit die Torques- oder Kettenkrönung erhalten, die man als zeremoniellen Ausdruck des Heerkaisertums betrachten kann.671 Kennzeichnend für byzantinische Einflüsse bzw. die Anlehnung an die Würde eines Basileus sind ebenso vor allem die sogenannten Pendilien, Bandgehänge, die in mehrere Perlen ausmünden und die sich im Westen vor allem beim römischen Kaiser und bei den Königen von Sizilien finden. Auch die Könige Jerusalems ließen sich mit entsprechenden Pendilienkronen auf ihren Bullen abbilden.672 Ebenso finden sich Pendilien auf den Siegeln der lateinischen Kaiser ( Abb. 26a und 26b). Gab es in Byzanz wohl – wie in allen westlichen Reichen – lange Zeit unterschiedliche Kronen, mit denen ein Kaiser gekrönt werden konnte, sollte sich im Westen bald die sogenannte Wiener Krone als das dominierende Symbol des Kaisertums durchsetzen. Hier ist nicht der Ort, Aussagen zu ihrer Geschichte und ihrem genauen Bedeutungsgehalt zu treffen. Im 12. Jahrhundert gewann der bereits zuvor verbreitete Gedanke an Geltung, dass es der Bügel sei, der sie von einer normalen Königskrone unterscheide.673 Die Inschrift der Krone deutet nicht nur auf das Königtum hin, sondern enthält auch einen (impliziten) Bezug auf das Kaisertum: Vollständig lautet Spr. 8, 15,16 nämlich per me reges regnant et legum conditores iusta decernunt per me principes imperant et potentes decernunt iustitiam. Kaum eine Tatsache bringt die eigentümliche Verschmelzung von römisch-deutschem Königtum und Kaisertum besser zum Ausdruck als die Reichskrone, die Königs- und Kaiserkrone zugleich war. Die Identität der Krönungsinsignien erlaubte es auch dem römisch-deutschen König bereits vor seiner Krönung zum Kaiser – und der Investitur mit den kaiserlichen Insignien durch den Papst – als kaisergleicher Elekt aufzutreten. Gleichwohl bestanden die Päpste auf der Rangdifferenz und legten dem zu Krönenden als Titel konsequent electus-Kombinationen bei. Die Krone des Kaisers wurde vor der Krönung auf dem Altar Petri niedergelegt, wie es etwa auch mit den Pallien der Erzbischöfe geschah.674 Auch dieser Akt konnte in anderen Zeiten als Zeichen dafür interpretiert werden, dass der Papst als Nachfolger Petri der wahre Kaiser sei. Im lateinischen Kaiserreich scheint das gemeinsame Anfassen, Segnen und Aufsetzen der Krone durch alle anwesenden Bischöfe dem

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Vgl. immer noch illustrativ, aber zum Teil überholt Deér, Byzanz (1977), 55–61 und Deér, Ursprung (1977). Engelberg, Kaiserkrone (1998). Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 16. Mayer, Pontifikale (1967), 173f. Schramm, Einleitung (1954), 7. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 211.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Krönungszeremoniell des französischen Königs entnommen worden zu sein.675 Im Königreich Jerusalem war es Brauch, dass der neue König nach der Krönung zum Templum Domini zog und dort seine Krone darbrachte, um sie anschließend wieder loszukaufen. Im Westen und in Byzanz war es hingegen durchaus üblich, die Krönungskrone als Weihegeschenk darzubringen.676 Auch die übrigen Insignien, die bei der Krönung mitgeführt oder verliehen werden, waren mit reichem Symbolgehalt versehen.677 Im westlichen Bereich sind diese Zeichen noch laut KO XIV „Gottesgaben, nicht etwa Gaben aus der Machtfülle des Papstes“.678 Allerdings beklagte sich bereits Gervasius von Tilbury über die noua et inusitata commutatio (…) ut papa solus insignia ferat imperialia, et imperator Romanus nomen imperiale teneat sub uulgaribus aliorum regum insignibus.679 Betrachten wir die Insignien näher: Singulär ist für den Bereich des lateinischen Kaiserreiches die Investitur des neuen Kaisers mit einem angeblichen Edelstein des Manuel Komnenos.680 Sie könnte dem byzantinischen Kaiserzeremoniell entnommen worden sein, um somit auch die Kontinuität von lateinischem und byzantinischem Kaiserreich zum Ausdruck bringen zu können. Ähnliche Objekte sind aus den übrigen Untersuchungsbereichen nicht bekannt. Der Ring fiel als Bestandteil des Krönungszeremoniells der westlichen Kaiser frühzeitig – wohl in Parallele zum sogenannten „Wormser Konkordat“ – weg.681 Er findet hier keine Beachtung, im Gegensatz zu einer anderen Insignie: Der lange Stab war ursprünglich das Zeichen kaiserlicher Würde in Anlehnung an die Darstellungen Jupiters und des divus augustus. Von Karolingern und Ottonen scheint er weitergeführt worden zu sein.682 Rasch wurde er jedoch in Ost und West durch das Szepter ersetzt.683 Insbesondere kreuzbekrönt deutet er auf starke Einflüsse aus dem byzantinischen Raum 675

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Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 96, S. 95: et puis, quant il fu si vestus, et doi vesque tenoient le corone seur l’autel, si alerent tout li vesque, si prisent le corone tout ensanle, se le beneïrent et si le prinsennierent, se li misent u chief („Danach, als er so angetan war und zwei Bischöfe die Krone über den Altar hielten, kamen alle Bischöfe heran, nahmen alle zusammen die Krone, segneten sie, weihten sie und setzten sie auf seinen Kopf“). Vgl. hierzu Elze, Krönung (1982), VII 841f.: „unter allen im 12. und 13. Jahrhundert geläufigen Ordines spricht nur der Burgundische von der gemeinsamen Krönung durch alle anwesenden Bischöfe, und er allein übergeht die Überreichung des Schwertes; der Reimser Ordo sieht dagegen die Mitwirkung der Pairs beim Aufsetzen der Krone vor, und er betont, ebenfalls als einziger, die Zusammengehörigkeit von Schwert und Fahne“. Mayer, Pontifikale (1967), 159. Vgl. auch Deér, Byzanz (1977), 66. Vgl. hierzu grundsätzlich auch Alföldi, Insignien (1935); Schramm, Herrschaftszeichen (1955); Elze, Insegne (1982). Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 211. Gervasius von Tilbury, Otia Imperialia. Ed. Banks / Binns, lib. 2, c. 18, S. 450. Vgl. zum Stein Hendy, Catalogue 4 / 1 (1999), 151f. Bereits an Friedrich Barbarossa wird der Ring nicht mehr verliehen. Vgl. zu Ring und Schwert am Wechsel vom 12. zum 13. Jh. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 243ff. Schramm, Einleitung (1954), 16. Vgl. zum Szepter Töbelmann, Stäbe (2011), 143–171.

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hin, führte doch der Basileus eine entsprechende Insignie.684 Diese Szepterform findet sich etwa im Königreich Jerusalem oder im lateinischen Kaiserreich.685 Der französische König führte hingegen in zunehmender Intensität eine Kombination von Szepter und Lilie(nbekrönung), das opus in modum lilii, das im Alten Testament als schmückendes Element in der Stiftshütte und im Tempel Salomons erwähnt wird.686 Die Sphaira, der Reichsapfel, ist das Zeichen der kaiserlichen Weltherrschaft, das Kreuz versinnbildlicht die christliche Prägung dieses Anspruchs.687 Der Globus als Insignie dürfte aus dem byzantinischen Bereich stammen und von den Kaisern auch wirklich geführt worden sein.688 Vielleicht wichtiger war im byzantinischen Bereich jedoch die Akakia.689 Im Westen zeigt das Kaisersiegel Ottos I. den Herrscher entsprechend einem antik-byzantinischen Kaiser mit Langstab und Globus. Im Zeremoniell der Kaiserkrönung ist die Sphaira allerdings erstmals wahrscheinlich 1191 nachzuweisen. Heinrich VI. soll Coelestin III. gebeten haben, damit „in das Reich investiert“ zu werden, was auch als Ausdruck für die päpstliche Verleihung des Imperiums gewertet werden konnte.690 Allerdings hat sich in KO XVIII keine Formel für die Übergabe des Reichsapfels erhalten; er wurde wortlos übergeben.691 Auch die Könige von Jerusalem führten ihn – wohl ähnlich wie den Loros – als Zeichen ihrer kaisergleichen Stellung. Zumindest schienen sie sich des Charakters des Globus als Zeichen kaiserlicher Weltherrschaft bewusst gewesen zu sein.692 Das Schwert wurde als Symbol angesehen, „um die Feinde des Kaisers und der Kirche abzuwehren und das von Gott ihm anvertraute Reich zu schützen“693. Wahrscheinlich bereits im 12. Jahrhundert findet sich der Brauch, dass der Kaiser das Schwert aus 684 685 686 687 688 689 690

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Vgl. zum byzantinischen Raum Hendy, Catalogue 4 / 1 (1999), 171f. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Siegel und Münzen‘. Schramm, Einleitung (1954), 19 mit Bezug auf 1. Rg 7,22: et super capita columnarum opus in modum lilii posuit perfectumque est opus columnarum. Schramm, Einleitung (1954), 17 spricht davon, dass der „Globus als Abzeichen des Allgotts, des Herrn des Kosmos, und seines irdischen Stellvertreters, des Kaisers, geläufig war“. Vgl. auch die einschlägigen Abhandlungen von Schlachter, Globus (1927); Grabar, Geschichte (1960). Schramm, Sphaira (1958), 181 verneint dies, demgegenüber wirkt jedoch Deér, Globus (1977) überzeugender. Vgl. auch Hendy, Catalogue 4 / 1 (1999), 168f. Vgl. Hendy, Catalogue 4 / 1 (1999), 169f. Deliberatio super facto imperii. Ed. Kempf, 75f.: Quod Henr[icus] optime recognoscens, a bone memorie Cel[estino] papa, predecessor nostro, post susceptam ab eo coronam, cum aliquantulum abscessisset, rediens tandem se ab ipso de imperio per pallam auream petiit inuestiri. KO XVIII, Nr. 26, S. 78: Deinde sceptrum et pomum aureum tradit ei. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 277f.: „eine Formel, die das regere totum mundum, die monarchia omnium regnorum im Reichsapfel hätte finden wollen, hätte doch auch die Selbständigkeit der Nationalstaaten, die den Kaiser als superiorem in temporalibus nicht anerkannten, verletzen müssen“. Mayer, Pontifikale (1967), 178f. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 245.

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der Scheide zog, es dreimal schwang und wieder in die Scheide steckte.694 Diese Änderungen gingen mit erheblichen Erweiterungen und Aufladungen der Schwertformel einher. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bedeutete die traditio gladii die Übertragung der cura totius imperii durch den Papst; das Schwert war imperialiter concessus.695 Innozenz IV. schrieb 1245 an Friedrich II., dass dieser das Schwert, das ja die kaiserliche Gewalt symbolisierte, nicht zu Eigen, sondern nur zur Ausübung empfangen habe.696 Eine entsprechende Legitimation fand diese Vorstellung bekanntermaßen in der Interpretation von Johannes 18,11: converte gladium tuum in vaginam. Außerdem wurde der Kaiser durch das vom Papst übergebene Schwert zum miles beati Petri, der zu militärischen Diensten bis hin zu Kreuzzügen verpflichtet war.697 Auch im byzantinischen Bereich war das Schwert als bei Prozessionen gezeigte Insignie bekannt.698 Im lateinischen Kaiserreich wird ein Schwert erwähnt, das dem zu Krönenden durch Hugo von St. Paul, den Konnetabel des lateinischen Kaiserreiches, vorangetragen wird.699 Weitere Insignien fanden im Umfeld der eigentlichen Krönung Verwendung: Ein wichtiges Element des Zeremoniells der Kaisererhebung bildete die Immantation durch den Papst, eine späte Reminiszenz an das Zeremoniell, den Kandidaten durch das Anlegen des Purpurs als rechtmäßigen Kaiser auszuweisen. Zugleich findet sich auch eine Parallele im päpstlichen Erhebungszeremoniell, in dem der Papst mit den Worten ut praesis urbi et orbi immantiert wurde.700 In Byzanz war darüber hinaus das Anlegen der Purpurstiefel, der eigentlichen Symbole des Kaisertums, ein ausgesprochen wichtiges Element. Ähnliches findet sich auch im westlichen Krönungsordo KO XIV: Dort werden dem Kaiser nach beendeter Messe die Sandalen und Strümpfe abgenommen und die (roten) Kaiserstiefel angezogen.701 Allerdings gab es qualitative Unterschiede: Wer in Konstantinopel die Purpurstiefel anlegte, hatte die Würde eines Basileus bereits fast sicher.702 Entsprechend schildert auch Niketas geradezu klassisch die Beanspruchung der kaiserlichen Würde durch Theodor I. Laskaris, der seinen Konkurrenten verdrängt habe: 694

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In KO XV, Nr. 13, S. 50 findet sich die Formel: Ipse autem imperator acceptum gladium de manu pontificis primum vibrat et statim in vaginam reponit. In KO XVI, Nr. 17, S. 55 findet sich dann die Anweisung: Mox autem ut coronandus accinctus ense fuerit, eximit eum de vagina viriliterque ter illum vibrat et vagine contiuo recommendat. Vgl. KO XVI, Nr. 14, S. 54: cura (…) imperii totius und Nr. 15, S. 54: imperaliter concessus. Urkunden und Briefe zur Geschichte des Kaiserreiches und des Königreiches Sicilien. Ed. Winkelmann, 698f. Vgl. die in vielen Ordines vorkommende Formel: eo igitur sic accincto et beati Petri milite mirabiliter facto. Vgl. Hendy, Catalogue 4 / 1 (1999), 173f. Vgl. oben, Anm. 619. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 215f. KO XIV, Nr. 49, S. 46: Finita vero missa, accedat ad imperatorem comes palatii et discalciet eum sandaliis et caligis et calciet eum ocreas imperiales et calcaria sancti Maurici. Vgl. Treitinger, Kaiseridee (1956), 25 mit Anm. 74.

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Er „zog sich selbst die roten Schuhe an und wurde von allen östlichen Städten zum Kaiser ausgerufen“703. Recht problemlos konnten Usurpatoren im byzantinischen Raum somit kaiserliche Würde beanspruchen, wenn sie nur die entsprechenden Insignien in ihrer Verfügungsgewalt hatten und anlegten. Für ihre Glaubwürdigkeit war sicher eine gewisse autonome Machtstellung förderlich; hier kann man deutlich nachzeichnen, wie sich ein bestimmtes Ausmaß an Ressourcen unmittelbar in eine ganz sichtbare Rangerhöhung ummünzen lässt.704 Nach solchen Akten, die den Anspruch auf die kaiserliche Würde zum Ausdruck brachten, zeigt sich aber bis 1204 und nach 1261 die große Bedeutung der Stadt Konstantinopel: Die reale Herrschaft über sie entschied, wer letztlich der wahre Basileus war. Insgesamt zeigt sich hinsichtlich der Insignien deutlich ein Unterschied zwischen Ost und West: Gab es im byzantinischen Raum Zeichen eindeutig kaiserlicher Würde, unterschieden im lateinischen Bereich fast alle der bislang behandelten Insignien den Kaiser eigentlich kaum von einem König. Es ist nur der Verwendungskontext und das Umfeld des Koronators, das die Insignien selbst und den Elekten verkaiserlichte. Um dies zu verdeutlichen, sei an dieser Stelle noch ein exkursorischer Blick auf Venedig erlaubt, der das „Wandern“ und die Umwertung von Insignien sowie die hiermit verbundene Beanspruchung kaiserlichen Ranges deutlich aufzeigt. Ganz ähnlich wie im Fall des westlichen Kaisertums war auch die Erlangung des Dogenranges in Venedig recht streng geregelt. Bestand der Fundus an Insignien für die Investitur zunächst aus Schwert, Szepter und Dogenthron, so sollte sich bis ins 11. Jahrhundert nur das Szepter halten und schließlich vor 1130 durch das Banner des heiligen Markus ersetzt werden.705 Eine regelrechte Krönung war lange Zeit nicht üblich, vielmehr herrschte der – wenngleich immer prunkvoller ausgestaltete – „private“ Rahmen der Amtseinführung

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Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 13, S. 828: τὸ ἐρυϑρὸν πέδιλον ὑποδύεται καὶ βασιλεὺς ̒Ρομαίων ὑφʼ ὅλων τῶν ἑῴων ἀναγορεύεται πόλεων. Vgl. die Schilderung in Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 21, S. 33 zur Kaisererhebung des Theodoros I. Angelos Komnenos Dukas 1230 nach dessen Eroberung von Thessaloniki: ̒Ο δὲ Κομνηνὸς Θεόδωρος, ὃν πρὸ μικροῦ ὁ λόγος ἱστόρησε, μὴ ϑέλων μένειν ἐν τῇ οἰκείᾳ τάξει ἀλλὰ τὰ τῆς βασιλείας σφετερισάμενος, ἐπειδὴ τῆς Θεσσαλονίκης γέγονεν ἐγκρατὴς πολλήν τε χώραν τῆς ̒Ρωμαΐδος ἐκ τῆς κεκρατημένης παρὰ τῶν ʼΙταλῶν ὑφʼ ἑαυτὸν ἐποιήσατο, ἔτι δὲ καὶ τῆς παρὰ τῶν Βουλγάρων κεχειρωμένης, πορφυρίδα τε ὑπενδύεται καὶ ἐρυϑρὰ περιβάλλεται πέδιλα („Der Komnene Theodor, von dem vor kurzem schon die Rede war, war nicht bereit, in seinem bisherigen Rang zu verbleiben und hatte sich die Kaiserwürde zuerkannt: nachdem er Herr über Thessaloniki geworden war und große Gebiete des Rhomäerreiches, die die Italiener beherrscht hatten, sowie solche, die die Bulgaren unterjocht hatten, in seine Gewalt gebracht hatte, umgab er sich mit dem Purpurmantel und legte die roten Schuhe an“). Fortini-Brown, Self-Definition (1991), 523: „On the one hand it marked the full autonomy of Venice from Byzantium. But on the other, when the charismatic baculus was removed, so too were a good part of the doge’s sovereign powers”.

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vor. Erst ab 1485 wurde die Dogenkrönung auf den Stufen des Palastes eingeführt.706 Diese Rituale sind nun noch nicht als Indikator der Kaisergleichheit zu interpretieren. Inszenativ weitaus bedeutender als die bei der Investitur des neuen Dogen gereichten Insignien waren die sogenannten trionfi. Die sich zum Teil schon längere Zeit in Gebrauch befindlichen Ehrenzeichen des Dogen wurden um 1317 durch Bonincontro dei Bovi in seiner im Auftrag der venezianischen Regierung abgefassten Erzählung in ganz spezieller Art und Weise mit dem Geschehen beim Frieden von Venedig 1177 verknüpft. Die Kernaussage lautet, dass Venedig aufgrund seiner treuen Hilfe gegenüber Alexander III. bestimmte Ehrenzeichen erhielt, die eine Art Ranggleichheit mit dem Kaisertum herstellten: die Erlaubnis, Bleisiegel zu gebrauchen, die weiße Kerze als Zeichen des Glaubens, das vom Papst verliehene Schwert als Zeichen der Souveränität und der Gerechtigkeit, den Sonnenschirm als Zeichen der Ranggleichheit mit Kaiser und Papst, Silbertrompeten und acht vexilla als Zeichen königlicher Würde und schließlich auch den goldenen Ring, der beim sposalizio gebraucht werden sollte als Zeichen der venezianischen Seeherrschaft.707 Die Art, wie das 14. Jahrhundert den gemeinsamen Einzug Alexanders III. und des Dogen Sebastiano Ziani in Rom und die Bestätigung der trionfi in S. Giovanni schildert, gleicht nicht nur einer römisch-deutschen Kaiserkrönung, sondern grundsätzlich auch dem Adventuszeremoniell, wie es für den Exarchen von Ravenna inszeniert wurde.708 In späteren Zeiten sollte dieses Geschehen nicht von ungefähr an prominenter Stelle in Freskenform mit der maßgeblichen Rolle Venedigs am Vierten Kreuzzug in Verbindung gesetzt werden.709 Hier wie dort sollte verdeutlicht werden, dass die weltliche Stellung Venedigs, seine kaisergleiche Souveränität – also keinen anderen über sich zu 706 707

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Fortini-Brown, Self-Definition (1991), 523: „Still the human symbol of monarchy and continuity, he was now manifestly a ruler whose powers were conferred not by inheritance, but by the nobility of Venice”. Fortini-Brown, Self-Definition (1991), 524. Vgl. hierzu auch Muir, Ritual (1981), 113–119 und Pertusi, insignia (1965), 87f. mit dem Verweis auf die ersten Belege für den Gebrauch des Sonnenschirms im Umfeld spanischer und englischer Krönungen zur Zeit des Friedens von Venedig. Vgl. zum Schirm auch Bojcow, Schirm (2008). Vgl. zu den Silbertrompeten Muir, Ritual (1981), 116: Sie stellen kein kaiserliches Zeichen dar, sondern sind auch unter den Großen Italiens weit verbreitet. Vgl. zu einer Schilderung der Silbertrompeten auch Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 13, S. 13: car il y avoit bien chent paire de busines, que d’argent que d‘ arain, qui toutes sonnerent a l’esmovoir, et tant de tymbres et tabours et autres estrumens, que ch’estoit une fine merveille („Denn da waren wohl hundert Trompetenpaare aus Silber oder aus Bronze, die bei der Abfahrt erschollen, und ebenso viele Pauken und andere Instrumente, dass es ein reines Wunder war“). Vgl. zu den Bannern, die möglicherweise byzantinischer Herkunft sind Muir, Ritual (1981), 117. Die Banner sind aufs engste mit der Sphäre wehrhafter Heilswirksamkeit verbunden. Die trionfi umfassen also ein breites Spektrum von Symbolen fürstlicher, königlicher, aber eben auch kaiserlicher Provenienz. Muir, Ritual (1981), 116. Vgl. hierzu Wolters, Dogenpalast (2010), Abb. 103, S. 141; Abb. 104, S. 142; Abb. 105, S. 142; Abb. 107, S. 143.

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dulden – auf zwei Säulen ruhte: der Kampfkraft der Venezianer und ihrer treuen Verbundenheit mit Kirche und Papst. In gewissem Sinn verschaffte sich die noch zu beschreibende imperiale Ordnung Venedigs in den trionfi symbolischen Ausdruck. Und dies war nur möglich, da die trionfi Teil des – hauptsächlich aus dem byzantinischen Bereich stammenden – imperialen Erbes waren, das zu einer bestimmten Zeit nicht nur reaktiviert, sondern auch neu kombiniert und mit neuen Kontexten versehen, mit einem Wort: hybridisiert, wurde.710 Laudes, Schilderhebung und Thronsetzung Die Krönungslaudes entstanden aus der für die Herrscherlegitimation konstitutiven Akklamation des römischen Kaisers durch Volk und Heer.711 Mit der Verkirchlichung der Herrschererhebung spalteten sich die Laudes auf in die collaudatio des Volkes, die weiterhin für die Herrschererhebung fundamental war, und die liturgischen laudes regiae der Geistlichkeit, „eine Reihe liturgischer, teilweise litaneiartiger Segenswünsche für den König, die um die Trias Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat kreiste“712. Die Laudes hatten allerdings keine konstitutive Bedeutung, da die Geistlichkeit dem bereits Gekrönten akklamierte. Darüber hinaus gab es auch die laudes hymnidicae, die bei der liturgischen Einholung eines gesalbten Herrschers in eine Stadt gesungen wurden. Ihr Vorbild war der triumphale Einzug Christi in Jerusalem am Palmsonntag, gleichwohl ging diese Tradition eine enge Verbindung mit dem Bild des felix adventus Augusti ein.713 Die Schilderhebung scheint der zentrale zeremonielle Ausdruck des Heerkaisertums zu sein. Sie war wohl längere Zeit fester Bestandteil der byzantinischen Kaisererhebung. Ob sie im 13. Jahrhundert in Byzanz stattfand, ist umstritten.714 Villehardouin berichtet auch für den lateinischen Kaiser Balduin I. eine Art Schilderhebung im Anschluss an seine Wahl: „Und sie trugen ihn zur Kirche; und der Markgraf Bonifaz von Montferrat trug ihn seinerseits als allererster in die Kirche und erwies ihm alle Ehre,

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Vgl. zur sich später zu voller Blüte entwickelnden zeremoniellen Stellung des Dogen auch grundsätzlich Boholm, Doge (1990). Vgl. zu ihnen den Überblick bei Elze, Herrscherlaudes (1982). Vgl. Kantorowicz, Laudes (1958), 83 zur Existenz von Krönungslaudes für Deutschland und Frankreich; vgl. ebd., S. 100 zu in französischen Pontifikalien zahlreich überlieferten Laudestexten, die aber offenbar primär aus Anlass eines Kirchenfestes gesungen wurden und nicht wegen der damit verbundenen Festkrönungen. Mayer, Pontifikale (1967), 188. Deér, Ursprung (1977), 19f. Vgl. zum Adventus auch grundlegend Schenk, Zeremoniell (2003), etwa S. 47–59. Vgl. Elze, Krönung (1982), VII 841 und verneinend Ostrogorsky, Kaisersalbung (1955), 252– 256, der auf S. 255 die Wiedereinführung des Schilderhebungszeremoniells in Nikaia nach dem Vorbild der Kaiserkrönung Balduins 1204 annimmt.

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wie er nur konnte. Auf diese Weise wurde der Graf Baudoin von Flandern und vom Hennegau zum Kaiser gewählt“715. Eine inszenativ ausgeschmückte Thronsetzung findet sich im Westkaisertum nicht, da in Rom (im Gegensatz etwa zu Aachen) kein Thron existierte, den der Kaiser hätte einnehmen können. Im lateinischen Kaiserreich hingegen folgte auf Salbung und Krönung nicht nur der traditionelle Sitz auf einem hohen Thron unter Halten von Szepter und Sphaira.716 Daran schloss sich auch der gemeinsame Zug zum Bukoleon-Palast an717 mit der Thronsetzung auf den angeblichen Thron Konstantins I.718, der Huldigung und dem Krönungsmahl.719

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Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 261, S. 66 und 68: si l’emporterent el mostier. Et li marchis Bonifaces de Monferrat l’emporte tut avant d’une part enz el mostier, et li fait tote l’onor que il pot. Ensi fu esliz li cuens Baudoins de Flandres et de Hennaut a empereor. Explizit ist jedoch keine Schilderhebung genannt; vgl. hierzu Brightman, Coronations (1901), 385f. Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 97, S. 95: Quant il l’eurent coroné, si l’assisent en une haute caiiere, et fu illuec tant que le messe fu cantee, et tenoit en se main sen septre et en l’autre main un pume d’or et une croisete par deseure („Als er so gekrönt war, setzten sie ihn auf einen hohen Thron. Und er blieb da, während die Messe gesungen wurde. In der einen Hand hielt er sein Zepter und in der andern Hand einen goldenen Apfel mit einem kleinen Kreuz darauf“). Vgl. zur Insignienreichung und Krönung des Königs von Jerusalem Mayer, Pontifikale (1967), 198. Vielleicht ist hierin die Aufnahme des Krönungszuges des westlichen Kaisers nach seiner Krönung in St. Peter zum Lateran zu sehen. Vgl. zum Krönungszug Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 156f. Vgl. zum Zug des Königs von Jerusalem zum Templum Domini Mayer, Pontifikale (1967), 199. Die Thronsetzung findet im Zeremoniell der westlichen Kaiserkrönung wegen Nr. 18 der Konstantinischen Schenkung nicht statt (vgl. zu der entsprechenden Stelle oben, Anm. 261); die Thronsetzung ist also wahrscheinlich dem Aachener Krönungszeremoniell des römisch-deutschen Königs entnommen. Vgl. zu letzterer Büttner, Weg (2012), 53–55. Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 97, S. 95: si l’en ramenerent li baron en sen palais de Bouke de Lion, si le fist on seir en le caiiere Coustentin. Adont, quant il eut sis en le caiiere Coustentin, se le tinrent tout pour empereeur, et tout li Griu qui illuec estoient l’aouroient tout comme saint empereeur; et puis si furent les tavles mises, si mengna li empereres et tout li baron avec lui u palais. Quant on eut mengié, si se departirent li baron et alerent s’ent tout a leur ostex, et li empereres remest en sen palais („Und die Barone führten ihn zu seinem Bukoleon-Palast zurück und setzten ihn auf den Thron des Konstantin. Danach, als er auf den Thron des Konstantin gesetzt worden war, huldigten sie ihm alle als ihrem Kaiser; und auch alle Griechen, die da waren, erwiesen ihm ihre Ehrerbietung als einem heiligen Kaiser. Danach wurden die Tische aufgestellt, und der Kaiser aß zusammen mit allen Baronen in dem Palast. Als sie gegessen hatten, gingen die Barone weg und begaben sich zu ihren Unterkünften; und der Kaiser blieb in seinem Palast“). Vgl. zum Krönungsmahl des Königs von Jerusalem Mayer, Pontifikale (1967), 199.

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Zeremonielldynamik Immer wieder gab es, nicht nur im Westen, Abweichungen vom kaiserlichen Krönungszeremoniell. Dies war hauptsächlich dadurch bedingt, dass es zu Störungen im Verhältnis von Kaiser, Stadtrömern und / oder Koronator kam. Häufig arteten Kaiserkrönungen auch in bewaffnete Auseinandersetzungen aus, was jedoch zu keiner erkennbaren Beeinträchtigung der Legitimität des Kaisers führte. Hingegen sind in den Änderungen der Krönungsordines mitunter Verschiebungen in dem Bild zu sehen, das sich die Kurie von der Stellung und den Kompetenzen des Kaisers machte. Die kaiserliche Seite stand diesen Änderungen – auch mangels Möglichkeit, einen eigenen Ordo festzulegen – etwas hilflos gegenüber: Es blieben nur Verhandlungen und die Berufung auf die Tradition, wenn etwa Barbarossa und Heinrich VI. von Clemens III. verlangen: quod in facto prememoratae coronationis ita procedatis, secundum quod ius et consuetudo ab antiquo usque ad tempora hec sunt devoluta.720 Die Orientierung der Kaiserkrönung an der Königskrönung stand in einem engen Wechselverhältnis zur Verköniglichung des Kaisertums im Zuge der Christianisierung. Allerdings kam es im Zeitverlauf zur Zurückdrängung der kaiserlichen Sakralität. Zwar kann zumindest im KO I von einer zeremoniellen Unterwerfung des Kaisers unter die geistliche Gewalt des Papstes keine Rede sein. Im KO XVIII wurde aber schließlich die Formel a Deo coronatus aus den Laudes der Kaiserkrönung gestrichen; ebenso der auf ein Nahverhältnis des Kaisers zu Christus hindeutende Gesang Christus vincit. Lassen sich ähnliche Prozesse auch hinsichtlich der lateinischen Kaiserkrönung feststellen? Oder war es hier weniger das spannungsreiche Nebeneinander von päpstlichen und kaiserlichen Vorstellungen als vielmehr die Wechselwirkung von westlichen Traditionen und byzantinischem Erbe, die für eine eigentümliche Dynamik sorgte? Ein erster Blick muss natürlich den Vorlagen gelten: Aus Konstantinopel haben sich zwar zwei lateinische Pontifikalhandschriften erhalten, die einen Kaiserkrönungsordo enthalten; diese wurden jedoch wahrscheinlich 1204 nicht benutzt.721 Vielmehr war die Kaiserkrönung improvisiert, „so daß nicht genug Zeit blieb (…) anderwärts Erkundigungen über Kaiserkrönungen einzuholen“.722 Gerade dies ist jedoch auch ein Glücksfall, besteht so doch für uns die Möglichkeit nachzuvollziehen, wie man um 1200 eine Kaiserkrönung im französischen Kulturbereich rekonstruierte. Die Anklänge an das byzantinische Kaiserzeremoniell sind in den Schilderungen der lateinischen Chronisten äußerst schwach.723 Obwohl die Kreuzfahrer die Krönung Alexios’ IV. miterlebt hatten724 und eigentlich qua Eroberung in die Rechte des Basileus 720 721 722 723 724

MGH Const. 2, Nr. 324, S. 463. Es handelt sich dabei um erweiterte Fassungen des KO I. Vgl. hierzu Elze, Krönung (1982), VII 839. Elze, Krönung (1982), VII 839. Deér, Globus (1977), 108 betont hingegen starke byzantinische Einflüsse. Villehardouin (Conquête. Ed. Faral, c. 182, S. 184) schildert anlässlich der Wiedereinsetzung Kaiser Isaaks II. Angelos knapp, aber korrekt die Akte: Et traistrent a la prison ou l’emperere

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eintraten, war der religiöse Gegensatz zu stark und wenig konnte vom byzantinischen Krönungsritual übernommen werden. Elze vermutete vielmehr eine enge geistige Verwandtschaft der Krönung Balduins mit dem sogenannten „Burgundischen Ordo“ (wohl aus dem Ende des 10. Jahrhunderts) und dem „Reimser Ordo“ (von um 1270). Er schlussfolgerte: „der Charakter der neuen Herrschaft war zu allererst und im wesentlichen französisch und stark durch ritterliche Vorstellungen und Ideale bestimmt, und über diesem westlichen Grunde lag nur eine dünne Schicht byzantinischer Tradition, die bloß in den Äußerlichkeiten respektiert wurde und niemals genügte, den griechischen Untertanen gegenüber die Rechtmäßigkeit der Nachfolge im Reiche zu begründen“725. In dieser Hinsicht kann man Parallelen zwischen dem lateinischen Kaiserreich und dem Königreich von Jerusalem ziehen, denn die Verwendung der Insignien orientiert sich auch dort an byzantinischen Vorbildern. Dies betrifft vor allem den Globus, dessen Verwendung zwar wohl auch durch das Wissen der Kreuzfahrer um die Insignien des Westkaisers motiviert war, aber in erster Linie auf byzantinischen Grundlagen basierte: Nicht nur rein materiell (der verwendete Globus wurde wahrscheinlich im Fundus des Basileus gefunden), vielmehr war der Basileus als Vorbild – auch bedingt durch die griechischen „Berater“ – wohl ähnlich präsent und verführerisch wie im Königreich Jerusalem.726 Die aber dennoch festzustellende weitgehende Eliminierung des byzantinischen Einflusses, die Latinisierung der Sequenz der Handlungsabläufe, führte dazu, dass das geschilderte Krönungszeremoniell insgesamt eher königlich als kaiserlich erscheint. Daran sollte sich letztlich auch künftig nichts ändern. Lassen sich aber überhaupt generalisierende Aussagen treffen? Betrachten wir hierzu die Schilderungen der Krönung von Balduins Bruder und Nachfolger Heinrich Sie wird in den Quellen nur „schemenhaft“ be-

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Sorsac estoit (…) si le vestent emperialment; si l’emporterent el halt palais de Blaquerne, et l’asistrent en la halte chaiere, et l’obeïrent come lor seignor („Und sie gingen zu dem Gefängnis, wo der Kaiser Isaak war, (…) und sie kleideten ihn kaiserlich. Und sie trugen ihn hoch zu dem Blachernen-Palast und setzten ihn auf einen hohen Thron und huldigten ihm als ihrem Herrn“). Zur Krönung Alexios’ IV. berichtet er (Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 193, S. 196): Par le comun conseil des Frans et des Grex fu devisé que li noviaus emperere seroit encoronez a la feste mon seignor Sain Pere, entrant august. Ensi fu devisé et ensi fu fait. Coronez fu si haltement et si honoreement con l’en faisait les empereors grex („Durch gemeinsamen Beschluss der Franzosen und der Griechen wurde bestimmt, dass der neue Kaiser am Festtag Unseres Herrn Sankt Petrus, Anfang August, gekrönt werden sollte. So wurde es beschlossen, und so geschah es. Er wurde mit großer Feierlichkeit und mit großen Ehren gekrönt, so wie man die griechischen Kaiser krönt“. Die Beteiligung der „Franzosen“ an der Terminauswahl für die Krönung des neuen Kaisers deutet in der Darstellung Villehardouins möglicherweise bereits auf deren sich verstärkenden Einfluss über das byzantinische Kaisertum hin. Vgl. hierzu auch oben, Anm. 127. Elze, Krönung (1982), VII 842. Mayer, Pontifikale (1967), 179.

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schrieben.727 Der Krönungstermin Heinrichs wurde auf den 20. August 1206 festgelegt. Bezeichnend für die Machtverteilung im lateinischen Kaiserreich war ein Aspekt der Krönung: Während Heinrich vor dem Altar stand, um sich durch den Patriarchen zum Kaiser krönen zu lassen728, musste er – wie eine venezianische Quelle des 14. Jahrhunderts berichtet – dem venezianischen Podestà einen Eid leisten, dass er die Bestimmungen der bislang mit den Venezianern geschlossenen Verträge einhalten werde.729 Somit zeigen sich durchaus starke Umbrüche im Krönungsritual: Erstens tauchten die Venezianer im gesamten Krönungszeremoniell Balduins nicht auf. Ab der Krönung Heinrichs mussten jedoch die lateinischen Kaiser, bevor sie die Krone empfingen, den Venezianern Vertragstreue geloben – äquivalent zu den Krönungseiden des westlichen Kaisers oder den späteren Wahlversprechen des römischen Königs und den Wahlkapitulationen der Würdenträger im geistlichen Bereich.730 Zweitens liegt Elze richtig mit dem Hinweis darauf, dass später der lateinische Patriarch im Regelfall die Rolle des Konsekrators übernahm – und nicht wie bei Balduin verschiedene Bischöfe

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Zu Heinrich haben sich etwa die dürren Zeilen Villehardouins (Conquête. Ed. Faral, c. 441, S. 254) erhalten: Lors pristrent conseil li baron que il iroient en Costantinoble et que il coroneroient Henri le frere l’empereor Baudoin (…) Et ensi s’en ala Henris li baus de l’impire et li autre baron en Costantinoble; et chevauchierent per lor jornees tant que il vindrent en Costantinople, ou il furent voluntiers veü. Lors coronerent a empereor Henri lo frère l’empereor Baudoin le diemenche aprés la feste madame sainte Marie en aost, a grant joie et a grant honor, a l’iglise Sainte Sophye („Die Barone entschieden nun, dass sie nach Konstantinopel ziehen und Heinrich, den Bruder des Kaisers Balduin, krönen würden (…) So zogen Heinrich, der Regent des Reiches, und die anderen Barone nach Konstantinopel und sie ritten Tag um Tag bis sie dort ankamen, wo sie mit Freuden empfangen wurden. Sie krönten Heinrich, den Bruder des Kaisers Balduin, mit großer Freude und Ehre in der Kirche der heiligen Sophia zum Kaiser am Sonntag nach dem Fest der heiligen Maria im August“). Heinrich umschreibt in Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 176, S. 41 seine Krönung mit Patriarcha (…) nos in Imperatorem benigne et coronavit et inunxit. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 58 und Gerland, Geschichte (1905), 96 und Longnon, Empire (1949), 88f.; vgl. Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 174, S. 34: Cum adstaremus nos quidem Henricus, moderator Imperij Constantinopolitani, ante altare sancte Sophie, ut deberemus coronari a domino Patriarcha secundum Dei prouidentiam, iurauimus nobili uiro Marino Geno (…); vgl. auch die Schilderung bei Laurentii de Monacis Veneti Cretae cancellarii chronicon de rebus Venetis ab u.c. ad annum MCCCLIV. Ed. Cornaro, lib. 8, S. 143: Henricus Daghon frater Balduini defuncti eligitur Imperator, & antequam a Patriarcha coronam susciperet, approbavit foedera inita per Francos, & Venetos ante Urbis captionem. Gerland, Geschichte (1905), 96 folgert: „So hatte denn das junge Reich unter venetianischer Aufsicht seinen zweiten Herrscher erhalten“. Auch der römisch-deutsche Herrscher hatte Eide zu leisten; vgl. hierzu Anm. 613. Elze, Krönung (1982), VII 843 stellt richtig fest: „so erscheint die dritte Komponente des Lateinischen Kaiserreichs, Venedig, nun auch in der Krönungshandlung selbst“.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

145

gemeinsam.731 Wie ist diese Tatsache jedoch zu bewerten? Im byzantinischen Reich war der Patriarch der reguläre, gleichsam papstäquivalente Konsekrator. Der neue lateinische Patriarch genoss jedoch eher den Rang eines Erzbischofs, der Könige krönte. Sofern der Patriarch also nicht explizit im Namen und Auftrag des Papstes (vice papae) krönte, wurde der Rang des lateinischen Kaisers eher dem eines Königs von Jerusalem angeglichen als dem des westlichen oder byzantinischen Kaisers. Vielleicht ist auch so zu erklären, dass der dritte lateinische Kaiser, Peter von Courtenay, um die Krönung bei Papst Honorius III. ersuchte multiplicatis intercessionibus plurimorum non solum exorantium sed etiam obtestantium: Honorius hatte die Krönung nur widerstrebend vollzogen und als Krönungsort auch S.Lorenzo fuori le mura gewählt und eben nicht die Peterskirche; letztere blieb den römisch-deutschen Kaisern vorbehalten.732 Insgesamt kann man also schlussfolgern, dass die Abschichtung des kaiserlichen gegenüber dem königlichen Rang im Westen generell im Schwinden begriffen war: Dies war nicht nur eine Folge des intensivierten Abbaus „sakraler“ kaiserlicher Vorrechte durch das Papsttum, sondern auch der zunehmenden Inanspruchnahme kaiserlicher Zeichen und Handlungssequenzen durch Könige. Die Ablösung byzantinischer durch lateinische Rangindikatoren im Kaiserreich von Konstantinopel hatte somit auch eine zunehmende Verköniglichung des dortigen Kaisertums zur Folge.

731 732

Vgl. die Quellen oben, Anm. 729. Vgl. Longnon, Empire (1949), 154. Das Zitat ist entnommen aus dem auch sonst bzgl. der päpstlichen Sicht auf das lateinische Kaisertum ausgesprochen aufschlussreiche Schreiben Honorius’ III. an den Patriarchen von Konstantinopel: Sane factum est nuper a Domino, quod Imperio Constantinopolitan. vacante vocatus ad illud charissimus in Christo filius noster P(…) Antistiodoren. Comes ad Sedem Apostolicam cum nobili Muliere Y(…) Uxore sua ex insperato veniens nobis opportune importune in omnimodae humilitatis spiritu supplicavit multiplicatis intercessionibus plurimum non solum exorantium, sed & obtestantium in Nomine Jesu Christi, ut dignaremur ipsum in Imperatorem, & Uxorem suam in Imperatricem de nostrae potestatis plenitude coronare. Nos autem licet id pluries denegassemus eisdem, ne quis posset quamvis de superfluo suspicari, quod id in Ecclesiae Constantinopolitan. praejudicium faceremus, quia tamen timebatur a multis, ne si sic a nobis confuses abscenderet, non solum sibi, sed universo imperio grave dispendium immineret. Condescendentes tandem ipsos sine tuo, vel alterius praejudicio, vel contemptu in Ecclesia Beati Laurentii foris muros Urbis duximus solemniter coronandos, quod ad hoc divino nutu credimus esse actum, ut cum Imperatores Constantinopolitani, qui fuerunt pro tempore cornu superbiae contra Romanam Ecclesiam erigentes dedignati fuerint recognoscere ipsam Matrem omnium Christifidelium generalem, propter quod ab eis Imperium est translatum, nec in Ecclesia generali vestigium appareat perfidiae praecedentis, isto tamquam devoto, & humili filio a Summo Pontifice coronato, quin potius generatio, & generatio laudent opera Domini, qui suscipiens mansuetos usque ad terram humiliat peccatores (Bullarum privilegiorum ac diplomatum Romanorum pontificum amplissima collectio. Ed. Cocquelines, 183).

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I. Konzeptionen des Kaisertums

Sonderkrönungen: Festkrönungen, Selbstkrönungen, Mitkaiserkrönungen Lässt sich dies auch bei anderen zeremoniellen Handlungen feststellen? Im Normallfall blieb es nicht bei einer einzelnen, festlichen Schmückung des Kaisers mit einer Krone. Vielmehr war es üblich, dass ein Kaiser – wie auch ein König – sich zu bestimmten Anlässen mit der Krone auf dem Haupt zeigte. Welchen Stellenwert hatten aber kaiserliche Festkrönungen? In Byzanz waren sie durchaus verbreitet und könnten Einfluss auf das westliche Kaiserzeremoniell entfaltet haben.733 Dieses diente dann möglicherweise wieder als Vorbild für die mit einer Messe verbundene königliche Festkrönung.734 Ursprung und Wesen der königlichen Festkrönungen im Westen sind allerdings umstritten. Offensichtlich war es im 11. und 12. Jahrhundert nicht denkbar, dass ein Herrscher ohne begleitende Rituale die Krone trug. Nur schwer lassen sich aber die eigentliche Festkrönung und das weniger förmliche „unter der Krone gehen“ bzw. „Kronetragen“ differenzieren. Möglicherweise umfasste diese Festkrönung eine Art gekürzte Wiederholung des eigentlichen Krönungsaktes, während die Prozession des gekrönten Königs den Höhepunkt gebildet hat.735 Aber auch ohne formvollendete Festkrönung konnte das „Unter-der-Krone-gehen“ dazu dienen, Herrschaftsansprüche klar zu verdeutlichen, „da es für das Volk nur auf die sinnfällige Demonstration ankam, nicht auf die Form, in der die Krone auf das Haupt des Königs gekommen war“736. So ermöglichten etwa im Königreich Jerusalem die verschiedenen Prozessionen um Ostern die wirkungsvolle Inszenierung des Königs als Stellvertreter Christi, ein Anlass, der meist mit einer Festkrönung verbunden wurde.737 Im lateinischen Kaiserreich findet sich nur eine kurze Erwähnung einer Art Festkrönung: Anlässlich der Heirat Heinrichs mit Agnes, der Tochter Bonifaz’ von Montferrat, am 4. Februar 1207 wird von einer prächtigen Krönungszeremonie in der Sophienkirche und entsprechenden Feierlichkeiten im Bukoleon-Palast berichtet.738 Betrachtet man diese Zusammenhänge, so ergibt sich für die vorliegende Thematik, dass im westlichen Bereich erneut Königtum und 733 734 735 736 737 738

Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 23. Vgl. im Folgenden Büttner, Weg (2012), 78–93. Büttner, Weg (2012), 83 in Anlehnung an Brühl, Festkrönung (1971), 1110. Vgl. ebenso die Schilderungen bei Elze, Festkrönungsordo (1998). Mayer, Pontifikale (1967), 168 in Anlehnung an Klewitz, Festkrönungen (1939), 71f. und Brühl, Krönungsbrauch (1962), 271 / Anm. 5. Mayer, Pontifikale (1967), 170f. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 458, S. 272: Et l’esposa l’empereres Henris au mostier Sainte Sophye, le diemenche aprés la feste madamme sainte Marie Candelor, a grant joie et a grant honor; et porterent corone ambedui; et furent les noces haltes et planieres el palais de Bochelion. Ensi fu fait li mariages de l’empereor e de la file le marchis Boniface, qui Agnés l’empereris’ avoit li nom, com vos avés oï („So wurde Kaiser Heinrich mit ihr in der Kirche der heiligen Sophia verheiratet am Tag nach Maria Lichtmess mit großer Freude und großer Ehre verheiratet; und sie trugen beide eine Krone; und sehr denkwürdig waren die Feierlichkeiten im Bukoleon-Palast. So, wie ihr gerade gehört habt, war die Hochzeit, die zwischen dem Kaiser und der Tochter des Markgrafen gefeiert wurde, deren Name Kaiserin Agnes war“).

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Kaisertum in charakteristischer Art und Weise „zusammenfließen“: Ein Kaiser kann bei einer Festkrönung, die im Normalfall nicht durch den Papst erfolgt, eigentlich nur (erneut) zum König gekrönt werden. Ebenso bieten kaiserliche Selbstkrönungen nur bescheidenes Vergleichsmaterial, waren sie doch nach Anfängen im fränkischen Frühmittelalter739 bis zu Napoleon (und auch im byzantinischen Raum) praktisch undenkbar, obwohl ihnen eigentlich keine theologischen und theoretischen Gründe entgegenstanden: Zum einen kam der Krönung an sich streng genommen keine konstitutive Bedeutung und kein sakramentaler Charakter zu, zum anderen war ein Kaiser zu einer Königserhebung berechtigt, konnte also theoretisch sich selbst zum König erheben. Gleichwohl bedurften wohl selbst Festkrönungen des geistlichen Zeremoniells, umso mehr musste dies also für reguläre Krönungen gelten. Eigenartig bleibt zweifellos die sogenannte Selbstkrönung Friedrichs II. in Jerusalem, die für heftige Diskussionen in der Forschung sorgte. Sie wird heute eher als Inszenierung des staufischen Herrschaftsantritts und der eigenen Herrschaftsrechte im Königreich Jerusalem denn als „echte“ Krönung angesehen.740 Aber auch in dieser Funktion ist die Bedeutung des Aktes vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit dem Papsttum überragend. Hätte sich diese Krönungshandlung durchsetzen können, wäre sie ein einzigartiges Mittel gewesen, sich als Kaiser von den Königen abzusetzen. Im Mittelpunkt päpstlich-kaiserlicher Auseinandersetzungen standen mitunter Mitkaisererhebungen. Mitkaisererhebungen waren in der Antike eher der Normalfall als die Ausnahme.741 Sie gehen vor allem auf zwei Erfordernisse zurück: der Regelung der Nachfolge und der Verteilung der Herrschaftsaufgaben. Ihre höchste Ausformung fanden sie in der Tetrarchie. Insofern ist auch die Vorstellung einer Einzigartigkeit des Kaisers für die Antike anachronistisch und wohl eher christlich-kirchlichem Gedankengut zuzuordnen. Was jedoch auch in der Spätantike anscheinend stets gewahrt werden sollte, war die Definition eines Hauptkaisers.742 Die Mitkaiserkrönung in Byzanz wurde wohl unter Kaiser Herakleios im 7. Jahrhundert wieder aufgenommen.743 Sie sollte die Kontinuität der Dynastie sichern und missliebige pupurgeborene Söhne des Kaisers ausschalten.744 Im Gegensatz zur Spätantike waren die Mitkaiser in Byzanz jedoch so gut wie nie an der Regierung beteiligt, nahmen weder Funktionen in der Zivilverwaltung noch die Führung von Militärunternehmungen wahr, sondern waren weitgehend auf zeremonielle Tätigkeiten be739 740 741 742 743 744

Ludwig der Fromme hatte sich 813 in Aachen auf Geheiß seines Vaters selbst die Krone aufgesetzt; somit handelte es sich nicht um eine wirkliche Selbstkrönung im strengen Sinne. Vgl. Rader, Kaiser (2008), 109–111. Vgl. als Überblick Vollmer, Tetrarchie (1991); vgl. auch die Beiträge in Boschung / Eck‚ Tetrarchie (2006). Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 39. Kornemann, Doppelprinzipat (1930), 162; vgl. ebenso für die spätere Zeit Ostrogorsky, Mitkaisertum (1930); vgl. auch Dölger, Mitkaisertum (1956). Mayer, Pontifikale (1967), 166.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

schränkt. Ihre Kompetenzen waren der Willkür des Hauptkaisers anheimgestellt. Die Gründe für diese Einschränkung mögen in einer Mischung aus protokollarischen Schwierigkeiten und Furcht vor einer Usurpation gelegen haben.745 Interessant ist ebenso die Krönung zum caesar, der in gewissem Sinn das funktionale Äquivalent zum Rex Romanorum darstellt.746 Auch hier zeigt sich wieder deutlich die in Byzanz dominierende Stellung des Basileus: Die Krönung wurde vom Kaiser vorgenommen, der Patriarch segnete nur Kamelaukeon und Chlamys.747 Auch im westlichen Kaisertum gab es Versuche, die Überwindung der Rangdifferenz zwischen Kaiser und anderen Adligen durch die Schaffung von Caesaren aus der päpstlichen in die kaiserliche Verfügungsgewalt zu überführen.748 Dies betrifft nicht nur die Krönungen Ludwigs des Frommen 813 und Lothars I. 817 in Aachen, sondern auch die Ernennung Heinrichs VI. 1186 in Mailand, wahrscheinlich in Anlehnung an byzantinische Vorbilder eines Mitkaisertums.749 Konnte in den ersten beiden Fällen die Legitimation noch durch die Befolgung des byzantinischen Zeremoniells erlangt werden, war dies am Ende des 12. Jahrhunderts nicht mehr möglich. Der eigenartig weltlich geprägte Erhebungsakt Heinrichs VI. zeigt zugleich, weshalb sich das Mitkaisertum letztlich im Westen nicht durchsetzen sollte: Zum einen leistete das Papsttum energischen Widerstand750 – angeblich um die Singularität des Kaisertums zu erhalten, aber sicherlich auch, um Einfluss auf mögliche Kaiserkandidaten auszuüben.751 Zum anderen bestand aber auch kein zwingender Grund für eine Mitkaisererhebung, war doch diese Position funktional durch die Figur des römischen Königs besetzt – eine entsprechende Aufgabenteilung sollte sich etwa unter Friedrich II. ergeben.752 Im Königtum blieb hingegen die Mitkönigserhebung prominent. Mitunter kann man auch hier Querverbindungen zum byzantinischen Bereich ziehen. So führte man etwa die Mitkönigserhebung Balduins V. von Jerusalem durch seinen Onkel Balduin IV. auf 745 746 747 748 749 750 751

752

Lilie, Einführung (2007), 133 und 139. Vgl. knapp mit Literatur Weiss, Caesar (1999). Vgl. unten, Anm. 810. Ohnsorge, Mitkaisertum (1958). Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 22 und 34–40. Vgl. zu Heinrich VI. RI IV,3, Nr. 5. Eine päpstlich sanktionierte Mitkaisererhebung hatte es nur im Falle Lothars I. 850 gegeben (RI I, Nr. 1179a sowie RI I,3,1, Nr. 67). Vgl. Giese, Nachfolgeregelungen (2008), 471–476 und Büttner, Weg (2012), 50. Vgl. die Argumentation, die sich in der Chronica Regia Coloniensis. Ed. Waitz, 134 zu Papst Lucius III. und zum Jahr 1185 findet: Filius imperatoris insolenter agere et res alienas diripere coepit; unde crebra querimonia ad patrem et demum ad apostolicum delata est. Unde cum imperator vellet, ut imperiali benedictione sublimaretur, fertur papa respondisse ex consilio quorumdam principum et cardinalium: non esse conveniens duos imperatores preesse Romano imperio. Vgl. hierzu Toeche, Kaiser (1867), 513–527. Stürner, Friedrich II. 2 (2009), 275–285. Bei Friedrich II. wird nicht nur deutlich, dass der römische König Heinrich (VII.) sein Nachfolger sein sollte, sondern auch, dass die Kompetenzbereiche (Italien, Deutschland) getrennt werden sollten. Zugleich zeigen sich aber ebenso jene starken Spannungen, die häufig auch ein „Mitkaisertum“ auszeichnen.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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byzantinische Einflüsse zurück.753 Ähnliche byzantinische Einflüsse lassen sich möglicherweise auch im Bereich des sizilischen Königtums feststellen: Roger II. ließ seinen Sohn Wilhelm I. ebenso noch zu seinen Lebzeiten zum König machen.754 Allerdings ist in beiden Fällen auch das Vorbild der frühen Kapetingerzeit in Rechnung zu stellen. Anhand der Sonderkrönungen lässt sich zeigen, dass die Möglichkeiten des Westkaisertums, sich über die päpstliche Krönung hinaus als eigenständige Würde zu inszenieren, begrenzt waren. Der maßgebliche Einfluss des Papsttums verhinderte im Hochmittelalter insbesondere eine dynastische Durchdringung und Veranschaulichung der Kaiserkonzeption im westlichen Bereich, die dem Königtum im gleichen Zeitraum häufig gelang. Welche Möglichkeiten hatte das Kaisertum überhaupt, seinem Wesen abseits vom päpstlichen Krönungsakt sinnlich erfassbaren Ausdruck zu verleihen? Die Abgehobenheit des Kaisers Als zentrales Kennzeichen des Kaisertums könnte die Inszenierung einer wie auch immer gearteten „Abgehobenheit“ gegolten haben: Ein Kaiser sollte stärker als alle anderen Inhaber monarchischer Herrschaft „enthoben“ sein – von allen anderen Herrschaftsunterworfenen, von sachlichen und zeitlichen Zwängen. Hierzu galt es – wie bereits an anderer Stelle dargelegt – eine eindeutige Ranggrenze zu definieren, die weder „klar“ durch Usurpation, noch „diffus“ durch „Amtsanmaßung“ überwunden werden konnte. Es handelt sich hier um ein Erfordernis, das bis auf römisch-antike Zeiten zurück geht.755 Es ging nicht nur um den Beweis der kaiserlichen Überlegenheit über den Senat. Insbesondere das spätantike Kaiserzeremoniell war „in so gut wie allen seinen Formen“ eine Antwort auf die Wirren der Soldatenkaiserzeit.756 Der Kaiser verkörperte das Reich; Wirren um die Besetzung des Amtes bedeuteten Wirren für das Reich und die Ressourcenallokation. Ebenso suchte man in Byzanz die Ranggrenze klar zu definieren, wachten Hof und Basileus streng darüber, dass bestimmte Herrschaftszeichen nur dem Hauptkaiser zustanden, um eine „diffuse Usurpation“ (über die Anmaßung bestimmter Zeichen) zu verhindern. Allerdings war der Weg der klaren Usurpation stark vereinfacht: Grundsätzlich konnte sich ein byzantinischer Usurpator allein durch das Anlegen der roten Stiefel als legitimer Basileus inszenieren. Im Bereich des westlichen Kaisertums war die Sache etwas komplizierter. Aber auch bei dieser im Gegensatz zur byzantinischen vermeintlich „schwachen“ Form kaiserlicher Herrschaft blieb die Aufrechterhaltung der Rangschichtung essentiell: Hatte ein Kaiser auch keine eigenen Kompetenzen, so verhinderte alleine seine Existenz eine Aufhebung des Patts der realen Machthaber und dass ein übermächtiger Herrschaftsunterworfener zu seiner potestas auch das nomen hinzufügte und somit die Stellung der 753 754 755 756

Mayer, Pontifikale (1967), 165f. Vgl. Elze, Königtum (1982), 111f. Vgl. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 26. Kolb, Herrscherideologie (2001), 21.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

anderen, gleichrangigen Machthaber bedrohte. Die Kompetenzen des Kaisertums waren hier eher in virtuellen Sphären angesiedelt und wurden ganz bewusst nicht konkretisiert: Das kaiserliche Amt war ein Symbol konsensualer Strukturen, galt gerade deshalb aber auch als besonders schutzwürdig. Dieser Schutz wurde durch die institutionellen Hemmnisse auf dem Weg zum Kaisertum gewährleistet. Eine wie auch immer geartete Abgehobenheit war nicht notwendig und nicht gewünscht. Nach außen symbolisierte die „imperiale Verklärung“ kaiserlicher Abgehobenheit die Macht des Herrschaftsverbandes, dem der Kaiser vorstand, und die Wirkkraft des Kaisertums, die weit außerhalb menschlicher Beeinflussbarkeit lag. Um diese Abgehobenheit des Kaisers und das Selbstbild des entsprechenden Herrschaftsverbandes auch bei realem Machtverlust zu erhalten, konnte es notwendig sein, die Abgehobenheit in der Sphäre der Virtualität zu verabsolutieren und den Kaiser weitgehend zu isolieren. Diese Tendenzen sind insbesondere im byzantinischen Bereich zu finden. Gerade in dieser symbolischen Dimension lag auch möglicherweise die Attraktivität dafür begründet, dass ein Herrschaftsverband seinem Leiter kaiserliche Insignien zusprechen wollte. Die verschiedenen Möglichkeiten, Abgehobenheit zu inszenieren, werden im Folgenden Berücksichtigung finden. Sehr deutlich kam die „externe“ Funktionsweise der kaiserlichen Abgehobenheit beim vermeintlichen „Zusammentreffen der Welten“ im Kaiserpalast von Konstantinopel 1203 zum Ausdruck. Damals verhandelten der von den Kreuzfahrern unterstützte neue Basileus Alexios IV. und eine Delegation der Lateiner über deren ausstehende Belohnung.757 Über all die Jahrhunderte hatte man westliche Gesandte sehr deutlich – nach 757

Vgl. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 211–216, S. 10–14: Ensi monterent li message sor lor chevax, les espees çaintes, et chevaucherent ensemble trosque al palais de Blaquerne. Et sachiez que il alerent en grant peril et en grant aventure selonc la traïson as Grex. Ensi que descendirent a la porte, et entrerent el palais, et troverent l’empereor Alexis et l’empereor Sursac son pere seanz en .II. chaieres lez a lez; et delez aus seoit l’empereris, qui ere fame al pere et marastre al fil, et ere suer al roi de Ungrie, bele dame et bone; et furent a grant plenté de halz genz, et mult sembla bien cort a riche prince. Par le conseil as a autres messages mostra la parole Coenes de Betune, qui mult ere sages et bien emparlez. ,Sire, nos somes a toi venu de par les barons e de l’ost et de par le duc de Venise. Et saches tu que il te reprovent le servise que il t’ont fait con la gent sevent et cum il est apparissant. Vos lor avez juré, vos et vostre pere, la convenance a tenir que vos lor avez convent, et vos chartes en ont: vos ne lor avez mie si bien tenue con vos deüssiez (…)’ Mult tindrent li Greu a grant mervoille et a grant oltrage ceste desfiance, et distrent que onques mais nus n’avoit esté si ardiz qui ossast l’empereor de Costantinople desfier en sa chambre. Mult fist as messages malvais semblant l’empereres Alexis et tuit li autre le, qui mainte foiz lor avoient fait mult biel. Li bruis fu mult granz par la dedenz; et li message s’en tornent, et vienent a la porte, et montentd sor lor chevaus. Quant il furent defors la porte n’i ot celui ne fust mult liez; et ne fu mie grant mervoille, que il erent mult de grant peril escampé, que mult se tint a pou que il ne furent tuit mort ou pris („Dann stiegen die Boten mit umgegürteten Schwertern auf ihre Pferde und ritten zusammen bis zu dem BlachernePalast. Und ihr müsst wissen, dass sie, aufgrund der Verräterei der Griechen, unter großer Gefahr und unter großem Risiko dahin gingen. Dann stiegen sie an dem Tor ab und gingen in den

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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lateinischen Maßstäben geradezu beleidigend – die unendlich höhere Stellung des Basileus und der ihn vertretenden Beamten spüren lassen und so auch den Vorrang des eigenen Kaisertum und seine weltbeherrschende Stellung klar inszeniert.758 Dieses Zeichensystem war jetzt scheinbar ins Wanken geraten. Alexios IV. hatte sich nur mit Hilfe des Kreuzfahrerheeres durchsetzen können; in zunehmendem Maße hatten sich die Kreuzfahrer in ihrem Empfinden dem kaiserlichen Rang angenähert.759 Aus byzantinischer Sicht blieben die Lateiner jedoch – überspitzt formuliert – gleichsam Barbaren, denen gegenüber man vertragliche Regelungen auch nur solange einhalten musste, wie sie dem eigenen Vorteil dienten.760 Dies sollte auch klar im Zeremoniell zum Ausdruck gebracht werden. Die Lateiner hingegen bestanden auf ihren Forderungen, und ihre Gesandten unter der Führung des Conon von Béthune brachten diese vor dem Basileus und seinem versammelten Hofstaat recht eindeutig zum Ausdruck. Das neue Selbstbewusstsein der Lateiner akzeptierte keine dem widersprechende Rangeinordnung durch den byzantinischen Hof und keines dieser Einordnung entsprechende Herrscherzeremoniell – die Zusammenkunft endete dann auch wenig versöhnlich.761 Gerade im Zusammentreffen von Ost und West zeigten sich die unterschiedlichen Lesarten und die veränderten Interpretationen von Zeichen kaiserlichen Ranges. Betrachten wir deshalb

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Palast und fanden den Kaiser Alexios [IV.] und den Kaiser Isaak [II. Angelos], seinen Vater, auf zwei Thronen, Seite an Seite sitzend. Und neben ihnen saß die Kaiserin, welche die Gemahlin des Vaters und die Stiefmutter des Sohnes war. Und sie war eine Schwester des Königs von Ungarn, eine schöne und edle Dame. Und sie hatten eine große Menge großer Herren bei sich; und das erschien gar sehr wie der Hof eines mächtigen Fürsten. Entsprechend dem Beschluss der übrigen Boten ergriff Conon von Béthune, der sehr klug und beredt war, das Wort: ‚Herr, wir sind im Auftrag der Barone des Heeres und im Auftrag des Herzogs von Venedig zu Euch gekommen. Und wisset, dass sie Euch den Dienst vorhalten, den sie Euch geleistet haben, wie jeder weiss und wie es offenkundig ist. Ihr habt ihnen geschworen, Ihr und Euer Vater, die Abmachung einzuhalten, die Ihr mit ihnen getroffen habt, und sie haben darüber Eure Urkunden: Doch Ihr habt sie nicht so gut gehalten, wie Ihr es gemusst hättet (…)’. Die Griechen erachteten diese Ansage für etwas ganz Erstaunliches und als eine sehr kühne Tat und sie sagten, dass niemals jemand so kühn gewesen sei, den Kaiser von Konstantinopel in seinem Gemach herauszufordern. Der Kaiser Alexios [IV.], der sie vielmals freundlich angesehen hatte, sah die Gesandten böse an, Conon von Béthune und die anderen. Es gab einen großen Lärm darin. Und die Boten kehrten zurück und kamen zu dem Tor und stiegen auf ihre Pferde. Als sie außerhalb des Tores waren, gab es keinen, der nicht überaus froh war. Und das war nicht besonders verwunderlich, denn sie waren einer sehr großen Gefahr entronnen: Es hätte nämlich wenig gefehlt und sie wären alle getötet oder gefangengenommen worden“). Treitinger, Kaiseridee (1956), insb. S. 256f. Dies war vor allem durch die Übernahme von Schutzfunktionen gegenüber Alexios und durch dessen Einsetzung bedingt gewesen. Vgl. hierzu unten, Anm. 860. Vgl. zum byzantinischen Vertragsverständnis Treitinger, Kaiseridee (1956), 207 und 211f. Vgl. aber auch etwa zu den hoch elaborierten Verträgen der byzantinischen Herrscher mit den Seehandelsstädten Heinemeyer, Verträge (1957), 157–161. Vgl. oben, Anm. 757.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

die verschiedenen Elemente der Inszenierung kaiserlicher Abgehobenheit und die kulturellen Unterschiede ihrer Verwendung. Reichtum Reichtum ist Macht.762 Ein Herrscher, der beansprucht, einen der Titel höchster Machtvollkommenheit zu führen, musste folglich auch seinen Reichtum möglichst klar zum Ausdruck bringen. Hierbei standen viele Möglichkeiten zur Verfügung, aus denen nur einige erwähnt seien: der Schmuck der eigenen Person und des Gefolges, eine hochelaborierte Hoforganisation, hervorragend ausgestattete Land- und Seestreitkräfte, die Zurschaustellung des Staatsschatzes, die Präsentation kostbarer Handelsgüter oder auch wertvoller liturgischer Geräte, oder – am wirksamsten – glanzvolle Feste und überreiche Bewirtung von Gesandtschaften und anderen Herrschern.763 Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang auch Geschenke.764 Sicher können Könige und Fürsten – entsprechenden Reichtum vorausgesetzt – all dies auch bewerkstelligen und ihren Rang somit in Richtung Kaisergleichheit verschieben. Der legendäre Reichtum der Byzantiner und ihrer Herrscher war jedoch geradezu das ferne Paradigma kaiserlicher Herrschaft. Dieses Vermögen wurde ganz bewusst eingesetzt, um klar die Rangdifferenz zu markieren. Es war nicht nur die Prächtigkeit der Architektur, die ihrem Zweck entsprechend beeindruckte. Insbesondere bei Empfängen konnten darüber hinaus der ganze Aufwand des Hofzeremoniells, die prächtigen, goldenen Gerätschaften und die technische Ausstattung ausgespielt werden.765 Hier inszenierte sich der Kaiser durch unerreichbare Pracht. Auch die Tierhaltung war wichtiger Bestandteil im Arsenal dieser Zeichen.766 Das westliche Kaisertum sollte Reichtum nie so exzessiv inszenieren, sei es aus Gründen mangelnder Ressourcen, sei es, weil dies als unschicklich gegolten hätte. Entsprechend sollten auch die lateinischen Kaiser keine diesbezüglichen Bemühungen unternehmen.767 Ähnlichen Reichtum fand man im Westen nur in Süditalien, im ehemaligen Einflussbereich byzantinischer Herrschaft, aber nicht im übrigen Europa.768 So muss auch das Staunen echt sein, mit dem etwa Kaiser Balduin I. Papst Innozenz III.

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Vgl. als Überblick Hardt, Gold (2004). Vgl. zum breiten Spektrum dieser Thematik in Bezug auf Byzanz die Beiträge in Bauer, Visualisierungen (2006). Vgl. zu den Gastmählern im Besonderen Treitinger, Kaiseridee (1956), 101–105. Vgl. grundlegend Schreiner, Geschenke (2004). Vgl. Treitinger, Kaiseridee (1956), 197–201; vgl. auch Trilling, Daedalus (1997). Vgl. für den westlichen Bereich Giese, Tierhaltung (2008), 135f. und 146–150. Die prachtvolle byzantinische Festkultur scheint nur in Teilen im lateinischen Kaiserreich fortgeführt worden zu sein. Vgl. Gerland, Geschichte (1905), 29 / Anm. 4. Vgl. zu Süditalien etwa Seipel, Nobiles officinae (2004).

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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den Reichtum der Beute aus der Plünderung 1204 schilderte.769 Gerade diese Quellenstelle zeigt sehr deutlich die unterschiedliche Lesart und die Ambivalenz externer Inszenierung von Wohlstand. Seit klassisch-antiker Zeit bildete nämlich im Westen übermäßig zur Schau gestellter Reichtum – wie etwa jener der Perser – einen festen Bestandteil des Topos der verweichlichten Tyrannei.770 Zusammen mit anderen Vorwürfen konnte dieser Topos den Lateinern den Vorwand dazu liefern, der Hauptwirkung des inszenierten Reichtums der Byzantiner auf die Lateiner, der Gier, nachzugeben. Gerade der oben erwähnte Versuch Alexios’ IV. (praktisch zum letzten Mal in der byzantinischen Geschichte), die Fremden durch seinen Reichtum als Basileus zu blenden, könnte sich als ausgesprochen kontraproduktiv erwiesen haben und angesichts des drohenden Verlustes ihres gerechten Lohnes die Gier der Kreuzfahrer nicht unbedeutend angeheizt haben. Die Abgehobenheit zeigte sich aber nicht nur in der Inszenierung rein materiellen Reichtums, der den Kaiser und den Hof auszeichnete. Vielmehr ist auch die kulturelle Komponente von „Reichtum“ bedeutend, nämlich ob der Kaiser selbst als gebildet oder allwissend erschien und ob sich auch am kaiserlichen Hof die jeweils führenden Gelehrten des Herrschaftsbereiches bzw. „der Welt“ vereinigten oder ihre Bücher zusammengeführt wurden. Hierzu war es sicherlich notwendig, zum Teil erhebliche materielle Ressourcen einzusetzen. Allerdings konnte die kaiserliche Herrschaft so den Eindruck hervorrufen, an ihrem Hof würde nicht nur die Welt versammelt, sondern auch beherrscht. Darüber hinaus ermöglichte die Aktivierung antiker Wissensbestände weitere Inszenierungen von Abgehobenheit – etwa über Urkundenformulierungen. Außerdem befand man sich in einer herausragenden Traditionslinie, hatte sich die römische Kaiserherrschaft doch selbst stets als Kulturmission begriffen.771 In diesem Zusammenhang sei nicht nur an die sogenannte Karolingische Renaissance erinnert, sondern auch an die mittelmeerischen Ausprägungen dieses Phänomens, sei es nun in Byzanz772, im normannischen Machtbereich773 oder insbesondere im Königreich Sizilien unter Friedrich II.774 Vor allem in Byzanz war die allgemeine Bildung des der Mitglieder des Staatsapparates ausgesprochen wichtig. Jedes Mitglied der Elite sollte idealerweise Kenntnisse in Rhetorik, Grammatik, Geometrie, Astronomie und Logik

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RIN 7, Nr. 152, S. 258: Diripitur equorum innumera multitudo; auri et argenti, sericorum pretiosarumque vestium atque gemmarum et omnium eorum, que ab hominibus inter divitias computantur, tam inestimabilis abundantia reperitur, ut tantum tota non videretur possidere Latinitas. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 9. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Das Kaisertum und der Raum‘. Vgl. Beck, Beredsamkeit (1972); Beck, Bildung (1972); Schlange-Schöningen, Kaisertum (1997), insb. S. 91–140. Houben, Roger II. (2010), 104–119. Vgl. Pasche, Scienze (1994); sowie ebenso die Bände Tronzo, Life (1994) und Borth / Zwölfer, Friedrich II (1996); vgl. ebenso Bussotti, Fibonacci (2008).

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I. Konzeptionen des Kaisertums

erlangen.775 Mäzenatentum war für jeden Adligen eine Möglichkeit, sich kaisergleich zu geben, entsprechend groß war die Notwendigkeit für den Basileus, auch diesbezüglich seine überragende Abgehobenheit zu inszenieren. Von all dem ist im Bereich des lateinischen Kaiserreiches eher wenig zu spüren. Dies kann sicherlich auch durch Quellenschwund bedingt sein. Jedoch mögen auch die primär am Rittertum orientierten Ideale der jeweiligen Kaiser eine Rolle gespielt haben. Kleidung und Insignien Eng mit der Inszenierung des generellen Reichtums verbunden war der Kleidungsprunk. Allgemein kommt Kleidung eine wichtige Funktion als Mittel der sozialen Distinktion zu.776 Mit scharfem Blick für die Funktionsbedingungen und Zwecke höfischer Repräsentation soll der Neuplatoniker Synesius um 400 gegenüber Kaiser Arcadius den herrscherlichen Kleiderprunk getadelt haben: „Wann, glaubst Du, ging es wohl den Römern am besten? Etwa seitdem ihr ganz in Purpur und Gold gekleidet seid und Edelsteine aus den Bergen und Meeren barbarischer Länder auf dem Haupte, an Euren Gewändern, Schuhen, Gürteln und Fibeln tragt und sogar die Sessel mit ihnen verziert, auf denen ihr thront? Fürwahr, ihr bietet einen farbenprächtigen Anblick in Eurem ‚steinernen‘ Kleid, wie die Pfauen, über die Homer sich lustig macht (…) Geht es Euch denn jetzt besser, seitdem das Kaisertum sich in so zeremonielle Formen hüllt und ihr Euch wie Salamander, die sich nicht gern ans Sonnenlicht wagen, unsichtbar macht, damit Euch die Menschen nur ja nicht dabei ertappen, dass ihr Menschen seid? Oder ging es nicht in Wahrheit damals besser, als die Truppen von Männern angeführt wurden, die mitten unter ihnen lebten, die sich von der Sonne bräunen ließen, die genügsam und anspruchslos waren, in ihrer Kleidung keinen Luxus trieben?“777 Auch dem Mediävisten werden diese Mahnungen bekannt vorkommen, gehörten sie doch – in leicht abgewandelter Form – zum Standardrepertoire kirchlicher Prediger und Theoretiker. Synesius verkörperte jedoch eine Minderheitsmeinung. Die Mehrheit der spätantiken Panegyriker war der Überzeugung, dass zu einem Kaiser selbstverständlich Purpur, Gold und Edelsteine gehörten.778 Wie kam diese Ambivalenz zustande? Im Grunde ging der römische Kaiserornat auf hellenistische Traditionen zurück.779 In der römischen Vorstellungswelt wurde die Kleidung des Triumphators als Göttergewand und Tracht der alten Könige interpretiert. Dieser Prunkornat spiegelte somit auch die Genese des Kaiseramtes wider, das sich der Zeichen des Triumphators bediente.780 775 776 777 778 779 780

Lilie, Einführung (2007), 148. Vgl. die Beiträge in Köb, Kleidung (2005). Vgl. jetzt auch Keupp, Wahl (2010). Synesius, De regno 11 übersetzt mit Kolb, Herrscherideologie (2001), 19. Kolb, Herrscherideologie (2001), 21. Vgl. auch grundlegend Alföldi, Insignien (1935). Alföldi, Ausgestaltung (1934), 4. Schramm, Trabea (1954), 27.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Dennoch wurde im Kaiserzeremoniell die Kleidung zunächst nach den verschiedenen, durch den Princeps ausgeübten Handlungen differenziert.781 Augustus begnügte sich noch bewusst mit bürgerlicher Tracht. Jedoch wurden – ganz ähnlich wie in der Ämterverfassung – bestimmte amtsgebundene Gewandungsprivilegien für ihn monopolisiert. So durfte der Kaiser bald die Kleidung des Triumphators auch bei anderen Gelegenheiten anlegen.782 Angeblich war es Diokletian, der als erster römischer Princeps klar seine Abgehobenheit durch Prachtgewänder und Edelsteinschmuck zum Ausdruck brachte.783 Die trabea triumphalis wurde zur toga picta.784 Allerdings wurde der Kleiderprunk durch manche altrömischen Schriftsteller als zentrales Kennzeichen der verachtungswürdigen mores regii getadelt. Prächtige, goldstrotzende und edelsteinbestickte Kleider sind in der antiken Literatur oft geradezu das Kennzeichen des Gewaltherrschers. Auch hier zeigt sich wieder das über die Jahrtausende prägende Interpretationskonstrukt der klassischen Werke, der Gegensatz zwischen kleiderprunkend tyrannischen Perserkönigen und der schmucklosen Tracht freiheitsliebender Griechen. Das Königtum durfte so prunken, dem Prinzipat war eine solche Haltung aber eigentlich nicht angemessen. Über die republikanischen Zeiten hinaus wurde den römischen Bürgern entsprechend dieser Geisteshaltung auch die Toga – und eben nicht das Pallium – als allein einem Römer angemessene Kleidung vorgeschrieben.785 Auch zu anderen Zeiten sollten sich diese Schwierigkeiten einer konsensual geprägten Gesellschaft mit der Akzeptanz einer klaren Inszenierung des Rangunterschiedes wiederholen: Einhard betont in seiner Vita Karoli die Eigenschaft Karls des Großen, sich möglichst selten durch seine Kleidung abheben zu wollen. Nur in Rom soll er einige Male die römische Tracht angelegt und sich so als Römer und Kaiser inszeniert haben.786 Unter Otto III. soll dann aber die Frage der kaiserlichen Abgehobenheit mit aller Macht über die Sachsen hereingebrochen sein.787 Zu diesen Grundbedingungen trat eine typisch westliche Entwicklung: die christliche Überformung des Kaiseramtes, die sich auch darin zeigte, dass das höchste, das kaiserliche Amt tendenziell Bescheidenheitsforderungen unterworfen wurde, die streng genommen nur zur Ehre Gottes ausgehebelt werden durften. Entsprechend leistete die Kirche den Bestrebungen der weltlichen Herrscher keinen Widerstand, ihre Kleidung der geistlichen Gewandung anzugleichen, sondern förderte diese Tendenzen mitunter

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Alföldi, Insignien (1935), 8f. Schramm, Trabea (1954), 27. Demgegenüber kritisch Alföldi, Ausgestaltung (1934), 8. Schramm, Trabea (1954), 27. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 11–20. Vgl. oben, Anm. 267. Vgl. oben, Anm. 553.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

sogar.788 Folglich hat man es hinsichtlich des westlichen Kaiserornats vor allem mit Kleidung zu tun, die aus dem liturgischen Kontext stammt, zu dem auch die Krönung gehört. So wurde wohl bereits der in Rom geweihte karolingische Kaiser wie ein Bischof mit den geistlichen Gewändern Albe, Amikt und Zingulum, mit Tunika, Dalmatika, Pluviale, Mitra und wohl auch Sandalen und Strümpfen immantiert.789 Diese Gewandung durfte der Kaiser auch an den dies coronae („Festkrönungen“) tragen; entsprechend der Verbreitung der Festkrönungen und verwandter Formen wurde sie zum Teil aus dem streng kirchlichen Rahmen gelöst.790 Allerdings blieb die Bescheidenheit weiterhin ein wichtiges Element der kaiserlichen Repräsentation – ein letzter Ausläufer dieser Geisteshaltung zeigt sich etwa im Treffen zwischen Friedrich III. und Karl dem Kühnen in Trier 1473, bei dem der Kaiser einfach gewandet, der Burgunderherzog aber außergewöhnlich prächtig auftrat.791 Wenngleich gewisse Parallelen zum oben geschilderten Verzicht auf große Heeresmacht792 gezogen werden können, also der Inszenierung unerschütterlichen Vertrauens in die eigene Stellung, die gerade deshalb keiner Inszenierung bedurfte, scheint es sich hier doch um eine Spezifik kaisergleicher westlicher Herrschaft zu handeln.793 Dies bedeutet nun nicht, dass alle Kaiser bescheiden auftraten. Der Kleiderschmuck der Byzantiner sollte von ihnen aber stets misstrauisch beäugt werden. In Byzanz hatten sich nämlich nicht nur die spätantiken Traditionen der kaiserlichen Kleidung erhalten.794 Vielmehr wurden diese Traditionen durch die im Osten weiterhin vorhandenen persisch-hellenistischen Traditionen verstärkt und überlagert: perlenbestickte, golddurchwirkte Purpurkleidung, der Loros und vor allem kostbare Schuhe waren die wichtigsten Elemente kaiserlicher Prunkkleidung.795 Einzelne dieser Kleidungsstücke fanden auch Aufnahme in den westlichen Fundus. Es waren meist diejenigen Pretiosen, über die die Kaiser besonders eifersüchtig wachten, um eine „kalte Usurpation“ qua Angleichung in der Kleidung zu verhindern, und die dazu dienten, die 788

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Schramm, Mitra (1954), 77: „Der Grund dafür wird wohl gewesen sein, daß sie [= die Kirche] seit der Mitte des 11. Jahrhunderts alle diese Bestrebungen als letztlich ungefährlich ansehen durfte, weil es ihr gelungen war, die Linie zwischen geistlich und weltlich ganz scharf zu ziehen, und sie es im weiteren Laufe des Mittelalters vermochte, aus dieser Linie einen tiefen Graben zu machen“. Die Vita Hludowici imperatoris. Ed. Pertz berichtet über die Kleidung Ludwigs den Frommen ad a. 840, S. 647: rem familiarem, quae constabat in ornamentis regalibus, scilicet coronis et armis, vasis, libris vestibusque sacerdotalibus. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 203. Der Gebrauch von Kleidung aus dem geistlichen Bereich kann somit nicht als alleiniger Indikator für die dem Kaiser zugeschriebene Sakralität gelten; vielmehr ist die Interpretation dieser Kleidung mitentscheidend. Vgl. Ehm-Schnocks, Tag (2007), 151f. Vgl. oben, den Abschnitt ‚Säkulare Funktionen‘. Auch Ludwig der Heilige gab sich betont bescheiden; vgl. hierzu etwa Le Goff, Ludwig der Heilige (2000), 185–187. Grabar, empereur (1936). Vgl. auch Hendy, Catalogue 4 / 1 (1999), 143–180. Piltz, Court Costume (1997).

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Rangdifferenz zwischen Basileus und Hofgesellschaft klar zu markieren. Eines der wichtigsten Zeichen kaiserlichen Ranges war im Osten der Loros, die byzantinische Kaiserbinde, „die im Laufe der Jahrhunderte verschieden getragen worden ist, bei der jedoch bezeichnend bleibt, daß sie um die Hüften sowie um die Schultern so geschlagen wird, daß das eine Ende vorn bis zum Saum des Gewandes herabfällt, während das andere über den linken Unterarm gehängt wird“796. Der Loros entwickelte sich aus der trabea triumphalis.797 Dieser Ursprung erklärt den reichen Symbolgehalt und die Dauerhaftigkeit des Loros als Zeichen des Kaisertums. In der byzantinischen Ikonographie ist der Loros darüber hinaus Zeichen Christi und der Erzengel. Auch im Westen fand der Loros seinen Widerhall, wurde jedoch meist falsch interpretiert.798 Gibt es bereits seit Konrad III. schwache Hinweise auf eine Orientierung des westlichen Kaisers am Äußeren des Basileus und insbesondere Anklänge an dessen Loros799, so findet sich ein einigermaßen sicherer Nachweis erst für die Zeit Heinrichs VI. Zuvor war der Loros bereits in den Bullenbildern des Königs von Jerusalem abgebildet worden: bei Amalrich, Balduin IV., Balduin V. und Guido von Lusignan.800 Schramm weist sicherlich richtig darauf hin, dass der Loros hier eigentlich falsch – in der Art einer Stola – getragen wurde und sich der König so im Äußeren einem Diakon anglich.801 Jedoch trifft Schramm nicht den Kern: Ganz bewusst orientierte man sich im Königreich Jerusalem nämlich am kaiserlichen Vorbild des Basileus – der Vertreter des „Königs der Könige“ in Jerusalem hatte ja der supraregnalen Logik der Kaiserkonzeption entsprechend kaiserlichen Rang. Und so kann man auch überzeugender mit Deér annehmen, dass es sich bei der Jerusalemer Binde um einen reinen Loros handelt, der aus bildtechnischen Gründen ungünstig dargestellt wurde.802 Die Orientierung an der byzantinischen Kaiserikonographie kommt nämlich auch durch die anderen bildlichen Elemente der Jerusalemer Königsbullen zum Ausdruck – Globus und Langstab.803 Wie diese Herrschaftszeichen Eingang in den Formenschatz königlicher Repräsentation fanden, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Jedoch kann man auch hier wieder die Parallele zum imperialen Erbe ziehen: Das Wissen war latent vorhanden und wartete – mitunter hervordrängend – nur auf seine Aktivierung. Denn in den Kreuzfahrerstaaten war und blieb das orthodoxe Element bedeutend und mit ihm der Einfluss der byzantinischen Zeichensprache. Gerade unter König Amalrich, der offensichtlich das Bedürfnis hatte, die gestiegene Bedeutung des Königreiches sinnbildlich zum Ausdruck zu bringen,

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Schramm, Trabea (1954), 26. Schramm, Trabea (1954), 37. Vgl. im Folgenden auch Keupp, Wahl (2010), 246–251. Burkhardt / Mersch / Ritzerfeld u. a., Hybridisierung (2011), 492. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Siegel und Münzen‘. Schramm, Trabea (1954), 32f. Deér, Byzanz (1977), 51f. Burkhardt / Mersch / Ritzerfeld u. a., Hybridisierung (2011), 498f.

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stieg dieser byzantinische Einfluss erneut: Expansive Bestrebungen Richtung Ägypten paarten sich mit engen Beziehungen zum Hof in Byzanz.804 In ganz ähnlicher Weise wurde auch der Loros durch die normannischen Herrscher Siziliens rezipiert. Wie die erhaltenen Herrschermosaiken und -bullen zeigen, eigneten sie sich einen Ornat an, der bis in die Details jenem des byzantinischen Kaisers nachempfunden war. Deutlich ist gerade hier die Wirkung eines recht unmittelbar übertragenen imperialen Erbes. Für die normannischen Herrscher ermöglichte diese Übernahme die Inszenierung von „Abgehobenheit“, sie machten deutlich, dass sie Gleichrangigkeit mit dem Basileus beanspruchten. Auch die staufischen Erben – Friedrich II. und Manfred – behielten den Loros bei, ja er fand sogar, wenngleich missinterpretiert, expliziten Eingang in den westkaiserlichen Fundus. Spätestens ab Heinrich VII. sah man in der „Stola“ ein kaiserliches Zeichen. Eine ähnliche Interpretation findet sich auch im anjouzeitlichen Süditalien: Der Loros wurde auch dort nun als Stola angesehen.805 Diese Interpretation beruhte wohl unter anderem auf der Verbindung mit der ehrwürdigen Tradition der apostolischen Legation des sizilischen Königs.806 In ähnlicher Weise und mit ähnlicher Umdeutung fand der normannische Loros wahrscheinlich auch seinen Weg nach Aragon.807 Hier gilt es aber insbesondere die Auseinandersetzungen der aragonesischen Herrscher mit den Anjou im 13. und 14. Jahrhundert zu beachten: Aus dem Loros der Kaiserimitation war die Stola als Sinnbild des staufischen Erbes geworden. Ähnliches lässt sich auch hinsichtlich des Kaisermantels feststellen. Der byzantinische Kaisermantel war aus der hellenistischen Chlamys und dem Paludamentum der römischen Feldherren entstanden und wurde in Byzanz als Chlamys bezeichnet.808 Spezifisch byzantinisch und gleichsam Zeichen des Basileus war der viereckige verzierte Einsatz der Chlamys, das sogenannte Tablion. Das Tablion wurde bei der westlichen Rezeption des Kaisermantels praktisch nicht wahrgenommen.809 Die Chlamys konnte in Byzanz vor allem deshalb als Zeichen einzigartigen Ranges gelten, da sie neben der Krone das einzige Herrschaftszeichen war, das der Patriarch nach vorgeschriebenen Gebeten mit geistlichem Segen überreichte.810 Im Westen hingegen sind purpurfarbige Militärmäntel frühzeitig allgemein verbreitete Zeichen des Herrschertums. Erst mit dem Ende der Staufer ändert sich die Darstellung des kaiserlichen Mantels811: Statt wie eine Chlamys über einer Schulter durch eine 804 805 806 807 808 809 810 811

Mayer, Pontifikale (1967), 174f. Schramm, Trabea (1954), 36–41. Vgl. zum Legatenamt Deér, Anspruch (1977); Caspar, Legatengewalt (1904). Schramm, Trabea (1954), 46. Deér, Byzanz (1977), 48; vgl. zur Chlamys Hendy, Catalogue 4 / 1 (1999), 151–156. Mayer, Pontifikale (1967), 177. Constantine Porphyrogénète, Le Livre des Cérémonies 2. Ed. Vogt, c. 47 (38), S. 2f. und c. 50 (41), S. 17. Keupp, Wahl (2010), 235–246.

I.3 Kaiserliche Herrschaft

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Agraffe zusammengehalten, wurde er – gleich dem geistlichen Pluviale – nun symmetrisch über beide Schultern gelegt. Wie bei der Interpretation des Loros und der „Einführung“ der Stola ist auch dies möglicherweise ein Hinweis auf die zunehmende Verkirchlichung des kaiserlichen Ornats.812 Diese Orientierung ist aber eigentlich nichts anderes als eine Rückkehr zu den Wurzeln – hatte sich doch das Papsttum in seinen Bestrebungen, die neu gewonnene Macht zum Ausdruck zu bringen, an kaiserlichen Gewandungsgewohnheiten orientiert.813 Prächtige Schuhe galten in der klassischen Literatur als höchste Ausdrucksform der luxuria und sahen sich auch im westlichen Bereich scharfer Kritik ausgesetzt – wenngleich sie auch dort selbstverständlich Verwendung fanden.814 Im byzantinischen Raum hingegen entwickelten sie sich zum Herrschaftszeichen, die roten Schuhe des Basileus waren geradezu dessen „Alleinstellungsmerkmal“. Bonifaz von Montferrat, der durchaus im Ruf stand, kaiserlichen Rang zu beanspruchen, könnte eben doch mit verschiedenen Elementen seiner Kleidung gespielt haben.815 Die große Bedeutung der kaiserlichen Kleidung wird auch daran deutlich, dass Bonifaz nach der Gefangennahme Alexios’ III. dessen rote Stiefel und seine kaiserliche Kleidung, die dieser ihm übergeben hatte816, an Balduin I. schickte817 – durch diesen Akt wurde dreierlei bewirkt: Alexios wurde seiner kaiserlichen Würde beraubt, Balduin I. auch durch Bonifaz ganz explizit als Kaiser anerkannt und zugleich wurde verhindert, dass ein Prätendent jedweder Herkunft mit diesen Insignien investiert und so gleichsam zum Gegenkaiser ausgerufen 812 813 814 815

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Schramm, Trabea (1954), 41. Vgl. Nr. 8 des Dictatus pape: Quod solus possit uti imperialibus insigniis (Das Register Gregors VII. Ed. Caspar, 204). Vgl. etwa im breiteren Kontext Keupp, Wahl (2010), 56–65. Darauf deutet Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 7, S. 795 hin: τοῦτον γὰρ βασιλικῶς ἐσταλμένον καὶ μετʼ εὐφήμων φωνῶν προπεμπόμενον, ὥσπερ οἱ Θρᾷκες πρότερον, οὕτω καὶ Μακεδόνες τότε καὶ Θεσσαλοὶ, καὶ ὅσα ἐς ̒Ελλάδα καϑήκουσιν, ἀσμένως ἐδέχοντο („Und wie zuerst die Thraker, so empfingen auch bald die Makedonier, Thessaler und die Bewohner von Hellas mit Freuden diesen Mann, der wie ein Kaiser gekleidet war und von einer Segenswünsche schreienden Menge feierlich begleitet wurde“). Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 9, S. 808: ὁ γὰρ δὴ φυγὰς βασιλεὺς εἰς ὄψιν τῷ μαρκεσίῳ ἐλϑὼν ἄρτου μετρειτοῦ καὶ κοτύλης κεράσματος τὰ τῆς βασιλείας ἀνταλλάττεται σύμβολα („Der flüchtige Kaiser Alexios erschien nämlich vor dem Angesicht des Markesios und tauschte für eine Leibrente von Wein die Abzeichen des Kaisertums ein“). Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 309, S. 116 und 118: En icel termine ravint altressi que li marchis Bonifaces de Monferrat, qui ere vers Salenique, prist l’empereor Alexi, celui e qui avoit al l’empereor Sursac traiz les iaulz, et l’empereris sa fame avec; et envoia les hueses vermeilles et les dras imperials l’empereor Baudoin son seignor en Costantinoble, qui mult bon gré l’en soit („und zu dieser Zeit geschah es auch, dass Markgraf Bonifaz von Montferrat, der nahe Saloniki war, Kaiser Alexios gefangen nahm, der gleiche, der die Augen des Kaisers Isaak herausgerissen hatte, und mit ihm die Kaiserin, seine Frau. Und er sandte die purpurnen Stiefel und die kaiserliche Kleidung nach Konstantinopel, zu Kaiser Balduin, seinem Herrn, was der Kaiser sehr gut aufnahm“).

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I. Konzeptionen des Kaisertums

wurde. Erbeutete kaiserliche Kleidung konnte nämlich, wie das noch zu zitierende Beispiel des Bulgarenzaren Iwan I. Asen zeigt, auch recht rasch zum Investitursymbol umgemünzt werden, mit dem man Konkurrenten im Kaiserrang schaffen konnte.818 Bereits in Bezug auf die Krönung wurde auf die Gewandung des lateinischen Kaisers eingegangen. Diese speiste sich offensichtlich aus byzantinischer Beute und muss dem Kaiser das Aussehen des Basileus gegeben haben. Clari erwähnt Purpurhosen und die für das byzantinische Hofzeremoniell zur Differenzierung des Basileus so unerlässlichen roten Schuhe, eine Tunika mit Goldknöpfen sowie den prächtigen Loros.819 Da auf den Siegeln Balduins II. die von Clari geschilderte Kaisertracht gezeigt wird, schlussfolgert Elze, dass „sie wohl alle Nachfolger Balduins I. getragen haben“820. Die Differenzierung des Kaisers war möglicherweise schwerer als in byzantinischer Zeit geworden, da wohl zum einen die strengen byzantinischen Kleidungsvorschriften821 aufgehoben waren und zum anderen die Kreuzfahrer durch die exzessiven Plünderungen des kaiserlichen vestiarion822 selbst über die notwendigen Materialien 818 819

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Vgl. unten, Anm. 1093. Vgl. Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 96, S. 94: La si le desvesti on de ses dras et si le descaucha on, si li caucha on unes vermelles cauches de samit, se li caucha on uns saullers tous carkiés de rikes pierres par deseure, puis se li vesti on une cote malt rike, qui toute estait cousue a boutons d’or par devant et par derriere des espaulles dusques au chaint. Et puis se li vesti on le palle: une maniere d’afulement estoit qui batoit seur le col du pié par devant, et par derriere estoit si lons que il s’en chaingnoit, et puis se li reversoit on arriere par deseure le senestre brach, ensement comme un fanol, et estoit chus palles malt rikes et molt nobles et tous carkiés de rikes pierres precieuses. Aprés se li asfula on par deseure un molt rike mantel, qui tous estoit carkiés de rikes pierres precieuses, et li aigle qui par dehors erent, estoient fait de pierres precieuses et resplendissoient si que che sanloit que li mantiaus fust alumés („Dort zog man ihm seine Übergewänder und seine Hosen aus und zog ihm Hosen aus scharlachrotem Samt an und Schuhe, die oben vollständig mit Edelsteinen besetzt waren. Dann legte man ihm eine kostbare Tunika an, die vorne mit Goldknöpfen besetzt war, und hinten von den Schultern bis zu den Fußknöcheln reichte. Danach legte man ihm das Pallium an, das eine Art von Gewand ist, das vorne vom Hals bis zu den Füßen herabhängt und hinten so lang ist, dass man sich damit umgürtet und es dann über den linken Arm nach hinten zurückwirft, so wie das Manipel des Priesters. Dieses Pallium war sehr kostbar und sehr herrlich und vollständig mit wertvollen Edelsteinen besetzt. Die Adler, die sich außen darauf befinden, sind aus kostbaren Edelsteinen gemacht und glänzen, dass es scheint, als ob das Pallium in Flammen stehe“). Die Agraffe (hier: Stein des Kaisers Manuel, vgl. oben, Anm. 680) war u. a. auch Bestandteil des französischen Krönungsornats. Vgl. hierzu Schramm, König 1 (1960), 160. Elze, Krönung (1982), VII 844. Vgl. zum hohen Stellenwert der „Staatskostüme“ in Lilie, Byzanz (2003), 276. Vgl. zu dieser Hypothese Burkhardt, Court Ceremonies (2013), 284f. Vgl. zur Herkunft der Kleider Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 83, S. 83–84: En chel palais de Blakerne trova on molt grant tresor et molt rike, que on i trova les rikes corones qui avoient esté as empereeurs qui par devant i furent, et les riques joiaus d’or, et les rikes dras de soie a or, et les rikes robes emperiaus, et les riques pierres precieuses, et tant d’autres riqueches que on ne saroit mie nombrer le grant tresor d’or et d’argent que on trova es palais et en molt de lieus ailleurs en le chité („In dem Blacherne-Palast war ein überaus großer und überaus reicher

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verfügten. So schreibt Clari: „Und die Barone waren alle sehr kostbar gekleidet, und es gab keinen Franzosen oder Venezianer, der nicht eine Robe aus Samt oder aus Seidenstoff hatte“823, und Villehardouin berichtet: „Nun könnt ihr wissen, daß gar manches reiche Gewand für die Krönung gemacht wurde; und sie hatten guten Grund dafür“824. Umso intensiver bemühte man sich im Umkreis Balduins wohl, die Differenz in der kaiserlichen Kleidung oder Darstellung doch noch herzustellen. So meint Clari über Balduin: „Die Gewänder, die er anhatte, waren von einem größeren Wert, als ein reicher König an Schätzen besitzt“825. Mit der geringeren möglichen Differenzierungsmöglichkeit durch Kleidung standen die lateinischen Kaiser nicht alleine. Auch im Westen ließen sich bezüglich der Kleidungsstücke – wie ja auch bei den Insignien – kaum Unterschiede zwischen königlicher und kaiserlicher Herrschaft ausmachen. So schien sich der französische König bereits frühzeitig durch kaisergleiche Kleidung stark auszeichnen zu wollen.826 Und dass auch der Doge im Zuge des Machtgewinns Venedigs Elemente des westlichen und vor allem östlichen Kaiserornats – die trionfi – übernehmen sollte, sei an dieser Stelle nur nochmals kurz erwähnt.827 Im kriegerischen „Alltag“, jenseits der Inszenierung kaiserlicher Abgehobenheit, wurde ein Kaiser in westlicher Tradition nicht wie im byzantinischen Bereich allein durch seine Ausstattung so eindeutig markiert, dass er unterscheidbar von anderen Adligen gewesen wäre.828 So schildert Valenciennes etwa Heinrich auf einem Feldzug ge-

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Schatz, denn dort fand man die kostbaren Kronen, die den Kaisern gehörten, die in früheren Zeiten hier gewesen waren, und die wertvollen Geschmeide aus Gold und die kostbaren golddurchwirkten Seidenstoffe und die reichen kaiserlichen Gewänder und die kostbaren Edelsteine und so viele andere Reichtümer, dass man die großen Schätze an Gold und Silber, die sich in dem Palast und an zahlreichen anderen Stellen in der Stadt fanden, nicht aufzählen kann“). Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 96, S. 94: et estoient li baron trestout malt rikement vestu, ne si n’i avoit Franchois ne Venicien qui n’eust robe ou de samit ou de drap de soie. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 261, S. 68: Or poez savoir que mainte riche robe i ot faite por le coronement, et il orent bien de quoi. Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 97, S. 95: et valoient mix li warnement qu’il avait seur lui que li tresors a un rike roi ne faiche. Angeblich gab es eine Art Kleiderordnung; vgl. Corpus chronicorum Flandriae. Ed. Tafel / Thomas, 301: Balduinus Imperator statim post coronationem suam honorificam dedit omnibus nobilibus suis liberatam de caligis, dextram nigram insertam aureis pedibus pedibus leonum, sinistram divisam in colorem, subtus albam cum pedibus leoninis nigris, mixtam a genubus et supra nigri coloris cum pedibus leoninis aureis. Schramm, König 1 (1960), 159f. Vgl. hierzu oben, den Abschnitt ‚Krönung und Insignienreichung‘. Vielleicht gebrauchte auch Heinrich einen Schimmel: Sein Pferd Moreau wird mehrfach in der Chronik des Valenciennes erwähnt; möglicherweise griff er nur ersatzweise auf einen Rappen zurück. Vgl. Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, c. 519, S. 36: Car li empereres est armés et montés sor .i. cheval Bayart, por chou ke Moriaus, ses autres chevaus, estoit navrés si comme vous avés oï. Et quant il est armés et si

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gen die Bulgaren: Sein Panzerhemd war ebenso wie sein Helm mit einem roten Stoff mit goldenen Kreuzen bedeckt.829 Die Distinktion bewerkstelligte hier allein das Wappen, ansonsten erscheint der Kaiser nur als „Ritter“, war durch die Kleidung und den „Apparat“ an sich nicht eindeutig als solcher markiert.830 Den Unterschied zum Hochadel konnte eine Reihe von Symbolen markieren, für die das Kaisertum allerdings nur selten ein Monopol gegenüber den Königen beanspruchen konnte. Fahnen, Standarten und Feldzeichen unterschiedlicher Form fanden nicht nur im Bereich des byzantinischen Kaisertums Verwendung.831 Nur kurz sei an dieser Stelle auch die zentrale Rolle des Markusbanners in Venedig erwähnt, das Symbol der Republik und der dogalen Herrschaft war.832 Aufschlussreicher sind die Banner im Rahmen der dogalen trionfi: diese – acht an der Zahl – könnten durchaus in einer byzantinischen Traditionslinie stehen.833 In ottonischer Zeit wurde dem westlichen Kaiser – zumindest auf seinem Krönungszug – die Heilige Lanze als eine Art „Kaiserstandarte“ vorangetragen.834 In staufischer Zeit gebrauchte man praktisch nur noch das kaiserliche Banner. Die kaiserliche Fahne mit dem weißen Kreuz auf rotem Grund wurde nachweisbar seit 1191 von Innozenz III. – ergänzt um die Schlüssel – als Papstfahne übernommen.835 Auch der lateinische Kaiser schien eine Art Standarte zu führen. Valenciennes bezeich-

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aparelliés et si montés comme a lui couvint, bien sambla princes qui tierre ait a garder et a maintenir. („Denn der Kaiser war bewaffnet und hatte ein rotbraunes Pferd bestiegen, weil Moreau, sein anderes Pferd, verletzt war, wie ihr gehört habt. Und als er bewaffnet, ausgestattet und aufgestiegen war, wie es ihm zustand, sah er aus wie ein Fürst, der Land zu beschützen und zu verteidigen hatte“). Vgl. zum Schimmel als Zeichen monarchischer Souveränität Kintzinger, Reiter (2003), 323–328. Vgl. auch Piltz, Court Costume (1997), 43f. Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, c. 541, S. 45: Et li empereres chevauce toutes voies armés si richement comme a lui couvenoit; et por se reconnisance il ot une cote de vermel samit a petites croisetes d’or; et tout d’autretel maniere estoit li hyaumes que il avoit ou chief. Que vaut chou? Por noient quesist on plus biel chevalier de lui, ne qui mius samblast estre preudom as armes. Quant il fu montés sour Bayart, ilfait devant lui porter s’oriflambe, de tels desconnissances menues com vous avez oï. („Und der Kaiser indessen reitet so aufwendig bewaffnet, wie es ihm gebührt; und als Waffenrock [wörtl. Wappen] hat er ein Hemd aus purpurrotem Samt mit kleinen Goldkreuzen angezogen; und von gleicher Art war der Helm, den er auf dem Haupt hatte. Was will ich damit sagen? Vergeblich hätte man weder einen schöneren Ritter gesucht als ihn noch einen, der besser zum Krieg befähigt zu sein schien, wenn er auf Bayard aufgestiegen war und seine Oriflamme, geschmückt mit kleinen Wappen, wie ihr gehört habt, vor sich hertragen ließ“). Vgl. zur aufkommenden Distinktionsfunktion der Wappen auch Burkhardt / Mersch / Ritzerfeld u. a., Hybridisierung (2011), 503. Vgl. hierzu allgemein Arntz, Feldzeichen (1915) und Erdmann, Fahnen (1933); vgl. zur Vieldeutigkeit der Bezeichnungen auch Stoll, Fahnenwache (1995), 111. Vgl. für den byzantinischen Bereich Ebersolt, Mélanges (1917), 42f.; Meyer, Fahne (1930), 328f. Fortini Brown, Self-Definition (1991), 523f. Vgl. zur byzantinischen Tradition der phlamoula Hendy, Catalogue 4 / 1 (1999), 175f. Vgl. oben, Anm. 611. Erdmann, Fahnen (1933), 48.

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net diese als oriflambe836 – ein Hinweis darauf, dass ein dominierendes Vorbild vieler Kreuzfahrerherrschaften neben dem östlichen Kaisertum das französische Königtum war, das den Kult um die Fahne des heiligen Dionysius pflegte.837 Mit dieser Orientierung an französischen Vorbildern einher ging erneut eine latente Verköniglichung des lateinischen Kaisertums. Denn auch im Königreich Jerusalem war das königliche Banner bekannt.838 Es diente wohl ebenso im Krieg als Feldzeichen; unter König Balduin I. wird ein signum album erwähnt. Während der Krönungszeremonie eines neuen Königs wurde das königliche Banner geweiht, das auch beim Krönungsmahl zusammen mit dem Szepter eine herausragende Rolle spielte.839 Bezüglich der „alltäglichen“ Herrschaftszeichen zeigte das lateinische Kaisertum einmal mehr fast keine Tendenz zur klaren Rangmarkierung; es glich wohl eher einem französischen Vorbildern folgenden Kreuzfahrerkönigtum. Porphyr und Purpur Seit der Antike nahm Purpur eine ausgesprochen prominente Stellung als kaiserliches Zeichen ein.840 So galt die mit dem Farbstoff der Purpurschnecke gefärbte Kleidung als wichtigstes Element der sozialen Distinktion, das auch gewisse Abstufungen in der Verwendung erlaubte: Je länger die Kleidung unter Zugabe möglichst vieler Purpurschnecken gefärbt wurde, umso wertvoller wurde die Kleidung. Auch am Gebrauch des Purpur lässt sich die Entwicklung der Kaiseridee nachvollziehen: Zunächst war er nur den Togen der Senatoren und dem triumphierenden Imperator vorbehalten. In der Spätantike war der Purpur eng mit dem Kaisertum und seinen Amtsträgern verbunden – so

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Sie erscheint bei Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, in c. 521, S. 36f. in einem typisch „ritterlichen“ Kontext: Et lués ke il pierçoivent l’oriflambe l’empereour, et les autres ensegnes qui sont en sa compaignie, et nostre gent qui bien estoient priés de .ij. Blac et Commain s’en retornerent sans plus faire a cele fois; et nostre gent se retraient arriere sans enchaucier. Et nonporquant, se il ne fussent si travellié comme il estoient, volentiers fussent assamblé. Lor gens s’en rala par deviers la montaigne, et la nostre retorna à l’ost („Und sobald sie die Oriflamme des Kaisers bemerken und die anderen Feldzeichen, die in seiner Abteilung sind, und unsere Mannen, die fast zweitausend waren, kehren Walachen und Kumanen um, ohne diesmal Weiteres zu unternehmen; und unsere Mannen ziehen sich zurück, ohne sie zu verfolgen. Und trotzdem hätten sie, wenn sie nicht so müde gewesen wären, wie sie waren, gerne gekämpft. Ihre Leute entfernten sich in ihr Gebirge, und unsere kehrten in ihr Lager zurück“). Zur Fahne des hl. Dionysius: Schneidmüller, Nomen (1987), 124. Mayer, Pontifikale (1967), 180. Mayer, Pontifikale (1967), 198f. Vgl. zur antiken Tradition Blum, Purpur (1998), insb. S. 255–261 und 265–267, und zum breiteren Kontext Stulz, Farbe (1990), sowie Cleland / Stears / Davies‚ Colour (2004); vgl. auch Elliott, Pasts (2008), Avery, Adoratio (1940); Meyer, History (1970), insb. S. 37–70 zur römischen Zeit.

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wurden kaiserliche Reskripte als heiliger Gegenstand mit dem Purpurbesatz des Amtskleides angefasst.841 In der Folgezeit sind zwischen Ost und West deutliche kulturelle Unterschiede bei der Verwendung erkennbar: In Byzanz blieb der Gebrauch des Purpur im Gegensatz zum Westen Vorrecht des Kaisers, das er an die Großen seines Reiches verlieh. Dieses Privileg konnte also geradezu hierarchiekonstituierende und gesellschaftsstrukturierende Kraft entfalten. Das Küssen des kaiserlichen Gewandzipfels stand in engem Zusammenhang zur Proskynese, die Aufforderung zum Küssen des Purpurs war sogar Beweis der kaiserlichen Gunst. Die Verehrung des kaiserlichen Purpurs ist einer der Fälle für die Ehrung eines Symbols der kaiserlichen Macht und verweist auf den wichtigen Aspekt der kaiserlichen Sakralität.842 Dem toten Kaiser wurde beim Begräbnis die Krone abgenommen und sein Haupt an ihrer Stelle mit einer Purpurbinde umwunden.843 Im Westen hingegen ging die Bedeutung des Purpurs für das Kaisertum844 in zweierlei Hinsicht zurück: Zum einen trat das Scharlachtuch an seine Stelle, zum anderen konnte der Kaiser auch keinen Monopolanspruch auf eine bestimmte, als kaiserlich verstandene Farbe durchsetzen. Dies betraf nicht nur das Verhältnis zu anderen Monarchen – wie etwa Königen – sondern auch und vor allem das Papsttum. Um 1000 betonte man, dass auch die päpstliche Gewandung purpurn sei, also die Kaiserfarbe angenommen habe; ein Gedanke, der der Konstantinischen Schenkung entsprach.845 Auch die eigentlich in westlicher Tradition stehenden lateinischen Kaiser schienen die Purpurkleidung des Basileus weiterzuverwenden, es ist jedoch zweifelhaft, ob sie hierauf ein Monopol verteidigen konnten.846 Eine ähnliche Funktion wie dem Purpur kam dem Porphyr zu. Porphyr war eines der zentralen Elemente höchster Rangrepräsentation. Und ganz ähnlich wie hinsichtlich des Purpurs lassen sich auch beim Porphyr Parallelen zur Kaiseridee ziehen. Insbesondere in der Spätantike, unter den Tetrarchen und unter Konstantin, wurde das nur am Mons Porphyrites abgebaute purpurne Gesteinsgefüge mit den weißen bzw. rosa Einlagerungen zu einem Zeichen kaiserlichen Ranges; nur die Bildnisse des Kaisers sollten aus diesem Stein gefertigt werden.847 Im byzantinischen Bereich hatte Porphyr eine ausgesprochen wichtige Funktion – allein der Kaiser sollte in einer idealisierenden Auffassung auf Porphyr einherschreiten.848 Die wichtigsten Punkte im Leben eines Basileus 841 842 843 844 845 846 847 848

Alföldi, Ausgestaltung (1934), 34. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 63. Deér, Kaiserornat (1952), 17. Vgl. als knappen Überblick Ciesielska, Geneza (2001), 136–138. Schramm, Mitra (1954), 56f. Vgl. hierzu oben, den Abschnitt ‚Die Kaiserkrönung‘. Vgl. Delbrueck, Porphyrwerke (1932), 1–33 und als Einzelstudie Laubscher, Beobachtungen (1999). Vgl. für den kirchlichen Bereich in Rom Blaauw, Papst (1991) und Baade / Baade, stones (1998). Vgl. Treitinger, Kaiseridee (1956), 58–62.

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und seiner engeren Familienangehörigen waren durch Porphyr markiert: Seine Geburt erfolgte in der Porphyra (dem mit Purpur ausgekleideten kaiserlichen „Kreissaal“ im Palast von Konstantinopel) und er wurde (in der Anfangszeit) in einem Porphyrsarkophag bestattet849. Es ist wohl davon auszugehen, dass auch im lateinischen Kaiserreich der Porphyr weiterhin eine wichtige, wenngleich nicht so bedeutende Rolle spielte wie im byzantinischen Reich. Drei Argumente können hierfür in Anschlag gebracht werden: Erstens nannte sich auch Balduin II. porphyrogennetos, was abseits aller Förmlichkeiten doch für eine byzantinische Prägung spricht.850 Zweitens entwickelten die Eroberer einen gewissen Sachverstand für die Formen kaiserlicher Repräsentation, wie etwa die nach Venedig überführte Tetrarchengruppe zeigt.851 Darüber hinaus genoss Porphyr drittens auch im westlichen Bereich als Element kaiserlicher oder kaisergleicher Repräsentation hohes Ansehen. Porphyr spielt bekanntlich bei der Krönung des westlichen Kaisers eine bedeutende Rolle. Auf der Rota im Mittelschiff von St. Peter fand nämlich eine Art Gericht – das Skrutinium – über den zu krönenden Kaiser statt, womit sich das Zeremoniell erneut einer Bischofserhebung annäherte und dem zeremoniellen Ausdruck des päpstlichen Approbationsrechts diente.852 Ähnlich ist der Befund im normannischen Sizilien.853 Ein hinreichend bekanntes Element der Herrschaftsrepräsentation im normannischen Königreich war nämlich die Verwendung von Porphyrsarkophagen für die Angehörigen der Hauteville-Dynastie. Roger II. „trieb geradezu einen Porphyrkult, der mit dazu diente, seine neu errungene Königswürde abzusichern“854. Das Vorbild Rogers ist aber nur mittelbar in Byzanz zu suchen; es handelte sich wohl vielmehr um gesunken-verfestigte byzantinische Traditionen, die das imperiale Erbe des Papsttums geprägt hatten.855 Die Päpste hatten diese Bestattungsart übernommen – in Byzanz selbst hingegen wurde Porphyr als Material für Kaisergräber seit dem 5. Jahrhundert nicht mehr verwendet. Friedrich II. sollte die normannische Tradition der Porphyrgrablegen weiterführen. Ähnliches ist aus dem Bereich des lateinischen Kaiserreiches nicht bekannt. Überhaupt ist dort die Tradition einer amtsbezogenen Grablege faktisch nicht vorhanden, wie sie sich etwa in Rom (Papst849 850 851 852 853 854 855

Vgl. zum Befund etwa Asutay-Effenberger / Effenberger, Porphyrsarkophage (2006) mit der Übersicht auf S. 9–16; Vasiliev, Sarcophagi (1948). Vgl. oben, Anm. 352. Vgl. Boschung / Eck, Tetrarchie (2006); vgl. auch die Beschreibung bei Kolb, Herrscherideologie (2001), 146–151. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 198f. Vgl. auch ebd., S. 200 zu den Abweichungen der dem zu krönenden Kaiser gestellten Fragen von jenen an einen Bischofselekten und S. 201 zur Herleitung des päpstlichen Approbationsrechts aus der Bischofsordination. Deér, Tombs (1959), insb. S. 126–165; Rader, Kraft (2009). Vgl. hingegen zum anders gearteten Grab des Johann von Brienne Wiener, Grabmal (1998). Mayer, Pontifikale (1967), 183. Vgl. zum Begriff des imperialen Erbes unten, Abschnitt ‚II.2 Dynamiken imperialer Ordnungen‘.

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tum), Saint-Denis (französisches Königtum) oder der Apostelkirche (für das byzantinische Kaisertum) findet. Dieses Charakteristikum teilt das lateinische Kaiserreich mit Sizilien oder dem Bereich des Westkaisertums, wo es höchstens dynastiebezogene Grablegen (wie etwa Speyer) gab. Ein Grund hierfür könnte einfach darin liegen, dass keiner der lateinischen Kaiser in der Hauptstadt starb: Zwei von ihnen (Balduin I. und Peter) starben in der Gefangenschaft feindlicher Herrscher, einer starb in der „Verbannung“ (Robert). Konnubium Ein ausgesprochen wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Element kaiserlicher Repräsentation war das Konnubium. In einer rangbasierten Gesellschaft konnte über das Heiratsverhalten nicht nur die Stellung der eigenen Familie klar veranschaulichend gewahrt, sondern auch – über die Heirat mit Ranghöheren – erhöht werden.856 Die Definition einer entsprechenden Ranggrenze, unter deren Niveau keine Heiratsverbindungen mehr eingegangen wurden, diente auch dazu, diesen Rang in der Zeit zu verstetigen – letztlich die Ursache aller Theorien eines kaiserlichen bzw. königlichen „Geschlechtes“. Für „Aufsteiger“, die andere Qualitäten als eine kaiserliche Abkunft mitbrachten, konnte eine Einheirat die Möglichkeiten eröffnen, den eigenen Rang auch um die Legitimität einer hohen Abkunft zu bereichern. Sehr deutlich wird dies bei allen Versuchen westlicher Kaiser – insbesondere wenn eine Dynastie wie etwa die Ottonen diesen Rang neu erlangte – für die eigenen Thronfolger eine byzantinische Prinzessin „einzuwerben“.857 Die byzantinischen Kaiser wussten hingegen ihren Rang recht konsequent zu wahren; kaum je wurde Angehörigen einer westlichen Dynastie die Tochter eines regierenden Basileus angetraut.858 Diese Vorsicht war auch Ausdruck der Gefahr, die Kaisermacht in die Hände landfremder Dynasten legen zu müssen. Im westlichen Kaisertum schien die Ranggrenze hingegen im Bereich des Konnubiums durchlässiger. Hier kann man im Heiratsverhalten von Angehörigen des regierenden Kaiserhauses eher das Vorgehen von Hochadligen erkennen. Beide Traditionen lassen sich im lateinischen Kaiserreich beobachten. Recht klar wird die erhebliche symbolische Bedeutung des Konnubium an einer Heirat, die kurze Zeit nach der Niederlage Bonifaz’ von Montferrat bei der Kaiserwahl und der Designation Balduins I. zum lateinischen Kaiser stattfand: Bonifaz heiratete die Witwe Isaaks II. Angelos, Margarethe von Ungarn, und machte damit seinen Anspruch auf kai-

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Weller, Weg (2005), 51 zu den frühen Staufern; Schmid, Heirat (1983), 400f. Auch in staufischer Zeit sollten sich diese Versuche mitunter wiederholen und mit Irene von Byzanz zu einem Abschluss gebracht werden, der erneut die erstaunlichen Ereignisse um die unio regni ad imperium widerspiegelt, war Irene doch zuvor mit dem sizilischen Thronfolger Roger III. verheiratet gewesen. Vgl. Laiou, Marriages (1992). Vgl. ebenso Lilie, Byzanz (2003), 239 und 276.

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serliche Würde deutlich.859 Dieser Anspruch wurde im Gegensatz zu sonst häufig anzutreffenden Beispielen durch den Sohn aus der Ehe Margarethes mit Isaak – Manuel – sogar noch gestützt: Bonifaz konnte, wie ja bereits bei Alexios IV. im Auftrag Philipps von Schwaben, als Beschützer eines echten byzantinischen Kaisersohns auftreten.860 Niketas Choniates berichtet wohl überspitzt, aber sicherlich in mancher Hinsicht zutreffend, Bonifaz habe Manuel gar zum Kaiser ausrufen lassen. Die Versuche von Bonifaz, die Position Manuels zur Herrschaftsdurchdringung seines Machtbereiches zu nutzen, scheiterten jedoch.861 Eine weitere Heirat zeigt ebenso deutlich den hohen Rang, den die Montferrat im lateinischen Kaiserreich einnahmen: Heinrich heiratete Agnes, die Tochter des Bonifaz von Montferrat. Villehardouin schildert das Zeremoniell – wie so häufig – nur in spärlichen Sätzen, doch scheint eine Art Festkrönung Bestandteil der Feierlichkeiten gewesen zu sein.862 Wie dem auch sei, Bonifaz profitierte zweifellos, festigte er durch diese Heirat doch seinen kaisergleichen Rang. Das sonstige Heiratsverhalten der Kaiser von Konstantinopel zeichnete sich meist durch „taktische“ Ehen aus und richtete sich somit nach der jeweiligen politischen Situation: So heiratete Heinrich in zweiter Ehe die Tochter des bulgarischen Zaren Kalojan, seine Schwester Jolante sollte Peter von Courtenay, den nächsten Kaiser ehelichen. Mit 859 860 861

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Gerland, Geschichte (1905), 7 / Anm. 5. Gerland, Geschichte (1905), 24f. Vgl. zum Verhalten von Bonifaz bei seinen Streitigkeiten mit Balduin auch Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 7, S. 792f.: ἀμέλει τοι καὶ καταλαβὼν τὸ Διδυμότοιχον καὶ παντοίως αὐτὸ κρατυνάμενος, ἐπὶ δὲ τὰς Θρᾳκίας πόλεις ἀναστατῶν πλὴν τῆς ʼΟρεστιάδος [ταύτην γὰρ ἀντιπαρήρχετο πλεῖστον ὅσον τὸ ἐκ Βαλδουίνου στέγουσαν ὁπλομάχον] φόρους συνέταττε καὶ ̒Ρωμαίους συνήγειρεν, εἴ τι φρικῶδες ἀνϑρώποις καὶ ϑειότατον ὄνομα φέρων διὰγλώττης, καὶ μαρτυρόμενος ἀπείπασϑαι μὲν τὰς μεϑʼ ὁμοφυλων σπονδὰς καὶ τὴν πρότερον σύμπνοιαν, ̒Ρωμαίοις δὲ προσχωρῆσαι λαμπρῶς. ταῦτα λέγων καὶ διομνύμενος προσεμηχανήσατό τι καὶ ἕτερον ποιοῦν τὰ ῥήματα εὐπαράδεκτα∙ τὸν γὰρ πρωτότοκον υἱέα τῆς συζευχϑείσης αὐτῷ Μαρίας [κλῆσις τουτῳΐ Μανουὴλ] βασιλέα ̒Ρωμαίων ἀνηγορεύκει, ὑπεκστὰς ἐκείνῳ καὶ σχήματος καὶ ὀνόματος καὶ τὸ προσωπεῖον τοῦτο καὶ πρόσχημα κατὰ στίφη τοὺς ̒Ρωμαίους ἀγήοχε. καὶ τοιούτοις μὲν ἐνεπόλει σοφίσμασιν ὁ μαρκέσιος, μὴ πρὸς ἀλήϑειαν ὅλως δρωμένοις, ὡς τὰ μετέπειτα καϑυπέφηνε∙ („Er besetzte Didymotoichon und befestigte die Stadt auf jede Weise. Außerdem wiegelte er die anderen thrakischen Städte auf – nur Orestias überging er, weil in ihr eine sehr große Schutztruppe des Balduinos lag –, legte ihnen Steuern auf und scharte die Rhomäer um sich. Bei allen hochheiligen Namen, vor denen die Menschen schaudern, verschwor er sich und sagte sich von allen Bündnissen und aller früheren Gemeinsamkeit mit den anderen Lateinern los und trat offen und entschieden auf die Seite der Rhomäer. Er tat auch noch ein übriges, um seine Sinnesänderung glaubhaft zu machen: Er ließ Manuel, den erstgeborenen Sohn seiner Gattin Maria [= Margarethe], zum Kaiser der Rhomäer ausrufen und verzichtete zu dessen Gunsten auf den Namen und die Abzeichen eines Kaisers. Auf solches, wie sich später zeigte, unehrliches Blendwerk verlegte sich also der Markesios und lockte unter diesem schönen Vorwand die Rhomäer in hellen Scharen auf seine Seite“). Vgl. oben, Anm. 738.

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diesem Spross einer Nebenlinie des französischen Königshauses von FrankreichCourtenay öffnete sich die Dynastie durch Heiratsverbindung auch der kapetingischen Dynastie, die umgekehrt verkaiserlicht wurde.863 Der Sohn Peters, der nächste Kaiser Robert, sollte eigentlich kaisergleich die Tochter von Theodor I. Laskaris heiraten. Als er stattdessen eine französische Adlige heimführen wollte, wurde er aus Konstantinopel vertrieben. Sein Bruder und Nachfolger hingegen heiratete „staatstragend“: Balduin II. ehelichte Maria, die Tochter des Königs von Jerusalem, Johann von Brienne. Insgesamt glich das Heiratsverhalten der lateinischen Kaiser somit eher jenem eines westlichen Königs als dem eines byzantinischen Kaisers. Es trifft sich hierin jedoch auch mit dem Heiratsverhalten eines römisch-deutschen Kaisers – wie etwa Friedrichs II.864 Allerdings gibt es eine gewichtige Ausnahme: 1207 / 1208 schickte Heinrich eine Gesandtschaft an Philipp von Schwaben; die Delegation sollte für Heinrich um die Hand von Philipps Tochter anhalten. Diese war nicht nur eine Enkelin Barbarossas, sondern über ihre Mutter Irene auch die Enkelin Isaaks II. Angelos und Nichte des Alexios IV. Angelos. Eine solche Heirat hätte den Rang des lateinischen Kaisers nicht unbeachtlich gesteigert, ja ihn zu einem echten Konkurrenten des Staufers werden lassen. Philipp soll in erregter Weise reagiert haben: Er werde seine Tochter ex utraque parte ex imperatoria stirpe edita nicht an einen advena, solo nomine imperator verheiraten, es sei denn, Heinrich erkenne ihn als imperator Romanorum et suus dominus an.865 Dieser Fall zeigt dreierlei: erstens, wie hoch eben doch die Hürden und Schwierigkeiten für eine Heirat unter kaiserlichen / kaisergleichen Mächten waren; zweitens, dass der lateinische Kaiser im Westen (zumindest durch Philipp von Schwaben) eben nicht als Kaiser anerkannt wurde (was vielleicht auch auf staufischer Seite mit thronstreitbedingten Minderwertigkeitskomplexen verbunden war, aber zweifellos auch auf längeren Kontinuitäten der Auseinandersetzungen von West- und Ostkaisern beruhte) und drittens, dass eine solche Heirat dennoch möglich war, wenn sie für höhere Ziele – in diesem Fall eine Art staufischer Machterweiterung – opportun war. Philipp musste jedoch auch extrem vorsichtig sein: Durch diese Ehe hätte sich der Status Heinrichs stark geändert, er hätte faktisch alle Traditionslinien des Kaisertums (westliches, byzantinisches, lateinisches) vereint. Für den lateinischen Kaiser war eine den Vorstel863 864 865

Im 14. Jahrhundert sollte die letzte Erbin des Kaiserhauses, Katherina von Courtenay, Karl von Valois heiraten; die Valois wurden somit Erben des lateinischen Titularkaisertitels. Vgl. Lock, Franks (1995), 66f. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚III.3 Hegemonie und Koppelung‘. Ex chronico universali anonymi Laudunensis. Ed. Waitz, 453: Fuit quoque uxor Ottonis ex filia Ysaac imperatoris Grecorum; unde Philippus dux Suevorum, dum viveret, ab Henrico inperatore Constantinopolitano requisitus, ut filiam suam ei mitteret uxorem, respondit: ‚Putavitne advena ille, solo nomine imperator, filiam meam habere uxorem, ex utraque parte ex imperatoria stirpe editam, cui etiam orientale et occidentale imperium debetur iure parentum?’ Post paululum subridens ait: ‚Verum, si me imperatorem Romanum dominum suum velit recognoscere, mitam heredem imperii illi in uxorem’. Nunciis ei respondentibus, se domini sui voluntatem nescire, res est induciata.

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lungen Philipps entsprechende Klausel jedoch offensichtlich nicht akzeptabel, hätte doch eine wie auch immer geartete Anerkennung einer Überordnung eines anderen Herrschers der eigenen Position geschadet.866 Kaiserzeremoniell Eines der bedeutendsten Kennzeichen kaiserlicher Herrschaft war neben den bereits behandelten gegenständlichen Elementen ein elaboriertes Hofzeremoniell und ein hoch differenziertes Gefüge möglichst zahlreicher Hofleute. Im Prinzip sollte ein Kaiser – auch bedingt durch seine inszenierte Abgehobenheit – stärker als jeder König von den gewöhnlichen Sterblichen abgesondert sein. Diese Absonderung entsprang zunächst durchaus praktischen Gründen, beeinflusste aber schließlich auch das Herrschaftszeremoniell867 bis in den Westen, wenn etwa Otto III. vereinsamt gespeist haben soll, im Zeremoniell entrückt wie im Liuthar-Evangeliar.868 Die Absonderung konnte sich bis zur Unsichtbarkeit steigern: Seit der Spätantike war der Kaiser bei öffentlichen Audienzen von seinen Untertanen durch einen Vorhang getrennt.869 Diese Sitte wurde im byzantinischen Zeremoniell nicht nur übernommen, sondern geradezu vervollkommnet870, während sie – auch dies ein deutliches Zeichen kultureller Unterschiede – im Westen und somit auch im lateinischen Kaiserreich undenkbar war. Dort musste ein Kaiser konsensorientiert agieren, blieb die Unsichtbarkeit dem göttlichen Mysterium vorbehalten. Die Abgesondertheit des Herrschers war auch ein Weg zum Schutz der kaiserlichen Herrschaft vor Verweltlichung und Kritik, und erlaubte den Rückzug in die auctoritas fördernde Virtualität.871 Diese Möglichkeit blieb dem westlichen Kaiser ebenso versperrt wie dem lateinischen, beide unterlagen einer unmittelbareren „Überprüfung“. Ausdruck der „Abschließung des Souveräns von der Öffentlichkeit“, deutliches Zeichen der erhabenen Stellung des spätantiken Kaisers war die Proskynese, die Adoration, die nur ihm in ihrer höchsten Form zustand und Ausdruck der einzigartigen, vergött-

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Dies war ja bereits hinsichtlich des französischen Königs der Fall. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚Titel und Hierarchiegenese‘. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 35f. Vgl. Die Chronik des Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung. Ed. Holtzmann, lib. IV, c. 47, S. 184: Solus ad mensam quasi semicirculus factam loco caeteris eminenciori sedebat. Vgl. zum Liuthar-Evangeliar die klassische Wertung bei Kantorowicz, Körper (1994), 81–97. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 37. Treitinger, Kaiseridee (1956), 55f. Laut Herodot (Historien 1,99) soll der Mederkönig Deiokes sich von seinen Untertanen ferngehalten haben, um nicht durch ihre Gemütsregungen getroffen zu werden, und um durch seine Unsichtbarkeit eine höhere Autorität zu erlangen.

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lichten Stellung des Monarchen war.872 Sie stellte eine klare Inszenierung des kaiserlichen Vorranges im Gegensatz zu allen bis dahin und später geltenden Formen gleichrangigen oder zumindest freundschaftlich-partnerschaftlichen Umgangs dar – wie etwa dem Wangen- oder Bruderkuss. Die Adoration war wohl seit Diokletian Bestandteil des römischen Kaiserkults. Tief verwurzelt ist zwar im Westen seit griechischer Zeit die Ablehnung der „barbarischen Sklavensitte“ des Kniefalls, sie wurde durch die christlich-jüdische Auffassung nur bestätigt.873 Allerdings war in Rom der Fußfall – etwa als Ausdruck einer flehentlichen Bitte – durchaus üblich und bot somit Anknüpfungspunkte für die Übernahme dieser Geste aus dem Osten.874 Wohl spätestens im 2. Jahrhundert nach Christus hatte sich die Proskynese auch deshalb im römischen Reich durchgesetzt.875 Im mittelalterlichen Westen war diese Form der zeremoniellen Verehrung durch das Papsttum monopolisiert876 – allerdings nur als Zeichen religiöser Hochachtung und in der abgemilderten Form des Fußkusses; aufgrund des konsensualen Ursprungs ihres Amtes hatten weder das Königtum noch das Kaisertum einen Anspruch hierauf.877 Die Kaiserkrönung kennzeichnete im Westen nicht klar genug die zu Lebzeiten des Monarchen unüberwindliche Differenz des Kaisers zu allen anderen Machthabern, die im Osten in der Vergöttlichung zum Ausdruck kam. Jeder kaiserliche Versuch, die Proskynese im Westen einzuführen, hätte somit in zweifacher Hinsicht als Götzendienst – der höchste Verstoß gegen die „guten Sitten“ – gewertet werden können, als Anmaßung einer geistlichen Stellung im päpstlichen Rang und als Verstoß gegen die Regeln konsensualer Herrschaft. Hier zeigt sich erneut deutlich, dass das Kaisertum im Westen nicht wie im Osten eine gänzlich eigenständige Konzeption war, sondern eher eine Steigerung königlicher Herrschaft. Entsprechend wurde die Proskynese im lateinischen Kaiserreich nur durch „Einheimische“ ausgeführt, die im lateinischen Kaiser auch ihrem Herrn Ehre erwiesen: So sollen anlässlich der Krönung Balduins Griechen wahrscheinlich die Proskynese vollzo872 873 874 875

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Vgl. allgemein Alföldi, Ausgestaltung (1934), 46–65, das Zitat auf S. 59. Vgl. zur Proskynese auch Treitinger, Kaiseridee (1956), 84–90; Kolb, Herrscherideologie (2001), 38–41. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 11, 13, 15f. Allerdings könnte ab dem 2. Jahrhundert nach Christus auch die „griechische Bildung“ nicht mehr so entschieden wie früher die Proskynese abgelehnt haben. Vgl. auch ebd., S. 61 zur Beibehaltung der Proskynese im „christlichen Gewande“. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 47. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 56. Vgl. aber ebd., S. 58: „Nicht der Weg von oben, sondern der von unten her führt zum Siege durch die Beugsamkeit der Untertanen, durch welche die Adoration eine consuetudo venerationis geworden ist“. Entsprechend wurde ja auch die Proskynese durch die griechischen Untertanen gegenüber Balduin I. ausgeübt, ohne dass es dieser erbeten hätte. Vgl. hierzu unten, Anm. 878. Laut Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 20 wurde die Adoration ab dem 8. Jahrhundert Bestandteil des päpstlichen Hofzeremoniells. Vgl. auch Nr. 9 des Dictatus papae: quod solius papę pedes omnes principes deosculentur (Das Register Gregors VII.. Ed. Caspar, 204).

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gen haben.878 Und auch der serbische Große Alexius Slaw soll sich friedensbereit Kaiser Heinrich genähert haben, der von seinen Baronen umgeben in seinem Zelt saß, soll sich auf die Knie geworfen und dem Kaiser Füße und Hände geküsst haben.879 Als Maximum der Unterwerfungsbereitschaft seiner lateinischen Vasallen wird hingegen – etwa unter Heinrich – das Knien vor dem Kaiser im Rahmen der Lehnsvergabe geschildert.880 Ost- und Westkaisern gemeinsam war der Empfang Dritter im Sitzen.881 Die sitzende Erledigung der Amtsgeschäfte war bereits ein altes Vorrecht der republikanischen Magistrate gewesen. Das sittenwidrige Sitzenbleiben vor einem Magistrat konnte als Streben nach der königlichen Herrschaft, als Ausdruck der Tyrannei, interpretiert werden.882 Umgekehrt war das Aufstehen des Kaisers in Gegenwart hochrangiger Gefolgsleute Ausdruck konsensualer Herrschaftsmodi. Das Wechselspiel von Stehen und Sitzen schlug sich auch in bildlichen Darstellungen, wie etwa Münzen und Siegeln, nieder, die das Verhältnis des Herrschers zur Sphäre des Numinosen widerspiegeln. So zeigt sich sowohl in den Münzen und Medaillons der römischen Antike als auch in den Bullen Venedigs die Tendenz, dass die Herrscher im Laufe der Zeit der Gottheit entweder gleichrangig (beide stehend) oder sogar übergeordnet (Herrscher sitzend, Gottheit stehend) erscheint.883 Ein herausragendes Beispiel für die Schwierigkeiten der lateinischen Kaiser, sich gegenüber anderen regionalen Mächten inszenativ durchzusetzen, sind die Unterhandlungen zwischen Heinrich und Michael von Epiros 1209. Die Verhandlungen fanden in der Nähe von Thessaloniki statt, der Kaiser hatte sein Lager in einem Olivenhain aufgeschlagen, Michael in einem Kloster.884 Ein persönliches Treffen erfolgte nicht, wohl vor allem deshalb, da Michael verhindern wollte, Formen der symbolischen Kommunikation zu gebrauchen, die ihn als Lehnsmann des Kaisers erscheinen ließen.885 Die Verhandlungen wurden schließlich auf lateinischer Seite durch Conon von Béthune und Peter von Douai geführt, Ergebnis war ein durch eine Ehe besiegelter Frieden, der – trotz aller zusätzlicher Regelungen – doch recht stark in Richtung Gleichrangigkeit ten878 879 880 881 882 883 884 885

Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 97, S. 95: et tout li Griu qui illuec estoient l’aouroient tout comme saint empereeur („und auch alle Griechen, die da waren, erwiesen ihm ihre Ehrerbietung als einem heiligen Kaiser“). Vgl. unten, Anm. 1604. Vgl. Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, c. 669. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 188. Vgl. etwa für Heinrich erneut die Belehnung des Alexius Slaw, wie sie Valenciennes schildert (vgl. unten, Anm. 1604). Alföldi, Ausgestaltung (1934), 42, 45. Vgl. Burkhardt / Mersch / Ritzerfeld u. a., Hybridisierung (2011), 495; Alföldi, Ausgestaltung (1934), 43. Vgl. auch unten, Abschnitt ,Siegel und Münzen‘. Vgl. Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, cc. 689–691. Gerland, Geschichte (1905), 191.

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dierte. Erneut hatte es der lateinische Kaiser nicht vermocht, seinen Rangvorsprung klar zu inszenieren. In diesem Zusammenhang muss ein weiteres wichtiges Element der kaiserlichen Abgehobenheit, das auch Rückschlüsse auf Weltherrschaftsansprüche erlaubt, erwähnt werden: die Tatsache, dass ein byzantinischer Kaiser formell keine Verträge mit ausländischen Mächten schloss, sondern diese in die Form eines χρυσόβουλλος λόγος, eines Gnadenerweises, brachte.886 Auch die Könige von Jerusalem beanspruchten dieses Vorrecht; als Gnadenerweis mussten etwa alle Verträge mit den italienischen Seerepubliken abgewickelt werden.887 Ebenso war im westlichen Kaisertum diese Form des Rechtsgeschäfts ein wichtiges Zeichen gratialer Herrschaftsausübung.888 Der lateinische Kaiser konnte sich jedoch nicht als Gnadenspender inszenieren und auf diesem Wege in byzantinische Traditionen eintreten und seine Abgehobenheit klar inszenieren: Die spezifischen Entstehungsbedingungen des lateinischen Kaiserreiches mit der starken Stellung Venedigs erlaubten nur Verträge auf Augenhöhe. Ein Element der Abgehobenheit konnte jedoch auch der lateinische Kaiser inszenieren: Ebenso wie sein westliches Pendant beschwor er wohl nichts selbst.889 Hingegen mag es ein Zeichen für den sinkenden Status des lateinischen Kaisers gewesen sein, dass Balduin II. – allerdings nach der griechischen Rückeroberung Konstantinopels – die Übertragung des Königreiches Thessaloniki an Herzog Hugo von Burgund persönlich beschwor.890 Ein wichtiges Element des Zeremoniells, das den Unterschied zwischen kaiserlichem und königlichem Rang klar markiert, ist der Ritus der verhüllten Hände.891 In der Ikonographie taucht dieser Kult meist bei schutzflehenden oder geschenkbringenden Personen auf, deutet also auf die herrscherliche Schutzaufgabe und die entsprechenden Gegenleistungen hin. Wenn entsprechende Abbildungen im Westen mit dem Investiturstreit verschwanden, deutet dies jedoch auch auf eine höhere Bedeutungsdimension in

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Dölger, Kaiserurkunde (1939), 240. Mayer, Pontifikale (1967), 179. Dort auch der bezeichnende Satz: „Man wollte es eben dem byzantinischen Kaiser gleichtun“. Burkhardt, Court Ceremonies (2013), 288f. Vgl. zur gratialen Herrschaft Weinfurter, Investitur (2005). Vgl. anlässlich der Bestätigung der bisherigen Verträge seiner Vorgänger die Urkunde Peters in Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 249, S. 195: nos personaliter presentes existendo iurari fecimus nos prememoratus Imperator nobilem militem Bar marescalcum nostrum, et nos Imperatrix memorata[m] nobilem militem Tibaldum de Racio in animabus nostris super sancta dei euangelia. Dieses Vorrecht nahmen aber auch die Könige des Westens für sich in Anspruch, vgl. hierzu Goez, anima (1986). Buchon, Recherches 1 (1840), 29: Et totes ces choses dessus dites avons nos juré sur saintes evangiles, et promis en bonne foy à tenir por nos et por nos hoirs ferme et estauble. Dieterich, Ritus (1911). Vgl. Kolb, Herrscherideologie (2001), 41. Die Zeremonie stammte vom Hof der Achämeniden und gelangte durch die Vermittlung der hellenistischen Götterkulte nach Rom; vgl. hierzu Alföldi, Ausgestaltung (1934), 33f.

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geistlichen Sphären hin.892 Denn die Nähe des kaiserlichen Krönungszeremoniells zur Aufnahme in den Klerikerstand konnte durchaus Rückwirkungen auf das alltägliche Zeremoniell haben und legitimierte tiefer gründende Schichten der Vorstellung kaiserlicher Sakralität. Dem Kaiser konnten dann auch klerikale bzw. bischöfliche Ehren zustehen.893 Grundsätzlich muss die Inszenierung und Begründung der kaiserlichen Abgehobenheit nicht in der sakralen Sphäre verankert sein, wenngleich eine natürliche Affinität beider Inszenierungsmuster kaiserlicher Herrschaft vorhanden ist.894 Bereits in der oben skizzierten Formierungsphase des Kaiseramtes hatte sich die Vorstellung von der Sakralität des imperator inszenativen Ausdruck gesucht, eine Entwicklung, die sich in der Spätantike intensivierte.895 Sicherlich wurden im republikanischen Rom zwei „Einrichtungen“ als „verfassungswidrig“ angesehen: die „Menschenvergötterung“ und das Königtum. Beide Tendenzen führten zur gewaltsamen Ablehnung der Herrschaft Caesars. Bereits Oktavian wurde allerdings 27 v. Christus vom Senat der Titel „Verehrungswürdigster“ verliehen und somit über die gewöhnlichen Sterblichen erhoben.896 Ein weiteres wichtiges Element war die Ausschaltung des Annuitätsprinzips zugunsten gleichsam göttlicher Ewigkeit: semper augustus.897 Bereits Nero bediente sich dann klar der religiösen Formensprache, wenn er sich zum Teil als Sonnenkönig verehren ließ.898 Erst im Hochmittelalter sollte die Sonnenmetapher dem Kaisertum durch das Papsttum abspenstig gemacht werden, nachdem bereits zuvor Christus mit der Sonne gleichgesetzt worden war. Im 2. Jahrhundert nach Christus könnte die Schwelle liegen, ab der 892

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Gabelmann, Audienzszenen (1984), 205: „Zugrunde liegt die Vorstellung, daß die dem Kaiser zugehörigen Gegenstände heilig (sacer) sind und von normalen Sterblichen nicht mit bloßen Händen berührt werden dürfen: es ist ein sakrales Ritual, das in der Vorstellung von der divina maiestas der Kaiser begründet ist“. Eine Ausnahme bietet der eigentlich dem byzantinischen Kulturkreis zuzuordnende Liber ad honorem augusti, in dem Friedrich II. als Säugling von seiner Amme mit verhüllten Händen entgegengenommen wird (fol. 138r). Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 203 nennt: „das Betreten des Chors und Altares während der Messe, das ius crucis praeferendae, des Baldachins, des liturgischen Empfangs mit Kreuzen, Kerzen und Weihrauch, die Aufnahme in klerikale Kollegien (Domkapitel), den Gebrauch der ihm bewilligten kirchlich-liturgischen Gewandung bei seinen herrschaftlichen Funktionen“. Insofern geht der Vorwurf an Friedrich II., er habe sich anmaßenderweise ein Kreuz vorantragen lassen, ins Leere. Hiltbrunner, Heiligkeit (1968); vgl. zum chinesischen Kaiser: Seiwert, Sakralität (2002). Klauck, Herrscherkult (1996), 45–74; vgl. zur Bedeutung des Kaiserkultes auch Price, Rituals (1984), 234–248; Gradel, Emperor (2002), insb. S. 1–72. Vgl. auch grundsätzlich Clauss, Kaiser (2001), insb. S. 469–499. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 29: „Die auctoritas, die den ersten Prinzeps nach eigenem Geständnis über alle anderen erhob, hat einen religiösen Anstrich gewonnen, – so wie sein Ehrentitel Augustus ebenfalls sakral ist“. Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 17 weist darauf hin, dass das für christliches Denken anstößige aeternus im Mittelalter vermieden wurde. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 60.

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sich mit einer Verstärkung der hellenistischen Einflüsse auch die sakrale Erhöhung der kaiserlichen Herrschaftsausübung intensivierte, die „orientalische Gedankenwelt“ vordrang.899 Alles, was mit dem Kaiser in Zusammenhang stand, wurde der Sphäre der Heiligkeit zugeordnet.900 Dem Kaiser hatte man sich auch in der Haltung ehrwürdiger Unterwürfigkeit zu nähern, mit sakral gefärbter Anrede.901 Die Christianisierung führte nur zu einer graduellen Modifikation dieser Auffassung: Der Kaiser war kein Gott mehr, jedoch gleich nach Gott der zweite, d. h. der Kaiser stand weiterhin an der Spitze der weltlichen Hierarchie, wenngleich diese Spitze nicht mehr in die sakrale Sphäre reichte.902 Möglicherweise war der Konnex von Macht, Reichtum und Göttlichkeit in der Antike enger als im Mittelalter, d. h. sehr mächtige Personen konnten rasch Göttlichkeit erreichen. Im Mittelalter genügten Macht und Reichtum für einen Übergang in die sakrale Sphäre nicht mehr, vielmehr musste die Heilswirksamkeit des Herrschers in spezifisch religiösen Zeremonien und Ritualen beweisend zum Ausdruck kommen.903 So war etwa die Hervorhebung des Basileus im kirchlichen Zeremoniell von kaum zu unterschätzender Bedeutung für die Stellung des byzantinischen Kaisers.904 Beschränkte sich diese Hervorhebung im westlichen Bereich vor allem auf die Krönungsfeierlichkeiten und die Inszenierung der kaiserlichen Schutzherrschaft zu besonderen Anlässen, kam ihr im byzantinischen Bereich geradezu „staatstragende“ Funktion zu. Der Basileus wurde mit seiner Erhebung sakrosankt.905 Das Hofzeremoniell brachte die sakrale Sphäre des Kaisers zum Ausdruck, die „ihn umgab und die vor allem dazu diente, den Unterschied zwischen ihm und allen anderen hervorzuheben“906. Grundsätzlich war die kaiserliche Abgehobenheit in der Sphäre der Sakralität auch ein Mittel der Herrschaftssicherung, ein Angriff auf ihn war ein Angriff auf die göttliche Ordnung. Im Westen sollte die Heiligkeit des Kaisers stets beschränkt bleiben und auch entsprechend einen nur beschränkten zeremoniellen Ausdruck finden. Restbestände der antiken Vergöttlichung hatten sich hier noch im 12. Jahrhundert in Form der Laudes in

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Alföldi, Ausgestaltung (1934), 56. Vgl. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 63: „Nicht nur das Kleid des Kaisers, sondern alles mit ihm Zusammengehörende galt als geheiligt (…) und darum wurde dies alles auch adoriert“. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 45. Vgl. etwa Tertullian, Ad Scapulam 2,7. Ed. Bulhardt: Colimus ergo et imperatorem sic, quomodo et nobis licet et ipsi expedit, ut hominem a deo secundum et, quicquid est, a deo consecutum, solo tamen deo minorem. Hoc et ipse volet; sic enim omnibus maior est, dum solo vero deo minor est, sic et ipsis diis maior est, dum et ipsi in potestate sunt eius. Leeb, Konstantin (1992), 121–126. Im Folgenden kann nur knapp auf das byzantinische Zeremoniell eingegangen werden; eine ausführliche Schilderung wäre eine Abhandlung für sich. Vgl. etwa Kalavrezou, Hands (1997); Maguire, Court (1997); Majeska, Emperor (1997); Weyl Carr, Court (1997). Vgl. Treitinger, Kaiseridee, 40–43. Lilie, Einführung (2007), 136.

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den Corpora der Ordines erhalten.907 Das Krönungszeremoniell konnte als Eintritt des Elekten in den Klerikerstand gewertet werden. Am Ende des Zeremoniells der Kaiserkrönung im KO XIV findet sich jedoch eine starke Relativierung der kaiserlichen Stellung: ipsi [Christo] laus, honor et imperium per immortalia saecula saeculorum.908 Wie bereits gesehen, änderten sich in der sakralen Sphäre freilich auch die Zuordnungsverhältnisse von geistlicher und weltlicher Macht; diese Änderungen schlugen sich im Zeremoniell nieder, wenn etwa bereits in der Spätantike nicht nur die Bischöfe vor dem Kaiser sitzen bleiben durften, sondern sich die Kaiser beim Erscheinen der Bischöfe erhoben.909 Stets sollte insbesondere das byzantinische Kaisertum als eifersüchtig bewundertes Vorbild dienen und das westliche Kaisertum zur Imitation anregen. So fanden zur Zeit Barbarossas verschiedene Bestrebungen Eingang in die Diplomatik, alles im Zusammenhang mit dem Kaisertum Befindliche in die Sphäre der Sakralität zu entrücken.910 Dass diese Anregungen nicht auf fruchtbareren Boden fielen, hatte sicherlich auch damit zu tun, dass das westliche Kaiserzeremoniell praktisch kirchlichen Ursprungs war und geistlicher Kontrolle unterlag. Im Grenzbereich von weltlichem und geistlichem Zeremoniell lagen die Prozessionen. Anlässe für Prozessionen gab es in Ost und West einige, etwa Prozessionen zu liturgischen Festen im Allgemeinen, Prozessionen anlässlich der Erstkrönung und Prozessionen anlässlich des Herrschereinzuges.911 In Bezug auf die Festkrönungen wurde bereits auf die hohe Bedeutung von Prozessionen zwischen zwei Kirchen für die Inszenierung eines sakralen Königtums hingewiesen.912 Für Friedrich II. existieren einige Berichte, die – wenngleich vor allem papstfreundlichen Quellen entspringend – doch Einblicke in die kaiserliche Prozessionspraxis bringen. Die Tatsache, dass sich der Kaiser ein Kreuz vorantragen ließ, kann man auf vielerlei Weise erklären. So könnte es sich dabei um einen normannischen Brauch handeln, den Friedrich von seinen Vorgängern übernommen hatte: vielleicht nahmen die Hautevillekönige das Recht auf ein Vortragkreuz aufgrund ihrer „Legaten“-würde wahr.913 Das Kreuz spielte aber auch sonst eine bedeutende Rolle im Kaiserzeremoniell, um die hohe sakrale Qualität des Kaisers zu verdeutlichen. So ist es nicht nur beim Basileus nachweisbar914, auch für den falschen Balduin gehörte dieses Zeichen offensichtlich zu den genuin kaiserlichen Insignien915. 907

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KO XIV, Nr. 8, S. 37 zum Einzug des Kaisers in St. Peter: clericis beati Petri cantantibus: Benedictus Dominus deus Israel [Lk 1,68 lautet weiter in typisch liturgischer Parallelisierung (Christus-Herrscher): quia visitavit et fecit redemptionem plebi suae et erexit cornu salutis nobis, in domo David pueri sui]. KO XIV, Nr. 46, S. 46. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 44f. Weinfurter, Reich (2005). Schenk, Zeremoniell (2003), 7f. Brühl, Festkrönung (1971), Sp. 1110; Büttner, Weg (2012), 83. Schramm, Mitra (1954), 80 in Anlehnung an Kantorowicz, Kaiser (1931), 291f. Vgl. Hendy, Catalogue 4 / 1 (1999), 172f. Vgl. oben, den Abschnitt ‚Falsche Kaiser‘.

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Und dies war nicht übertrieben, denn das Kreuz war im lateinischen Kaiserreich von überragender Bedeutung. Auch hier war die Vorbildfunktion des Königreiches Jerusalem stark. So soll auf einem Feldzug gegen die Bulgaren ein kriegerischer Kaplan geritten sein, der ein Kreuz in der Hand hielt, das von Gerland in Zusammenhang mit dem sogenannten Kreuz von Bromholm gestellt wird, das Kaiser Balduin in die Schlacht von Adrianopel mitnehmen wollte.916 Über Prozessionen wird in den Quellen des lateinischen Kaiserreiches eher undifferenziert berichtet. Neben den Angaben zum Ablauf der Krönung Balduins I.917 findet sich etwa die Mitteilung einer Prozession, die Heinrich anlässlich von Mariä Lichtmess zur Blachernenkirche durchführte.918 Heinrich stand damit offensichtlich in byzantinischen Kontinuitäten – auch die byzantinischen Kaiser waren am gleichen Festtag dem Prozessionsweg gefolgt.919 Ebenso schildert Villehardouin anlässlich des Besuches Heinrichs in Adrianopel, dem die Bulgaren kurze Zeit zuvor schwer zugesetzt hatten, eine Prozession; hierbei handelte es sich wohl um einen typischen Herrscheradventus.920 Auch Valenciennes beschreibt, wie Heinrich auf seinem Zug durch das Königreich Thessaloniki bei mehreren Gelegenheiten durch die griechische Bevölkerung „mit Pauken und Trompeten“ festlich empfangen wurde, auch ein Gottesdienst war Teil der Empfangszeremonie.921 Obwohl dies nicht explizit kenntlich ge-

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Vgl. zur Quellenstelle unten, Anm. 1366. Vgl. oben, den Abschnitt ‚Die Kaiserkrönung‘. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 411, S. 224: Iceste dolorouse novele si vint à Henri le bal de l’empire si com il aloit a la procession a Nostre Dame de Blaquerne, le jor de la feste madame sainte Marie Candelor („Diese schmerzvolle Nachricht erreichte Heinrich, den Regenten des Reiches, als er gerade zu einer Prozession zur Blachernenkirche aufbrach, am Fest Mariä Lichtmess”). Gerland, Geschichte (1905), 82 / Anm. 1. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 490, S. 304: Et chevauça tant que il vint a Andrenople, et se herberja es prez devant la ville. Et cil de la cité, qui molt l’avoient desiré, issirent fors a procession, si le virent mult volentiers. Et tuit li Gré de la terre furent venu („Und er ritt, bis er Adrianopel erreichte und er campierte auf den Feldern vor der Stadt. Und jene in der Stadt, die ihn herbeigesehnt hatten, traten in einer Prozession heraus und empfingen ihn sehr froh. Und alle Griechen des Landes waren gekommen“). Vgl. zum Einzug Kaiser Heinrichs in Theben unten, Anm. 1499 und zu Euböa Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, c. 683, S. 116: Li empereres Henris entra en Negrepont a grant joie; et molt le rechurent joieusement li Grifon de le ville et de le contree, et vinrent encontre lui à grant tabureis de trompes et d’estrumens, et le menerent à une eglyse de Nostre Dame pour orer („Kaiser Heinrich zog mit großer Freude auf Negroponte ein; und die Griechen der Stadt und des Landes empfingen ihn erfreut und kamen zum Treffen mit ihm mit lautem Trompeten- und Instrumentenklang und führten ihn zu einer Kirche Notre Dame zum Gebet“). Vgl. zur Lebendigkeit der Tradition im byzantinischen Bereich auch die Darstellungen des Kaisertriumphes in Tsamakda, Chronicle (2002), Abb. 349, Abb. 433, Abb. 457.

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macht wird, könnte das Zeremoniell des Adventus in der Tat byzantinischen Ursprungs sein.922 Insgesamt lassen die Schilderungen der Prozessionen und des sonstigen Zeremoniells kaum die Aussage zu, dass der lateinische Kaiser in einer besonderen Art und Weise durch Sakralität abgehoben war. Er glich auch hier eher einem westlichen König, der es allerdings verstand, Elemente des byzantinischen Kaisertums, die an ihn herangetragen wurden, zu integrieren. Zeitsouveränität und Schweigen Ihren höchsten Ausdruck fand die Abgehobenheit kaiserlicher Herrschaft im Ideal der schweigenden Reaktionslosigkeit des chinesischen Kaisers, dessen ruhig fallende Falten des Gewandes die Welt ordneten.923 Diese Vorstellung kaiserlicher Herrschaft ist Virtualität in ihrer stärksten Ausformung: Der Kaiser genügte sich selbst, versinnbildlichte die imperiale Ordnung und musste, ja durfte keine Auseinandersetzungen mehr suchen und eingehen. In einer abgeschwächten Form finden sich zwei dieser Elemente auch in der römischen Spätantike924 und daran anschließend in den byzantinischen Kaiserkonzeptionen: zum einen das Ideal des von allen menschlichen Unannehmlichkeiten enthobenen, reaktionslos schweigenden Kaisers, der nur durch den Logotheten sprach und auch Stille gebot; zum anderen die Zeitenthobenheit des Herrschers. Dieser Zeitenthobenheit, die sich auch in der – in westlichen Augen – endlosen Dauer des Zeremoniells und der anscheinend vollkommenen Unwichtigkeit von Wartezeiten äußerte925, entsprach auf Reichsebene idealerweise die imperiale Zeitsouveränität, die Münkler schildert926: Sowohl der Kaiser als auch das Reich ließen sich nicht drängen und nicht unter Druck setzen, sondern handeln aus einer souveränen Position der Stärke. Diese Vorstellung konnte auch dazu dienen, das Kaisertum ganz bewusst der Nachprüfbarkeit zu entziehen und zu virtualisieren. In gewissem Sinn widersprachen diese Traditionen dem westlichen Ideal des Kaisertums. Seit den Soldatenkaisern der römischen Antike waren vom römischen Princeps auch rasche Tatkraft und Führungskompetenzen gefordert.927 Diese Ideale schienen den fränkischen, sächsischen, salischen und staufischen Nachfolgern der antiken Kaiser ver922 923 924 925

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Vgl. auch Schenk, Zeremoniell (2003), 298f. Vgl. Ess, Kaisertum (2012), 184. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 38. Liudprandi Relatio de Legatione Constantinopolitana. Ed. Becker, etwa c. 24, S. 188 über eine der vielen erzwungenen Wartezeiten: His expletis ad concives et cohabitatores meos, quinque leones, in praenominatam invisam domum sum deductus, ubi post hebdomadarum spatium trium nullius nisi meorum sum colloquio visitatus. Qua ex re Nicephorum nunquam me velle dimittere mens sibi depinxit mea. Münkler, Imperien (2006), 63–67. Kolb, Herrscherideologie (2001), 47f.

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trauter zu sein. Allerdings unterlagen auch diese Vorstellungen Beeinflussungen und Hybridisierungstendenzen. So schwieg im Westen der Kaiser vor allem dann, wenn seine Würde besonders feierlich inszeniert werden sollte. Dann sprach auch der Logothet anstelle des schweigenden Kaisers. Dieses Schweigen musste nicht ernst erfolgen, sondern der Kaiser konnte in sua maiestate lächelnd thronen.928 Allerdings bestand auch die Möglichkeit, kaiserliche Härte zu inszenieren, man denke nur an die Unterwerfung der Mailänder unter Friedrich Barbarossa.929 Von den lateinischen Kaisern ist nichts Ähnliches bekannt. Dies mag nicht nur mit einem Mangel an Quellen zusammenhängen, sondern auch damit, dass es sich ein lateinischer Kaiser selten leisten konnte, schweigend zu thronen. Grundsätzlich gilt es zu bedenken, dass es abseits aller inszenierten Abgehobenheit jedoch auch eine starke Tradition gab, die das Kaisertum in konsensuale Traditionen stellte. Der Kaiser soll nach idealisierender Vorstellung von Autoren der römischen Antike stets durch Senatoren umgeben sein930 – ganz so wie auch der westliche Kaiser des Mittelalters gut daran tat, sich von ausgewählten Großen wohlberaten zu lassen. Allerdings sind diese Tendenzen auch nicht überzubewerten, nahm doch seit der Spätantike der Druck auf den Kaiser zu, sich „nicht gemein zu machen“. So stieß etwa bereits Kaiser Julian auf die Verachtung eines Teils der Zuschauenden, als er seinem Vorbild Marc Aurel nacheifernd seine civilitas dadurch unter Beweis stellen wollte, dass er den Sänften zweier Senatoren zu Fuß voranschritt. Auch erwartete die spätrömische Elite keine Inszenierung ihres Kaisers als augusteischer primus inter pares oder das Anlegen des Militärkleides der Soldatenkaiser.931 Einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die Vorstellung möglicher kaiserlicher Abgehobenheit nahm darüber hinaus zweifellos die Verchristlichung, die alle Formen kaiserlicher Überhöhung einer Gegenprüfung anhand des Verbotes des „Götzendienstes“ unterzog. Die Abgehobenheit konnte auch höchst problematische Wirkungen zeitigen. Dies betrifft sowohl den „inneren“ als auch den „äußeren“ Bereich. So wurden nicht wenige byzantinische Kaiser gestürzt, weil sie gar nicht oder zu spät über neue Entwicklungen informiert worden waren.932 Und bei den Friedensverhandlungen zwischen Friedrich II. und den oberitalienischen Kommunen konnte man auch wegen der geforderten zeremoniellen Formen, die die kaiserliche Abgehobenheit klar herausstellen sollten, keine gemeinsame Sprache mehr finden.933 Und mag auch trotzdem die Abgehobenheit des Kaisers in ihrer vollkommensten Form im Inneren dazu dienen, die kaiserliche Stellung durch Verhinderung des direkten Vergleichs mit anderen Hochadligen gewis928 929 930 931 932 933

Weber, Kommunikation (2008), 322. Vgl. Chronica regia Coloniensis. Ed. Waitz, ad a. 1162, S. 101: set solus imperator faciem suam firmavit ut petram. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 26f. Kolb, Herrscherideologie (2001), 20f. Lilie, Einführung (2007), 132. Weber, Kommunikation (2008), 310; Burkhardt, Autorität (im Druck).

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sermaßen in der Sphäre der Virtualität zu erhalten, so droht die Außenwirkung des jeweiligen Kaisertum dahinzuschwinden – das spätbyzantinische Kaisertum wurde in Europa etwa nur noch als bedeutungslose Regionalmacht und kaum noch als ernsthafter Nachfolger des Römischen Kaisertum wahrgenommen.934 Ziehen wir ein Zwischenfazit: Im Westen wurden die Kompetenzen des Kaisertums recht bewusst nie eindeutig definiert, das Kaisertum wurde gleichsam dem Königtum übergestülpt. Diese unklaren Kompetenzen und vagen Rückbindungen an größere Aufgaben führten zu seiner Virtualisierung. Die Inszenierung einer bestimmten Abgehobenheit war kaum erforderlich, da die Ranggrenze im Rahmen des komplizierten Herrschaftsantritts klar kontrolliert wurde und man an den Kaiser eigentlich keine Anforderungen stellte. Im Osten war das Kaisertum hingegen in seinen Kompetenzen und den von ihm erwarteten Aufgaben recht klar umrissen. Eine Virtualisierung war bei abnehmender realer Macht notwendig und wurde dadurch erreicht, dass das Kaisertum durch Abgehobenheit aus der Sphäre alltäglicher Konflikte genommen wurde. Diese Abgehobenheit war auch deshalb erforderlich, da die Ranggrenze realiter einfach überschritten werden konnte. Zwischen beiden Stühlen stand der Thron des lateinischen Kaisers: Seine Aufgaben waren stets klar, seine mangelnde Abgehobenheit deutlich erkennbar und somit seine Schwäche vergleichbar, sein kaiserlicher Rang zweifelhaft. Der Titel wurde recht rasch weniger als prätentiös denn als leer betrachtet. Noch bevor die lateinischen Kaiser nach Süditalien emigrierten, fehlte gewissermaßen seinem Kaiser das Reich. Das Kaisertum und der Raum Prägten nun das Kaisertum und die mit ihm verbundenen repräsentativen Formen in stärkerem Maße als das Königtum den Raum?935 Ließ sich auch über diese Raumprägung kaiserliche Abgehobenheit inszenieren? Grundsätzlich wurzelte das Kaisertum als Konzeption in der römischen Reichsidee, die auch ausgesprochen wirkmächtige Elemente einer „zivilisatorischen Mission“ umfasste und über die Jahrhunderte durch das imperiale Erbe als Aufgabenstellung weiterwirkte. Bauen galt kulturübergreifend als eine der edelsten Aufgaben eines Herrschers, und so verwundert es nicht, dass auch die Kaiser diese Funktion erfüllten. Und da es sich bei den Kaisern um die mächtigsten weltlichen Herrscher handelte, wird auch verständlich, weshalb sich vor allem kaiserliche Bauten durch einzigartige Abmessungen und Pracht auszeichneten, denen nachzueifern die Nachfolger sich aufgerufen sahen. 934 935

Lilie, Einführung (2007), 142. Ähnliches gilt für das spätantike Reich, das in seiner „machtlos“virtuellen Dimension jedoch ebenso als Legitimation für germanische Heerführer dienen konnte wie der spätmittelalterliche römisch-deutsche Kaiser für die oberitalienischen Machthaber. Vgl. zum Themenaspekt Bauen-Herrschaft grundsätzlich Maran‚ Constructing Power (2009) für den östlichen Mittelmeerraum und allgemein Schwandner / Rheidt‚ Macht (2004). Vgl. zu den Möglichkeiten der Verbreitung und Raumwirkung etwa Jaspert, Vergegenwärtigungen (2001).

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Allgemein waren Bauten geeignet, über die Festlegung, den Ausbau und die Choreographie der verschiedenen architektonisch gestalteten Orte die Kommunikation zwischen Kaiser, politischer Elite und Volk zu inszenieren.936 Hierbei sind auch verschiedene Elemente der Stadtplanung zu berücksichtigen, denn die Stadtbewohner waren die hauptsächlichen Adressaten kaiserlicher Bautätigkeit, worin sich wiederum die Charakteristik des Kaisertums als genuin städtischer Konzeption erweist: Palastanlagen937, Gärten938, Kirchenbauten, weitere Elemente öffentlicher Räume – wie etwa Zirkusse und Rennbahnen – sowie Wasserversorgung und Straßen standen im Fokus kaiserlicher Bautätigkeit. Diese blieben auch im Reich nördlich der Alpen als Inbegriff antiken Erbes erhalten. Hier entwickelten sich neben den Städten jedoch auch die häufig recht ländlich gelegenen Pfalzen zu wichtigen Orten kaiserlicher Repräsentation. Insbesondere in Rom griff aber das Kaisertum tief in die Gestaltung des öffentlichen Raumes ein. Bereits Augustus hatte der Auseinandersetzung um die Amtskonzeption baulichen Ausdruck verliehen, als er das Forum unter weitgehender Ausblendung republikanischer Traditionen umgestalten ließ.939 Und auch für die byzantinischen Kaiser war das Bauen Verpflichtung. Hierdurch gewann der Basileus Legitimität, sein Bauen war Zeichen des Reichtums. So waren es gerade auch die großen Paläste, die das Staunen der Welt erregten. Insbesondere über die Palastbauten verglichen sich die Reiche und ihre Leiter, indem sie ihre Gesandtschaften gegenseitig zu beeindrucken suchten.940 Die Pfalzen des Westkaisertums waren im Vergleich dazu bescheidene Anlagen, die kaiserliche Bautätigkeit konzentrierte sich dort eher auf großartige Kirchenbauten, was wiederum frappierend der kirchlichen Prägung des kaiserlichen Amtes im Westen und dem eklatanten Mangel einer bedeutenden zentralörtlichen Residenz941 entspricht. Im byzantinischen Konstantinopel entstand hingegen mit dem großen Kaiserpalast eine gewaltige Anlage.942 Neben anderen Gründen (etwa negativen Erfahrungen mit städtischen Aufständen) erwies sich der Kaiserpalast für die Komnenenkaiser aber vielleicht auch aus ökonomischer Sicht als zu groß, sie wählten als Herrschaftszentrum den kaum weniger imposanten Blachernenpalast.943 Auch für das lateinische Kaisertum waren in Konstantinopel der Blachernenpalast und der Bukoleon-Palast von überragender Bedeutung, sie wurden in der Partitio expli-

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Schneider, Räume (2012), etwa S. 64–66. Vgl. allgemein Ward-Perkins, Constantinople (2000) und zum Vergleich dreier Städte Riemer, Konstantinopel (2003). Littlewood, Gardens (1997). Schneider, Räume (2012), 60–64. Vgl. Carile, palatia (2003). Die Vielheit zeigen eindrucksvoll die Beiträge in Schultz, Hauptstädte (1993). Vgl. zum Hintergrund Carile, Constantinople (2006). Vgl. zum Baubestand Bardill, Palace (2006) und Jobst, Forschungen (1999); vgl. zur repräsentativen Dimension und ihrer Wirkung Featherstone, Palace (2006); Berger, Dimension (2006); Schreiner, Gast (2006). Tinnefeld, Blachernenpalast (2000).

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zit genannt.944 Bei der Eroberung der Stadt zeigte sich dann auch ganz deutlich, wer Ansprüche auf das Kaisertum erhob: Bonifaz von Montferrat okkupierte den BukoleonPalast und die Hagia Sophia, während Heinrich, der Bruder Balduins von Flandern, den Blachernenpalast besetzte.945 Vor der ersten Kaiserwahl musste Bonifaz allerdings den Bukoleon-Palast, dem allgemeinen Druck der Kaiserwähler folgend, aufgeben.946 Die Paläste sollten gleichsam „neutralisiert“ werden, was nicht nur Vorentscheidungen über die Kaiserwürde verhindern sollte, sondern auch – wie von Clari angedeutet – herrschaftspraktische Gründe hatte: Die Eroberung der Paläste hatte eine nicht unerhebliche strategische Funktion, zentrierte sich dort doch großer Reichtum und die Verwaltungsinfrastruktur.947 Sollte der Blachernenpalast offensichtlich dem lateinischen Kaiser als Residenz dienen948, so wählten auch der Doge und in seinem Gefolge der venezianische Podestà offensichtlich einen ehemaligen kaiserlichen Palast als Residenz949. Sicherlich waren die Venezianer mit der oberitalienischen Tradition des Kommunalpalastes vertraut. Die Eroberung Konstantinopels schien aber auch die Venezianer tief zu beeindrucken, in der Markusstadt wurde wohl durch Geld und Spolien vom Bosporus ein regelrechter Bauboom ausgelöst.950 Am ehesten konnten die normannischen Herrscher Siziliens dem Ideal kaiserlichen Bauens entsprechen. Ihre Paläste nahmen es ohne weiteres mit kaiserlichen Sommerresidenzen auf.951 In der Tradition seiner Vorfahren stand auch Friedrich II., der in Foggia eine Residenz anlegen ließ und das Land mit imposanten palastartigen Burgen überzog.952 Bei Friedrich findet sich mit dem Brückentor von Capua auch ein Element kaiserlicher Repräsentation, das im westlichen Bereich sonst eigentlich nur in Kirchen944 945

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RIN 7, Nr. 205, S. 362: Debet vero iste imperator habere universam quartam partem acquisiti imperii et palatium Blacherne et Buccam Leonis. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 249 und 250, S. 51–52; Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 80, S. 80. Vgl. hierzu Carile, Partitio (1965), 133: „Le ambizioni imperiali di Bonifacio di Monferrato e di Baldovino di Fiandra non potevano trovare più clamorosa espressione”. Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 93 and 94, S. 91. Vgl. hierzu auch Gerland, Geschichte (1905), 3. Offensichtlich dienten der Blachernenpalast und der Bukoleon-Palast als Ort der Kanzlei. Vgl. Hendrickx, Institutions / Chancellerie (1976), 123. Vgl. etwa die Schilderungen bei Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 465, S. 280, der berichtet, dass ein Bote bei seiner Ankunft Heinrich im Blachernenpalast vorgefunden habe: le semadi matin, s’en vint un més batant en Constantinople, et trova l’empereor Henri el palais de Blakerne seant al mengier. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 259, S. 64 spricht von un rich palais, ou li dux de Venise ere a ostel, un des plus bials del munde („einem reichen Palast, in dem der Herzog von Venedig wohnte, einem der schönsten der Welt“). Vgl. unten, Anm. 961. Vgl. Meier, Königspaläste (1994); vgl. auch Schubert / Binous‚ Kunst (2004), 67–89. Vgl. als Überblick Knaak, Prolegomena (2001); vgl. ebenso Wagner, Bauten (2005), insb. S. 376–380; Bargholz, Castelli (2008), insb. S. 160; Braune, Befestigungsbau (2008).

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bauten, im Triumphbogen vor dem Chor, überlebt hatte.953 Besonders reich verzierte Tore oder Triumphbögen waren seit jeher geeignet, machtvolle Herrschaft zum Ausdruck zu bringen. Dies zeigte sich nicht nur in den Hauptstädten – wie etwa in der letzten prachtvollen Version, dem Goldenen Tor in Byzanz – sondern auch in der Provinz.954 Das Kaisertum blieb freilich gleichsam immer größer als alle Bauten – so soll sich der eigentlich kleinstaturige Constantius II. auf dem Triumphwagen stehend gebückt haben, als er unter den hohen Torbögen hindurchfuhr, um so die Größe seiner Majestät zu versinnbildlichen.955 Kirchenbauten spielten nicht nur im westlichen, sondern selbstverständlich auch im byzantinischen Bereich eine bedeutende Rolle. War im westlichen Bereich jedoch der Primat der Geistlichkeit, sowohl in Speyer als auch in Saint-Denis956, stets gewahrt, stellten die großen Kirchen Konstantinopels eine Art „Staatskirchen“ dar, eine Funktion, die später auch der Markusdom in Venedig957 erfüllen sollte: Die Hagia Sophia war die staunenerregende größte Kirche der Christenheit, Symbol der Stadt und des Reiches und auf unsichtbare, sich nur im Zeremoniell hoher Feiertage manifestierende Weise mit der Apostelkirche, der Stein gewordenen, geschlossenen Reihe der Kaiser, verbunden.958 Relativ rasch und ganz selbstverständlich nahmen die lateinischen Eroberer auch die „Sakrallandschaft“ Konstantinopels in Beschlag. Dies betraf nicht nur die Sophienkirche, die die neue Krönungskirche und die Kirche des lateinischen Patriarchen von Konstantinopel wurde. Auch die Apostelkirche wurde in Beschlag genommen, allerdings in veränderter Art und Weise: Früher war sie vor allem Begräbnisstätte der byzantinischen Kaiser gewesen, nun wurden auch nichtkaiserliche Große, wie etwa Graf Odo von Champlitte dort bestattet.959 Erneut zeigt sich auch hier die mangelnde Fähigkeit des lateinischen Kaisertums, einen klar definierten Rang zu wahren. Ja, schlimmer noch: Bei der Eroberung 1204 wurden die dortigen Kaisergräber erneut geplündert – was bereits Alexios III. 1203 gemacht hatte – und einige der Pretiosen nach Venedig gebracht.960 Einmal mehr erwies sich Venedig als ein Erbe des byzantinischen Kaisertum, das – auch ganz wörtlich zu verstehen – sich mit kaiserlichen Insignien schmückte. In Venedig wurden der Markusdom mit dem Dogenpalast und den 953 954 955 956 957 958

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D’Onofrio, Capua (2005). Vgl. etwa auch zum Galeriusbogen von Thessaloniki Kolb, Herrscherideologie (2001), 158–162. Kolb, Herrscherideologie (2001), 20. Im normannischen Bereich findet sich nichts Ähnliches, entsprechende Tendenzen blieben in Ansätzen stecken, vgl. zum historischen Hintergrund Dittelbach, Dom (1999), insb. S. 466–469. Schuller / Uetz, Progetti (2006), insb. zum 13. Jahrhundert S. 842f. Vgl. zur Hagia Sophia Koenigs, Hagia Sophia (2004), 304–306. Vgl. zum Nachbau in Trapezunt Eastmond, Art (2004), insb. S. 13–46. Vgl. zur Apostelkirche Asutay-Effenberger / Effenberger, Porphyrsarkophage (2006), 99–133. Vgl. zum Baubestand auch Effenberger, Konstantinsmausoleum (2000). Vgl. auch zum Pantokratorkloster Ousterhout, Architecture (2001). Gerland, Geschichte (1905), 7. Brand, Byzantium (1992), 193 und 261.

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angrenzenden Plätzen zu einer Art Sammlung imperialer Glanzstücke ausgebaut. Paramente, Mosaiken, Säulen, Statuen und vor allem die berühmten Pferde des Hippodroms fanden Eingang in den Fundus und versinnbildlichten den neuen Rang Venedigs.961 Kaum ein anderes Gebäude zeigt stärker die veränderten Bedingungen der kaiserlichen Repräsentation in Konstantinopel an als der Hippodrom.962 Der zentrale Zirkus war gleichsam das wichtigste Bindeglied zum öffentlichen Raum der römischen Antike. In byzantinischer Zeit, und in besonderer Intensität bis in das achte Jahrhundert, war es die zentrale Begegnungsstätte zwischen Kaiser und Volk – zum Teil Element des Palastes, zugleich städtischer Zentralort. Drei Funktionen lassen sich vor allem verorten: Erstens war es Schauplatz der Wagenrennen, deren Parteien auch eine wichtige, die städtische Gemeinschaft Konstantinopels strukturierende Funktion hatten.963 Zweitens wurden im Hippodrom wichtige Ereignisse der kaiserlichen Herrschaft inszeniert; hier konnte sich gelegentlich der Unmut des Volkes Luft verschaffen.964 Drittens war der Hippodrom insbesondere auch jener Ort, an dem die Herrschaft des Kaisers häufig begann und endete.965 All diese Funktionen scheinen unter dem lateinischen Kaiserreich nicht mehr zum Tragen gekommen zu sein. Ein Indikator hierfür könnten die Zerstörungen sein, die an der Statuenausstattung durch kontinuierliche Plünderung entstanden.966 Die Gründe für diesen Funktionsverlust sind aber wohl vor allem auf kulturelle Faktoren zurückzuführen: Wagenrennen waren im Westen praktisch unbekannt und dort durch das Turnier ersetzt. Große Ansammlungen der griechischen Stadtbevölkerung werden darüber hinaus wohl kaum im Interesse der lateinischen Machthaber gelegen haben. Der Adressat kaiserlicher Repräsentation war nicht mehr die städtische Bevölkerung, sondern die lose Körperschaft der Barone des lateinischen Kaiserreiches. Überspitzt formuliert war das lateinische Kaiserreich weniger städtisch geprägt und somit „weniger kaiserlich“. Und schließlich entfiel bei der lateinischen Kaisererhebung der hochoffizielle Akklamationsakt des Volkes, er war praktisch in die liturgischen Handlungen integriert. Diese Verschiebung zeigte sich auch im Ortswechsel: Kirche statt Rennbahn. Die unterschiedliche Nutzung (oder eben Nichtnutzung) des Hippodroms verdeutlicht einmal mehr die Änderung der Grundlagen kaiserlicher Herrschaft und die Umwertung der 961

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Fortini Brown, Self-Definition (1991), 521f., insb. S. 522: „As Edward Muir points out, this aggregation of spoils, immediately adjacent to the main entrance of the Palazzo Ducale with its symbols of justice, made a strong visual link between Venetian imperialism, justness, and spiritual authority”. Vgl. auch grundsätzlich zu dieser Frage Fenlon, City (2007), 20–23. Vgl. zu einzelnen Fragen des Baubestandes Guilland, Hippodrome (1948); vgl. zur Figuralausstattung Bassett, Antiquities (1991). Vgl. zur Funktion des Raumes Circus allgemein anhand des Baubestandes Humphrey, Circuses (1986) und knapp-spezifisch Roueché, Spectacles (2007). In diesem Zusammenhang sei nur das berühmteste Beispiel, der Nika-Aufstand, erwähnt. Vgl. allgemein Heucke, Circus (1994), insb. S. 192–313. Vgl. Kiilerich, Obelisk Base (1998), 137–165. Vgl. unten, Abschnitt ‚III.2.3 Mangel und Überfluss‘.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

legitimatorischen Fundamente: Der Bruch war ausgesprochen stark – aus dem byzantinischen Kaisertum war hinsichtlich der Inszenierung eine Monarchie westlicher Prägung geworden. Der eigentliche Transfer von Elementen kaiserlicher Repräsentationskultur fand hingegen in Richtung Venedig statt; in der Stadt sollten die aus dem Hippodrom stammenden Pferde weiterhin eine wichtige Funktion im „Staatszeremoniell“ spielen und mitunter geradezu den Eindruck erwecken, als ob der Doge nach Art eines antiken Imperators an einem Triumphzug teilnehme.967 Ähnliche Tendenzen wie hinsichtlich der Bauten zeigen sich auch bei den anderen Formen bildlicher Darstellung. Denn kaum ein Element der Repräsentationskultur ist in dem Maße geeignet, den Konnex zur kaiserlichen Formensprache klarer zu verdeutlichen als das Aufstellen von Herrscherstatuen, für die insbesondere die römische Antike eine die folgenden Jahrhunderte prägende Leidenschaft entwickelte.968 Die Kaiserbildnisse wurden – wie die Bildnisse anderer großer Römer – kultisch verehrt.969 Diese Verehrung stand in enger Wechselwirkung mit der Sakralisierung der kaiserlichen Würde und zugleich der Institutionalisierung des kaiserlichen Amtes.970 Zugleich führte die Verbreitung der kaiserlichen Statuen auch dazu, dass das Kaisertum zu einer klar erkennbar raumerfassenden Konzeption wurde. Das Kaiserbild erlangte „als Stellvertreter des Regenten eine politische Potenz“971. Diese Potenz mag mit dem Anrufen des Kaisernamens zur Zeit Friedrichs II. in Verbindung gesetzt werden. Laut den Konstitutionen von Melfi sollte jedermann durch die Anrufung des kaiserlichen Namens in Anspruch nehmen können, vor ein kaiserliches Gericht gestellt zu werden.972 Mit Friedrich gelangte auch das Kaiserbild im Westen wieder zu einem bis dahin ungekannten Höhepunkt der Prominenz.973 Zu einer Zeit, als in Konstantinopel Statuen zerschlagen und eingeschmolzen wurden, erfasste der staufische Hof offensichtlich sehr deutlich das Potential, das diese Bildkunst als Ausdruck der Allgegenwart eines allmächtigen Herrschers und der materialisierten Anlehnung an das große Vorbild der römischen Antike bot. Byzantinische Einflüsse mögen hier nur unterschwellig eine Rolle gespielt haben. In Byzanz war der Weg zu einer kultischen Verehrung der Kaiserstatuen gleich in zweifacher Weise versperrt – zum einen aufgrund der generellen Ablehnung kultischer Verehrung von Herrscherbildern, zum anderen aufgrund einer immer wieder zu beobachten967 968 969 970

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Fortini Brown, Self-Definition (1991), 521. Vgl. etwa die zahlreichen Belege bei Lahusen, Statuen (1999). Vgl. den Überblick bei Cain, Kaiser (2002). Alföldi, Ausgestaltung (1934), 70: „Die harten Strafen, die man nicht nur wegen der Beschädigung von Kaiserstatuen, sondern auch wegen unehrerbietigen Benehmens in ihrer Nähe verhängt hat, stehen schon unter Tiberius fest und beweisen, daß die Heiligung der Herrscherbilder mit der Entstehung der Monarchie zugleich in Erscheinung tritt (…) Das sakrale Moment wird dabei nicht fallen gelassen, sondern – wie bei den Diadochen – zum politischen umgeprägt“. Alföldi, Ausgestaltung (1934), 71. MGH Const. 2, Supplementum, I, 16–18, S. 165–172. Vgl. hierzu auch Calò Mariani, Friedrich II. (2010)

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den latenten generellen Bilderfeindlichkeit des orthodoxen Christentums.974 Wenngleich die Tradition der Kaiserstatuen lebendig blieb, war das eigentliche Medium kaiserlicher Repräsentation im Osten doch das Mosaik.975 Unbefangenheit in der Anfertigung bildlicher Werke der Repräsentationskultur in Anlehnung an byzantinische Traditionen schienen die normannischen Herrscher Süditaliens und die venezianischen Dogen zu haben.976 Die Mosaiken ihres Herrschaftsanspruchs blieben zwar auf den kirchlichen Bereich beschränkt, entfalteten dort aber eine energiegeladene Aussagekraft und durch ihre allgemeine Sichtbarkeit eine wohl stärkere Wirkung als die mit ihnen vergleichbaren Herrscherbilder der liturgischen Bücher, deren Tradition mit dem sogenannten Investiturstreit abbrach. Wenngleich diese Elemente der Herrschaftsrepräsentation auch mit dem Ende des lateinischen Kaiserreiches untergegangen sein können, bleibt zu bezweifeln, ob die lateinischen Kaiser im Bild die Anlehnung an die byzantinischen Kaiser suchten. Sie scheinen andere raumstrukturierende Symbole gewählt zu haben, die möglicherweise auch ihrer westeuropäischen Prägung eher entsprachen – etwa Siegel und Münzen. Siegel und Münzen Gerade Siegel und Münzen konnten eine stark raumerfassende Wirkung entfalten.977 Sie sind die Medien, die sich am dauerhaftesten gegenüber den Stürmen der Zeit zeigen. Zugleich boten Siegel und Münzen die Möglichkeit, die Abgehobenheit kaiserlicher Herrschaft zu inszenieren und die Ranggrenze Königtum – Kaisertum klar zu markieren. Das Siegelbild erwies sich als ausgesprochen formstabil, es war zwar offensichtlich nicht rechtlich festgelegt, doch folgte es streng der Gewohnheit.978 Bereits die klassische Sphragistik betonte den hohen Wert des Siegels als „eine reiche Quelle rechts- und kulturgeschichtlicher Erkenntnis“979. Heutige Forschungen sehen Siegel als wichtige

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Vgl. zur Problematik abwägend James, Temptation (1996) und Mango, Statuary (1963), insb. S. 55f. und S. 59–71; vgl. auch Büchsel, Christusporträt (1998), 7–28 und insb. Jolivet-Lévy, Présence (1997). Trilling, Soul (1989), insb. S. 27–31; vgl. insb. auch Maguire, Mosaics (1992). Diese Vorliebe ist aber nicht auf Mosaiken beschränkt, wie etwa die beiden bereits behandelten süditalienischen Handschriften, der Liber ad honorem augusti und die Madrider Bilderhandschrift des Skylitzes, zeigen. Die folgenden Ausführungen enthalten Überlegungen, die vom Autor im Rahmen des SPP 1173 bereits auszugsweise in Aufsatzform veröffentlicht wurden; vgl. Burkhardt / Mersch / Ritzerfeld u. a., Hybridisierung (2011). Schramm, Einleitung (1954), 18: „Das Siegelbild und ebenso das Münzbild sind Hoheitszeichen, die man – langsam dem Stilwandel folgend – nur behutsam abwandelt, um das Vertrauen, das sie sich erworben haben, nicht zu untergraben“. Von Brandt, Werkzeug (2007), 146.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

Quelle, in denen sich über den Wechsel der Formensprache auch Änderungen in den legitimierenden Vorstellungen und Komplexen ablesen lassen980. Siegel brachten nämlich nicht nur den Willen des Siegelinhabers zum Ausdruck, sondern geben auch den Aussteller klar zu erkennen. Im Gegensatz zur Antike, in der die Wahl des Bildes weitgehend beliebig war981, dominierte nämlich ab dem Ende der Karolingerzeit der Siegelführer als Motiv des Siegelbildes; vor allem seine Insignien werden eindeutig konturiert, die Umschrift nannte klar identifizierbar Namen und Rechtstitel. Im rechtlichen Kontext der Besiegelung wurde so eine enge Verbindung zwischen Person und Abbild hergestellt, das durch seine Stellvertreterfunktion auch den Siegler an seine Verpflichtungen binden sollte. Diese Zeichenfunktion des Siegels schien auch für die Zeitgenossen eindrücklich gewesen zu sein: Sehr oft erwähnt Villehardouin Urkunden „mit (vielen) Siegeln versehen“; die Siegel waren somit das eigentlich Wichtige von großem symbolischem Wert für die Rechtsförmigkeit.982 Die Wahl des Materials bestimmt die Quellenlage: Wachs ist sehr stoß- und temperaturempfindlich. Siegel aus Metall (Gold, Silber, Blei), sogenannte Bullen, sind – insbesondere in ihrer massiven Form983 – zwar widerstandsfähiger, hier bestand allerdings die ständige Versuchung für verschiedene Parteien, den Materialwert durch „Weiterverarbeitung“ im wahrsten Sinne des Wortes umzumünzen. All dies trifft auch auf das lateinische Kaiserreich zu, wie bei den anderen Quellen ist auch hier von einem nicht unerheblichen Schwund auszugehen.984 Die Karolinger nutzten zunächst antike Kaisergemmen, die mit einer sich an byzantinische Vorbilder anlehnenden neuen Umschrift versehen wurden. Ludwig den Deutschen zeigte man als (fränkischen) Krieger, mit Schild und Lanze ( Abb. 1). Otto I. wurde dann in seinem Kaisersiegel deutlich in der Art der neuen Würde stilisiert: Die antike Chlamys wurde in das nun frontale Brustbild aufgenommen; statt Waffen hält der Herrscher Szepter und Globus in den Händen, die in den ottonischen Krönungsordines eine bedeutende Rolle spielten ( Abb. 2). Die fränkischen Traditionselemente wurden also zugunsten einer antikisierenden Renovatio Imperii im Siegelbild aufgege980 981 982

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Vgl. etwa Keller, Herrschersiegel (1997) und Keller, Zu den Siegeln (1998), insb. zum Zusammenhang von Siegel und Urkunde, S. 400–404. Kahsnitz, Siegel (1977), 17. Vgl. etwa Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 188, S. 190 und 192, der die Ansprache der Kreuzfahrer gegenüber Isaak II. Angelos wiedergibt: Telx est la convenance que vostre filz nos ha; si le nos a asseüré par sairemenz et par chartes pendanz („Dies ist die Abmachung, die Euer Sohn mit uns hat. Und er hat sie uns durch Eide und durch Urkunden mit anhängendem Siegel garantiert“). Eine Goldbulle ist – wenn überhaupt – praktisch nur im byzantinischen und normannischen Bereich massiv. Im westlichen Bereich handelt es sich nur um geprägtes Goldblech, das auf einen minderwertigeren Kern aufgebracht wurde. Vgl. zu Goldbullen allgemein Martini, sigilli (1984). Vgl. zu den Siegeln der lateinischen Kaiser immer noch am ausführlichsten Schlumberger, Sceaux (1890); ergänzend: Gjuzelev, Bleisiegel (2000) und Morrisson, Sceaux (2003–2005), und als zusammenfassend knapper Überblick: Nesbitt, Catalogue (2009), 188–191.

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ben, der neue, alle anderen Großen des Reiches – und vor allem die Herzöge – überstrahlende Rang wurde klar inszeniert. Die Hierarchisierung modifizierte man unter Otto III. noch weiter und steigerte sie dadurch, dass Otto III. als erster Kaiser das Thronsiegel führte ( Abb. 3), das Herrschersiegel zum Majestätssiegel erhöhte. Dieses Siegelbildnis trat rasch seinen Siegeszug bei anderen europäischen Herrschern an; es markierte nämlich klar eine Rangdifferenz: Im Bereich der lateinischen Christenheit sollte es künftig nur gekrönten Herrschern zustehen. In Anlehnung an seine salischen Vorgänger führte auch Konrad III. das Majestätssiegel klassischer Prägung. In seinen Siegeln, stärker aber noch bei den Siegeln seiner Nachfolger Friedrich Barbarossa und Heinrich VI. wurde die imperiale Würde des Herrscheramtes betont ( Abb. 4 und 5). Konrad III. wird als ein König in der Haltung natürlicher Souveränität dargestellt, aber von einem neuartigen imperialen Gestus geprägt. Folgt das Kaisersiegel Ottos IV. ( Abb. 6) noch grundsätzlich diesem Muster, so ist jedoch bei ihm, stärker aber noch bei seinem Königssiegel ( Abb. 8) eine Änderung der Trageart des Mantels festzustellen: Er liegt nun auf beiden Schultern auf, betont weniger streng die Mittelachse. Diese neuen Ansätze wurden weder von Philipp von Schwaben ( Abb. 7) aufgenommen, noch durch die deutschen Siegel Friedrichs II. ( Abb. 9) fortgeführt. Man könnte bei Onkel und Neffe ein bewusstes Abblocken der Neuerung, einen Rekurs auf staufisch-imperiale Traditionen vermuten. Mit den Gegenkönigen Friedrichs II. ( Abb. 10) sollte (in gewissen Grenzen) die „imperiale“ Serialität zugunsten „westlicher“ Traditionen aufgebrochen werden, der römisch-deutsche Herrscher glich sich im Siegelbild anderen europäischen Herrschern an. Goldbullen ( Abb. 13) sind eine der edelsten Manifestationen kaiserlicher Repräsentation. Ursprünglich stammte die Besiegelung mit Gold aus dem byzantinischen Bereich, bald siegelten so auch die Westkaiser; später sollten vereinzelt Könige – etwa Karl I. und Karl II. von Anjou – dieses Privileg beanspruchen. Daneben haben sich sehr selten Silberbullen, öfter jedoch Bleibullen erhalten, die als ein zentrales Merkmal der Siegeltechnik im mediterranen Raum gelten können. Die Ikonographie der Goldbullen mit dem Herrscher auf der Vorder- und der Darstellung Roms auf der Rückseite entwickelte sich im Westen weitgehend unabhängig von byzantinischen Einflüssen. Dem Hochadel blieb das sogenannte Reitersiegel. Im 11. Jahrhundert erstmals auftauchend, wurde dieser Siegeltyp zum Kennzeichen hochadliger Herrschaft. Vorbild könnten spätantike Kaisermünzen sein, die auf dem Revers den siegreichen Kaiser zu Pferde zeigten, eine zweite Quelle ist in der Darstellung von Soldatenheiligen – wie etwa des heiligen Georg – zu finden. Von West – vor allem im lothringisch-flandrischen Raum – nach Ost verbreitete sich dieser Typus rasch. Die Fahnenlanze wurde im Reich umgewertet, kennzeichnete sie doch das Lehnssymbol eines weltlichen Reichsfürsten und somit erneut eine Rangabschichtung und blieb entsprechend lange erhalten ( Abb. 11,  Abb. 12).

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I. Konzeptionen des Kaisertums

Im lateinischen Osten folgten die kaiserlichen Bullen Balduins I. ( Abb. 25) in der Grundform dem Typus eines Münzsiegels, wie man es etwa auch bei dem französischen König Ludwig VII. ( Abb. 24) oder etwa dem englischen König Heinrich III. ( Abb. 23) im frühen 14. Jahrhundert findet: Auf der Vorderseite befindet sich ein thronender Herrscher, auf der Rückseite ein Reiter mit dem westeuropäischen Schwert.985 Auf den ersten Blick bringt die Bulle Balduins I. so für einen Rezipienten aus der westlichen lateinischen Christenheit königlichen Rang zum Ausdruck. Die Unterschiede zeigen sich im Detail. Dies betrifft nicht nur das Material: Goldbullen waren bisher für Könige noch außergewöhnlich.986 Zwar ist die Figur auf der Vorderseite typisch für einen westlichen König des 13. Jahrhunderts, die Position der Insignien und ihre Beschaffenheit erinnern aber eher an die Bullen und Siegel der römisch-deutschen Kaiser. Erst ein zweiter Blick schärft die Aufmerksamkeit für die Szepterspitze: Das Kreuz ist aus dem Königreich Jerusalem bekannt, der Szepterstab ist dort jedoch weitaus länger ( Abb. 21). Weshalb findet sich nun aber auf der Rückseite nicht eine stilisierte Stadtdarstellung, wie etwa auf den westlichen Kaiserbullen (Rom) ( Abb. 13b) oder den Bullen der Könige von Jerusalem (eben Jerusalem) ( Abb. 21b)? Hier muss auf die Person Balduins rekurriert werden, der sich nicht nur am Siegelbild seines Lehnsherrn, des französischen Königs, orientierte, oder Elemente westkaiserlicher Repräsentation übernahm, sondern mit dem Reitersiegel auch seine ursprüngliche Würde als Graf von Flandern und Hennegau klar zum Ausdruck brachte ( Abb. 11, Abb. 12).987 Balduin wollte also für lateinische Adressaten „lesbar“ bleiben – erstaunlich ist dies insofern, als der Ausdruck kaiserlichen Ranges ja in den bisherigen Fällen alle anderen Elemente überstrahlte. Bemerkenswert ist auch die Umschrift des Siegels: Sie formuliert auf der Vorderseite griechisch – wie bei den Bullen Rogers II. ( Abb. 18a) – klar und im Sinne der byzantinischen Tradition korrekt den Anspruch Balduins als legitimer Basileus: ΒΑΛΔΟΥΝΟC · ΔΕCΠΟΤΗC. Die Rückseite spezifiziert hingegen auf Latein: Balduinus Dei gratia imperator Romanie, Flandrie et Hainonie comes, diese entspricht somit in gewissem Sinn dem Reitersiegel. Unter den hier untersuchten Siegeln handelt es sich bei diesem Bullentypus um ein wahrhaftig transkulturelles Objekt, das viele verschiedene Traditionen aufnahm, bündelte und zu etwas Neuem verwob.

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Schon längere Zeit zeigte das englische Königssiegel (Münzsiegel) „auf der einen Seite den König thronend, auf der anderen zu Pferde“ (Kahsnitz, König Richard (1977), 41). Vgl. für eine knappe Zusammenfassung der englischen Entwicklung Harvey / McGuinness, Guide (1996), 27–34 und für Beziehungen zwischen den Siegeln der römisch-deutschen und der englischen Herrscher Peltzer, Siegel (2006); vgl. für die Ikonographie der französischen Königssiegel Dalas, sceaux (1997) mit der Siegelbeschreibung Ludwigs VII. unter Nr. 67 auf S. 146f. Wenig später sollten auch unter anderem die Anjou Süditaliens sowie Andreas II. und Béla IV. von Ungarn in Gold siegeln. Vgl. zur flandrischen Traditionslinie Schöntag, Reitersiegel (1997), 100.

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Wurde dieses Siegelbild unter Balduins Bruder und Nachfolger Heinrich beibehalten, so geschah wohl unter Balduin II., dem letzten wirklich in Konstantinopel regierenden Kaiser, ein erstaunlicher Prozess der „Rückbesinnung“ auf griechische Traditionen ( Abb. 26). Dies erklärt sich möglicherweise aus einer zunehmenden Gräzisierung des lateinischen Kaiserreiches und seines Thronfolgers. Bereits unter Heinrich, der ja der griechischen Bevölkerung gegenüber aufgeschlossen war, zeigte sich dies deutlich. Er gebrauchte neben dem bereits behandelten Siegeltypus auch ein weiteres, das für die unter seiner Regierung stark intensivierte Hinwendung zu den griechischen Traditionen sprechen könnte, ist doch auf ihm die Inschrift zu lesen: ΑΥΤΟΚΡΑΤΟΡ ΙΚΑΙ ΔΕΣΠΟΤΙΣ ΚΟΠΟ.988 Die Siegel Balduins II. gleichen noch immer dem Siegeltypus eines westeuropäischen Herrschers (Majestätssiegel auf der Vorderseite, Reitersiegel auf der Rückseite), doch änderte sich die Ikonographie: Auf der Vorderseite erscheint Balduin II. nun en detail wie ein Basileus, thront allerdings weiterhin wie ein westlicher König – der Basileus stand immer, denn der Thron gebührte auf byzantinischen Siegeln nur Heiligen und Christus. Auch die Rückseite der Siegel Balduins hat sich gewandelt: Ein reitender Basileus ersetzt den galoppierenden Ritter. Schließlich macht die Umschrift den Wandel deutlich: Auf der Rückseite findet sich der Titel ΒAΛΔΥΙΝΟC ΔΕCΠΟΤΗC • ΠΟΡΦΙΡΟΓΕΝΝΗΤΟC Ο ΦΛΑΝΔΡΑC, was für das Einfließen entsprechender byzantinischer Legitimationsmuster in den Hof des lateinischen Kaiserreiches spricht. Auch in Süditalien herrschten zu dieser Zeit noch ähnliche Moden vor: Das Siegel Manfreds, des natürlichen Sohnes Friedrichs II. und Königs von Sizilien ( Abb. 27), bringt trotz seiner gleichsam „staufisch-konservativen“ Gesamtkomposition den sizilischen Charakters seiner Königswürde durch die klare Zeichnung des um den Körper geschlungenen Loros zum Ausdruck. Dieser hat im Vergleich zu früheren sizilischen Königssiegeln jedoch bereits an Breite verloren und könnte somit auf die „Verkümmerung“ und Umdeutung dieser wichtigen Herrscherinsignie zur Stola hindeuten ( Abb. 18, Abb. 19).989 Das Ende des lateinischen Kaiserreiches und das Exil der Kaiserfamilie in Italien bedeutete auch das Ende seiner hybriden Siegeltradition: Der Siegeltypus des lateinischen Kaisers wurde nach seiner Flucht aus Konstantinopel neu geschaffen. Wieder blieb die Dopplung Thronsiegel / Reitersiegel vorhanden, doch ist dieses Siegel nun fast ganz konventionell „westeuropäisch“ gestaltet ( Abb. 28). Die Identifizierung geschieht nun (neben der immer noch auf der Rückseite vorhandenen griechischen Umschrift) durch ein neues Element: das Wappen. Die weitere Entwicklung der Siegel der lateini988

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Schlumberger / Chalandon / Blanchet, Sigillographie (1943), 168. Vgl. hierzu Tricht, Gloire (2000), 217: „La différence est remarquable: Henri s’intitule explicitement autokrator, l’appellation qui par excellence exprime l’idée byzantine du prince absolu. Il me paraît invraisemblable de considérer ce changement comme une fantaisie purement formelle. Il indique par contre la familiarité réelle que Henri avait du concept impérial byzantin”. Vgl. Burkhardt, Siegel (2010), 30.

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schen Kaiser spiegelt deutlich den Bedeutungsverlust der Würde wider, die als reiner Titularrang schließlich zum Schmuck einer Nebenlinie des französischen Königshauses wurde. Auch bei anderen Mächten des Mittelmeerraumes wirkte das Vorbild Byzanz: Zum einen betrifft dies wohl das Material der Kaiserbullen in Gold (während Bleibullen durch den römisch-deutschen Herrscher kaum Verwendung fanden990), zum anderen die Übernahme einzelner, für die Inszenierung kaiserlichen Ranges als zentral angesehener Insignien – wie etwa den Loros. Allerdings wurde die Ikonographie der Basileusbullen nie vollständig übernommen: Diese zeigten den stehenden Kaiser auf der Rückseite – mit Labarum in der Rechten und Sphaira in der Linken –, einen häufig thronenden Heiligen auf der Vorderseite in Verbindung mit mehr oder weniger elaborierten horizontal orientierten In- und eher gering ausgeprägten Umschriften ( Abb. 14, Abb. 15 ).991 Große Wirkung zeigte das Vorbild Byzanz im venezianischen bzw. sizilischen Bereich. Die Bullen des venezianischen Dogen992, dessen Legitimität sich ja aus einem byzantinischen Amt speiste, orientierten sich in ihrer Form über erstaunlich lange Strecken recht stabil an den byzantinischen Vorbildern: Der heilige Markus auf der Rechten, der Doge auf der Linken, beide byzantinisch gekleidet ( Abb. 16a). Der Doge empfängt stehend die Fahnenlanze, die ihm der thronende Evangelist überreicht. In der (von ihm aus gesehenen) Linken hält der Doge einen Rotulus. Die horizontale Inschrift auf der Rückseite zitiert byzantinische Vorbilder ( Abb. 16b). Ein Grund für die erwähnte Stabilität könnte darin gelegen haben, dass die Würde des Dogen im Laufe der Zeit auf eine gewisse Art selbst als kaisergleich angesehen wurde und sich die politische Organisation weitgehend von anderen Vorbildern abkoppelte: Man genügte sich vollkommen selbst und orientierte sich selbstreferentiell am eigenen Vorbild. In Süditalien flossen hingegen verschiedene Traditionsstränge zusammen. Die im Siegelbild feststellbaren Änderungen entsprachen recht genau den politischen, religiösen und ökonomischen Verschiebungen, die sich im Laufe der normannischen Herrschaft ergaben. Die normannischen Herrscher zeichneten sich neben ihrer Kampfkraft vor allem durch zwei Eigenschaften aus: ein geradezu als verschlagene Schläue zu bezeichnendes Verständnis für Machtverhältnisse und eigene Vorteile und eine damit einhergehende Anpassungsfähigkeit.993 Beides zeigt sich auch in der Entwicklung der normannischen Besiegelungstradition. Die Normannen brachten selbst wohl keine Siegelführung mit. In Süditalien fanden sie zum einen byzantinische Muster der Bleibullierung vor, ergänzt um Exemplare, die das Papsttum, die die Normannenherr-

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Ausnahmen bilden etwa die Bleibullen Heinrichs II. Vgl. zum Kontext Weinfurter, Heinrich II. (2002), 227–249. Vgl. die Abbildungen und beschreibenden Texte in Nesbitt, Catalogue 6 (2009), 1–200. Vgl. auch als Übersicht knapp Nesbitt, Sigillography (2008). Vgl. hierzu Pertusi, insignia (1965), 19–37. Burkhardt, Anfänge (2010), 73f.; Plassmann, Normannen (2008), 14.

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schaft legitimierende Instanz, ausgestellt hatte. Während und nach der normannischen Eroberung Süditaliens wurden nun beide Traditionsstränge neu kombiniert.994 Die Bullen der Herzöge von Apulien und Grafen von Sizilien zitieren klar byzantinische Schemata ( Abb. 17). Aber erst die normannischen Könige lassen sich wie ein Basileus auf ihren Siegeln abbilden: stehend, das Labarum in der Linken, die Sphaira in der Rechten, die Krone auf dem Haupt und den Loros um den Leib ( Abb. 18).995 In der Königszeit siegelten die Normannen auch mit Goldbullen. In ihnen könnte sich der Ansatzpunkt der normannischen Legitimationsrepräsentation, die eigentliche, königliche Bedeutung des Wortes Basileus widerspiegeln, die auch zur Entfaltung kaiserlichen Glanzes gleichsam qua Namensgleichheit berechtigte.996 Für eine die normannischen Herrschaftsgebiete Süditaliens integrierende Herrscherstellung, die sich bewusst von anderen Hochadligen, aber auch übergeordneten Mächten absetzen wollte, war wohl keine andere Denkfigur möglich als die Anlehnung an ein kaisergleiches Königtum. Die Normannen traten in Süditalien gewissermaßen in ein imperiales Erbe kaiserlicher Ordnungsvorstellungen und -konfigurationen ein. Die Siegel der normannischen Herrscher sind verglichen mit den römisch-deutschen eher klein und zeigen hierdurch sehr deutlich ihre Herkunft von byzantinischen und orientalischen Bullen an.997 Dem rasch zunehmenden lateinischen Element im Königreich Sizilien entspricht das erste erhaltene Wachssiegel mit einem in westlicher Art thronenden Herrscher unter Wilhelm II. ( Abb. 19).998 Dennoch blieb der Ornat einem Basileus ähnlich. Unter Friedrich II. wurden die normannischen Traditionen fortgesetzt ( Abb. 20): Die Siegelschneider nahmen sich das Siegel Wilhelms II. zum Vorbild.999 Auf den byzantinischen Kulturraum verweist der Loros und das labarumartige Szepter. In der Politik Friedrichs fand die Ikonographie ihre Entsprechung: Die „guten Gewohn-

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Enzensberger, Byzantinisches (2005), 88. Die Vorlage für diese Bulle war wohl nicht mehr zeitgenössisch, war doch im Siegelbild des Basileus an die Stelle der Sphaira spätestens seit dem späten 12. Jh. die Akakia getreten (Dölger / Karayannopulos, Urkundenlehre (1968), 42). Eigentlich war es ja auch für den Hof der Westkaiser korrekt, den Basileus – wie häufig geschehen – nur als König anzusprechen. Vgl. zu Roger II. Houben, Roger II. (2010), insb. S. 120–135 zur Herrschaftsrepräsentation. Kahsnitz, Friedrich II., König von Sizilien (1977), 29. Auch in der Kombination mit dem hier nicht zu behandelnden Urkundenwesen zeigt sich, dass ein zentrales Kennzeichen der Hybridisierung im normannischen Herrschaftsbereich die vermischende Neukombination war: „Der Normalfall für Privilegierungen war die Bleibulle, in Mandaten kommt die abendländische Form des Wachssiegels zur Anwendung. Dies bedeutet allerdings nicht, daß auch das Mandat als Urkundenkategorie westeuropäischen Vorbildern entstammen muß; eher sind das byzantinische Prostagma und die päpstlichen litterae nachgeahmt worden, zumal ein Teil dieser Mandate an griechischsprachige Amtsträger gerichtet ist“ (Enzensberger, Byzantinisches [2005], 89). Kahsnitz, Friedrich II., König von Sizilien (1977), 30.

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heiten aus der Zeit König Wilhelms“ bildeten einen gewichtigen Fixpunkt seiner Restaurationspolitik.1000 Die sizilische Siegeltradition brach relativ rasch nach der Wahl Friedrichs zum römischen König ab. Der Rang eines römischen Königs und Kaisers überdeckte alle sizilischen Sonderformen.1001 Das Kaisersiegel Friedrichs II. betont den imperialen Aspekt durch die klare Kennzeichnung der achteckigen Kaiserkrone ( Abb. 9).1002 Dennoch blieb auch die Tradition Siziliens stark genug, um nun ihrerseits eine Änderung auszulösen; die Kaiserbulle wurde unter dem Einfluss sizilischer Traditionen verändert: Sie schrumpfte auf die kleinere sizilianische Größe.1003 Die Goldbullentradition Siziliens sollte sich in ihrer gefundenen Form stabilisieren und auch die harschen Wechsel nach dem Tode Friedrichs II. überdauern, da auch die Anjou sich als legitime Herrscher inszenieren wollten. „Instabil“ blieben jedoch die auf den Bullen angebrachten Intitulationes: Verwendete Karl I. den traditionellen Titel, fügte Karl II. den Titel eines Königs von Jerusalem und princeps Achaie hinzu, während die Erzfeinde der Anjou, die Aragonesen Siziliens, sich mit dem Titel eines Herzogs von Athen und Neopatras schmücken konnten, den die Katalanische Kompanie eingebracht hatte.1004 Nur im Siegelbild fand dies keinen Niederschlag mehr, sei es, dass sich die Formen soweit verfestigt hatten, dass sie inflexibel wurden, sei es, dass gar keine Notwendigkeit hierfür bestand, da es im 14. Jahrhundert weder ein (über)strahlendes Vorbild im Osten gab noch eine Bevölkerung griechischer Archonten, die es zu beeindrucken galt. Die lateinische Bildsprache wurde überall verstanden. Ein Blick sei auf das Königreich Jerusalem und dessen Vasallen geworfen. Der erste König des Kreuzfahrerstaates Jerusalem war Balduin I. Das Schema seiner Königsbullen war bekannt: Die Vorderseite zeigt den Herrscher, die Rückseite eine Stadt. Die genaue Ausgestaltung verdeutlicht unter Rückgriff auf europäische, byzantinische und vor Ort vorgefundene Elemente das ganz neue Gefüge des Kreuzfahrerstaates. Dies zeigt sich etwa im Material, das nicht nur mit klimatischen Gewohnheiten zu erklären ist: Bleibullen sind das Material des byzantinischen Einflussgebiets. Von König Balduin IV. haben sich einige besonders interessante Exemplare erhalten: Auf der Vorderseite tritt der thronende Herrscher entgegen, wie ihn die europäischen Könige vom rö1000 Vgl. für spätere Zeiten Stürner, Friedrich II. 2 (2009), 10f. 1001 Kahsnitz, König Friedrich II., erstes Siegel (1977), 31 führt auch den Zusammenhang der staufischen Tradition an: „Bei der geringen künstlerischen Qualität des neuen Siegels und seiner Vorbilder und der deutlichen Umgehung der sehr andersartigen moderneren Siegel seines Gegners Ottos IV. kann die Anknüpfung an die Tradition der staufischen Familie nur als bewußte politische Entscheidung verstanden werden“. 1002 Kahsnitz, Kaiser Friedrich II., Wachssiegel (1977), 34. 1003 Kahsnitz, Kaiser Friedrich II., Zwei Goldbullen (1977), 35 liefert eine Erklärung: „Wenn die Goldbullenstempel nicht in diesem [scl. sizilischen] Bereich entstanden sind, so mögen sie doch von einem Mitglied der Reichskanzlei, in dem [sic!] die sizilianischen Kräfte zunehmend das Übergewicht erhielten, bei einem italienischen Goldschmied bestellt worden sein“. 1004 Enzensberger, Byzantinisches (2005), 90f.

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misch-deutschen Kaiser übernommen hatten ( Abb. 21a). Der König von Jerusalem trägt in der Rechten ein kreuzbekröntes Stabszepter, die Linke hält eine Sphaira, den Körper umwindet eine lorosähnliche Binde, sodass sich auch das Vorbild für die genaue Ausgestaltung dieser Bulle weniger im Siegelbild der französischen Könige als vielmehr im Bullenbild des byzantinischen Basileus findet. Den Anlass für dieses Siegelbild, das wohl bereits Amalrich I. führte, kann man im seit ca. 1150 stärker werdenden byzantinischen Einfluss finden, der sich auch in einer Bulle des lateinischen Patriarchen Fulcher widerspiegelt, die überdeutlich griechisch-byzantinische Vorbilder zitierte.1005 Die Quelle des kaiserähnlichen Ranges, der hier zum Ausdruck kommt, zeigt sich auf der Rückseite ( Abb. 21b): Hier wird die Stadt Jerusalem mit der Grabeskirche, dem Davidsturm und dem Tempel eindeutig gezeigt; die Umschrift spezifiziert: + CIVITAS : REGIS : REGUM : OMNIUM; der König von Jerusalem konnte als Stellvertreter Christi – des Königs der Könige – auch supraregnalen Rang in Anspruch nehmen. Vielleicht wurde das Bullenbild noch deutlicher in seiner Aussage: Auf einigen der Kuppeln, die dann den Felsendom kennzeichnen würden (hier rechts im Bild), könnte nämlich ein Halbmond abgebildet sein. Wenngleich die Interpretation dieser Darstellung umstritten ist1006 und in ihrer Art singulär wäre, könnte mit dieser Bulle auch ein weiteres wichtiges Element kaiserlicher Herrschaft, die supragentile und suprareligiöse Komponente zum Ausdruck kommen. Die Siegel bzw. Bullen des weltlichen Adel vereinigten zwei Elemente: Die Vorderseite zeigte den bekannten Typus des Reitersiegels ( Abb. 22a), die Rückseite jedoch jeweils eine Stadt / Burg als Schwerpunkt der Herrschaft, die mitunter durchaus realistisch gestochen ist ( Abb. 22b). Dies ist sicher auch durch die hohe Bedeutung von befestigten Städten in den Kreuzfahrerherrschaften bedingt. Möglicherweise dient hier die Stadt als Vorläufer(in) des jeweiligen Wappens zur eindeutigen Identifizierung des Sieglers. Die Frage, an wen sich die Siegel richteten, ist zweifellos interessant, aber nicht ganz einfach zu beantworten. Die normannischen Herrscher, aber auch die lateinischen Kaiser Konstantinopels gebrauchten Siegel, die in hohem Maße byzantinische Elemente aufnahmen, nicht nur im Verkehr mit ihren griechischen Untertanen, sondern auch gegenüber lateinischen Adressaten. Weiteren Aufschluss könnten die byzantinischen Elemente in den Siegeln des Königs von Jerusalem und des römisch-deutschen Kaisers geben. Hier wie dort ging es nämlich nicht darum, griechischsprachige Bevölkerungsschichten anzusprechen und im Siegel zu integrieren. Vielmehr waren byzantinische 1005 Mayer, Siegelwesen (1978), 12 beschreibt die Bulle, die „ihn auf der Vorderseite lateinisch als Patriarch der Auferstehungskirche auswies, was für die Griechen immer viel wichtiger war als das Grabespatrozinium, und auf der Rückseite die griechische Umschrift H ANACTACIC (= die Wiederauferstehung) zeigte. Auch auf der Vorderseite entsprach dieses Metallsiegel mit seiner bildlosen mehrzeiligen Aufschrift stark byzantinischen Vorbildern“. 1006 Vgl. Schlumberger / Chalandon / Blanchet, Sigillographie (1943), 3. Ebenso gilt es die berühmte Szene zu bedenken, nach der Saladin nach der Rückeroberung Jerusalems das Kreuz des Felsendomes durch einen Halbmond ersetzen ließ (ebd., S. 2 mit Anm. 1).

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Elemente der Herrschaftsrepräsentation auch im 11. und 12. Jahrhundert wohl Zeichen höchster irdischer Machtvollkommenheit, die im ganzen Mittelmeerraum (und darüber hinaus) als Zeichen kaiserlichen Ranges verstanden wurden und die man deshalb ins Siegelbild aufnahm. Die Wasserscheide scheint bei diesem Prozess um das Jahr 1250 zu liegen: Mit dem Ende des lateinischen Kaiserreiches und dem allzu augenfälligen Schwinden der byzantinischen Machtstellung wichen auch die griechisch-byzantinischen Elemente weitgehend aus Siegeln und Bullen. Sie machen der recht einheitlich gewandeten, französische Vorbilder aufgreifenden Figur des Herrschers auf dem Thron Platz. Diese Entwicklung läuft parallel zur unterschwelligen Rangerhöhung des französischen Königs auf funktionaler Ebene ab. Auch die Münzen sind als wichtiges Element kaiserlicher Repräsentation zu verstehen. Dies betrifft weniger die Geldpolitik1007 oder die Inszenierung generellen Reichtums, wie sie in den obigen Abschnitten dargestellt wurde, sondern zwei weitere Aspekte: Zum einen diente das Münzbild als ein wichtiger Faktor bei der Raumerfassung, bei der Markierung des Geltungsbereiches einer imperialen Ordnung. Sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht konnte so das diffuse Ineinanderfließen der Herrschaftsbereiche bis zu einem gewissen Grad auskristallisiert werden. Zum anderen dienten Material und Münzbild auch dazu, den Rang des Herrschers eindeutig zu markieren. Dies betrifft nicht nur die Tatsache, dass das Münzregal häufig demjenigen zukam, der auch in der Hierarchie der Rangordnung eine recht hohe Position einnahm. Das Münzbild konnte auch zur Propagierung von Herrschaftsauffassungen dienen. Entsprechend bilden Münzen nicht nur ein erstklassiges Forschungsobjekt insbesondere kaiserlicher Herrschaft, wie die umfangreiche Forschungsliteratur zeigt. Auch lassen sich deutliche ikonographische Ähnlichkeiten zwischen Münz- und Siegelbild feststellen. Für die Repräsentation kaiserlicher Herrschaft entscheidend ist jedoch ein Material: Gold. Nur die mächtigsten Herrschaftsverbände konnten sich eine Goldprägung leisten. In Tradition der römisch-antiken Kaiser soll unter Karl dem Großen eine Goldprägung angedacht worden sein, im hohen Mittelalter finden sich dann entsprechende Münzprägungen dort, wo die Herrscher kaiserlichen Rang in Anspruch nahmen: in Byzanz, dem arabischen Raum, auf Sizilien, insbesondere unter Friedrich II. (die berühmten Augustalen) und schließlich in Venedig.1008 Die Goldprägung brachte aber nicht nur in der Form die Nachfolge in kaiserlicher Repräsentation zum Ausdruck, wie alle Gegenstände aus Gold dienten sie als zentrales Kennzeichen von überragendem Reichtum – man musste sich Goldprägung leisten können. Nirgendwo scheint deshalb die Verbindung von Ideal (Kaiseridee) und Wirklichkeit (imperiale Ordnung) kaiserlicher Herrschaft enger als hier.

1007 Die Geldpolitik soll unter dem Abschnitt ‚II. Imperiale Ordnungen‘ Behandlung finden. 1008 Vgl. Leonard, Effects (2008), insb. S. 77 und 82–85.

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Es ist umstritten, inwieweit das lateinische Kaisertum diese Möglichkeiten wahrnahm. Zum einen scheint es – entgegen früherer Forschungsmeinungen – durchaus eine Münzprägung im lateinischen Herrschaftsbereich gegeben zu haben. Diese Münzen führten allerdings überwiegend das byzantinische Münzbild ohne Nennung der jeweiligen Herrscher weiter, d. h. auch ganz klar ohne direkten legitimatorischen Konnex zum lateinischen Kaisertum. Das geprägte Metall konnte dreierlei zeigen: ein gewisses Unverständnis auf lateinischer Seite für die griechische Formensprache, die Resistenz des imperialen Erbes in der wirtschaftlichen Sphäre gegenüber weitgehenden Hybridisierungen (die sich auch in der Konstanz der Handelswege zeigte) und die Dominanz des wirtschaftlichen Sektors gegenüber der politischen Sphäre (das Bild des anerkannten Zahlungsmittel statt das Bild des Herrschers). Titel und Hierarchiegenese Objekte sind jedoch nur ein Teil der Repräsentation, Personen scheinen eine mindestens ähnlich prominente Rolle zu spielen. Dies gilt insbesondere für die Amtsinhaber, die das Hofleben strukturieren und gleichsam auf den Kaiser zentrieren. Denn praktisch jede Herrschaftshierarchie des Mittelalters konnte sich auf zweierlei Weise abbilden: durch Besitz- oder Rechtstitel oder durch die Bezeichnung der einzelnen Positionen innerhalb der Rangordnung durch Titel. Insbesondere die zweite Möglichkeit scheint in einer Art natürlicher Verbindung zur kaiserlichen Herrschaft zu stehen, da sie die Virtualisierung der Rangordnung erlaubte, die in keiner Rückbindung zu realer Macht oder realen Kompetenzen stehen musste, es mithin dem Kaiser und seinem Herrschaftsverband erlaubte, eine bestimmte gedachte oder erwünschte Ordnung zu inszenieren, ohne sie in wirkliche Macht transferieren zu müssen. Wie wurde aber die Rangspitze, der Kaiser selbst, bezeichnet? In der Selbsttitulatur kommen – ganz ähnlich wie im Krönungszeremoniell, in Bauten, Siegeln und Münzen – zentrale Elemente der Herrschaftskonzeptionen zum Ausdruck. Neben den bereits angeführten legitimatorischen Grundlagen sind dies vor allem die oben genannten Funktionen im heilsgeschichtlichen Kontext, im Bereich der Friedensstiftung und Richterfunktion, der Sieghaftigkeit und der Gesetzgebung. Auch hier stand das lateinische Kaiserreich in Traditionen und Parallelen zu anderen Formen kaiserlicher oder kaisergleicher Herrschaft. Lange Zeit schwankte der Titel des lateinischen Kaisers. Üblich war die Bezeichnung Constantinopolitanus imperator1009, die dem byzantinischen Kaiser durch den Westen zugelegt worden war. Daneben führte Balduin aber auch einen Titel, der spätestens seit ottonischer Zeit zwischen dem West- und dem Ostkaisertum umstritten war: Romanorum moderator1010 oder eine Kombination aus beiden Titeln1011. Längere Zeit 1009 RIN 7, Nr. 152, S. 253. 1010 De oorkonden der graven van Vlaanderen. Ed. Prevenier, Nr. 272, S. 578: fidelissimus in Christo imperator a Deo coronatus, Romanorum moderator et semper augustus. Es folgt erneut

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blieb auch der Grafentitel des Geschlechts (Flandrensis et Hainonie comes), der eigentlich einer Kaisertitulatur unangemessen war, Bestandteil der Selbstbezeichnung des lateinischen Kaisers.1012 War hier möglicherweise das Bedürfnis ausschlaggebend, für die lateinische Welt des „alten Europa“ verständlich zu bleiben? Eine Parallele fände sich im Siegelbild, das auch in den ersten Jahren eigentümlich „westlich“ blieb. Dass das neue lateinische Kaisertum von Konstantinopel sich kaum in einer mit dem westlichen Kaisertum gleichberechtigten Art in das Rangsystem der latinitas einpassen konnte, zeigt die Intitulation eines Briefes Balduins I. an Philipp II. Augustus, in dem er den französischen König nicht nur dominus suus nennt, sondern ihm auch versichert: cum amore sincero paratum in omnibus obsequium et fidele.1013 Interessant ist auch die Ausgestaltung der Regentschaft in der Titulatur. So nannte sich Heinrich, der Bruder Balduins, frater imperatoris Constantinopolitani et moderator imperii.1014 In einer Bleibulle trägt er den Titel frater imperatoris Balduini, custos imperii et coronandus a Deo.1015 Später sollte sich Heinrich Dei gratia fidelissimus in Christo Imperator, a Deo coronatus Romanorum moderator et semper augustus1016 oder auch moderator Imperij Constantinopolitani nennen.1017 Kurze Zeit später wurde Romanorum durch Romanie ersetzt, womit die Abkehr von der westlichen Kaisertitulatur und möglichen Ansprüchen deutlich werden.1018 Bei Heinrich zeigen sich somit

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der Titel des Flandriae et Hinehau comes. Ähnlich: ebd., Nr. 273, S. 584; ebd., Nr. 282, S. 617; ebd., Nr. 283, S. 620. De oorkonden der graven van Vlaanderen. Ed. Prevenier, Nr. 274, S. 592: Balduinus, Dei gratia fidelissimus in Christo imperator Constantinopolitanus, a Deo coronatus Romanorum moderator et semper augustus, Flandrie et Hayn[onie] comes; ähnlich: ebd., Nr. 275, S. 605; RIN 7, Nr. 201, S. 351; De oorkonden der graven van Vlaanderen. Ed. Prevenier, Nr. 280, S. 613; ebd., Nr. 284, S. 622; ebd., Nr. 285, S. 624; ebd., Nr. 286, S. 625; ebd., Nr. 287, S. 627; ebd., Nr. 288, S. 628f.; ebd., Nr. 290, S. 632. RIN 7, Nr. 152, S. 253. De oorkonden der graven van Vlaanderen. Ed. Prevenier, Nr. 281, S. 616. Vgl. auch auf S. 616 die weiteren von Balduin für Philipp beigelegten Anreden: sublimatas, celsitudo, excellencia. Vgl. mit ähnlichen Formulierungen auch ebd., Nr. 286, ebd., Nr. 287 (dort, auf S. 627 auch die für einen Kaiser gegenüber einem französischen König ungewöhnliche Formulierung Unde celsitudinem vestram humiliter imploramus). RIN 8, Nr. 132 (131), S. 239; ähnlich: Longnon, Recherches (1939), Nr. 74, S. 192. Schlumberger / Chalandon / Blanchet, Sigillographie (1943), Nr. 8, S. 168f. Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 176, S. 37. Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 174, S. 34. RIN 11, Nr. 202 (207), S. 333 (Henr[icus] eadem gratia fidelissimus in Christo imperator, a Deo coronatus, Roman[orum] [oder eher Romanie?; Erg. SB] moderator, et semper augustus) und Exuviae sacrae Constantinopolitanae 2. Ed. Riant, Nr. 30, S. 81 (Henricus, Dei gratia, fidelissimus in Christo imperator, a Deo coronandus, Romanie moderator, semper augustus); Prinzing, Brief (1973), 411 (Henricus Dei gratia fidelissimus in Christo imperator a Deo coronatus Romanie moderator et semper augustus). Schramm, Kaisertum (1956), 846 stellt zu

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ein Experimentieren mit Titeln, das Ineinanderfließen verschiedener Traditionsstränge und die Hybridisierung der einzelnen Elemente. Mit Heinrichs Nachfolger Peter hatte sich der Titel allmählich verstetigt, auch er nannte sich Dei gratia fidelissimus in Christo Constantinopolitanus Imperator a Deo coronatus, Romanie moderator et semper augustus1019. Ganz ähnlich lautet der Titel Roberts: Dei gratia fidelissimus in Christo Imperator a Deo coronatus, Romanie moderator, et semper Augustus1020. Unter Balduin II. setzen sich zunächst die „europäischen“ Traditionen der Kaisertitulatur wieder durch: Er nannte sich Balduinus, haeres Imperii Romani et comes Namurcensis1021 oder aber heres imperii Constantinopolitani et comes Namurcensis1022. In Konstantinopel wandelte sich die Intitulatio Balduins zum bereits traditionellen Dei gratia fidelissimus in Xpisto imperator a Deo coronatus, Romanie moderator et semper augustus1023. Im Vergleich zum vorangehenden, von Balduin im Westen gebrauchten Titel zeigt sich deutlich, wie flexibel die Usancen waren. Zurück in Frankreich (nach der byzantinischen Wiedereroberung Konstantinopels) nannte er sich Dei gratiâ imperator

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dem Wechsel von Romanorum zu Romanie fest: „Damit war in den oströmischen Kaisertitel das territorialstaatliche Prinzip eingedrungen, das im Abendland zur Abänderung der Bezeichnungen: Francorum, Anglorum usw. in Franciae, Angliae usw. führte“. Vgl. zur Bedeutungsdimension der Romania vor allem auch Prinzing, Brief (1973), 403 / Anm. 5. Vgl. auch Tricht, Gloire (2000), 213f. und 215, wo dieser auf den Zusammenhang zwischen Intitulatio des lateinischen Kaisers und der Hilfsbedürftigkeit des Kaiserreiches hinweist: Potentielle Unterstützer sollten nicht durch Suzeränitätsansprüche verärgert werden („Il était insensé d’indisposer les souverains européens avec des titres insolents et politiquement irréalistes, quand tout appui venant de l’Ouest était justement plus que bienvenu“). Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 249, S. 194. Wolff, Politics (1954), Nr. 4, S. 298; Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 260, S. 227; Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 267, S. 253. Monuments pour servir à l'histoire des provinces de Namur, de Hainaut et de Luxembourg 1. Ed. Reiffenberg, Nr. 6, S. 9; vgl. auch Analectes 5, S. 377 und ähnlich Analectes 8, Nr. 2, S. 371: heres Imperii Romanie et comes Namurcensis; vgl. auch Du Cange, Histoire 1 (1826), Nr. 13, S. 433: par la grace de Dieu tres-feaus empereres en Crist coronez de Dieu, gouvernieres de Romanie, et tousjours accroissans. Compte rendu, Nr. 19, S. 49. Layettes du Trésor II, Nr. 2954, S. 464; ähnlich: Buchon, Recherches 1 (1840), 67; Layettes du Trésor II, Nr. 3123, S. 518; Ruano, Balduino II (1952), Nr. 3, S. 30. Vgl. auch die Abwandlung in Ruano, Balduino II (1952) Ruano, Balduino II (1952) Ruano, Balduino II (1952) Ruano, Balduino II (1952), Nr. 4, S. 34f.: Balduinus, Dei gratia Christianissimus Imperator, a Deo [coronatus, Modera]tor Romanie et semper Augustus. Vgl. auch Analectes 5, S. 382: par la grâce de Dieu empereres de Romenie, de Dieu coronés, et toz iorz accroissans und ähnlich Exuviae sacrae Constantinopolitanae 2. Ed. Riant, Nr. 93, S. 144: par la grace de Dieu, tres feiaux empereres, de Dieu coronez, gouverneres de Romanie & toz leus accressans.

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Constantinopolitanus semper augustus1024. Zugleich wurde aber das Rangverhältnis zu Ludwig IX. beibehalten, wenngleich Balduin den eigenen kaiserlichen Rang betonte.1025 Der Sohn Balduins II., Philipp, nannte sich filius serenissimi domini Balduini dei gratia Constantinopolitani imperatoris [fidelissimi in Christo] imperatoris [a deo coronati Romanie / moderatoris semper augusti]1026. Nach dem Verlust Konstantinopels lautete seine Intitulatio etwas weniger prunkvoll Philippus filius B. Dei gratia imperatoris Constantinopolitani illustris1027. Auch für Philipp war der französische König der excellentissimus dominus noster1028. Nicht nur die Selbsttitulierung, sondern auch die Titelvergabe diente dazu, den gesamten Herrschaftsverband in zweifacher Weise auf den Kaiser auszurichten. Zum einen betrifft dies die Tatsache, dass der Kaiser an der Spitze der Titelhierarchie stand und zumindest theoretisch recht frei über die Titelverleihung entscheiden konnte – eine wichtige Voraussetzung für alle Formen gratialer Herrschaftsausübung. Zum anderen waren mit den Titeln immer auch bestimmte Vorstellungen verbunden, die dazu führten, dass sich Konzeptionen kaiserlicher Herrschaft bei den jeweiligen Amtsträgern verbreiteten. Ja, diese konnten sich mitunter als eine Art „Miniaturausgabe“ des Kaisertums inszenieren. Sicherlich ist ein differenziertes Titelgeflecht kein kaiserliches Alleinstellungsmerkmal, jedoch tendiert ein Herrschaftsverband, dem ein Kaiser vorsteht oder dessen Herrscher kaisergleichen Rang beansprucht, dahin, ausgesprochen elaborierte Titelhierarchien zu entwickeln. Ein Blick auf die in hohem Maße ausgearbeiteten Rangordnungen der Spätantike1029 und des byzantinischen Reiches1030 zeigt dies bereits deutlich. Das byzantinische Titelwesen gilt als eines der ausgefeiltesten, das jemals existierte. Nicht nur die Amtsbezeichnungen an sich, sondern auch die damit verbundenen Anreden trugen dazu bei, die Bezeichnung „byzantinisch“ zu prägen. Kennzeichnend war vor allem eine gewisse Inflation der Titel im Zeitverlauf, der Ersatz leerer Ämter durch neue Funktionsträger.1031 Das byzantinische Titelwesen soll hier vor allem als Hintergrund 1024 Du Cange, Histoire 1 (1826), Nr. 20, S. 453. 1025 Layettes du Trésor II, Nr. 2954, S. 464f.: excellenti domino et consanguineo nostro Ludovico, Dei gratia regi Francorum, damus et concedimus auctoritatem et plenariam potestatem constituendi pro nobis procuratorem (…) In cujus rei testimonium, presentes litteras facimus annotari et bulle nostre plumbee munimine roborari, imperialis subscriptionis caracteribus insignitas. In der Urkunde Layettes du Trésor II, Nr. 3123 an Blanche von Frankreich spricht Balduin II. auf S. 518 gleich zweimal von seinem serenissimus dominus rex preclarissimus. Auch in Du Cange, Histoire 1 (1826), Nr. 13, S. 433 nennt Balduin Ludwig nostre seignor le roi de France. 1026 Wolff, Mortage (1954), 49. 1027 Cartulaire de l’Église Saint-Lambert de Liége. Ed. Bormans / Schoolmeester, Nr. 584, S. 137. 1028 Cartulaire de l’Église Saint-Lambert de Liége. Ed. Bormans / Schoolmeester, Nr. 584, S. 137. 1029 Lendon, Empire (1997), 176–236. 1030 Vgl. mit dem Fokus auf den kaiserlichen Titeln Rösch, Onoma Basileias (1978), 19–25. 1031 Lilie, Einführung (2007), 159.

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für eine Analyse der Hierarchien im lateinischen Kaiserreich dienen, dessen Entwicklungen in den Rahmen der breiteren Tendenzen zu stellen ist. Wie bei anderen Formen der Repräsentation galt es auch im Titelwesen, stets die kaiserliche Abgehobenheit zu wahren. Größere Bedeutung hatten insbesondere jene Titel, die exakt unterhalb des kaiserlichen Ranges angesiedelt waren. Die Titelhierarchie orientierte sich weitgehend an den jeweiligen Institutionen, wies aber auch einige charakteristische Brüche auf. So war in der Antike – etwa in Form der Tetrarchie – neben der Institution des gleichberechtigten Mitkaisertums (augusti) auch das untergeordnete Mitkaisertum (caesares) verbreitet. Diese Trennung blieb der westlichen Konzeption des Kaisertums – trotz ab und zu auftauchender caesares – wesensfremd: Entsprechend findet sich keine Parallele in der Titelhierarchie, im Westen blieb der rex Romanorum der entsprechende Anwärter auf das Kaisertum. Der byzantinische Bereich kannte hingegen vielfältige Abschichtungen des kaiserlichen Ranges unterhalb der Hauptkaiser, der einzigartige Rang des Basileus blieb allerdings streng gewahrt. Möglicherweise diente diese breite Streuung kaisergleicher Würden dazu, die harsche Inszenierung des hauptkaiserlichen Ranges erträglicher zu gestalten. Diese Tendenzen zeigen sich insbesondere im Despotentitel, der auch zu Zeiten des lateinischen Kaiserreiches weitergeführt wurde. Im Westen war hingegen das Kaisertum offensichtlich nie so aufgeladen, dass seine Quasivervielfachung – ganz im Gegensatz zum Königtum – notwendig gewesen wäre. Der in Nikaia 1205 an die Macht gekommene Theodor I. Laskaris nannte sich zunächst nur Despot; wahrscheinlich wollte er hiermit zum Ausdruck bringen, dass er nur als Parteigänger seines Schwiegervaters Alexios III. agierte.1032 Theodor I. Laskaris nahm jedoch rasch eine Art hauptkaiserliche Position ein: Akropolites berichtet über Manuel Angelos, dass dieser durch Theodor I. Laskaris „mit der Würde des Despoten“ ausgezeichnet worden war, nach Thessaloniki zurückkehrte und sich dort „als Despot anreden“ ließ, denn – so Akropolites – „immerhin war er ja der Herr dieser Stadt und deren Umgebung“.1033 Der Chronist schließt: „Von dieser Zeit an war Manuel Angelos der Herrscher der Städte und Länder im Westen, die verlassen worden waren“.1034 Deutlich bringt Akropolites somit die Wechselwirkung von Machtstellung und formalem Rang zum Ausdruck: Eine bestimmte potestas führt dazu, dass man auch das nomen beanspruchen konnte, wie auch umgekehrt eine bestimmte Würde einen virtuellen Anspruchsraum aufspannte, den es (zumindest durch auctoritas) auszufüllen galt.

1032 Gerland, Geschichte (1905), 35, 104. 1033 Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 26, S. 43: Μανουὴλ ὁ ῎Αγγελος, ὃς δεσποτικῷ ἀξιώματι παρὰ τοῦ ἀδελφοῦ τετίμητο (…) δεσπότης ὠνομάζετο (…) ταύτης τε κυριεύων καὶ τῶν περὶ αὐτήν. 1034 Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 26, S. 44: ἦν μὲν οὖν τὸ ἀπὸ τοῦδε ὁ ῎Αγγελος Μανουὴλ τῶν ἐναπολειφϑεισῶν πρὸς τὰ δυτικὰ μέρη χωρῶν τε καὶ πόλεων ἐγκρατής.

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Durch die Eroberung Konstantinopels und die Zuteilung eines entsprechenden Anteils der ehemaligen byzantinischen Besitzungen wurde auch der Doge (zumindest indirekt) zum despotes: Sein Podestà – der Dei gratia Venetorum potestas in Romania1035 – war in Konstaninopel tocius quarti et dimidie eiusdem Imperij [scl. Constantinopolitani] dominator1036 bzw. Despotus Imperij1037. Unter dem Nachfolger Marino Zenos, Jacopo Tiepolo, erfolgte eine Modifizierung der Titulatur, die wohl auch eine Verschiebung der Machtverhältnisse andeutet: Der Podestà nannte sich nun de mandato ducis potestas Venetorum, er sei vice sui dominator.1038 Die Amtsführung Marino Zenos war nämlich nicht frei von Unabhängigkeitstendenzen geblieben, seine Stellung hatte gedroht, das Gefüge der venezianischen Herrschaftsorganisation zu sprengen. Umso wichtiger war es nun für den Dogen, auch in der Titulatur klar zu machen, wer der eigentliche Erbe des byzantinischen Kaisertums war. Der im Gefolge des Vierten Kreuzzuges eingeführte neue dogale Titel „Herrscher über drei Achtel“ des lateinischen Kaiserreiches ist wohl nur vor dem Hintergrund der venezianischen Mentalität des geteilten Geschäftsrisikos zu verstehen. Kaum ein hochadliger Herrscher hätte einen solchen Titel geführt, während er für einen Kaufmann wohl mit einem gewissen Stolz verbunden war.1039 Für Kaiser Robert war der Doge karissimus socius Imperij nostri1040. Auch in kaiserlicher Perspektive wurde also dem Venezianer eine mittragende Rolle im lateinischen Kaiserreich zugestanden. Ein Vergleich bietet sich mit dem Bulgarenfürsten Alexius Slaw an: Der bereits über lehnsrechtliche Vorstellungen eingebundene1041 Alexius Slaw wurde durch den lateinischen Kaiser als despotes anerkannt1042 – die Lateiner bedienten sich also durchaus auch des traditionellen byzantinischen Titelinstrumentariums, traten so in imperiale Formen ein und verbalisierten eine im Entstehen befindliche imperiale Ordnung. Darüber hinaus wurden bereits kurze Zeit nach der Krönung Balduins offensichtlich Hofämter am kaiserlichen Hof eingerichtet: Dietrich von Looz wurde Seneschall, 1035 Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 1 (1856), Nr. 154, S. 559. 1036 Vgl. etwa Longnon, Recherches (1939), Nr. 74, S. 192. Vgl. hierzu Gerland, Geschichte (1905), 58: „Der ganze Stolz, der die altangesessene venetianische Kolonie von Konstantinopel seit den Ereignissen der letzten Jahre erfüllen mochte, kommt darin zum Ausdruck“. 1037 Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 256, S. 214. 1038 Vgl. etwa Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 252, S. 205 und Nr. 258, S. 221, Nr. 267, S. 253f., Nr. 269, S. 255. 1039 Gerland, Geschichte (1905), 32 / Anm. 6: Nach dem Tod Dandolos 1205 ging der Titel auf den venezianischen Podestà über. 1040 Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 269, S. 255. 1041 Vgl. unten, Abschnitt ‚Lehnsrecht‘. 1042 Vgl. Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 24, S. 38f.: ὁ Σϑλάβος, προσγενὴς ὢν τοῦ βασιλέως Ἀσὰν καὶ δεσπότης τετιμημένος ὑπὸ τοῦ βασιλέως τῆς Κωνσταντίνου Ἐρῆ.

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Conon von Béthune Kämmerer, Manessier de l’Isle Küchenmeister, Macaire von Sainte-Menehould Truchsess, Milon le Bréban Mundschenk, Gottfried von Villehardouin Marschall und Hugo von St. Paul Konnetabel.1043 Laut Gerland zeigte sich auch anhand der Besetzung der Hofämter „eine französisch-flandrische Färbung“ des Kaisertums; man könne kaum von seinem „übernationalen“ Charakter sprechen.1044 Damit folgte das lateinische Kaisertum Traditionen, die im Westen schon lange Zeit etabliert waren.1045 Deutlich wird diese Prägung durch westliche Traditionen auch daran, dass sich im Machtbereich des lateinischen Kaisertums die im byzantinischen Bereich ausgesprochen wichtigen Eunuchen nicht finden. Wie bei so vielen anderen bislang behandelten Elementen kaiserlicher Repräsentationskultur zeigt sich auch bei den Eunuchen ein bis in die Antike verfolgbarer Gegensatz zwischen „westlicher“ und „östlicher Hemisphäre“, sie gelten gemeinhin als „typisch orientalisch“.1046 Nur an den jeweiligen Kontaktzonen der verschiedenen kulturellen Großräume fanden sich Eunuchen im Rahmen westlicher Herrschaften.1047 Eunuchen wurden meist als für einen Herrscher besonders vertrauenswürdig bewertet, da sie keinen eigenen Nachwuchs zeugen konnten.1048 Neben ihren zentralen Aufgaben in Militär1049, Verwaltung1050 und Kultur1051 trugen Eunuchen auch einen wichtigen zeichenhaften Charakter: Sie galten in verschiedenen Kulturen als eines der Kennzeichen zumindest großköniglicher Herrschaft, sei es nun in Byzanz1052, in „orientalischen“ Herrschaften1053 oder in China1054. Eunuchen trugen jedoch 1043 Gerland, Geschichte (1905), 19. Vgl. zu diesen Personen Longnon, compagnons (1978), 245f. (Thierry von Looz), S. 146–149 (Conon von Béthune), S. 42–45 (Manessier de l’Isle), S. 45–48 (Macaire von Sainte-Menehould), S. 48–55 (Milon le Bréban), S. 195–197 (Hugo von St. Paul). 1044 Gerland, Geschichte (1905), 19. 1045 Vgl. etwa Hasse, Hofämter (1995); vgl. auch als Überblick Rösener, Hofämter (1989), insb. die Zusammenfassung auf S. 550; Thomann, Truchsess (1999); vgl. für den westlichen Bereich auch Scoones, noms (1976), insb. S. 15–81; nur knapp: Maze-Sencier / Valynseele / Brun, Dictionnaire (1988), 16f. 1046 Alföldi, Ausgestaltung (1934), 24; Scholz, Eros (1997), 63–115; vgl. zur christlichen Polemik Kuefler, Eunuch (2001), 245–286. 1047 Vgl. etwa zum normannischen Sizilien Houben, Roger II. (2010), 116f. und S. 127. 1048 Lilie, Einführung (2007), 162. 1049 Fauber, Narses (1990), insb. S. 3–20 zu Familie und Aufstieg. 1050 Vgl. zu einem exemplarischen Fall Greatrex / Bardill, Antiochus (1996); Scholten, Eunuch (1995), 75–183. Praktisch letztmalig eine wichtige Rolle spielte der mit dem Staatsschatz betraute Eunuch Konstantin Philoxenites, der den (erneuten) Herrschaftswechsel von Alexios III. zu Isaak II. Angelos und schließlich zu Alexios V. Murtzuphlos bewerkstelligte. Vgl. hierzu Kolias, Aspects (2006), 125. 1051 Ringrose, Eunuchs (1996), insb. S. 82–92. 1052 Den großen „materiellen” Wert der Eunuchen betont Wada, Überlegungen (2000), S. 399; vgl. auch Tougher, Eunuchs (1997), 170f. und insbesondere Ringrose, Servant (2003), v. a. S. 163– 183. 1053 Ayālôn, Eunuchs (1999); El-Azhari, Influence (2005), 127f. 1054 Scholz, Eros (1997), 116–142.

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auch auf andere Art und Weise zur Abgehobenheit kaiserlicher Herrschaft bei: Als Teil der engsten Umgebung eines Herrschers bzw. dessen designierter Nachfolger waren sie sehr daran interessiert, ihren Einfluss und ihre Stellung zu wahren, und dies konnten sie am besten durch die teilweise Abschottung des Kaisers bewerkstelligen.1055 Ihr Fehlen im lateinischen Kaiserreich könnte erneut dafür sprechen, dass das Kaisertum vor allem eine lateinische Angelegenheit war und blieb. Allerdings übernahm der lateinische Hof auch byzantinische Traditionen ganz in der Art, in der die Normannen Süditaliens ihre Hofämter aus Elementen verschiedener Quellen zusammensetzten. Vielleicht sind gerade diese Hybridisierungsprozesse das zentrale Kennzeichen kaisergleicher Herrschaft. Im byzantinischen Bereich waren die Hofämter und die fein abgeschichtete, auf den Kaiser zulaufende Ämterhierarchie nämlich ausgesprochen wichtig. Sie glichen geradezu einem Spiegelbild des Reiches, waren aber zugleich weitaus wichtiger als die reale Herrschaft; häufig bekamen auswärtige Potentaten, die in keinerlei realem Zusammenhang mehr mit dem byzantinischen Reich standen, Hoftitel verliehen. Scheinbar war nur über die Titelhierarchie die Welt für den byzantinischen Hof zu denken und zu ordnen. Die Macht der Ranggenerierung war kaiserliche Macht; ihre ungeschickte Handhabung konnte jedoch recht rasch die Legitimität des Herrschers untergraben. Ähnlich ungelenk wie Theodor Dukas1056 mögen den Byzantinern die Versuche der lateinischen Machthaber erschienen sein, sich in den Besitz byzantinischer Titel zu setzen. Sehr rasch hatten die Lateiner nämlich gelernt, dass man im byzantinischen Kulturbereich einen Titel haben musste, um etwas zu sein. Somit fuhr die Ämterhierarchie „zweigleisig“ wie das Siegelwesen1057: verständlich für Lateiner und Griechen. Diese Hybridisierungstendenzen des Titelwesens folgten auch aus einer Vermischung der legitimatorischen Grundlagen. Die Titel waren nicht nur Ausdruck der Einordnung in die kaiserliche Hierarchie, sondern auch als Teilhabe der Wähler am lateinischen Kaisertum zu verstehen. Hierbei überlagerte die traditionelle byzantinische 1055 Lilie, Einführung (2007), 134. 1056 Vgl. die Schilderungen in Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 21, S. 34 bzgl. Theodoros I. Angelos Komnenos Dukas: βασιλεὺς οὖν ἀναγορευϑεὶς ὁ Θεόδωρος βασιλικῶς ἐχρῆτο τοῖς πράγμασι, δεσπότας τε προυβάλλετο καὶ σεβαστοκράτορας μεγάλους τε δομεστίκους, πρωτοβεστιαρίους καὶ τὴν λοιπὴν πᾶσαν τάξιν βασιλικήν. ἀφυῶς δὲ ἔχων περὶ τοὺς τῆς βασιλείας ϑεσμοὺς Βουλγαρικώτερον ἢ μᾶλλον βαρβαρικώτερον ταῖς ὑποϑέσεσι προσεφέρετο, οὐ τάξιν γινώσκων οὐδὲ κατάστασιν οὐδὲ ὅσα ἐν τοῖς βασιλείοις ἀρχαῖα ἔϑιμα καϑεστήκασιν. („So war denn Theodor zum Kaiser proklamiert, und er betrieb auch eine Politik wie ein Kaiser: er erhob Leute zu Despoten, Sebastokratoren, Groß-Domestikoi, Protovestiarioi und ernannte weitere Leute für die gesamte übrige kaiserliche Beamtenhierarchie. Da er aber mit den Gepflogenheiten des Kaisertums keineswegs vertraut war, widmete er sich dessen Aufgaben nach Art der Bulgaren, ja, eher der Barbaren, indem er weder Rang noch Stellung anerkannte noch auch das, was seit alters am Kaiserhofe als Recht galt“). 1057 Vgl. oben, Abschnitt ‚Siegel und Münzen‘.

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Ämterbezeichnung eine Schicht „westlich-fränkischer“ Hofämter. Wie bei Conon oder dem Dogen bzw. Podestà von Venedig gesehen, sinnentleerte diese westliche Schicht aber nicht die byzantinischen Bezeichnungen, sondern verband sich mit ihnen unlösbar zu etwas Neuem – kurz: wurde hybridisiert. Deutlich wird dies etwa, wenn Heinrich Philocalus Navigasio, der Eroberer von Lemnos, den Titel eines megadux imperii verliehen bekam.1058 Ebenso nannte sich auch der nach dem Tode Peters zum Regenten des lateinischen Kaiserreiches nominierte Conon von Béthune Seuastocrator et Baiulus Imperij Romanie.1059 Narjot von Toucy, der zweimalige Regent des Kaiserreiches, führte den Titel caesar.1060 Über die Titel konnten auch ehemals byzantinische Herrschaftsträger in die Herrschaftsorganisation des lateinischen Kaiserreiches eingebunden werden. So wurde durch die Lateiner auch Theodor Branas, einem der wichtigsten Verbündeten der „Franken“, der von ihm zu byzantinischer Zeit geführte Titel eines caesar zugestanden.1061 Gerade anhand der letzten beiden Fälle wird aber auch die eigentümliche Schwäche des lateinischen Kaisertum deutlich: Es fand sich keine strikte Kontrolle der Ranggrenze wie durch das Papsttum im westlichen Kaisertum, eine augenfällige Inszenierung der Singularität des (haupt)kaiserlichen Ranges wie im byzantinischen Reich war – wie bereits gezeigt – ebenso nicht möglich. In Kombination mit dem ausufernden Titelwesen byzantinischer Prägung konnten beide genannten Elemente zu einer gewissen Abschleifung kaiserlicher Konzeptionen, zu ihrer Verwässerung, beitragen. Eine zentrale Position bei der Strukturierung des Titelwesens kam dem kaiserlichen Urkundenwesen und der kaiserlichen Kanzlei zu. Beide eng gekoppelten Bereiche formten den zentralen Verbund der synchronen und diachronen Kommunikation von Herrschaftsvorstellungen. Gerade in den Kanzleien sind auch die wichtigsten Träger des imperialen Erbes und somit die legitimierenden Träger einer imperialen Ordnung situiert. Ein ausführlicher Vergleich des Urkundenwesens mit den entsprechenden gleichzeitigen oder vorzeitigen Organisationen soll an dieser Stelle nicht angestrebt werden. Vielmehr gilt es, die Kanzlei des lateinischen Kaiserreiches knapp zwischen den Polen „West“1062 und „Ost“1063 einzuordnen.

1058 Hendrickx, Recherches (1970), 148–149. 1059 Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 256, S. 214. 1060 Hendy, Catalogue 4 / 2 (1999), 655. 1061 Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 169, S. 18. Vgl. zu Theodor unten, Abschnitt ‚II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnung‘ und ‚III.2.2 Herrschaftsdurchdringung‘. 1062 Vgl. etwa für den Bereich Friedrichs II. Schaller, Kanzlei (1957–1958); Zinsmaier, Reichskanzlei (1974); Csendes, Studien (1980); Kölzer, Kanzlei (1984). 1063 Dölger, Kaiserurkunde (1939); Dölger / Karayannopulos, Urkundenlehre (1968).

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Die Struktur der Kanzlei des lateinischen Kaiserreiches wurde durch Hendrickx beleuchtet.1064 Sie war offensichtlich im Blachernenpalast und später im Bukoleon-Palast untergebracht und weitgehend nach westeuropäischen Mustern organisiert.1065 An der Spitze der Kanzlei standen hochrangige Kleriker, praktisch immer Flamen, die vielleicht auch für den kaiserlichen Schatz Verantwortung trugen. Eine bedeutende Funktion übte etwa unter der Regierung Kaiser Heinrichs der Flame Walter aus.1066 Die Kanzleileiter scheinen auch die für die Abfassung der kaiserlichen Briefe Verantwortlichen gewesen zu sein. Sie spielten folglich eine wichtige Rolle bei der Genese und der wechselseitigen Durchdringung, Anpassung, aber auch der klaren Kommunikation von Herrschaftskonzeptionen. Dies gilt es nicht nur – wie bereits geschehen – bei Fragen der schriftlichen Gestaltung zu berücksichtigen, sondern auch bei der Behandlung der generellen „öffentlichen Inszenierung“ kaiserlicher Herrschaft1067. Gerade hier zeigt sich erneut das Zusammenfließen der Formen und legitimatorischen Komplexe. So wurde etwa die Bestätigung des Teilungsvertrages des lateinischen Kaiserreiches in einer eigenartig hybriden Form ausgefertigt, die westliche und griechische Traditionen verband1068, die zugleich aber auch die realen Machtverhältnisse in Konstantinopel verdeutlichte: Die Urkunde trug in roter Tinte die griechischen Unterschriften sowohl Kaiser Heinrichs als auch des venezianischen Podestà Marino Zeno und unter anderen ihre beiden Siegel.1069 Traditionell war die rote Unterschrift eigentlich Zeichen kaiserlichen Ranges; allein der Basileus durfte sie gebrauchen.1070 Erneut zeigt sich hier somit die Abschleifung von Zeichen kaiserlichen Ranges, die zuvor durch den Basileus monopolisiert gewesen waren. Generell sind die Anspielungen auf byzantinische Traditionen bei der Ausgestaltung der Urkunden, etwa beim Gebrauch der griechischen Indiktion, aber nur recht gering.1071 Stärker war hier die westliche Schicht: Die lateinische Herrschaft schien einen nicht unbedeutenden Einfluss auf das byzantinische Urkundenwesen ausgeübt zu haben, Formen der Bezugnahme auf ethische Grundlagen herrscherlichen Handelns glichen sich an.1072

1064 Hendrickx, Institutions / Chancellerie (1976), im Folgenden insbesondere S. 127f. Vgl. zu einer Übersicht der Urkunden Balduins Hendrickx, Chartres (1969), 61–64. Vgl. aber auch Prevenier, Chancellerie (1990). 1065 Hendrickx, Institutions / Chancellerie (1976), 123. 1066 Vgl. die Bitte Heinrichs an Innozenz III., wahrscheinlich eben jenen Walter zu einem Kanoniker der Sophienkirche zu ernennen: Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 109. 1067 Vgl. etwa Vogeler, Veröffentlichung (2008), 357f. 1068 Vgl. Gerland, Geschichte (1905), 69f. / Anm. 4. 1069 Vgl. Longnon, Recherches (1939), Nr. 74, S. 191, Vorbemerkung. 1070 So erklärt sich auch die Kritik des Akropolites an Manuel Angelos, der – obwohl nur Despot – seine Urkunden mit roter Tinte unterschrieb. Vgl. Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 26, S. 43 und hierzu Anm. 53. 1071 Hendrickx, Institutions / Chancellerie (1976), 131. 1072 Angelov, Ideology (2007), 15.

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Auch hinsichtlich der Titel und der Hierarchiegenese zeigte sich die Schwierigkeit das lateinische Kaisertum, seinen einzigartig hohen Rang klar zu inszenieren. Dies betrifft sowohl die Außendarstellung in der Kommunikation mit dem Westen als auch die Durchsetzung eines klar differenzierten und hierarchisierten Titelwesens. Das lateinische Kaisertum führte byzantinische Tendenzen des Mitkaisertums fort, öffnete die kaisergleiche Rangebene der Titel jedoch auch gegenüber anderen weltlichen Großen, die nicht in besonderer „persönlicher Nähe“ zum Kaiser standen, sondern vielmehr „per Verfassung“ zu integrieren waren.

I.4 Zwischenfazit: Mediterranes Kaisertum – Virtuelles Kaisertum Die bisherige Untersuchung machte deutlich, dass es sich durchaus lohnt, einen Herrscher mit einem bestimmten Rang als Kaiser zu bezeichnen: denjenigen, der sich dadurch auszeichnet, dass er eine Position über Königen und in Bezug auf seine weltlichen und geistlichen Aufgaben eine weiträumige Herrschaft beansprucht. Es zeigte sich, dass es hinsichtlich dieser „überköniglichen“ Stellung bei den bisher behandelten Fällen von Ost nach West eine Art Kontinuum der Ausprägung dreier Kriterien gibt: 1. wie klar die jeweiligen kaiserlichen Kompetenzen gefasst werden, 2. wie klar der überragende Rang des Herrschers inszeniert wird und sich somit in Herrschaftsstrukturen niederschlägt und 3. wie einfach die Überschreitung der Rangdifferenz (in beide Richtungen) ist. Zwei Faktoren prägen dabei den Untersuchungsgegenstand „Kaisertum“ möglicherweise stärker als andere Herrschaftskonzeptionen und erschweren eine klare Erfassung und eine Einordnung möglicher Herrschaftsformen auf den oben genannten Kontinuen: Zum einen scheint „das“ Kaisertum sehr stark durch Hybridisierungsprozesse geprägt zu sein, zum anderen könnte sein Wesenskern möglicherweise in virtuellen Sphären liegen. Beide Faktoren bedingen sich und führen dazu, dass das kaiserliche Amt selten als in seiner Zeit angekommen wirkt, sondern häufig geradezu als eine Art leere, prächtige Hülle die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ verkörpert. Könnte es aber sein, dass dieser Befund auf dem latenten Eurozentrismus der westlichen Auffassung von „Kaisertum“ beruht, dass man „Reinheit“ sucht, wo keine existierte, und Kompetenzen eruieren will, die nicht nachprüfbar sind? Richten wir hierzu unseren Blick nochmals auf das lateinische Kaisertum: Wie tief wirkten die dortigen Hybridisierungsprozesse? Handelte es sich nur um byzantisierendes „Gekräusel an des Wassers Oberfläche“ über lateinischem Grund?1073 Auf der einen Seite scheint dem nicht so zu sein. Die Fortführung byzantinischer Tradi1073 Ullmann, Canossa (1973), 289. Vgl. etwa Carile, Cancellaria (1979), 52; Hendrickx, Institutions / Pouvoir (1974), 123; Lock, Franks (1995), 168f.

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tionen erlaubte dem lateinischen Kaiser wohl nicht nur gegenüber den griechischen Bevölkerungsteilen eine gewisse Fundierung seiner Herrschaft, sondern könnte auch Rückwirkungen auf seine fränkischen Vasallen gezeitigt haben. Allerdings wurde der lateinische Kaiser – insbesondere Heinrich – auf der anderen, der fränkischen Seite nicht zu einer Art „Autokrator“, sondern blieb in „feudale“ Kontexte eingebunden.1074 Die Gründe für die Schwierigkeiten bei der Bewertung des lateinischen Kaiserreiches könnten gerade darin liegen, dass hier etwas entstand, was sich nicht eindeutig der einen oder anderen Traditionslinie zuordnen lässt, sondern vielmehr durch eine Stellung „dazwischen“ definiert wird. Dieses „Neue“ konnte durchaus ein gewisses Verankerungspotential entfalten, was auch Niketas Choniates eindrücklich beschreibt: „Wie verbissen sich die Lateiner, ohne vor irgendwelchen Schwierigkeiten zurückzuschrecken, in jedem eroberten Land, in jeder Stadt festkrallen, als wäre es ihr eigenes Vaterland, während sie ihre Heimat so vollständig vergessen, als gäbe es sie nicht mehr“1075. Das lateinische Kaisertum war hiervon indirekt betroffen: In der Romania entstand eine Ranghierarchie, bei der der oberste, (haupt)kaiserliche Rang nicht mehr monopolisiert und klar repräsentiert werden konnte. Das Kaisertum „zerfloss“ gleichsam innerhalb einer lateinischen, aber auch griechischen Führungsschicht, die sich kaisergleich inszenieren und mit diesen Möglichkeiten durchaus in die entstehende Herrschaft integriert werden konnte. Im lateinischen Kaiserreich formten sich so in besonderem Maße Charakteristika heraus, die das Kaisertum im mediterranen Raum bereits seit Jahrhunderten prägten. Lohnt es sich, einen eigenen Typus „mediterranes Kaisertum“ zu konstruieren? Das ist wohl der Fall, denn wie bereits dargestellt war der Mittelmeerraum eine Weltregion intensivsten diachronen und synchronen Austausches von Herrschaftsvorstellungen. Was könnten die Kennzeichen dieses Typus sein? Charakteristisch scheinen mir vor allem drei Spezifika: wie der Name bereits sagt 1. der Herrschaftsschwerpunkt im Mittelmeerraum, 2. die damit verbundene Notwendigkeit, sich intensiv mit anderen Kulturen und anderen monotheistischen Religionen – insbesondere auch mit byzantinischen und spätantiken Traditionen – auseinanderzusetzen und 3. die Tatsache, nur ein Kaiser unter mehreren zu sein. Das westliche Kaisertum erscheint vor diesem Hintergrund als eine Art „Sonderfall“. Spätestens seit der Kaiserkrönung Karls des Großen hatte es den Schwerpunkt seines Wirkens in die Gebiete nördlich der Alpen verlagert. Auch wenn Italien und insbesondere Rom – vor allem in legitimatorischer Hinsicht – nie aus dem Gesichtsfeld kaiserlichen Interesses verschwanden und die Thesen Pirennes über eine Art „eisernen Vorhang“ zwischen nördlichem und südlichem Mittelmeer bereits seit Jahrzehnten kritisch 1074 Tricht, Gloire (2000), 217–219. 1075 Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 17, S. 849f.: ὡς ἧς ἂν ἐπιβαῖεν χώρας καὶ πόλεως, καϑάπερ οἰκείας αὐτῆς δραττόμενοι καὶ ἀπρὶξ ἐχόμενοι πρὸς οὐδὲν ἀποκναίουσι δυσχερές, ὡς οὐκέτ᾽ ὄντων τῶν οἴκοι ἐπιλαϑύμενοι.

I.4 Zwischenfazit: Mediterranes Kaisertum – Virtuelles Kaisertum

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hinterfragt werden1076, wird dies doch durch die Herrscheritinerare deutlich. Nach den Ottonen sollte nicht nur Süd-, sondern auch Norditalien zu einem gewissen Grad zum kaiserlichen „Nebenland“ werden. Erst unter den Staufern nahm auch das westliche Kaisertum, vor allem unter Friedrich II., mediterrane Züge an und erschien nicht nur als eine Art gesteigerte römisch-deutsche Königsherrschaft. Gerade dieser Zeitabschnitt ist jedoch nur als eine Art Zwischenphase zu werten. Man könnte bezüglich Friedrichs II. sogar provokant formulieren, dass es weniger die Staufer waren, die die normannische Königskrone erwarben, sondern vielmehr die Hauteville auf verschlungenen Pfaden zum bereits längere Zeit angestrebten kaiserlichen Rang fanden.1077 Im Gegensatz zu den anderen mediterranen Kaiserherrschaften mussten die römischdeutschen Herrscher eher selten ihr Verhältnis gegenüber anderen Kulturkreisen und / oder Religionen definieren, waren trotz der erheblichen Komplexität ihrer Aufgabe nicht gezwungen, innerhalb stark changierender Kontexte zu agieren. Während Ausprägungen mediterranen Kaisertum – auch aufgrund der weitaus größeren Kontaktfläche – durch eine große Vielzahl von Auseinandersetzungen und Einflüssen geprägt waren, die gleichwohl ihr Substrat in der römischen Antike fanden, verlief die Entwicklung des westlichen Kaisertum – auch aufgrund des maßgeblichen päpstlichen Einflusses – weitaus gemächlicher. Hier waren es vor allem drei Konfliktlinien, die über die Jahrhunderte seine Pfade begrenzen sollten: erstens das Verhältnis von Kaisern und Päpsten, zweitens von Kaisern und Kommunen und drittens von Kaisern und Fürsten, wobei letzteres eigentlich das Verhältnis von Königtum und Fürsten betraf. Auch aufgrund der Bewältigung dieser Konflikte, die letztlich das Kaisertum immer wieder bestätigten, kamen an der Monarchie des westlichen Kaisertums eigentlich nie ernsthafte Zweifel auf. Viel mehr intellektuelle Ressourcen wurden darauf verwendet, das päpstliche vom kaiserlichen Amt abzugrenzen als die Stellung des Kaisers in der Welt – gegenüber den anderen europäischen Monarchen oder dem Basileus – zu klären. Das sogenannte Zweikaiserproblem wurde somit nur recht selten – im Falle des Aufeinandertreffens von Gesandtschaften und Herrschern – überhaupt bewusst.1078 Im Normalfall waren die jeweiligen Herrschafts-, ja sogar Einflussgebiete schlicht ohne gemeinsame Grenzen, sodass sich keine ernsten Zuspitzungen ergaben. Die Welt war groß genug für zwei (und mehr) Kaiser und die Kommunikationsverbindungen zu unstetig, als dass der Bedarf, die kaiserliche Vielfalt grundsätzlich zu klären, bestanden hätte. Im Falle eines gerüsteten Aufeinandertreffens von zwei Kaisern oder ihren Beauftragten konnte die Beanspruchung einer Art „Kaisermonopol“ jedoch erheblich konfliktverschärfend wirken. Wurde aber der Anspruch, einziger Kaiser zu sein, vielleicht nur strategisch gebraucht?1079 Ist vielleicht gar die Vorstellung von einer kaiserlichen 1076 Vgl. hierzu etwa Burkhardt / Mersch / Ritzerfeld u. a., Hybridisierung (2011), 467f. 1077 Vgl. Burkhardt, Anfänge (2010). 1078 Vgl. zum sogenannten „Zweikaiserproblem“ etwa Ohnsorge, Zweikaiserproblem (1947); Brezeanu, Zweikaiserproblem (1978). 1079 Vgl. Lilie, Zweikaiserproblem (1985), insb. S. 241–243.

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Monarchie im wahrsten Sinne des Wortes eine neuzeitliche Übersystematisierung antiker und mittelalterlicher Zustände? Dies scheint nicht ganz der Fall zu sein, denn das Papsttum hatte – und dies wird mitunter vergessen – zweifellos ein vitales Interesse an der Einzigartigkeit des Kaisertums, auch um dessen universal-römischen Charakter zugunsten der Schutzfunktion gegenüber der Kirche zu wahren, was bereits in der Einführung der Salbung unter den karolingischen Kaisern zum Ausdruck kam. Auch aufgrund dieses dominierenden geistlichen Aufgabenbereiches blieben die materiellen Kompetenzen des Kaisers im Westen so eigenartig diffus. Paradoxerweise gingen im Westen die Einzigartigkeit des Kaisertums und die Nichtfassbarkeit der Kompetenzen Hand in Hand – ein Paradoxon, auf das gleich zurückzukommen ist. Für die anderen Kaiser des Mediterraneums war die Multiplizität kaiserlicher Herrschaft hingegen eine Tatsache, die stets die Ausgestaltung der eigenen Herrschaftskonzeption beeinflusste. So hatten bereits die antiken römischen Kaiser im Gesandtschaftsverkehr mit anderen „Großkönigen“ – wie etwa dem persischen Herrscher – im Normalfall einen diplomatischen Ton angeschlagen und von einer klaren Herausstellung ihrer theoretischen Einzigartigkeit abgesehen.1080 Das spätantike Reich wurde durch die Herrschaft der Tetrarchen und die verschiedenen Formen der Mitkaiserherrschaft selbst zu einem multipolaren Gebilde, eine Tendenz, die in Byzanz weitergeführt wurde.1081 Auch hier war das Prinzip der kaiserlichen Einzigartigkeit durch das Prinzip des Mitkaisertums (bei einem Hauptkaiser!) aufgeweicht und Devianzen somit auch in einer vom Hof akzeptierten Weise möglich geworden. Immer neue Differenzierungen und vielfältige Ausdrucksformen kaiserlichen Ranges sollten dabei die Einzigartigkeit des „wahren“ Kaisers gewährleisten: Auf den Basileus folgte der Titel des ΄Ρωμαίων.1082 So ließ sich für die Byzantiner auch das westliche Kaisertum – als eine Art Nebenkaisertum – in einer dem eigenen Weltbild erträglichen Art integrieren. Allerdings war im Osten immer eine eindeutige Klärung erforderlich, wer Hauptkaiser – eben Basileus – war; die Nebenkaiser waren nichts weiter als Kleinkaiser mit mehr oder minder ausgeprägtem Usurpationspotential. Im hochmittelalterlichen Westen wurde nie ernsthaft ein multiples Kaisertum erwogen.1083 Nie wurde ein Gegenkaiser gekrönt – auch nicht nach der Absetzung Friedrichs II. Nie wurde außer Friedrich II. ein mittelalterlicher westlicher Kaiser abgesetzt oder ermordet. Nie wurde einem westlichen Herrscher außer dem römischen König die Kaiserkrone ernsthaft angetragen. Die Kaisertitel im angelsächsischen und spanischen

1080 Lilie, Einführung (2007), 143. 1081 Vgl. zur Begriffs- und Forschungsgeschichte Vollmer, Tetrarchie (1991), insb. S. 448f.; vgl. zur Versinnbildlichung die bereits erwähnte Studie von Laubscher, Beobachtungen (1999). 1082 Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 33. 1083 Die Karolingerzeit stellt einen anderen Zeitraum dar, der sich nicht in das dargestellte Schema einpassen lässt.

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Bereich blieben Episode.1084 Und auch das Auftreten kaisergleicher Herrscher, wie etwa der Normannen Siziliens, war weitgehend ohne Folgen. Worin liegt der Grund für die ausgesprochene Stabilität der hochmittelalterlichen imperialen Monarchie im westlichen Bereich? Sicherlich ist er zum einen darin zu sehen, dass eine Kaisererhebung die höchst wachsam und eifersüchtig verteidigten Mitwirkungsrechte einer ganzen Reihe von Beteiligten vereinte. Weitere legitime, westliche Kaiser hätten all diese Mitwirkenden oder zumindest einen bedeutenden Teil von ihnen in ihrem Rang als Mitträger kaiserlicher Herrschaft – wie sie später im Kurfürstenkolleg sinnlich fassbar sein sollte – herabgesetzt. Zum anderen bauten ganze theoretische Systeme auf der Einzigartigkeit des westlichen Kaisertum auf: Theologie, Kanonistik, Romanistik und nicht zu vergessen auch das Lehnsrecht mit seiner Fiktion der „einen Pyramidenspitze“ konnten die Pluralität des Kaisertums noch nicht ertragen, forderten die imperiale Monarchie. Hinzu tritt noch auf der Seite potentieller Kaiserkandidaten ein weiterer Faktor: Angesichts all des Unfriedens und der Schwierigkeiten, die mit dem Streben nach dem Kaisertitel verbunden gewesen wären, war der Gewinn an Macht und Ansehen zu gering. Im Osten war die Hierarchie hingegen durchlässiger, die Ranggrenze einfacher überschreitbar – entsprechend schärfer hielt man nach potentiellen Kandidaten Ausschau. Und so verwundert es auch nicht, dass es ein byzantinischer Schriftsteller war, der mit scharfem Blick für die Fragen des Zeremoniells das Auftreten des Königs von Jerusalem kritisierte: Im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts wurde dieser durch Eustathios von Thessaloniki getadelt, weil er sich „über das rechte Maß hinaus wie ein Kaiser aufführe“ 1085. Das Erstaunliche an der byzantinischen Tradition des Kaisertums war die Verbindung der ausgesprochen starken Überhöhung des Basileus in Theologie, Herrschaftstheorie und zeremonieller Praxis und der mitunter frappierenden Frequenz an „Staatsstreichen“ und der brutalen Art, in der die neuen Kaiser mit den alten Herrschern umsprangen. Beides war im Westen eigentlich undenkbar1086; hier war das Papsttum die ausschlaggebende Instanz für Ein- und Absetzung von Herrschern. Insbesondere die Todesart von Kaisern kann folglich als wichtiger Indikator für die Stabilität kaiserlicher Herrschaft angesehen werden.1087 Auf der einen Seite mag man hierin einen gewissen Flexibilitätsvorteil für das byzantinische Reich sehen, ungeeignete Herrscher wurden rasch beseitigt und die vermeintlich Fähigsten an die Regierung gebracht. Auf der anderen Seite wurden allerdings auch durchaus fähige Kaiser Opfer von Usurpationen, und

1084 1085 1086 1087

Sie stehen eher in karolingischer Tradition. Zitiert nach Deér, Byzanz (1977), 52. Vgl. als Übersicht die Beiträge in Friedeburg, Murder (2004). Vgl. etwa Schaller, Kaiser (1993). Vgl. grundsätzlich zum Herrschertod die Beiträge in Kolmer‚ Tod (1997).

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die hohe Frequenz von Thronwechseln in den späten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts schwächte das Reich wohl nicht unerheblich.1088 Ganz ähnlich schien es dem lateinischen Kaiserreich zu ergehen. Allerdings verschärfte sich dort die Situation in dreierlei Hinsicht: Erstens verloren die meisten Kaiser durch „externe Faktoren“ Herrschaft und / oder Leben1089, die äußere Bedrohung war also weitaus stärker als im mittelbyzantinischen Reich1090. Wenn darüber hinaus etwa Robert durch seine eigenen Barone vertrieben wurde, zeigte sich auch zweitens die Abwesenheit eines wirksamen Schutzes des kaiserlichen Ranges durch eine wie auch immer geartete Herrschaftstheorie oder etwa durch das Papsttum selbst. In dessen Folge manifestiert sich auch drittens der Hauptunterschied zu gewaltsamen byzantinischen Thronwechseln: das Fehlen eines geeigneten Usurpators. Das lateinische Kaiserreich 1088 Lock, Franks (1995), 38: „In the last 20 years there had been five coups – 1182, 1185, 1195, 1203 and 1204 – all extending outside the immediate court and involving the populace of Constantinople. The result was a lack of commitment to the emperor for the time being and, perhaps more important, a loss of faith in the mission of the Eastern Roman Empire”. 1089 Balduin I. starb in bulgarischer Gefangenschaft (vgl. zur Diskussion um den Tod Balduins Gerland, Geschichte (1905), 91f., insb. auch S. 92 / Anm. 3). Vgl. insbesondere die anschaulichen, möglicherweise blühender Phantasie entspringenden Schilderungen in Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 13, S. 22: ὥστε καὶ αὐτὸν τὸν βασιλέα Βαλδουῖνον ὑπ᾽ αὐτῶν ἁλῶναι καὶ δέσμιον ἀπαχϑῆναι πρὸς τὸν βασιλέα βουλγάρων ᾽Ιωάννην∙ οὗπερ, ὥς φασι, καὶ τὴν κεφαλὴν μετὰ τὴν σφαγὴν εἰς κύπελλον χρηματίσαι τῷ βαρβάρῳ τῶν ἐντὸς ταύτης πάντων κεκαϑαρμένην καὶ κόσμῳ περιπυκασϑεῖσαν κύκλωϑεν („selbst der Kaiser Balduin wird von ihnen [scl. den Bulgaren] gefangen und in Fesseln vor den Bulgarenzar Ivan geführt; sein Haupt, so wird erzählt, wurde ihm abgeschlagen und diente dem Barbaren als Trinkbecher, nachdem es von allem darin gereinigt und ringsum mit Schmuckstücken ausgelegt worden war“). Peter starb in Epiros in der Schlacht von Albanon 1217; Akropolites (Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 14, S. 26) berichtet zu seinem Ableben: ὁ μὲν οὖν δηλωϑεὶς Θεόδωρος, καϑὼς εἰρήκειν, τὸ οἰκεῖον παραλαβὼν στράτευμα ἀντιτάττεται τῷ Πέτρῳ, μικρὸν ὑπερπηδήσαντι τὸ Δυρράχιον καὶ ἐν ταῖς τοῦ ᾽Αλβάνου δυσχωρίαις γεγενημένῳ. νικῶσι γοῦν κατὰ κράτος οἱ τοῦ Κομνηνοῦ Θεοδώρου τὸ τῶν Λατίνων στράτευμα, ὡς πάντας ἄρδην δεσμώτας ποιῆσαι σὺν πᾶσι σκεύεσι, καὶ αὐτὸν δὲ τὸν βασιλέα Πέτρον ἔργον μαχαίρας γενέσϑαι. τοῦτο δὴ τότε μέγα ῾Ρωμαίοις ἐγεγόνει βοήϑημα („Der erwähnte Theodor zieht also mit seinem eigenen Heer gegen Peter, der schon ein wenig über Dyrrhachion hinausgekommen war und sich in dem unwegsamen Gelände von Albanon aufhielt. Da tragen die Mannen des Komnenen Theodor einen ungeheuren Sieg über das Heer der Lateiner davon, sie nahmen buchstäblich einen jeden Lateiner gefangen, und zwar mit allen seinen Waffen und seiner ganzen Ausrüstung, und ihr Kaiser Peter wurde ein Opfer des Schwertes. Dieser Sieg war damals für die Rhomäer eine gewaltige Hilfe!“). Der Schlachtentod zweier lateinischer Kaiser wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Unsicherheit ihrer Herrschaft. Robert wurde durch seine Barone vertrieben und Balduin II. verlor seine Herrschaft durch die Rückeroberung Konstantinopels. 1090 Gleiches galt auch etwa für das Königreich Thessaloniki: Bonifaz von Montferrat fiel in einem Gefecht gegen die Bulgaren; diese sollen ihm den Kopf abgeschnitten und ihn an den Bulgarenzaren Kalojan gesendet haben. Vgl. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 499f.

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hatte stattdessen geradezu Schwierigkeiten, geeignete Thronbewerber zu finden, was sich auch in beachtlichen „Sedisvakanzen“ niederschlug. Gerade das Auftauchen des lateinischen Kaisertums könnte jedoch ein Indikator dafür sein, dass um 1200 eine Phase intensivierter Hybridisierung, eine Art „imperiale Sattelzeit“ beginnt. Gilt dies im westlichen Bereich vor allem bezüglich des Thronstreites, so erwies sich für den Osten die Eroberung Konstantinopels als ausgesprochen folgenreich. Mit dem Zerfall des byzantinischen Reiches nach der Eroberung Konstantinopels brachen sich in der Region die Traditionen der Usurpation des Kaisertitels breite Bahn und führten zu geradezu inflationären Kaiserwahlen. Neben den lateinischen Kaisern agierten zunächst noch mehrere byzantinische Thronprätendenten, bevor sich die Kaiser von Nikaia durchsetzen konnten. So wurde auch der ehemalige byzantinische Statthalter Philippopels, Alexios Aspietes, nach der Schlacht von Adrianopel von der dortigen Bevölkerung zum Kaiser ausgerufen – während der Amtsträger des lateinischen Kaisers, Herzog Rainer von Trith, auf der Festung über der Stadt belagert wurde und sich ein Bulgarenheer unter dem ebenfalls Kaiserrang beanspruchenden Bulgarenzar Kalojan näherte.1091 Kalojan hatte seine durch das Papsttum verliehene Königsherrschaft als Kaisertum bezeichnet.1092 Größten Einfluss hierauf könnte die Erbeutung imperialen Insigniengutes durch Zar Iwan I. Asen nach einer ge-

1091 Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 10, S. 813 und c. 16, S. 847. 1092 Vgl. Prinzing, Bedeutung (1972), 10 und bes. die Literatur S. 22 Anm. 47, ferner S. 26, 32–34 und 148–150 (Anm. 6). Am 8.11.1204 war Kalojan durch den Kardinallegaten Leo in Trnovo zum König gekrönt worden; Kalojan hat offensichtlich die Titel rex und primas absichtlich falsch interpretiert (vgl. Gerland, Geschichte [1905], 43 / Anm. 4).

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gen Isaak II. Angelos gewonnen Schlacht gehabt haben.1093 Hinzu trat ab 1227 auch ein Kaisertum in Epiros, das durch Theodor Komnenos Dukas etabliert wurde.1094 Weniger die Multiplizität der Kaiser als vielmehr der Verlust der Hauptstadt als eindeutiges Abgrenzungskriterium der Herrschaft des wahren Basileus war es, das die byzantinische Geisteswelt so durcheinander brachte. So suchte auch etwa Demetrios Chomatenos die gleichzeitige Existenz zweier byzantinischer Kaiser und zweier byzantinischer Reiche außerhalb Konstantinopels zu rechtfertigen.1095 Das lateinische Kaisertum agierte mit einer Doppelstrategie, die zwei Ziele hatte: Anerkennung seiner Kaisergleichheit – wenngleich nicht Ranggleichheit – im Westen, Durchsetzung seiner Suprematie im Osten. Im Westen lässt sich unter Innozenz III. beobachten, dass die ursprüngliche Theorie der translatio imperii in die Theorie der divisio imperii abgewandelt wurde, um die Existenz des lateinischen Kaiserreiches zu legitimieren.1096 Gleichwohl wurde das lateinische Kaisertum durch die Päpste nie als ranggleich mit dem westlich-römischen angesehen. Im Allgemeinen verlor das Zweikaiserproblem einiges 1093 Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 12, S. 19f.: ἐντεῦϑεν ἐφυσιώϑη τὸ τῶν Βουλγάρων γένος, λείαν πολλὴν ἐκ τῶν ῾Ρωμαίων κερδῆσαν, ἀλλὰ δὴ καὶ ἐκ τῶν βασιλικῶν παρασήμων τὰ τιμιώτερα. Τάς τε γὰρ τοῦ βασιλέως πυραμίδας ἀνελάβοντο καὶ φιάλας τῶν ἐπιστήμων καὶ χρῆμα εἰς πλῆϑος καὶ αὐτὸν δὴ τὸν βασιλικὸν σταυρόν∙ τῶν τινος γὰρ αὐτὸν ἱερέων ῥίψαντος μετὰ μικρὸν ἐφεῦρον ἐν τῷ ποταμῷ, ἐκ χρυσοῦ μὲν κατεσκευασμένον, φέροντα δὲ μέσον ἐκ τοῦ ἁγίου ξύλου, ἐν ᾧπερ ὁ δεσπότης προσηλώϑη Χριστός, εἰς σταυροῦ σχῆμα τετυπωμένον, ϑήκας δὲ σμικρὰς παμπόλλας ἔχοντα, ἐν οἷς λείψανα πρόςεστι τῶν περιφανεστέρων μαρτύρων τῆς ϑεομήτορός τε τὸ γάλα καὶ μέρος τι τῆς ζώνης αὐτῆς καὶ ἄλλα πλεῖστα, ὁπόσα τῶν εὐαγῶν καϑειστήκει („Dadurch wurde das Volk der Bulgaren von aufgeblasenem Hochmut erfüllt, schließlich hatte es von den Rhomäern eine große Beute gewonnen, insbesondere die wertvollsten Dinge unter den Abzeichen der Kaiserwürde. Sie hatten erbeutet die großen Hüte des Kaisers, die Trinkgefäße der Adligen, eine Menge Geld und sogar das Kreuz des Kaisers; einer von den Priestern hatte dieses weggeworfen, aber schon kurze Zeit später fanden sie es in dem Fluss: es war aus Gold gewirkt und hatte in der Mitte ein Stück des heiligen Holzes, an dem Christus, der Herr, angenagelt gewesen war. Dieses aber war wiederum in der Form eines Kreuzes gebildet, es hatte viele kleine Laden mit Reliquien der großen Martyrer, der Milch der Gottesmutter, einem Stück ihres Gürtels und vielen anderen heiligen Dingen“). 1094 Nicol, Despotate (1984), 4. 1095 Angelov, Ideology (2007), 6: „The Kaiseridee, although never given a precise definition by scholars, boils down to the monarchical tenets of imperial authority which the Byzantines universally accepted: sacral rulership, possession and imitation of divine virtues, sun mimicry, and traditional epithets and comparisons such as, for example, ‘helmsman’ or ‘victor’”. Vgl. auch ebd., S. 18. 1096 Vgl. Tricht, Gloire (2000), 214: „La nouvelle théorie d’Innocent, celle de la divisio imperii, reconnaîssait l’existence de deux empires et la division de l’empire unique. Par la conquête de Constantinople en 1204, Dieu Lui-même a transféré l’empire byzantin des Grecs, désobéissants à Rome, aux Latins. Innocent III appelait l’empereur germanique imperator Romanorum comme auparavant, tandis qu’il désignait l’empereur latin à Constantinople imperator Constantinopolitanus comme au temps des empereurs grecs“.

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an Schärfe.1097 Im Osten suchte das lateinische Kaisertum seinen in der Region singulär hohen – kaiserlichen – Rang energisch gegen alle Versuche benachbarter Mächte zu verteidigen, die sich aus seiner Sicht kaiserliche Titel usurpieren wollten. So finden sich pejorative Quellenstellen wie über Theodor I. Laskaris pro imperatorem se gerens1098 oder über den Bulgarenherrscher Boril, imperiale sibi nomen cum signis imperialibus usurpaverat1099. Das Zweikaiserproblem hatte sich aus dieser – eigentlich westlichen – Perspektive also zu einem „Vielkaiserproblem“ vervielfacht. Diese Kaiser wurden jedoch durch das lateinische Kaisertum wahrscheinlich nicht anerkannt: Ebenso wie das Westkaisertum könnte man das Ostkaisertum als unteilbar angesehen haben. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, wenn sich die Realität häufig bedeutend pragmatischer als alle theoretischen Annahmen erwies. Vielleicht war es ja auch gerade dieser Pragmatismus im Umgang mit der ganz anders gearteten Wirklichkeit, die dem byzantinischen Reich ein so langes Überleben garantierte. So war etwa laut Akropolites der Kaiser von Nikaia, Johannes Dukas, bereit, Theodoros I. Angelos Komnenos Dukas als Mitherrscher anzuerkennen, wenn er nur seine eigene Überordnung akzeptierte.1100 Ist diese eigenartige Kombination von höchsten theoretischen Ansprüchen und reellem Pragmatismus möglicherweise ein weiteres zentrales Kennzeichen kaiserlicher Herrschaft? Genügt dem Kaisertum überspitzt formuliert die Aufrechterhaltung leerer Ansprüche, weicht es – insbesondere in seiner westlichen Ausformung – einem effektiven Zugriff aus? Ist vielleicht gar die Virtualität ein allgemeines Kennzeichen kaiserlicher Herrschaft? Virtualität ist ein Begriff, der eine Vielzahl möglicher Bedeutungsdimensionen erschließt.1101 Hier sollen nur einige Aspekte angesprochen werden, die es ermöglichen, 1097 Vgl. dazu bereits oben, Abschnitt ‚Titel und Hierarchiegenese‘ und Tricht, Gloire (2000), 241: „Par son intitulé originel Henri n’avait sans doute jamais visé à se poser comme le seul empereur authentique et à ainsi remettre en question la dignité impériale allemande. Il avait adopté l’intitulé impérial byzantin, mais avec la signification qu’il lui donnait, tout comme son frère, en tant qu’occidental: empereur de l’empire dans la partie orientale du monde méditerranéen”. 1098 Prinzing, Brief (1973), 411. Bei Prinzing, Brief (1973), 420 findet sich der Verweis auf eine ähnliche Formulierung Innozenz’ III. 1099 Prinzing, Brief (1973), 411. Vgl. zur Frage der Insignien ebd., 421 / Anm. 6. 1100 Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 21, S. 34: οὗτος οὐ μικρῶς τῷ βασιλεῖ ἀντεφέρετο ᾽Ιωάννῃ. ὁ μὲν γὰρ βασιλεὺς ἠξίου αὐτὸν τῶν δευτερείων μετέχειν τῆς βασιλείας καὶ τῆς χώρας αὐτοῦ ἐγκρατῆ εἶναι καὶ κατ᾽ οὐδὲν ἄλλο ὑπείκειν αὐτῷ∙ ὁ δὲ ἀντέβαινε στερεώτερον („Damit [scl. mit der Übernahme kaiserlichen Zeremoniells und der kaiserlichen Ämterhierarchie] aber geriet er in einen starken und gefährlichen Gegensatz zu Kaiser Johannes. Es war nämlich der Wunsch des Kaisers, Theodor solle in seinem Gebiet durchaus Herrscher sein und nur in einer Hinsicht sich ihm unterordnen, darin nämlich, dass er im Kaiserreich den zweiten Platz einnehme; doch Theodor widersetzte sich dessen Wunsch immer nachdrücklicher“). 1101 Vgl. grundsätzlich die jüngsten Sammelbände zur Thematik ‚Virtuelle Räume’ und ‚Imaginäre Räume’. Vgl. im Folgenden eine der besten Zusammenfassungen bei Völker, Medien (2010).

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bestimmte Charakteristika des Kaisertums besser zu fassen. Bereits Aristoteles hatte Aussagen zum Abwesenden als das das Anwesende bestimmende Prinzip getroffen.1102 Auch Thomas von Aquin tätigte Aussagen, die sich für die Erfassung der Virtualität fruchtbar machen lassen. Für ihn geht die Form „dem Seienden voraus, wird jedoch nicht als starr und unveränderlich gedacht, sondern als ein unendliches Reservoir an Potenzen“1103. Mit Thomas kann man Virtualität als Wirkkraft verstehen, die dem Stoff Form und somit Wirklichkeit verleiht. Dabei ist die Virtualität „nicht vorgängig oder realer als der Stoff, sondern nur in Gleichzeitigkeit mit diesem als Bewegung existent“1104. Bei Leibniz wird das Virtuelle in einer, verglichen mit Aristoteles und den Scholastikern unkonventionellen Weise begriffen, nämlich als etwas selbstständig Aktives, eine aus sich heraus wirkende Kraft, die ohne ein externes erstes Bewegendes auskommt.1105 Im Gegensatz hierzu ist das Virtuelle bei Luhmann „eng verbunden bis bedeutungsgleich mit dem Möglichen (…). Luhmanns Medium ist ein virtuelles Davor und Während. Es ist zugleich virtuell und Möglichkeits-bereitstellend, denn ‚aktuell kann nur sein, was auch möglich ist.‘ Was aktuell ist, geht jedoch von etwas Virtuellem aus, in welchem die Möglichkeit eben jener Aktualität angelegt ist. In jener Aktualität, in der Form, wird die vorausgegangene Virtualität wahrnehmbar“1106. Der Richtung der letzteren, Luhmannschen Auffassung von Virtualität soll hier vom Ansatz her gefolgt werden. Virtualität bezeichnet also nicht unbedingt die Eigenschaft der Fiktionalität und bildet den Gegensatz zur Realität, Virtualisierung bedeutet die Tendenz, reale Phänomene in den Bereich des Möglichen, des Beanspruchten, allerdings nicht zwangsläufig Fiktiven zu überführen. Richten wir nun unseren Blick nochmals zurück und suchen wir die bislang umrissenen Charakteristika des Kaisertums mit dem Konzept der Virtualität zu verbinden. Wie bereits anhand der Weltherrschaftsansprüche gesehen, waren auch dem römisch-antiken Kaisertum hinsichtlich seines Verhältnisses zum Anspruchsraum „Außen“ des eigentlich unbegrenzten imperium sine fine virtuelle Elemente eigen.1107 Innerhalb der Reichsgrenzen (dem Möglichkeitsraum) galt der (Haupt)Kaiser jedoch als unumschränkter Herrscher. In der Spätantike und insbesondere im byzantinischen Bereich wurde diese Differenz von einer weiteren Grenze zwischen physisch-realer Herrschaft und Virtualität ergänzt: Die Herrschaftsansprüche bezogen sich auf das gesamte Reich (Anspruchsraum), während die Herrschaft nur in einem Teilbereich verwirklicht werden konnte; jedem Kaiser war die Aufgabe gestellt, zur Deckungsgleichheit beider Bereiche beizutragen. Das byzantinische Kaisertum blieb – trotz zunehmend nebulöser Vorstellungen über die Beschaffenheit der „zeitweise verlorenen“ Reichsgebiete – doch weitaus „rea1102 1103 1104 1105 1106 1107

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, lib. 5, c. 12, S. 133–135 und lib. 7, c. 7–lib. 9, c. 10, S. 176–241. Völker, Medien (2010), 72 in Anlehnung an Thomas von Aquin, Über das Sein, 18. Völker, Medien (2010), 74. Völker, Medien (2010), 107. Völker, Medien (2010), 299 in Anlehnung an Luhmann, Kunst (1995), 174. Vgl. oben, Abschnitt ‚Außen und Innen‘.

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listischer“ als das westliche Kaisertum, dessen Möglichkeitsraum stark schwankte und dessen Anspruchsraum recht diffus blieb. Die byzantinischen Kaiser durchdrangen weiterhin den Anspruchsraum durch Herrschaftskonzeptionen und verteidigten ihn gegen konkurrierende Mächte, auch deshalb blieb das imperiale Erbe hier lebendig. Die hiermit jedoch vorhandene Tendenz zur Virtualisierung des Kaisertums entsprach in gewissem Sinn dem Rückzug der byzantinischen Armee in befestigte Städte und der Vermeidung einer Entscheidungsschlacht.1108 Das Virtuelle muss sich nicht an der Realität prüfen lassen, es darf nur nicht fiktiv, d. h. es muss möglich sein. Dem westlichen Kaisertum fehlte hingegen seit seiner Wiederbegründung durch Karl den Großen lange Zeit gewissermaßen die territoriale Verankerung, es war „virtueller“, was auch seine große Mobilität in räumlicher und zeitlicher Hinsicht erklärt. Gewissermaßen war das Territorium Sache des Königtums, das Kaisertum selbst bestand nur aus, in der Hauptsache kirchlich definierten, Funktionen – und diese waren nebulös genug. Die Probleme des Kaisertums begannen, wenn die Grenze zwischen Virtualität und Realität überschritten und Konvertierungsleistungen erbracht werden mussten – in den Worten Bernd Schneidmüllers1109: Wenn sich das Kaisertum von einer Anspruchs- zu einer Ordnungsfigur wandelte. Der gewaltige Umfang der kaiserlichen Ansprüche konnte dann auch zu gewaltigen Konflikten führen. Dem lateinischen Kaisertum waren bereits bei seiner Etablierung höchst virtuelle Züge eigen. Dem Anspruchsraum der kaiserlichen Herrschaft und den mit ihm verbundenen geplanten Vasallenherrschaften entsprach nie eine reale Herrschaftsdurchdringung, selbst unter der stabilsten Phase des Reiches unter Kaiser Heinrich konnte nur eine teilweise Deckung realisiert werden.1110 Der Möglichkeitsraum der lateinischen Kaiserherrschaft blieb wohl bis auf eine kurze Anfangsphase auf die Gebiete des ehemaligen byzantinischen Reiches beschränkt. Mit dem Tod Heinrichs driftete der Anspruchsraum immer mehr in die Virtualität ab, bevor er schließlich mit der Rückeroberung Konstantinopels unter Balduin II. und seinen Nachfolgern in die Sphäre vollkommener Virtualität überführt wurde. Mit dem Begriff der Virtualität lassen sich zentrale Charakteristika des Kaisertums am besten umschreiben: seine Tendenz zum Diffusen, die allerdings keineswegs mit Fiktionalität gleichzusetzen ist, seine eigentümliche Attraktivität, die auch dadurch bedingt ist, dass der Anspruchsraum kaiserlicher Herrschaft viel größer ist als bei allen 1108 Lilie, Einführung (2007), 208f. 1109 Schneidmüller, Kaisertum (2012), 10. 1110 Lock, Franks (1995), 6f.: „The Latin empire claimed suzerainty over the whole of the Latin Aegean, known collectively as Romania. In practice it was seldom exercised outside Thrace and more usually confined to the city of Constantinople and its hinterland (…) In turn this meant that its rulers were never entirely masters in their own house and never attained that status in the west to which their rank of emperor might have entitled them (…) For the rest, their suzerainty consisted in underpinning the Latin claim to the Aegean, a role which they could exercise as well in exile in Italy as they could in Constantinople”.

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I. Konzeptionen des Kaisertums

anderen Formen weltlicher Herrschaft sowie die Affinität kaiserlicher Herrschaft zum imperialen Erbe.

II. Imperiale Ordnungen

Man könnte es nun dabei belassen, nur die Legitimationsgrundlagen und Ausdrucksformen kaiserlicher Herrschaft betrachtet zu haben. Dies würde auch durchaus einer bestimmten Richtung der Forschung entsprechen, die der Inszenierung den höheren Stellenwert gegenüber der Ausübung von Herrschaft zugesteht, ja zum Teil beide als identisch ansieht. In gewissem Sinn ist diese Forschungstradition Reaktion auf den in der Vergangenheit meist sehr prominent vertretenen Konnex von „Idee“ und „Wirklichkeit“ oder vereinfachend von Kaisertum und Macht.1111 Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit soll ein Mittelweg angestrebt und nach der Wirkung bestimmter Ordnungsvorstellungen, der Etablierung und dem Zerfall bestimmter Ordnungskonfigurationen gefragt werden. Nur so lässt sich die Konzeption Kaisertum nicht nur in ihrer inszenativen Dimension fassen, sondern auch in ihrer Bedingtheit durch die entsprechenden Herrschaftsverbände, ihrer Stellung und Wirkung in „der Welt“. Dies entspricht durchaus auch der Wahrnehmung der Zeitgenossen: Bereits aus mittelalterlicher Perspektive musste ein Herrscher – sei es ein König oder ein Kaiser – stets in Entsprechung zu seinem Herrschaftsbereich, dem Reich, gedacht werden.1112 Die Kategorie „Reich“ fand und findet sowohl in einschlägigen mediävistischen Untersuchungen der verschiedensten Teildisziplinen1113 ebenso Berücksichtigung wie in globalgeschichtlichen und politikwissenschaftlichen Publikationen1114. Was macht aber

1111 Vgl. auch forschungsgeschichtlich interessant etwa Below, Kaiserpolitik (1927), insb. S. 39–42. 1112 Vgl. für das frühe 14. Jahrhundert Jäschke, Reichskonzeptionen (1982); vgl. auch zum Verhältnis von Kaisertum und „Nation“ Beumann, Bedeutung (1987). 1113 Vgl. grundlegend zu mittelalterlichen Reichskonzeptionen etwa Folz, idée (1953); Barraclough, Reich (1957); Schmidt-Chazan, Idée (1990); Schmidt-Chazan, Idée (1991); Chazan, Empire (1999). 1114 Vgl. exemplarisch etwa Münkler, Imperien (2006); vgl. auch Hurlet / Balard / Beaujard u. a., Empires (2008) und Alcock / D’Altroy / Morrison u. a., Empires (2001); vgl. auch die Beiträge in Bosbach / Hiery, Imperium (1999), darin u. a. Fößel, Tradition (1999); vgl. ebenso mit Rückbindung an Souveränitätsdiskurse und Raumkonzepte Benton, Sovereignty (2010); Darwin, Traum (2010); vgl. für das 19. Jahrhundert Leonhard / Hirschhausen, Empires (2009); vgl. auch die Beiträge in Kasinec / Polushin, Empires (2002) und die Überblicke bei Pomper, History (2005); Reynolds, Empires (2006). Vgl. zur Antike allgemein Morris / Scheidel‚ Dynamics

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ein Reich bzw. ein Imperium1115 aus? Idealtypisch können als ein Reich definierende Maßstäbe genannt werden: 1. Die monarchische Spitze; 2. Die Zusammenarbeit von Thron und Altar; 3. eine umfangreiche Bürokratie; 4. Schriftlichkeit; 5. zentral eingezogene Abgaben oder Steuern; 6. Vielfalt der Provinzen; 7. eine geringe Partizipation der Bürger.1116 Im Gegensatz zu solch allzu weitreichenden Definitionen will ich „Imperium“ / “Reich“ mit einer eher engen begrifflichen Konzeption und mit auf den spätantikhochmittelalterlichen Zeitraum begrenzter Reichweite fassen: Ein Imperium ist eine Welt für sich. Ein gewisses Maß an Selbstreferentialität gehört folglich zur Konzeption „Imperium“ hinzu. Laut der Historien des Polybius wird ein Imperium vor allem durch zwei Faktoren zu einem solchen: durch die Ausdehnung (möglichst die drei Weltteile der Oikumene) und die Dauer.1117 Quantitative Ausdehnung bedeutet vor allem die Herrschaft über ein weites Gebiet und viele Völker. Welche Qualität diese Herrschaft hat, ist eine andere Frage: direkte Verwaltung durch Amtsträger oder „indirect rule“ durch Lehnsleute oder Vertragspartner, Steuererhebung oder mehr oder minder symbolische Tributzahlungen. Die Herrschaft kann sich gar stark in die Richtung Virtualität, zum bloßen Herrschaftsanspruch in Form leerer Titel verflüchtigen. Dennoch ist das zentrale Kennzeichen eines Imperiums die – mindestens pro forma – beanspruchte imperiale Ordnungsfunktion. Was ist für die Aufrechterhaltung eines Reiches notwendig? Die Ordnung wird vor allem durch die Entsendung bzw. Einsetzung von Amtsträgern und eine einigermaßen einheitliche Rechtssetzung aufrechterhalten. Abgesichert werden diese Säulen durch starke bewaffnete Kräfte – im Mittelmeer eine schlagkräftige Flotte –, finanziert durch Steuern und Tribute. Das Imperium ist aber nicht nur „geknechteter Zwangsverband“. Wichtig für unser Generalthema ist die Ausrichtung der „Peripherie“ auf das „Zentrum“: Die „Peripherie“ wird nicht nur aktiv geprägt und durchdrungen, sondern orientiert sich auch – gleichsam passiv – am scheinbar mächtigeren Vorbild. Gerade deshalb muss die überragende Macht des „Zentrums“ immer wieder aktualisierend inszeniert werden: durch Münzen, Urkunden und Gesetzessammlungen; durch mächtige Heere und prächtig gekleidete Amtsträger. Überhaupt ist stetige Kommunikation zentral für die Aufrechterhaltung eines Reiches: Dies betrifft nicht nur Politik, Diplomatie und Militär, sondern auch insbesondere Wirtschaftsstruktur und Religionsorganisation – vielleicht die dauerhaftesten Strukturen eines Reiches. Die Kategorie des Reiches und mit ihm die des Imperium erweist sich jedoch für die vorliegende Arbeit in vierfacher Hinsicht als unterkomplex: Erstens wird ein Reich – (2009). Zum römischem Imperium: Lintott, Imperium (1993), insb. S. 22–42 zur internen Struktur. Vgl. zu den Seestädten etwa Mitterauer, Stadtstaaten (2006). 1115 Im Folgenden werden beide Begriffe weitgehend synonym gebraucht, obwohl man sie tendenziell unterscheiden kann: Ein Imperium umfasst einen größeren Raum als ein Reich. 1116 Vgl. zu den Kriterien Nolte, Imperien (2008), 14. Vgl. hierzu Burkhardt, Heritage (2013), 150. 1117 Polybius, Historiae 1. Ed. Büttner-Wobst, lib. 1, c. 2, S. 2.

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trotz aller Versuche, diesen Konnex zu überwinden, doch häufig in seiner territorialen Dimension gedacht.1118 Hieraus folgen weitere Probleme: die Überbewertung räumlicher Grenzen, die Vorstellung einer geschlossenen Gebietsherrschaft und die Unterbewertung der personalen und multisektoralen Dimension imperialer Herrschaft. All dies lässt sich aber schlecht mit den Realitäten des Mittelmeerraumes im Allgemeinen und den Besonderheiten der mediterranen Geschichte des 12. und 13. Jahrhunderts in Einklang bringen. Hier trifft man konzeptionell auf die Schwierigkeit, selbst innerhalb kleinerer Räume Grenzen zu ziehen und auf die hohe Bedeutung – aber eben auch hohe Volatilität – persönlicher Beziehungen und Bindungen und die je nach betrachtetem Sektor häufig anders zu bewertenden Identitäten, Rollenverständnisse und Loyalitäten – kurz auf die „Unbestimmtheit“ und die Gleichzeitigkeit mehrerer Zustände.1119 Entgegen einer aus dem Territorialprinzip folgenden Behauptung eines „Alleinvertretungsanspruchs“ können zweitens – wo gemeinhin nur in Konkurrenz von „Reichen“ gedacht wird – mehrere „imperiale Komplexe“ zur gleichen Zeit und am gleichen Ort bestehen und sich gegenseitig durchdringen, sich in Konkurrenz zueinander befinden, friedlich koexistieren oder sogar eine symbiotische Beziehung miteinander eingehen. Der Schlüssel zum Verständnis dieser auf den ersten Blick seltsam anmutenden Vorstellung liegt in der unterschiedlich ausgeprägten Multisektoralität verschiedener imperialer Komplexe: Sie können – müssen aber nicht – schwerpunktmäßig einen oder mehrere Sektoren (z. B. Politik, Wirtschaft, Religion) der Gesellschaft umfassen. „Wirtschaftsimperien“ oder religiöse Großorganisationen können beispielsweise durchaus innerhalb eines politischen Imperiums agieren, dieses geradezu durchdringen. Ein klassisches Beispiel wäre zum einen das venezianische Handelsimperium des Mittelmeerraumes, zum anderen die römische Kirche mit ihren die Imperien durchdringenden und überspannenden Charakteristika. Drittens gilt es ebenso, zeitüberspannende Persistenzen sowohl politischer, wirtschaftlicher und religiöser als auch symbolischer, struktureller und personaler Art zu fassen, die auch nach dem Untergang eines Reiches im herkömmlichen Sinne bestehen bleiben und dazu führen können, dass imperiale Traditionen weitergegeben werden. Diese Erhaltungs- und Transferprozesse werden durch eine Fokussierung auf Imperien und deren Aufeinanderfolge nicht nur verdeckt, sondern geradezu negiert. Dabei sind diese Prozesse doch – etwa in Form von Translationslehren – fester Bestandteil mittelalterlicher Theorien.1120 Darüber hinaus zeigt sich auch viertens und mit den ersten drei Aussagen eng verbunden, dass sich imperiale Herrschaft nicht nur im Medium der politischen Machtausübung äußern kann, die mit einem Reich assoziiert wird, sondern auch in der theoretischen Reflexion, in Bauten, in der Wirtschaft und allen Formen der Herrschaftssymbo1118 Vgl. etwa Münkler, Imperien (2006), 16. 1119 Vgl. Horden / Purcell, Sea (2008), insb. S. 9–49. 1120 Vgl. oben, Abschnitt ‚Außen und Innen‘.

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lik. Sicherlich nahm die ältere Forschung hierauf Rücksicht, meist blieben jedoch die entsprechenden Kapitel zur „Staatssymbolik“ eigenartig getrennt von den Ausführungen zur politischen Geschichte der Imperien oder deuteten nur vage mögliche Verbindungen an. Darüber hinaus führte eine Fixierung auf die Kategorien „Reich“ und „politische Herrschaft“ zur Vernachlässigung der symbolischen Sprache anderer Formen imperialer Herrschaft, die sich aber gerade aus dem Fundus kaiserlicher Zeichen bediente. Deshalb soll anstatt der Kategorie „Reich“ in der vorliegenden Arbeit jene der imperialen Ordnung Anwendung finden. Dieser Begriff wurde in der Forschung bereits verschiedentlich mit unterschiedlichen Konnotationen angewendet.1121 Hier soll er in spezifischer Weise verstanden werden: Eine imperiale Ordnung lässt sich als ein Komplex aus Ressourcen, Strukturen und Konzeptionen großräumiger Herrschaft begreifen. Eine imperiale Ordnung kann von Personen bewusst getragen werden und deren Tätigkeit beeinflussen, sie kann also Ausdruck des Bewusstseins und Handelns für ein großräumiges Ganzes sein („Kämpfen für Venedigs Ruhm“). Dies muss allerdings nicht der Fall sein, d. h. eine imperiale Ordnung kann auch unreflektiert wirken (Handelsschifffahrt). Beeinflusst werden diese Ordnungskomplexe durch naturräumliche Gegebenheiten, gesellschaftliche Dynamiken und das Handeln Einzelner. Kaiserliche Ordnungsvorstellungen und kaiserliche Funktionen können, müssen aber nicht Teil der jeweiligen imperialen Ordnung sein. Auf den genauen Zusammenhang zwischen Kaisertum und imperialer Ordnung wird im Folgenden noch einzugehen sein. Wie bereits erwähnt, können sich imperiale Ordnungen nach den sie jeweils dominierenden Sektoren – Politik, Wirtschaft, Religion – unterscheiden. Ein „Reich“ im herkömmlichen Sinn entsteht, wenn die politischen, wirtschaftlichen und religiösen Ordnungen eng gekoppelt werden. Wie lassen sich aber imperiale Ordnungen des hochmittelalterlichen Mediterraneum operationalisieren? Was macht eine solche imperiale Ordnung aus? Sechs Kriterien könnten einen solchen „übermächtigen“ Herrschaftsverband definiert haben. Diese Kriterien umfassen die Dimensionen der Zuschreibung, der Herrschaftsstrukturen und der Herrschaftsziele: Dazu gehört erstens die Möglichkeit der Leiter einer imperialen Ordnung, glaubhaft mit einem überragenden militärischen, wirtschaftlichen oder sakralen Potential zu drohen. Entscheidend für den Aufbau und den Erhalt einer imperialen Ordnung scheint nämlich die Möglichkeit gewesen zu sein, im Ernstfall konkurrierende Ordnungskonfigurationen zu stören. Mit diesem ersten Punkt eng verbunden ist ein zweites Kriterium: zugeschriebener überragender Reichtum. Gerade in den verschiedenen Quellen, die eher dem „Verwaltungsschriftgut“ zuzuordnen sind, wird deutlich, welch wichtige Rolle das ökonomische Potential spielte. Es war der entscheidende Nährboden, zugleich aber auch der entschei-

1121 Münkler, Imperien (2006), 127–166.

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dende Antrieb zum Aufbau einer imperialen Ordnung.1122 Mag auch die weiträumige Herrschaft viele fiktive Elemente beinhaltet haben, so entschied letztlich doch der Reichtum über die Möglichkeiten, etwa militärische Entscheidungen herbeizuführen, die Verkehrsinfrastruktur bereitzustellen, Privilegien einzuwerben sowie durch Tribute Feindschaften zu sedieren. Wo der Reichtum lokalisiert wurde, im Zentrum oder der Peripherie, ist bis zu einem gewissen Grad unerheblich. Wichtig ist vielmehr, ob er als im entscheidenden Moment mobilisierbar angesehen wurde. Ein drittes Kriterium erweist sich ebenso als ausschlaggebend: die Seemächtigkeit durch die Möglichkeit, eine starke Flotte in Anspruch nehmen zu können. Gerade das Potential Kommunikation – insbesondere mit den Sonderformen der militärischen Auseinandersetzung und des Handels – über See aufrechtzuerhalten, war für das Mediterraneum von nicht zu überschätzender Bedeutung. Gewiss waren auch Großreichbildungen in der mediterranen Peripherie durch Landmächte möglich, auf Dauer konnte jedoch hier keine großraumübergreifende Ordnung ohne Indienstnahme einer Flotte existieren.1123 Das vierte Kriterium ist das der faktischen und dauerhaften Herrschaft, d. h. ein effektiver Einzug von Abgaben bzw. Erhalt von Unterstützung und sicherer Durchzug der eigenen Verwaltungsträger; mindestens jedoch „Unterwerfungen“, etwa durch einen Lehnseid in einem weit ausgedehnten Gebiet, das verschiedene größere politische Einheiten (Völker, Länder, Kronen) umfasste.1124 Gerade dieser Faktor – insbesondere die Frage, ob eine effektive Ressourcenmobilisierung möglich ist – kann als zentraler Indikator dafür dienen, ob eine imperiale Ordnung zu einem bestimmten Zeitpunkt noch „galt“ oder bereits in das Stadium des imperialen Erbes übergetreten war. Wurden keine Ressourcen mehr entsprechend den jeweiligen Ordnungsvorstellungen akkumuliert, transportiert und ausgetauscht, ergab sich auch keine Möglichkeit mehr, den Reichtum zu mobilisieren, der für den Erhalt der Ordnungskonfiguration notwendig war. Dieser Faktor deutet auf ein weiteres wichtiges Charakteristikum imperialer Ordnungen hin: Auch eine politische imperiale Ordnung musste sich finanzieren, und der beste Weg war die enge Koppelung an eine wirtschaftliche imperiale Ordnung. Fünftens gilt es, einen weiten Horizont der politisch-diplomatischen bzw. wirtschaftlichen Beziehungen auch außerhalb des engeren „Herrschaftsverbandes“ zu berücksichtigen: Bereits die für eine imperiale Ordnung entscheidenden großraumüberspannnenden Kommunikations- und Austauschbeziehungen implizieren, dass dieses Netzwerk nicht an den „Grenzen“ endete, sondern einen breiteren Gürtel der „Einflusssphäre“ umfasste. Ihre Parallele finden diese Gedanken in der bereits angeführten Unterscheidung von „Anspruchsraum“ und „Möglichkeitsraum“ kaiserlicher Herrschaft. 1122 Vgl. etwa mit interessanter, künftig sicher gewinnbringend neu zu bearbeitender Fragestellung Chone, Handelsbeziehungen (1902), insb. das Fazit auf S. 128–132. 1123 Vgl. für das frühmittelalterliche Mediterraneum Eickhoff, Seekrieg (1966). 1124 Hiermit ist keine Aussage über eine wie auch immer geartete Territorialherrschaft getroffen.

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Mit diesem Kriterium eng verbunden ist sechstens das Ziel der Herrschaft: mindestens faktische sektorale Hegemonie in einem bedeutenden Teil des Mittelmeerraumes. Dieser Faktor deutet auf ein wichtiges Kennzeichen imperialer Ordnungen hin: Ihnen waren expansive und durchaus auch aggressive Züge eigen. Dies sollte jedoch nicht dazu führen, anachronistische Parallelen zu ziehen. Die imperialen Ordnungen des Hochmittelalters sind nicht mit Rhodesischen Ambitionen vergleichbar. Sie entzogen sich eher einer Globalsteuerung, sie sind nicht durch strenge Befehlshierarchien geprägt, sondern vielmehr netzwerkartige Konsensverbände. Entscheidend für imperiale Ordnungen ist also das Potential und die Übereinkunft seiner Mitglieder, ökonomische und logistische Ressourcen zu mobilisieren und abzuschöpfen, um eine weiträumige Herrschaft zu etablieren. Graduelle Unterschiede der Ausformung einer imperialen Ordnung bestanden je nach der Art des vorherrschenden Sektors. So waren etwa für die durch den wirtschaftlichen Sektor dominierten imperialen Ordnungen die Seemächtigkeit, der weite Beziehungshorizont und das Ziel der mediterranen Vorherrschaft ein wichtiges Element; der oben genannte Punkt vier der dauerhaften Herrschaftsorganisation konnte jedoch durch dauerhafte Privilegienkonfiguration ersetzt werden. Ebenso konnte der zugeschriebene Reichtum durch zugeschriebene Vorteile des Handels substituiert werden. Das militärische Potential spielte eine bedeutende, die wirtschaftliche Expansion sekundierende und ermöglichende, aber keine entscheidende Rolle. Politisch und wirtschaftlich dominierte Formen der imperialen Ordnungen blieben zum einen sicherlich insoweit in getrennten Sektoren, dass sie auf einem geographischen Gebiet nicht nur koexistieren, sondern auch kooperieren konnten. Allerdings tendierten sie zur engen Koppelung bzw. zur Strukturergänzung, d. h. politische Macht suchte bei Zeiten auch Kontrolle über die Ökonomie zu erlangen, das Wirtschaftsimperium hingegen mitunter auch politische Macht. Eine entsprechende Koppelung hatte jedoch immer auch Rückwirkungen auf die Konfiguration des entsprechenden Herrschaftsverbandes. Diese Fragestellung soll im Folgenden v. a. im Hinblick auf das Beispiel Venedigs Behandlung finden. Eine dritte Form der imperialen Ordnung, die sich durch eine Dominanz des religiösen Sektors auszeichnete, soll hier nur am Rande berücksichtigt werden. Auch für diese Form, die etwa mit dem Kalifat von Bagdad oder der römischen Papstkirche gleichzusetzen ist, galt, dass enge Koppelungen zum politischen und wirtschaftlichen Bereich erfolgen konnten. Insbesondere im Bereich des lateinischen Kaiserreiches findet sich eine entsprechende Überschneidung verschiedener imperialer Ordnungen. Wie ist es nun aber um die Wechselwirkung von Kaisertum und imperialer Ordnung bestellt? „Kaisertum“ war zunächst ein herrscherlicher Rang, eine Legitimationsgrundlage für einen Herrscher. Der Herrschaftsverband, dem er vorstand, ist hierdurch gleichsam „verkaiserlicht“, ohne dass sich etwas an den Grundstrukturen und dem Potential ändern muss. Ein Beispiel: Kastilien wurde nicht ein mächtiges Imperium, nur weil sein König zeitweise den Kaisertitel führte. Und auch für die Herrschaftsstruktur des rö-

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misch-deutschen Reiches änderte die Kaiserkrönung eines Königs zunächst wenig. Umgekehrt gab es jedoch bestimmte Personen, die ausgesprochen mächtigen Herrschaftsverbänden vorstanden. Ein solcher übermächtiger Herrschaftsverband soll als imperiale Ordnung bezeichnet werden, zunächst unabhängig von der Frage, ob sein Oberhaupt den Kaisertitel führte. Zur kaiserlichen Würde konnten generell zwei Wege führen: Erstens trat man im weitgehenden Sinne als „Erbe“ in diesen Rang ein – über die dynastische Erbfolge oder die Eroberung eines bestimmten Ortes. Das Kaisertum war diesbezüglich ein ausgesprochen wirksames Instrument der Statuswahrung, die Würde konnte sich geradezu als losgelöst von einem Reich erweisen. So entstanden dann Denkfiguren wie Titularkaiser oder Kaisergeschlechter.1125 Wichtig ist jedoch, dass auf Dauer die Mittel vorhanden sein mussten, um den Rang – zumindest gegenüber den eigenen Anhängern – glaubhaft zu inszenieren. Zweitens war in anderen Fällen die Koppelung von Kaisertum und Macht noch enger: So gibt es einige Fälle, in denen die Leiter eines übermächtigen, weit ausgedehnten Herrschaftsverbandes oder die Beherrscher besonderer Orte begannen, kaiserliche Insignien und Ordnungsvorstellungen in Anspruch zu nehmen und mitunter auch den kaiserlichen Titel zu führen, um ihrer besonderen Dignität – oder eben ihrer Protosouveränität (d. h. keinen über sich anzuerkennen) – Ausdruck zu verleihen. Die kaiserlichen Zeichen dieser Aufsteiger waren meist byzantinischen Ursprungs, wurden jedoch auch verändert und eingepasst. Nun war das Kaisertum aber eine ausgesprochen konservative Angelegenheit, brauchte man doch für die Kontinuitätsstiftung bestimmte Legitimationsquellen und Spezialisten, die diese erschlossen. Im Westen gelang es Usurpatoren und Aufsteigern trotz aller Bemühungen ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr, die Ranggrenze zum Kaisertum zu überschreiten. Es setzte sich v. a. aufgrund der maßgeblichen Rolle des Papsttums eine kaiserliche Monarchie durch.1126 So ergab sich die interessante Konstellation, dass im Westen – ganz anders als im Osten – praktisch keine kaiserliche Herrschaft neben dem Kaiser existierte. Allerdings gab es einige kaisergleiche Herrscher. Die Liste ist lang und reicht von den normannischen Königen Siziliens über manche Könige der Iberischen Halbinsel bis zu den Königen Jerusalems, aber auch den Dogen Venedigs und den Päpsten.

1125 Vgl. etwa Engels, Gottfried (1992), 334–345; vgl. zu Gottfried von Viterbo Dorninger, Gottfried (1997), 30–59. 1126 Bosbach, Monarchia (1988), 19–34.

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II.1 Realtypen imperialer Ordnungen Auf welche Herrschaftsverbände trafen nun aber die Kriterien einer imperialen Ordnung zu? Bei aller Vorsicht lassen sich im 12. und 13. Jahrhundert fünf Realtypen imperialer Ordnungen identifizieren, die diesen Kriterien entsprechen: 1. Das byzantinische Reich vor 1204; 2. Zeitweise die arabischen Herrschaften des Mittelmeerraumes; 3. Der Herrschaftsverband um das imperiale Königtum der normannischen Herrscher; 4. Das römisch-deutsche Imperium unter Heinrich VI. und Friedrich II.; 5. Die Seeimperien der italienischen Handelsstädte (Venedig, Genua). Mit Einschränkungen folgen 1. Das Reich unter dem imperialen Königtum Konrads III. und dem Kaisertum Barbarossas; 2. Spanische Reiche (etwa Aragon und Kastilien); 3. Das Königreich Jerusalem; 4. Die Nachfolgereiche des Byzantinischen Kaiserreiches; 5. Das lateinische Kaiserreich von Konstantinopel; 6. Der Herrschaftsverband um das imperiale Königtum Ludwigs des Heiligen; 7. Das Papsttum. Betrachten wir die einzelnen Fälle genauer.

Byzanz vor 1204 Trotz mancher Schwächen kann man das byzantinische Reich vor 1204 zweifellos zu den imperialen Ordnungen zählen. Unter den Komnenenkaisern und insbesondere unter Manuel Komnenos hatte die politische Ordnung wieder an Kraft gewonnen.1127 Obwohl sich der Erfolg der kriegerischen Interventionen in Grenzen hielt, blieb der Eindruck des zugeschriebenen militärischen Potentials und des zugeschriebenen Reichtums ungebrochen.1128 Allerdings hatte die Substanz der militärischen Macht des byzantinischen Reiches im 12. Jahrhundert recht kontinuierlich abgenommen, was knapp formuliert auf abnehmende Ressourcen und strukturelle Probleme (teilweiser Verzicht auf Flottenmacht, stark intensivierter Rückgriff auf Söldner1129) zurückzuführen ist. Gerade 1127 Vgl. den abwägenden Überblick bei Magdalino, Empire (1993), 1–26. 1128 Vgl. zum Zusammenhang von Reichtum und Macht in byzantinischer Ansicht Alexander, Strength (1962); vgl. zur Kriegsfinanzierung Bartusis, Army (1992), 139–212; vgl. für infrastrukturelle Fragen Haldon, Warfare (1999), 107–138. 1129 Lock, Franks (1995), 3; vgl. zu den Warägern des 12. Jahrhunderts Blöndal, Varangians (1978), 122–166.

II.1 Realtypen imperialer Ordnungen

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der weitgehende Ersatz einer eigenen Flotte durch die Dienste der Seestädte sollte sich 1204 als hochproblematisch erweisen und die Geltung der imperialen Ordnung ernsthaft gefährden.1130 Der Wohlstand des byzantinischen Kaiserreiches mochte zwar insgesamt im Laufe des 12. Jahrhunderts abgenommen haben, er war jedoch im Vergleich zu vielen europäischen Herrschaftsverbänden wohl noch zum Zeitpunkt der lateinischen Eroberung exorbitant hoch.1131 Durch westliche Händler und Söldner wurde die Nachricht des byzantinischen Reichtums in ihre Heimat getragen und mehrte dort nicht nur die Bewunderung, sondern auch Begehrlichkeiten.1132 Als problematisch sollte sich die abnehmende Effektivität des Herrschaftszugriffs erweisen, die nicht nur die Ressourcenakkumulation schwächte, sondern auch zu einer Verstärkung separatistischer Tendenzen führte, die zuvor eher folgenlose Usurpationen geblieben wären.1133 Auch im geschwächten Zustand konnte allerdings der weite Horizont wirtschaftlicher und politischer Beziehungen beibehalten werden.1134 Insbesondere die „verlorenen Gebiete“ im Westen und Osten des Reiches dienten wohl über die weiterhin bestehenden Kommunikationsnetzwerke als wichtige Lieferanten von Informationen und Ressourcen. Gleichwohl waren es vor allem die imperialen Ordnungen der Seestädte mit ihrem wirtschaftlichen Schwerpunkt, die der politischen imperialen Ordnung des byzantinischen Reiches zunehmend den materiellen Nährboden entzogen.

Die Nachfolgereiche des Byzantinischen Kaiserreiches Die Nachfolger des Byzantinischen Reiches, also die Reiche von Nikaia, von Epiros und Trapezunt konnten keine imperialen Ordnungen aufbauen.1135 Trotz gewisser Erfolge im militärischen Sektor wurde ihnen nie überwältigende Militärmacht zugeschrieben. Auch hinsichtlich ihres Reichtums blieben sie nur ein Abglanz byzantinischer Herrlichkeit. Das größte Manko stellte jedoch die mangelnde Seemächtigkeit dar, die nur von Nikaia ansatzweise ausgeglichen werden konnte – durch den Aufbau einer eigenen Flotte, aber auch durch Kooperationsabkommen mit den Genuesen, die 1130 Ahrweiler, Byzance (1966), 175–292; vgl. aber zur byzantinischen Flotte unter Manuel Komnenos Martin, Venetians (1988), 212f. 1131 Herrin, Collapse (1970). Vgl. aber Harvey, Expansion (1989); Hendy, Byzantium (1970). 1132 Lock, Franks (1995), 3. Zu den bedeutenderen Byzanzreisenden, die mit der Politik vor Ort in hohem Maße vertraut waren, gehörten auch Rainer und Konrad von Montferrat (beides Brüder Bonifaz’ von Montferrat). In gewissem Sinn waren sie Teil der tragenden Strukturen der imperialen Ordnung des byzantinischen Reiches. Vgl. hierzu unten, Abschnitt ‚ II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen‘. 1133 Vgl. hierzu Oikonomides, décomposition (1992), insb. S. XX 13–XX 22. 1134 Vgl. Laiou-Thomadakis, Economy (1980), die zwar schwerpunktmäßig das 13.–15. Jahrhundert behandelt, jedoch auf S. 177–179 auch Aussagen zu der in der vorliegenden Arbeit behandelten Zeit trifft. 1135 Vgl. grundlegend zu Nikaia Prinzing, Kaisertum (1992), insb. die Thesen auf S. 177–180.

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schließlich auch die Wiedereroberung von Konstantinopel ermöglichten. So begann Theodor I. Laskaris im Umfeld seiner Kaiserkrönung, eine Flotte aufzubauen und verschiedene Inseln zu erobern. Auch im Kampf gegen Heinrich um die kleinasiatischen Besitzungen setzte Theodor seine Schiffe ein. Diese Flotte stand unter dem Befehl des Giovanni Stirione, eines Italieners, der bereits unter Alexios III. eine Rolle gespielt hatte.1136 Diese wiedererstarkte Flottenmacht setzte den Lateinern auch unter Johannes III. Dukas zu.1137 Die faktische Herrschaft im eigenen Gebiet war in Nikaia hingegen recht gut gesichert, allerdings umfasste diese auch nicht mehrere Großräume, sondern war eher regional beschränkt. Ein weiter Horizont politisch-wirtschaftlicher Beziehungen kann am ehesten Nikaia bescheinigt werden. Insgesamt vollzog sich bei allen drei Nachfolgeherrschaften ein Wandel von großräumiger Herrschaft mit weit ausgreifenden Ambitionen zu einer eher regional geprägten Herrschaftsausübung. Die hiermit einhergehende „Protonationalisierung“ der jeweiligen Ordnungskonfigurationen hatte auch Auswirkungen auf die Ausgestaltung der jeweiligen Kaiserkonzeptionen, die kaum noch Elemente universaler Herrschaft umfassten.1138

Die arabischen Herrschaften Die verschiedenen arabischen Herrschaften können in der vorliegenden Arbeit nur als Vergleichsfälle herangezogen werden, um die Gesamtbefunde zu schärfen. Die arabischen Herrschaften zeichnen sich durch eine Art Zentrumsorientierung aus, die Ordnungsvorstellungen gruppieren sich auf das Kalifat / die Kalifate und materialisieren sich in Gestalt mächtiger Sultane / Emire.1139 Beide Herrscherformen nehmen wichtige Elemente einzigartiger Herrschaftsrepräsentation in Anspruch.1140 Gleichwohl gilt es die sich im Zeitverlauf als eher gering erweisende Kohärenz des weit ausspannenden arabischen Herrschaftskomplexes zu berücksichtigen. Das Kriterium der faktischen 1136 Gerland, Geschichte (1905), 112. 1137 Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 22, S. 36: ὁ γοῦν βασιλεὺς ᾽Ιωάννης παντοίως τοῖς Λατίνοις μαχόμενος τριήρεις τε κατεσκεύασε καὶ περὶ τὸν ῾Ελλήσποντον ταύτας ἔστησεν ἐν τόπῳ, ὃ ῾Ολκὸς ὀνομάζεται˙ καὶ ἦν πολλὰ παρέχων αὐτοῖς πράγματα, κατὰ δύσιν ὁρμώμενος καὶ λείαν τἀκείνων ποιούμενος πορϑῶν τε τὸ τῶν Μαδύτων ἄστυ καὶ τῆν Καλλιούπολιν καὶ τὰ παραιγιάλια πάντα τοῖς ᾽Ιταλοῖς ὑπόφορα ὄντα („Kaiser Johannes, der die Lateiner mit allen Mitteln bekriegen wollte, ließ Trieren bereitstellen und beim Hellespont an jenem Punkt auffahren, der Holkos heißt; und er bereitete ihnen große Schwierigkeiten, indem er sich nach Westen wandte und aus dem dortigen Besitz der Lateiner große Beute machte, die Städte Madyta und Kalliupolis zerstörte sowie das gesamte Küstengebiet unterwarf, das den Italienern tributpflichtig gewesen war“). 1138 Magdalino, Hellenism (1991), insb. S. XIV 16. 1139 Vgl. als allgemeiner Überblick in Halm / Haarmann‚ Geschichte (2004), S. 58–306. Vgl. knapp zum Vergleich Oesterle, Kalifat (2009), insb. S. 55–74. Vgl. auch Drews, Herrschaft (2012). 1140 Beihammer, Kraft (2004); Oesterle, Eine Investitur (2005).

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Herrschaft konnte deshalb nur zum Teil erfüllt werden. Dies hatte auch Rückwirkungen auf das militärische bzw. wirtschaftliche Potential, das dem imperialen Ordnungskomplex zur Verfügung stand. Über längere Zeiträume des 12. Jahrhunderts ist dieses für konzertierte Aktionen nicht allzu hoch einzuschätzen, die Seemächtigkeit gar in unserem Zeitraum gegenüber anderen imperialen Ordnungen als vernachlässigbar zu veranschlagen.1141 Zweifellos vorhanden war jedoch ein weiter Horizont politischer und wirtschaftlicher Beziehungen.1142 Als Schlussfolgerung bleibt festzuhalten, dass die arabischen Herrschaften nur zu bestimmten Zeiten der frühen Expansionsphase unter dem Signum der imperialen Ordnung zu betrachten sind. Danach erweist sich die Zentrumsorientierung und der faktische Herrschaftszugriff als so schwach, dass es sich vielmehr um mehrere Herrschaftsorganisationen zu handeln scheint, die gleichwohl in sich das imperiale Erbe trugen und somit auch das Ziel einer Hegemonie im Mittelmeerraum verfolgten.

Das normannische Königreich Die normannische Herrschaft Süditaliens war zum Teil auch Trägerin des imperialen Erbes arabischen Ursprungs. Gleichwohl vereinte sie auch Elemente des römischspätantiken und byzantinischen Erbes.1143 Insbesondere Verwaltung, Kirchenorganisation und Handelsstrukturen schienen als Träger jenes imperialen Erbes das Ziel der Normannenherrschaft auf eine mediterrane Expansion festzulegen.1144 Entsprechend finden sich unter Roger I., Roger II. und vor allem Wilhelm II. immer wieder Expansionsschübe. Getragen wurde diese imperiale Ordnung durch ein hohes militärisches und wirtschaftliches Potential, eine beachtliche Seemacht und eine recht fest gefügte faktische Herrschaft über einen weiten Raum.1145 Gerade zur Normannenzeit scheinen Ordnungsvorstellungen gereift zu sein, die ebenso unter den Staufern und den Anjou wirkten und die Königsherrschaft nicht nur in Richtung Osten und Süden expandieren ließen, sondern auch dazu führten, dass die Monarchen eine kaisergleiche Würde in Anspruch nahmen. Zur besonderen Qualität der normannischen Herrschaft trug auch das weit ausgreifende Beziehungsnetzwerk bei, das den besonderen „zwischen den 1141 Feldbauer / Liedl, Welt (1995), 40–77. 1142 Feldbauer / Liedl, Welt (1995), 14–39. 1143 Vgl. hierzu etwa Caspar, Roger II. (1904); Norwich, Normannen (1971), v. a. S. 85–106 zu König Roger II.; Schlichte, König (2005); Reisinger, Tankred von Lecce (1992); Kölzer, Königshof (2006); Plassmann, Normannen (2008). 1144 Burkhardt, Heritage (2013). 1145 Vgl. zur normannischen Seemacht ausführlich Cohn, Geschichte (1910); und zu deren Einsatz Bennet, Activity (1993); vgl. zur normannischen Expansion generell den Sammelband ‚I Normanni e la loro espansione‘ (1969), Sabbides, Byzantino-Normannico (2007) und insbesondere vergleichend Bennett, Normans (2003) mit den Aussagen zu Sizilien auf S. 96–102; Bünemann, Robert Guiskard (1997), insb. S. 9–165.

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Kulturen stehenden“ Charakter des normannisch-staufischen „Staatswesens“ prägen sollte.

Das römisch-deutsche Reich Es lohnt sich, an dieser Stelle das römisch-deutsche Reich als Gesamtheit – über die einzelnen Herrschaftspersönlichkeiten hinweg – zu betrachten. Nur dann werden verschiedene Dynamiken erkennbar, die sich im Laufe der Zeit ergaben. Das römisch-deutsche Reich unter Konrad III. und Friedrich Barbarossa lässt sich nur eingeschränkt als imperiale Ordnung ansehen. Sicherlich war die Möglichkeit vorhanden, mit überragendem militärischem Potential zu drohen, und gewiss wurde zum Teil eine dauerhafte und faktische Herrschaft im beanspruchten Wirkungsbereich etabliert. In mehrerer Hinsicht ist die entsprechende Herrschaftskonfiguration jedoch nicht als imperiale Ordnung zu bewerten: Als eingeschränkt muss der zugeschriebene überragende Reichtum angesehen werden; das Reich galt zwar als mächtig, seine zugeschriebenen Ressourcen waren jedoch nicht mit jenen des byzantinischen Reiches oder des normannischen Königtums zu vergleichen.1146 Ebenso waren die Seemächtigkeit und auch das Ziel der Hegemonie in Teilen des Mittelmeerraumes faktisch nicht vorhanden.1147 Die Beziehungen des Reiches waren zwar weit ausspannend, die Dichte des Informationsflusses in Richtung Mittelmeerraum hielt sich jedoch in Grenzen.1148 Mit der unter Heinrich VI. versuchten und unter Friedrich II. schließlich erfolgten Integration des normannischen Herrschaftsbereiches wurden sämtliche Kennzeichen einer imperialen Ordnung hingegen machtvoll unter Beweis gestellt.1149 Ungebrochen war der Reichtum, der insbesondere Friedrich II. zugeschrieben wurde, und selbstständig handelnd bewies die sizilische Flotte im 13. Jahrhundert mehrfach ihre Fähigkeiten.1150 Durch die Integration der normannischen Herrschaft entstand ebenso ein weit 1146 So war ja etwa erst die Gefangennahme Richard Löwenherz’ notwendig, damit Heinrich VI. ernsthaft die Eroberung des sizilischen Reiches in Kraft setzen konnte. 1147 Bereits Nikephoros Phokas soll gegenüber Liudprandi Relatio de Legatione Constantinopolitana. Ed. Becker, c. 11, S. 182) drohend über Otto I. gehöhnt haben: Nec est in mari domino tuo classium numerus. Navigantium fortitudo mihi soli inest, qui eum classibus aggrediar, bello maritimas eius civitates demoliar et, quae fluminibus sunt vicina, redigam in favillam. 1148 Für beides griffen die römisch-deutschen Herrscher offensichtlich immer wieder auf die Seestädte zurück. Vgl. Baer, Beziehungen (1888), insb. für die hier behandelte Zeit S. 69–120. Rösch, Venedig (1982) stellt wirtschaftliche Fragestellungen in den Vordergrund, bindet diese aber immer wieder an die Wechselwirkung mit den politischen Rahmenbedingungen; vgl. etwa S. 28–31. 1149 Vgl. in der langen Dauer die Darstellung von Baaken, Ius (1993), insb. S. 27–170. 1150 Vgl. zu den Kreuzzugsunternehmen Friedrichs II. und der Flottenexpedition gegen Malta unter dessen Herrschaft Cohn, Geschichte (1926), 21–41; vgl. auch Meier-Welcker, Militärwesen (1975), v. a. S. 23–31.

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ausspannendes Kontaktnetzwerk, das nun sowohl das Mediterraneum als auch den Bereich nördlich der Alpen umfasste. Ebenso kann den späten Staufern – bei aller Vorsicht der Bewertung klarer Pläne – das Ziel einer faktischen Hegemonie in Teilen des Mittelmeerraumes unterstellt werden.1151 Es war – soviel wurde deutlich – vor allem das imperiale Erbe der Normannenzeit, das der staufischen Herrschaft das entsprechende Potential zu einer imperialen Ordnung verlieh.

Die Seestädte Von einer ganz anderen Art waren die wirtschaftlich dominierten Ordnungen der Seestädte.1152 Venedig1153, Genua1154 und Pisa1155 lassen sich trotz aller Unterschiede – vor allem um 1200 – recht gut vergleichen. Ihre imperialen Ordnungen waren zwar wirtschaftlich dominiert, insbesondere Venedig sollte jedoch im Laufe der Zeit auch eine politisch dominierte imperiale Ordnung aufbauen. Dennoch ermöglichte die Tatsache, dass in diesen Ordnungen der wirtschaftliche Sektor dominierte, die Koexistenz dieser 1151 Vgl. abwägend Hucker, Weltherrschaftsgedanke (2008). 1152 Vgl. allgemein mit dem Schwerpunkt Palästina und Favreau-Lilie, Handelsniederlassungen (2005); vgl. auch als Überblick Ortalli‚ Genova (2001). 1153 Die Literatur zu Venedig im Hochmittelalter ist sehr zahlreich. Vgl. exemplarisch etwa Feldbauer / Morrissey, Venedig (2002), 22–78; Feldbauer / Morrissey, Weltmacht (2004), etwa S. 47–54; Dumler, Venedig (2001), 109–161; Daru, Histoire (2004), 116–220 und knapp Bec, Venezia (2003), 37–43; Hocquet, Venise (2002); Hocquet, Venise (2006), 311–318; Madden, Enrico (2003), 39–104; Rösch, Venedig (2000), 50–64; und knapp Wirtz, Anfänge (2009). Vgl. zum spannungsreichen Verhältnis von Venedig und Genua Origone, Genova (2006). Vgl. zur venezianischen Kolonie in Konstantinopel Ağir, stabilimenti (2006); Jacoby, Government (2006). Vgl. zum Übergang von der Stadt zum Reich Exenberger, Reiche (2007), v. a. S. 77–79 und Exenberger, Venedig (2006). Vgl. in Konnex zum „Mythos“ Venedig Crouzet-Pavan, Venise (2004) und zu der intensivierten Verschriftlichung in Venedig Fees, Stadt (2002), insb. S. 195–199. 1154 Vgl. für das 13. Jahrhundert immer noch Caro, Genua (1895); vgl. für die entscheidende Zeit des 12. Jahrhunderts auch Epstein, Genoa (1996), 54–95 und Kurowski, Genua (1990), 31–57; Heyck, Genua (1886); Jehel, Génois (1993). Vgl. zum Vierten Kreuzzug Fotheringham, Genoa (1910). Sicherlich hatte die Eroberung Konstantinopels den Genuesen einen gewichtigen Schlag versetzt. In der Folge suchten sie sich auf Korfu und Kreta festzusetzen. 1155 Vgl. allgemein Mitterauer / Morrissey, Pisa (2007); und unter dem Aspekt des Reiches Salvatori, Pisa (2002); vgl. für das westliche Mittelmeer Abulafia, Pisa (2003); Galoppini, Pisa (2003), zum 13. Jahrhundert auf S. 211f.; Petralia, Pisa e la Sicilia (2003); Petralia, Pisa e la Corsica (2003); und allgemein Renzi Rizzo, Pisa (2003). Vgl. für den östlichen Mittelmeerraum Balard, Pisa (2003). Vgl. zur inneren Organisation unter Konzentration auf das Konsulat Schaube, Konsulat (1888); zur Wirtschaft in geldgeschichtlicher Orientierung Baldassari, città (2003) und für die Beziehungen zu Ägypten Allmendinger, Beziehungen (1967); für das 12. Jahrhundert Balard, Notes (1999). Vgl. zur sakralen Untermauerung der Expansion im Wechselspiel mit der kirchlichen Hierarchie Ceccarelli Lemut, Mediterraneo (2003) und Matzke, Pisa (2003).

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II. Imperiale Ordnungen

Herrschaftsorganisationen innerhalb anderer, politisch dominierter imperialer Ordnungen des Mittelmeerraumes, die sie myzelartig durchdrangen – während sie sich untereinander härteste Auseinandersetzungen leisteten. „Imperial“ sind diese Herrschaftsorganisationen nicht nur wegen ihres mobilisierbaren ökonomischen und auch militärischen Potentials, sondern vor allem aufgrund ihrer Seemächtigkeit, die sie gerade auch zu einem wichtigen Träger der Kreuzzugsbewegung machte.1156 Gerade die Möglichkeit Venedigs, für den Vierten Kreuzzug Transportdienste bereitzustellen, resultierte auch aus einem der wichtigsten Kennzeichen imperialer Ordnungen: aus einem effektiven Herrschaftszugriff. Ohne diese Möglichkeit, Ressourcen zu akkumulieren und zu mobilisieren, wäre diese logistische Leistung nicht möglich gewesen.1157

Spanische Reiche: Aragon und Kastilien Im 13. Jahrhundert befand sich die Etablierung der christlichen Reiche der Iberischen Halbinsel als eigenständige Entitäten noch im Stadium des Prozesshaften; sie sollen deshalb gemeinsam betrachtet werden.1158 Es ist dabei notwendig, statt Zuständen eher Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen, da faktisch keine dieser Herrschaften die Kriterien einer imperialen Ordnung erfüllte. So konnte keiner der iberischen Könige mit einem überragenden militärischen Potential drohen, keinem von ihnen wurde überragender Reichtum zugeschrieben. Erst mit dem Ausgreifen Aragons in das Mittelmeer und dem teilweisen Eintritt in das imperiale Erbe des normannisch-staufischen Sizilien sollte diesen Erfordernissen zum Teil entsprochen werden. Ein bedeutendes Charakteristikum der sich ganz allmählich etablierenden imperialen Ordnungen war es, dass wichtige Teile der weite Räume überspannenden Herrschaft gleichsam an die Könige herangetragen wurden oder diese Herrschaften zunächst nur lose gekoppelt waren – man denke nur an Aragon und den Erwerb der Insel Sizilien oder die Katalanische Kompanie.1159 Entsprechend war auch die Herrschaft nicht durch eine dauerhafte Festi1156 Vgl. zum Wechselverhältnis von Seemächtigkeit und Herrschaft am Beispiel Venedigs etwa Doumerc, Exemplary (2003). 1157 Vgl. zum generellen wirtschaftlichen Hintergrund Freyde / Stromer von Reichenbach, Hochfinanz (1999) und Lilie, Fernhandel (1999); vgl. für die längere Tradition Favreau-Lilie, Italiener (1989), 39–149 und knapper Favreau-Lilie, Seestädte (2004); vgl. für Genua Schreiner, Genua (1983), insb. S. 295f. und für die venezianische Herrschaft in Palästina Jacoby, Privileges (1997). 1158 Vgl. umfassend Linehan, Spain (2008); vgl. auch Vones, Geschichte (1993), 88–162; Herbers, Geschichte (2006), 178–237; Hillgarth, Kingdoms 1 (1976), 3–333; MacKay, Spain (1977), 15– 117; Bisson, Crown (1986), 31–103; und jüngst Caballero Kroschel, Reconquista (2008) sowie Schlieben, Macht (2009); als Überblick die Beiträge in Engels, Reconquista (1989). Vgl. zu Alfons X. Estepa, reino (2002). 1159 Vgl. für die Handelsverbindungen zwischen Italien und Spanien Abulafia, nota (1999). Vgl. auch zu den tragenden Elementen der imperialen Ordnungen Jaspert, Frühformen (2001); Cartellieri, Peter von Aragon (1904) und zu den Auseinandersetzungen um Sizilien und den

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gung charakterisiert. Recht stark entwickelt sollten jedoch bald drei wichtige Merkmale imperialer Ordnungen sein: die Seemächtigkeit, die durch Flottenexpeditionen immer wieder unter Beweis gestellt wurde1160, der weite Horizont des Beziehungsnetzwerkes, der sich durch den Kontakt zu den islamisch geprägten Herrschaften und den zunehmenden Eintritt in deren Erbe frühzeitig zeigte, und schließlich auch das Ziel der faktischen Hegemonie in einem bedeutenden, hier dem westlichen Bereich des Mittelmeeres, der jedoch rasch um expansive Ambitionen im östlichen Mediterraneum ergänzt wurde.1161

Das Königreich Jerusalem Auf das lateinische Kaiserreich von Konstantinopel ist weiter unten gesondert und vor allem in großer Differenzierung einzugehen, weshalb an dieser Stelle nur auf den herausragendsten Vertreter der Kreuzfahrerherrschaften eingegangen werden soll: das Königreich Jerusalem.1162 Das Königreich Jerusalem und seine Vasallen stellten eine Herrschaftskonfiguration dar, die von allen hier behandelten Fällen am wenigsten die genannten Kriterien einer imperialen Ordnung erfüllte. So hatte es nur in seltenen Fällen die Gelegenheit, mit überragendem militärischem Potential zu drohen – insbesondere dann, wenn es im Strudel eines Kreuzzuges mitgerissen wurde.1163 Von überragendem Reichtum kann nicht gesprochen werden – im Gegenteil war ständige existentielle Finanznot ein Kennzeichen aller Kreuzfahrerherrschaften. Faktische und dauerhafte Herrschaft war kaum in einem weit ausspannenden Gebiet etablierbar. Selbst nach dem Erwerb Zyperns konnte nur eine Art Regionalherrschaft etabliert werden.1164 Auch das Kriterium der Seemächtigkeit war nur in Koppelung mit der imperialen Ordnung der

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Kontinuitäten des imperialen Erbes Nitschke, Karl von Anjou (1964). Dass man allerdings keineswegs von unüberwindbaren Grenzen zwischen den einzelnen Machtbereichen ausgehen kann, zeigt Barton, Traitors (2002). Engels, König (1989), 256 sieht in der Wahl Alfons X. v. a. den Vorteil des Erwerbs einer Seemacht. Vgl. zur Seemacht auch Mott, Power (2003), 105–110. Vgl. allgemein Abulafia, Rise (1999). Vgl. für die katalanisch-aragonesische Herrschaft des 12. und 13. Jahrhunderts Marcos Hierro, Beziehungen (1996); vgl. für wirtschaftliche Fragestellungen Burns, Paths (1998) und Constable, Trade (1994); vgl. für die lange Dauer auch Pagden, Imperialism (1990), 1–12. Vgl. zur inneren Organisation von Aragon Van Landingham, State (2002). Vgl. allgemein: Röhricht, Geschichte (1898); und für die Frühzeit Murray, Crusader Kingdom (2000), 1–154; vgl. konzentriert Mayer, Herrschaft (1995) und die Beiträge in Mayer, Kings (1994). Vgl. zu Zypern Edbury, Kingdom, 23–100; vgl. auch mit Berücksichtigung des geographischen Faktors, aber mit dem Schwerpunkt auf späterer Zeit Housley, Cyprus (1995). Hoch, Jerusalem (2003), insb. S. 115–121 . Vgl. v. a. zur inneren Organisation Mayer, Herrschaft (1995). Vgl. zur großen Bedeutung Zyperns für westliche Kreuzfahrer des 13. Jahrhunderts Forey, Cyprus (1995) und knapp Sarnowsky, Kreuzfahrer (2005).

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II. Imperiale Ordnungen

Seestädte zu erreichen.1165 Hingegen wiesen zwei Charakteristika auf die Existenz einer imperialen Ordnung: der zweifellos vorhandene weite Horizont des Jerusalemer Beziehungsnetzwerkes und das Ziel einer Hegemonie in einem bedeutenden Bereich des Mittelmeerraumes, die durch die seit König Amalrich I. verfolgten Eroberungspläne Ägyptens immer wieder unter Beweis gestellt wurde.1166

Der Herrschaftsverband um das imperiale Königtum Ludwigs IX. Zweifellos war der Herrschaftsverband, der sich – gefestigt durch das Bindemittel der Dynastie – um Ludwig IX. anlagerte, einer der mächtigsten des hohen Mittelalters.1167 Es ist bekannt und muss an dieser Stelle eigentlich nicht wiederholt werden, dass „Frankreich„ in der ganzen Bandbreite der mit dem Begriff verbundenen Assoziationen im 12. Jahrhundert noch nicht existierte. Vielmehr gab es noch im 12. Jahrhundert ein regnum Francorum, das ca. sieben einstige karolingische Teilreiche (regna) umfasste.1168 Kennzeichnend war die Spannung zwischen dem tatsächlichen Handlungsspielraum des Königtums, der sich auf ein begrenztes Gebiet im Norden Frankreichs, die Francia eingeengt hatte1169, und der „rechtlich unbestritten anerkannte[n] Zusammenfassung der westeuropäischen Vielfalt von Flandern bis nach Barcelona„1170. Ähnlich wie in den Königreichen der Iberischen Halbinsel war auch Frankreich eher ein Konglomerat verschiedenster Entitäten. So bestand auch eine enge, wenn auch nicht allzu enge Koppelung mit der sizilischen Herrschaft, die mit Karl von Anjou in das imperiale Erbe von Normannen und Staufern eintrat und möglicherweise auch die – sich in Kreuzzügen Ausdruck schaffenden – Hegemonieansprüche im Mittelmeerraum um weitere Aspekte bereicherte.1171 Das große militärische Potential, der 1165 Vgl. zur großen Bedeutung Venedigs als Unterstützerin (und Trägerin) der ersten Kreuzzüge, die gewissermaßen die Rolle der Stadt im Vierten Kreuzzug vorwegnimmt, Queller / Katele, Venice (1986); vgl. auch abwägend Riley-Smith, Crusade (1986). Vgl. zu den in gewissem Sinn den Venezianern als Entschädigung gewährten Privilegien Jacoby, Privileges (1997), 155–169. 1166 Vgl. zur schwierigen Lage des Königreiches im 13. Jahrhundert, welche die überregionale Einbindung erforderte, Jacoby, Kingdom (1986); Edbury, Crusader States (1999). 1167 Vgl. hierzu etwa die vier Bände von Cartellieri über Philipp II. August (1900–1922); Schramm, König (1960); zur Wechselwirkung von monarchischer Gewalt und Reich vgl. die drei Bände von Kienast Deutschland (1974–1975); Bautier, France (1982); Baldwin, Government (1986); Ehlers, Geschichte (2009); und Schneidmüller, Nomen (1987); sowie zur Wechselbeziehung von Reich und Frankreich insbesondere auf der Ebene der Herrschaftsvorstellungen und der gegenseitigen Wahrnehmung Große, Kaiser (2002); Moeglin, Blick (2006); Jostkleigrewe, Bild (2008); und für das Thema zentral: Jones, Eclipse (2007). 1168 Werner, Imperium (1979), X 4. 1169 Schneidmüller, Nomen (1987), 18f. 1170 Werner, Imperium (1979), X 6. 1171 Vgl. zur inneren Organisation und expansiven Tendenzen in Sizilien unter Karl von Anjou Herde, Karl I. (1979), 68–98; vgl. auch Dunbabin, Charles (1998), insb. zur Frage des Reiches,

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überragende Wohlstand und die gefestigte, größere Räume übergreifende Herrschaftsorganisation, die Ludwig dem Heiligen zur Verfügung stand, war sicherlich auch die Frucht der Bemühung seiner Amtsvorgänger. Hinzu traten nun jedoch die Möglichkeit, durch eine eigene Flotte Seemacht auszuüben und ein wohl stark geweitetes Beziehungsnetzwerk.1172 Ein Manko könnte jedoch – ähnlich wie bei der normannisch-staufischen Herrschaft – die doch erhebliche Divergenz der unterschiedlichen Teilordnungen gewesen sein. Im Gegensatz zur schließlich bis zu Karl V. aufgehobenen Koppelung von römisch-deutschem und sizilischem Reich sollte Frankreich aber auf Dauer – auch ohne Sizilien – eine mediterrane Macht bleiben.1173

Die römische Kirche und das Papsttum Zweifellos stellt die römische Papstkirche einen noch außergewöhnlicheren Fall einer imperialen Ordnung als die Seestädte dar.1174 Ein spezifisches Charakteristikum war zweifellos die Dominanz der Papstkirche im religiösen Sektor, die es ihr erlaubte, eine imperiale Herrschaftskonfiguration in, mit und zwischen anderen imperialen Ordnungen auf- und auszubauen. Diese Fähigkeit zur engen Koppelung erlaubte es ihr, bestimmte Schwachpunkte auszugleichen. Die Papstkirche weist alle Elemente auf, die es erlauben, sie als imperiale Ordnung anzusehen. So konnte sie nicht nur mit überragendem sakralem Potential, sondern auch qua Aufruf zum Kreuzzug mit nicht unbeachtlichem militärischem Potential drohen.1175 Der Reichtum, der der Papstkirche zugeschrieben wurde, war enorm. Ihre Herrschaftsorganisation war nicht nur in einem gewaltigen Gebiet, das weite Teile des ehemaligen römischen Reiches (und mehr) umfasste, von gefestigter Faktizität, sondern auch Grundlage für das weit ausgreifende Beziehungsnetzwerk. Das Ziel der Hegemonie, das auf religiösem Gebiet auch einen Ausschließlichkeitsanspruch beinhaltete, war im Missionsauftrag fest verankert. Der einzige leicht problematische Faktor war die Seeherrschaft: Sie konnte durch eine enge Koppelung zur Herrschaftsorganisation der Seestädte hergestellt werden.

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S. 114–125; vgl. zu den Kontinuitäten auch Kiesewetter, Anfänge (1999), insb. zur Haltung gegenüber dem östlichen Mittelmeer S. 338–370; vgl. zum Gewinn Siziliens knapp Carozzi, victoire (2000). Vgl. zum Verhältnis zum Papsttum Marc-Bonnet, Saint-Siège (1947). Vgl. zum Werden der kapetingischen Dynastie(n) und ihrem Verhältnis untereinander Lewis, Succession (1981), 104–192. Vgl. für die spätere Zeit Samaran, Projets (1981). Vgl. aber Paul, contraste (2000). Vgl. allgemein Kempf, Papsttum (1954), 1–12; Ullmann, Machtstellung (1960); sowie Johrendt / Müller‚ Zentrum (2008). Roscher, Papst (1969).

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II. Imperiale Ordnungen

II.2 Dynamiken imperialer Ordnungen Das zentrale Kennzeichen, das imperiale Ordnungen von allen anderen Herrschaftsverbänden unterscheidet, ist ihr Bezug zu einer weiträumigen Herrschaft. Betrachten wir diesen Aspekt in räumlicher und zeitlicher Hinsicht näher. Imperiale Ordnungen verfügen nicht unbedingt über scharf definierte Grenzen. Wie bereits erwähnt, ist dies nicht einmal der Normalfall: Imperiale Ordnungen können sich vielmehr auch innerhalb des gleichen Sektors überschneiden und durchdringen. Grundsätzlich ist aber der Faktor „Raum“ sowohl in seiner geographischen als auch sozialen Bedeutungsdimension als außerordentlich wichtig einzuschätzen. So formen geographische Faktoren etwa die Kommunikationsbedingungen, die wiederum Auswirkungen darauf haben, wie sich Kommunikationsnetze entwickeln können. Darüber hinaus werden imperiale Ordnungen nicht nur durch Raumvorstellungen geprägt, sondern können sich auch formend auf diese auswirken. So war es wohl das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen imperialen Ordnungen im östlichen Teil des Mediterraneums, das zu einer neuen Dynamik der Raumvorstellungen führte.1176 Wurde aber der Bereich des östlichen Mittelmeers als gesonderter Raum wahrgenommen? Diese Frage soll in zwei Schritten beantwortet werden: Erstens soll die hybridisierende Genese neuer Raumbezeichnungen genauer betrachtet werden, die sich als direkte Folge der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen imperialen Ordnungen sehen lässt. Zweitens gilt es aber auch „praktische“ Raumvorstellungen zu eruieren, d. h. nachzuvollziehen, ob und inwieweit imperiale Ordnungen in ihrer großraumübergreifenden Vernetzung auch Räume kommunikativ strukturieren und somit die entsprechenden Raumvorstellungen der Zeitgenossen beeinflussen konnten. Ein Hinweis für den ersten Aspekt könnte die sowohl von „Lateinern“, „Griechen“ und Seldschuken gebrauchte Bezeichnung Romania und deren Verwendungsdynamik sein.1177 In Anlehnung an spätantike Traditionen wurde das oströmische Reich in Eigendarstellungen als Romania bezeichnet – entsprechend nannten sich die Byzantiner selbst Ρωμαίοι, der Kaiser trug den Titel Βασιλεύς [των] Ρωμαίων. Diese Raumbezeichnung wurde im seldschukischen Bereich in ihrer imperialen Dimension klar perzipiert; so finden sich hier etwa Kombinationen mit „Rum“, um nicht nur den Raum, sondern auch die expansive Tendenz der jeweiligen gentilen Verbände zu bezeichnen. Romania wurde aber nicht nur im direkten Austausch gebraucht, sondern war nach dem Unter1176 So spricht auch Gerland, Geschichte (1905), 73 davon, dass „die weite Entfernung und die mangelhafte Verbindung zwischen Rom und Konstantinopel hemmend auf jede Wendung der päpstlichen Politik einwirken“ musste. Vgl. zu mittelalterlichen Raumkonzepten allgemein den Band Aertsen / Speer‚ Raum (1997); den Sammelband Moraw‚ Raumerfassung (2002); vgl. zum Zusammenhang von Raumstudien und Kulturaustausch Lüsebrink, Kulturraumstudien (2003); vgl. eher geographisch orientiert: Saint-Guillain / Schmitt (2005), Ägäis, v. a. S. 218 zu den Folgen von 1204; vgl. auch Steindorff, Meere (2005), v. a. die Fragen auf S. 170. 1177 Vgl. hierzu Lock, Franks (1995), 6. Vgl. auch oben, Abschnitt ‚Titel und Hierarchiegenese‘.

II.2 Dynamiken imperialer Ordnungen

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gang des alten byzantinischen Reiches 1204 wichtiger Teil eines imperialen Erbes, das auch auf die lateinischen Machtträger eine gewisse Faszination ausübte. Zunächst als eine Art Fremdbezeichnung dem lateinischen Kaiser in Auseinandersetzung um das Römertum seines Kaisertitels durch das Papsttum gleichsam abgerungen, sollten insbesondere die nichtkaiserlichen Machtträger ihre großraumübergreifenden Herrschaftsstrukturen im östlichen Mittelmeerraum – etwa auf der Morea – durch diese Bezeichnung vergolden.1178 Romania wurde zu einem feststehenden Begriff, der das östliche Mittelmeer um die Ägäis bezeichnete. Auch ganz praktisch wurde dieser Raum stärker als bisher durchdrungen. In der Chronik Villehardouins kommt eine recht rationale Geisteshaltung hinsichtlich der Erfolgsaussichten eines Kreuzzuges zum Ausdruck. In Teilen des Kreuzfahrerheeres war man sich offensichtlich bewusst, dass eine Rückeroberung Jerusalems nur durch eine entscheidende Schwächung des Gegners (mittels einer Eroberung Ägyptens) oder eine entscheidende Stärkung (durch eine neue Machtbasis im byzantinischen Reich) zu gewährleisten war.1179 Auch die Eroberung byzantinischer Gebiete war offensichtlich bereits angedacht und zum Teil in die Praxis umgesetzt worden.1180 Darüber hinaus waren die Heeresrouten auf vorangegangen Kreuzzügen erprobt, Handelsrouten zum Tagesgeschäft geworden. Dennoch waren die bisherigen Verbindungen und Interaktionen zwischen „West“ und „Ost“ stets von einer gewissen Kontingenz geprägt gewesen. Die imperiale Ordnung des byzantinischen Reiches war spätestens ab dem 11. Jahrhundert (im Rahmen der normannischen Expansion und der Kirchenspaltung) in zunehmendem Maße von der innereuropäischen Kommunikation abgeschlossen worden bzw. nur noch über Kontaktstellen zu erreichen, die zugleich als „Filter“ wirkten.1181 Hier wirkten die imperialen Ordnungen Venedigs, des Normannenreiches und der entstehenden Papstkirche gleichsam als Kommunikationskonkurrenten. Allem Anschein nach waren die „europäischen“ Ziele kaiserlicher Kommunikation in mittelbyzantinischer Zeit recht klar beschränkt: der römische Kaiser / König, das Papsttum, herausragende Adlige und

1178 Vgl. zur Geschichte der Morea knapp Makris, Greek (2006), 607f. 1179 Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 96, S. 96 lässt eine Partei der Kreuzfahrer sprechen: ‚Bel seignor, en Surie ne poez vos rien faire, et si le verroiz bien a cels meïsmes qui nos ont deguerpiz et il sont alé as autres porz. Et sachiés que par la terre de Babiloine ou par Grece iert recovree la terre d’oltremer, s’ele jamais est recovree (…)’ („‚Gute Herren, in Syrien könnt Ihr nichts ausrichten und das werdet Ihr genau an denen sehen, die uns verlassen haben und zu anderen Häfen gegangen sind. Und wisset, dass von dem Land von Babylon [Ägypten] oder von Griechenland aus das Land jenseits des Meeres wiedergewonnen wird, wenn es jemals wiedergewonnen wird’“). Retrospektiv könnte Villehardouin hiermit auch zum Ausdruck bringen, dass nicht nur die Venezianer eine ganz realistische Kosten-Nutzen-Kalkulation dargelegt hatten. 1180 Vgl. auch etwa die Erörterungen bei Kiesewetter, Preludio (2006). 1181 Näher als vielen anderen Regionen standen das lateinische Kaiserreich und die lateinische Ägäis Italien (Lock, Franks [1995], 13).

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II. Imperiale Ordnungen

die eine oder andere italienische Stadt.1182 Drei Faktoren hatten möglicherweise einen sich gegenseitig verstärkenden Einfluss auf diese Einschränkung: die sprachliche Barriere, die mangelnden geopolitischen Kenntnisse des nord- / mitteleuropäischen Raumes am byzantinischen Hof und das strenge Hofzeremoniell, das auch die „Diplomatie“ und mit ihr die Kommunikation mit auswärtigen Mächten präfigurierte.1183 Die Eroberung Konstantinopels 1204 und die Etablierung des lateinischen Kaisertum „integrierte“ den östlichen Mittelmeerraum stärker als zuvor in das „westliche“ Kommunikationsnetzwerk, machte ihn zum Teil der „Öffentlichkeit“. Die Briefe des lateinischen Kaisers erreichten nicht nur in verstärktem Maße den Papsthof, sondern auch seine flandrische Heimat, seinen französischen Lehnsherrn und eine Vielzahl anderer Adliger.1184 Imperiale Ordnungen hatten bei diesen Integrationsleistungen einen gewissen, allerdings nicht den alleinigen Anteil. So gewannen die Papstkirche und die Herrschaftsorganisation Venedig zwar an Kraft und konnten als mächtige Integratoren und Kommunikationsträger agieren. Die Kommunikation lief aber auch unabhängig von ihnen: Neben kirchenrechtliche, wirtschaftliche und finanzielle Bindungen traten auch allgemeine Konnektivitäten interpersoneller Art wie etwa verwandtschaftliche oder lehnsrechtliche Beziehungen oder aber auch das intensivierte Ersuchen der lateinischen Kaiser um Hilfe und Unterstützung.1185 So zeichnen sich imperiale Ordnungen ja dadurch aus, dass ihre „Ränder ausgefranst“ sind. Auch weil ein dominierender Herrschaftsverband in den entscheidenden Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts fehlte, wurde die Ägäis nicht einfach ein weiterer Teil des mittelalterlichen Europa. Vielmehr kam es in dieser fragmentierten „frontier society“ zu einer weitreichenden Hybridisierung verschiedenster Kulturelemente.1186 Grundsätzlich zu berücksichtigen sind jedoch auch stets die eben nicht ausgezeichneten Kommunikationsbedingungen, die die geographischen und politischen Raum- und Ordnungsvorstellungen prägten. Eine imperiale Ordnung ist kein durch rasche Verbin1182 Vgl. v. a. Hermans, View (1990); und mit dem Schwerpunkt der Beziehungen zu den Seehandelsstädten Lilie, Handel (1984), insb. die Schlussfolgerungen auf S. 596–612. Vgl. für die ottonische Zeit Koder, Sicht (1993) und für spätere Zeiten Laiou, Italy (1995). 1183 Vgl. über die Jahrhunderte grundlegend Nicol, View (1967); vgl. insbesondere auch zu den Rahmenbedingungen Beck, Byzanz (1972), VIII 240f. 1184 Vgl. Hendrickx, Institutions / Diplomatie (1974), 112–117. Der empirische Befund ist gleichwohl nur vorsichtig zu interpretieren; die Frage der Überlieferung(szufälle) ist auch einzurechnen. 1185 Vgl. hierzu unten: Abschnitt ‚III.3.2 Koppelung‘. 1186 Vgl. auch Lock, Franks (1995), 12: „(…) the rulers of the Frankish territories were (…) conscious that they knew local conditions better than their overlords in the west. This can best be seen in the disputes with the papacy over tithes and church property in the first 20 years of the thirteenth century, in the introduction of the earliest mortmain legislation in Europe, in the role played by women at the parliament of Nikli in 1262, and in the disputes between Guyot of Athens and the Angevins in the late 1280s. It was a frontier society and to that extent different from the society at home in France and the society which it had replaced in the Frankish Aegean”.

II.2 Dynamiken imperialer Ordnungen

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dungen synchronisiertes und somit einfach hierarchierbares Kommunikationssystem, sondern vielmehr durch Verzögerungen und diachrone Asymmetrien geprägt, die eine auch nur annähernd genaue Globalsteuerung unmöglich erscheinen lassen. Dies zeigt sich insbesondere hinsichtlich der Versuche des Papsttums, den Verlauf des Vierten Kreuzzuges zu beeinflussen. Durch diese Schwierigkeiten wurden aber die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen imperialen Ordnungen beeinflusst. An verschiedenen Orten konnte der jeweilige Kommunikationsmodus zur gleichen Zeit aufgrund unterschiedlicher Gegebenheiten oder unterschiedlicher Informationen erheblich differieren. Somit war es – wie wir noch sehen werden – etwa schwierig, vertragliche Vereinbarungen zu verstetigen; nicht nur auf der persönlichen, sondern auch auf der strukturellen Ebene zeigt sich darin die hohe Volatilität des Mittelmeerraumes.1187 Sicherlich hatten diese Bedingungen auch Auswirkungen auf den Zusammenhalt imperialer Ordnungen. Diese unterliegen – wie andere Herrschaftsorganisationen – immer auch der Kontingenz zeitlicher Dynamik. Hier ist nicht die Stelle, auf die Ursache des Untergangs von großräumigen Herrschaftsorganisationen einzugehen.1188 Nur soviel: Der Zeitpunkt, an dem eine imperiale Ordnung als zerfallen gelten kann, ist schwer zu bestimmen, ein maßgebliches Kriterium ist jedoch, dass Teile dieser imperialen Ordnung ihr ideelles und praktisches Zentrum nicht mehr in dem ursprünglichen personalen Zentrum finden und sich neu ausrichten. Dies bedeutet hingegen nicht, dass sich einzelne Ordnungselemente – ebenso wie die Gesamtordnung – vollkommen auflösen, vielmehr leben sie weiter: Imperiale Ordnungen haben nicht nur eine synchrone, sondern auch eine diachrone Dimension. Werden diese Ordnungen nämlich nicht mehr gelebt, nicht mehr aktiviert und aktualisiert, sondern für längere Zeit rein virtuell gedacht bzw. memoriert, tritt die imperiale Ordnung (oder Teilelemente von ihr) in den Aggregatzustand des imperialen Erbes. War diese imperiale Ordnung eng mit einer ähnlich strukturierten wirtschaftlichen bzw. religiösen Ordnung gekoppelt, konnten diese mitunter noch weitergeführt werden – man denke an Venedig oder die römische Kirche nach der türkischen Expansion ab dem 15. Jahrhundert. Im Normalfall werden die fragmentarischen, ihrer Spitze beraubten „Überreste“ des politischen, wirtschaftlichen und religiösen Apparats jedoch zu Trägern des imperialen Erbes, das hauptsächlich aus Strukturen, Wissen und Konzeptionen besteht. Bis zu ihrer Aktivierung, Neukombination und Rekonfiguration speichern sie gleichsam einen früheren Zustand.1189 Dieses imperiale Erbe ist die geschichtlich abgelagerte, auskristallisierte Abfolge imperialer Ordnungen. Das Erbe unterliegt dann häufig der Hybridisierung, d. h. es wird – etwa in der Sphäre des gelehrten Diskurses – weitergeleitet, verändert und mitunter schließlich unter Neukombination mit anderen Elementen aktualisiert. Lokalisierbar ist 1187 Hendrickx, Institutions / Diplomatie (1974), 106. 1188 Vgl. Brix / Koch / Vyslonzil‚ Decline (2001). 1189 Vgl. Burkhardt, Heritage (2013), 159f..

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das imperiale Erbe an zwei Orten: Zum einen bleibt die Erinnerung an vergangene Größe in der Peripherie erhalten und kann dazu führen, dass sich diese zur Keimzelle einer neuen imperialen Ordnung entwickelt. Dies war möglicherweise in Bezug auf Venedig der Fall, das als Teil des byzantinischen Reiches schließlich selbst ein entsprechendes Reich aufbaute. Zum anderen dient auch das Zentrum – insbesondere die jeweilige Zentralstadt – als außerordentlich wichtiger Speicher imperialen Wissens. Eine bereits dem Zerfall nahe imperiale Ordnung konnte so erneut erblühen, wenn das jeweilige Zentrum mit neuen Ressourcen versorgt wurde. Das imperiale Erbe lässt sich verschiedenen Trägergruppen zuordnen. Bei politisch dominierten imperialen Ordnungen waren es vor allem Handel und Verwaltung1190, die sich als Träger des imperialen Erbes erweisen konnten. Gerade hinsichtlich des Handels wird eine bestimmte Form der Koppelung und des spill-over deutlich: Waren innerhalb eines Reiches im landläufigen Sinne politische und wirtschaftliche imperiale Ordnung eng gekoppelt, konnte es geschehen, dass auch nach dem Zerfall der politischen imperialen Ordnung die wirtschaftliche Ordnung erhalten blieben und gleichsam wie ein Fossil die nicht mehr vorhandene politische Ordnung abbildeten. An diese weiterhin vorhandene Wirtschaftsstruktur konnte sich dann wieder – eine vielleicht ganz anders geartete – politische Macht anlagern. Ähnliches zeigt sich im religiösen Bereich; verwiesen sei nur auf die katholischen Kirche als Wahrerin des antiken Erbes. Eines der Substrate, auf dem jede Vorstellung und Praxis kaiserlicher Herrschaft beruhte, war die Bürokratie des römischen Reiches.1191 Sicherlich waren auch im römischen Reich die Beamten nie sonderlich zahlreich, weshalb sich die Aufgabenerfüllung der zentralen Statthalter auf einen bestimmten Kern an Kompetenzen beschränken musste.1192 Und gewiss schwand mit den Jahrzehnten und Jahrhunderten nach dem Ende des römischen Reiches mehr oder weniger rasch der Einfluss der römischen Bürokratie. Ihre Träger und ihre Funktionserfüllung änderten sich, ihre Traditionen wurden hybridisierend überformt. Dort wo die Bürokratie in einer gewissen Kontinuität weitergeführt wurde, erwies sie sich jedoch als erheblich persistenter Träger imperialer Vorstellungen und des imperialen Erbes.1193

1190 Angold, Road (1999) weist auf S. 262 darauf hin, dass Usurpationen in der späten Komnenenzeit hauptsächlich aus den Provinzen hervorgingen, und gibt auf S. 262ff. wichtige Hinweise auf die Rolle der Bischöfe als wichtige Träger der imperialen Ordnung. 1191 Vgl. zu den Grundlagen Dahlheim, Gewalt (1977), insb. S. 283–318; Jacques / Scheid / Lepelley, Rom (1998); Kelly, Empire (2004), 136–231; Eich, Metamorphose (2005). 1192 Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 45 nennt „die Aufrechterhaltung der Ruhe im Inneren insbesondere durch die höhere Gerichtsbarkeit sowie die Überwachung des Steuereinzugs und der Verteilung der öffentlichen Lasten“. Die römischen Beamten wurden durch einheimische Funktionsträger entlastet – ein ressourcenschonender, in fast allen Kolonialreichen zu findender Modus indirekter Herrschaft, der auch die Akzeptanz der jeweiligen Regierenden erhöhen konnte. 1193 Vgl. zur spätantiken Situation etwa Noethlichs, Beamtentum (1981), 37–48.

II.2 Dynamiken imperialer Ordnungen

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Im Westen scheint insbesondere der südfranzösische und italienische Raum gewisse Verwaltungskontinuitäten – und somit in letzter Konsequenz auch Persistenzen aktivierungsfähiger imperialer Traditionen – gewahrt zu haben. Stärkeren Änderungen bis zum fast vollkommenen Bruch mit römischen Traditionen und bestenfalls deren Übergang in die Sphäre des Erbes unterlag die Bürokratie in den Gebieten des römisch-deutschen Reiches, die auch von der römischen Herrschaft nicht so tief greifend durchdrungen waren wie die weiter südlich und westlich gelegenen Gebiete. Dennoch gab es auch hier Kontinuitäten des imperialen Erbes, sei es im städtischen, im kirchlichen und zum Teil auch im weltlichen Bereich: Insbesondere die Provinzeinteilung sollte sich – hindurchgegangen durch kirchliche Überformungsprozesse – mit dem Straßennetz als hoch persistent erweisen und regionale Räume zusammenhalten, obgleich ihr die politischen Realitäten zum Teil widersprachen.1194 Mit diesen Strukturen unterschwellig verbunden blieb auch die Vorstellung, dass sie kaiserlichen Ursprungs waren. Bereits in salischer, aber insbesondere in staufischer Zeit scheint dieses imperiale Erbe – etwa in Form von Urkundenformulierungen – für das westliche Kaisertum wirkmächtig reaktiviert worden zu sein. Es ist ebenso nicht ausgeschlossen, dass das französische Königtum mit dem Erwerb des Languedoc durch dieses „verwestlichte“ antike Erbe beeinflusst wurde. Im Osten war die spätantike Verwaltung in Byzanz zunächst ohne größere Brüche – wenngleich nicht unmodifiziert – weitergeführt worden, bevor es zu den Erschütterungen der mittelbyzantinischen Zeit kam.1195 Aber auch dann war die in Byzanz lozierte Verwaltung ein wichtiger Speicher des imperialen Erbes: So sind etwa die Kriegszüge Manuel Komnenos’ auch vor diesem Hintergrund – als Aktualisierung des Erbes Justinians und seiner römischen Vorgänger – zu verstehen. Hinzu traten die ehemaligen kaiserlichen weltlichen und geistlichen Verwaltungsträger in den Provinzen, die weiterhin auf das Zentrum hin orientiert waren und Ansatzpunkte für Interventionen des ehemaligen Zentrums boten – man denke nur an Bari und Ancona im Hohen Mittelalter – aber auch umgekehrt zum Kristallisationspunkt einer neuen, der Peripherie entsprießenden imperialen Ordnung werden konnten.1196 Dies zeigt sich etwa in Süditalien: Hier übernahmen die Normannen eine wohl weiterhin erstaunlich rege Verwaltungsorganisation und entwickelten sie weiter. Diese antik-byzantinisch-normannischen Strukturen sollten in staufischer Zeit in eigentümliche Wechselwirkung mit den nordalpinen imperialen Traditionen treten.1197 Die Verwaltungsorganisation erweist sich jedoch nicht nur als „neutrales“ stabilisierendes Element und Wissensspeicher. Ihr Eigenleben gegenüber dem Herrscher zeigt 1194 Entsprechend erfolgten auch die Expansionsversuche der normannischen imperialen Ordnung nach Griechenland entlang der alten römischen Heerstraße, der Via Egnatia, von Dyrrachium nach Thessaloniki. Vgl. zu den Römerstraßen Klee, Lebensadern (2010), insb. S. 143. Vgl. zum Thema allgemein Schwinges, Straßen- und Verkehrswesen (2007). 1195 Vgl. hierzu Brandes, Finanzverwaltung (2002). 1196 Vgl. zu Ancona im Hochmittelalter grundsätzlich Abulafia, Ancona (1984). 1197 Burkhardt, Heritage (2013), 160.

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sich auch darin, dass sie eine Reformresistenz entwickelte, dass sie herrscherliche Entscheidungen in eine bestimmte Richtung lenken bzw. einen Pfad der Entscheidungseinschränkung definieren konnte.1198 In Byzanz rekrutierte sie sich aus der Aristokratie, und daran sollte sich auch in späteren Zeiten und unter anderen Herrschern – etwa im normannischen und staufischen Süditalien – nichts ändern.1199 Beamtenstellen waren ein bedeutender Teil der Versorgung und des Machterhalts der regionalen Eliten – unabhängig davon, woher jene Eliten stammten. Diese Kontinuitäten erklären zusammen mit den sich kaum ändernden „Arbeitsgrundlagen“ (Wissen um die Besteuerung und Verwaltung der hoch stabilen ländlichen Strukturen und Handelsnetze) die hohe Resistenz der Verwaltung gegen Änderungen, zugleich aber auch den eigentümlich nostalgischen imperialen Patriotismus der Aristokratie, der nicht mit „Kaisertreue“ gleichgesetzt werden sollte. Jede Teilherrschaft eines bestimmten „Beamten“ imitierte in gewissem Sinn die kaiserliche Herrschaft, auch deshalb konnte sich die Peripherie zu einer „Keimzelle” neuer imperialer Ordnungen entwickeln.

1198 Lilie, Einführung (2007), 150. 1199 Houben, Roger II. (2010), 149–162; vgl. für Süditalien den luziden Exkurs bei Friedl, Studien (2005), 139–142.

II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen

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II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen Wie ist nun aber die Stellung des Kaisers bzw. des Leiters einer imperialen Ordnung zu bewerten? Im byzantinischen Bereich zeigt sich seine besondere Bedeutung insbesondere dann, wenn ein Basileus ausfiel: Gerade in der kritischen Situation nach der zweiten Erstürmung der Mauern durch das Kreuzfahrerheer führte die Flucht Alexios’ V. zum Zusammenbruch der Verteidigung der Stadt.1200 Sicherlich bedeutete auch in westeuropäischen Gemeinschaften der Tod des Monarchen immer eine schwere Belastung und konnte sich auch hier – etwa in der Schlacht – katastrophal auswirken. Gerade im lateinischen Kaiserreich führte jedoch die eigentümliche Schwäche kaiserlicher Herrschaft ironischerweise dazu, dass das in hohem Maße bedrohte Reich selbst beim überraschenden Tod seiner Monarchen auf niedrigem Niveau stabil blieb. Gewiss war etwa der überraschende Tod Heinrichs ein schwerer Schlag. Alle anderen Herrschaftswechsel verkraftete das Reich jedoch erstaunlich gut.1201 Ein wichtiges Element dieser eigentümlichen Schwäche, das das lateinische Kaiserreich mit vielen Kreuzfahrerherrschaften teilte, war die im Zeitverlauf festzustellende zunehmende Distanziertheit möglicher Leitungskandidaten gegenüber ihrer jeweiligen Herrschaft. So waren etwa die Könige von Jerusalem lange Zeit landfremd und kamen nicht in den Osten, um sich krönen zu lassen.1202 Manche von ihnen waren aus verschiedenen Gründen auch schlicht unfähig.1203 Somit wurde – auch bei anderen Fällen – der Leiter der jeweiligen Herrschaftsorganisation im Laufe der Zeit immer mehr zu einer Art Symbol, zur Verkörperung von Ideen und Vorstellungen, die sich mit „Kaisertum“ oder anderen Konzepten großräumiger Herrschaft verbanden, und diese Leiter dienten als Kristallisationspunkt, auf den sich die imperiale Ordnung ausrichten konnte. Insbesondere hinsichtlich jener „starken Männer“, die anstelle des Kaisers die Regierungsgeschäfte leiteten, zeigt sich dies deutlich: „(…) entscheidend war immer die Verbindung zum Kaiser, die einem Würdenträger besonderen Einfluss verschaffte“1204. Der Leiter der jeweiligen Herrschaftsorganisationen war gleichsam eine virtuelle Quelle von Legitimität, welche die Herrschaftsansprüche Dritter rechtfertigen konnte. Virtualität bedeutete eben gerade nicht Einflusslosigkeit. Sicherlich war die reale Macht beschränkt. Umgekehrt gewann der Kaiser jedoch an Einfluss: Er war das Symbol des gesamten Reiches und wichtigster Garant von dessen Existenz. Entsprechend musste auch in Byzanz die Kaiserreihe stets geschlossen gehalten werden. 1200 Vgl. etwa die Schilderung bei Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 246, S. 48. 1201 Vgl. zum Gesagten oben, Abschnitt ‚I.4 Zwischenfazit: Mediterranes Kaisertum – Virtuelles Kaisertum‘. 1202 Mayer, Pontifikale (1967), 190; vgl. für die späte Zeit der Kreuzfahrerherrschaften Mayer, Geschichte (2005), 315–333. 1203 Vgl. zum 12. Jahrhundert den knappen Überblick bei Jaspert, Jerusalem (2005), 65f. 1204 Lilie, Einführung (2007), 161.

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II. Imperiale Ordnungen

Neben dem Kaiser waren aber auch andere tragende Elemente der imperialen Ordnung vonnöten. Grundsätzlich ist eine imperiale Ordnung nämlich nicht mit der persönlichen Herrschaftsausübung eines Kaisers und der Organisation zu dessen Machterhalt gleichzusetzen. Die persönliche Entourage des Kaisers etwa konnte zwar Teil der tragenden Elemente einer imperialen Ordnung sein, musste es aber nicht.1205 Ein unverzichtbares tragendes Element einer imperialen Ordnung stellte aber die „breite Masse“ der Bevölkerung dar, die keine im Nachhinein feststellbaren spezifischen Funktionen ausübte. Selbstverständlich gab es auch hier Abschichtungen und Differenzen, deren Wirkungen sich jedoch meist nur im Einzelfall beurteilen lassen, etwa bei Widerständen, Aufständen, Revolten oder Kriegsunternehmen. Grundlegende Verschiebungen in dieser Schicht – etwa Religion, Sprache und allgemeine Lebensart betreffend – erfolgen im Normalfall ausgesprochen langsam und über Generationen hinweg. Diese Schicht stellte somit ein nicht unerhebliches, Veränderungen verzögerndes Element dar und verursachte Persistenzen untergegangener imperialer Ordnungen, was Wiedereroberungen „verlorener“ Gebiete ermöglichte. Grundsätzlich als eher konservativ einzuschätzen, war eine aktive Unterstützungsfunktion dennoch eher selten zu erlangen – die Herrschaft wechselte, die Lage der Untergebenen blieb gleich. Der Stabilität der jeweils etablierten Herrschaft dienten zumindest eine Duldung der jeweils vorherrschenden Religion, die Gewährung von Schutz und der nur gemäßigte Einzug von Steuern und Abgaben. Dann konnte die eigentlich die alte Ordnung stützende Bevölkerungsmehrheit auch eine neue imperiale Ordnung festigen und tragen.1206 Aussagen zu Bevölkerungsverschiebungen in der Ägäis im 13. Jahrhundert sind grundsätzlich mit Schwierigkeiten verbunden. Auch nach 1204 blieb der Zuzug von Lateinern aus „Europa“ oder Palästina eher beschränkt.1207 Die Gründe für diese Migrationsbewegungen wurden von der jüngeren Kreuzzugsforschung behandelt und dürften sich auch im 13. Jahrhundert kaum geändert haben.1208 Das Streben nach Reich1205 Vgl. zur Entourage des byzantinischen Kaisers etwa Prinzing, Patronage (2008). 1206 Die Bulgaren unter Kalojan sollten dies etwa erfahren, als sie der griechischen Bevölkerung keinerlei Anlass boten, ihren Kampf gegen die Lateiner zu unterstützen; Kalojan sollte den von ihm beanspruchten kaiserlichen Rang nie durch eine imperiale Ordnung stützen können. Vgl. allgemein Primov, Papacy (1962) und insb. Prinzing, Bedeutung (1972), 25–35. 1207 Lock, Franks (1995), 10: „The influx of westerners associated with the Fourth Crusade and the Latin state-building in the Aegean in the early thirteenth century is that generally considered as the genesis of the Frankish Aegean, although the actual population transfer from the west and from the Latin states in Syria was really quite modest. In the main those men who were not Venetians came from Burgundy, Champagne, Flanders and Lombardy, and as such could be said to be eponymous Franks in that they came from lands once ruled by the emperor Charlemagne”. 1208 Vgl. zum Ablauf Balard, transports (1989); und spezifischer Richard, transport (1989). Vgl. zum Aspekt der Migration grundsätzlich Borgolte, Migrationen (2009). Die gegenüber den ersten Kreuzzügen und den anderen Kreuzfahrerstaaten veränderte Motivlage charakterisiert Lock, Franks (1995), 12 knapp: „Westerners remained unmoved by papal appeals for settlement and financial and military support, and the Frankish Aegean lacked the emotional and religious

II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen

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tum und Land, Ruhm, Ehre und Rang war wohl auch beim „Fußvolk“ eine Hauptantriebskraft1209, wie sie sich auch auf „höherer Ebene“ – etwa im Streit zwischen Bonifaz von Montferrat und Balduin von Flandern um das Kaisertum1210 – zeigte. Das lateinische Kaisertum entsprang geradezu diesen agonalen Motivlagen und entwickelte sich mit ihrer Verschiebung. Es unterlag allerdings hierdurch auch zwei Beschränkungen: Zum einen war und blieb die Anzahl der Lateiner vor Ort recht gering, zum anderen gelang es nur in wenigen lateinischen Herrschaften, die einheimische Bevölkerung zu gewinnen. So kam es kurze Zeit nach der lateinischen Eroberung Konstantinopels zu einem weit ausgreifenden Aufstand griechischer Bevölkerungsteile, die sich lose mit dem Bulgarenzaren Kalojan verbunden hatten.1211 Allerdings ist hierbei zu beachten, dass die Bezeichnung „die Griechen“ eine Einheitlichkeit suggeriert, die so nicht bestand: Bei den Aufständischen dürfte es sich primär um Angehörige der byzantinischen Führungsschicht gehandelt haben, während das „einfache Volk“ sich mit den Lateinern möglicherweise arrangierte.1212 Gleichwohl gaben die Lateiner auch der Bevölkerung wenig Anlass, sie über alle Maßen zu schätzen: Ganz so wie in anderen Gebieten, in denen im Hochmittelalter Fremdherrschaft durchgesetzt werden sollte – man denke nur an Oberitalien unter Friedrich Barbarossa oder Sizilien unter den verschiedenen „ausländischen“ Machthabern – gingen auch in der Ägäis Abgabenerhebung, Furagieren und Plünderungen recht nahtlos ineinander über.1213

1209 1210 1211

1212 1213

appeal of the kingdom Jerusalem. For a large but unknown number of western knights and sergeants the Aegean remained an area where they gained occasional employment in the armies of the Latin states or of those of their Greek enemies, returning home when the money or the fighting ran out”. Hinsichtlich dieser Kalkulation war das Kaisertum nur eine Herrschaftsform unter vielen. Lock, Franks (1995), 11. Vgl. auch abwägend Flori, Culture (2006), insb. S. 385–387. Vgl. oben, Abschnitt ‚Der Wahlgedanke‘. Vgl. die Schilderung bei Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 336, S. 146: Ne tarda gaires aprés cum cil d’Andrenople se revelerent; et cil qui estoient dedenz et la gardoient s’en issirent a grant peril et guerpirent la cité. Et les noveles vindrent a l’empereor Baudoin de Costantinoble, qui mult ere a pou de gent, il et li cuens Loeys de Bloys. De ces novelles furent mult troblé et mult esmaié. Et ensi lor comencierent novelles a venir de jor en jor malvaises: que partot se reveloient li Grieu, et la ou il trovoient les Frans qui estoient bailli des terres, si les ocioient. („Nicht lange danach erhoben sich die Griechen in Adrianopel; und jene, die darinnen waren und die die Stadt bewachten, kamen unter großer Gefahr heraus und verließen die Stadt. Die Kunde davon erreichte Kaiser Balduin von Konstantinopel, der nur sehr wenige Männer bei sich hatte, er und Graf Ludwig von Blois. Durch diese Neuigkeiten wurden sie sehr betrübt und sehr bewegt. Und so begannen Tag um Tag schlechte Neuigkeiten bei ihnen einzutreffen: dass sich die Griechen überall erhoben und dass dort, wo sie die Franken, die das Land besetzt hatten, fanden, sie sie umbrachten“). Vgl. zu der Verbindung zwischen bulgarischen und griechischen Aufständischen unten, Anmerkung 1448. Vgl. etwa unten, Anm. 1543.

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II. Imperiale Ordnungen

Neben der „breiten Bevölkerung“ waren für die Stabilisierung imperialer Ordnungen aber auch bestimmte spezialisierte Gruppen von erheblicher Bedeutung. Diese gewährleisteten nicht nur allgemein die Aufrechterhaltung der Kommunikation, sondern speicherten und transferierten kulturelles Wissen, übermittelten Nachrichten, trieben Handel, transportierten Geld und andere Werte, hoben Truppenkontingente aus und führten diese – kurz gesagt: Sie schufen Strukturen, auf welche die jeweiligen Machthaber zurückgreifen konnten. Insofern nähert sich eine imperiale Ordnung auch einer Art Kommunikationssystem an.1214 Von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Aufrechterhaltung der imperialen Ordnungen und die Anknüpfung an vergangene Größe waren die Vertreter der Zentralstadt. Waren es etwa in Rom vor allem Stadtpräfekt, Pfalzgraf und Senator(en), so fanden sich ähnliche Amtsträger auch in Konstantinopel.1215 Ihre Flucht nach der Eroberung der Hauptstadt 1204 zerstörte nicht nur die Anbindung an die Vergangenheit, sondern auch die für die Aufrechterhaltung imperialer Herrschaft unerlässlichen Kommunikationsnetzwerke, die das Zentrum mit der Peripherie verbanden. Auch in der Provinz wurden durch die lateinischen Machthaber zunächst kaum Anstrengungen unternommen, um die traditionellen weltlichen und vor allem auch geistlichen Eliten anzusprechen und zu integrieren. Weitgehend sich selbst überlassen, wurden diese ehemaligen Träger einer imperialen Ordnung nun Träger eines imperialen Erbes, das häufig im nicht aktivierten Stadium verharrte, mitunter jedoch auch – etwa in Epiros oder Nikaia (ganz ähnlich wie in Süditalien ca. 100 Jahre zuvor1216) – aktiviert werden und eine imperialisierende Wirkung entfalten konnte. Von umso größerer Bedeutung für die Lateiner waren die ehemaligen Funktionsträger des byzantinischen Kaisers, die – wie der noch weiter unten zu behandelnde Theodor Branas – auch unter den lateinischen Kaisern bedeutende Stellungen innehatten und die lateinische Politik wohl nicht unwesentlich bestimmten.1217 Ebenso waren natürlich

1214 Vgl. zu den Fragen der Personenkreise, mit denen etwa die lateinischen Kaiser kommunizierten Hendrickx, Institutions / Diplomatie (1974), 105. 1215 Vgl. über die Jahrhunderte Beck, Senat (1972); vgl. zu den hohen byzantinischen Ämtern auch Beck, Ministerpräsident (1972), insb. S. XIII 321–XIII 338. 1216 Vgl. Burkhardt, Heritage (2013). 1217 Klar wertend zeigt sich Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 7, S. 795 zur Herrschaftsübernahme Bonifaz’ von Montferrat in Thessaloniki: συνείποντο δέ οἱ καὶ τῶν ῾Ρωμαίων τινές, καὶ μάλιστα τῶν εὖ γεγονότων, παλεύοντες τὰς χώρας καὶ τὰς τρίβους διομαλίζοντες, κατὰ μὲν ἀπάτην καὶ δόλον τῷ πρωτοτόκῳ τῆς Μαρίας υἱῷ (…), πρὸς ἀληϑῆ πρᾶξιν μαρκεσίῳ καὶ Λατίνοις προοδευταὶ καὶ τῶν πρακτέων εἰσηγηταὶ καὶ τῆς πατρίδος προαγωγοὶ γινόμενοι („In seinem Gefolge befanden sich auch einige Rhomäer, besonders solche aus der Zahl der Vornehmen, die in Wirklichkeit Wegbereiter und Ohrenbläser des Markesios und der Lateiner, Verführer und Verkuppler ihres eigenen Vaterlandes waren, wenn sie auch hinterhältig und betrügerisch vorgaben, sie wollten Manuel, dem Erstgeborenen Marias, die Pfade ebnen und die Länder zuschanzen“).

II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen

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auch die „einfachen Barone“ tragende Elemente der imperialen Ordnung.1218 Auf welche Ebene aber zielten die Intentionen dieser Verwaltungsträger ab? Strebten sie eine Stärkung des Kaisers bzw. eine Orientierung auf den Kaiser an oder stellten sie ihre Tätigkeit vielmehr in den Dienst einer eher regionalen Ordnungsvorstellung? Diese Frage berührt gleichsam das gesamte Konzept der imperialen Ordnungen. Besonders gut lässt sich diese Tragweite anhand der Auseinandersetzungen zwischen dem lateinischen Kaiser und den Baronen Mittelgriechenlands darstellen: Grundsätzlich stützten alle Barone die lateinische Herrschaft; die offene Frage war nur diejenige, wie das Verhältnis von baronaler, königlicher und kaiserlicher Macht zu gestalten und zu ordnen war. An dieser Stelle soll keine Übersicht über alle Verwaltungsträger erfolgen.1219 Vielmehr sollen die Funktionsbedingungen imperialer Ordnungen anhand einer sich schließlich zur Dynastie der Villehardouin verfestigenden Reihe von Herrschaftsträgern illustriert werden. Ihr erster und berühmtester Vertreter war Gottfried, der Marschall der Champagne, der sich mit seinem Herrn Graf Theobald III. dem Vierten Kreuzzug angeschlossen hatte. Bereits frühzeitig war er an allen wichtigen Stationen der Vorbereitung und Durchführung des Kreuzzuges beteiligt, bewährte sich auf Gesandtschaften und bei militärischen Leitungsaufgaben. War die Tätigkeit Gottfrieds noch stark durch die Stützung der verschiedenen Kaiser geprägt, sollte sich sein gleichnamiger Neffe bei der Expansion der imperialen Ordnung auf die Morea engagieren und die Stellung seines Onkels in gewissem Sinn weiterentwickeln.1220 Der jüngere Gottfried hatte bereits ein durchaus bewegtes Leben hinter sich, als er 1209 Fürst von Achaia wurde. Er war 1204 nicht nach Konstantinopel, sondern zunächst direkt nach Palästina gezogen und hatte danach zusammen mit Wilhelm I. von Champlitte die Morea erobert und diesen schließlich als Fürst von Achaia beerbt.1221 Gottfrieds gleichnamiger Sohn Gottfried II. setzte die gegenüber den orthodoxen Griechen tolerante Politik seines Vaters fort – und wurde deshalb exkommuniziert. Seine Position war jedoch in zweifacher Hinsicht hierdurch nicht zu erschüttern: Zum einen war er mit dem lateinischen Kaiserhaus verbunden – er hatte die Schwester Peters von Courtenay, Agnes, geheiratet – zum anderen hatte er sich gegenüber Konstantinopel selbst als Retter in der Not erwiesen: Als 1236 Johannes III. Dukas Vatatzes zusammen mit den Bulgaren die Stadt belagerte, konnte er Johann von Brienne mit durchaus beachtlichen Truppen und Geldmitteln unterstützen.1222 Konstantinopel und das Kaisertum blieben bei allen eigenen Herrschaftsambitionen also 1218 Vgl. zu den Regelungen in den Assisen der Romania etwa Topping, Institutions (1949), 103– 178; und zur Gegenprüfung an der Praxis Jacoby, féodalité (1971), 175–308. Vgl. parallel zu Jerusalem La Monte, Monarchy (1932), 87–183. 1219 Vgl. hierzu – wenngleich nach Personen sortiert – Longnon, compagnons (1978). 1220 Vgl. zu dem Chronisten Gottfried und seinen Nachkommen Longnon, Recherches (1939), insb. S. 75–131; vgl. zu seiner Chronik Morris, Geoffrey de Villehardouin (1968). 1221 Finley, Corinth (1932), 483–487; Tozer, Franks (1883), 168–180. 1222 Vgl. hierzu Bon / Hopf / Longnon, Morée 1 (1969), 79f., wo unter anderem 120 Vasallen, 100 Ritter, 300 Armbrust- und 500 Bogenschützen sowie 22.000 Hyperpyron genannt werden.

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II. Imperiale Ordnungen

im Zentrum seiner Erwägungen. Neben einigen anderen Entschädigungen erhielt Gottfried auch wohl 1241 durch Balduin II. die Herrschaft Courtenay, was erneut die anhaltend engen Beziehungen zwischen lateinischem Kaiserreich und flandrischer Heimat zeigt.1223 Der venezianische Machtbereich zeichnete sich durch eine recht rationale, den Anschein der Planmäßigkeit erweckende Durchdringung des zu erobernden Raumes aus. Wahrscheinlich kam hier das Wissen zum Tragen, das die Venezianer bereits zu Zeiten der ersten Kreuzzüge erworben hatten. Insbesondere die Kolonialisierung Kretas könnte auf venezianischen Erfahrungen im östlichen Mittelmeerraum beruhen.1224 Darüber hinaus war es vor allem im 12. Jahrhundert zu engen Verflechtungen zwischen venezianischen Bürgern und der Stadt Konstantinopel bzw. der Ägäis gekommen.1225 Im Vorfeld des Vierten Kreuzzuges und danach waren Venezianer als Händler, Schiffseigner, Kämpfer, Politiker, Gesandte, Bankiers und Kleriker tätig. Hierbei trugen sie vor allem die imperiale Ordnung Venedigs und handelten „typisch venezianisch“ zum eigenen Gewinn, der auch dem Wohl der Serenissima zugute kam. Aus Sicht eines lateinischen Kaisers mag dies mitunter als Schädigung des lateinischen Kaiserreiches erschienen sein, die den Aufbau einer eigenen imperialen Ordnung behinderte. Diese Sichtweise trägt jedoch nicht voll, denn es waren letztlich auch die Venezianer, die das lateinische Kaiserreich lange Zeit überhaupt am Leben erhielten und immer wieder mit Ressourcen aushalfen. Dennoch kam es häufig zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den venezianischen Amtsträgern und den Kaisern, die sich auch in einer gewissen Verweigerungshaltung Venedigs bei militärischen Aktionen der Kaiser niederschlagen konnten.1226 Im Vordergrund schien dabei jedoch das Bestreben gestanden zu haben, die eigenen Kräfte nicht übermäßig zu strapazieren und sich vor allem auf die Sicherung wichtiger Knotenpunkte zu konzentrieren.1227 Aber auch geistliche Verwaltungsträger spielten eine eminent wichtige Rolle für die Aufrechterhaltung einer imperialen Ordnung, sei es nun im geistlichen oder sei es im weltlichen Bereich.1228 Hier sind vor allem der Episkopat, Äbte und Pröpste, aber auch

1223 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 214. Nach dem Protest Ludwigs IX. übertrug Balduin jedoch Courtenay an seine Frau Maria (Hendrickx, Régestes [1988], Nr. 217). 1224 Vgl. hierzu Jacoby, Creta (1998), insb. S. 75; vgl. zur Eroberung der Insel Ravegnani, conquista (1998); und zur wirtschaftlichen Bedeutung Oikonomides, livello (1998). 1225 Lock, Franks (1995), 10. Vgl. überblickartig auch Lilie, Handel (1984), 325–612; Martin, Venetians (1988), 208–214; vgl. ebenso Nicol, Byzantium (1988), 68–123. 1226 So begleitete offensichtlich kein Venezianer das Aufgebot Heinrichs bei dessen Zug 1205 gegen die Bulgaren; ein Grund könnte der latent schwelende Konflikt über den Besitz Adrianopels gewesen sein, das Balduin I. den Venezianern zu entziehen versuchte. 1227 Vgl. hierzu die Schilderung bei Gerland, Geschichte (1905), 59. 1228 Vgl. den Überblick bei Beck, Kirche (1972).

II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen

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Kanoniker zu nennen.1229 Gerade bei engen Koppelungen von politischen und religiösen imperialen Ordnungen können so mächtige Gesamtstrukturen entstehen. Eine wichtige Scharnierfunktion nahmen im lateinischen Kaiserreich insbesondere die päpstlichen Legaten wie etwa Peter von Capua, Benedikt von S. Susanna, Pelagius von Albano und Johannes Colonna wahr.1230 Daneben waren es vor allem die Erzbischöfe – wie etwa Warin von Thessaloniki1231 –, die sich für den Kaiserhof als besonders nützlich erwiesen. Aber auch die Patriarchen von Konstantinopel trugen trotz der zu Beginn auftretenden nicht unerheblichen Probleme in gewissem Sinn zur Stabilisierung bei. Gerade der Patriarch band die drei Kräfte und die an sie angelagerten Herrschaftsorganisationen – das lateinische Kaisertum, die Venezianer und die Papstkirche – zusammen.1232 Gerade „an den Rändern“ imperialer Ordnungen agierten Mitglieder von Diasporen und „kulturelle Grenzgänger“. Sie waren nicht nur für die Erweiterung imperialer Ordnungen und deren Koppelung ausgesprochen wichtig. Ihre vielseitigen Kontakte machten sie zu „transkulturellen Synapsen“, die auch bei der „Hybridisierung von Modi der Machtausübung“ eine große Rolle spielten. In unserem Zusammenhang sind etwa Minoriten und andere Ordensangehörige, Söldner, aber auch religiöse und ethnische Minderheiten wie Juden1233, Armenier1234 und Muslime zu nennen. Insbesondere im Mittelmeerraum sind auch die Ritterorden für die Aufrechterhaltung imperialer Ordnungskonfigurationen und der ihnen zugrunde liegenden Kommunikationssysteme von großer Bedeutung.1235 Sie stellten in Teilen nicht nur bedeutendes militärisches Potential bereit, sondern übten auch im Nachrichten-, Gesandtschafts- und Finanzwesen eine kaum zu überschätzende tragende Funktion aus. Gerade die Ritterorden waren gleichsam die Klammer zur Koppelung politischer und religiöser imperialer

1229 Manche der Bischöfe, die sich im Kreuzfahrerheer befunden hatten, aber dann wieder zurückgekehrt waren, sollten sich auch weiterhin als Förderer des lateinischen Kaiserreiches erweisen. Vgl. etwa zu Nivelon von Quierzy: Claverie, amicus (2006). 1230 Vgl. zu ihnen und ihrer Politik Wolff, Politics (1954); Wolff, Organization (1948). 1231 Warin war 1208 zum Erzbischof von Thessaloniki gewählt worden. 1216 wurde er Kanzler der Romania. 1239 kehrte er mit Balduin II. nach Konstantinopel zurück (vgl. Hendrickx, Régestes [1988], Nr. 202). 1232 Vgl. unten, Abschnitt ‚III.1 Über oder zwischen den Religionen?‘. 1233 Vgl. zu den Juden des hochmittelalterlichen Mittelmeerraumes etwa die Beiträge in Cohn, Juden (1978); vgl. auch für den byzantinischen Raum Jacoby, Juifs (2001); Jacoby, Jews (2001); Jacoby, Community (2001); Calimani, Kaufleute (1990). 1234 Vgl. grundsätzlich Garsoïan, Problem (1999). Vgl. zum 12. und 13. Jahrhundert Hecht, Byzanz (1967); Pogossian, Armenians (2006); vgl. zum 11. Jahrhundert auch Yarnley, Philaretos (1972); vgl. für das 13. Jahrhundert Sabbides, Byzantium (1981); Evans, Armenians (1997); vgl. zu den staufisch-armenischen Beziehungen im 13. Jahrhundert Halfter, Corona (2007). 1235 Vgl. grundsätzlich die Beiträge in Lock, Military Orders (1994); vgl. zur Beteiligung der Templer am Vierten Kreuzzug Frale, Crociata (2006), insb. S. 478–484 zu den Folgen dieser Beteiligung; vgl. auch für Palästina Burgtorf, Ritterorden (2001).

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II. Imperiale Ordnungen

Ordnungen im westlichen Bereich. Dies war nicht nur in Spanien1236 und im staufischen Machtbereich1237 – wo etwa Hermann von Salza wirkte1238 – der Fall. Auch Kaiser Balduin I. von Konstantinopel schickte seinen ersten Brief über einen ehemaligen Tempelmeister in der Lombardei, Barochius, an Innozenz III.1239 Wahrscheinlich steht dieser Gesandte – wie Gerland vermutet – in Zusammenhang mit dem Aufbau eines finanziellen Beziehungsnetzes durch Balduin I.1240 Offenbar kam den Ritterorden bei der Beschaffung finanzieller Mittel später eine zentrale Rolle zu. Im Königreich Thessaloniki sollten die Ritterorden durch Bonifaz und nach seinem Tod durch die Barone auch zulasten des Episkopats gestärkt werden.1241 Andere Orden können an dieser Stelle nicht ausführlich behandelt werden. Allein auf die Minoriten sei noch kurz verwiesen. Diese spielten – obwohl ihre Orden noch nicht lange bestanden – im lateinischen Kaiserreich eine wichtige Rolle als Berater und Boten. 1242 1247 war in Konstantinopel sogar der Franziskaner Dominik von Aragon als päpstlicher Legat tätig.1243 Die Umstände ihres Wirkens unterschieden sich hier deutlich von dem sizilischen Herrschaftsbereich Friedrichs II., wo sie eher als Feinde der kaiserlichen Herrschaft galten.1244 Eine weitere wichtige Gruppe bei der Aufrechterhaltung (d. h. Aktualisierung) imperialer Ordnungen spielten zweifellos Troubadoure als Speicher und Transferträger imperialer Handlungsmaximen.1245 Elze führt sie etwa als mögliche Ritualmacher der ersten Kaiserkrönung im lateinischen Kaiserreich an.1246 Ihre Bedeutung liegt aber nicht

1236 Vgl. als Überblick auch Schwenk, Calatrava (1992); vgl. zu den Hintergründen Jaspert, Frühformen (2001). 1237 Cleve, Kaiser (1993), 42–48, 55f., 67f. 1238 Vgl. zu seiner Tätigkeit in Italien etwa Kluger, Hochmeister (1987), insb. das ausgewogene Resümee auf S. 186–192. 1239 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 3. 1240 Gerland, Geschichte (1905), 12. 1241 Gerland, Geschichte (1905), 118 und S. 196f. 1242 Wolff, Empire (1944). Vgl. auch Frazee, Church (1978), 37f.; vgl. zu den anderen Kreuzfahrerherrschaften Friedenthal, Involvement (1994); und für zeitgleiche Beispiele aus Osteuropa Freed, Friars (1976). 1243 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 230. Vgl. zu ihm Tisserant, légation (1924), v. a. S. 345f. 1244 Vgl. aber zum spannungsreichen Verhältnis zwischen Kaiser und Minoriten Berg, Herrschaftsideologie (2001). 1245 Vgl. zur Rolle der Troubadoure und ihrer Reflektion expansiver Tendenzen Dijkstra, Troubadours (1998) und Rieger, Relations (1998); vgl. knapp Jackson, Complaints (2003), insb. S. 22–25; vgl. auch Ranawake, Ottenton (1989), etwa S. 325f. sowie zu den hier behandelten Personen und zum Hintergrund Ranawake, Walther (1999); Switten, Crusade (1992), 68f. 1246 Elze, Krönung (1982), VII 841; Schramm, König 1 (1960), 196 beurteilt die wechselseitige Beeinflussung von Krönungszeremoniell und Ritterroman folgendermaßen: „(…) die Chansons geben künstlerisch gesteigerte Bilder der Wirklichkeit, und diese wiederum strebt sich zu erhöhen, indem sie versucht, jenen Bildern nahezukommen“.

II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen

249

nur auf der inhaltlichen Ebene1247, sondern auch darin, dass sie ganz verschiedene Personen in einer Lebensform verknüpften. Eine beachtliche Anzahl von Herrschaftsträgern des lateinischen Kaiserreiches war entweder selbst Troubadour – wie etwa Bonifaz von Montferrat und Conon von Béthune – oder dieser Lebensweise zumindest zugeneigt. Eine ähnliche Entwicklungstendenz lässt sich auch in der Dichterschule Süditaliens unter Friedrich II. feststellen.1248 Ein anderes Beispiel für die Träger imperialer Ordnungen wäre die Katalanische Kompanie und ihr „Söldnerstaat“.1249 Sicherlich lässt sich dieses Phänomen auch unter dem Schlagwort der aragonesischen Expansion in den Mittelmeerraum fassen. Das Engagement der Söldner diente zwar vor allem sich selbst und wechselnden Auftraggebern, war höchst destruktiv in seinen Zielen und kaum durch die Ausübung einer „tragenden Rolle“ gekennzeichnet.1250 Dennoch orientierten sich die Söldner auf ein ideelles Zentrum, erkannten eine Oberherrschaft an. Von den ethnischen Minderheiten hatten Armenier bereits frühzeitig im byzantinischen Reich eine Sonderrolle gespielt. Grundsätzlich „Außenseiter”, konnten sie nicht nur immer wieder in höchste Verwaltungsstellen aufsteigen und sogar das Kaiseramt erlangen.1251 Bei der Durchsetzung der lateinischen Herrschaft konnte Heinrich offensichtlich auf die Hilfe armenischer Bevölkerungsteile zählen.1252 Ihre Bedeutung zeigt 1247 Vgl. dazu auch Jaspert, Kreuzzüge (2010), 66 zur Kritik an Papsttum und Griechen. 1248 Baehr, Dichterschule (1974), insb. S. 93–95; Stürner, Friedrich II. 2 (2009), 361–374. 1249 Longnon, Domination (1951); Shneidman, Rise (1970); Hillgarth, Problem (1975); Setton, Domination (1975); Setton, Society (1975). 1250 Vgl. Lock, Franks (1995), 10f. auch zu den Söldnern aus Navarra und der Gascogne. 1251 Vgl. unten, Abschnitt ‚III.3.1 Abwehr‘. 1252 Laut Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 7, S. 795 schien dem Drängen der Armenier Kleinasiens eine Schlüsselrolle beim Entschluss Balduins zugekommen zu sein, dorthin überzusetzen: ὁ δέ γε Βαλδουῖνος εἰς τὸ Βυζάντιον ἀφικόμενος ἔγνω μηδ᾽ αὐτὸς ἡσυχῇ καϑῆσϑαι μηδ᾽ ἀπόμαχον εἰκῇ τὴν ὑπὸ οἷ τεταγμένην οἰκουρεῖν στρατιάν, ἀλλ᾽ ἐς Ἀσιαν ταύτην διαβιβάσαι καὶ τῶν ἐκεῖ πειράσασϑαι πόλεων, ἐξερεϑισϑεὶς εἰς τόδε τὸ ἔργον πρός τε τῶν Ἑλλησποντίων Λατίνων, ὧν ἡ πόλις Πηγαὶ κατωνόμασται, καὶ τῶν Τρωϊκῶν Ἀρμενίων∙ οὗτοι γὰρ οὐδὲ βραχύ τι γοῦν καϑυφῆκαν τὸν Βαλδουῖνον ἐνάγοντες καὶ τοὺς ἄλλους κόμητας ἐξερεϑίζοντες ὡς εἰς προκείμενον ἕρμαιον διαβῆναι τὴν τῶν ἑῴων πόλεων χείρωσιν („Balduin in Byzanz wollte auch nicht untätig dasitzen und sein Heer durch nutzloses Herumlungern kampfuntüchtig werden lassen. Darum gedachte er es nach Asien überzusetzen und die dortigen Städte zu berennen. Dazu hatten ihn die Lateiner in der hellespontischen Stadt Pegai und die Armenier in der Troas angespornt, denn diese bestürmten unablässig Balduinos und die anderen Komites, sie sollten doch zu ihnen kommen und die östlichen Städte als leichte Beute an sich bringen“). Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 310, S. 118 zum Eroberungszug Heinrichs 1204: Et il se saisist de la cité et se herberja dedenz. Et lors comença la guerre contre les Grex endroit lui. Et li Hermin de la terre, dont il en i avoit mult, se comencierent a torner devers lui, qui haoient mult les Grex. („Und er [scl. Heinrich] brachte die Stadt in seine Gewalt und nahm darin Unterkunft. Und dann begann er den Krieg gegen die Griechen vor ihm. Und die Armenier des Landes, von denen es sehr viele gab, begannen sich ihm zuzuwenden, weil sie die Griechen sehr hassten“) Vgl. auch c. 380,

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II. Imperiale Ordnungen

sich auch darin, dass sie – nach dem Rückzug Heinrichs aus der Troas geflohen – von der griechischen Bevölkerung aufgerieben wurden.1253 Sie spielten möglicherweise eine ähnliche Rolle wie die Muslime für die Herrschaftsausübung Friedrichs II. Im Umfeld des Kaisers bewegte sich hingegen eine Funktionselite, die mit den bislang behandelten Gruppen zum Teil identisch ist, aber zugleich durch die besondere kaiserliche Gnade des Vertrauens ausgezeichnet war: Die herrscherlichen Gesandten sorgten zunächst dafür, den herrscherlichen Willen auch in entfernteren Gebieten des Reiches zur Geltung zu bringen, konnten dann jedoch durch ihre akkumulierten Erfahrungen auch Einfluss auf die Gestaltung ihrer Missionen nehmen.1254 Ein typischer Vertreter dieser Gruppen ist etwa der antike kaiserliche Legat, dessen Rechtsfigur unter Karl dem Großen wieder aufgenommen wurde und der sich in staufischer Zeit – möglicherweise unter Rückgriff auf kirchliche Strukturen – einer größeren Beliebtheit erfreute.1255 Auch im byzantinischen Bereich waren diese Handlungsträger ausgesprochen prominent.1256 In den Quellen schlägt sich die Tätigkeit jener Gesandten klar nieder, die an einer wichtigen Gelenkstelle der stützenden Struktur des lateinischen Kaiserreiches – der Beziehung zum Westen – wirkten. Nach der Niederlage von Adrianopel wurden beispielsweise der Bischof von Soissons, Nivelon de Chérisy, und die Ritter Nikolaus von Mailly und Johann Bliaud ausgesandt, um in Italien, Frankreich, Flandern und Deutschland neue Truppen einzuwerben.1257 Wichtige Gesandte Heinrichs waren zum Beispiel Conon von Béthune und Peter von Douai.1258 Conon war enger Vertrauter Balduins von

1253

1254 1255 1256 1257 1258

S. 188, wo Villehardouin vom Rückzug Heinrichs aus Kleinasien berichtet: Henri le frere l’empereor Baudoin de Costantinople, qui avoit l’Andremite guerpie et s’en venoit vers Andrenople por l’empereor Baudoin son frere seccoure. Et avec lui s’en estoient passé li Hermin qui li avoient aidié vers les Grieux, bien .xx. a totes lor fames et a toz lor enfanz, qui n’osoient remanoir el païs. („Heinrich, Bruder des Kaisers Balduin von Konstantinopel, der Adramittium verlassen hatte, wandte sich nach Adrianopel um dem Kaiser Balduin, seinem Bruder, zu Hilfe zu kommen. Und mit ihm zogen die Armenier, die ihm gegen die Griechen geholfen hatten, ungefähr 20000 mit ihren Frauen und Kindern, die nicht wagten, in ihren Gebieten zu bleiben“). Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 385, S. 194: Et lors avint une mesaventure des Hermines qui venoient aprés Henri le frere l’empereor Baudoin: que les genz del païs s’assemblerent, si desconfirent les Hermines, et furent pris et mort et perdu tuit. („Und dann kam ein Unglück über die Armenier, die zu Heinrich, dem Bruder des Kaisers Balduin, gezogen waren: weil die Bewohner des Landes sich sammelten, die Armenier besiegten und sie alle gefangen nahmen und töteten und sie vernichteten”). Vgl. zu der Rolle der Gesandten bei der Vorbereitung des Vierten Kreuzzuges Queller, évolution (1961), insb. S. 500f. und generell für Friedrich II. etwa Görich, Reichslegaten (2008). Vgl. zum karolingischen Gesandtenwesen Schieffer, Karolinger (2006), 94–96. Vgl. zum Gesandtenwesen grundsätzlich das Fazit bei Maleczek, Frühzeit (2008). Lilie, Einführung (2007), 161 mit dem Verweis auf Narses. Gerland, Geschichte (1905), 57. Vgl. die Belege vor Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 106.

II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen

251

Hennegau gewesen und hatte bereits die letztlich für Byzanz so fatal endenden Verhandlungen mit Venedig über den Schiffstransport geführt.1259 Peter von Douai spielte noch eine wichtige Rolle bei der Auseinandersetzung Heinrichs mit den Bulgaren.1260 Heinrich entsandte beide später zu Michael von Epiros, um über Frieden zu verhandeln.1261 Ponce von Chaponay, ein Lyonese, der später noch eine wichtige Rolle bei Verhandlungen spielen sollte, war zunächst vor allem an finanziellen Transaktionen beteiligt.1262 Unter Kaiser Robert traten Gerhard von Truie und Dietrich von Walincourt als Vermittler gegenüber Theodor I. Laskaris in Erscheinung.1263 Über den Erwerb des lateinischen Kaiserthrones verhandelte für Johann von Brienne Petrus von Altmannus. Auch Villain von Aulnay, der Marschall der Romania, übte viele wichtige Funktionen aus, von denen sich allerdings vor allem seine Gesandtschaften in den Quellen niedergeschlagen haben.1264 Von kaum zu überschätzender Bedeutung im Herrschaftsbereich des lateinischen Kaisers waren die Kanzler, die man eher mit „Chefdiplomaten“ denn mit Kanzleiangestellten vergleichen konnte.1265 Hier zeigen sich die beiden wichtigsten Funktionen, die bestimmte „tragende Elemente“ der imperialen Ordnung ausübten: Diplomatie und militärische Leitungsaufgaben. Die Vereinigung beider Aufgabenbereiche ist ein typisches Kennzeichen lateinischer Herrschaft; im byzantinischen Raum waren beide Funktionen – wie auch im spätantiken römischen Reich – wenn nicht scharf, so doch diffus getrennt.1266 Den Kanzlern ähnlich, wenngleich auf einer etwas niedrigeren Ebene, sind die Übersetzer zu verorten, die in bedeutende gesellschaftliche Stellungen aufsteigen konnten. So übertrug Heinrich Emmanuel, dem Übersetzer der Margarethe / Maria von Ungarn, unter anderem mehrere Häuser.1267 Häufig kann zwischen den einzelnen Funktionsbereichen allerdings nicht scharf unterschieden werden; so stieg etwa Conon von Béthune, der kaiserliche Gesandte, auch zum Regenten des Kaiserreiches auf. Gerade bei der Regentschaft handelt es sich um eines der wichtigsten tragenden Elemente einer imperialen Ordnung. Viele der Regenten handelten nämlich im Namen des Kaisers und legten durch ihre Entscheidungen

1259 1260 1261 1262 1263 1264 1265 1266 1267

Vgl. Jung, Conon de Béthune (1999) und Longnon, compagnons (1978), 146–149. Gerland, Geschichte (1905), 156. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 106. Gerland, Geschichte (1905), 119 / Anm. 1. Vgl. zu ihm auch Longnon, compagnons (1978), 219. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 147 und Nr. 148. Vgl. etwa seine aus Layettes du Trésor II, Nr. 3123 ersichtliche Gesandtschaft im Auftrag Balduins II. an Blanche von Frankreich. Hendrickx, Institutions / Chancellerie (1976), 124–127. Lilie, Einführung (2007), 141 und 151–154. Dies gilt zumindest für die frühbyzantinische Zeit. In der mittelbyzantinischen Zeit sollte diese Trennung zum Teil aufgehoben werden. Vgl. zur Spätantike Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 38. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 116.

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II. Imperiale Ordnungen

auch die künftigen Linien des lateinischen Kaiserreiches fest.1268 Diese Stellvertreterschaft war auch im Westen weit verbreitet und somit stellt das lateinische Kaiserreich auch keinen Sonderfall dar – man denke nur etwa an Suger von Saint-Denis.1269 Für Niketas Choniates war diese Art der Regentschaft – entsprechend der byzantinischen Vorstellung einer lückenlosen Kaiserfolge – nur schwer verständlich.1270 Gerade unter dem Bailli Narjot von Toucy wird deutlich, dass die Regentschaft stark durch die übrigen Barone des lateinischen Kaiserreiches geprägt war, und dass insbesondere nach der handstreichartigen Vertreibung Kaiser Roberts I. die konsensualen Muster voll zum Durchbruch kamen.1271 Robert wusste sich anscheinend nicht anders zu helfen, als nach Rom zu reisen und sich bei Gregor IX. über die Beleidigungen durch seine Barone zu beschweren; dieser schickte ihn jedoch schnell nach Konstantinopel zurück.1272 Der Kaiser der Romania wurde auch dem Papsttum, von dem er fast vollkommen abhängig war, auf Dauer zum Ärgernis. Robert starb dann auch 1228 in Achaia. Bezeichnend für die weiterhin bestehenden Ordnungsvorstellungen kaiserlicher Herrschaft ist jedoch, dass die Regentschaft eines „Barons“ offensichtlich auf Dauer als unzulänglich angesehen und sie schließlich Johann von Brienne, dem königgleichen Herrscher von Jerusalem, angetragen wurde. Johann hatte bereits im Königreich Jerusalem eine Regentschaft innegehabt und insofern nicht nur politische Erfahrungen gesammelt, sondern war auch mit kaiserlichen Traditionen in Verbindung gekommen.1273 Für ihn stellte die Regentschaft des lateini1268 Vgl. etwa für Conon: Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 142, Nr. 143 und Nr. 144; vgl. für Narjot von Toucy Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 164. 1269 Grant, Abbot (1998), 156–178. Vgl. zur Stellung Sugers gegenüber dem König allgemein Bur, Suger (1991), 142–171. 1270 So nutzt Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 16, S. 847 die für ihn etwas befremdliche Konstellation auch zur Kritik an den eigenen Landsleuten: ἐνιαυτὸν δ᾽ ἕνα καὶ μῆνας τέσσαρας ἄνευ βασιλέως τὰ κοινὰ χειρίζοντες πράγματα οὐκ ἄλλως κατένευσαν χρῖσμα βασιλείας ὁτῳδὴ τῶν ἐκ γένους χαρίσασϑαι, εἰ μὴ πρότερον τὸν Βαλδουίνου ϑάνατον ἠκριβώσαντο. ἀκουέτωσαν ταῦτα ῾Ρωμαῖοι οἱ χρίοντες ἅμα καὶ τὸν διὰ τάχους καϑαιρήσοντα τὸν χριόμενον τῷ νῷ συλλαμβάνοντες. εἰκότως οὖν καὶ μητρόλεϑροι ἔχιδναι καὶ γένος ἀπολωλεκὸς βουλὴν καὶ τέκνα μωμητὰ καὶ υἱοὶ ἄνομοι οἱ ἐς ἡμᾶς πρὸς ὅπλα ἔχοντες παρὰ πᾶσιν ἀκούουσιν ἔϑνεσιν („Ein Jahr und vier Monate hatten sie den Staat ohne Kaiser geleitet, denn sie ließen nicht zu, dass die Salbung irgendjemandem aus Balduins Geschlecht zuteilwerde, bevor sie nicht genaue Kunde vom Tode Balduins erhalten hatten. Hört, ihr Rhomäer, hört dies! Ihr, die ihr salbt und schon überlegt, wer den Gesalbten allsogleich stürzen soll! Deshalb sind ja die Leute, die bei uns zu den Waffen greifen, bei allen Völkern als muttermordende Nattern, als Geschlecht ohne Sinn und Verstand, als verdorbene Kinder, als ruchlose Söhne mit Recht verschrien“). 1271 Vgl. etwa Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 166 zur Bestätigung des durch Narjot von Toucy mit Theodor Komnenos Dukas abgeschlossenen Friedensvertrags durch die Barone. 1272 Vgl. Wilken, Geschichte 7,1 (1832), 436. 1273 Vgl. zu seiner Zeit als König und Regent von Jerusalem Böhm, Johann von Brienne (1938), 22– 88. Vgl. auch zu den Ibelins allgemein Edbury, John of Ibelin (1997), 3–23.

II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen

253

schen Kaiserreiches eine willkommene Gelegenheit dar, nach dem Verlust der Jerusaleminiter Würde (nach der Heirat seiner Tochter Isabella mit Friedrich II. 1225) doch noch zu reüssieren und sich seinem staufischen Konkurrenten im Rang anzugleichen. Für die Barone des in starkem Maße bedrohten lateinischen Kaiserreiches war Johann als im östlichen Mittelmeer hoch erfahrener Kreuzfahrer und enger Vertrauter Gregors IX. eine gute Wahl. Schwierigkeiten bereitete Johann jedoch die zahlenmäßige Unterlegenheit seiner Truppen.1274 Auch war er bereits hoch betagt und entfaltete anders als etwa Enrico Dandolo kaum noch politische Aktivitäten.1275 Gegenüber geistlichen und weltlichen Großen schien der auf Johann folgende Kaiser Balduin II. jedenfalls gewisse Probleme gehabt zu haben, sich hinsichtlich seiner Prärogativen durchzusetzen – zumindest sprechen die Bemühungen Kaiserin Marias von Brienne gegenüber Innozenz IV. um Unterstützung für ihren Mann gegen verschiedene Große dafür.1276 1274 Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 29, S. 46: ἐπεὶ τὸ πολὺ τῆς στρατιᾶς τῇ μάχῃ καὶ τῇ ὥρᾳ τοῦ χειμῶνος τεταλαιπωρηκὸς περὶ τὰ οἴκοι ἐφέρετο („Der größte Teil seines Heeres hatte nämlich einerseits im Kampfe, andererseits wegen der winterlichen Verhältnisse große Strapazen durchgemacht und war daher nach Hause zurückgekehrt“). 1275 Vgl. etwa Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 27, S. 45: ἐπεὶ δὲ καταλάβοι τὴν Κωνσταντίνου, οὐκ εὐχερῶς εἶχεν ἐξιέναι τε καὶ μάχης κατάρξαι· καὶ γὰρ ἐπέγνω τὸν βασιλέα Ἰωάννην στρατηγικώτατόν τε ὄντα καὶ ταῖς κατ̕ ἐχϑρῶν μάχαις εὐμεϑοδώτατον. ἐμέμφετο γοῦν ἑαυτὸν τῆς ἐγχειρήσεως καὶ ὅτι πρώτως τοῦ ἔργου ἐπελάβετο· καὶ κακῶς ἔφασκε νοεῖν τοὺς λέγοντας, εἴ γε καὶ οὕτως ὑπελάμβανον καὶ οὐκ ἠρέϑιζον αὐτὸν διὰ τὸ σφίσι συμφέρον, ὡς καταλάβοι ἂν εἰς χώρους ὧν οὐκ ἐπίσταται ἄρχειν ὁ ἐπ̕ αὐτοῖς βασιλεύων· (…) εἴτε γοῦν διὰ ταῦτα εἴτε καὶ τρυφῆσαι εἰς ἄκρον ἐν τοῖς τῆς Κωνσταντίνου βεβουλημένος καλοῖς, δύο ἐνιαυτοὺς ἐντὸς αὐτῆς διήνυσε. μόγις οὖν τριήρεις οἰκονομήσας καὶ στράτευμα συναϑροίσας ὅσον εἶχε πρὸς δύναμιν, κατὰ τῆς ἕω ἐχώρησε, καὶ περὶ τὸ τῆς Λαμψάκου ἐλλιμενίζει νεώριον („Als er die Stadt Konstantins nun wirklich erreicht hatte, da hatte er es durchaus schwer, einen Ausfall zu unternehmen und außerhalb der Stadtmauern eine Schlacht zu eröffnen, hatte er doch begriffen, dass Kaiser Johannes ein ganz hervorragender Feldherr und in der militärischen Taktik gegen seine Feinde bestens erfahren war. Daher machte er sich selbst Vorwürfe wegen dieses Abenteuers, dass er sich nämlich überhaupt auf dieses Wagnis eingelassen hatte; und er bezeichnete alle jene als politische Dummköpfe, die da laut sagten (oder auch nur im stillen so dachten, ihn aber aus privaten Rücksichten nicht zu einem Ausfall anstacheln wollten), er werde ja nur in solche Gebiete kommen, die der dortige Kaiser gar nicht unter Kontrolle zu halten verstünde (…) Entweder dieser Dinge wegen oder aber, weil er bis aufs äußerste in den Genüssen schwelgen wollte, die die Stadt Konstantins bot, verblieb er zwei ganze Jahre in dieser Stadt. Mit großer Mühe konnte er die Einrichtung von Trieren und die Aufstellung einer Streitmacht, soweit dies ihm überhaupt möglich war, durchsetzen, danach brach er nach Osten auf und ankerte im Hafen von Lampsakos“). Vgl. zum Alter Johanns aber Buckley, Octogenarianism (1957). Vgl. auch Wiener, Grabmal (1998). 1276 Vgl. hierzu den Brief Innozenz IV. an Bischöfe (Les registres de Innocent IV, 3. Ed. Berger, Nr. 6071, S. 127): Cum itaque, sicut carissima in Christo filia nostra M. imperatrix Constantinopolitana illustris sua nobis petitione monstravit, nos carissimum in Christo filium nostrum B. imperatorum Constantinopolitanum illustrem, virum ejus, ob ipsius erga nos et Romanam Ecclesiam devotionem quibusdam privilegiis et indulgentiis de speciali gratia

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II. Imperiale Ordnungen

Frauen als Regentinnen spielten auch im lateinischen Kaiserreich eine beachtliche Rolle, ja sie waren mit die wichtigsten tragenden Elemente einer imperialen Ordnung.1277 Dies betrifft nicht nur die byzantinischen Gebiete, wo ihre Verpflichtungen eher passiver, aber gleichwohl ausgesprochen wichtiger Art waren.1278 Dort spielte die Kaiserin neben dem Kaiser zwar eher selten eine herausragende Rolle. Ihre Aufgabe bestand vor allem darin, Dynastiemitgliedern das Leben zu schenken. Jedoch konnte sie an Bedeutung gewinnen, wenn sie nach dem Tod des Kaisers das Kaisertum mit ihrer Hand weitergab oder in seltenen Fällen als Regentin für ihren unmündigen Sohn regierte.1279 Insbesondere in den Kreuzfahrerherrschaften entwickelten sich aber gerade die Frauen – Gattinnen und Töchter – aufgrund der steten physischen Anfälligkeit männlicher Herrschaftsdauer – zu wichtigen Kontinuitätsträgern. So hatten im lateinischen Königreich Jerusalem die Töchter und Gemahlinnen der Könige eine bedeutende Stellung als Regentinnen oder Trägerinnen von Rechten inne.1280 Gleichwohl wurde ihre Stellung nur selten in eine aktive Regierungsrolle umgemünzt, sie blieben vor allem Trägerinnen von Herrschaftsrechten. Wie handelten nun aber die Regentinnen / Kaiserinnen des lateinischen Kaiserreiches? Sicherlich ist diese Frage aufgrund der schwierigen Quellenlage nicht einfach zu beantworten. Jolante, die Schwester Balduins und Heinrichs, sorgte nicht nur – gleichsam passiv – für den Übergang der Herrschaft auf das Geschlecht der Courtenay. Vielmehr regierte sie anstelle ihres in Epiros verstorbenen Mannes, Peter, 1217–1219 das lateinische Kaiserreich. Peter schien sie bereits als eine Art Vorhut vorausgeschickt zu haben. Maria von Courtenay, die Tochter Peters und der Jolante, war zur Besiegelung des gemeinsamen Friedens Theodor I. Laskaris zur Frau gegeben worden.1281 Nach der Vertreibung Roberts I. führte sie neben ihrem Titel einer Kaiserin von Nikaia auch

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duxerimus honorandum, et ipse contra eadem irreverenter et multipliciter a nonnullis prelatis et aliis clericis et laicis super juribus molestetur suis, nos, volentes eundem imperatorem in hujusmodi gratiis apostolice defensionis presidio confovere, mandamus quatinus eidem et prefate M. uxori ejus contra quoslibet injuriatores favorabiliter assistentes, non permittatis ipsos contra eorumdem privilegiorum et indulgentiarum tenores super eisdem juribus ab aliquibus indebite molestari. Vgl. zur Stellung von herrschenden Frauen über die Jahrhunderte grundsätzlich Hartmann, Königin (2009); Erkens, Frau (1991); Müller-Wiegand, Vermitteln (2005), insb. S. 290–295; Pflefka, Kunigunde (1999); Baumgärtner, Kunigunde (1997), 12f. und 20–27; Baumgärtner, Fürsprache (2004), 49–61; vgl. die Beiträge in Fößel / Rueß‚ Frauen (2006); vgl. zur „Stellvertreterschaft“ im besonderen Fössel, Königin (2000), 317–372 sowie Wolf, Königinwitwen (1991). Vgl. zur Stellung der Kaiserin generell Hill, Women (1999), 96–119; biographisch orientiert Garland, Empresses (1999), für das 12. Jahrhundert S. 180–224; Herrin, Women (2001), insb. der Vergleich S. 240–257; vgl. für die römische Antike Burns, Women (2007). Vgl. zur in gewisser Weise paradigmatischen Theodora etwa Cesaretti, Theodora (2004). Lilie, Einführung (2007), 139. Vgl. etwa zu Königin Sibylle Mayer, Pontifikale (1967), 158. Prinzing, Kaisertum (1992), 161.

II.3 Tragende Elemente der imperialen Ordnungen

255

denjenigen einer Regentin von Konstantinopel, nachdem sie von den Baronen zurückgerufen worden war.1282 Maria war somit eine durch und durch hybride Gestalt, eine regelrechte Grenzgängerin zwischen den Kulturen. Trotz solcher Ausnahmefiguren ist zu erkennen, dass auch im lateinischen Kaiserreich die Rolle der Frau als regierende Person auf Phasen der Krise beschränkt blieb.

1282 Vgl. zu Maria Schaube, Regentin (1887).

III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

Innerhalb welcher Herrschaftsorganisationen waren aber diese Personen und Personengruppen tätig? Wie war es um die Verbindung zwischen imperialem Erbe, imperialer Ordnung, kaiserlichen Ordnungsvorstellungen und kaiserlichem Rang bestellt? Richten wir unseren Blick auf zwei Zitate, die zwei unterschiedliche Phasen des Kaisertums bezeichnen: Eduard Eichmann schrieb hinsichtlich der Kaiserkrönung Karls des Großen mit Bezug auf die Nomen-Potestas-Theorie: „(…) zu dem imperialen Machtbereich, den Karl schon besaß, sollte der entsprechende Titel hinzutreten“1283. Friedrich Wilken formulierte hingegen über das lateinische Kaiserreich: „In derselben Zeit (1261) … endigte das Lateinische Kaiserthum zu Constantinopel sein kümmerliches Daseyn. Weder der Kaiser Balduin der Erste, noch sein Bruder Heinrich hatten es vermocht, innere Haltbarkeit einem Reiche zu geben, welches in seiner Einrichtung und Verfassung den Kern des Verderbens trug“1284. Diese Aussagen werfen die Frage auf, ob ein bestimmtes Maß an und eine bestimmte Art von Macht geradezu einen Wechsel von königlicher zu kaiserlicher Herrschaft induzieren konnten. Existieren noch zusätzliche Faktoren? Oder gab es auch einen entsprechenden Wechsel, ohne dass die reale Macht betroffen wäre? Lag der Kern kaiserlicher Herrschaft gar gerade in der Sublimierung seiner faktischen Machtlosigkeit in der Sphäre virtueller Fiktionalität? Und was ist Macht? Tacitus führt in seinen Annalen ein breviarium totius imperii an, das beim Tod des Augustus verlesen worden sei: „Die Machtmittel des Staates waren ihr Inhalt: wie viele Bürger und Bundesgenossen unter Waffen standen; wie viele Flotten, Königreiche, Provinzen es gab, die Abgaben und Steuern; schließlich die notwendigen Ausgaben und Schenkungen“.1285 Man könnte aber eines der wichtigsten Elemente ergänzen: die Sakralität. Welcher Stellenwert kam religiösen Faktoren bei der Strukturierung einer imperialen Ordnung im hochmittelal-

1283 Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 25. 1284 Wilken, Geschichte 7,1 (1832), 431f. 1285 Cornelius Tacitus, Libri qui supersunt. Ed. Borzsák / Wellesley, lib. 1, c. 11: opes publicae continebantur, quantum ciuium sociorumque in armis, quot classes regna prouinciae, tributa aut uectigalia et necessitates ac largitiones.

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

terlichen Mediterraneum zu? Und wie sind diese Faktoren mit dem kaiserlichen Rang und kaiserlichen Ordnungsvorstellungen verbunden?

III.1 Über oder zwischen den Religionen? Auf den ersten Blick scheint es geradezu so, als ob eine gewisse Form von „Toleranz“ wichtiger Bestandteil einer erfolgreichen Herrschaftserhaltung gewesen sei.1286 Auch das byzantinische Reich lässt sich – vielleicht bis auf einen kleinen Bereich am Bosporus – kaum als kulturell und religiös homogen ansehen.1287 Dennoch kam es hier zu einer engen Koppelung, ja zur geradezu untrennbaren Verflechtung der politischen imperialen Ordnung mit der religiösen imperialen Ordnung der orthodoxen Kirche. Erst diese enge Koppelung ermöglichte die unglaubliche Flexibilität der byzantinischen imperialen Ordnung und sicherte über die Jahrhunderte ihr Überleben. Zum Problem wurde diese enge Koppelung umgekehrt für all diejenigen, die – selbst ohne Ambitionen, den orthodoxen Glauben anzunehmen – die byzantinische imperiale Ordnung erobern wollten.1288 Das lateinische Kaiserreich kann hier als Beispiel dienen. Es baute auf den Resten der byzantinischen imperialen Ordnung auf, die lateinischen Kaiser konnten die vorgefundenen Herrschaftsstrukturen jedoch nie vollständig durchdringen. Wie noch zu zeigen sein wird, war es vor allem die mit der lateinischen Herrschaft eng gekoppelte religiöse Ordnung der Papstkirche, die eine Übernahme des gesamten byzantinischen Erbes unmöglich machte.1289 Um hier Bewegungsspielraum in Richtung pragmatischer Toleranz zu erreichen, wäre es für den lateinischen Kaiser notwendig gewesen, sein Gewicht innerhalb der römischen Kirche entscheidend zu stärken. Wie bereits im ersten Teil der Arbeit dargelegt, war die sakrale Qualität des Kaisertums oder anderer Leiter imperialer Ordnungen im 13. Jahrhundert nicht unumstritten. Umso wichtiger waren auch andere Sakralitätsquellen, etwa der Nachweis der eigenen Heilswirksamkeit.

1286 1287 1288 1289

Vgl. oben, Anm. 411. Augé, Byzantins (2007), 11–32. Vgl. zu früheren Beispielen auch Körntgen, Möglichkeiten (2001). Vgl. zu den Beziehungen des lateinischen Kaiserreiches zum Papsttum grundlegend Hageneder, Innocenz III. (2005) und Setton, Papacy (1976), 1–105; Gill, Byzantium (1979), 9–119; vgl. für die Erwartungen der Frühzeit Andrea, Innocent III. (2004)

III.1 Über oder zwischen den Religionen?

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III.1.1 Sakralität Dem lateinischen Kaiserreich hätte theoretisch eine ausgezeichnete heilsgeschichtliche Funktion zukommen können. Durch die Eroberung Konstantinopels kamen die Kreuzfahrer in den Besitz gewaltiger Reliquienschätze.1290 Diese Schätze schienen fast noch wichtiger zu sein als die materielle Beute.1291 Reliquienraub und -handel waren in westlichen Augen eigentlich nichts Außergewöhnliches1292; von theologischer Seite kam keine Kritik. Die Dimension war allerdings gewaltig: Aus Konstantinopel und dem lateinisch besetzten Teil des Reiches „flossen“ über Jahrzehnte gewaltige Mengen von Reliquien nach Westen.1293 Dennoch konnte das lateinische Kaisertum ebenso wenig wie das Königtum von Jerusalem, das eigentlich die heilswirksamsten Orte und Reliquien der Christenheit besaß1294, mit diesem „sakralen Kapital“1295 wuchern, es geschickt transferieren, investieren und „arbeiten lassen“. Ansatzweise gelang dies in Jerusalem mit dem alle anderen Reliquien überstrahlenden Wahren Kreuz Christi, das bis zur Schlacht von Hattin als siegverleihend galt und eine entsprechende Mobilisierungsfunktion entfalten konnte.1296 Das lateinische Kaiserreich brauchte hingegen das „sakrale Kapital“ seines Reliquienschatzes peu à peu ganz auf1297 und geriet recht rasch in die Abhängigkeit westlicher Unterstützung. Am Beginn nachweisbarer Translationen steht unter anderem eine Sendung Balduins I. an den französischen König Philipp II. August, mit der er sich wahrscheinlich für die königliche Unterstützung in manchen Fällen erkenntlich zeigen wollte.1298 Auch Heinrich schickte an seinen Bruder, Markgraf Philipp von Namur, Reliquien und andere Preziosen.1299 Ebenso wurde Simon von Beaumont durch Hein1290 1291 1292 1293 1294 1295 1296

1297 1298 1299

Vgl. zur Übersicht Klein, Objects (2004); Barber, Impact (2006). Frolow, Recherches (1955), 46–71. Vgl. grundsätzlich zum Thema Geary, Furta (1990). Vgl. auch zur längeren Tradition der Reliquienverehrung in Venedig Klein, Heiltümer (2006). Vgl. zu den Reliquien Jerusalems und deren Bedeutung für das Königtum Mayer, Pontifikale (1967), 181. Vgl. zu diesem Begriff Burkhardt, Stab (2008), 15. Mayer, Pontifikale (1967), 182. Vgl. zum Wahren Kreuz grundlegend Frolow, relique (1961), für das 12. und 13. Jahrhundert S. 296–489; Holbert, Relics (2005); Klein, Byzanz (2004), insb. S. 234–277; vgl. zu Jerusalem Engemann, Jerusalem (1995); Gerish, Cross (1996); vgl. zu den architektonischen Auswirkungen der Verschmelzung von Jerusalem und Kreuzesreliquie Blaauw, Jerusalem (1997). Vgl. zur byzantinischen Kreuzesverehrung Hörandner, Epigramm (2007); Klein, Niketas (2001). Vgl. zu einer ähnlichen Verwendung des Wahren Kreuzes Mayer, Pontifikale (1967), 182f. / Anm. 185. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 38 mit Erwähnung weiterer „Reliquienlieferungen“. Analectes 1, S. 53: Noverit fraternitas vestra mihi praedilecta, quod vobis mitto per magistrum Danielem de Sclausinio, clericum nostrum, vas aureum pulchrum et pretiosum in quo continetur maxima pars de ligno Domini in modum crucis circumligata et ornata. Mitto etiam vobis de sacrosanctis reliquiis imperialis pallatii Bucceleonis, videlicet: de spinis coronae Domini, de

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

rich mit verschiedenen Reliquien aus dem Bukoleon-Palast bedacht.1300 Hugo von St. Ghislain berichtet, er habe durch Heinrich ein Stück des wahren Kreuzes erhalten, um es der Abtei von Clairvaux zu überreichen.1301 Weitere Reliquien gingen an den Erzbischof von Lyon und sein Kapitel.1302 Gerade bezüglich dieser „Lieferung“ zeigt sich das schier unerschöpfliche Reservoir des Bukoleon-Palastes. Weitere Reliquien waren eher dazu geeignet, die Heimat auszustatten, wie sich etwa anhand der Reliquienschenkung Heinrichs an Liessies im Hennegau zeigt.1303 In kleinerem Maße lässt sich auch die Konvertierung von „Heilswirksamkeit“ in handfeste Vorteile nachvollziehen, etwa wenn der Überbringer der Reliquien nach Lyon im folgenden Jahr mit Geld und Nachschub nach Griechenland zurückkehrte.1304 Unter Balduin II. nahmen dann die Verpfändungen por le grant necessité de nos & de nostre empire stark zu.1305 Hier kam es zu einer regelrechten engen Koppelung zwischen den verschiedenen imperialen Ordnungen im Medium der Sakralität. Der größte Nutznießer schien das französische Königtum unter Ludwig dem Heiligen zu sein. Die beachtliche Menge an Reliquien, die aus Konstantinopel nach Paris gelangte, wird aus einer Bestäti-

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veste purpurea Jesu Christi, de pannis infantiae Salvatoris, de linteo quo praecinxit se in coena, de zona beatae Mariae Virginis, de capite beati Pauli et beati Jacobi minoris. Exuviae sacrae Constantinopolitanae 2. Ed. Riant, Nr. 27, S. 78: Universitati vestre notum facimus quod dilecto & fideli clerico nostro Simoni de Bellomonte, divine pietatis intuitu, ad preces ipsius Simonis, dedimus de sacrosanctis reliquiis nostris Bucceleonis maioris palatij nostri, videlicet: de Ligno Domini, de spinea corona Domini, de veste purpurea Iesu-Christi, de cingulo Domini, de pannis infantie Salvatoris, de arundine quo fuit percussus in Passione, & de zona beate Marie Virginis. Exuviae sacrae Constantinopolitanae 2. Ed. Riant, Nr. 40, S. 100: Ipse igitur, ad hoc facillime ex suggestu ingenite liberalitatis inductus, imprimis honorificam partem vivifice Crucis, in crucis effigiem figuratam, michi manu propria contulit, sub nomine Clarevallis, eidem Clarevalli per me ex imperiali munificentia presentandam, ac deinceps de preciosissimis quibusque [reliquiis] portiunculas competentes accipere me concessit, que, ipso legante, simul attuli & contuli Clarevalli. Exuviae sacrae Constantinopolitanae 2. Ed. Riant, Nr. 30, S. 81: Noveritis quod reliquie, quas dilectus & familiarius noster, Pontius de Lugduno, quarum nomina subscribuntur, vobis transmittit, verissime sunt, sicut a sapientioribus & senioribus p[resbiteris] Romanie didiscimus, & veraciter sumus insigniti. Nam dilectus frater noster Balduinus imperator, bone memorie, ei quamdam partem intulit, & nos similiter aliam, quam de capella nostra Bucca-Leonis arrepimus, &, ut melius credatis & ab omni suspectione removeamini, sigilli nostri munimine presentem paginam fecimus sigillari. Sunt autem nomina hec: de Ligno Domini, de sancto Stephano protomartyre, de sancto Thoma apostolo, de sancto Eustachio. Exuviae sacrae Constantinopolitanae 2. Ed. Riant, Nr. 32, S. 83: ipsi Thome pulcherrimas ac propemodum infinitas reliquias Salvatoris, Marie, apostolorum, evangelistarum, prophetarum, martirum, confessorum ac feminarum sanctarum, pia beneficia, contulimus. Vgl. zu dem Kloster auch Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 90. Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, c. 666. Exuviae sacrae Constantinopolitanae 2. Ed. Riant, Nr. 93, S. 144 (bzgl. eines Arms von Johannes dem Täufer).

III.1 Über oder zwischen den Religionen?

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gungsurkunde ersichtlich, die Balduin II. Ludwig IX. ausstellte und die erneut das kaiserliche Hauptmotiv von Balduin II. (pro urgenti necessitate imperij Constantinopolitani) erkennen lässt.1306 Kaum eine Reliquie der Christenheit hatte – abgesehen vielleicht vom Wahren Kreuz – einen ähnlichen Stellenwert wie die letztlich durch den französischen König erworbene Dornenkrone.1307 Man kann die Dornenkrone als ein Symbol des byzantinischen Reiches, als Symbol kaiserlichen Ranges ansehen.1308 Bereits vor 1238 hatten die lateinischen Kaiser einzelne Dornen in die westliche Heimat geschickt.1309 Kennzeichnend für den ökonomischen, aber auch institutionellen Zustand des Kaiserreiches ist jedoch, dass die Barone 1238 die Dornenkrone für 13.134 Hyperpyron an verschiedene Parteien, etwa den venezianischen Podestà, aber auch an Genuesen verpfändeten.1310 Für diese Summe wurde die Krone später durch Anseau von Cayeux, Narjot von Toucy, Geoffroy von Méry, Villain von Aulnay, Gerhard von Sirvensi und Milon Tirel an Nicolas Quirini verpfändet. Balduin II. verpfändete die Krone dann an Ludwig den Heiligen für 10.000 livres und die Bezahlung der Summen, die die Barone Nicolas Quirini schuldeten.1311 Die Schilderung der Übergabe der Reli1306 Vgl. Exuviae sacrae Constantinopolitanae 2. Ed. Riant, Nr. 79, insbesondere S. 134: Notum fieri volumus universis quod nos carissimo amico & consanguineo nostro Ludovico, regi Francie illustrissimo, sacrosanctam spineam Coronam Domini & magnam portionem vivifice Crucis Domini, una cum aliis pretiosis & sacris reliquiis, que propriis vocabulis inferius sunt expresse, quas olim in Constantinopolitana urbe venerabiliter collatas, & tandem pro urgenti necessitate imperij Constantinopolitani diversis creditoribus & diversis temporibus pignori obligatas, idem dominus rex de nostra voluntate redemit magne pecunie quantitate, & eas fecit Parisius beneplacito nostro transferri, eidem domino regi, spontaneo & gratuito dono plene dedimus, absolute concessimus, & ex toto quictavimus & quictamus, quas utique venerendas reliquias propriis nominibus duximus exprimendas. 1307 Vgl. hierzu grundlegend Mely, reliques (1900); vgl. zur Thematik insb. Lützelschwab, Ludwig der Heilige (2004); Pinoteau, roi (2007), 11 und zum Hintergrund Schmidt, dévotion (2007). Vgl. für das Beispiel Böhmens Kuthan, épines (2007). 1308 Diese Bedeutungsdimension wird deutlich, wenn Gualterus Cornutus (Exuviae sacrae Constantinopolitanae 1. Ed. Riant, 51) den incomparabilem thesaurum illum Corone Domini (que totius imperij titulus erat & gloria specialis) erwähnt. 1309 Vgl. etwa zu Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 53 sowie oben, Anm. 1299. 1310 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 191. 1311 Chronica Albrici Monachi Trium Fontium a Monacho novi Monasterii Hoiensis interpolata. Ed. Scheffer-Boichorst, 947: Supradictus imperator iuvenis Balduinus castrum de Namuco regi Francie Ludovico supra 50000 librarum Parisiensium invadiavit, et pro spinea Domini corona, que ex parte eiusdem imperatoris servabatur in Venetia, dedit ei rex Francie 10000 librarum. Vgl. auch die Schilderung der allgemeinen Problematik bei Gualterius Cornutus (Exuviae sacrae Constantinopolitanae 1. Ed. Riant, 50f.): Perpendens igitur idem Balduinus devotionem regis & matris ipsius, de sacrosancta spinea Corona facit eidem mentionem. Dicit itaque se novisse relatione veridica, proceres inclusos in urbe Constantinopoli, ad hanc calamitatis inediam devenisse, quod incomparabilem thesaurum illum Corone Domini (…) oportebat eos alienis vendere, vel ad minus titulo pignoris obligare. Unde ardenter habebat in votis, quatinus ad regem, consanguineum, dominum, & beneficum suum, necnon ad regnum Francie, de quo parentes ipsius utrique processerant, huius speciose gemme honor inestimabilis & gloria

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

quie an die königlichen und kaiserlichen Gesandten bei Gualterius Cornutus ist durchaus aufschlussreich: Während die Lateiner trotz mancher Wehklagen dem kaiserlichen Befehl gefolgt seien, habe der Kaiser von Nikaia sich in den Besitz der Krone setzen wollen.1312 Deutlich wird daran zweierlei: Erstens betrifft dies die weitgehende Substituierung sakralitätszentrierter durch ökonomische Überlegungen. Weder in Antiochia noch in Jerusalem wäre man wohl auf die Idee gekommen, die Heilige Lanze1313 oder das wahre Kreuz zu verpfänden oder gar zu verkaufen. Hier mag zum einen die alte, byzantinische Tradition der „Schaffung“, Speicherung und letzten Endes auch Translationen von Reliquien eine Rolle gespielt haben. Hinzu trat jedoch die starke Intensivierung des OstWest-Austausches nach der lateinischen Eroberung Konstantinopels und vielleicht ein wichtigerer Faktor: die dominierende ökonomische Betrachtung der byzantinischen Konkursmasse durch die Venezianer.1314 Zum Durchbruch mag diese Kalkulationsweise jedoch nicht erst dann gekommen sein, als sich der ökonomische Druck signifikant verstärkt hatte. Vielmehr war sie auch zweitens bedingt durch die Schwäche des lateinischen Kaisertum, das nicht mehr in Ansätzen jene singuläre Sakralität entfalten konnte, provinerent. Verum, quia idem Balduinus perceperat quod si tam preciosa res ei venderetur pecunie precio, regis conscientia lederetur, affectuosa prece cum lacrimis eidem supplicat ut munus illud honorificum ab ipso recipere dono dignetur, & gratis. His auditis, rex prudenter intelligens id a Domino fieri, gavisus est in hoc quod ille, qui Coronam eandem pro nobis gesserat in opprobrium, volebat eam a suis fidelibus pie & reverenter honorari in terris, donec ad iudicium veniens eam suo rursus imponeret capiti, iudicandis omnibus ostendendam. Gaudebat igitur quod, ad exhibendum honorem huiusmodi, suam Deus preelegerat Galliam, in qua per ipsius clementiam fides viget firmiter, & cultu devotissimo salutis nostre mysteria celebrantur. 1312 Exuviae sacrae Constantinopolitanae 1. Ed. Riant, 52: Barones lectis domini sui litteris, sancto proposito regis Francorum & heredis imperii plenius intellecto devote adimplent mandatum domini, gerentes in votis ut de Venetorum minibus educta, si fieri posset, in honorem cederet ecclesie gallicane. Conveniunt ergo cum Venetis, ut nuncij regales, quorum vita & habitus religionem testabantur, illud sacrosanctum portarent Venetiam, adiunctis sibi solemnibus nunciis imperij, presentibus etiam magnis civibus Venetorum. Signatur loculus sigillis procerum, non sine lacrimarum fluviis & eiulatu publico, defertur ad navem. Comites itaque tam sacri pignoris, de ipsius confisi presidio, media hyeme, que solet esse nautis invia, circa Nativitatem Domini, maris fluctibus se committunt. Vastachius vero, pessimus zelator imperij, per exploratores rem noverat de transferenda corona. Anxius igitur, & intendens qualiter eam nunciis posset eripere, per diversos sinus maris quibus transituri videbantur, copiam galearum dispergit: sed nunciis venientibus in nomine Domini nihil contrarietatis obsistit. 1313 Vgl. zur Heiligen Lanze grundlegend Runciman, Lance (1950), insb. S. 205–209 zu ihrer weiteren Geschichte und kritisch gegenüber deren Wert Mayer, Pontifikale (1967), 181f.; vgl. ebenso Morris, Policy and visions, vgl. aber auch Giese, lancea (1988) und Asbridge, Lance (2007). Vgl. zum byzantinischen Raum Gastgeber, Lanze (2005), 59–62 zum hier behandelten Bereich. 1314 Man beachte nur den Duktus von Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 296, wo zwar immer von der sacrosancta corona gesprochen, diese letztlich aber wie eine Wagenladung kretischen Weins behandelt wird.

III.1 Über oder zwischen den Religionen?

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die der Basileus in Konstantinopel besessen hatte und die der Kaiser in Nikaia noch – ebenso wie der Westkaiser – besaß. Diese mangelnde sakrale Funktionserfüllung minderte nicht nur den Rang des lateinischen Kaisers, sondern hatte auch Auswirkungen auf die Handlungsgemeinschaft der politischen imperialen Ordnung und deren Beziehungen zur Papstkirche. Weitaus geschickter gingen das französische Königtum und die Venezianer vor. In Paris und Venedig entstanden mit der Sainte Chapelle und der Schatzkammer von S. Marco gleichsam architektonische Reliquiare, die auch dazu dienten, die neu gewonnene Sakralität zum Nutzen der Vergemeinschaftung der Kommune oder der dynastischen Stabilisierung des Königshauses zu aktivieren.1315 Sicherlich ist bei der Reliquientranslation auch von einer transkulturellen Umwertung auszugehen: Ähnlich wie viele Liturgica und Reliquien künstlerisch umgearbeitet wurden, wurde auch die Bedeutungsdimension in den jeweiligen Kontext der vorhandenen Herrschaftskonzeptionen eingepasst. Vor allem in Venedig entwickelten die Reliquien einen nicht unbeachtlichen sozialen Effekt: Mehr oder minder friedlich aus Konstantinopel „exportierte“ Heiltümer wurden aus allen Schichten der venezianischen Bevölkerung verschiedenen neu zu gründenden oder altehrwürdigen kirchlichen Institutionen zugeeignet.1316 Die Sakralität der Reliquien konnte sich hier wie auch im Machtbereich des französischen Königs zu einem starken sozialen Bindemittel entwickeln, das letztlich auch die jeweilige imperiale Ordnung mit der Glorie der Heilswirksamkeit umstrahlen sollte. All dies trug nicht nur in erheblichem Maße zu einer intensivierten Kohärenz der sozialen Organisation bei. Auch wurden die Leiter einer solchen imperialen Ordnung auf diese Weise in ihrem Rang soweit erhoben, dass sie eine königliche Stellung weit überschritten, ja ihre Position mit „kaisergleich“ bezeichnet werden muss. Ähnliches war auch dadurch möglich, dass der Herrschaftsverband der imperialen Ordnung bestimmte „kaiserliche“ Funktionen ausübte, die dem jeweiligen Leiter zugewiesen wurden und seinen Rang in Richtung „Kaisertum“ erhöhten.

III.1.2 Der Umgang mit dem Anderen Die Ausgestaltung der Kirchenvogtei, zweifellos einer der delikatesten Punkte kaiserlicher Herrschaft, berührte auch das Verhältnis der verschiedenen politisch orientierten imperialen Ordnungen gegenüber der Papstkirche.1317 In den Kreuzfahrerherrschaften stellte sich die Frage der Kirchenvogtei in ganz anderer praxisbezogener Dringlichkeit 1315 Vgl. die Beiträge in Hediger, Sainte-Chapelle (2007), insb. Bozoky, Saint Louis (2007). Vgl. auch in der langen Dauer Hallam, Philip the Fair (1982), insb. S. 212–214. Vgl. zu Venedig: Lebe, Markus (1987), insb. S. 74–88 und viele Dimensionen behandelnd Fritsch, Markuskult (2001). 1316 Vgl. zum Hintergrund Zettler, Dimensionen (1994). 1317 Vgl. hierzu auch oben, Abschnitt ‚Heilsgeschichtliche Funktionen‘.

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

als in den westlichen Ländern, war hier doch die Kirche in der Tat gegen äußere und weniger gegen interne Feinde zu schützen. Am ehesten ist die Rolle eines Königs von Jerusalem noch mit den normannischen Königen Siziliens zur Zeit der Eroberung der Insel und der Festigung ihrer Herrschaft zu vergleichen.1318 Die aktive Ausgestaltung der Kirchenvogtei durch die königliche Herrschaftsorganisation – auch über den engeren Machtbereich hinaus – führte vor allem im französischen Herrschaftsbereich zu einer entsprechend aufgeladenen Stellung der „allerchristlichsten Majestät“.1319 Venedig sollte ansatzweise eine gesamtkirchlich bedeutende Funktion als „neutrales Gebiet“ beim Frieden von Venedig im 12. Jahrhundert spielen, ansonsten blieb das Verhältnis zur römischen Kirche gespannt. Die Kirchenvogtei berührt in ihrer äußeren Dimension auch einen weiteren Themenbereich: das Verhältnis politischer bzw. wirtschaftlicher imperialer Ordnungen „unter lateinischer Führung“ zu einer Umwelt, die nicht der römischen Christenheit angehörte. Letzten Endes ist mit dieser Problematik nicht nur die suprareligiöse, kaisergleiche Position des Leiters einer imperialen Ordnung betroffen, sondern auch das Thema angeschnitten, welchen Stellenwert die Religion – oder besser gesagt: religiöse Einheitlichkeit – als „soziales Bindemittel“ unter mehreren spielte. So war die Haltung der unterschiedlichen Konzeptionen Kaisertum zu anderen Religionen durchaus ambivalent: Zum einen wurde seit Konstantin sowohl in der lateinischen als auch der byzantinischen Form des Kaisertums die Vorherrschaft einer Religion, des Christentums, befördert, zum anderen gab es aber doch – vor allem im Zeremoniell – gewisse Elemente, die die Stellung des Kaisertums über allen mosaischen Religionen betonte.1320 Dem letzteren Befund entspricht auf der Ebene der imperialen Ordnungen deren Tendenz zur pragmatischen Toleranz.1321 In unserem Zusammenhang kaiserlicher und kaisergleicher Herrschaft im Mediterraneum sind nicht nur die Beziehungen zu orthodoxen1322, sondern vor allem auch der Umgang mit muslimischen Gläubigen1323 von überragender Bedeutung. Strikte Latinisierungstendenzen oder Versuche religiöser Vereinheitlichung konnten auf starken Widerstand stoßen, der auch in den politischen Sektor übergriff. Umgekehrt konnte sich die orthodoxe Kirche aber selbst als wichtiges tragendes Element einer politischen imperialen Ordnung erweisen und auch als machtvolle Trägerin eines imperialen Erbes fungieren.1324 1318 Vgl. aber auch Loud, Control (1982). 1319 Vgl. für das 12. Jahrhunder Pacaut, Louis VII (1953), v. a. S. 22–45 und Burkhardt, Barbarossa (2010), 156f.; vgl. zur königlichen Stellung etwa auch Boulet-Sautel, Jean de Blanot (1976); Krynen, L’empire (1993), 7–84; vgl. zur französischen Kirche und ihrem Zusammenwirken mit Philipp Augustus allgemein Bradbury, Philip Augustus (1997), 195–213. 1320 Vgl. oben, Abschnitt ‚Außen und Innen‘. 1321 Vgl. oben, Anm. 411. 1322 Vgl. zu den Unionsverhandlungen zwischen dem Kaiserreich von Nikaia und dem Papsttum van Dieten, Kaiserreich (1990). 1323 Vgl. zu den wissenschaftlichen Beziehungen Böhlandt, Achsen (2008). 1324 Patlagean, Christenheit (1994), 367–371.

III.1 Über oder zwischen den Religionen?

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Im Umgang mit anderen Religionen zeigt sich der Unterschied der verschiedenen mediterranen Herrschaftsorganisationen sehr deutlich, der letzten Endes auch dazu führte, dass manche Elemente kaiserlicher Ordnungsvorstellungen nicht übernommen werden konnten. Folgten die „französisch orientierten“ Herrschaftsorganisationen eher einer strikten Förderung des christlichen Glaubens in seiner lateinischen Ausformung, schien im spanischen und vor allem im venezianischen Machtbereich zunächst eine gewisse Form der Toleranz vorzuherrschen.1325 Ähnliche Problemlagen und Lösungen finden sich auch in Sizilien1326 oder dem Königreich Jerusalem1327. Diese Toleranz trat möglicherweise überall dort in besonders ausgeprägter Weise auf, wo starke griechischorthodoxe Bevölkerungsteile integriert oder zumindest ruhig gehalten werden mussten. Venedig schien jedoch auch deshalb eine „tolerantere“ Politik zu betreiben, da der Schwerpunkt der imperialen Ordnung im wirtschaftlichen Sektor lag – mithin durch religiöse Steuerungsimpulse nicht in dem Maße, wie es bei politischen Ordnungen der Fall war, beeinflusst wurde. Hinzu trat, dass Venedig stets darauf achtete, selbst zu bestimmen, wie es mit der Papstkirche kooperierte – der Gehalt des berühmten, aber in keiner Quelle greifbaren Mottos „Erst Venezianer, dann Christ“.1328 Im lateinischen Kaiserreich flossen einmal mehr verschiedene Traditionen zusammen und verschiedene imperiale Ordnungen überlagerten sich auch auf dem religiösen Feld. Zunächst schien die Vereinigung der orthodoxen Kirche mit der lateinischen Kirche ein wichtiges Element in der Herrschaftskonzeption des lateinischen Kaisers zu sein. Die enge Koppelung der sich etablierenden imperialen Ordnung des lateinischen Kaiserreiches mit der römischen Kirche implizierte ein gemeinsames Vorgehen hinsichtlich der Kirchenunion. So hatte Balduin I. bereits kurz nach seiner Wahl Papst Innozenz III. dazu aufgefordert, ein Konzil in Griechenland einzuberufen.1329 Darüber hinaus bat der Kaiser den Papst um die Entsendung von Legaten.1330 Zugleich schien Balduin I. bestrebt gewesen zu sein, sein Reich mit päpstlicher Unterstützung auch hinsichtlich der 1325 Vgl. auch zum breiteren Zusammenhang Fedalto, veneziani (2006). 1326 Houben, Tolerierung (1993); vgl. auch Bresc, Frédéric II (2001), insb. S. 89–92; Leder, Kaiser (2008). 1327 Vgl. luzide Pahlitzsch / Weltecke, Konflikte (2001). 1328 Vgl. zur Quellenkritik Madden, Enrico (2003), 241 / Anm. 2. 1329 RIN 7, Nr. 152, S. 261: Ad laudem etiam et gloriam Redemptoris et sanctitatis vestre perpetuum decus utilitatemque precipuam generalis ecclesie pertinere credentium nullus ambigeret, si in civitate Constantinopolitana veteribus honorata conciliis vestra paternitas generale concilium convocaret beatissime persone vestre presentia confirmandum novamque Romam veteri couniret sanctionibus sacris ac perpetuo valituris. lam enim ad concilium Greciam rebellem vos invitasse didicimus, quasi, que nunc vieti, tempora presignando, licet sive pro rebellione Grecorum, sive pro utilitatibus mundi et variis occupationibus interim videamini distulisse. 1330 Vgl. den Brief Innozenz’ III. an den Patriarchen von Konstantinopel RIN 9, Nr. 140, S. 252: quorum nuntii ad vocationem carissimi in Christo filii nostri, B[alduini] Constantinopolitani imperatoris illustris, illuc accesserant, assignavit, quosdam clericos, inspecta utilitate, quae de ipsorum institutione poterat provenire, in quibusdam ecclesiis procurans canonicos ordinare.

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Liturgie und der Theologie anzupassen: Innozenz III. bat er um die Sendung von Ordensangehörigen verschiedener Observanz, von liturgischen Büchern, von Gelehrten und Studierenden der Universität von Paris.1331 Deutlich zeigt sich hier ein vermeintliches, zumindest perzipiertes Kulturgefälle – oder vielmehr: Kultgefälle – und das Bedürfnis, dieses auszugleichen. Das Vorgehen zur Neueinführung bzw. Reform von Kulten hatte man in den vorangehenden Jahrhunderten v. a. bei Klosterneugründungen (Filiationsprinzip) erprobt. Insgesamt könnten zwar Innozenz III. und seine Berater die Schwierigkeiten, die eine Kirchenunion bereitete, unterschätzt haben.1332 Allerdings war das lateinische Kaiserreich auch eine Kreuzfahrerherrschaft unter vielen, und in Rom hatte man bereits eine mehr als hundertjährige Erfahrung mit dem vorderasiatischen Raum, seinen Obödienzen und Problemen. Das Hauptproblem der Kirchenunion war, dass sie von einem Großteil der orthodoxen Kirche und der orthodoxen Christen nicht gewünscht wurde. Darüber hinaus hatte eine mögliche Kirchenunion drei Differenzen zu überwinden: Dogma, Ritus und Obödienz. Das Dogma bot hierbei die größten Schwierigkeiten und mitunter alles mit sich reißende theologische Debatten – etwa um die Streitfragen nach dem Ausgang des heiligen Geistes und dem Gebrauch ungesäuerten Brotes –, die sich seit Jahrhunderten tief in den Grabenbruch der Kirchenspaltung eingeschnitten und diesen geweitet hatten. Gleichwohl war man hier zu Konzessionen bereit.1333 Die oben erwähnte Forderung Balduins nach „infrastruktureller“ Unterstützung zeigt, dass man auf lateinischer Seite 1331 Vgl. den Brief Innozenz’ III. an die Erzbischöfe, Bischöfe und anderen Prälaten Frankreichs (RIN 8, Nr. 71 [70], S. 129): Ad maiorem etiam accedit affluentiam gaudiorum, quod vir christianissimus, karissimus in Christo filius noster B[alduinus], imperator Constantinopolitanus illustris, ad ea totis viribus satagit et intendit, per que possit et debeat christiana religio propagari, et ut edificium, iam ex magna parte constructum, non corruat, ardenti laborat studio et sollicitudine diligenti. Nuper siquidem devotionem suo plantatam in pectore in ramos bone operationis diffundens nobis humiliter supplicavit, ut viros religiosos et providos, de ordine Cisterciensi, Cluniacensi, canonicorum regularium aliarumque religionum ad fundandam fidei catholicae veritatem perpetuoque firmandam ad partes Constantinopolitanas faceremus transmitti et, ut illuc valeant pervenire, a suis prelatis in necessariis provideri. Postulavit etiam, ut missalia, breviaria ceterosque libros, in quibus officium ecclesiasticum secundum instituta sancte Romane ecclesie continetur, saltem pro exemplaribus, ad partes illas faceremus transmitti. Vgl. auch den Brief Innozenz’ an die Magister und Scholaren von Paris (RIN 8, Nr. 72 [71], S. 131): Multifarie et cetera usque supplicavit, ut vos inducere ac monere apostolicis litteris dignaremur, quatinus in Greciam accedentes, ibi studeretis litterarum studium reformare, unde noscitur exordium habuisse. Volentes et cetera usque quatinus diligentius attendentes, quanta maiores vestri difficultates et gravamina sunt perpessi, ut adolescentie sue primitias imbuerent litteralibus disciplinis, non tedeat plerosque vestrum ad terram argento et auro gemmisque refertam, frumento, vino et oleo stabilitam, et bonorum omnium copiis affluentem accedere, ut ad illius honorem et gloriam, a quo est omnis scientie donum, sibi et aliis ibidem proficiant, preter temporales divitias et honores eternae glorie premia recepturi. 1332 Vgl. die Schwierigkeiten auch für spätere Zeiten summierend Zizioulas, Efforts (2006), 352f. 1333 Gerland, Geschichte (1905), 128.

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mit einer allmählichen Latinisierung – ähnlich wie in Süditalien – rechnete.1334 Neben allen massiven theologischen Differenzen waren es aber ebenso die Gegensätze in der Lebensführung – v. a. auch der Barttracht –, die die lateinischen Kleriker den orthodoxen Geistlichen als würdelos erscheinen ließen.1335 Die orthodoxe Kirche blieb somit ein übergroßer Monolith, der von der imperialen Ordnung der römischen Kirche nicht durchdrungen, geschweige denn integriert werden konnte.1336 Die Strategie für die politische imperiale Ordnung des lateinischen Kaiserreiches konnte folglich nur lauten, die Kooperation zu verstärken. Entsprechend könnte es unter Heinrich durchaus zu Versuchen gekommen sein, die orthodoxen Christen stärker als bislang gleichberechtigt zu integrieren. Die Lösung des 1334 Vgl. hierzu auch Gerland, Geschichte (1905), 133f. / Anm. 4 zur Frage, ob griechische Mönche durch lateinische ersetzt werden dürften. Vgl. auch ebd., S. 133f. zur Frage der Besetzung griechischer Bistümer. 1335 Vgl. die berühmte Charakterisierung des Thomas Morosini durch Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 12, S. 824: ἦν δὲ οὗτος ἐσϑῆτά τε τὴν πάτριον περικείμενος, συνυφασμένην μικροῦ τῷ σώματι καὶ ῥαφιδουμένην ἑκάστης τὰ εἰς καρποὺς καὶ τὸ στῆϑος ἀφιεῖσαν ἄνετον, καὶ τὸ γένειον ξυρόμενος δρώπακος ἀκρίβεστερον, ὡς εἶναι τὸ τῶν παρειῶν ἐδάφιον μηδ̕ ὑποφαιούμενον ὅλως ταὶς πρώταις ἀνατολαῖς τῶν τριχῶν, ἀλλ̕ ὡς ληïστὸν παντάπασιν ἄχλοον („Thomas trug eine Kleidung, wie sie in seinem Vaterland üblich war. Sie war so eng, dass sie so aussah, als ob sie seinem Körper angewebt wäre, und dass sie jeden Tag an den Handgelenken neu genäht werden musste. Dafür ließ sie die Brust frei. Und seine Wangen schabte er sich so glatt, als hätte er seinen Bart mit aufgelegtem Pech ausgerissen. Man sah auf ihnen nicht den geringsten Anflug von dunkel aufsprießenden Härchen, sondern sie glichen einem Feld, auf dem jegliche Saat verdorrt ist“). Vgl. auch Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten (Buch von den Bildsäulen), c. 1, S. 855: τὴν μὲν ἡλικίαν μέσος, τὴν δὲ σωματικὴν πλάσιν λακκευτοῦ συὸς εὐτραφέστερος· ἦν δὲ καὶ λεῖος ξυρῷ τὸ τοῦ προσώπου ἔδαφος ὡς οἱ λοιποὶ τῶν ἐκ τοῦ γένους ἐκείνου, καὶ τὰς ἐνσυηϑίους παρατετιλμένος τρίχας ἀκριβέστερον δρώπακος, ἀμπεχόμενος δὲ στολὴν συνυφασμένην μικροῦ τῷ δέρματι καὶ ῥαφιδουμένην ἑκάστης τὰ εἰς καρπούς, δακτύλιόν τε τῇ χειρὶ περιστρέφων, ἐνίοτε δὲ καὶ τὰ ἐκ δέρρεων εἰς δακτύλους διεσχισμένα τῶν χειρῶν φυλακτήρια περικείμενος. ὡρᾶτο δὲ καὶ τὸ περὶ αὐτὸν ὡσιωμένον ϑεῷ σύστημα καὶ τὴν ϑυωρὸν ἀμφιπονούμενον τράπεζαν τῆς αὐτῆς ἐχόμενον κεραμείας καὶ τῷ καϑηγεμόνι πανείκελον τὰ εἰς στολὴν καὶ δίαιταν καὶ τὸν τοῦ πώγωνος ϑερισμόν („Er war von mittlerer Größe und feister als ein Mastschwein. Sein Gesicht schabte er sich ebenso wie die anderen Männer seines Volkes mit dem Messer glatt und zupfte peinlich genau die Haare an seiner Brust aus, genauer als es ein aufgelegtes Pechpflaster hätte tun können. Er trug ein Gewand, das aussah, als wäre es seiner Haut angewebt, und das jeden Tag am Unterarm neu zusammengenäht wurde. Er drehte einen Ring an seinem Finger und zog manchmal auch aus Leder verfertigte und in einzelne Fingerlinge gespaltene Handschützer an. Der Priesterschaft, die neben ihm um den Opfertisch geschäftig war, sah man an, dass sie aus der gleichen Töpferei stammte. Sie glichen in Kleidung und Lebensweise und im Abernten des Bartes ganz ihrem Oberhaupt“). Der orthodoxe Kleriker musste würdevoll bärtig sein, der lateinische Kleriker sollte hingegen bereits im 12. Jh. keinen Bart mehr tragen. 1336 Vgl. im breiteren Kontext die Beiträge in Gill, Church union (1979); Frazee, Church (1978), 37–39. Vgl. zur Rolle der Zisterzienser etwa Bolton, Mission (1976), insb. S. 180f.

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Obödienzproblems ist in vielerlei Hinsicht interessant. Der orthodoxe Klerus wurde nämlich zur Ableistung eines Obödienzeides auf den Papst und den nächsten geistlichen Oberen – durch eine Art Handgang – verpflichtet.1337 Dieses Vorgehen lässt sich durch die starke Prägekraft lehnsrechtlicher Vorstellungen im Bereich des lateinischen Kaiserreiches erklären. Gerade hier wird aber auch deutlich, dass es sich bei dem lateinischen Kaiserreich – allen scheinbar eindeutigen Verlautbarungen und Intentionen zum Trotz – keineswegs um ein „Missionierungsunternehmen“ handelte. So wurde etwa in dem bedeutenden, 1206 zwischen Heinrich und den Amtsträgern der lateinischen Kirche geschlossenen Vertrag bestimmt, dass es der römischen Kirche überlassen bleibe, „die Griechen“ zur Leistung des Kirchenzehnten an die lateinische Kirche zu bewegen.1338 Dagegen war Heinrich offenbar bereit, gegenüber dem Athoskloster die traditionelle Stellung eines kaiserlichen Klosterherrn einzunehmen. Allerdings ergaben sich hier – auch dies ein Kennzeichen kultureller Differenzen – kirchenrechtliche Probleme, konnte der Papst nur die Ansprüche des Kaisers auf weltliche Herrschaft anerkennen.1339 Sicherlich hätte dies bei vollendeter Durchführung die Ressourcen des Kaisers durch die Übernahme von „Reichsklöstern“ in einer Weise gestärkt, die mit der Stellung der karolingischen und ottonischen Herrscher vergleichbar ist. Die Ausgleichpolitik Heinrichs ging noch weiter, er restituierte auch Kirchengüter an griechische Gemeinschaften.1340 Griechische Prälaten sollen einen Brief an Innozenz III. geschickt haben, in dem sie – angeblich mit dem Willen Heinrichs – vom Papst einen griechischen Patriarchen erbaten und ihm ein ökumenisches Konzil vorschlugen, um kontroverse Fragen zu klären und die Kirchenspaltung zu überwinden.1341 Dieser Brief wurde aber möglicherweise niemals abgeschickt. Die Reaktion des Papstes wäre wahrscheinlich auch nicht positiv ausgefallen: Innozenz III. riet in einem 1208 abgefassten Brief Kaiser Heinrich jedenfalls, dem lateinischen Patriarchen Morosini zu helfen, sodass die Griechen in die lateinische Kirche zurückkehrten.1342 Darüber hinaus hat sich auch ein Brief grie1337 Gerland, Geschichte (1905), 126. 1338 Gerland, Geschichte (1905), 79. 1339 Gerland, Geschichte (1905), 150. Innozenz III. ordnete eine Untersuchung an: „Nur diejenigen Klöster, die vollgültige Beweise ihrer kirchlichen Exemtion beibrächten, sollten wirklich als kaiserlich gelten“. Diese weltliche Stützpunktfunktion des Athos erwies sich jedoch im Zusammenhang mit der Auseinandersetzungen Heinrichs mit den Lombarden Thessalonikis als ausgesprochen wertvoll. Vgl. Gerland, Geschichte (1905), 177f. 1340 Vgl. etwa Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 125 und Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 127 für die Mönche von St. Maria in Chortaïtis. 1341 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 69. 1342 RIN 11, Nr. 20 (21), S. 26: Cum vestre utilitati expediat et honori, ut Graeci tam clerici quam laici ad sacrosancte Romane ecclesie ac venerabilis fratris nostri (…) patriarche Constantinopolit[ani] obedientiam redeant cumque patrem habeant et pastorem, universitatem vestram rogamus at[tentius] et monemus per apostolica vobis scripta mandantes, quatinus super hoc patriarche praedicto consilium et auxilium impendatis, sententiam, quam in Grecos rebelles

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chischer Prälaten an Innozenz III. erhalten, der möglicherweise statt des ersten Briefes abgeschickt worden war und der erneut hauptsächlich die Frage einer die Kirchenunion herbeiführenden Synode behandelte.1343 Letztlich handelte es sich aber nur um einen weiteren Vorschlag jener fast bereits zur rhetorischen Figur gewordenen Absichtsbekundungen, alle Probleme lösende Konzilien einzuberufen. Interessant ist dieser Brief jedoch auch wegen einer Maßnahme Heinrichs: So scheint der Kaiser die orthodoxen Christen darauf verpflichtet zu haben, in ihrer Liturgie dem Papst zu akklamieren.1344 Er war also keineswegs bereit, Versöhnung mit den Griechen auch gegen den Papst zu suchen. Wenigstens ein Teil der orthodoxen Christen sah in Heinrich jedoch – zumindest bei der Überzeugungsstrategie der „taktierenden Kommunikation“ mit dem eigentlichen Glaubensgegner (dem Papst und seinen Legaten) – ihren legitimen Herrn.1345 Ebenso schien der von Innozenz III. ausgesandte Legat Benedikt in Anbetracht der Lage vor Ort – insbesondere aufgrund des Personalmangels – zum Schluss gekommen zu sein, dass es besser war, die orthodoxe Kirchenhierarchie bis auf die höchste Kirchenspitze (Erzbischof von Thessaloniki, Bischof des Klosterverbandes Athos) unverändert zu belassen und als einzige Bedingung den Obödienzeid auf den Papst zu fordern. Aber auch hierbei hatte er kaum den gewünschten Erfolg. Seine auch sonst durchaus als konziliant zu bezeichnende Politik wurde von Teilen der Lateiner kritisiert. Dennoch fand diese versöhnliche Haltung die Rückendeckung Innozenz’ III.1346 Allerdings schien der Papst nicht geneigt zu sein, den ausgleichenden Kurs Heinrichs vollkommen mitzutragen. Er entsandte Kardinal Pelagius, der sich in Konstantinopel kaum klüger verhielt als fünf Jahre später in Damiette: Er befahl, griechische Kirchen und Klöster zu schließen, ordnete gewaltsame Bekehrungen an und ließ Griechen wegen deren Festhalten an ihrem orthodoxen

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propter hoc rationabiliter tulerit, firmiter observantes, ut devotio vestra clareat in affectu et oberrantes ovicule redeant ad pastorem. MPG 140, Sp. 293–298. MPG 140, Sp. 298C: Caeterum quoniam a Deo promotus et Christi studiosus imperator noster praecepit nobis, ut convenienten honorem celsitudini tuae benevole tribuamus, reveriti sumus clementiae ejus edictum, et constituimus tibi, domine, congruum honorem deferre, qui est laudatio et acclamatio imperatoriis laudibus acclamationibusque aequalis, ita ad verbum: „Innocentii domini papae veteris Romae, multos annos;“ quae a nobis proferri debeat post ultimam collectarum orationem. Tricht, Gloire (2000), 224: „Dans le conflit avec le cardinal Pélage en 1214 une délégation de Grecs haut placés reconnaissait Henri expressément comme souverain légitime. Dans une lettre à Innocent III un clerc grec anonyme de Constantinople appelait Henri le seigneur et l’empereur légitime de la population grecque”. Gerland, Geschichte (1905), 98 und 132f.

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Glauben vertreiben. 1347 Dabei stieß Pelagius jedoch auf den Widerstand Heinrichs. 1348

1347 Akropolites (Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 17, S. 29f.) schildert Pelagius: ἤϑους δὲ τυχὼν ἀγριωτέρου καὶ ἀλαζονείᾳ χρώμενος πολλὰ δεινὰ ἐνεδείξατο ἐν τοῖς τῆς Κωνσταντίνου οἰκήτορσι. καὶ ἡ σκῆψις ὡς εὔλογος· ἠνάγκαζε γὰρ τοὺς πάντας τῇ τῆς πρεσβυτέρας Ῥώμης ὑποκύψαι ὑποταγῇ. ἐντεῦϑεν καϑείργνυντο μοναχοί, ἱερεῖς ἐδεσμοῦντο καὶ ναὸς ἅπας ἐκέκλειστο. καὶ ἦν ἐν αὐτῷ δυοῖν ϑάτερον, ἢ ὁμολογῆσαι τὸν πάπαν πρῶτον ἀρχιερέα καὶ τούτου τὴν μνήμην ἐν ἱεροτελεστίαις ποιεῖν, ἢ ϑάνατον εἶναι τῷ μὴ διαπραξαμένῳ τοῦτο τὸ ἐπιτίμιον. τοῦτο εἰς βαρυϑυμίαν ἦγε τοὺς οἰκήτορας τῆς Κωνσταντίνου καὶ μάλιστα τῶν ἄλλων τοὺς προύχοντας („[…] er hatte rohe Manieren, und in seiner hochfahrenden Art bereitete er den Bewohnern der Stadt Konstantins großes Ungemach. Sein Anliegen war durchaus verständlich: er wollte nämlich alle Einwohner dazu bringen, sich der Oberhoheit des ersten Rom zu unterwerfen. Da wurden denn Mönche eingesperrt, Priester in Fesseln gelegt und alle Kirchen geschlossen. Unter diesen Umständen gab es nur zwei Möglichkeiten, entweder den Papst als den ersten Bischof anzuerkennen und seinen Namen in der heiligen Liturgie zu erwähnen, oder aber den Tod zu erleiden, sowie einer diese Ehrenbezeugung nicht erweisen wollte. Das versetzte die Bewohner von Konstantinopel in Zorn, am allermeisten die Oberen in der Stadt“). 1348 Akropolites (Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 17, S. 30) schildert die Klagen der Griechen vor Heinrich und die Folgen: ‘ἡμεῖς μὲν᾽ ἔφασαν ‘ἄλλου γεγονότες γένους καὶ ἄλλον ἀρχιερέα ἔχοντες, ἑαυτοὺς τῷ κράτει σου ὑπετάξαμεν ὥστε σωματικῶς κατάρχειν ἡμῶν, οὐ μήν γε πνευματικῶς καὶ ψυχικῶς. σοῦ μὲν γαρ ἐν πολέμῳ ὑπερμαχεῖσϑαι τῶν ἀναγκαίων, τῶν δ᾽ ἡμετέρων ἐκστῆναι σεβασμάτων καὶ ϑρησκευμάτων τῶν ἀδυνάτων πάντῃ καϑέστηκεν. ἢ γοῦν λῦσον ἡμῖν τὰ ἐπελϑοντα δεινὰ ἢ ἄφες ὡς ἐλευϑέρους ἐν τοῖς ἰϑαγενέσιν ἀφῖχϑαι᾽. ταῦτ᾽ εἶπον, κἀκεῖνος μὴ βουλόμενος ἐν στερήσει γενέσϑαι τοσούτων καλῶν κἀγαϑῶν ἀνϑρώπων, καὶ ἄκοντος τοῦ εἰρημένου λεγάτου τούς τε ναοὺς ἀνέῳξε καὶ τοὺς ὅσοι ταῖς εἰρκταῖς ἦσαν κατισχημένοι μοναχούς τε καὶ ἱερεῖς ἀπολέλυκε, καὶ τὸν κατασχόντα τότε τὴν Κωνσταντίνου κλύδωνα κατεστόρησε. πολλοὶ δὲ τῶν μοναχῶν προεξιόντες τὴς Κωνσταντίνου τῷ βασιλεῖ Θεοδώρῳ προσῆλϑον, καὶ αὐτοῖς προστάξει τούτου μοναὶ πρὸς καταμονὴν ἐπιδέδοντο. καὶ πρεσβύτεροι δὲ πρὸς τὴν Νίκαιαν ἀπιόντες οἱ μὲν τῷ πατριαρχικῷ κλήρῳ συγκατηλέγησαν, οἱ δὲ ϑείοις ἐνασμενίσαντες τοῖς σηκοῖς ἐλευϑέρως ἐβίωσαν („‚Wir stammen von einem anderen Volk und haben einen anderen Oberhirten, und wir haben uns deiner Gewalt unterworfen, damit du über unseren Leib herrschest, nicht aber über unsere Seele oder unseren Geist. Für dich im Kriege zu kämpfen ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, aber es ist völlig ausgeschlossen, dass wir unsere angestammten liturgischen Feiern aufgeben. So befreie uns also von dem Übel, das uns befallen hat, oder lass uns als Freie in unsere angestammten Gebiete wegziehen!’ So sprachen sie, Heinrich aber wollte nicht solch hervorragende und wertvolle Menschen verlieren, er ließ gegen den Willen des Legaten die Kirchen wieder öffnen und die Mönche und Priester, die in den Gefängnissen saßen, wieder frei. Dadurch konnte er die Wogen der Aufregung, die sich der Stadt Konstantins bemächtigt hatten, wieder glätten. Viele von den Mönchen verließen Konstantinopel und wandten sich an Kaiser Theodor, durch seinen Befehl wurden ihnen Klöster zum Aufenthalt angewiesen. Von den Priestern, die nach Nikaia auswanderten, ließen sich die einen in den Patriarchatsklerus aufnehmen, die anderen fanden Gefallen an der Seelsorge und lebten ohne Bindung an den Klerus des Patriarchen“). Longnon, Empire (1949), 145. Vgl. auch Wolff, Empire (1944), 211.

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Letztlich konnte die Spaltung zwischen lateinischen und orthodoxen Christen nicht überwunden werden, was sich als Haupthypothek für das lateinische Kaiserreich erweisen sollte. Die enge Koppelung zur römischen Kirche war ein großes Problem: Sie schränkte nicht nur die Möglichkeiten pragmatischer Toleranz entschieden ein, sondern verhinderte auch, dass sich der Kaiser in seiner Funktion als überreligiöser Vermittler inszenieren konnte. Wäre die Kirchenunion geglückt und der lateinische Kaiser durch die orthodoxen Griechen als legitimer Basileus anerkannt worden, hätte ein Großteil des imperialen Erbes der orthodoxen Kirche aktiviert werden können. Dies zeigte sich beispielsweise im normannischen Süditalien, wo diese Integrationsleistung gelang. Gerade dort konnte auch über die Eingliederung der fremden Religion in die lateinische Kirche die Heilswirksamkeit des eigenen Herrschaftsverbandes und der quasikaiserliche Rang seines Leiters nachgewiesen werden. Die gerade geschilderten, gescheiterten Versuche einer Kirchenunion waren allerdings nur ein Modus des Umgangs mit Andersgläubigen und auch nur eine potentielle Rolle für einen Kaiser. Weitaus stärker waren jene Traditionen, die es als vorbildlich ansahen, wenn ein Herrschaftsverband unter seinem Leiter die quasikaiserliche Funktion der Ausbreitung des eigenen Glaubens ausübte. Im alten Karfreitagsgebet findet sich eine Stelle, die schlagartig die expansiv heilsgeschichtliche Funktion des Kaisertums verdeutlicht: oremus pro christianissimo imperatore, ut Deus et Dominus noster subditas illi faciat omnes barbaras nationes ad nostram perpetuam pacem.1349 Die Mission und Neugründung von Bistümern gehörte zu den Aufgaben, die durch die Kirche recht früh an das Kaisertum herangetragen wurde. Der Leiter einer Herrschaftsorganisation, der diese Aufgabe innerhalb einer imperialen Ordnung übernahm, konnte mit einem gewissen Recht auch Elemente kaiserlicher Herrschaftskonzepte in Anspruch nehmen. Deutlich zeigt sich dies in ottonischer Zeit bei den verschiedenen Neugründungen (Magdeburg, Bamberg).1350 Grundsätzlich bestand an den Grenzen der lateinischen Christenheit die Möglichkeit, legitimiert durch das Papsttum als Schützer der Kirche aufzutreten und den Geltungsbereich der christlichen Religion auszuweiten. Dies steht jedoch nie im Vordergrund der zeitgenössischen Quellen. Vielmehr boten Kreuzzugsunternehmen die Möglichkeit, eine großraumübergreifende politische bzw. wirtschaftliche imperiale Ordnung zu etablieren und diese mit der Überzeugung besonderer Heilswirksamkeit aufzuladen. Zugleich fand gerade auf Kreuzzügen aber auch das „gentile Prinzip“ Stärkung: In der Fremde wurden die charakteristischen Eigenarten der jeweiligen „Nationen“ schärfer als zuvor erfasst1351.

1349 Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 111. 1350 Vgl. hierzu Laudage, Otto der Große (2006), 208–224; Weinfurter, Heinrich II. (2002), 250– 268. 1351 Vgl. zu einem Beispiel aus dem Ende des 13. Jahrhunderts Sághy, Crusade (2001). Vgl. zu den Identitätskonstruktionen der Kreuzfahrer Seitz, Ende (2010), 223–249.

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Dies führt jedoch auch zu einer grundsätzlichen Überlegung: Inwieweit kann man Kreuzzüge unter ökonomischen Fragestellungen betrachten? Für die ersten Kreuzzüge wurde diese Frage zu Recht meist kritisch beantwortet.1352 Neues Land und Reichtümer mögen kein Hauptantrieb für die eigentlichen Kreuzfahrer gewesen sein. Für manche der Seehandelsstädte boten die Kreuzzüge jedoch seit jeher gute Geschäfte, ermöglichten den Aufbau eines mediterranen Stützpunktsystems. Spätestens mit der Kreditaufnahme bei Venedig auf dem Vierten Kreuzzug brach der ökonomische Impetus insofern durch, als es nun nicht mehr um die Bereitstellung von Mitteln für ein Unternehmen ging, sondern darum, durch das Unternehmen selbst Mittel zu beschaffen. Im Bereich der spanischen Halbinsel war die Kreuzzugsidee in der (wenngleich nicht mit ihr identischen) Form der Reconquista ein wichtiger, ja geradezu definierender Bestandteil der imperialen Ordnungen und floss auch in die legitimierenden Komplexe der Leiter der jeweiligen Herrschaftsorganisation ein.1353 Sie konnte dazu dienen, die Könige von Kastilien-León mit einer besonderen Würde zu versehen, die sie kaisergleich machte. Ähnliches lässt sich auch in Bezug auf die normannischen Könige Siziliens und des von ihnen geleiteten Herrschaftsverbandes feststellen. Gemeinsam ist jedoch beiden imperialen Ordnungen, dass die Kreuzzugsidee nie so dominant war, dass nicht auch eine Integration der muslimischen Bevölkerung möglich gewesen wäre. Erst allmählich sollten sich hier die Handlungsspielräume mit der Verdichtung der Organisation der lateinischen Kirche und dem zunehmenden Latinisierungsprozess verengen. Im Herrschaftsbereich der Seestädte war die Kreuzzugsidee unterschiedlich prägend: Eine prominente Rolle spielte Pisa im Mittelmeer. Bereits frühzeitig in kreuzzugsartige Projekte involviert1354, nahm die Kommune an mehreren Expeditionen christlicher Herrscher auf der Iberischen Halbinsel teil1355. Abgesehen von allen wirtschaftlichen Vorteilen, die realisiert werden konnten1356, beförderte das geharnischte Vorgehen der pisanischen Galeeren die Expansion der wirtschaftlichen imperialen Ordnung, auch die zunehmende Nähe der Stadt zu den Quellen imperialen Glanzes: Pisa wurde zur majestas divina und zur altera Roma.1357 In zweierlei Hinsicht sollte sich die 1352 Jaspert, Kreuzzüge (2010), 17f. 1353 Vgl. O’Callaghan, Reconquest (2003), insb. S. 1–123. 1354 Mitterauer / Morrissey, Pisa (2007), 93–106 und 132–144. Vgl. zum Hintergrund auch Mitterauer, Kaufleute (2005). 1355 Valencia (1092), Mallorca (1113–1115), Ebro (1146); vgl. hierzu Reilly, Kingdom (1988), 231f.; Reilly, Kingdom (1998), 108. 1356 Vgl. zum Gewinn von Rechten in Denia und Valencia Mitterauer / Morrissey, Pisa (2007), 145– 162. 1357 Vgl. jüngst Schlieben, Macht (2009), 172f. mit Anmerkung 50 zur altera Roma in der ältesten, 1125 zu datierenden Fassung des Liber Maiorichinus. Dort auch der Verweis auf die majestas divina in Urban II, Epistolae, S. 345. Vgl. auch die bei Scalia, carmen (1971), 597 zitierten Verse des carmen pisano sull’impresa contro i saraceni (nam extendit modo Pisa laudem admirabilem / quam recepit olim Roma vincendo Cartaginem), die den Zusammenhang zwischen Machtgewinn und Romgedanke verdeutlichen.

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Kreuzzugsidee auch für Venedig als wichtig erweisen: zum einen als wirtschaftlicher Faktor – Venedig war einer der Hauptprofiteure des Seetransports von Pilgerheeren – und zum anderen auch als legitimierender Komplex für die Eroberung Konstantinopels und den Herrschaftsantritt der Serenissima am Bosporus. Kaum mit diesen Beispielen zu vergleichen ist die besondere Begabung der französischen Könige für den bewaffneten „Heidenkampf“. Die Leiter dieses Herrschaftsverbandes verfolgten bis zum mehrfachen Scheitern Ludwigs des Heiligen eine recht intensive Kreuzzugspolitik, konnten sich und ihren Herrschaftsverband so mit einer besonderen Heilswirksamkeit schmücken und sich in die Nähe kaiserlicher Aufgabenerfüllung bringen. Chris Jones legte jedoch nahe, dass der Kreuzzug erst dann klar als kaiserliche Funktion gekennzeichnet wurde, als die französischen Könige mit ihren Unternehmungen mehrfach gescheitert waren.1358 Das Königreich Jerusalem ist in mancher Hinsicht mit dem lateinischen Kaiserreich zu vergleichen und bereichert unsere Untersuchung um einen Fall, der keine vollständige imperiale Ordnung ausbildete, dessen Leiter jedoch ebenso quasikaiserlichen Rang beanspruchte. Es war hier – neben dem Ort Jerusalem – gerade die Aufgabe des Kreuzzuges, die den Leiter dieses Herrschaftsverbandes mit einer besonderen Würde versah. In ähnlicher Weise lässt sich auch die Genese bzw. legitimatorische Unterfütterung des lateinischen Kaisertum erklären: Abseits der exzessbelasteten Eroberung der Stadt und des durch die Eroberung gegebenen Eintretens in genuin kaiserliche Traditionen war es der Kampf gegen die „orthodoxen Schismatiker“, deren Union mit der lateinischen Kirche und die fortwährende Unterstützung neuer Kreuzzugsunternehmen, die den kaiserlichen Rang rechtfertigen konnten und das lateinische Kaiserreich aus Sicht der römischen Kirche förderungswürdig erscheinen ließen.1359 1358 Vgl. oben, Abschnitt ‚Heilsgeschichtliche Funktionen‘. 1359 Vgl. etwa die Schilderung seiner Wahl durch Kaiser Balduin I. in RIN 7, Nr. 152, S. 259f.: Aderant incole Terre sancte, ecclesiastice militaresque persone, quorum pre omnibus inestimabilis erat et gratulabunda letitia, exhibitumque Deo gratius obsequium asserebant, quam si civitas sancta Christianis esset cultibus restituta, cum ad confusionem perpetuam inimicorum crucis sancte Romane ecclesie terreque Ier[oso]limitane sese regia civitas devoveret, que tamdiu iam potenter adversaria stetit et contradixit utrique. Hec est enim, que, spurcissimo gentilium ritu pro fraterna societate sanguinibus alternis ebibitis, cum infidelibus ausa est sepius amicitias firmare ferales, et eosdem mamilla diu lactavit huberrima et extulit in superbiam seculorum arma, naves et victualia ministrando; quid econtrario fecerit peregrinis, magis edocere sufficiunt in omni Latinorum gente exempla quam verba. Vgl. auch S. 260: Sed nec in hiis desideria nostra subsistunt nec ab humeris nostris sustinebimus vexillum regale deponi, donec terra ipsa incolatu stabilita nostrorum partes debeamus invisere transmarinas et Deo dante propositum peregrinationis explere. Speramus enim in Domino Iesu, quod, qui cepit in nobis opus bonum ad laudem et gloriam nominis sui, inimicorum Crucis depressionem perpetuam perficiet, confirmabit solidabitque. Vgl. auch RIN 7, Nr. 201, S. 351: Nunc autem conventiones inter nos et peregrinos ex una parte et .. ducem Venet[orum] et Venetos ex altera, ante expugnationem regie civitatis habitas sigilli nostri munimine roboratas vobis curavimus destinare, sanctitatem vestram, sicut tenemur, attentius rogantes, ut dictas conventiones ratas

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Allerdings gilt es, mit Aussagen zu einer einheitlichen Position „der“ römischen Kirche vorsichtig zu sein; hier herrschten viele Meinungen vor.1360 Dies betrifft nicht nur die Kluft zwischen der Kurie und den venezianischen Klerikern.1361 Auch innerhalb „der“ Kurie gab es unterschiedliche Meinungen und Zielsetzungen in Bezug auf das lateinische Kaiserreich. So verfolgte etwa der Kardinallegat Peter von Capua eine Politik der Stärkung des Kaiserreiches auch auf Kosten Palästinas.1362 Durch die Entsendung Benedikts, des Kardinalpresbyters von S. Susanna, suchte Innozenz III. diesen Kurs zu korrigieren.1363 Benedikts Fokus lag gleichwohl ebenfalls auf dem lateinischen Kaiserreich selbst, während dieses Reich für Innozenz Mittel zum Zweck der Weiterführung der Kreuzzugsbestrebungen war. Vor allem aus diesen Gründen hatte Innozenz die Bitten der lateinischen Herrscher um Unterstützung immer so energisch gefördert und auch die Aussöhnung mit Nikaia betrieben. Als sich für den Papst herausstellte, dass das Kaiserreich kaum der Förderung eines neuen Kreuzzuges dienen konnte, wandte er sich wieder der venezianischen Republik zu. Entsprechend ist auch die Bewertung, inwieweit das lateinische Kaiserreich seine Verpflichtungen zum Kreuzzug erfüllte, ambivalent: Sicherlich könnte der Feldzug, den Heinrich gegen Theodor I. Laskaris führte, auch dazu gedient haben, die Landroute der Kreuzfahrerheere zu sichern.1364 Die Wahl Johanns von Brienne zum Regenten erfolgte

1360 1361 1362 1363 1364

habeatis et eas auctoritatis apostolice munimine confirmetis. Sanctitatem etenim vestram nosse volumus, quod cum memorato duce et Venetis societatem bonam et fidelem insimul habuimus et eos cooperatores probissimos et efficaces ad honorem Dei et sancte Romane ecclesie et imperii nostri, sicut ipsa opera demonstrant, invenimus et in futuro habere desideramus, cum et ad regimen imperii nostri et ad subventionem Terre sancte et ad unitatem ecclesie conservandam societas eorum utilis sit et necessaria nec sine eorum societate et amore imperium nostrum ad honorem Dei et vestre sancte sedis regi valeat competenter. Vgl. auch De oorkonden der graven van Vlaanderen. Ed. Prevenier, Nr. 290, S. 632. Vgl. ebenso den Brief Heinrichs an Innozenz III. (RIN 8, Nr. 132 (131), S. 242): cuius susceptionem vobis incumbere tamquam patri, cause nostre patrono et domino, nemo est qui ambigat, presertim cum ob ecclesie tantum unitatem reformandam et Terre sancte subventionem laboremus, quorum unum eatenus munere pendet ex altero, sicut communis omnium Christianorum in oriente degentium et precipue venerabilium fratrum militie Templi et Hospitalis utriusque, qui nobiscum sunt, clamat assertio, ut non solum ipsius liberationem huius operetur redintegratio, verum etiam omnium paganorum et crucis Christi inimicorum confusionem omnimodam apertissime procurare videatur: sicut econtra eius disturbatio, quam Deus avertat, non solum recuperandi partem ammissam Terre sancte spem auferret, immo et illam que in presenti christiano cultui dedita est, procul dubio spem preriperet detinendi. Innozenz III. spricht Heinrich und seine Mitstreiter in einem Brief mit tu et alii crucesignati an (MPL 216, Nr. 109, Sp. 0470A). Vgl. etwa Maleczek, Innocenzo III (2006), insb. S. 421f. Vgl. unten, Abschnitt ‚III.1.3 Interne Kirchenpolitik‘. Gerland, Geschichte (1905), 51–53 mit der Wertung auf S. 53: „Capuano dachte eben zu einseitig. In seinem Eifer, dem lateinischen Kaiserreich zu helfen, überlegte er nicht, daß Innocenz noch andere Dinge berücksichtigen mußte“. Vgl. zu Benedikt Maleczek, Papst (1984), 134–136. Longnon, Campagne (1948), 449.

III.1 Über oder zwischen den Religionen?

275

wohl deshalb um einschlägige politische Zielsetzungen vorzuprägen, und Balduin II. beteiligte sich an dem ersten Kreuzzug Ludwigs des Heiligen.1365 Dennoch kam das Kaiserreich – vor allem aufgrund anderer Probleme – seiner eigentlichen Bestimmung nicht nach. Als diese Funktionserfüllung im westlichen Sinne ausblieb, nahm auch die Strahlkraft dieses Kaisertum ab: Der lateinische Kaiser wurde erneut zu einer Art König von Konstantinopel. Eines dieser Probleme, die das lateinische Kaiserreich stark belasteten, war die Abwehr der Bulgaren. Dieser Kampf stand ebenso in engem Zusammenhang mit dem Kreuzzugsgedanken1366: Nicht nur lautete der Schlachtruf der lateinischen Truppen „Heiliges Grab“.1367 Auch theoretisch war dies zu begründen: Im bulgarischen Heer kämpften heidnische Kumanen. So wurde jedoch von der eigentlichen „Mission“ des lateinischen Kaiserreiches, der Unterstützung der „Befreiung des Heiligen Landes“ abgelenkt. In gewissem Sinn stand das lateinische Kaiserreich hier in byzantinischen Traditionen: Dort waren Kreuzzüge nie gesondert thematisiert worden, vielmehr war der Staat selbst eine Art perpetuiertes Kreuzzugsunternehmen.1368 Explizit übernahm das Kaiserreich von Nikaia offensichtlich Elemente der lateinischen „Kreuzzugsideologie“. Laut Niketas Choniates soll Theodor I. Laskaris im Kampf gegen den Sultan Ghiyath ad-Din Kai-Chusrau I. von Ikonion seinen Soldaten befohlen haben, sich ein Kreuz anzuheften, und in diesem Zeichen den Sieg errungen haben.1369

1365 Runciman, Geschichte (1995), 1040. 1366 Vgl. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 427, S. 240 zur Unterstützung des Abwehrkampfes Heinrichs durch den päpstlichen Legaten: Li chardonaus qui ere de par l’apostoille de Rome en preescha et en fist pardon a toz cels qui iroient et qui morroient en la bataille („Der Kardinal, der dort als Legat des Papstes von Rom war, predigte und gewährte die Indulgenz an all jene, die in die Schlacht zogen und die dort starben“). Vgl. auch die Schilderung bei Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, c. 524, S. 38, die gewisse Reminiszenzen an verschiedene Kreuzzugschroniken wachruft: Tout ensi lor anoncha li chapelains Phelippes la parole Nostre Segnour. Et quant che vint à l’endemain par matin, li os se desloga et s’arma. Et li chapelain qui estoient en l’ost ont celebré le siervice Nostre Segneur en l’ounour dou Saint Esperit, por chou que Dex lor donnast honour et victore contre leur anemis. Apriés che se confiessierent li preudome par l’ost, et puis rechurent corpus Domini, cascuns endroit soi, au plus devotement qu’il pot. Puis fu prise la sainte Crois de no redemption, et fu commandée au chapelain Phelippe por chou que il le portast („So verkündete ihnen der Kaplan Philippe das Wort Gottes. Und als der nächste Morgen kam, räumte die Armee das Quartier und bewaffnete sich. Und die Kapläne, die im Lager waren, feierten den Gottesdienst zu Ehren des Heiligen Geistes, auf dass Gott ihnen Ehre und Sieg gegen ihre Feinde gewähren möge. Danach beichteten die Krieger im Lager und empfingen dann den Leib des Herrn, jeder an seinem Standort, so andächtig er nur konnte. Dann wurde das Heilige Kreuz der Erlösung aufgenommen und dem Kaplan Philippe anvertraut, der es tragen sollte“). 1367 Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, c. 539, S. 44: en escriant: Saint Sepulcre. 1368 Vgl. zum Kreuzzugsgedanken in Byzanz auch Lilie, Byzanz (2003), 239f. 1369 Prinzing, Brief (1973), 428 mit Anm. 3. Vgl. auch zum Hintergrund Langdon, Offensive (1992).

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

Weitaus größere Bedeutung als den Kreuzzügen kam in Byzanz der Bekämpfung von Ketzern und Schismatikern zu. Sie diente dazu, den einzigartigen Rang des Basileus und des von ihm geleiteten Herrschaftsverbandes eindrucksvoll unter Beweis zu stellen. Aber auch im Bereich des westlichen Kaisertums scheint die Ketzerbekämpfung von einigen Theoretikern dem Bereich der genuin kaiserlichen Aufgaben zugesprochen worden zu sein.1370 Sie stellte als eine Art Kreuzzug „im Inneren“ gewissermaßen ein letztes – und auch von der Kirche gut geheißenes – Residual der kaiserlichen Leitungsbzw. Schutzfunktion der Kirche dar, das gerade auch im 13. Jahrhundert neue Kraft erhielt.1371 Sicherlich ist dabei zu gewissen Teilen auch eine umgekehrte Ursache-Wirkung-Verknüpfung in Rechnung zu stellen: Musste vielleicht der Leiter einer mächtigen imperialen Ordnung seine Macht in den Dienst einer höheren, christlichen Sache stellen? Ein Blick auf Frankreich scheint dies zu bestätigen. Die gewaltsame Integration des Languedoc und die Bekämpfung der Katharer standen in einem ausgesprochen engen zeitlichen Zusammenhang mit dem auch räumlich ausgreifenden französischen Königtum, wenngleich dabei viele Details zu berücksichtigen sind. Ähnliche Entwicklungen finden sich auch im normannisch-staufischen Königreich Sizilien. Hier scheint es insbesondere die überragende Stellung des normannisch-staufischen Kaisers Friedrichs II. in Verbindung mit einer bestimmten Kaiseridee und mit Konzeptionen des normannischen Königtums gewesen zu sein, die zu einer strikten Ketzerpolitik führten; diese wurde am Ende seiner Regierung auch gegen kirchliche Würdenträger instrumentalisiert.1372 Im Bereich der im Werden begriffenen spanischen und venezianischen imperialen Ordnungen sind hingegen noch keine entsprechenden Tendenzen feststellbar – auf der einen Seite band hier die Reconquista und der Wiederaufbau einer lateinischen Kirchenorganisation die Kräfte, auf der anderen Seite ist auch der Schwerpunkt der seestädtischen imperialen Ordnung im wirtschaftlichen Sektor zu berücksichtigen. Die lateinischen Kaiser fanden wohl nie Gelegenheit, gegen Ketzer vorzugehen. Das Problem war zwar grundsätzlich nicht von der Hand zu weisen. Insbesondere in Makedonien gab es noch einige Paulikianergemeinden, die eher den Bulgaren nahestanden und den Lateinern – etwa Rainer von Trith, dem Herzog von Philippopel – schwer zusetzten.1373 Allerdings waren die lateinischen Kaiser zum einen meist damit beschäftigt, drängendere Aufgaben zu erfüllen, zum anderen waren sie ja auch von einer überwältigenden Mehrheit orthodoxer Griechen umgeben, die es zunächst wieder mit der lateinischen Kirche zu unieren galt, bevor man an die generelle Verfolgung Abtrünniger – ein Kennzeichen homogener Gesellschaften – denken konnte.

1370 1371 1372 1373

Vgl. hierzu oben, Abschnitt ‚Heilsgeschichtliche Funktionen‘. Vgl. Hageneder, Häresiebegriff (1976); Lourdaux, Concept (1976); Lambert, Ketzerei (1981). Selge, Ketzerpolitik (1974). Gerland, Geschichte (1905), 90.

III.1 Über oder zwischen den Religionen?

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III.1.3 Interne Kirchenpolitik Wie in den anderen Kreuzfahrerstaaten wurde mit der Etablierung des lateinischen Kaiserreiches eine neue Kirchenstruktur geschaffen.1374 Im Königreich Jerusalem entstand etwa eine Dichte an lateinischen kirchlichen Institutionen, die La Monte dazu bewog, von einem ,,priest-ridden state“ zu sprechen.1375 In gewissem Sinn glich die Situation der lateinischen Kirche in Palästina jener der Kirche auf der Insel Sizilien unter normannischer Herrschaft. Hier wie dort musste nämlich nicht nur eine Kirchenhierarchie von der Basis aufgebaut, sondern auch für die materielle Ausstattung gesorgt werden. Die Folge war in Süditalien und Palästina eine recht starke Stellung des Herrschers, sowie eine enge Koppelung von politischer und religiöser imperialer Ordnung mit eindeutiger Dominanz der Könige.1376 Weitaus komplizierter war die Lage im lateinischen Kaiserreich. Auch in kirchlicher Hinsicht erweist sich dieses als ein mögliches Experimentierfeld politischer und sozialer Ordnungen. Hier existierte nämlich bereits eine sehr dichte kirchliche Infrastruktur, die nie durch muslimische Herrschaft dezimiert worden war. Seelsorgerische und kontemplative Positionen waren durch orthodoxe Amtsträger besetzt. Allein die hohen Hierarchieebenen – wie etwa Bischöfe – wurden gegen lateinische Amtsträger ausgetauscht: Statt „reiner“ Missionsarbeit und dem Neuaufbau einer Hierarchie galt es hier durch den lateinischen Klerus, die theologisch, kanonistisch und lebenspraktisch ungleich schwerere Überzeugungsarbeit gegenüber „Schismatikern“ zu leisten. Hinzu trat auch der ökonomische Faktor, die Frage nach der Ausstattung der lateinischen Kirche. Im lateinischen Kaiserreich gingen die Vorstellungswelten des „westlichen Adels“, verschiedene, bereits seit Jahrhunderten sich im Umlauf befindliche Denkmodelle und die Intentionen Venedigs eine spannungsreiche Wechselbeziehung ein: Die starke venezianische Stellung hemmte erstens den Einfluss „päpstlicher Ordnungsvorstellungen“ und konnte zweitens mit den materiellen Interessen des weltlichen Adels eine gewisse Interessenkoalition eingehen; der Wechsel der „Staatsreligion“ delegitimierte drittens tendenziell einen Großteil der kirchlichen Besitzungen, die neu zu verteilen waren; viertens konnte man auch die im Westen dominierende Armutsbewegung durchaus legitimierend hinzuziehen. Mit den Bestimmungen der Teilungsverträge von 12041377 waren auch die Güter der orthodoxen Kirche – in einem theologisch in keinem Sinne zu rechtfertigenden Akt, einer Art „vorgezogenen Säkularisation“ – wie Besitzungen des byzantinischen „Staates“ behandelt worden. Die materielle Aus1374 Vgl. zu den anderen Kreuzfahrerherrschaften Hamilton, Church (1980), 18–85. 1375 Vgl. Mayer, Pontifikale (1967), 144. Vgl. auch allgemein La Monte, Monarchy (1932) und ebenso Kirstein, Patriarchen (2002), 448–506 zum lateinischen Patriarchat von Jerusalem. 1376 Vgl. Burkhardt, Heritage (2013). 1377 RIN 7, Nr. 205, S. 362: De possessionibus vero ecclesiarum, tot et tantum clericis et ecclesiis debent provideri, quod honorifice possint vivere et sustentari. Relique vero possessiones ecclesiarum dividi et partiri debent secundum ordinem presignatum.

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

stattung der lateinischen Kirche lag folglich ganz in den Händen des Kaisers, seiner Barone und der Venezianer, und dies sollte noch für einige Zeit für erhebliche Spannungen – vor allem mit der Papstkirche – sorgen. Innozenz III. sprach sich denn auch energisch gegen eine reine Sicherung des Lebensunterhaltes der Kleriker und eine Art Enteignung der griechischen Kirche aus, wie sie in der Partitio festgelegt worden war; die „Säkularisation“ der Kirchengüter und ihre durch eine Art Schiedsgericht künftig zu regelnde Verteilung sei unkanonisch.1378 Ganz ähnliche Diskussionen hatte man im Königreich Jerusalem geführt: So hatte Patriarch Daimbert von Jerusalem bei Herzog Gottfried von Niederlothringen mit Erfolg die Restitution des alten Patriarchatsbesitzes aus griechisch-orthodoxer Zeit gefordert.1379 Diese Tensionen verhinderten letztlich, dass die Koppelung der politischen und religiösen imperialen Ordnung in ähnlicher Weise zum Vorteil des lateinischen Kaisers ausgestaltet werden konnte, wie dies in den Kreuzfahrerherrschaften oder im Königreich Sizilien der Fall war. Im Folgenden soll das ausgesprochen komplizierte Miteinander anhand einiger Probleme exemplarisch analysiert werden. Nur mühsam konnte der Kaiser seine Interessen wahren, die zum einen in einer angemessenen eigenen Nutzung von Kirchengütern bestand und zum anderen in der Besetzungskompetenz hoher Kirchenwürden – auch um den Einfluss der Venezianer zu begrenzen. Dies erforderte ein behutsames Manövrieren zwischen der päpstlichen Autorität, die grundsätzlich das Kaisertum stützte, dem Patriarchen von Konstantinopel und den Funktionsträgern Venedigs, auf deren Unterstützung der Kaiser ebenso angewiesen war. Bereits kurz nach der Eroberung Konstantinopels erging eine Bitte Kaiser Balduins an den apostolischen Legaten in der Provinz Jerusalem, Peter von Capua, nach Konstantinopel zu reisen, um Kirchenangelegenheiten zu ordnen.1380 Erneut zeigt sich, dass das lateinische Kaiserreich dem Königreich Jerusalem durch brain drain zunächst eher schadete als half.1381 Zugleich wird abermals deutlich, dass sich gegenüber früheren Zeiten hinsichtlich der Kirchenorganisation auch an der Peripherie der lateinischen Kirche doch einiges geändert hatte: So konnte Roger I. als Graf noch recht unbekümmert in die kirchlichen Strukturen und die Zuschneidung der Bistümer Siziliens eingrei-

1378 Gerland, Geschichte (1905), 15. 1379 Mayer, Siegelwesen (1978), 11. 1380 Vgl. Gesta Innocentii. Ed. Gress-Wright, 222: Prefatus autem Balduinus comes Flandrie postquam ad constantinopolitanum imperium extitit sublimatus per nuntios et apices suos vocavit ad se prefatum Petrum tituli sancti Marcelli presbyterum cardinalem apostolice sedis legatum in ierosolymitana provincia existentem ut accedens in Greciam de personis et rebus ecclesiasticis auctoritate apostolica ordinaret. 1381 Vgl. den Bericht über die Reise der apostolischen Legaten nach Konstantinopel in Gesta Innocentii. Ed. Gress-Wright, 222: et tanta eos secuta est multitudo non solum laicorum sed etiam clericorum quod alienigene pene omnes et indigene multi ierosolymitanam provinciam deserentes Constantinopolim adierunt.

III.1 Über oder zwischen den Religionen?

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fen.1382 Für Kaiser Balduin war ein solches Vorgehen offensichtlich undenkbar: Hinsichtlich der Kirchenstruktur ist das 12. Jahrhundert nicht mit dem 13. zu vergleichen.1383 Darüber hinaus schien aber auch ein vorsichtiges Vorgehen angeraten zu sein, drohten doch hinsichtlich der Kirchenstruktur heftige Konflikte. Neben der Frage nach der materiellen Ausstattung der Kirche sorgte insbesondere die Besetzung des lateinischen Patriarchats für gewaltige Unruhen. Jerusalem und Konstantinopel unterschieden sich jedoch in einem wichtigen Punkt: Hatte der König von Jerusalem großen Einfluss auf die Wahl des Patriarchen1384, so war der lateinische Kaiser durch die starke Stellung der Venezianer in erheblichem Maße bei seiner Einwirkung auf die Wahl eingeschränkt1385. In den Märzverträgen war den Venezianern zugestanden worden, die Kanoniker der Sophienkirche zu bestellen, die dann den Patriarchen wählen sollten.1386 So konnte gewährleistet werden, dass das Patriarchat dauerhaft in venezianischer Hand blieb, denn die Kanoniker wurden offensichtlich in Venedig durch den dortigen Klerus bzw. den Dogen bestellt – Innozenz III. lehnte diese Kanonikerwahl ebenso wie die Beschränkung der Wahlkörperschaft auf die Venezianer ab.1387 Die Wahl Morosinis anerkannte er letztlich aber ebenso wie die gewählten Kanoniker im Interesse um das Heilige Land motu proprio – die imperiale Ordnung Venedigs trug ihre Funktionsträger auch im kirchlichen Bereich empor, erhöhte ihre Position in der Rangordnung. Gerade hier zeigen sich wichtige Charakteristika imperialer Ordnungen: Sie waren nicht primär territorial, sondern eher personal – im Sinne „sich durchdringender Beziehungswolken“ – geprägt. Dass die imperiale Ordnung jedoch auch mehr war als bloße persönliche Beziehungen, ja die in sie eingebundenen Träger auch in eine Art politisch-ökonomisches Prokrustesbett zwängen konnte, zeigt sich gerade hinsichtlich des neuen Patriarchen Morosini: Dieser hatte bei venezianischen Gläubigern Kredit aufgenommen und wurde nun durch den Vizedogen dazu gedrängt, einen Eid zu leisten, keine nichtveneziani1382 Becker, Graf (2008), 161–188. 1383 Vgl. Frenz, Papsttum (2010), insb. S. 36–50. Vgl. zu einem Überblick im 12. Jahrhundert die Beiträge in Johrendt / Müller, Zentrum (2008). 1384 Mayer, Pontifikale (1967), 186. Coelestin III. schränkte die Rechte des Königs auf ein königliches Bestätigungsrecht des Kandidaten ein. Vgl. hierzu Röhricht, Geschichte (1898), S. 390f. Vgl. zu den Konflikten zwischen Königtum und Patriarchen Phillips, Konfliktlösungen (2001). 1385 Vgl. allgemein Santifaller, Beiträge (1938), 17–24 und für die einzelnen Patriarchen S. 25–45; vgl. zur Gesamtthematik auch Wolff, Organization (1948) und zur Wahl von Thomas Morosini Murauer, Wahl (2008). 1386 RIN 7, Nr. 205, S. 362: Sciendum etiam, quod clerici, qui de parte illa fuerint, de qua non fuerit imperator electus, potestatem habebunt ecclesiam sancte Sophie ordinandi et patriarcham eligendi ad honorem Dei, et sancte Romane ecclesie et imperii. Vgl. zur ersten Patriarchenwahl Murauer, Wahl (2008). Dort S. 182 auch die Vermutung, dass Innozenz III. zunächst die Frage eines lateinischen Patriarchen in der Schwebe lassen wollte. 1387 Die nichtvenezianischen Kleriker hatten diesbezüglich an Innozenz III. appelliert. Vgl. Murauer, Wahl (2008), 182–184.

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

schen Kleriker als Kanoniker an der Sophienkirche zuzulassen und von den Kanonikern einen Eid zu verlangen, stets einen Venezianer zum Patriarchen zu wählen.1388 Die weit ausgreifend raumdurchdringenden – ja imperialen – Tendenzen werden an der zusätzlichen venezianischen Forderung an Morosini deutlich, im ganzen lateinischen Reich nur Venezianer zu Erzbischöfen zu ernennen.1389 Die nichtvenezianischen Kleriker Konstantinopels sahen sich hingegen als übervorteilt an und lehnten die päpstlichen Entscheidungen ab.1390 Die Kirchenorganisation – und insbesondere die Patriarchatsbesetzung – hatte nämlich auch schnell Auswirkungen auf die Verteilung der materiellen Ressourcen. Kurze Zeit nach der Ankunft Morosinis in Konstantinopel waren die Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Patriarchen und dem päpstlichen Legaten – hier noch Peter von Capua – offen ausgebrochen. Die fränkischen Kleriker hatten gegen die Berufung Morosinis vor dem päpstlichen Legaten an Innozenz III. appelliert – eine Appellation, die dieser annahm, während Morosini die Exkommunikation über die Appellierenden aussprach, die Peter wiederum nicht anerkannte.1391 Innozenz III. war nicht bereit, das Feld den Venezianern und ihrem Patriarchen Morosini zu überlassen und entsandte einen weiteren apostolischen Legaten – Benedikt von S. Susanna – mit der Kompetenz, aus eigener Machtvollkommenheit Kanoniker an der Sophienkirche zu ernennen.1392 Außerdem beabsichtigte Innozenz offensichtlich, die Wahl des Patriarchen – sicherlich in einer primär gegen die Venezianer gerichteten 1388 Vgl. Murauer, Wahl (2008), 193. Die Venezianer wollten Morosini nicht nach Konstantinopel übersetzen, ja nicht einmal aus Venedig lassen, wenn er den Eid nicht leistete. Außerdem drohten die Venezianer mit einer Art „Säkularisation“ des Kirchenschatzes der Sophienkirche. 1389 Vgl. RIN 9, Nr. 130 zu einem mahnenden Schreiben Innozenz’ III. und Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 209, S. 106f. zum Eid des Patriarchen: Juravi siquidem, quod nullus in Ecclesia sanctae Sophiae per me reciperetur canonicus, nisi foret Venetus natione vel in Ecclesiis Venetorum decennium commoratus, et quod neminem canonicarem, qui simile non faceret sacramentum; non ita tamen praecise, sicut a principio Veneti postulabant sed cum tali adjectione: salva scilicet obedientia Sedis apostolicae et juramento, quod exhibui domino Papae Innocentio, salvoque speciali mandato, quod ipse vel ejus successores mihi super hoc aliquando demandarent; et operam me daturum bona fide promisi, quod per totam Romaniam nullus promoveretur in Archiepiscopum, nisi forte Venetus. Haec igitur et nulla alia, quae spectant ad praesens negotium, me fecisse salva conscientia spontaneus recognosco; quae, sicut dominus Papa mihi mandavit, abjurare vobis praesentibus non recuso. 1390 Gerland, Geschichte (1905), 61: „Man kann sich denken, welchen Eindruck das in Konstantinopel machte. Denn hier war jeder überzeugt, daß man die Umstände nutzen müsse, und die Kleriker im Heere mochten fürchten, sich nur allzubald durch die venetianischen Geistlichen von jeder Pfründe ausgeschlossen zu sehen“. 1391 Vgl. Murauer, Wahl (2008), 192. 1392 Dazu erhielt er die Absolutionskompetenz für tätliche Beleidigung von Klerikern (RIN 8, Nr. 63 (62), S. 107f.). Demnach besaß der Legat hierin das gleiche Recht wie der Patriarch (vgl. RIN 8, Nr. 20, S. 34). Vgl. die Wertung bei Gerland, Geschichte (1905), 73: „Darin lag eine hohe jurisdiktionäre Gewalt, die bei geschickter Benutzung zur Ordnung der kirchlichen Angelegenheiten in Romanien viel beitragen konnte“.

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Intention, sekundär aber wohl dem Vorbild der Papstwahl folgend – von den Kanonikern der Sophienkirche auf die Prälaten sämtlicher Konventualkirchen zu übertragen.1393 Zwar war es ebenso Ziel Innozenz’ III. gewesen, die Kompetenzen des lateinischen Patriarchen von Konstantinopel – de jure sein Stellvertreter vor Ort – möglichst ungeschmälert zu erhalten: Diesem sollten die entscheidenden Kompetenzen bei der Ernennung von Bischöfen hinsichtlich der Disziplinargewalt und der Appellationen zustehen. Die Situation in Konstantinopel bewog den Papst jedoch dazu, Benedikt auch sehr detaillierte Weisungen als Entscheidungsgrundlage in den zu erwartenden Auseinandersetzungen mitzugeben.1394 Könnte man diese – eigentlich recht „typisch mittelalterlichen Streitigkeiten“ – beim Thema der vorliegenden Untersuchung eigentlich nicht getrost übergehen? Die Antwort kann nur nein lauten: Zum einen hatte – durch die Frage der Kirchengüter bedingt – jede Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Patriarchen Auswirkungen auf die ökonomischen Grundlagen, die auch dem Kaiser zur Verfügung standen; zum anderen banden die ständigen, immer wieder in den „weltlichen Bereich“ übergreifenden Streitigkeiten wichtige Energien, die auch für den Aufbau einer imperialen Ordnung hätten gebraucht werden können. Offensichtlich hatte man die Güter der orthodoxen Kirche nämlich, entgegen der Weisung Innozenz’ III., bereits als Lehen (mit)verteilt und somit die zu verteilende Masse größer und die Verteilungskonflikte geringer gehalten – was durchaus auch im Interesse des lateinischen Kaisers war. Bereits Balduin I. hatte nämlich im Rahmen der Inanspruchnahme seines Teils von Konstantinopel auch eine Anzahl von Kirchen in Besitz genommen und die Propsteien genutzt, um verdiente Mitstreiter – etwa auch seinen zweiten Kanzler Walter von Courtrai – zu versorgen.1395 Darüber hinaus versicherte sich Heinrich später des päpstlichen Schutzes für zwei im Bereich der kaiserlichen Paläste gelegene Kirchen, die beiden Palastkirchen St. Michael in Bukoleon und St. Maria in Blachernis.1396 Der Sinn dieser Regelung bestand für den Kaiser darin, sich sichere Versorgungsmöglichkeiten für die ihn stützenden Kleriker zu verschaffen.1397 Auch zögerte Heinrich offensichtlich nicht, über päpstliche Interventionen in die Besetzung von Kanonikaten an der Sophienkirche einzugreifen.1398 Dennoch waren fränkische Geistliche über die ausbleibende zufriedenstellende Versorgung Aller enttäuscht.1399 1393 RIN 8, Nr. 65 (64), S. 109f. 1394 Innozenz gab seinem Legaten genaue Instruktionen mit; vgl. RIN 8, Nr. 63 (62), S. 107f. und RIN 8, Nr. 136 (135), S. 250. 1395 Gerland, Geschichte (1905), 63f. 1396 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 82. 1397 Tricht, Gloire (2000), 223. 1398 Vgl. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 109 (wahrscheinlich für Walter, ein herausragendes Mitglied der kaiserlichen Kanzlei). 1399 Vgl. den Brief des Bischofs Nivelon von Soissons bei Exuviae sacrae Constantinopolitanae 2. Ed. Riant, Nr. 4, S. 58–60.

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

1206 schlossen Heinrich und der päpstliche Legat Benedikt nach wahrscheinlich längeren Verhandlungen eine Übereinkunft ab, die schließlich auch durch Innozenz III. bestätigt wurde.1400 Hauptinhalt waren die Entschädigungsregelungen für die orthodoxen Kirchengüter, die grundsätzlich 1 / 15 von allem Besitz und allen nutzbringenden Rechten betragen sollten. Außerdem wurde eine Steuerfreiheit der kirchlichen Güter festgeschrieben. Die Regelungen waren erneut von einer erstaunlich umfassenden Planhaftigkeit, trugen aber erneut auch virtuellen Charakter.1401 Später sollten sich Heinrich und die lateinische Kirche über die Besitzungen der Kirchen von Konstantinopel einigen – eine Regelung, die mit den üblichen (virtuellen) Bruchzahlen operiert und den Kirchen letztlich 1 / 12 aller lateinischen Besitzungen in der Romania zuspricht.1402 Weiterhin gab aber die Besetzung der Kanonikerstellen in der Sophienkirche Anlass für Spannungen. Innozenz III. hatte sowohl über seinen Legaten Benedikt als auch direkt gegenüber Patriarch Morosini darauf bestanden, dass auch Nichtvenezianer als Kanoniker aufgenommen würden. Morosini reagierte zweifach harsch: hinsichtlich der Besetzung der Kanonikate in St. Sophia und ebenso bei der Besetzung anderer bedeutender kirchlicher Würden wie etwa gegenüber den Erzbischöfen von Patras, Athen und Theben. Seine vorgeschobene Begründung ist aufschlussreich für die dünne Personaldecke der lateinischen Kirche: Er verweigerte die Pallienübergabe an die Erzbischöfe, da es der Kirche von Konstantinopel an den benötigten Bischöfen für den feierlichen Vollzug des Aktes fehle.1403 Die Versuche der Betroffenen, die patriarchale Blockade durch Einschaltung des Papstes bzw. Anstreben der „Romunmittelbarkeit“ zu umgehen, wurden von Innozenz III. zurückgewiesen.1404 Die Ursache für diese Entscheidung waren nicht nur die Intentionen Innozenz’, die Venezianer nicht zu verärgern, sondern auch seine Absicht, das Patriarchat im alten Umfang zu erhalten. Erneut zeigt sich so die Wirkkraft der imperialen Ordnung, die myzelartig auch den geistlichen Bereich durchwucherte und eben im Patriarchen eine Art sichtbaren Fruchtkörper bil1400 Vgl. RIN 9, Nr. 142. 1401 Vgl. etwa die Regelung zum Zehnten in Hendrickx, Recherches (1970), Nr. 27, S. 147f.: De nutrimentis animalium quadrupedum, et de apibus et lanis decimae solventur; et si progressu temporis Ecclesia a Graecis decimas per exhortationem et admonitionem acquirere poterit, per eos nullum impedimentum praestabitur und ebd., S. 148 die Regelungen zu den noch zu erobernden Gebieten: De terris vero, quae, Deo volente, de caetero conquirentur, primo habebit Ecclesia quintamdecimam partem, antequam alicui distribuantur. 1402 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 131. Vgl. auch die Bitte um päpstliche Bestätigung in Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 132. 1403 Gerland, Geschichte (1905), 95 und 123f. 1404 Vgl. etwa Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 218, S. 115, wo Innozenz III. gegenüber dem Patriarchen klarstellt: Requisivit a nobis tua fraternitas, an venerabili fratri nostro, Patracensi Archiepiscopo, sit a nobis privilegium exemptionis indultum. Super quo fraternitati tuae insinuatione praesentium innotescat, nos eidem Archiepiscopo nullum exemptionis privilegium concessisse. Ipse tamen constanter asseruit coram nobis, Patracensem Archiepiscopum immediate ad Sedem apostolicam pertinere.

III.1 Über oder zwischen den Religionen?

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dete. Allerdings kompliziert sich die Lage noch, wenn man in Rechnung stellt, dass die Interessen Venedigs und des Patriarchen keineswegs immer identisch waren. Insbesondere hinsichtlich der Exemtion des venezianischen Machtbereiches von der patriarchalen Jurisdiktion – resp. dessen Unterstellung unter den Patriarchen von Grado – gab es erhebliche Meinungsverschiedenheiten.1405 Auch die Angehörigen anderer Nationen erkannten die patriarchale Autorität kaum noch an, verweigerten etwa die Zahlung des Zehnten.1406 Die Tendenzen zur Auflösung der Autorität im weltlichen Bereich zeigten sich auch in der geistlichen Sphäre. Wohl zu diesem Zeitpunkt bat Heinrich auch Papst Innozenz III., ihm seine Einsetzungsrechte gegenüber den Pröpsten von 30 Kirchen zu bestätigen.1407 Heftige Auseinandersetzungen mit dem Patriarchen folgten jedoch, da dieser offensichtlich nicht bereit war, auf seine Besetzungsrechte zu verzichten.1408 Der Streit eskalierte rasch, und auch das lateinische Kaiserreich lief Gefahr, seinen Investiturstreit zu bekommen, fürchtete doch Heinrich offenbar, durch Morosini exkommuniziert zu werden.1409 Ebenso beklagte sich Heinrich bei Innozenz III. über die Besetzung der Kanonikerstellen: Nur Venezianer würden in der Kirche des Patriarchen aufsteigen.1410 Außerdem erbat er von Innozenz III. das Recht, von den Klerikern seines Reiches einen Treueid fordern zu dürfen.1411 Der Rechtsgrund lag in den vom Kaiser verliehenen

1405 Vgl. grundsätzlich zur wichtigen Funktion der venezianischen Kirche Orlando, proprietà (2006). 1406 Vgl. RIN 11, Nr. 23 (24) zu einem Mahnschreiben Innozenz’ III. 1407 Vgl. RIN 11, Nr. 15 (16), S. 21: Verum quia imperator predictus prepositurarum ipsarum collationem confirmari sibi per sedem postulavit. Interessant ist die Begründung, die Heinrich für seine Forderung bietet: cum se fateatur habere non minus iuris in illis, quam multi reges in quibusdam preposituris regnorum suorum ex approbata consuetudine habere noscuntur. Vgl. zum Hintergrund Gerland, Geschichte (1905), 126. Aufschlussreich auch der Hinweis dort bei Anmerkung 5, dass 1212 nur sieben der 30 Propsteien besetzt waren. 1408 Vgl. etwa die Beschwerde Heinrichs gegenüber Innozenz III., die Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 111, ersichtlich ist. 1409 In RIN 10, Nr. 120 legte Innozenz III. fest, dass eine eventuelle Exkommunikation Heinrichs durch den Patriarchen von Konstantinopel von vornherein ungültig sei. 1410 Vgl. etwa Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 2 (1856), Nr. 221, S. 117 zu einem Schreiben Innozenz’ III. an den Patriarchen: Verum quia, sicut carissimus in Christo filius noster, Imperator Constantinopolitanus illustris, sua nobis insinuatione monstravit, hoc minus attente considerans, quam deceret, prout caro et sanguis revelavit tibi, solos Venetos vel subjacentes eisdem in Ecclesia tua promoves, Francos et alios probos viros alterius nationis, quam tuae, promovere contemnens, volentes, ut ab huiusmodi revoceris abusu, per quem divinam et nostram incurrere posses offensam. 1411 RIN 11, Nr. 35 (38), S. 46: Illo caritatis affectu imperialem celsitudinem amplexamur, ut preces ipsius, quantum cum Deo et nostra possumus honestate, libenti exaudire animo cupiamus. Eapropter, carissime in Christo fili, tuis postulationibus inclinati serenitati tue presentium auctoritate concedimus, ut ab archiepiscopis et episcopis terre tue necnon et ab aliis in imperio constitutis, a quibus sine scandalo recipere ipsam possis, fidelitatem recipere tibi liceat pro

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

Regalien, realpolitisch stärkte das Vorhaben die Position des Kaisers.1412 Diese Maßnahme, von Innozenz III. gut geheißen, schien jedoch bei manchen Prälaten – Lateinern und Griechen – auf heftigen Widerstand zu stoßen.1413 Neben diesen „internen“ Auseinandersetzungen fanden auch die Konflikte der wirtschaftlichen imperialen Ordnungen ihren Niederschlag in der Kirchenorganisation: 1206 / 07 kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen dem pisanischen Prior Benenato und Thomas Morosini, da der Patriarch die Exemtion der pisanischen Kirchen von seiner Amtsgewalt nicht anerkennen wollte.1414 In diesem Konflikt stellte sich der päpstliche Legat Benedikt auf die Seite der Pisaner und nahm Benenato mit all seinen Besitzungen und Rechten in seinen Schutz.1415 In der Folge unterstützten die Pisaner offensichtlich in verstärktem Maße Heinrich, der sich immer energischer der venezianischen Dominanz zu entwinden suchte. Zusätzlich kam es zu selbstständigen Umorganisationen in der Bistumsstruktur, die den venezianischen Einfluss zuungunsten des kaiserlichen vergrößerten.1416 In die Besetzung, geschweige denn die Zuschneidung der lateinisch gewordenen Bistümer konnte der lateinische Kaiser praktisch nicht eingreifen, sondern nur in Kooperation mit dem Papsttum dem lateinischen Patriarchen (und damit auch den Venezianern) Paroli bieten. Dies änderte sich zum Teil, als nach dem Tode Bonifaz’ von Montferrat das Königreich von Thessaloniki von Montferrat in den Machtbereich des lateinischen Kaisers Heinrich integriert wurde. Hier war es im Rahmen der lateinischen Eroberung nicht zu einer „Enteignung“ der Kirchengüter gekommen. Bonifaz von Montferrat hatte hier gleich einem normannischen König recht frei – aber auch durchaus in Kooperation mit dem päpstlichen Legaten Benedikt – Bistümer vergeben und relativ erfolgreich die

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regalibus, que a te habere noscuntur; dummodo talia illa sint, pro qualibus ab huiusmodi consuevit aliis principibus secularibus fidelitas exhiberi. Gerland, Geschichte (1905), 151 sieht das Ziel der kaiserlichen Politik vor allem in Thessaloniki, wo der Eid dazu führen konnte, „dem Kaiser in dem unbotmäßigen Vasallenreich eine jederzeit gefügige Partei zu verschaffen, und dies um so mehr, als es dort in der letzten Zeit zu einem allgemeinen Kampf der weltlichen Machthaber gegen die geistlichen Herren gekommen war“. Wenn Innozenz III. in einem Brief vom 2.11.1209 klarstellt, dass diese Regelung ausdrücklich für ganz Romanien, also auch für Thessaloniki und die Prälaten Mittelgriechenlands gelte, gestand er dem lateinischen Kaiser in zweierlei Hinsicht eine übergeordnete Stellung zu: zum einen eine besondere und unmittelbare Verbindung zu den Bischöfen, die keine Zwischeninstanzen berücksichtigte, und zum anderen eine konsequent lehnrechtliche Ausdeutung der weltlichen Seite des Investituraktes. Die Regalienleihe begründete eine unmittelbare Treueverpflichtung des Hochklerus gegenüber dem weltlichen Lehnsherrn. Wie aus Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 110 hervorgeht, hatte sich Heinrich hierüber bei Innozenz III. beschwert. Vgl. das Schreiben Innozenz’ III. an Morosini in RIN 9, Nr. 140. Vgl. auch zur weiteren Entwicklung Gerland, Geschichte (1905), 121 / Anm. 4. Vgl. etwa die Beschwerde Heinrichs über die Vereinigung einiger Bistümer in Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 112. Vgl. zur kirchenorganisatorischen Einordnung dieser Bistümer, ebd., S. 80, Note.

III.1 Über oder zwischen den Religionen?

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lateinische Kirchenhierarchie aufgebaut.1417 Einer der Hauptantriebe schien für ihn die Abschottung der Kirche seines Machtbereiches gegen venezianische Einflussnahme gewesen zu sein. Mit dem Tod Bonifaz’ war es dann zu starken Übergriffen der lombardischen Barone in die Kirchen des Königreiches gekommen. Die Barone suchten nicht nur die Kirchengüter zu besteuern, sondern auch die Söhne der verheirateten griechischen Priester der unteren Hierarchiestufen zum Kriegsdienst heranzuziehen. Dies trug nicht dazu bei, den hohen lateinischen Klerus, der auch – ähnlich wie der weltliche Adel – in der Aussicht auf eine materielle Besserstellung in den Osten gekommen war, für seine neuen Aufgaben zu begeistern. Einige der Prälaten kehrten in ihre Heimat zurück. Hier war letztlich der Kaiser gefragt, seiner Funktion als Kirchenvogt gerecht zu werden. Allerdings war auch die Kirchenpolitik im lateinischen Kaiserreich stark konsensual geprägt. Es ist kaum nur als Floskel zu verstehen, wenn die Regelungen über die Verteilung der ehemals orthodoxen Kirchengüter durch Kaiser Heinrich de consilio et assensu omnium principum, baronum, militum et populi1418 erfolgten. Während der Zeit ohne regierenden Kaiser waren es die Barone und der jeweilige Bailli, die gemeinsam Kirchenpolitik betrieben.1419 Heinrich gebrauchte auch Kirchengüter, um Angehörige des weltlichen Adels damit auszustatten.1420 Darüber hinaus verboten es Heinrich und seine Barone, Güter an die Kirchen zu vererben – eine Regelung, die auf den Widerstand Innozenz’ III. stieß.1421 Erklärlich ist dieser Eingriff in die Besitzstruktur der Kirchen vor Ort in dreierlei Hinsicht: Erstens gab es drängende ökonomische Gründe, denn einen Verlust an Lehen und den mit ihnen verbundenen Einkünften – die kirchlichen Besitzungen waren steuerfrei – konnte sich vor Ort niemand leisten; zweitens mag es bereits durch den Teilungsvertrag von 1204 und die damit verbundenen „Säkularisationen“ eine gewisse „Tradition der Enteignung“ gegeben haben, die auch – wie bereits gesehen – in Thessaloniki (nach der Herrschaft Bonifaz’) stark war; drittens mag schließlich auch das byzantinische Erbe mit seiner unklaren Grenze zwischen weltlichen und geistlichen Besitzungen hier stark gewirkt haben.

1417 Vgl. die Schilderungen bei Gerland, Geschichte (1905), 64f. Vgl. zur Kooperation mit Benedikt Gerland, Geschichte (1905), 98 und grundsätzlich auch S. 193–199. 1418 RIN 9, Nr. 142, S. 258. 1419 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 143. 1420 Vgl. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 100 und 101. 1421 Vgl. den Brief Innozenz’ III. an Heinrich in MPL 216, Nr. 98, Sp. 0296A-B: Gravem venerabilium fratrum nostrorum archiepiscoporum et dilectorum filiorum aliorum praelatorum imperii tui recepimus questionem quod tu et barones tui in eorum inhibuisti gravissimum detrimentum ne quis de possessionibus suis in vita sua conferat, vel in extremo articulo condat ecclesiis testamentum. Cum igitur ex inhibitione hujusmodi et ecclesiarum dispendium et inhibentium interitus procuretur, excellentiam tuam monemus attentius et hortamur quatenus hujusmodi pravam inhibitionem et tu ipse relaxes et a tuis baronibus facias potestate tibi tradata relaxari.

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

Diese Analyse der „heilswirksamen Funktionen“ hat drei Befunde offengelegt: Erstens konnte der Herrschaftsverband des lateinischen Kaiserreiches weder über die Inszenierung der besonderen Begabung mit Reliquienschätzen noch über die machtvolle Erweiterung und Verteidigung der lateinischen Religion besonderen Ruhm erwerben. Zweitens ergaben sich aber auch Probleme bei der Koppelung der politischen Ordnung mit der religiösen Ordnung der Papstkirche, die sich insbesondere hinsichtlich der Güterausstattung zeigten. Hier werden die Unterschiede zwischen dem 13. und dem 12. Jahrhundert deutlich: Kein weltlicher Herrscher konnte mehr ohne Rücksprache mit Rom die Kirchenstruktur bestimmen. Hinzu traten aber auch drittens die Interventionen der wirtschaftlichen imperialen Ordnung Venedigs, die auch am Lido ihre ganz eigene, dem eigenen Vorteil dienende Koppelung mit der religiösen imperialen Ordnung der Papstkirche eingegangen war und als weiterer Akteur die Lage vor Ort nicht unwesentlich komplizierte. Aufgrund dieser Schwierigkeiten konnte der lateinische Kaiser kaum je nachweisen, durch seine heilswirksame Funktionserfüllung seinem kaiserlichen Rang gerecht zu werden.

III.2 Herrschaftserfassung und Herrschaftsdurchdringung Wie bei allen weltlichen Herrschaftsformen war jedoch eine stabile Verwaltungsstruktur und die Fähigkeit zur Ressourcenmobilisierung Grundlage kaiserlicher Herrschaft. Die Dauerhaftigkeit und Anpassungsfähigkeit der Herrschaftsorganisation konnte sich dabei nicht unbeachtlich unterscheiden. Bereits das byzantinische Reich war mehrfach an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit gestoßen, indem ehemalige Korn- und Goldkammern erobert oder ausgeplündert wurden: Vor allem der Verlust von Ägypten und Kleinasien stellte die byzantinische Anpassungsfähigkeit auf eine harte Probe. Ähnlich schwerwiegend waren der Verlust Süditaliens und die Plünderung Griechenlands durch die Normannen. Trotzdem konnte sich der hegemoniale Anspruch von Byzanz jahrhundertelang behaupten. Erstaunlicherweise konnte sich ebenso nach 1204 um Nikaia ein nicht nur überlebensfähiger, sondern auch rasch eine regionale Hegemonie erlangender Rumpfstaat etablieren. Dies war auch – wie noch zu zeigen sein wird – Folge davon, dass Bonifaz von Montferrat entgegen des ursprünglichen Abkommens den Balkan anstelle Kleinasiens als Hauptbetätigungsfeld gesucht hatte und sich der Schwerpunkt der lateinischen Politik dort konzentrierte.1422 Eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielte die Migration: Es kam zu einem regelrechten Exodus der byzantinischen Elite aus Konstantinopel nach Nikaia, was das Personenreservoir der Byzantiner in Nikaia stärkte, das der Lateiner hingegen schwächte.1423 Demgegenüber stand es um 1422 Vgl. auch Hendy, Catalogue 4 / 2 (1999), 654. 1423 Vgl. Angold, Government (1975), etwa S. 105.

III.2 Herrschaftserfassung und Herrschaftsdurchdringung

287

das lateinische Kaiserreich schlechter – sowohl hinsichtlich der „Substanz“ als auch hinsichtlich der Flexibilität. Worin lagen aber die Gründe? Weshalb war die Ressourcenausstattung der lateinischen Kaisers so suboptimal? War es die Abwesenheit einer tragfähigen Kaiseridee? War es die Herrschaftsorganisation oder die Unfähigkeit der jeweiligen Amtsinhaber? Es sind vor allem drei Bereiche, die sich als problematisch erwiesen: die Herrschaftserfassung, die Herrschaftsdurchdringung und die Verteilung der Ressourcen.

III.2.1 Herrschaftserfassung Relativ rasch wurde ein Teil des 1204 aufgeteilten Herrschaftsgebietes mit einem Netz lehnsrechtlicher Verfügungen überzogen.1424 Ein Großteil des Herrschaftsbereiches existierte aber nur virtuell, war also erst noch zu erobern. Und hier unterschätzten die Lateiner möglicherweise den anhaltenden Widerstand der Herrschaftsträger des restlichen byzantinischen Reiches.1425 Die virtuelle Vergabe verschiedener Ländereien er1424 Vgl. etwa den Bericht von Robert de Clari, Conquête de Constantinople. Ed. Lauer, c. 111, S. 105: Aprés mesires Henris, li freres l’empereeur, demanda le roiaume l’Andremite, qui estoit outre le brach Saint Jorge, s’il le pooit conquerre, et on li donna. Adonques i ala mesires Henris a toute se gent, si conquist grant partie de le tere. Aprés li cuens Loeis demanda un autre roiaume, et on li donna; et li cuens de Saint Pol redemanda un autre roiaume, et on li donna; aprés mesires Pierres de Braiechoel un autre roiaume qui estoit en tere de Sarrasins vers le Coine, s’il le pooit conquerre, et on li otria, et mesires Pierres i ala a toute se gent, si conquist chu roiaume molt bien et s’en fu sires. Si faitement demanderent li rike homme les roiaumes qui n’estoient mie encore conquis; et li dux de Venice et li Venicien eurent l’isle de Crete et l’isle de Corfaut et l’isle de Mosson, et encore autres assés que il ja ameerent („Danach forderte mein Herr Heinrich, der Bruder des Kaisers, das Reich von Adramittium, das jenseits der Straße des heiligen Georg lag, wenn er es erobern könne, und es wurde ihm gegeben. Dann zog mein Herr Heinrich mit all seinen Leuten dorthin und eroberte einen großen Teil des Landes. Danach forderte Graf Ludwig ein anderes Reich und es wurde ihm gegeben; danach forderte der Graf von Saint-Pol noch ein anderes Reich und es wurde ihm gegeben, danach forderte mein Herr Peter von Bracheux ein anderes Reich, das im Land der Sarazenen in Richtung Coine lag, wenn er es erobern könne und es wurde ihm gewährt, und mein Herr Peter zog mit all seinen Leuten dorthin und eroberte dieses Reich sehr einfach und wurde Herr davon. So forderten die reichen Männer ihre Reiche, die noch nicht erobert waren; und der Herzog von Venedig und die Venezianer hatten die Insel Kreta und die Insel Korfu und die Insel Modon und noch viele andere, die sie bereits begehrt hatten“). 1425 Geradezu rührend schildert Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 7, S. 791 die Unbedarftheit Balduins: Βασιλεύσας τοίνυν ὁ Βαλδουῖνος ἐς μέρη ἔξεισι τὰ ἑσπέρια, οὐχ ὡς αὐτὰ χειρωσόμενος [πάντα γάρ οἱ ἁλώσιμα ᾤετο, …] ἀλλ᾽ ὡς διὰ φιλίων χώρων παρελευσόμενος καὶ βασιλεὺς Ῥωμαίων ἀναγορευϑησόμενος πρὸς παντὸς („Nachdem er Kaiser geworden, machte sich Balduinos auf den Weg in die westlichen Gebiete, allerdings nicht in der Absicht, sie zu erobern. Er glaubte zwar, ihm könnte nichts widerstehen (…) damals wollte er nur friedlich die Länder dort besuchen und sich von allen zum Kaiser der Rhomäer ausrufen lassen“).

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

laubte zunächst durchaus die Inszenierung kaiserlicher Großzügigkeit und konnte weitere Gefolgsleute anlocken.1426 Die anfängliche Erhebung der zu verteilenden Güter schien jedoch recht ungenau gewesen zu sein und ist ein Indikator für mangelndes Wissen um das fremde Land und seine Verwaltungsorganisation, für die Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation und für kulturelle Grenzen, die nicht zu überwinden 1426 Vgl. zur Vergabe „virtueller Besitzungen“ oben, Anm. 1424 und Corpus chronicorum Flandriae. Ed. Tafel / Thomas, 302 zu einer Zusammenkunft unter Balduin I.: Duodecima die convivii, quae fuit prima Octobris, fecit amplius quam sexcentos milites et singulis dedit liberatam de caligis supradictis, et cuilibet novorum militum, non habenti domina seu terras, dedit vel terras vel officia vel dominia, de quibus possent gratiose vivere et statum militarem ducere, mandans eis, quatenus justis legibus, privilegiis ac consuetudinibus Atheniensium et Graecorum, ut olim, quum Graecie florebat, absque quacumque tyrranide quilibet dominium regeret et juste et gloriose gubernaret. Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 6, S. 787f. schildert eindringlich und leicht sarkastisch die Virtualität des gewählten Verfahrens: ὡς δὲ καὶ κλήρους πόλεων καὶ χωρῶν ἤρξαντο βάλλειν, ἦν ἰδέσϑαι καὶ ϑέσϑαι ὅτι διὰ πλείστου τοῦ ϑαύματος ἀνδρῶν τυφομανῶν μὴ ξυμβλητὴν ἀπόνοιαν, εἴτ᾽ οὖν παράνοιαν εἰπεῖν οἰκειότερον. ὡς γὰρ βασιλέων ἤδη βασιλεῖς καϑεστῶτες καὶ τὸ περίγειον ἅπαν ἐν χερσὶν ἔχοντες, τοῖς μὲν Ῥωμαïκοῖς σχοινίσμασιν ἀπογραφεῖς ἐπέστησαν, γνῶναι πρότερον τὰς ἐπετείους ἀποφορὰς ϑέλοντες, εἶϑ᾽ οὕτω κατὰ πάλους αὐτὰ μερίσασϑαι, τὰς δὲ παρ᾽ ἄλλοις ἔϑνεσι καὶ βασιλεῦσι καρπουμένας ἀρχὰς καὶ ἔξουσίας ἐκ τοῦ αὐτίκα διείλοντο. ἥ τε οὖν ἐν πόλεσιν εὐδαίμων καὶ πρὸς τῷ Νείλῳ κειμένη ᾽Αλεξάνδρεια τῷ τε κλήρῳ ὑπέκειτο καὶ Λιβύη, καὶ Λιβύης τὰ ἐς Νομάδας καὶ Γάδειρα παρατείνοντα, Πάρϑοι τε καὶ Πέρσαι, ἐπὶ δὲ Ἴβηρες ἑῷοι καὶ ᾽Ασσυρία γῆ καὶ ‘Υρκανοί, καὶ ὅσα οἱ πρὸς ἓω μέγιστοι ποταμοὶ τοῖς ὕδασι διειλήφασιν. ἀλλ᾽ οὐδὲ τὰ πρὸς βορρᾶν νενευκότα κλίματα εἰάϑη ἀκλήρωτα, ἀλλὰ κἀκεῖνα οἱ αὐτοὶ διενείμαντο. καὶ ὁ μὲν ὡς ἱπποτρόφους καὶ φόροις περιβριϑεῖς ἃς ἐκληρώσατο πόλεις δι᾽ ἐπαίνου ἐτίϑετο καὶ τοῦ κλήρου ἑαυτὸν ἐμακάριζεν, ὁ δὲ ὡς κομώσας ἄλλοις ἀγαϑοῖς ϑαυμάζων οὐκ ἔληγεν. οἱ δὲ καὶ περὶ κλήρου πόλεων ἤρισαν, καὶ ἀντέδοσαν ἄλλοις ἕτεροι καὶ ἀντέλαβον πόλεις καὶ ὅρια. τινὲς δὲ καὶ μάλᾳ δόξαν ἀσπάσιον τὸ ᾽Ικόνιον εἰς κλῆρον εἰληφέναι ἠγωνίσαντο („Als sie auch über Städte und Länder das Los zu werfen begannen, konnte man mit höchster Verwunderung den unvergleichlichen Unsinn oder soll man das eher Wahnsinn nennen? - der von Hoffart verblendeten Männer sehen. Als ob sie schon Könige der Könige wären und die ganze Welt in ihren Händen hielten, schickten sie Leute aus, um das rhomäische Gebiet aufzunehmen, weil sie zuerst einmal die Höhe der jährlichen Abgaben kennenlernen wollten. Dann gedachten sie diese durch das Los zu verteilen. Die Landstriche und Herrschaftsgebiete, die von anderen Völkern und Königen besetzt waren, verteilten sie jedoch gleich. Die wohlhabende, am Nil gelegene Stadt Alexandria, desgleichen Libyen, dann die Gegend von Libyen bis Nomadien (Numidien) und Gadeira, das Gebiet der Parther und Perser, dazu noch das östliche Iberia, das assyrische Land und Hyrkanien und alles Gebiet, welches im Osten die beiden großen Ströme umschließen, wurde verlost. Aber auch die gegen Norden gelegenen Länder wurden nicht außer acht gelassen, auch sie wurden aufgeteilt. Der eine rühmte die ihm zugefallenen rossenährenden, steuerschweren Städte und pries sich glücklich, dass er ein solches Los gezogen hatte, der andere konnte sich nicht genug über die Güter wundern, mit denen seine Städte prunkten, andere stritten wieder über die Verlosung oder tauschten untereinander ihre Städte und Länder aus, einige bemühten sich sogar eifrig, weil ihnen das besonders wünschenswert erschien, Ikonion zugesprochen zu erhalten“).

III.2 Herrschaftserfassung und Herrschaftsdurchdringung

289

waren.1427 Sollten sich die Besitzungen aufgrund dessen aber – wie es dann geschah – als wertlos, da nicht realisierbar, erweisen, schlug der Vorteil vermeintlicher Großzügigkeit in einen Nachteil um. Bereits unter Balduin I. kam es zu einem großen Aufstand der einheimischen Bevölkerung, wodurch deutlich wurde, dass man das Land nicht einfach in Besitz nehmen konnte.1428 Die in der Folge notwendige Konzentration der Kräfte mit der Aufgabe bereits eroberter Gebiete führte zu weiterer Ernüchterung.1429 1427 Anlässlich der Verteilung der orthodoxen Kirchengüter stellt Gerland, Geschichte (1905), 77 die Hypothese auf, dass für die Einrichtung der Lehnsgüter 1204 in erster Linie die Besitzungen der griechischen Archonten / der Geistlichkeit benutzt wurden, denn „diese bildeten in den Katasterbüchern, die man doch jedenfalls bei der Verteilung zugrunde legte, einen übersichtlich zusammengeschriebenen Besitz, der sich mit Vertauschung der Person ohne weiteres auf die neuen Herren übertragen ließ“. Vgl. hinsichtlich einer gewissen Überheblichkeit der Lateiner, auf byzantinischen Sachverstand zurückzugreifen Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 7, S. 791, der berichtet, Balduin habe „keinen Rhomäer, weder einen Krieger noch einen Staatsmann, irgendwelcher Beachtung [gewürdigt], sondern sie allesamt entlassen. So verfuhren auch die anderen Heerführer und Komites“ (οὗ χάριν οὐδε κομιδῆς οἱασοῦν κατηξιώκει τινᾶς τῶν Ῥωμαίων ἐκ τοῦ στρατιωτικοῦ τε καὶ πολιτικοῦ συντάγματος, ἀλλ᾽ ἁπαξάπαντας ἀπεπέμψατο. τοῦτο δὲ καὶ τοῖς ἄλλοις τοῦ στρατιωτικοῦ ἡγεμόσι καὶ κόμησι δέδοκτο·). Gleichwohl Gerland, Geschichte (1905), 119: „Ich möchte annehmen, daß es den fränkischen Eroberern gelungen war, die byzantinische Steuererhebung wenigstens in der Hauptsache zu retten und sich in der Hauptstadt einen kleinen Stab griechischer Beamten zu erhalten. Die Schwierigkeit war nur die, daß es nicht gelingen wollte, das Land dauernd in Besitz zu nehmen, und daß damit die Steuererhebung so häufig unterbrochen wurde“. Vgl. Gunther von Pairis, Hystoria Constantinopolitana. Ed. Orth, c. 20, S. 163f. Vgl. zur Kontinuität der Herrschaftsorganisation etwa Jacoby, Byzantium (2001), VIII 10–VIII 23. 1428 Wie Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 339, S. 148 und 150 schildert, erodierte das Vertrauen der Lateiner in die eigenen Kräfte: Ensi s’en revindrent a grant joie en la cité d’Archadiople. Et cele victoire si manderent l’empereor’ Baudoin en Costantinoble, qui mult en fu liez. Et ne por quant n’oserent retenir la cité d’Archadiople, ainz s’en issirent l’endemain et la guerpirent, et s’en revindrent en la cité del Curlot. Enqui s’aresterent a grant dote: qu’il dotoient autant cels de la ville cum il faisoient cels de hors, que il estoient des sairemenz devers le roi de Blaquie qu’i les devoient traïr. Et maint en i ot qui n’oserent arester, ainz s’en vindrent en Costantinople („So kehrten die Franken mit großer Freude in die Stadt Arcadiopel zurück. Und sie meldeten die Nachrichten ihres Sieges an Kaiser Balduin in Konstantinopel, der sich sehr darüber freute. Dennoch wagten sie nicht, die Stadt Arcadiopel zu halten, sondern sie verließen sie am folgenden Tag und gaben sie auf und kehrten in die Stadt Tzurulum zurück. Und hier verharrten sie in sehr großen Zweifeln, denn sie misstrauten den Griechen, die in der Stadt waren ebenso wie jenen, die außerhalb waren, weil die Griechen in der Stadt auch dem König der Wallachei geschworen hatten, dass sie sie verraten müssten. Und es gab dort viele, die nicht wagten, in Tzurulum zu bleiben, sondern sich auf dem Weg nach Konstantinopel machten“). Vgl. auch die Schilderungen von Villehardouin, Conquête. Ed. Faral in c. 345f. 1429 Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 340, S. 150: Lors pristrent l’empereres Baudoins conseil et li dux de Venise et li cuens Loeys, et virent que il perdoient tote la terre; et fu telx lor consels que l’empereres manda Henri son frere, qui ere a l’Andremite, que il guerpist quanque il i avoit conquis et le Il venist secore. („Dann berieten Kaiser Balduin und der Doge von Venedig und Graf Ludwig, da sie erkannten, dass sie das ganze Land verloren; Und sie fassten den Beschluss,

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

Wie wenig die westlichen Eroberer häufig von ihrer eigentlich intendierten Stellung realisieren konnten, wie zerbrechlich die Virtualität der geplanten Ordnung war, wie zäh aber auch mitunter an ihr festgehalten wurde, zeigt vor allem das Beispiel des Rainer von Trith: Zum Herzog von Philippopel ernannt, wurde er bereits kurze Zeit nach seiner Ankunft in der Festung Stenimachos durch aufständische Griechen eingeschlossen. Bis zu seiner Entsetzung durch die Truppen Heinrichs hielt er dort wohl 13 Monate aus.1430 Die Eroberung der Peloponnes wurde ebenso zäh betrieben, sie dauerte noch bis in die 1240er Jahre.1431 Auch hier staunt Niketas über die Selbstverständlichkeit, mit der die Lateiner die bestehende Ordnung aushebelten.1432 Es mag einer der „Konstruktionsfehler“ des lateinischen Kaiserreiches gewesen sein, dass die Aufmerksamkeit der Eroberer umgehend auf die Umgebung Konstantinopels, auf Thessalien und die Morea gelenkt wurde und Kleinasien weitgehend außerhalb des Fokus lag. Was waren die Gründe? Erstens sind diese sicherlich in der imperialen Ordnung des byzantinischen Reiches zu suchen: Nach der seldschukischen Durchdringung Anatoliens hatte sich der Schwerpunkt der byzantinischen Wirtschaftskraft nach Westen verlagert. In diesem Gebiet galt es auch immer wieder, die Hauptfeinde des byzantinischen Reiches, die Bulgaren, abzuwehren.1433 „Franken“, „Lombarden“ und „Venezianer“ folgten hier den vorgeprägten Spuren. Die lateinische Kaiseridee konnte zweitens nie in dem Maße integrierend wirken, dass die Machtvektoren ganz auf das Gesamtreich ausgerichtet worden wären. Drittens konnten die Griechen in Nikaia im Unterschied dazu sowohl in die imperiale Ordnung des untergegangenen Reiches eintreten als auch eine der Situation angemessene Kaiseridee entwickeln, die expansiv auf den Wiedergewinn des Gesamtreiches ausgerichtet war. Die lateinische Eroberung Kleinasiens scheiterte mangels eigener Kräfte. Vor dem Hintergrund erneuter Niederlagen rief Balduin bereits im März 1205 unter anderem seinen Bruder Heinrich aus Kleinasien zurück.1434 Mit dem Kaiser von Nikaia musste ein

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dass der Kaiser seinem Bruder, der in Adramittium war, befehlen solle, all das aufzugeben, das er erobert hatte und zu ihrer Unterstützung kommen solle”). Gerland, Geschichte (1905), 89f. Lock, Franks (1995), 4. Die Eroberung erfolgte eigentlich im Gegensatz zu den Vereinbarungen von 1204, die dieses Gebiet den Venezianern zugewiesen hatten, durch Gottfried und Wilhelm Villehardouin und Wilhelm Champlitte. Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 15, S. 840: ᾽Αϑήνας μὲν γὰρ καὶ Θήβας καὶ Εὔβοιαν καὶ τὰ περὶ Μεϑώνην καὶ Πάτραν σπεῖρα Καμπάνων καὶ Λατίνων εὐσύνοπτος ὡσεὶ καὶ κτήσεις διενείμαντο πατρῴας. οἱ δὲ σφῶν δεσπόζοντες πρότερον ἐν προκηλακισμῷ καὶ ἀτίμίᾳ ἠνείχοντο σφισι μᾶλλον καϑυποκύπτειν („Athen und Theben, Euboia und das Gebiet um Methone und Patras verteilte eine Handvoll Kampaner und Lateiner unter sich, als wäre es ihr väterliches Erbgut. Die einstmals ihre Herren gewesen, die lagen in den Kot getreten da und verstanden sich in ihrer Schmach lieber dazu, sich vor ihnen zu beugen“). Lilie, Einführung (2007), 56–64. Vgl. oben, Anm. 1429.

III.2 Herrschaftserfassung und Herrschaftsdurchdringung

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vertragsartiger Friede geschlossen werden.1435 Die Niederlage bei Adrianopel verschärfte auch die Hilfsbedürftigkeit erneut: Eine Gesandtschaft sollte bei Innozenz III., in Frankreich, Flandern und anderen Ländern um Hilfe ersuchen.1436 Niederlagen und Hilfsgesuche trugen allerdings, vor allem da sie dauerhafte Phänomene wurden, nicht dazu bei, über hegemonialen Rang den Ruhm eines Kaisers und seines Reiches zu mehren.1437

III.2.2 Herrschaftsdurchdringung Hinzu traten Konflikte bei der Ausgestaltung der Herrschaftsdurchdringung. Kaiser und subordinierte „Herrschaftsträger“ standen sich seit jeher in einem spannungsreichen Verhältnis gegenüber: Sicherlich hatte der Kaiser – wie jeder andere Herrscher – einen gewissen Einfluss auf die Besetzung wichtiger Schaltstellen. Die Herrschaftsorganisation gewann jedoch ein beachtliches Eigenleben, war mit ihren Ressourcen, Rechten, Ordnungsvorstellungen und Prinzipien Teil der tragenden Herrschaftsstruktur, Teil der imperialen Ordnung und konnte das herrscherliche Handeln und dessen leitende Ideale nicht unbedeutend beeinflussen.1438 Dies betraf sowohl die „ideologische“ Ebene – die Herrschaftsträger waren ausgesprochen wichtige Speicher und Multiplikatoren imperialer Ideen – als auch die praktische Ebene: Nur sie verfügten über das rechtliche und finanztechnische Wissen, das für effektive und effiziente Verwaltung und Steuererhebung notwendig war.1439 Recht klar 1435 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 45. 1436 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 46. 1437 Vgl. insbesondere auch das erneute Hilfsgesuch Heinrichs an Innozenz III. nach der Niederlage von Adrianopel: RIN 8, Nr. 131 (130). Vgl. auch das Hilfsgesuch Heinrichs an die gesamte Christenheit in Pokorny, Briefe (1985), 201f.: Hinc est quod universitati vestre preces effundo, suppliciter rogans in domino, quatenus, secundum quod unicuique vestrum dominus inspirare dignabitur, toti in nobis christianitati et precipue Terre sancte velitis incurrere et pusillum Christi exercitum, qui per trium iam annorum spatia et eo amplius pundus diei et estus non minus sumptuose quam laborose in Christi servitio commorando sustinuit, pro dignitatum, officiorum et personarum diversitatibus confortare. Clerus videlicet crebra et salutari ammonitione ad populum, reges et principes seu quilibet alii inferioris ordinis secundum gradus vocationis, qua vocati sunt a domino, partes suas rei pronas inchoate, non nostris quidem viribus, sed nutu altissimi, dignanter apponere non graventur. 1438 Vgl. etwa Lilie, Einführung (2007), 134 zum Zusammenwirken von Herrschaftswechseln und der Verwaltung im byzantinischen Bereich des 7. / 8. Jahrhunderts. 1439 Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten (A), c. 2, S. 205 schildert eindrucksvoll den Rückgriff Manuels Komnenos auf „ungebildete Ausländer“ in der Staatsverwaltung, der wohl auch die Zustände im lateinischen Kaiserreich wiedergeben könnte: αὐτοῖς τὰς μεγίστας ἀρχὰς ἐγχειρίζει, ἀλλὰ καὶ κρίσεσιν ἐφιστα δικαστικαῖς, ὧν ὀψὲ καὶ νομοτριβεῖς ἄνδρες ἐφίκοιντο ἄν. Δεῆσαν δὲ καὶ τῶν ἐπαρχιῶν τινὰς ἀπογράφεσθαι [τοῦτο δὲ συχνάκις ἐγίνετο], ὁ τοιόσδε χορὸς τοῦ λογίμου προυτίθετο. εἰ δέ που καὶ παρεζεύγνυτό τις αὐτοῖς εὐγενὴς Ῥωμαῖος ἀνήρ, βάπτων ὅλως εἰς νοῦν καὶ γέμων φρονήσεως, κατὰ

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

lässt sich dies im Königreich Thessaloniki nachvollziehen, wo es den Baronen wohl gelang, eine effiziente Finanzverwaltung auf Grundlage der byzantinischen Steuerlisten aufzubauen.1440 Weitaus wichtiger als formales und durch Prüfungen legitimiertes Wissen waren in allen mittelalterlichen „Staatsverwaltungen“ jedoch persönliche Beziehungen und auch das sie z.T. ersetzende Geld – das soziale und ökonomische Kapital. Als sehr geschickt erwiesen sich in dieser Hinsicht die Normannen Süditaliens, denen es offensichtlich nicht nur gelang, die byzantinische Verwaltung zu übernehmen, sondern auch die arabischen Fachleute zu integrieren. Weniger glücklich waren offensichtlich die lateinischen Kaiser bei der Integration ihrer griechischen Verwaltungsfachleute.1441 Sicherlich ist die Versuchung groß, die theoretischen Aussagen zum Kaisertum und die Elemente der kaiserlichen Repräsentationskultur als Wirklichkeit anzusehen. Insbesondere im byzantinischen Herrschaftssystem sah man Elemente einer vollkommenen Autokratie verwirklicht. Allerdings galt auch hier, dass der Herrscher in wesentlichem Maße auf Andere angewiesen war, um seine Herrschaft überhaupt ausüben zu können.1442 Hier ist auch die entscheidende Gelenkstelle, an der das Kaisertum aus der Sphäre der Virtualität in jene der praktischen Wirkung übergeht und damit messbar wird. Deutlich wird dies etwa an Usurpatoren der kaiserlichen Würde in Byzanz: Konnten sich die Usurpatoren auch mehr oder minder formgerecht in den Besitz der kaiserlichen Insignien bringen, so waren der Gewinn und die durchdringende Sicherung des „Staatsapparates“ eine andere Sache für den Usurpator. Um sein eigenes Überleben und das seiner Dynastie zu gewährleisten, war es entscheidend, über möglichst zahlreiche Parteigänger an den Schaltstellen der Macht zu verfügen. Entsprechend findet sich der Austausch der jeweiligen Leitungselite nicht nur bei Usurpationen, sondern auch bei „normalen“, dynastischen Herrschaftswechseln.1443 Die Beanspruchung des kaiserlichen Ranges und seine Inszenierung durch einen Machthaber waren ab einer gewissen

1440 1441 1442 1443

τοῦτο ξυνεπέμπετο, ὅπως ὁ μὲν ἀπογράφων ἔσται καὶ τολυπεύων τὰς ὑποθέσεις, ἐξ ὧν ἤμελλον οἱ φόροι συνάγεσθαι, ὁ δὲ ὡς κερδοσυλλέκτης προεδρεύῃ καὶ τὰ φασκώλια σφραγῖσι διασημήνηται, ἃ ἤμελλον εἰσφέρεσθαι βασιλεῖ („Ihnen verlieh [Manuel] die höchsten Ämter, ja, er übertrug ihnen sogar Richterstellen, zu denen selbst ein Mann mit reicher Erfahrung auf dem Gebiet des Rechtswesens erst spät gelangt. Wenn, was häufig vorkam, eine Provinz für die Steuervorschreibung neu aufzunehmen war, wurde diese Bande gebildeten, angesehenen Männern vorgezogen. Wurde ihnen aber ein vornehmer Rhomäer beigegeben, ein Mann voll Geist und Klugheit, dann zu dem Zweck, dass er die Aufzeichnungen mache und die Unterlagen bearbeite, auf Grund derer die Abgaben eingehoben werden sollten. Der Ausländer aber führte den Vorsitz, so, als ob er der eigentliche Steuereinnehmer wäre, und er versiegelte die Geldsäcke, die an den Kaiser geschickt werden sollten“ [Übersetzung nach dem Band Die Krone der Komnenen. Ed. Franz Grabler]). Gerland, Geschichte (1905), 197f. Vgl. zu dieser Frage grundlegend Jacoby, Byzantium (2001) und Hendy, Catalogue 4 / 2 (1999), 653. Lilie, Einführung (2007), 132. Vgl. hierzu auch Schneidmüller, Herrschaft (2000) und Patzold, Konsens (2007). Lilie, Einführung (2007), 134.

III.2 Herrschaftserfassung und Herrschaftsdurchdringung

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Machtstellung wahrscheinlich deshalb grundsätzlich notwendig, um über das Kaisertum hinaus die notwendige Menge an Rangstufen – einschließlich der Königsgleichheit – für viele hochrangige Gefolgsleute zu gewährleisten und zugleich die Reichseinheit nicht zu gefährden.1444 Spätestens seit dem 10. Jahrhundert hatte der Einfluss des Adels in den Provinzen des byzantinischen Reiches stark zugenommen; alle kaiserlichen Amtsträger, die aus Konstantinopel in die Provinzen entsendet wurden, mussten sich mit diesen Potentaten gutstellen – insofern war die theoretische Autokratie des Basileus gleichsam konsensual gebrochen.1445 Möglicherweise verschärften sich diese Tendenzen im Lauf der Zeit – was wohl vor allem mit der steigenden Vergabe von Einkünften aus Landbesitz, später von Land selbst an diese Potentaten durch den Basileus zu tun hatte. Das späte mittelbyzantinische Reich war wohl ab den 1180er Jahren von zum Teil erheblichen Desintegrationstendenzen geprägt gewesen. Lokale Machthaber suchten in ihrem Einflussbereich die Schutzfunktionen des in zunehmendem Maße geschwächten Kaisers auszuüben, sahen sich aber umgekehrt auch nicht mehr gegenüber kaiserlichen Maßnahmen verpflichtet.1446 Das späte mittelbyzantinische Reich glich hierin dem spätantiken römischen Reich, wo es zur Usurpation bzw. Herrschaftserfüllung für eine versagende Zentrale durch Statthalter und lokale Dynastien kam, die sich gar zur Abspaltung von Sonderreichen steigern konnte.1447 Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer floh offensichtlich ein großer Teil der byzantinischen Oberschicht, nahm in Eigeninitiative Herrschaftsfunktionen im nicht lateinisch besetzten byzantinischen Reich wahr. Die „Flüchtlinge“ verstärkten so nicht nur die Fragmentierung des Raumes, sondern vor allem auch die Gegner der Lateiner.1448 Es entstand eine Konfiguration vielfältiger Herrschaften, die erst 1444 Vgl. etwa Eichmann, Kaiserkrönung (1942), 39 zu karolingischen Mitkaisererhebungen. 1445 Lilie, Einführung (2007), 150. 1446 Lock, Franks (1995), 3. Vgl. auch Lock, Franks (1995), 37: „In late 1204 the strong centrifugal tendencies which had been operating within the Byzantine empire since the 1180s now aided the Greeks in their hour of need (…) Political instability had encouraged localism in the provinces. Powerful and persuasive local notables in Bulgaria, Cyprus, Rhodes, central Greece and the theme of Thrakesion in Asia Minor had persuaded the politically important groups of those areas to look to them for protection and to place their own interests before those of the centralised empire”. Vgl. auch Brand, Byzantium (1992), 9–14 und 44–55. Vgl. auch Lock, Franks (1995), 38: „In one sense the Franks after 1204 were just joining the ranks of the jostlers for power and not defeating them or bringing them to heel. What the crusaders had gained with their conquest of Constantinople was not a territorial empire but a repository of political and religious traditions, many of which were alien to them”. Vgl. hierzu auch Jacoby, Byzantium (2001), VIII 2–3; Cheynet, Pouvoir (1990), 446–458. 1447 Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium (2009), 35 mit der Schlussfolgerung: „Diese Reichsbildungen waren nicht separatistisch, obwohl sie aus der kaiserlichen Perspektive als Abfallsbewegungen erschienen“. 1448 Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 266, S. 74: Et lors se departirent li halt home de Grece, et grant partie en passa oltre le Braz par devers la Turchie, et chascuns saissi de la terre

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

wieder ihr Gleichgewicht finden mussten.1449 Die bedeutendsten Gebilde, deren Herrscher auch kaiserlichen Rang beanspruchten, sollten Nikaia mit der Dynastie der Angeloi und Trapezunt mit den Komnenen werden. Die Hauptauswirkung des Herrschaftswechsels in Konstantinopel bestand im sozialen Bereich sicherlich in der Einführung einer recht scharfen rechtlich-sozialen Differenz zwischen „Adel“ und „Nichtadel“, die trotz ähnlicher Tendenzen im späten mittelbyzantinischen Reich (Existenz einer Oberschicht) doch einen Bruch mit den bisherigen Traditionen darstellte.1450 Auch eine auf formalisierten gegenseitigen Treueverhältnissen basierende systemartige Herrschaftsstruktur wie das Lehnswesen hatte es in Byzanz nicht gegeben, wenngleich auch die Byzantiner persönliche Treueversprechen und eine

endroit soi tant cum lui plot, et par les contrees de l’empire autres, chascuns vers son païs. („Und zu dieser Zeit zogen die bedeutenden Männer in Griechenland davon und eine große Anzahl zog über die Meeresenge in Richtung Türkei und jeder machte sich, um seines eigenen Vorteils willen, zum Herrn über soviel Land, wie er besetzen konnte und die gleichen Dinge geschahen auch in den anderen Teilen des Reiches”). Vgl. etwa Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 10, S. 808: οἱ τῷ βασιλεῖ τοίνυν συναποδράντες Ῥωμαῖοι [ἦσαν δὲ τούτων οἱ πλείους ἐπίσημοι τὸ γένος καὶ οὐκ ἄδοξοι τὰ πρὸς πόλεμον, καὶ πατρίδας τὰς ἐν Θρᾴκῃ πόλεις αὐχοῦντες] ἤϑελον συνεῖναι καὶ οὗτοι τῷ μαρκεσίῷ καὶ τὰ δυνατὰ ὑπουργεῖν· ὁ δὲ μὴ χρείαν φάμενος ἔχειν Ῥωμαίων στρατιωτῶν οὕτως αὐτοὺς ἀπεπέμψατο. τῷ βασιλεῖ δ᾽ ἔπειτα Βαλδουίνῳ περὶ τοῦ προσδεχϑῆναί οἱ προτείνουσι δέησιν. ὡς δ᾽ ἦσαν, ὅ φασι, καὶ πάλιν κενὴν ᾄδοντες, τῷ Ἰωάννῃ προσῄεσαν („Die Rhomäer, die mit dem Kaiser geflohen waren – die meisten von ihnen stammten aus edlen Geschlechtern thessalischer Städte und waren tüchtige Krieger –, wollten sich nun auch dem Markesios anschließen und boten ihm ihre Dienste an. Dieser aber sagte, er brauche keine rhomäischen Krieger, und wies sie ab. Daraufhin trugen sie Kaiser Balduinos ihre Bitte vor, er möge sie doch in sein Heer aufnehmen. Da sie aber wiederum, wie man so sagt, eine leere Saite angeschlagen hatten, begaben sie sich zu Joannes [Kalojan von Bulgarien]“). Vgl. auch Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 7, S. 12: ἐν γὰρ τῇ συγχύσει τῆς Κωνσταντίνου ἁλώσεως ἄλλοϑεν ἄλλος ἡγεμόνες εἶναι τυχόντες ἢ καὶ οἱ τῶν ἄλλων προύχοντες ὡς οἰκείαν ἀρχὴν τὴν ὑφ᾽ ἑαυτοὺς ἐποιοῦντο χώραν, ἢ ἐξ αὐτῶν εἰς τοῦτο ὁρμήσαντες ἢ καὶ παρὰ τῶν οἰκητόρων μετακληϑέντες εἰς τὴν τῆς χώρας δεφένδευσιν („In den Wirren bei der Einnahme Konstantinopels kamen nämlich von allen Seiten die verschiedensten Provinzgouverneure oder solche, die irgendeine Macht über andere ausübten, und machten das jeweils unterworfene Gebiet zu ihrem eigenen Herrschaftsbereich. Dazu waren sie entweder aus eigener Initiative gekommen, oder sie waren von den Einwohnern zur Verteidigung ihres Landes gebeten worden“). 1449 Vgl. die bezeichnende Charakterisierung des Archonten Sguros bei Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 8, S. 802: ὁ δὲ τὸ δύνασϑαι βιάζεσϑαι πρόφασιν ἀπαραίτητον καὶ ἀπαρακάλυπτον προβαλλόμενος, καὶ τὸν καιρὸν ἐνάγων ὁρᾶν παντὶ τὸ πρὸς ἰσχύος δρᾶν ὑποβάλλοντα ὡς οἷα τῆς τῶν πόλεων πασῶν κορωνίδος τὰ τῶν ὅλων πασχούσης χείριστα („Dieser aber nahm sich nicht die Mühe, sein Vorgehen zu beschönigen, und pochte unbeirrt auf das Recht des Stärkeren. Er sehe, sagte er, dass nach dem Fall von Byzanz, der Krone aller Städte, die Zeit jeden Mann aufrufe, das zu tun, wozu seine Macht ihn befähige“). 1450 Tricht, Gloire (2000), 221.

III.2 Herrschaftserfassung und Herrschaftsdurchdringung

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Art Gefolgschaftswesen kannten.1451 Wichtiger waren in Byzanz lose Großgruppen von Verwandten, Freunden, Anhängern und Bediensteten bestimmter Mächtiger gewesen, die immer dann eine Rolle zu spielen begannen, wenn die kaiserliche Zentralmacht schwächelte, wie dies ja gerade im Gefolge der Eroberung Konstantinopels der Fall war.1452 Hieraus folgten zunächst gewisse Schwierigkeiten der Franken, die byzantinischen Herrschaftsstrukturen zu nutzen. Für sie war scheinbar kein anderer als ein lehnsrechtlicher Aufbau des Reiches denkbar. Das Lehnsrecht transportierte gleichsam Ordnungsvorstellungen und Herrschaftsstrukturen von West nach Ost, machte aber auch die neuen Machtverhältnisse in der nova Francia sinnlich erfassbar. Entsprechend wurden auch die erst noch zu erobernden Gebiete als Lehen vergeben: Heinrich, der Bruder Balduins und spätere Kaiser, wurde Herr von Adramyttion1453, Ludwig von Blois erhielt das erst noch zu erobernde Herzogtum von Nikaia1454, Rainer von Trith erhielt das Herzogtum Philippopel1455, Stephan von Le Perche, ein Verwandter des Grafen Ludwig von Blois, das Herzogtum Philadelphia1456, Dietrich von Looz Nikomedia1457 und Graf Hugo von St. Paul erhielt Didymoteichon1458, Athyra verlieh Heinrich als Kaiser an Païen von Orléans.1459 Erneut wird der zum Teil virtuelle Charakter des lateinischen Kaiserreiches deutlich.1460 Zugleich zeigt sich aber auch ein Vorteil lehnsrechtlicher Vorstellungen: Ermöglichung von flexibler Eigeninitiative bei grundsätzlicher Anerkennung der übergeordneten Herrschaft. Sicherlich ergaben sich auch Konflikte: Gerade bei Fragen von Strategie und Taktik gegenüber den Bulgaren kam es zu einigen Auseinandersetzungen zwischen Heinrich und verschiedenen anderen Parteien. So verließen etwa bei der Verfolgung Kalojans einige Barone und Ritter nach heftigen Auseinandersetzungen das 1451 Lilie, Einführung (2007), 140. Vgl. die verschiedenen Erscheinungsformen der Gefolgschaft vorsichtig abwägend Beck, Gefolgschaftswesen (1972). Vgl. zur Antike etwa Wallace-Hadrill, Patronage (1990). 1452 Lilie, Einführung (2007), 140. 1453 Gerland, Geschichte (1905), 32. 1454 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 18. 1455 Gerland, Geschichte (1905), 32. Die Gründung des Herzogtums Philippopel konnte durch den Bulgarenzaren Kalojan als eine Art feindlicher Akt gewertet werden; die Stadt hatte sich zuvor einige Zeit im bulgarischen Einflussgebiet befunden (Gerland, Geschichte [1905], 44). 1456 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 20. Dies geschah offensichtlich, um eine Flotte mit syrischen Rittern, die zwischenzeitlich in Konstantinopel angelegt hatten, für Kleinasien zu interessieren. 1457 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 64. 1458 Gerland, Geschichte (1905), 32. 1459 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 55. Vgl. auch zur Lage der Orte die Karte im Anhang der Arbeit. 1460 Dies kommt auch in Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 304, S. 112 klar zum Ausdruck: et tote la terre d’autre part del Braz n’ere mie venue a la merci l’empereor, ainz ere contre lui („Und all das Land auf der anderen Seite der Meeresenge hatte sich noch nicht dem Kaiser ergeben, sondern war gegen ihn“).

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

Heer Heinrichs.1461 Trotz aller praktischen Vorteile für die fränkische Durchdringung des lateinischen Reiches implizierte der lehnsrechtliche Aufbau des lateinischen Kaiserreiches auch eine starke Einschränkung herrscherlicher Befugnisse zugunsten konsensualer Muster. In der Übereinkunft zwischen Heinrich und Marino Zeno1462, die als eine Art „Verfassung“ des lateinischen Kaiserreiches bezeichnet wurde, wird dies deutlich. So werden Fragen der Verteidigung geregelt, die – durchaus in der Art eines Dienstrechtes des 12. Jahrhunderts und lehnsrechtliche Regelungen überschreitend – eine Art allgemeine Dienstpflicht und den Oberbefehl des Kaisers festschreiben.1463 Erneut zeigt sich der konsensuale Charakter des lateinischen Kaiserreiches, denn auch an dem „Kriegsrat“, der die Aktionen zu leiten hatte, sollten die wichtigsten Gruppen beteiligt sein. Dieser „Kriegsrat“ konnte sich – ganz entsprechend lehnsrechtlicher Logik mittelalterlicher Herrschaft – auch zum richtenden Gremium erweitern: Er konnte den Kaiser bei Entscheidungen, die die Gerechtigkeit verletzten, zur Genugtuung des Geschädigten anhalten. Davon abgesehen konnte er auch lehnsrechtliche Fragen entscheiden.1464 Zugleich blieb es hinsichtlich des Problems der Herrschaftsdurchdringung natürlich nicht bei den bisher geschilderten Beziehungen zu Venezianern und hohem Lehnsadel; auch die anderen möglichen Träger einer imperialen Ordnung – niedere Adlige und Griechen – wollten durch den Kaiser integriert sein.1465 Viele der bislang angesprochenen Punkte werden bei der Betrachtung des Verhältnisses des lateinischen Kaisers zum König von Thessaloniki deutlich.

1461 Gerland, Geschichte (1905), 89. 1462 Vgl. unten, Anm. 1746. 1463 Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 1 (1856), Nr. 140, S. 572. 1464 Vgl. Longnon, Recherches (1939), Nr. 74, S. 193: Quod si totum, quod suprascriptum est, tam per milites, quam per dominum imperatorem non fuerit observatum, non hac occasione debet dominus imperator aliquem militem expoliare a possessione sua, nec milites dominum imperatorem; sed coram judicibus, qui tempore illo tam per Francigenas, quam per Venetos erunt constituti, debet causa ventilari, et secundum quod ipsi judices judicauerint, debet ab utraque parte observari. Dominus siquidem imperator nemini contra justiciam aliquo tempore facere debet; et si, quod absit, fecerit, ad admonicionem memorati consilii coram supradictis judicibus in presentia sua satisfacere debet. 1465 Gerland, Geschichte (1905), 71 weist diesbezüglich auf interessante Zusammenhänge hin: „Der Tod der älteren Führer konnte, so beklagenswert der Verlust an sich erschien, dem Einfluß der regierenden Persönlichkeit nur förderlich sein. Dazu durfte sich der Kaiser auf die Empfindungen der niederen Ritter stützen. Wissen wir doch aus Robert von Claris Schilderungen, wie wenig man in diesen Kreisen mit dem Regiment der Barone zufrieden war. Schließlich mußten auf die Dauer auch die Anschauungen der unterworfenen griechischen Bevölkerung Einfluß erlangen; das alles Momente, die im Laufe der Zeit zur Hebung des kaiserlichen Ansehens beitragen konnten“.

III.2 Herrschaftserfassung und Herrschaftsdurchdringung

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Die Verleihung des Königreiches von Thessaloniki an Bonifaz von Montferrat1466 hatte verschiedene Ursachen. Nicht zu vernachlässigen ist dabei der Aspekt der Herrschaftsrepräsentation: Ein Kaiser musste als supraregnaler Herrscher auch (mindestens) einen König unter sich haben. Hinzu treten jedoch auch funktionale Gründe: Zum einen war der Prätendent auf das Kaisertum (Bonifaz von Montferrat) im Sinne der Erfordernisse einer ranggeprägten Gesellschaft nach konsensualer Herrschaft nur auf diese Weise adäquat zu entschädigen und einzubinden.1467 Zum anderen war es auch notwendig, in einer noch weitgehend feindlich eingestellten Umwelt eine Aufgabenteilung vorzunehmen. Eine Art „Reichsteilung“ in „Ost“ und „West“ wäre wahrscheinlich sinnvoller gewesen, für Bonifaz zählte aber die Landverbindung nach Ungarn – der Heimat seiner kaiserlichen Frau – offensichtlich stärker.1468 Die starke Stellung des Königs von Thessaloniki sollte sich künftig jedoch als problematisch erweisen, da er eine kaiserliche Machtausübung qua Lehnsrecht gleichsam blockierte und seinen Herrschaftsbereich gegen Interventionen abschirmte.1469 Bonifaz hatte vor dem Hintergrund der steigenden Spannungen und der zu erwartenden kriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen ihm und Balduin einen Vertrag mit Venedig abgeschlossen.1470 Dennoch war der König Lehnsmann des Kaisers.1471 Umgekehrt war der Kaiser – entsprechend der Funktionsbedingungen konsensualer Herrschaft auf Druck seiner Barone – aber auch dazu gezwungen, mit Bonifaz von Montferrat zum Ausgleich zu kommen.1472 Bonifaz war gleichsam der Anführer der lombardischen Fraktion im lateinischen Kaiserreich. Die Bemühungen um einen Ausgleich zwischen Balduin und Bonifaz, an denen auch Villehardouin beteiligt war, führten zu einem Treffen in Konstantinopel, zu dem Bonifaz mit einem beachtlichen Gefolge angereist sein soll; der Doge zog ihm entgegen und verdeutlichte so den hohen Rang des Montferrat. Unter Heinrich schien sich das Verhältnis zwischen dem lateinischen Kaiser und Bonifaz zu entspannen. Unter Gesichtspunkten der symbolischen Kommunikation ist 1466 Streng genommen darf man erst von einem Königreich sprechen, seitdem Heinrich nach dem Tod Bonifaz’ dessen Sohn Demetrios zum König krönte. Bonifaz selbst hatte wahrscheinlich wegen seiner Ambitionen auf die Kaiserwürde darauf verzichtet, den Titel eines Königs zu führen. Vgl. hierzu Prinzing, Brief (1973), 422, insb. Anm. 3. 1467 Auch ein Graf von Blois war offensichtlich nicht anders als durch ein Herzogtum zu entschädigen: Graf Ludwig erhielt 1204 das Herzogtum Nikaia verliehen (vgl. oben, Anm. 1454). 1468 Hinzu trat wahrscheinlich eine wie auch immer geartete Verbundenheit der Montferrat zu Thessaloniki; vgl. zur Tradition, dass Rainer, der Bruder Bonifaz’, bereits König von Thessaloniki gewesen sei oben, Anm. 364. 1469 So verkaufte Bonifaz auch Kreta an die Venezianer (Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte. Ed. Tafel / Thomas 1 (1856), Nr. 123, S. 512). 1470 Pokorny, Briefe (1985), 184 / Anm. 10. 1471 Vgl. Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 265, S. 156: Assez en fu parlé en maintes manieres; mais totes voies fu la chose manée à tant que li empereres li otroia, et cil en fist homage („Auf vielerlei Weise wurde diese Angelegenheit debattiert, aber am Ende verlieh der Kaiser ihm [Bonifaz] [das Königreich] und er [Bonifaz] leistete das homagium“). 1472 Vgl. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 12, 13 und 14.

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

insbesondere ein persönliches Treffen zwischen dem Kaiser und dem Markgrafen interessant, das in Messinopolis stattfand.1473 In einer für den sonst eher lakonischen Stil Villehardouins außergewöhnlich ausführlich beschriebenen und freundlich geschilderten Atmosphäre wurde Bonifaz Lehnsmann Heinrichs und auch die Stellung Villehardouins selbst wurde definiert.1474 1473 Vgl. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 76 und 77 zu dem persönlichen Treffen zwischen Heinrich und Bonifaz. 1474 Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 495f., S. 308 und 310: En cel termine, Bonifaces li marchis de Monferrat, qui ere a la Serre, que il avoit refermee, fist chevauchies trosque a Messinople. Et la terre se rendi a son commandement. Lors prist ses messages, si les envoia a l’empereor Henri, et li manda que il parleroit a lui sor le flum qui cort soz la Capesale. Et il n’avoient mais eü pooir de parler ensemble trosque la terre fu conquise: que il avoit tant de lor anemis intre als que li un ne pooient venir as autres. Et quant l’empereres et ses consels oï que li marchis Bonifaces ere a Messinople, si en furent mult lié. Et li manda par ses messages arriers que il iroit parler a lui al jor que il li avoit mis. Ensi s’en ala l’empereres vers cele part, et laissa Coenon de Betune por garder la terre a Andrenople a tot .c. chevaliers. Et vindrent la ou li jorz fu pris, en une mult bele praerie, prés de la cité de la Capesale. Et vint l’empereres d’une part et li marchis d’autre, et s’ asemblerent a mult grant joie. Et ne fu mie mervoille: que il ne s’erent pieça veü. Et li marchis demanda novelles de sa file l’ empereris Agnés; et on li dist que ele ere grosse d’anfant, et il en fu Il mult liez et joianz. Lors devint li marchis hom de l’empereor Henri et tint de lui sa terre, ensi com il avoit esté et l’empereor Baudoin son frere. Lors dona li marchis Bonifaces a Geoffroi de Vilehardoin le mareschal de Romenie et de Champaigne la cité de Messinople a totes ses apertenances, ou celi de la Serre, laquele que il ameroit mielz; et cil en fu ses hom liges, sauve la fealté l’impereor de Costantinople. („Zu dieser Zeit ritt Bonifaz, der Markgraf von Monferrat, der in Seres war, das er gesichert hatte, weiter bis nach Messinopolis. Und das ganze Land unterwarf sich seinem Willen. Dann bestellte er Boten und sandte sie zu Kaiser Heinrich und ließ ihm ausrichten, dass er mit ihm sprechen wolle an dem Fluss, der unterhalb von Cypsela fließt. Es war ihnen noch nie möglich, miteinander zu sprechen seit der Eroberung des Landes, denn es lagerten so viele Feinde zwischen ihnen, dass keiner von ihnen imstande war, zum Anderen zu kommen. Und als der Kaiser und seine Gefolgsleute hörten, dass der Markgraf Bonifaz in Messinopolis sei, waren sie sehr erfreut. Und der Kaiser ließ durch seine Boten ausrichten, dass er mit dem Markgrafen am verabredeten Tag sprechen wolle. So machte sich der Kaiser mit hundert Rittern dorthin auf und ließ Conon von Béthune zurück, um das Land um Adrianopel zu sichern. Und sie kamen am abgesprochenen Tag zum Treffpunkt in einer sehr schönen Landschaft nahe der Stadt Cypsela. Der Kaiser kam von der einen Seite und der Markgraf von der anderen, und sie trafen sich hocherfreut; das ist nicht verwunderlich, denn sie hatten sich schon so lange nicht mehr gesehen. Und der Marquis fragte den Kaiser nach Neuigkeiten von seiner Tochter Agnes: Und der Kaiser erzählte ihm, dass sie schwanger sei, und der Markgraf war darüber erfreut und froh. Dann wurde der Markgraf Lehnsmann des Kaisers und bekam von ihm sein Land, wie es auch bei seinem Bruder, dem Kaiser Balduin, gewesen war. Und der Markgraf Bonifaz verlieh an Gottfried von Villehardouin, den Marschall der Romania und der Champagne, die Stadt Messinopolis und alle dazugehörigen Liegenschaften und außerdem Seres, das er am meisten liebte; und der Marschall wurde sein Lehnsmann, unbeschadet der Lehnstreue gegenüber dem Kaiser von Konstantinopel“). Die Belehnung Villehardouins ist wohl auch in Anerkennung seiner Verdienste um eine Aussöhnung zwischen Kaiser und König.

III.2 Herrschaftserfassung und Herrschaftsdurchdringung

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Allerdings hatte es Bonifaz in der Folge verstanden, seinen Einfluss zulasten Venedigs auf die Peloponnes auszudehnen und seine Lehnshoheit gegenüber den eigeninitiativ handelnden französischen Großen Champlitte und Villehardouin – unbeschadet deren Treue zum lateinischen Kaiser – durchzusetzen. Der lateinische Kaiser hatte den Status quo akzeptiert, solange seine Lehnshoheit gewahrt blieb – ein Beleg für die friedensstiftende Kraft lehnsrechtlicher Vorstellungen und die Möglichkeit, kaiserliche Herrlichkeit in die Sphäre der Virtualität zu überführen. Als nach dem Tod Bonifaz’ die französischen Barone der Peloponnes ihr Lehnsverhältnis zu Thessaloniki für erloschen ansahen, sprang Kaiser Heinrich in die Lücke, die Bonifaz hinterlassen hatte, und forderte eine Wiederherstellung des status quo ante: die unmittelbare Lehnshoheit des Kaisers über die (französischen) Barone der Peloponnes unter Ausschaltung der intermediären Stellung Thessalonikis.1475 Heinrich suchte so, die virtuellen Ansprüche des lateinischen Kaisers zu realisieren. Das Lehnsrecht diente nicht nur als Mittel des friedensstiftenden Kompromisses, der reale Konflikte in die Sphäre der Virtualität sublimierte, sondern konnte auch umgekehrt als Transmissionsriemen für den Eingriff in unmittelbare Auseinandersetzungen dienen.1476 Die anderen Großen des Reiches hatten sich währenddessen um den Verweser des Königreiches von Thessaloniki, Oberto Biandrate, zusammengeschlossen. Vor allem die lombardische Partei beabsichtigte, sowohl gegenüber der griechischen Bevölkerung als auch gegenüber „den Franken“ eine härtere Gangart einzuschlagen.1477 Dies führte zu starken Spannungen zwischen den einzelnen baronalen „Volksgruppen“: Die „Franzosen“ verhielten sich „kaisertreu“, ein Kaiser in Konstantinopel war als Lehnsherr angenehmer als ein König in Thessaloniki. Heinrich griff gerüstet ein, wurde aber von Teilen der Barone mit offener Ablehnung empfangen. Auch Oberto Biandrate weigerte sich, vor dem Kaiser zu erscheinen. In Verhandlungen forderte man von Biandrate die Anerkennung der kaiserlichen Lehnsoberhoheit und die Aufnahme des Kaisers in die Stadt Thessaloniki und im Gegenzug wurde ihm die Garantie der Rechte von Bonifaz’ Sohn Demetrios angeboten.1478 Die Aussöhnung gestaltete sich jedoch schwierig.1479 Offen verweigerten die Lombarden die Anerkennung Heinrichs als ihren Herrn und ließen ihn – eines Kaisers und eines Lehnsherrn eigentlich in hohem Maße unwürdig – im Schnee vor der Stadt Thessaloniki lagern.1480 Schließlich war Heinrich gezwungen, den

1475 Gerland, Geschichte (1905), 167. 1476 Vgl. Burkhardt, Barbarossa (2010), 148f. und Burkhardt, Ordnungsvorstellungen (2010), insb. S. 189–191. 1477 Prinzing, Brief (1973), 426 spricht von einem „Aufstand der separatistischen lombardischen Barone gegen den Kaiser“. 1478 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 91. 1479 Vgl. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 92–96. 1480 Vgl. Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, c. 577.

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status quo eidlich anzuerkennen. Er konnte in Thessaloniki einziehen, Biandrate eilte ihm entgegen und leistete ihm den Stratordienst.1481 Später sollte es Heinrich gelingen, einen Teil der Lombarden auf seine Seite zu ziehen.1482 Geschickt nutzte er die Funktionsbedingungen konsensualer Herrschaft aus, indem er auf einer Versammlung die Frage stellte, ob der von ihm geleistete Eid gutgeheißen würde, was auch ein Großteil der lombardischen Barone verneinte. Eine Lösung des Konfliktes wurde gleichwohl nicht erzielt. Die eigentümliche Pattsituation fand auch im folgenden Zeremoniell ihren Ausdruck: Am 6. Januar schlug Heinrich Demetrios, den Sohn Bonifaz’, zum Ritter und krönte ihn zum König von Thessaloniki. Oberto Biandrate leistete Heinrich und Demetrios Homagium und Lehnseid und erhielt daraufhin königliche Fahnen (wohl als Zeichen seiner Regentenstellung) zurück.1483 Das Ziel Heinrichs war wohl kaum die Machtbeschränkung oder gar Zerschlagung des Königreiches Thessaloniki, sondern vielmehr dessen engere Bindung an das Kaisertum – auch durch die Stärkung der Witwe Bonifaz’ und der griechischen Bevölkerung. In der Folge kam es auch darüber zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Lombarden und Franken. Bewusst setzten die Lombarden den Kaiser herab, indem sie ihn aufforderten, vor weiteren Verhandlungen nach Konstantinopel zurückzukehren. Schließlich konnte Heinrich nach dem Sturz Obertos auch die Regentschaft von Thessaloniki übernehmen.1484 Die garantierende Instanz war – wie in der Kindheit Friedrichs II. – das Papsttum: Honorius III. nahm Demetrios in seinen Schutz, solange bis er legitimam etatem erreicht habe.1485 Auch über das Ende der realen Herrschaft hin1481 Gerland, Geschichte (1905), 170 meint zum Stratordienst: „Damit war die Oberhoheit des Lehnsherrn öffentlich zum Ausdruck gebracht“. 1482 Vgl. Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 102 zum Friedensvertrag zwischen Heinrich und den Lombarden von Theben. 1483 Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, c. 605, S. 79: Et li emperreis vint a l’empereour, et li pria por Diu, se lui plaisoit, que il couronnast son fill; et il dist que il le couronneroit molt volentiers. Dont fist le jour de le Tiephane li empereres chevaliers l’enfant a molt grant hounour; et puis le couronna voiant toz. Et si demoura encore li cuens en sa ballie, et fu raviestus des roiaus gonphanons; et refist nouviaus homages et novieles seuretés, jusques a le volenté de le emperreis et non plus („Und die Kaiserin kam zum Kaiser und bat ihn für Gott, dass er, wenn es ihm auch gefallen würde, ihren Sohn krönen möge. Dann, am Dreikönigstag [6. Januar 1208], schlug der Kaiser den Jungen zum Ritter mit großen Ehren, und dann krönte er ihn vor allen. Und der Graf behielt noch seine Regentschaft und erhielt die königlichen Banner. Und er wiederholte nochmals Huldigungen und Schwüre, für die Zeit, die es der Kaiserin gefallen würde, und nicht länger“). 1484 Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 104. 1485 Buchon, Recherches 1 (1840), 143 / Anm. 3: Et tue puerilis etatis imbecillitas exigit, et clara dilecti filii, nobilis viri Willelmi marchionis Montis-Ferrati, fratris tui, nec non recolende memorie progenitorum tuorum merita, promerentur ut Apostolica Sedes, cui semper devoti sicut catholici principes extiterunt, tibi favoris sui gratiam debeat exhibere. Hinc est quod personam et regnum tuum, cum omnibus pertinentiis ejus et aliis bonis tuis, sub beati Petri et nostra protectione suscipimus, et presentis scripti patrocinio communimus, auctoritate presentium

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aus sollte sich die Herrschaftsdurchdringung gleichsam in der virtuellen Sphäre verstetigen: Kaiser Balduin II. investierte Wilhelm von Verona, den Seigneur von Negroponte und Mann der Enkelin des Demetrios, mit dem Königreich von Thessaloniki, obwohl dieses bereits verloren war. Hier hat sich die Schilderung des Investiturprozesses erhalten.1486 Der lateinische Kaiser hatte aber nicht nur gegenüber seinen lateinischen Vasallen eine umsichtige Politik zu verfolgen, sondern auch gegenüber seinen griechischen Untergebenen. Dies war gleichsam die säkulare Seite des kaiserlichen Verhaltens gegenüber der orthodoxen Kirche. Sicherlich bestanden auf beiden Seiten Vorurteile gegen „Griechen“ und „Lateiner“.1487 Die Fremdbilder sind bekannt, etwa der Vorwurf, dass die Griechen die Lateiner als Hunde bezeichnen würden1488, oder auch die wunderbar die verschiedenen Dimensionen der Fremdheit zum Ausdruck bringende, funktional wohl fundierte Vorwurfstirade des Niketas, der höchstwahrscheinlich aus eigener Erfahrung meinte, dass „der Lateiner als Herr ein großes Übel ist, mit seiner fremden Sprache, seiner Habgier, seinen ungezogenen Augen, seinem unersättlichen Bauch, seiner aufbrausenden und heftigen Wesensart und seiner immer das Schwert zückenden Rechten“1489. Die griechische Elite war der lateinischen Herrschaft gegenüber mehrheitlich wohl eher kritisch eingestellt, während sich das „einfache Volk“ durchaus mit den neuen Herren arrangieren konnte. Entsprechend den bereits vorgestellten Unterscheidungen tragender Elemente der imperialen Ordnung nahm die griechische Elite jedoch wichtige

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statuentes, ut ea tamdiu sub speciali Apostolice Sedis defensione consistant, donec legitimam perveneris ad etatem. Buchon, Recherches 1 (1840), 67: (…) in nostrâ simul cum ipso vivo presentiâ constitute investivimus, juxta petitionem et desiderium eorundem, cum plenitudine gratie nostre, de jure regni Thessalonicensis et pertinentiarum suarum, que ad dictam dominam uxorem ejusdem, ex morte prefati regis, ratione propinquitatis recidere dignoscuntur, ex hoc recipientes ipsum in hominem nostrum ligium et fidelem contra personas omnes, presentes pariter et futuras, ità tamen quòd omnium rationes et jura sint salva, nec aliquibus ex hoc prejudicium generetur. Vgl. allgemein etwa zum eschatologischen Hintergrund Schmieder, Brothers (2006). Vgl. in den das lateinische Kaiserreich betreffenden Quellen etwa den Brief Innozenz’ III. vom 7.12.1210 an die Griechen: et quia si possent exterminare Latinos, in apostasiae suae vitio fortius perdurarent in odium Latinorum, quos etiam nunc canes appellant (Acta Innocentii, Nr. 173, S. 403) und den Rundbrief Heinrichs zum Verhalten des Theodor I. Laskaris: Qua de causa Lascarus acrior et elatior factus misit lit[te]ras ad omnes Grecorum provincias, continentes honorem et lucrum sue victorie, significans etiam, quod si eum vellent adiuvare, cito Greciam totam de latinis canibus liberaret (Prinzing, Brief [1973], 414f.). Nicetae Choniatae historia. Ed. van Dieten, c. 8, S. 796: πονηρὸν χρῆμα εἰς ϑεραπείαν Λατῖνος, φωνὴ ἀσύμφωνος Ἕλλησι, γνώμη φιλοχρήματος, ὀφϑαλμὸς ἀπαιδαγώγητος, γαστὴρ ἀκόρεστος, ὀργίλος καὶ δριμεῖα ψυχή, καὶ χεὶρ διφῶσα τὸ ξίφος διὰ παντός.

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Funktionen bei der Herstellung oder auch Untergrabung der Legitimität lateinischer Herrschaft wahr.1490 Zunächst schien die Anerkennung der lateinischen Herrschaft durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen; akzeptierten doch viele der byzantinischen Städte unter dem militärischen Druck Balduins und wohl unter Zusicherung ihrer überkommenen Rechte die Herrschaft des ersten lateinischen Kaisers – er hätte in die Rechte eines Basileus eintreten können.1491 Bald ergaben sich jedoch Spannungen, die sich auch in der Chronik Villehardouins widerspiegeln.1492 Viele Angehörige der griechischen Elite fühlten sich durch Balduin unangemessen behandelt. Letztlich waren diese Entwicklungen auch Folge der Entstehung des lateinischen Kaiserreiches, das auf dem Eroberungsrecht gründete und dessen herrschende Schicht zu großen Teilen durch die Aussicht auf Beute zum Zug in die Ägäis motiviert worden war. Viele der durch die Eroberer untereinander und an Zuwanderer verteilten Lehen waren byzantinischen Familien ent-

1490 Gerland, Geschichte (1905), 41 mit der Mahnung, den Einfluss der Archonten nicht zu unterschätzen: „Durch tausend Fäden der Gewohnheit und finanziellen Abhängigkeit an den Adel gebunden, in Glauben und Sprache mit ihm vereint, war das Volk doch immer wieder geneigt, auf die Mächtigen als Führer in allen politischen Angelegenheiten zu blicken. Daher das Schwanken der Nation, das die Franken so tief erbitterte und die griechische Treulosigkeit bei ihnen sprichwörtlich machte“. Vgl. etwa die Schilderung des Einfalls Kalojans, bei dem Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 412, S. 224 und 226 auch von griechischer Hilfe spricht: Lors manda par tote sa terre quanque il pot avoir de gent, et porchaça grant ost de Comains et de Griex et de Bias; et entra en Romanie. Et li plus des citez se tindrent a lui et tuit li chastel. Et ot si grant gent que ce ne fu se merveille non („Dann befahl er, im ganzen Land so viele Leute wie möglich zusammenzuziehen, und sammelte eine große Menge von Kumanen, Griechen und Walachen und drang in die Romania ein. Und der Großteil der Städte hielt zu ihm sowie alle Burgen; und er hatte eine derartige Menge Leute, dass es ein Wunder war“). 1491 Auch vor Adrianopel kämpften offensichtlich Griechen im lateinischen Aufgebot. Dies folgt nicht nur aus der Tatsache, dass die lateinischen Kräfte z. B. für die Belagerung Adrianopels wohl viel zu gering waren. Auch Villehardouin (Conquête. Ed. Faral, c. 381, S. 188 und 190) berichtet von an der Schlacht beteiligten Griechen, die Heinrich trifft: Et lors li vint la novele des Grex qui estoient eschapé de la desconfiture que ses freres l’empereres Baudoins ere perduz et li cuens Loeys et li autre baron („Dann erreichten ihn die Neuigkeiten durch bestimmte Griechen, die diesem Unglück entkommen waren, dass sein Bruder Balduin vermisst wurde und Graf Ludwig und die anderen Barone“). 1492 Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 303, S. 110 und 112: Lors comença l’en les terres a departir. Li Venisien orent la lor part, et l’oz des pelerins l’autre. Et quant chascuns s’ot assener a sa terre, la covoitise del monde, qui tant ara mal fait, nes laissa estre en pais; ainz comença chascuns a faire mal en sa terre, li uns plus et li autre mains, et li Grieu les comencierent a haïr et a porter malvais cuer („Dann begannen sie, das Land aufzuteilen. Die Venezianer hatten ihren Teil und die Pilger den anderen. Und als jeder in sein eigenes Land gehen konnte, ließ die Begehrlichkeit dieser Welt, die so großes Unglück verursacht hat, sie nicht zum Frieden kommen, vielmehr begann jeder, in seinem Land gottlos zu handeln, einige mehr und andere weniger, und die Griechen fingen an, sie zu hassen und im Herzen verbittert zu sein”).

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eignet worden.1493 Aber auch jenseits der Enteignungen konnte die lateinische Herrschaft gegenüber der griechischen Bevölkerungsschicht, vor allem gegenüber der vermögenden, durchaus den Eindruck der Härte erwecken.1494 Relativ rasch – und verstärkt nach der Niederlage von Adrianopel – wurde jedoch klar, dass auch griechische Funktionsträger in die Herrschaft integriert werden mussten.1495 In den Auseinandersetzungen mit den Bulgaren kooperierten Griechen und Lateiner.1496 Grundsätzlich lässt sich beobachten, dass Gesellschaften unter Druck nicht nur durch verstärkte Abgrenzung reagieren, sondern bei eklatanter numerischer Unterlegenheit auch durch verstärkte Kooperationsbemühungen.1497 Vor allem Heinrich schien sich der Notwendigkeit einer verstärkten Zuwendung zur griechischen Bevölkerungsmehrheit bewusst zu sein. Er wird nicht nur bei Akropolites sehr positiv geschildert1498, auch die Chronik des Heinrich von Valenciennes berichtet von dem begeisterten Empfang Kaiser Heinrichs durch die Griechen in Theben1499. 1493 Vgl. zu der Enteignung der Familie des Theodor Branas etwa Gerland, Geschichte (1905), 86 / Anm. 2. 1494 Vgl. etwa die Schilderungen in Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 29, S. 46: ἐβούλετο δὲ μοι καὶ ὁ πατὴρ λάϑρα τῆς τῶν λατίνων ἀπολισϑῆσαι χειρός∙ ἰσχυρῶς γὰρ παρ᾽ αὐτῶν ἐκεκράτητο ταῖς τε τῶν ἀναλωμάτων δαφιλείας καὶ ταῖς σφῶν δεξιώσεσι, καὶ τὸ πολλὴν ἔχειν περὶ αὐτὸν ὑπηρεσίαν τέκνα τε ϑεράποντάς τε καὶ ϑεραπαινίδας οὐκ ὀλίγον ἐποίει τούτῳ τὸ ἐμποδών („Es war der Wunsch meines Vaters, seinerseits ebenfalls der Gewalt der Lateiner insgeheim zu entkommen; denn er stand stark unter ihrer Knute, einmal mit seinen überaus hohen Steuern und Abgaben, zum anderen wegen der Freundschaftsleistungen an sie; und es erwies sich für ihn als nicht wenig hinderlich, dass er eine große Schar von Bedienten, männliche und weibliche Aufwartung, hatte“). 1495 Vgl. grundsätzlich Jacoby, Greeks (2008). 1496 So sollten der Bruder Heinrichs Eustach zusammen mit Franken und Griechen den bulgarischen Großen Alexius Slaw auf Seite des lateinischen Kaisers halten (Gerland, Geschichte [1905], 159). 1497 Vgl. abwägend Hiestand, Occidentales (1995), insb. S. 72–75; vgl. für die Stellung der Armenier unter den Komnenen Augé, Byzantins (2007). Vgl. generell auch die Beiträge in Mayer‚ Kreuzfahrerstaaten (1997). 1498 Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, c. 16, S. 28: Ὁ δ᾽ εἰρημένος Ἐρῆς, εἰ καὶ Φράγγος τὸ γένος ἐτύγχανεν, ἀλλ᾽ οὖν τοῖς Ῥωμαίοις καὶ ἰϑαγενέσι τῆς Κωνσταντίνου ἱλαρώτερον προσεφέρετο, καὶ πολλοὺς εἶχε τοὺς μὲν τοῖς μεγάλοις τούτου συντεταγμένους, τοὺς δὲ τοῖς στρατιώταις, τὸ δὲ κοινὸν πλῆϑος ὡς οἰκεῖον περιεῖπε λαόν („Der erwähnte Heinrich war zwar nach seiner Herkunft Franke, erreichte aber dennoch bei den Rhomäern und den alteingesessenen Bewohnern von Konstantinopel eine recht freundliche Aufnahme; viele Rhomäer hatte er nämlich unter seine hohen Würdenträger eingereiht, andere seinen Soldaten zugesellt, und die Masse des Volkes behandelte er wie seine eigenen Untertanen“). 1499 Henri de Valenciennes, Histoire de l’empereur Henri de Constantinople. Ed. Longnon, c. 672, S. 111: Et quant il entra en Thebes, dont pevussiés oïr .i. si grant polucrone de papas et d’alcontes, et d’oumes et de femes, et si grant tumulte de tymbres, et de tabours et de trompes, que toute la terre en tombist (…) Tout vienent encontre lui pour obeir a son commandement („Und als er in Theben einzog, hättet ihr so große Hochrufe von Geistlichen und Archonten, von

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Konkret vergab Heinrich Apros an Theodor Branas1500, später auch Didymoteichon1501. Gerade das Beispiel des Theodor Branas zeigt die Möglichkeiten, die sich einem „kulturellen Grenzgänger“ eröffnen konnten, dessen Tätigkeit aber auch den lateinischen Herrschaften bei der Integration weiterer griechischer Bevölkerungsgruppen helfen konnte: So brachten die Bewohner Adrianopels Theodor als eine Art Kompromisskandidaten ins Spiel, um sich de facto der verhassten venezianischen Herrschaft zu entledigen.1502 Auch in Kleinasien schien sich dieses „Gouverneursprinzip“ zu bewähren, vergab doch Heinrich die dortigen Besitzungen an Georgios Theophilopoulos.1503 Diese funktionale Herrschaftsteilung war auch notwendig, da die Hilfsleistungen aus „dem Westen“ immer spärlicher wurden. Die Position Heinrichs wurde durch sein Zugehen auf die Griechen gefestigt: Die Integration griechischer Großer konnte auch zu einer nicht unerheblichen Stärkung der traditionell byzantinischen Auffassung kaiserlicher Abgehobenheit und somit auch zu einem gewissen Ausgleich der ausgesprochen stark konsensualen Elemente des „lateinischen Feudalstaates“ führen.1504 Die Tatsache, dass am Bosporus durchaus eine Art „hybrides Staatswesen“ entstand, in dem auch griechische Amtsträger eine wohl nicht unbedeutende Rolle spielten, war jedoch gegenüber „dem Westen“ eher zu verschleiern, um weitere Unterstützung zu erlangen, die ja durch das Etikett des Kreuzfahrerstaates mobilisiert wurde. Hierzu war es anscheinend auch notwendig, die Schlechtheit und Verschlagenheit der Griechen zu betonen. Balduin II. beeilte sich gegenüber Blanche von Frankreich nachzuweisen, dass er sich nicht – wie ihr gemeldet worden war – des Rates von Griechen bediene, sondern nur des Rates edler und angesehener Männer aus der Francia.1505

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Männern und Frauen, und so großes Getöse von Pauken, Trommeln und Trompeten hören können, dass die ganze Erde davon bebte (…) Alle kamen, ihn zu treffen und seinem Befehl zu folgen”). Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 50. Theodor war unter Alexios III. Präfekt der Provinz Thrakien gewesen (Hendrickx, Régestes [1988], Nr. 50, Terminologie). Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 56. Gerland, Geschichte (1905), 84f. Vgl. Georgii Acropolitae opera. Ed. Heisenberg / Wirth, Die Chronik, c. 16, S. 85: πάντας δὲ τοὺς ἄλλους ὁ ᾽Ερῆς συλλεξάμενος καὶ κατὰ ἴλας συντάξας καὶ ὁμογενεῖς αὐτοῖς παραδοὺς ἡγεμόνας, ὑπερέχειν δὲ πάντων τὸν Θεοφιλόπουλον Γεώργιον παρακελεύσας, τὴν τῶν ἀνατολικῶν μερῶν αὐτοῖς φυλακὴν ἐνεπίστευσε („Alle übrigen [scl. besiegte Griechen] aber ließ Heinrich antreten, stellte sie in Heeresteilen zusammen, gab ihnen eigene Stammesbrüder zu Anführern und setzte als Oberbefehlshaber den Georgios Theophilopulos ein: diesem Heer vertraute er die Wacht über die östlich gelegenen Gebiete an“). Tricht, Gloire (2000), 219. Layettes du Trésor II, Nr. 3123, S. 519: Super hoc autem quod dignata fuistis nobis scribere ac significare quod intimatum vobis fuerat quod utamur et nos regamus consilio minus bono, videlicet exhortacionibus duorum Grecorum, serenitati vestre gratiarum uberrimas referimus actiones; nunc enim scimus et cognoscimus quod nos vere diligitis monendo nos atque docendo

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Letztlich war es aber doch der entschiedene Widerstand vieler Griechen gegenüber den lateinischen Herren oder zumindest ihre Gleichgültigkeit, die die lateinischen Herrschaften so instabil machten, dass sie schließlich zusammenbrachen. Das Verhalten der griechischen Bewohner ist wohl auch als Folge mangelnder Einbindung durch die lateinischen Herrscher anzusehen.1506 Diesbezüglich gab es jedoch durchaus Unterschiede: So schienen die lateinischen Herrscher in den Gebieten außerhalb Konstantinopels durchaus toleranter zu sein als in der Hauptstadt und den dem Kaisertum unmittelbar unterstellten Gebieten selbst.1507 Auf der Peleponnes entstanden etwa stabile Herrschaftsgebilde.1508 Aber auch bei diesen Herrschaften unterschieden sich die Gebilde auf der Peloponnes nicht nur graduell, sondern auch substantiell etwa von der venezianischen Herrschaft.1509 Die Venezianer schienen – wie bereits mehrfach erwähnt – bei den Griechen nicht besonders beliebt gewesen zu sein. Dies widerspricht dem Befund hinsichtlich der Kirchenpolitik, wonach sich der venezianische Machtbereich anscheinend als toleranter erwies – ein Hinweis darauf, den „religiösen Faktor“ nicht

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ut divertamus a malo et bono adherere nitamur, sed, teste Altissimo, vobis asserimus et juramus quod consilio aliquorum Grecorum nullatenus usi sumus, nec utimur, nec utemur; immo quicquid facimus, fit de consilio nobilium ac bonorum virorum Francie qui apud nos sunt, et ita invenietis procul dubio verum; et si ita inveneritis supplicamus ut credatis et veritatem super hoc inquiratis tam a latore presentium quam ab aliis omnibus qui ad partes vestras accedunt; nosque semper vobis scribemus prout veritas rei erit, et, falsa suggestione abjecta, velitis credere veritati. Lock, Franks (1995),6. Vgl. Lock, Franks (1995), 13: außerhalb Konstantinopels „a policy of live and let live was followed with regard to religious and legal practices. Local Greek landowners were eager to salvage what they could of their lands and status. They were found a place in Latin social and commercial circles”. Gleichwohl greift der Begriff „Integration” wie auch in Bezug auf Sizilien eigentlich nicht: „This stopped far short of complete integration but it seems to have been acceptable to a majority of the provincial Greek landholding class who perhaps thought it a small price to pay for some sort of political stability (…) What the peasantry, that is those who actually did the farming for Greek and Latin lords, thought about the new dispensation was nowhere recorded or apparently thought worthy of enquiry”. Vgl. ebd. auch zur Situation in Konstantinopel „where a strong Venetian interest, the presence of papal legates and the proximity of Bulgarian and Nicene troops tied the hands of the Latin emperors even should they wish to act in a more conciliatory fashion towards their Greek subjects”. Ein Beispiel aus dem Jahr 1233 zeigt offensichtlich, dass die lateinische Herrschaft in Thessaloniki nicht unbeliebt war; damals wurde im zwischenzeitlich wieder griechisch gewordenen Thessaloniki die Anfechtung eines Urteils von 1213 mit der Begründung, dass Thessaloniki damals lateinisch gewesen sei, abgewiesen, da „la population grecque ayant vécu sans anxiété pendant le règne de Henri et sous une jurisdiction correcte de la part de compatriotes“ (Tricht, Gloire [2000], 222). Lock, Franks (1995), 6: „The ragged nature of these beginnings and endings not only reflects the fragmented nature of the Frankish Aegean but also demonstrates that if some of the new crusader states were politically and economically unviable from the outset, the majority clearly had a fair chance of survival”. Vgl. etwa Bury, Lombards (1886), insb. S. 311–332. Vgl. zu illustrativen frühneuzeitlichen Beispielen Arbel, Magnates (1995) und Arbel, Domination (2009).

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überzubewerten. Auch deshalb gingen die Venezianer bei der Sicherung ihres inselüberspannenden Herrschaftsverbundes nach einem mehrstufigen Modell vor, das auch eine Folge drohender Ressourcenüberdehnung war: Nur die für die Seelinien wichtigen Häfen wurden direkt gesichert, die Inseln der Ägäis hingegen durch Söhne venezianischer Adliger in einer Art „Privatinitiative“ erobert.1510 Kreta war ein Sonderfall – eine der ersten europäischen planmäßig angelegten Kolonien.1511 Auch die Venezianer hatten zum Teil ihre Mühe mit den neuen Besitzungen.1512 So trafen mit dem Patriarchen Morosini auch vier Gesandte Venedigs ein, die die Herrschaftsstrukturen der Besitzungen in Konstantinopel prüfen sollten.1513 Grundsätzlich war die „Verfassung der Kolonialgemeinde“ der Mutterstadt Venedig angeglichen.1514 Insbesondere die Verselbstständigungstendenzen des Podestà Zeno, der bereits die Herrschaft über alle venezianischen Besitzungen in der Romania beanspruchte, trafen auf Kritik.1515 Die freie Wahl des venezianischen Podestà wurde aufgehoben, seine Kompetenzen beschränkt. Gerade im Handeln zugunsten eines größeren Ganzen zeigten sich die Regierungsverantwortlichen der Serenissima als Träger einer imperialen Ordnung.1516 Zu diesen „internen“ Konflikten traten außerdem, insbesondere im Bereich des lateinischen Kaiserreiches, Auseinandersetzungen um die Dienstpflichten der Vasallen.1517 Auch hier zeigt sich erneut das Spannungsverhältnis von kaiserlichem Rang und imperialer Ordnung: Es reichte eben nicht nur aus, den obersten Rang in einem bestimmten Herrschaftsverbund einzunehmen. Wichtig war es ebenso, Ressourcen von der untergeordneten Ebene zu erhalten.

III.2.3 Mangel und Überfluss Ständiger Mangel an Finanzen war sicherlich ein zentrales Kennzeichen mittelalterlicher Herrschaften – in weitaus stärkerem Maße, als dies heute der Fall ist.1518 Gerade der Anlass der Eroberung Konstantinopels und die Entwicklung des lateinischen 1510 Lock, Franks (1995), 4. 1511 Vgl. hierzu umfassend die Beiträge in Ortalli‚ Venezia (1998). 1512 Jacoby, Prescence (2001), insb. S. VI 189–VI 196 und allgemein Jacoby, Government (2006), 38–79. 1513 Gerland, Geschichte (1905), 68. 1514 Vgl. Jacoby, Government (2006), insb. S. 19–38. 1515 Dass diese Sorge nicht unberechtigt war, zeigte die erfolgreiche Verselbständigung der Kykladen. Vgl. hierzu Saint-Guillain, conquérants (2006). 1516 Vgl. Gerland, Geschichte (1905), 69: „In Venedig hatte man eben noch mehr als die Interessen e i n e r Kolonie zu berücksichtigen. Dort behielt man nicht nur den Weg über Konstantinopel nach dem Schwarzen Meer, sondern auch den über Kreta nach Syrien und Ägypten im Auge“. 1517 Vgl. zu den Dienstpflichten der Lehnsleute des lateinischen Kaiserreiches Longnon, Recherches (1939), Nr. 74, S. 192f. 1518 Vgl. etwa Moraw, Entwicklungsunterschiede (1987), 601f.; Fryde / von Stromer, Hochfinanz (1999), insb. S. 21–23; vgl. generell Brandes, Finanzverwaltung (2002).

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Kaiserreiches waren in mehrfacher Hinsicht auch Folgen der mittelalterlichen Finanzverfassung. Zum einen trafen bei der Finanzierung des Vierten Kreuzzuges, der schließlich zu den monetären Problemen der Kreuzfahrer und der Umlenkung des Unternehmens führte, unterschiedliche „Systeme“ zusammen: die hoch entwickelte Finanzwelt der Seehandelsmetropole, die adlige Welt der Kreuzfahrer (fern wirklich realistischer Finanzplanung) und die mangelhaften Kalkulationen des byzantinischen Thronkandidaten. Hinzu trat aber auch das grundlegende Problem staatlicher Finanzschwäche, die dazu führte, dass Geld nicht rasch zur Verfügung gestellt werden konnte. In besonderem Maße galt dies für die Kreuzfahrerherrschaften: Sie waren und blieben stets auf militärischen Zuzug und finanzielle Unterstützung aus dem Westen angewiesen. Zu einem nicht unbedeutenden Teil könnte dies darauf beruhen, dass die Seestädte den besonders einträglichen Handel beherrschten.1519 Hinzu kamen – neben dem stets abnehmenden Umfang des beherrschten Landes – gewisse Defizite der generellen Verwaltungsorganisation, die verhinderten, dass die vorhandenen Mittel problemangemessen eingesetzt werden konnten.1520 Grundsätzlich war nämlich der mediterrane Handel ausgesprochen einträglich.1521 Als wichtiger Indikator für diesen Befund kann die Münzpolitik dienen.1522 War die Ägäis nun aber wirklich reich oder war dies nur ein im Westen verbreiteter Mythos, das Ergebnis byzantinischer Propaganda?1523 Viele lateinisch schreibende Chronisten betonen den Wohlstand des Landes.1524 Es war allerdings kaum städtisch geprägt. Das byzantinische Reich des beginnenden 13. Jahrhunderts war nicht mehr mit dem spätantiken römischen Reich zu vergleichen; die Veränderung des städtischen Erscheinungsbildes, die in den letzten Jahrhunderten stattgefunden hatte, lässt sich mit den Stichworten „Verkleinerung“ und „Privatisierung“ umschreiben.1525 Die Städtepolitik unter den Lateinern ist sicherlich im Zusammenhang mit der allgemeinen schwierigen Lage zu sehen, in der sich das Reich befand, und Ausdruck von Stabilisierungsversuchen – weniger von imperial gestaltender Politik.1526

1519 Favreau-Lilie, Seestädte (2004), etwa S. 195–199. 1520 Mayer, Herrschaft (1995), insb. S. 727–737. 1521 Tucci, spedizione (2006); zu Handelsgütern: Jacoby, Silk (2001), zum 13. Jh.: S. X 64–79; vgl. zur Rolle der Juden Jacoby, Jews and the Silk (2001); Jacoby, Supply (2001); Lilie, Handel (1984), 264–284. 1522 Travaini, Crociata (2006), insb. S. 532–543 zum lateinischen Kaiserreich; vgl. zu den venezianischen Prägungen Stahl, Zecca (2000), v. a. S. 3–40 und zum Hintergrund Stahl, Mint (1988); vgl. ebenso Le Goff, Ludwig der Heilige (2000), 213–219. 1523 Lock, Franks (1995), 12. 1524 Vgl. etwa Villehardouin, Conquête. Ed. Faral, c. 135, S. 136: La contree fu bele et riche et planteürose de toz biens („Das Land war schön und reich und voll von allen Vorräten“). 1525 Lock, Franks (1995), 2. 1526 Vgl. etwa die Bestätigung der Privilegien von Thessaloniki bei Hendrickx, Régestes (1988), Nr. 11.

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III. Kaisertum und imperiale Ordnungen

Im Westen fällt hinsichtlich einer kaiserlichen Städtepolitik neben den spektakulären Auseinandersetzungen der Staufer mit den Kommunen Oberitaliens und zahlreichen Privilegien für verschiedene Städte vor allem die „Rompolitik“ ins Auge.1527 Herrschaftspraktisch war Rom als Residenz im Hochmittelalter eigentlich ungeeignet. Selbst mit größerer Heeresmacht hatten die römischen Kaiser immense Schwierigkeiten, auch nur ansatzweise eine Stadtherrschaft aufrechtzuerhalten. Hinzu traten die starken Gegensätze innerhalb der Stadtbevölkerung, die kaum die Bildung eines institutionalisierten S